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Xi Luo
Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant Identität, Einheit und Existenz
Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant
Xi Luo
Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant Identität, Einheit und Existenz
Xi Luo Berlin, Deutschland Dissertation der Humboldt-Universität zu Berlin, 2018
ISBN 978-3-476-04836-3 ISBN 978-3-476-04837-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Für Shasha Du
Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2018 von der Philosophischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Mein Dank gilt an dieser Stelle meinem Doktorvater, Tobias Rosefeldt, für die exzellente Betreuung. In den letzten sechs Jahren hat er mir nicht nur viele philosophische Erkenntnisse vermittelt, sondern mich auch immer ermutigt, in eigener Sprache zu philosophieren. In zahlreichen Diskussionen mit ihm habe ich allmählich gelernt, wie man die klassischen Texte der Philosophie aus heutiger Sicht liest, wie man philosophische Fragen in eigener Weise stellt und wie man mit eigenen Worten klar denkt. Mit diesen Methoden habe ich erst den eigentlichen Forschungsweg der Philosophie betreten. Außerdem bin ich sehr dankbar dafür, dass ich meine Arbeit mehrmals in dem von ihm geleiteten, oft von internationalen Kant-Forschern besuchten Kolloquium vorstellen konnte. Die Anregungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren mir eine große Hilfe. Mein Dank gilt auch Reed Winegar an der Fordham-Universität in New York für seine freundliche Zeitbetreuung. Seit ich ihn im Winter 2015 hier in Berlin kennengelernt habe, haben wir regelmäßig donnerstags nach dem Kolloquium viele für mich sehr aufschlussreiche Diskussionen geführt. In den Vorlesungen und Seminaren, die er als Gastprofessor im Sommersemester 2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin gegeben hat, hatte ich die Möglichkeit, mit ihm und anderen Studierenden Kants Philosophie zu diskutieren. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. Darüber hinaus gilt mein Dank den gegenwärtigen deutschen Philosophen – Dieter Henrich, Eckart Förster, Rolf-Peter Horstmann, Wolfgang Carl, Michael Wolff, Heiner F. Klemme und Marcus Willaschek – für ihre Werke und Aufsätze. Ohne sie zu lesen, hätte ich kein tiefgehendes Verständnis des deutschen Idealismus gewonnen. Im Promotionsstudium danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen: Bianca Ancillotti, Haruki Inoue, Marialena Karampatsou, Roland Krause, Michael Oberst, Marco Santi, Bo Song, Myriam Stihl, Radka Tomeckova, Qiushi Xu und Zijue Wang. Für das sorgfältige Korrekturlesen und die sprachliche Verbesserung meiner Dissertation möchte ich herzlich meinen Freund Reinhard Kober danken. Bei dem China Scholarship Council bedanke ich mich für das Promotionsstipendium. Nicht zuletzt gilt mein großer Dank meinen Eltern für ihre langjährige Unterstützung. Berlin, im November 2018
Xi Luo
Inhalt Einleitung ............................................................................................................................................. 1 Erster Teil: Vorbereitende Untersuchungen 1 Kants Begriff vom Bewusstsein und Selbstbewusstsein ......................................................... 9 1.1 Bewusstsein und Vorstellung ................................................................................................... 9 1.2 Das reine Selbstbewusstsein ................................................................................................... 18 1.3 Das Verhältnis zwischen reinem Selbstbewusstsein und empirischem Bewusstsein ..... 35 2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn ................................................................................................ 47 2.1 Das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn ................................................................... 48 2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen .................................................. 61 2.3 Ist der innere Sinne nicht Gegenstandssinn? ........................................................................ 84
Zweiter Teil: Identität und Einheit 3 Identität des Selbstbewusstseins: „Eines in Vielem“ ............................................................ 99 3.1 Der Begriff der numerischen Identität der Apperzeption ................................................. 100 3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins ................................................................. 108 3.2.1 Selbstzuschreibung: Eine Verteidigung ....................................................................... 110 3.2.2 Identität und Synthesis ................................................................................................... 115 3.2.3 Kants Argument der Identität in der „Deduktion von oben“ .................................... 122 3.3 Das stehende und bleibende Ich ........................................................................................... 128 3.3.1 Das Ich als Substanz: Duisburg’scher Nachlass und Metaphysik L1 ...................... 129 3.3.2 Kants Konzeption in der transzendentalen Deduktion ............................................... 132 4 Einheit des Selbstbewusstseins: „Vieles in Einem“ ............................................................. 135 4.1 Einheit des Selbstbewusstseins als qualitative Einheit ..................................................... 135 4.2 Einheit des Selbstbewusstseins als synthetische Einheit .................................................. 143
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Inhalt 4.2.1 Apprehension: Vorstellungen im Ganzen aufzufassen .............................................. 145 4.2.2 Reproduktion: Das Ganze der Vorstellungen zu ermöglichen.................................. 147 4.2.3 Rekognition: Begriffe als Regeln, Vorstellungen im Ganzen zu verbinden ........... 151 4.3 Einheit des Selbstbewusstseins als objektive Einheit........................................................ 161 4.3.1 Objektive Einheit und Objektbegriff ............................................................................ 163 4.3.2 Subjektive Einheit und Wahrnehmungsurteile ........................................................... 178
Dritter Teil: Personale Identität und Existenzbewusstsein 5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität .................................................. 187 5.1 Das Entstehen der transzendentalen Idee von der Seele ................................................... 187 5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität........................................................... 195 5.2.1 Scheinbare Gültigkeit des Paralogismus der Personalität ......................................... 195 5.2.2 Ambiguität des Mittelbegriffs im dritten Paralogismus ............................................ 199 5.2.3 Gedankenexperiment: äußerer Beobachter .................................................................. 208 5.3 Konzeptionen der personalen Identität ................................................................................ 211 5.3.1 Drei Arten der Identität im dritten Paralogismus ....................................................... 211 5.3.2 Kants Argument gegen Locke und Leibniz ................................................................. 214 5.3.3 Kants positive Position: Menschen als Personen........................................................ 219 6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich..................................................................................... 227 6.1 Das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz ................................................. 228 6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz ..................................................... 237 6.3 Die empirische Selbsterkenntnis: das Ich als Substanz in der Erscheinung ................... 254 Schluss ............................................................................................................................................... 267 Literaturverzeichnis ....................................................................................................................... 269
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Kants Stufenleiter....................................................................................................16 Abbildung 2: Kants Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Sinn............................50 Abbildung 3: Nicht-Parallelität......................................................................................................50 Abbildung 4: Zeitvorstellung und Linie........................................................................................81 Abbildung 5: Raumvorstellung und Bewegung...........................................................................83 Abbildung 6: Ohne Synthesis.......................................................................................................115 Abbildung 7: Ohne Bewusstsein..................................................................................................116 Abbildung 8: Synthesis mit Bewusstsein....................................................................................117 Abbildung 9: Einteilung des Ich...................................................................................................131 Abbildung 10: Kants Unterscheidung der Einheit der Apperzeption........................................179
Einleitung Was ist Selbstbewusstsein? Auf diese Frage könnte man in alltäglicher Sprache so antworten: Ich weiß, wer ich bin; ich weiß, dass ich mich von anderen Menschen und Dingen unterscheide; ich weiß, dass das gestrige Ich und das heutige Ich dasselbe sind; und ich weiß, dass ich morgen noch existieren werde. Also ist das Selbstbewusstsein nichts anderes als das Bewusstsein, das ich von mir selbst habe. Es ist ein Wissen um sich selbst. Philosophieren wir über diese empirischen Tatsachen, so gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass das Selbstbewusstsein nichts anderes als denjenigen Sacherhalt bedeutet, ich sei mir meiner selbst bewusst, indem ich mich als Objekt meines Bewusstseins durch Reflexion betrachte. Doch was heißt dieser Sachverhalt genauer? Was ist das Ich, dessen ich mir bewusst bin? Ist das Subjekt des Bewusstseins zugleich das Objekt des Bewusstseins? Inwiefern ist das bewusste Ich über die Zeit hinweg identisch? Bin ich immer eine identische Person? Wie verhält sich das Bewusstsein meiner Existenz zu der Außenwelt? Das ist eine Reihe der Fragen, die man sicherlich stellen kann, um die Natur des Selbstbewusstseins besser zu verstehen. Nun erwarten wir, dass diese Fragen auch in Kants Philosophie beantwortet werden können. Und tatsächlich hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft (Kritik) Antworten darauf gegeben. Aber anders als Psychologie und Philosophie des Geistes hat Kant einen besonderen Weg betreten. Denn er versetzt den Begriff des Selbstbewusstseins in den Kontext seiner Transzendental-Philosophie. Oder in heutiger Sprache: Das Selbstbewusstsein wird bei Kant im Zusammenhang mit der Bedingungsanalyse der Möglichkeit unserer Erkenntnis diskutiert. Daher ist es ein Thema mit epistemologischem Hintergrund. Diese Besonderheit zeigt sich zum Beispiel sehr deutlich daran, dass Kant das Selbstbewusstsein als transzendental beschreibt. Auch wird die Einheit dieses transzendentalen Selbstbewusstseins von ihm sogar als „der höchste Punkt“ (B 133 Anm.) 1 der Transzendental-Philosophie angesehen. Der besondere Status des Selbstbewusstseins gipfelt in Kants Spätwerk Opus postumum (Op), indem er betont: „Alle Erkentnis hebt von dem Bewustseyn meiner selbst an“ 2. Dieser Umstand hat für uns zwei Seiten. Auf der einen Seite scheint Kant ein neues Blickfeld für unser Verständnis des Selbstbewusstseins zu eröffnen. Denn worum es ihm geht, ist ein sogenanntes transzendentales Selbstbewusstsein. Es ist, wenn man so sagen will, ein nicht-wirkliches Bewusstsein und unterscheidet sich vom wirklichen Selbstbewusstsein im alltäglichen Sprachgebrauch. Auf der anderen Seite sind wir von vornherein sowohl mit exegetischen als auch mit systematischen Schwierigkeiten konfrontiert, da Kant zwar dem Selbstbewusstsein einen zentralen Status zuschreibt, aber niemals ausdrücklich erklärt, was genau er unter Selbstbewusstsein versteht, geschweige denn eine vollständige Theorie über
1
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In dieser Arbeit werden Kants Schriften nach der Akademischen Ausgabe (AA) zitiert: Kant, Immanuel (1900 ff.): Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin; New York: de Gruyter. Die Angabe von Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft wird aber der Paginierung der Originalausgaben der ersten („A”) und zweiten Auflage („B”) folgen. AA XXII 89. Vgl. auch andere Formulierungen: „Das Vorstellungsvermögen geht vom Bewustseyn meiner selbst aus (apperceptio).“ (Op, AA XXII 79) „Der Verstand fängt mit dem Bewustseyn seiner selbst (apperceptio) an.“ (Op, AA XXII 82)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_1
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Einleitung
die Natur des Selbstbewusstseins liefert. 3 Man findet freilich in Kants Werken zahlreiche Formulierungen dazu, jedoch ist es bei genauerem Hinsehen alles andere als klar, was das transzendentale Selbstbewusstsein überhaupt bedeuten soll. Damit lautet die leitende Frage der vorliegenden Arbeit: Was ist das Selbstbewusstsein bei Kant? Anders formuliert: Wenn wir mit Recht annehmen, dass Kants transzendentales Selbstbewusstsein auch denjenigen Sachverhalt bedeutet, ich sei mir meiner selbst bewusst, lässt sich die obige Frage so konkretisieren: Was heißt es, dass ich mir meiner selbst als ein identisches Subjekt in verschiedenen Vorstellungen bewusst bin? Was heißt es, dass ich mir meiner selbst derart bewusst bin, dass ich als ein spontanes Subjekt zwischen den gegebenen Vorstellungen eine synthetische Einheit herstelle? Und was heißt es, dass ich mir meiner selbst als ein logisches Subjekt bewusst bin, dessen Existenz weder Erscheinung noch Ding an sich ist? Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Kants Antwort auf diese Fragen im Rahmen seiner theoretischen Philosophie systematisch zu rekonstruieren. In der Kritik spielt das Selbstbewusstsein bekanntermaßen in erster Linie für die transzendentale Deduktion der Kategorien eine wichtige Rolle. Später im Paralogismus-Kapitel bildet die mit dem Selbstbewusstsein zusammenhängende Ich-Theorie im Grunde sogar das Herz von Kants Kritik an der traditionellen Seelenlehre. Angesichts dieses textlichen Umstands finden sich in der gegenwärtigen Kant-Forschung grundsätzlich drei Arten des Verfahrens, um Kants Selbstbewusstsein zu thematisieren. Das erste beschäftigt sich mit der Frage nach dem Selbstbewusstsein vor allem im Rahmen der transzendentalen Deduktion der Kategorien. 4 Deshalb hängt natürlich die Interpretation des Selbstbewusstseins eng mit der Struktur und dem Ziel der Deduktion zusammen. Das zweite bemüht sich, das Thema des Selbstbewusstseins auf der Textbasis des Paralogismus-Kapitels aufzugreifen. 5 Daher besteht die Untersuchung des Selbstbewusstseins wesentlich darin, die vier Eigenschaften des Ich bzw. der Seele – Substantialität, Einfachheit, Personalität und Immaterialität – anhand der vier Paralogismen zu erörtern. Das dritte versucht beide Textstücke zu berücksichtigen, um die relevanten Thesen des Selbstbewusstseins in einem Zusammenhang zu behandeln. 6 Diese drei Verfahren können gut zum Verständnis des Kantischen Selbstbewusstseins gelangen. Allerdings werde ich in der vorliegenden Untersuchung das dritte auswählen, und zwar die Frage danach, was das Selbstbewusstsein ist, in beiden genannten Texten zusammengenommen lösen. Denn manche Thesen bedürfen, wie es mir scheint, verschiedener Argumente, die sich jeweils in den einschlägigen Passagen aus beiden Texten finden. Darüber hinaus werde ich auch in dieser Untersuchung insbesondere Kants relevante Ausführungen aus Reflexionen, Spätwerken und Vorlesungsschriften berücksichtigen. Ich möchte versuchen, das Ziel meines Projekts auf folgendem Wege zu erreichen: Ich werde drei wichtige Aspekte von Kants Selbstbewusstsein untersuchen. Diese drei Aspekte sind meiner Ansicht nach in Kants Begriff des Selbstbewusstseins implizit enthalten. Sie gelten auch als drei Gesichtspunkte, unter denen man besser verstehen kann, was das Selbstbewusstsein für Kant ist. Sie sind nämlich das Bewusstsein der Identität des Ich, die Einheit des 3 4 5 6
Vgl. Sturma 1985, S. 11; Carl 1992, S. 61; Rosefeldt 2000, S. 7; Henrich 2003, S. 43. Vgl. Henrich 1976; Becker 1984; Hinsch 1986; Keller 2004; Wunderlich 2005; Schulting 2012. Vgl. Powell 1990; Ameriks 2000; Rosefeldt 2000; Dyck 2014; Melnick 2014. Vgl. Kitcher 1990; Brook 1994; Klemme 1996.
Einleitung
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Selbstbewusstseins und das Bewusstsein der Existenz des Ich. Genauer gesagt: Wessen ich mir bewusst bin, ist zuerst ein und dasselbe Subjekt, das mit numerischer Identität bei verschiedenen Vorstellungen vorkommt. Wessen ich mir bewusst bin, ist dann ein spontanes Subjekt, das die synthetische Einheit der gegebenen Vorstellungen herstellt, damit sich diese Vorstellungen auf einen Gegenstand beziehen. Wessen ich mir bewusst bin, ist schließlich ein leeres Subjekt, dessen Existenz nur als eine logische Bedingung der Möglichkeit aller Gedanken fungiert. So ist dieses Subjekt auch abhängig vom gegebenen Mannigfaltigen. Es sind diese drei Aspekte, denen die vorliegende Arbeit ihren Titel verdankt, um Kants Selbstbewusstsein deutlich zu machen. Allerdings stellt sich sogleich die weitere Frage: Warum gerade diese drei Aspekte? Mit welchem Recht können wir dies behaupten? Auf die sachlichen Gründe kann ich erst in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit ausführlich eingehen. Doch schon hier möchte ich kurz erläutern, weshalb eine Untersuchung der genannten drei Aspekte lohnend ist. Erstens steht die Wichtigkeit, die der Beschäftigung mit der Einheit des Selbstbewusstseins zukommt, außer Zweifel. Kant führt deswegen das Selbstbewusstsein in die transzendentale Deduktion der Kategorien ein, weil es über eine unersetzbare Funktion verfügt, zwischen dem Mannigfaltigen der gegebenen Vorstellungen in Bezug auf das erkennende Subjekt eine Einheit möglich zu machen. Sonst wäre die Verbindung der gegebenen Vorstellungen unmöglich und wir könnten keinen Gegenstand erkennen. Wie Kant selber betont, bedarf das Mannigfaltige der Einheit, die „nur das Bewußtsein verschaffen kann“ (A 103). Die Einheit des Selbstbewusstseins ist „eine objektive Bedingung aller Erkenntnis“ (B 138). Hier ist es leicht zu sehen, dass Kant der Sache nach die Einheit als eine wesentliche Eigenschaft des Selbstbewusstseins ansieht. 7 Daher ist es nötig, die Einheit ins Zentrum der Untersuchung des Selbstbewusstseins zu stellen. Zweitens scheint es mir darüber hinaus sinnvoll zu sein, die Einheit des Selbstbewusstseins konkreter zu behandeln, und zwar zwischen der analytischen und der synthetischen Einheit zu unterscheiden. Da Kant bekanntermaßen die analytische Einheit des Selbstbewusstseins mit der Identität des Selbstbewusstseins gleichsetzt, ist es naheliegend, die Identität der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins gegenüberzustellen. Obwohl diese Unterscheidung von Kant nicht in allen Kontexten eindeutig getroffen wird, steht es aus exegetischem Grund außer Frage, dass die Natur des Selbstbewusstseins durch ausführliche Untersuchungen dieser zwei abgesonderten Aspekte besser verstanden werden kann. Denn es wird sich herausstellen, dass die Identität des Selbstbewusstseins in der Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen besteht. Das heißt, das identische Ich muss in allen meinen verschiedenen Vorstellungen vorkommen und kann sprachlich durch die Verwendung des Wortes ‚ich‘ zum Ausdruck gebracht werden. Deshalb betrifft die Identität die Tatsache, dass ein und dasselbe Ich in verschiedenen Vorstellungen ist. Jedoch handelt es sich bei der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins um das Verhältnis, das zwischen den gegebenen Vorstellungen im Hinblick auf das identische Subjekt besteht. Somit ist hier davon die Rede, verschiedene Vorstellungen und ihre Synthesis als in einem Subjekt enthalten zu betrachten. Aus diesem Grund lohnt es sich, 7
In Dieter Henrichs Interpretation ist die Einheit ein wesentlicher Charakter des Selbstbewusstseins. (Vgl. Henrich 2003, S. 40)
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Einleitung
die Identität und die (synthetische) Einheit als zwei unterschiedliche Aspekte des Selbstbewusstseins zu untersuchen. Drittens soll auch das Existenzbewusstsein des Ich zum Verständnis vom Kantischen Selbstbewusstsein geklärt werden, weil die Existenz des Ich, um die es im reinen Selbstbewusstsein geht, von Besonderheit ist. Kant zufolge existiert das Ich weder als Erscheinung noch als Ding an sich, noch als ein gedachtes Verstandeswesen, sondern als eine Instanz, die als logischer Träger aller Gedanken dient. Wie es sich zeigen wird, lässt sich seine Existenz als logische Existenz bezeichnen und das Bewusstsein davon ist kein wirkliches Bewusstsein, sondern ein intellektuelles Bewusstsein. Da das Ich nur als eine leere Form existiert, ist seine Realisierung davon abhängig, dass uns das zu synthetisierende Mannigfaltige gegeben ist. Ohne gegebene Inhalte gäbe es kein Ich. 8 Diese Grundidee zieht sich wie ein roter Faden durch Kants Gedankengang von der transzendentalen Deduktion der Kategorien bis zum Paralogismus-Kapitel. Angesichts dieser Besonderheit ist es nötig, neben Identität und Einheit noch das Existenzbewusstsein des logischen Ich als einen notwendigen Aspekt zu untersuchen. Kants Theorie des Selbstbewusstseins enthält bekanntermaßen nicht nur diese drei Aspekte. Zum Beispiel sind in der Literatur die folgenden Fragen oft diskutiert worden: Was ist Subjektivität? Wie versteht man das Kantische Ich? Hat Selbstbewusstsein eine allgemeine Struktur? Impliziert Kants Selbstbewusstsein eine Reflexionstheorie? Die Behandlung dieser Fragen würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Vielmehr beschränkt sich diese Arbeit nur auf die oben genannten drei Aspekte, denn wir werden sehen, dass eine ausführliche Entfaltung dieser drei Aspekte schon hinreichend deutlich machen kann, was das Selbstbewusstsein bei Kant ist. Aber die Thesen, die mit diesen drei Aspekten eng zusammenhängen, werden auch in dieser Untersuchung zur Sprache kommen. Aufgrund der obigen Fragestellung und Einschränkung des Themas möchte ich in dieser Arbeit folgendermaßen vorgehen. Sie gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil liefert vorbereitende Untersuchungen. Dabei wird es sich vor allem herausstellen, dass das reine und das empirische Selbstbewusstsein als zwei verschiedene Bereiche in Kants theoretischer Philosophie voneinander unterschieden werden müssen. Im ersten Kapitel werde ich Bewusstsein und Selbstbewusstsein einer begrifflichen Analyse unterziehen. Im zweiten Kapitel befasse ich mich mit Kants Theorie des inneren Sinnes. Dabei soll zunächst erläutert werden, wie sich der innere Sinn zum äußeren Sinn verhält. Dann werde ich dafür argumentieren, dass Kants innerer Sinn zwei Begriffe impliziert: als Vermögen des Gegenstandsbewusstseins und als Vermögen des empirischen Selbstbewusstseins. Der zweite Teil ist der Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Er behandelt zwei wesentliche Aspekte des Selbstbewusstseins. Im dritten Kapitel werde ich erklären, was die Identität des Selbstbewusstseins ist. Ich werde davon ausgehen, dass das Bewusstsein der Identität des Ich in der Selbstzuschreibung besteht, und dann begründen, dass das Bewusstsein der Identität des Ich nur durch das Bewusstsein der Synthesis der gegebenen Vorstellungen möglich ist. Dabei werde ich auch Kants Argumente dafür rekonstruieren, dass die Identität des Selbstbewusstseins als Ausgangspunkt des Argumentationsganges der Deduktion fungiert. Das vierte 8
Auf diesen Grundgedanken Kants haben viele Interpreten schon hingewiesen. Vgl. Henrich 2003, S. 41; Horstmann 2007, S. 139; Förster 2011, S. 170.
Einleitung
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Kapitel widmet sich der Frage, was die Einheit des Selbstbewusstseins ist. Ich werde drei Bestimmungen der Einheit des Selbstbewusstseins – qualitative, synthetische und objektive Einheit – analysieren. Der dritte Teil dieser Arbeit widmet sich erweiternden Untersuchungen. Zunächst lässt sich die Beschäftigung mit der personalen Identität als eine weitere Untersuchung des im zweiten Kapitel abgehandelten Themas ansehen. Dann soll der oben genannte dritte Aspekt auch als eine erweiternde Untersuchung von der Natur des Selbstbewusstseins behandelt werden. Damit werde ich im fünften Kapitel zu erklären versuchen, warum die Identität des reinen Selbstbewusstseins noch nicht die personale Identität impliziert. Dabei soll unter anderem Kants Kritik an der Personalität der rationalen Psychologie rekonstruiert werden. Auch werde ich dafür argumentieren, dass Kant zur personalen Identität seine eigene positive Position hat. Im letzten Kapitel werde ich darauf eingehen, dass es sich bei reinem Selbstbewusstsein um das intellektuelle Bewusstsein der logischen Existenz des Ich handelt. Dies macht deutlich, dass die Existenz des logischen Ich von der Existenz des empirischen Ich streng abgegrenzt werden muss. Dann soll sich auch zeigen, wie das empirische Bewusstsein der in der Zeit bestimmten Existenz des Ich möglich ist. Schließlich wird es noch um das Problem der Möglichkeit der empirischen Selbsterkenntnis gehen.
Erster Teil Vorbereitende Untersuchungen
1 Kants Begriff vom Bewusstsein und Selbstbewusstsein In Kants theoretischer Philosophie hat er niemals eine Bewusstseinstheorie zur Absicht. Er verwendet die Begriffe wie „Bewusstsein“ und „Selbstbewusstsein“ zwar in gewissem Maße noch im traditionellen Sinne, aber im Wesentlichen haben diese Begriffe in seiner eigenen Transzendental-Philosophie ganz neue Bedeutungen. Um Kants Theorie des Selbstbewusstseins systematisch zu rekonstruieren, ist es nötig zu erklären, was Kant unter diesen zwei Begriffen versteht. Für diese Aufgabe möchte ich in diesem Kapitel so vorgehen: Zuerst werde ich Kants Begriff des Bewusstseins erläutern und auf Kants Einteilung der Vorstellungen im Zusammenhang mit dem Bewusstsein eingehen (1.1). Anschließend werde ich mich mit der Besonderheit von Kants Begriff des Selbstbewusstseins beschäftigen. Genauer gesagt: Ich werde die drei adjektivischen Beschreibungen von Kants Selbstbewusstsein – rein, ursprünglich und transzendental – erörtern und die drei Aspekte des Selbstbewusstseins, die ich in dieser Untersuchung ausführlich entwickle, analysieren (1.2). Schließlich werde ich das Bedingungsverhältnis zwischen dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein diskutieren (1.3). 1.1
Bewusstsein und Vorstellung
(a)
Kants Begriff des Bewusstseins
„Bewusstsein“ ist in der Philosophie ein sehr schwer zu erklärender Begriff. Kant hat in seiner theoretischen Philosophie diesen Begriff nicht explizit bestimmt. Denn er setzt voraus, dass dieser Begriff im zeitgenössischen Kontext als allgemein bekannt gebraucht wird. 9 Doch an einigen Textstellen deutet Kant an, was er unter Bewusstsein versteht. Kant zufolge ist das Bewusstsein ein Sachverhalt, der in dem Besitzverhältnis einer Vorstellung zu ihrem Subjekt besteht. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein ist als eine Betrachtungsweise zu verstehen, wie man bestimmt, eine Vorstellung zu besitzen. Dass man sich eines Dinges bewusst ist, bedeutet daher nichts anderes, als dass man festlegen kann, dass man die Vorstellung vom Ding hat. Dies impliziert wiederum, dass man auch festlegen kann, dass die Vorstellung, die man besitzt, nicht die Vorstellung von einem anderen Ding ist. Insofern ist das Bewusstsein auch eine Art und Weise, wie man zwischen zwei Vorstellungen, die zu ein und demselben Subjekt gehören, unterscheidet. Diese Überlegungen zeigen sich gut in Kants Formulierungen. Zum Beispiel schreibt er in der Jäsche-Logik: Eigentlich ist das Bewußtsein eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist. (AA IX 33)
Und in den Vorlesungen über Metaphysik nach Pölitz heißt es: Das Bewußtsein ist ein Wissen dessen, was mir zukommt. Es ist eine Vorstellung von meinen Vorstellungen, es ist eine Selbstwahrnehmung, Perception. (Metaphysik L1, AA XXVIII 227)
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Eine ausführliche Auseinandersetzung vgl. Wunderlich 2005, S. 135-145.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_2
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
Diese zwei Zitate weisen darauf hin, dass Kant das Bewusstsein tatsächlich als einen Sachverhalt versteht, in dem die zugehörige Beziehung einer Vorstellung zum Subjekt ausgedrückt wird. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass für Kant das Bewusstsein von Vorstellungen nichts anderes als das Wissen vom Besitz dieser Vorstellungen bedeutet. Allerdings ist bemerkenswert, dass Kant hier die Theorie zu vertreten scheint, das Bewusstsein sei „eine Vorstellung zweiter Ordnung“ oder so etwas wie Lockes „ideas of reflection“ 10. Das heißt, dass das Bewusstsein nicht eine unmittelbare Vorstellung vom Gegenstand, sondern eine Vorstellung von der Vorstellung des Gegenstandes ist, wie Kant in einer Reflexion schreibt: „Wir können uns auch unsere Vorstellung selber vorstellen.“ 11 Diese Interpretation legt nahe, dass alle Vorstellungen mit Bewusstsein bzw. bewusste Vorstellungen, als Vorstellungen zweiter Ordnung verstanden werden müsste. So wäre eine Anschauung oder ein Begriff eine Vorstellung zweiter Ordnung, also schon eine Vorstellung von der Vorstellung. Jedoch scheint mir diese Umständlichkeit vermeidbar zu sein, wenn man eine andere Lesart zu den eben zitierten zwei Formulierungen unterstellt: Das Bewusstsein selbst ist freilich eine Vorstellung, aber nicht eine „Metavorstellung“, sondern schon eine Vorstellung vom Gegenstand, weil man sich doch eines Gegenstandes unmittelbar bewusst werden kann. Dass man sich eines Gegenstandes bewusst ist, heißt daher nur, dass man sich diesen Gegenstand vorstellt, wobei aber betont wird, dass ein Subjekt diese Vorstellung als eine bewusste Vorstellung besitzt und sie von anderen Vorstellungen unterscheiden kann. Doch was heißt es genauer, dass die Rede von Bewusstsein den Unterschied der Vorstellungen impliziert? Das Bewusstsein wird sprachlich entweder durch das Nomen „Bewusstsein von etwas“ oder durch die Form „sich etwas bewusst zu sein“ zum Ausdruck gebracht. Dabei sieht man schon leicht, dass sich das Bewusstsein immer auf etwas bezieht, das als Objekt oder Inhalt dieses Bewusstseins betrachtet wird. Das heißt, dass das Bewusstsein immer das Bewusstsein von etwas sein muss. Das Subjekt bezieht sich durch dieses Bewusstsein auf das vorgestellte Objekt. Dass ein Subjekt sich eines Dinges bewusst ist, impliziert schon, dass das, dessen dieses Subjekt sich bewusst ist, nicht ein anderes Ding ist. Mit anderen Worten: Das Subjekt kann seine Vorstellungen nur dann unterscheiden, wenn es sich ihrer bewusst ist. Diese Überlegung hat Kant selbst in einer Reflexion deutlich ausgedrückt, wo er schreibt: Sich einer [sache] Vorstellung bewust seyn, ist: wißen, daß man diese Vorstellung hat; das heißt: diese Vorstellung von den andern unterscheiden. (R 1679, AA XVI 80)
Eine Parallelstelle aus seiner Vorlesungsschrift lautet: Wenn wir eine Vorstellung und ihren Gegenstand, auf den sie gehet, von anderen Vorstellungen unterscheiden, so sind wir uns der Vorstellung bewust. (Logik Blomberg, AA XXIV 40)
Daraus geht hervor, dass sich Kants Begriff des Bewusstseins durch die Unterscheidung von Vorstellungen erklären lässt. Das Bewusstsein einer Vorstellung bzw. eine bewusste Vorstellung heißt daher nicht nur, dass man diese Vorstellung besitzt, sondern auch, dass man sie von anderen Vorstellungen unterscheiden kann. Also ist das Bewusstsein eine Voraussetzung da10 11
Vgl. Wunderlich 2005, S. 135. R 1678, AA XVI 79.
1.1 Bewusstsein und Vorstellung
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für, dass man zwischen den Vorstellungen eine Verbindung herstellt. Dies zeigt sich deutlich in Kants Reflexion: Den Weil die Seele weis, was sie sich vorstellt und wie sie sichs vorstelt, so kan sie auf verschiedene Art mit ihren Vorstellungen umgehen, sie vergleichen, absondern, verbinden und dadurch dasjenige verrichten, was man nachdenken nennt. Welches die Thiere nicht können, weil sie sich ihrer Nicht bewust seyn. (R 1678, AA XVI 79 f.)
Wie wir noch sehen werden, bezeichnet Kant bewusste Vorstellungen als klare Vorstellungen. In einer Passage aus dem Paralogismus-Kapitel der Kritik weist Kant darauf hin, dass eine klare Vorstellung das Bewusstsein des Unterschiedes dieser Vorstellung von anderen Vorstellungen vorgesetzt. Ohne Bewusstsein des Unterschiedes wäre die Vorstellung noch eine dunkle Vorstellung. 12 Auf diese Überlegung werde ich noch einmal in 1.1 (c) zurückkommen. Abschließend möchte ich noch aufgrund der obigen Erklärung von Kants Begriff des Bewusstseins die Unterscheidung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Gegenstandsbewusstsein kurz darstellen. In einer Vorlesungsschrift schreibt Kant: Ich bin mir zweifacher Gegenstände bewußt: 1) meines Subjects und meines Zustandes; 2) der Dine außer mir. (Metaphysik L1, AA XXVIII 226) 13
Wenn das Objekt des Bewusstseins das Ich ist, das über mentale Zustände verfügt, lässt sich diese Art des Bewusstseins als Selbstbewusstsein bezeichnen. Als Synonym benutzt Kant auch folgendes Vokabular: die Apperzeption, das „Bewusstseins seiner selbst“ (A 107) oder „die einfache Vorstellung des Ich“ (B 68). Nach Kants Begriff des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein als ein Sachverhalt zu verstehen, in dem ich mich von allem, was von mir verschieden ist, unterscheiden kann. Mit anderen Worten: Ich bin mir meiner selbst bewusst und ich weiß, dass sich die Vorstellung von mir von allen anderen Vorstellungen unterscheidet. Das Gegenstandsbewusstsein hingegen bedeutet, dass man eine Vorstellung von einem Gegenstand besitzt und weiß, dass sich diese Vorstellung von allen anderen unterscheidet. Anders gesagt: Ich bin mir eines von mir unterschiedenen Gegenstands bewusst. In einer Vorlesungsschrift stellt Kant noch einmal diesen scharfen Gegensatz heraus, indem er sagt: Das Bewustseyn ist zweyerley seiner selbst und der Gegenstände. So ist oft ein Mensch der sich der Gegenstände außer ihm bewust ist, und darüber sehr in Gedancken ist, seiner selbst sich nicht bewust. Das Bewustseyn der Gegenstände ist also etwas anderes als seiner selbst. Ie mehr wir uns der Gegenstände bewust seyn, desto mehr sind wir außer uns, je mehr wir unsrer selbst bewust sind, desto mehr sind wir in uns. Die Beobachtung der Dinge ist nicht so beschwerlich als die Beobachtung seiner selbst, obgleich die Beobachtung seiner selbst kurtz ist. (Anthropologie Friedländer, AA XXV 477)
Das Selbstbewusstsein ist zwar vom Gegenstandsbewusstsein streng zu unterscheiden, aber beide verhalten sich auch zueinander. Wie sich zeigen wird, besteht laut Kant zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Gegenstandsbewusstsein eine wechselseitige Abhängigkeit: Aus ontologischer Hinsicht ist kein Gegenstandsbewusstsein ohne Selbstbewusstsein möglich, 12
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Dazu schreibt Kant: „Sondern eine Vorstellung ist klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht. Reicht dieses zwar zur Unterscheidung, aber nicht zum Bewußtsein des Unterschiedes zu, so müßte die Vorstellung noch dunkel genannt werden.“ (B 414 Anm.) Vgl. „Meine Vorstellung wird entweder auf Gegenstände gerichtet, oder auf mich selbst. Im ersten Falle bin ich mir anderer Erkenntnisse bewußt, im zweiten Falle meines Subjects.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 227)
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
denn „[i]ch bin das original aller objecte“ 14, und „[a]lle Erkentnis hebt von dem Bewustseyn meiner selbst an“ 15. Aus epistemologischer Hinsicht aber ist das Selbstbewusstsein nicht ohne Gegenstandsbewusstsein möglich, weil nur in „der Synthesis nach Begriffen […] die Apperzeption allein ihre durchgängige und notwendige Identität a priori beweisen kann“ (A 112) und „ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, […] der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden [würde]“ (B 422 Anm.). Kants Gedankengang über dieses Verhältnis wird erst durch die Auseinandersetzung mit der Identität und der Einheit des Selbstbewusstseins in der transzendentalen Deduktion klar. Dies werde ich in Kapiteln 3 und 4 untersuchen. (b)
Vorstellungen: dunkle, klare und deutliche
In Kants kritischer Philosophie spielt die traditionelle Überlegung, dass unsere Vorstellungen nach dem Grad des Bewusstseins graduell von verworren bis deutlich unterschieden werden können, nicht mehr die zentrale Rolle. Stattdessen führt Kant die Redeweise ein, dass die Unterscheidung von verschiedenen Erkenntnisvermögen nicht in dem Grad der Deutlichkeit besteht, sondern wesentlich darin, dass sie auf der Rezeptivität oder Spontaneität beruhen. Und damit übernehmen sie unterschiedliche Funktionen. Dementsprechend besteht die Unterscheidung von den diesen Vermögen zugeschriebenen Vorstellungen nicht mehr in dem graduellen Grad des Bewusstseins, sondern darin, dass sie zu verschiedenen Erkenntnisquellen gehören und für unsere Erkenntnis verschiedene Rollen spielen. So gehören sinnliche Vorstellungen nicht unbedingt zu den verworrenen Vorstellungen; ebenso wenig implizieren intellektuelle Vorstellungen, dass sie in Bezug auf das Bewusstsein deutliche Vorstellungen sein müssen. 16 Kant hat in seiner eigenen Theorie über die Unterscheidung von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft die Rede vom Grad des Bewusstseins völlig verworfen. 17 Dennoch spricht Kant an vielen Textstellen – vor allem in der Anthropologie und den Vorlesungsschriften – noch von der herkömmlichen, nach dem Grad des Bewusstseins getroffenen Unterscheidung der Vorstellungen. Um Kants Begriff des Bewusstseins besser zu verstehen, möchte ich hier kurz auf Kants Einteilung eingehen. In der Anthropologie teilt Kant die Vorstellungen, die wir tatsächlich haben, in dunkle, klare und deutliche ein. 18 Dazu schreibt er: Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. - Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkele; die übrigen sind klar und, wenn ihre Klarheit sich auch auf die Theilvorstellungen eines Ganzen derselben und ihre Verbindung erstreckt, deutliche Vorstellungen, es sei des Denkens oder der Anschauung. (AA VII 135)
14 15 16 17
18
R 4674, AA XVII 646. Op, AA XXII 89. Vgl. A 43 f./ B 60; Anthropologie, AA XVII 140 f. Kant gesteht natürlich zu, dass „das Bewußtsein […] jederzeit einen Grad [hat], der immer noch vermindert werden kann […]“ (B 415) (vgl. auch B 414 Anm.; MAN, AA IV 542), aber ob das Bewusstsein stark oder schwach ist, spielt in seiner eigenen Einteilung der Vorstellungen keine Rolle. Nach Stefanie Grüne stammt die Einteilung der Vorstellungen in Dunkelheit, Klarheit und Deutlichkeit nicht von Kant selbst, sondern von Descartes und Leibniz. (Vgl. Grüne 2009, S. 71)
1.1 Bewusstsein und Vorstellung
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Betrachten wir zuerst die Unterscheidung zwischen dunkler und klarer Vorstellungen. Die unbewussten Vorstellungen oder, genauer gesagt, die Vorstellungen, derer wir uns nicht unmittelbar bewusst sind, werden die dunklen Vorstellungen genannt. Im Gegensatz dazu sind die Vorstellungen, deren wir uns unmittelbar bewusst sind, klare Vorstellungen. So heißt es in der Jäsche-Logik: „Bin ich mir der Vorstellung bewußt: so ist sie klar; bin ich mir derselben nicht bewußt, dunkel.“ (AA IX 33) 19 Die Tatsache, dass wir dunkle Vorstellungen haben, wird von Locke bestritten. 20 Aber Kant ist der Meinung, dass wir uns zwar der dunklen Vorstellungen nicht bewusst sind, aber behaupten können, dass wir sie haben. Denn wir können uns ihrer mittelbar bewusst werden. Mit anderen Worten: Wir können schließen, dass wir dunkle Vorstellungen haben. Dafür spricht Kants Aussage aus der Metaphysik Mrongrovius: „Unsere Vorstellungen sind entweder dunkel oder klar etc. Dunkle Vorstellungen sind die, deren ich mir nicht unmittelbar bewußt bin, durch Schlüsse aber doch mittelbar bewußt werden kann.“ (AA XXIX 879) Was heißt es aber, sich einer Vorstellung nicht oder, genauer gesagt, nicht unmittelbar bewusst zu werden? Nach der obigen Erläuterung von Kants Begriff des Bewusstseins lässt sich diese Frage leicht beantworten: Dass man sich einer Vorstellung nicht bewusst ist, heißt nichts anderes, als dass man nicht weiß, dass man diese Vorstellung besitzt. Und daher wird sie von anderen Vorstellungen nicht unterschieden. Dies wird in einer Reflexion explizit zum Ausdruck gebracht, wo Kant schreibt: Eine obscure idee ist, deren wir uns nicht bewust seyn, oder die wir weder von uns noch andern Dingen unterscheiden. Wir wißen also nicht einmal, daß wir sie haben. Wir müßen sie schließen. (R 1681, AA XVI 81)
Doch wie kann man schließen, eine Vorstellung tatsächlich zu haben, ohne dass man weiß, dass man sie hat? Anders formuliert: Wie ist man sich einer Vorstellung mittelbar bewusst? Statt Ausführungen zu geben, hat Kant für diese Frage nur Beispiele angeführt. 21 Kants Überlegung, die in seinen Beispielen angedeutet wird, kann man so deutlich machen: Wenn eine klare Vorstellung eine komplexe Vorstellung ist (sie kann auch eine einfache Vorstellung sein), besteht sie aus Teilvorstellungen. Da nun mit der klaren Vorstellung die bewusste Vorstellung gemeint ist, kann man sagen, dass man sich dieser komplexen Vorstellungen als eines Ganzen bewusst ist. Dabei ist man sich zwar der Teilvorstellungen nicht bewusst, aber man ist in der Lage, sich der Teilvorstellungen bewusst zu werden. Denn die bewusste komplexe Vorstellung enthält notwendigerweise diese Teilvorstellungen. Dies besagt, dass man von der bewussten Vorstellung auf die unbewussten Teilvorstellungen schließen kann. Kurz gesagt: Eine bewusste komplexe Vorstellung impliziert, dass es möglich ist, dass man sich ihrer Teil19
20 21
In den Vorlesungsschriften schreibt Kant: „Eine Erkenntniß, deren ich mir bewußt bin, heißt klar. Bin ich mir ihrer nicht bewusst: heißt sie dunkel.“ (Logik Wiener, AA XXIV 805) Vgl. auch Logik Philippi, AA XXIV 409; Metaphysik L1, AA XXVIII 135. Vgl. Anthropologie, AA VII 135. Ein Beispiel aus der Anthropologie lautet: „Wenn ich weit von mir auf einer Wiese einen Menschen zu sehen mir bewußt bin, ob ich gleich seine Augen, Nase, Mund u.s.w. zu sehen mir nicht bewußt bin, so schließe ich eigentlich nur, daß dies Ding ein Mensch sei; denn wollte ich darum, weil ich mir nicht bewußt bin, diese Theile des Kopfs (und so auch die übrigen Theile dieses Menschen) wahrzunehmen, die Vorstellung derselben in meiner Anschauung gar nicht zu haben behaupten, so würde ich auch nicht sagen können, daß ich einen Menschen sehe; denn aus diesen Theilvorstellungen ist die ganze (des Kopfs oder des Menschen) zusammengesetzt.“ (AA VII 135)
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
vorstellungen bewusst ist. Denn wenn das Bewusstsein von den Teilvorstellungen unmöglich wäre, wäre das Bewusstsein der ganzen komplexen Vorstellung auch unmöglich. Also sind die Teilvorstellungen, deren man sich beim Bewusstsein der ganzen komplexen Vorstellung nicht bewusst ist, unbewusste Vorstellungen. Jedoch kann man schließen, dass man diese unbewussten Vorstellungen potenziell hat. Das Gegenteil der Dunkelheit ist laut Kant die Klarheit. So sind die klaren Vorstellungen offenbar die Vorstellungen, deren wir uns unmittelbar bewusst sind, nämlich bewusste Vorstellungen. Nach der Erklärung von Kants Begriff des Bewusstseins sind die bewussten Vorstellungen so zu verstehen: Von einer klaren Vorstellung weiß man nicht nur, dass man sie hat, sondern auch, dass sie sich von anderen Vorstellungen unterscheidet. Aber Kant weist in der Anthropologie darauf hin, dass die klaren Vorstellungen nur einen kleinen Teil der Vorstellungen, die wir haben, einnehmen, 22 und dass „das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen“ (AA VII 136) ist. Die Untersuchung von den dunklen Vorstellungen gehört nicht zur „pragmatischen“ Anthropologie, sondern zur „physiologischen Anthropologie“ (AA VII 136). Auch beschäftigt sich die Logik laut Kant „nur mit klaren, nicht aber mit dunkeln Vorstellungen“ 23. Insofern müssen alle Vorstellungen, die in der Erkenntnis enthalten sind, mindestens klare bzw. bewusste Vorstellungen sein. Wenden wir uns nun Kants Unterscheidung von klaren und deutlichen Vorstellungen zu. Wir haben schon gesehen, dass eine Vorstellung entweder dunkel oder klar ist, und dass das Bewusstsein für diese Unterscheidung eine entscheidende Rolle spielt. Es ist aber hier darauf zu achten, dass die Klarheit nur auf das Ganze der Vorstellung gerichtet ist. Das heißt, dass eine Vorstellung als klar genau dann bezeichnet werden kann, wenn wir uns der Vorstellung als eines Ganzen bewusst sind. Nun geht Kant davon aus, dass sich einige der klaren Vorstellungen als deutliche Vorstellungen ansehen lassen, wenn wir uns in den klaren Vorstellungen auch zugleich ihrer Teilvorstellungen bewusst sind. In Kants Worten: Klare Vorstellungen werden dann deutliche Vorstellungen, „wenn ihre Klarheit sich auch auf die Theilvorstellungen eines Ganzen derselben und ihre Verbindung erstreckt“ 24. Da das Bewusstsein für die Klarheit entscheidend ist, ist mit dieser Aussage gemeint, dass wir uns der Teilvorstellungen und ihrer Verbindung bewusst sind. Darüber hinaus gibt es in allen klaren Vorstellungen neben den deutlichen Vorstellungen noch die undeutlichen Vorstellungen. Dazu schreibt Kant in der Jäsche-Logik:
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23 24
Vgl. „Daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d.i. dunkeler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren), unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüths nur wenig Stellen illuminirt sind: kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen; denn eine höhere Macht dürfte nur rufen: es werde Licht! so würde auch ohne Zuthun des Mindesten (z.B. wenn wir einen Litterator mit allem dem nehmen, was er in seinem Gedächtniß hat) gleichsam eine halbe Welt ihm vor Augen liegen.“ (Anthropologie, AA VII 135) Jäsche-Logik, AA IX 33. Anthropologie, AA VII 135.
1.1 Bewusstsein und Vorstellung
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Alle klaren Vorstellungen, auf die sich allein die logischen Regeln anwenden lassen, können nun unterschieden werden in Ansehung der Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Sind wir uns der ganzen Vorstellung bewußt, nicht aber des Mannigfaltigen, das in ihr enthalten ist: so ist die Vorstellung undeutlich. (AA IX 34) 25
Dies besagt, dass Kant eine Vorstellung, derer als eines Ganzen wir uns bewusst sind, und derer Teilvorstellungen wir uns aber nicht bewusst sind, als undeutliche Vorstellung bezeichnet. Allerdings darf man Kant zufolge die Undeutlichkeit mit der Verworrenheit nicht verwechseln. Denn er schreibt: „Der deutlichen Vorstellung kann man nicht die verworrene (perceptio confusa), sondern muß ihr blos die undeutliche (mere clara) entgegensetzen. Was verworren ist, muß zusammengesetzt sein; denn im Einfachen giebt es weder Ordnung noch Verwirrung. Die letztere ist also die Ursache der Undeutlichkeit, nicht die Definition derselben.“ 26 Dies bedeutet, dass eine verworrene Vorstellung eine zusammengesetzte bzw. komplexe sein muss, aber eine undeutliche Vorstellung eine einfache Vorstellung sein kann. Somit kann man nur die undeutlichen Vorstellungen den deutlichen gegenüberstellen. Aus der Einteilung der Klarheit in Deutlichkeit und Undeutlichkeit wird es klar, dass das Bewusstsein auch dafür entscheidend ist, ob eine klare Vorstellung deutlich bzw. undeutlich ist. Um Kants Einteilung näher deutlich zu machen, sehen wir uns abschließend ein Beispiel aus der Jäsche-Logik an. 27 Ich sehe in der Nacht mit bloßen Augen die Milchstraße als einen weißlichen Streifen. Obwohl die Lichtstrahlen von den einzelnen in diesem Streifen befindlichen Sternen in meine Augen kommen, bin ich nicht in der Lage, diese Sterne direkt wahrzunehmen. D. h. ich bin mir der Vorstellungen dieser Sterne nicht unmittelbar bewusst. So sind sie nur dunkle Vorstellungen. Da ich aber in diesem Fall unmittelbar die Milchstraße wahrnehme, ist die Vorstellung der Milchstraße als Ganze eine klare Vorstellung. Beobachte ich die Milchstraße durch ein Teleskop, dann nehme ich nicht nur die ganze Milchstraße, sondern auch die einzelnen Sterne (zumindest eine Menge der Sterne) unmittelbar wahr. Demnach wird die Vorstellung der Milchstraße eine deutliche Vorstellung, denn ich bin mir der Vorstellungen der einzelnen Sterne bewusst. Und dabei kann man sagen, dass diese klaren Vorstellungen von Sternen eigentlich die dunklen Vorstellungen waren, die wir ohne Teleskop nur schließen konnten. Wenn ich wieder durch ein feineres Teleskop die Teile der einzelnen Sterne beobachte, wird die vorher als klar bezeichnete Vorstellungen der Sterne deutliche Vorstellungen. Also ist die Einteilung der Vorstellungen in dunkle, klare und deutliche nur relativ, nicht absolut. (c)
Bewusste Vorstellungen
Wir haben bereits davon gesprochen, dass sich das Bewusstsein als eine Vorstellung ansehen lässt. Aber es ist auffällig, dass das Bewusstsein bei Kant dennoch nicht zu einer höheren Stufe bzw. einer Metavorstellung gehört. Das heißt, dass eine bewusste Vorstellung nicht als Vorstellung von einer Vorstellung verstanden werden sollte. Vielmehr ist das Bewusstsein 25 26 27
Vgl. auch R 643, AA XV 283; R 1692, AA XVI 85. Anthropologie, AA VII 138. Kants Text lautet: „Ich sehe z.B. die Milchstraße als einen weißlichten Streifen; die Lichtstrahlen von den einzelnen in demselben befindlichen Sternen müssen nothwendig in mein Auge gekommen sein. Aber die Vorstellung davon war nur klar und wird durch das Teleskop erst deutlich, weil ich jetzt die einzelnen in jenem Milchstreifen enthaltenen Sterne erblicke.“ (Jäsche-Logik, AA IX 35)
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
laut Kant in gewissem Sinne eine Redeweise, wie sich eine Vorstellung auf das Subjekt bezieht, wenn dieses Subjekt einen Gegenstand repräsentiert. Wenn das Subjekt weiß, dass es diese Vorstellung besitzt, ist sie eine bewusste Vorstellung; wenn nicht, eine unbewusste Vorstellung. Wie oben erläutert, gesteht Kant zwar zu, dass auch die bewussten Vorstellungen einen Grad haben. Aber diese Betrachtungsweise der Vorstellungen spielt in seiner Transzendentalphilosophie keine wichtige Rolle mehr. Es ist klar, dass eine unbewusste Vorstellung in der Tat für unsere Erkenntnis sinnlos ist. Und die Vorstellungen, die unsere Erkenntnisse ausmachen können, müssen bewusste Vorstellungen sein. So sind fast alle Vorstellungen, um die es in Kants theoretischer Philosophie geht, als bewusste Vorstellungen zu bezeichnen. Dies sieht man besonders klar in der bekannten „Stufenleiter“ 28. Dort schreibt Kant: Hier ist eine Stufenleiter derselben. Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio). Eine Perception, die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieht, ist Empfindung (sensatio), eine objective Perception ist Erkenntniß (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln, dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann. Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee oder der Vernunftbegriff. Dem, der sich einmal an diese Unterscheidung gewöhnt hat, muß es unerträglich fallen, die Vorstellung der rothen Farbe Idee nennen zu hören. Sie ist nicht einmal Notion (Verstandesbegriff) zu nennen. (A 320/ B 376 f.)
Kants Einteilung kann man durch das folgende Schaubild veranschaulichen: Vorstellung überhaupt (repraesentatio) Vorstellung mit Bewusstsein (perceptio) Vorstellung ohne Bewusstsein Subjektive Perzeption
Objektive Perzeption
Empfindung (sensatio)
Erkenntnis (cognitio)
Anschauung (intuitus)
Begriff (conceptus)
Empirischer Begriff Verstandesbegriff (Kategorie)
Reiner Begriff Vernunftbegriff (Idee)
Abb. 1: Kants Stufenleiter
Aus diesem Schaubild ist es leicht zu sehen, dass Kant nicht nur alle Begriffe, sondern auch alle Anschauungen als bewusste Vorstellungen (Vorstellungen mit Bewusstsein) ansieht. Sie können jeweils als eine Erkenntnis im weiteren Sinn bezeichnet werden. Auch setzt Kant die Erkenntnis im weiteren Sinn mit der Wahrnehmung (Perzeption), die sich auf ein Objekt bezieht, nämlich mit einer objektiven Perzeption gleich. Mit der „Wahrnehmung“ (der objektiver Perzeption) ist hier offensichtlich nicht die Wahrnehmung in der gewöhnlichen Bedeutung der Kantischen Philosophie gemeint. Denn reine Begriffe können im strengen Sinne nicht als Wahrnehmungen bezeichnet werden. Die Wahrnehmung wird in Kants Philosophie, allge28
Vgl auch R 2836, AA XVI 538-539.
1.1 Bewusstsein und Vorstellung
17
mein gesagt, als eine Vorstellung verstanden, die „mit empirischem Bewustseyn verbunden“ 29 ist. Jedoch verwendet Kant das Wort „Wahrnehmung“ (Perzeption) im weiteren Sinn und versteht sie als ein Produkt, wenn man sich einer Vorstellung bewusst ist, egal ob diese Vorstellung reine oder empirische ist. Allerdings sind Anschauungen, Verstandesbegriffe und Ideen, zwar bewusste Vorstellungen, aber diese Redeweise ist, wie mehrmals betont, für die Einteilung der Vorstellungen in Kants Transzendentalphilosophie nicht mehr relevant. Dass Kant zwar unsere Vorstellungen wie Empfindung, Wahrnehmung, Anschauung und Begriff als bewusste Vorstellungen bezeichnet, aber die Ebene des Bewusstseins bei der Einteilung der Vorstellungen nicht mehr betont, bedeutet jedoch nicht, dass die Rolle, die das Bewusstsein im Prozess unserer Erkenntnis spielt, für Kant auch nicht von Interesse ist. Vielmehr will Kant herausstellen, dass das Bewusstsein aller Erkenntnis zugrunde liegt. Aber dabei geht es ihm nicht mehr um das Bewusstsein im gewöhnlichen Sinne, sondern eine andere Redeweise vom Bewusstsein muss in Betracht kommen. Dies ist, wie wir sehen werden, das reine Bewusstsein oder Selbstbewusstsein. Aber bevor ich mich Kants Begriff des reinen Selbstbewusstseins zuwende, möchte ich noch darauf eingehen, wie Kant den Prozess unserer Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Bewusstsein darstellt. In der Jäsche-Logik schreibt er: In Ansehung des objectiven Gehaltes unserer Erkenntniß überhaupt lassen sich folgende Grade denken, nach welchen dieselbe in dieser Rücksicht kann gesteigert werden: Der erste Grad der Erkenntniß ist: sich etwas vorstellen; Der zweite: sich mit Bewußtsein etwas vorstellen oder wahrnehmen (percipere); Der dritte: etwas kennen (noscere) oder sich etwas in der Vergleichung mit andern Dingen vorstellen sowohl der Einerleiheit als der Verschiedenheit nach; | Der vierte: mit Bewußtsein etwas kennen, d.h. erkennen (cognoscere). Die Thiere kennen auch Gegenstände, aber sie erkennen sie nicht. Der fünfte: etwas verstehen (intelligere), d.h. durch den Verstand vermöge der Begriffe erkennen oder concipiren. […] Der sechste: etwas durch die Vernunft erkennen oder einsehen (perspicere). […] Der siebente endlich: etwas begreifen (comprehendere), d.h. in dem Grade durch die Vernunft oder a priori erkennen, als zu unsrer Absicht hinreichend ist. (AA IX 64-65, Hervorhebung von mir.) 30
In dieser Passage teilt Kant nach dem Gehalt der Erkenntnis den Prozess der Erkenntnis in sieben Grade ein, die von niedrig zu höher in Reihenfolge gebracht werden. Nun geht es mir um die ersten vier Grade. Der Unterschied zwischen dem ersten Grad und dem zweiten besteht darin, ob das Bewusstsein bei der Aktivität des Vorstellens vorkommt. Betrachtet man eine Vorstellung bloß als solche, die etwas repräsentiert, so ist dabei nur von dem Verhältnis dieser Vorstellung zum Vorgestellten die Rede. Betrachtet man aber eine Vorstellung in der Verbindung mit dem Bewusstsein, so handelt es sich dabei um das Verhältnis des Subjekts zum Vorgestellten. Dies besagt also, dass das Bewusstsein eine andere Redeweise ist als die Rede davon, sich etwas bloß vorzustellen. Da das Bewusstsein sich unmittelbar auf das Subjekt bezieht, indem alles Bewusstsein von einem Subjekt abhängt, macht das Bewusstsein eine Vorstellung überhaupt zu einer Wahrnehmung. D. h. sich etwas mit Bewusstsein vorzustellen, heißt, etwas wahrzunehmen. Auch der Unterschied zwischen dem dritten Grad und dem vierten besteht in der Rolle des Bewusstseins. Wenn man sich etwas dadurch vorstellt, dass man es mit anderen Dingen nach der Einerleiheit und der Verschiedenheit vergleicht, kennt man etwas. Aber wenn man etwas mit Bewusstsein kennt, erkennt man etwas. Somit 29 30
R 5923, AA XVIII 386. Vgl. „Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt […].“ (A 120) Diese Klassifizierung findet sich auch in R 2394, AA XVI 343 f.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
macht das Bewusstsein das Kennen zum Erkennen. Die Tiere können Gegenstände kennen, nicht aber erkennen, weil Kant sagt: „Das Bewust seyn ist sensus internus. […] animalia habent sensum externum, non internum.“ 31 Vergleicht man diese Konzeption mit Kants Überlegung in der Stufenleiter, ist es leicht zu sehen, dass Kants Verständnis vom Bewusstsein konsequent ist. Das Bewusstsein kann zwar als eine Vorstellung bezeichnet werden, aber eigentlich ist das Bewusstsein eine Redeweise, ob man weiß, eine Vorstellung zu besitzen. Erst durch das Bewusstsein wird eine Vorstellung überhaupt eine bewusste Vorstellung. 1.2
Das reine Selbstbewusstsein
Das Selbstbewusstsein 32 ist einer der zentralen Begriffe in Kants Philosophie. Nur ist diese Terminologie in seinem System etwas komplexer, was sowohl den Begriff selbst als auch seine philosophische Funktion betrifft. Als Synonym für das „Selbstbewusstsein“ verwendet Kant auch den Leibnizischen Ausdruck „Apperzeption“ (B 132). 33 Für das Selbstbewusstsein bzw. die Apperzeption liefert Kant bekanntermaßen viele Charakterisierungen. Unter dem Selbstbewusstsein versteht Kant zunächst wie bei der Definition des Bewusstseins eine Art Vorstellung, nämlich „die einfache Vorstellung des Ich“ (B 68) bzw. „die bloße Vorstellung Ich“ (A 117 Anm.). Anstelle des Selbstbewusstseins benutzt Kant auch die ausführlichere Bezeichnung „[d]as Bewußtsein seiner selbst (Apperception)“ (B 68) 34. Jedoch versteht Kant in dem Duisburg’schen Nachlass um 1775 die Apperzeption als „das Bewustseyn des Denkens, d.i. der Vorstellungen“ 35. Dies scheint der letzteren Charakterisierung widersprüchlich zu sein, weil das Objekt bzw. der Inhalt des Bewusstseins nicht mehr das Ich ist. Darüber hinaus verwendet Kant sogar den Begriff des Selbstbewusstseins im Sinne von der Selbstwahrnehmung oder des Selbstgefühls. Beispielsweise beschreibt er im Duisburg’schen Nachlass die Apperzeption als „die Warnehmung seiner selbst als eines denkenden subiects überhaupt“ 36. Diesbezüglich wird auch in der Kritik „die bloße Apperzeption“ als eine „innere Wahrnehmung“ (A 343/ B 401) genannt. Und an einer Stelle der Prolegomena bezeichnet Kant die Apperzeption als das „Gefühl eines Daseins“ 37. Um an Descartes’ Satz „cogito, ergo sum“ anzuknüpfen, setzt Kant auch in gewissem Sinne die Vorstellung „Ich denke“ mit der reinen Apperzeption gleich (vgl. B 132, A 343/ B 401, A 354). Insofern wird später in
31 32 33 34 35 36 37
R 1680, AA XVI 80. In dieser Untersuchung unterscheide ich nicht zwischen dem Begriff des Selbstbewusstseins und dem Begriff der Apperzeption. „Ich bin mir meiner selbst bewust (apperceptio).“ (Op, AA XXII 119) Eine ausführliche Auseinandersetzung vgl. Thiel 1994, S. 195-209. Vgl. A 107, A 117 Anm., B 409. R 4674, AA XVII 647. R 4674, AA XVII 647. AA IV 337 Anm.
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
19
Opus postumum das reine Selbstbewusstsein als „[d]er logische Act“ 38 bzw. „[d]er erste Act des Vorstellungsvermögens“ 39 angesehen. Schon Kants Vokabular deutet darauf hin, dass der Begriff des Selbstbewusstseins schwer zu verstehen ist. Um die Rolle, die das Selbstbewusstsein in Kants theoretischer Philosophie spielt, besser verständlich zu machen, ist es nötig, zu erklären, was Kant unter dem Begriff des Selbstbewusstseins versteht. In diesem Abschnitt werde ich zuerst einige bekannte Interpretationen für Kants Selbstbewusstsein zusammenfassen (a). Dann beschäftige ich mich mit drei zentralen Beschreibungen für die Apperzeption (b). Schließlich werde ich auf drei in Kants Begriff des reinen Selbstbewusstseins enthaltene Aspekte eingehen (c). (a)
Einige weit verbreitete Interpretationen
Kants Begriff des Selbstbewusstseins ist seit langem in der Literatur kontrovers diskutiert worden. Es gibt zwar eine grundsätzliche Übereinkunft darüber, dass Kants Selbstbewusstsein im transzendentalen Sinne verstanden werden muss, um es von dem herkömmlichen inneren Sinn bzw. der empirischen Apperzeption zu unterscheiden. Was genauer Kant mit der sogenannten Transzendentalität des Selbstbewusstseins meint, ist jedoch umstritten. Dies Problem kann man auch so beschreiben: Wie kann Kants Begriff des Selbstbewusstseins in seinem System konsequent erklärt werden? Dazu gibt es in der Kant-Literatur schon viele Interpretationen. Im Folgenden möchte ich einige von ihnen vorstellen. In der deutschsprachigen Welt ist Dieter Henrich der berühmteste Kommentator. Er geht davon aus, dass das Selbstbewusstsein das oberstes Prinzip von Kants Philosophie ist. Denn das Selbstbewusstsein ist laut Henrich „the highest point of transcendental philosophy“ oder „the hidden common root“ 40 von Sinnlichkeit und Verstand, und auf das Selbstbewusstsein müssen „alle Formen von Rationalität (von ‚Verstandesgebrauch‘) zurückgehen“ 41. Auch hat Kant in der Tat sein philosophisches System auf dem Prinzip der Einheit des Selbstbewusstseins gegründet. 42 Für Kants Selbstbewusstsein ist laut Henrich entscheidend, dass das Selbstbewusstsein „den Status einer Gewissheit apriori“ 43 hat. Diese apriorische Gewissheit wird bekanntermaßen von Henrich als „die cartesianische Evidenz“ 44 bezeichnet. Sie besteht nämlich wesentlich darin, dass das Selbstbewusstsein „zwar auf Erfahrung bezogen, nicht aber von jeweils gemachter Erfahrung seiner Struktur und Bewußtseinsweise nach abhängig ist“ 45. Das heißt, dass das Selbstbewusstsein die von Descartes in Anspruch genommene Evi38
39
40 41 42 43 44 45
Vgl. „Der logische Act Ich denke (apperceptio) ist ein Urtheil (iudicium), aber noch kein Satz (propositio) und noch kein Act des Erkentnisvermögens (facultas cognoscendi) wodurch ein Object gegeben sondern nur im Allgemeinen gedacht wird. Es ist ein logischer Act der Form nach ohne Inhalt cogitans sum, me ipsum nondum cognosco noch weniger ein Vernunftschlus.“ (Op, AA XXII 95) Vgl. „Der erste Act des Vorstellungsvermögens ist das Bewustseyn meiner Selbst welches ein blos logischer Act ist der aller übrigen Vorstellung zum Grunde liegt, wodurch das Subject sich selbst zum Objecte macht.“ (Op, AA XXII 77) Henrich 2003, S. 38. Henrich 1988, S. 40. Vgl. „Kant based this system on the unifying principle of the unity of self-consciousness.“ (Henrich 1969, S. 657.) Henrich 1988, S. 43 f. Henrich 1976, S. 59. Henrich 1988, S. 44.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
denz hat, „über allem Zweifel zu stehen und auch auf kein anderes Bewusstsein zurückgeleitet werden zu können“ 46. Darüber hinaus ist Henrich der Meinung, dass Kant in gewissem Sinne die sogenannte „Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins“ 47 vertritt. D. h. das Selbstbewusstsein ist als eine Reflexion zu verstehen. 48 Die Reflexion ist „eine Operation“ 49 bzw. „eine Aktivität des Ich“ 50, durch die das Subjekt eine Beziehung zu seinen Gedanken gewinnt. Außerdem betont Henrich, dass Kants Selbstbewusstsein durch drei Formcharaktere besser erklärt werden können: die Subjektivität, die Einheit und die Identität. 51 Wolfgang Carl ist der Meinung, dass Kants Apperzeption sowohl als ein Vermögen als auch als Bewusstsein des spontanen Ich angesehen werden kann. Er versteht die Apperzeption besonders als eine Form bzw. eine formale Bedingung. 52 Aus diesem Grund kritisiert Carl Henrichs sogenannte cartesianische Evidenz, indem er sagt: „[E]ine Bedingung der Form des Denkens wird zu einer inhaltlichen Erkenntnis eines Subjekts […].“ 53D. h. Henrichs Interpretation „verkennt den formalen Charakter der Apperzeption“ 54. Im Gegensatz zu Carl favorisiert Rolf-Peter Horstmann eine non-substantialistische, dynamische Deutung. Er geht davon aus, dass das Kantische Ich im Wesentlichen kein Objekt, sondern eine Handlung ist, 55 so lässt sich auch die Apperzeption als „eine vereinheitliche Instanz“ 56 verstehen. Dieses sogenannte „dynamisch-prozessuale Modell“ 57, das Horstmann der Kantischen Apperzeption zuschreibt, ist offenbar von den nachkantischen Philosophen beeinflusst. Tobias Rosefeldt hingegen behauptet, dass Kants Ich ein logisches Objekt ist und das Selbstbewusstsein genau das reine Bewusstsein vom logischen Ich ist. 58 Ganz im Gegenteil kehrt Udo Thiel zum historischen Kontext zurück und versucht mit Rekurs auf die Ansätze der vorkantischen Philosophen Kants Selbstbewusstsein zu interpretieren. Ihm zufolge besteht die Besonderheit der Kantische Konzeption in der Unterscheidung zwischen empirischer und transzendentaler Apperzeption. 59 Und während das empirische Selbstbewusstsein vom Bewusstsein äußerer Gegenstände abhängig sei, gehe das transzendentale Selbstbewusstsein „all other forms of consciousness“ 60 voraus und es sei somit völlig vom Gegenstandsbewusstsein abhängig. Allerdings werden wir sehen, dass diese Interpretation mit Kants Position in der transzendentalen Deduktion der Kategorien nicht übereinstimmt, weil die transzendentale Einheit der Ap46 47 48
49 50 51
52 53 54 55 56 57 58 59 60
Henrich 1976, S. 58 f. Henrich 1970, S. 265. Vgl. „He also presupposes that it is reflective, that we can always turn upon ourselves, that reflection is possible. He neither describes what reflection is nor explains the possibility of reflection (Fichte will try to do that very soon).” (Henrich 2003, S. 43.) Henrich 1976, S. 60. Henrich 1970, S. 265. Henrichs Darstellung ist in seinem späteren Buch Between Kant and Hegel anders als hier. Dort beschreibt Henrich die drei Charaktere als “the unity of the self, the activity of the self, and the emptiness of the self” (Henrich 2003, S. 40). Carl 1992, S. 65. Carl 1992, S. 70. Carl 1998a, S. 111. Vgl. Horstmann 1993, S. 423. Horstmann 2007, S. 135. Horstmann 2007, S. 141. Rosefeldt 2006, S. 277. Vgl. Thiel 2001, S. 474. Thiel 2001, S. 475.
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
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perzeption laut Kant doch nur durch die Kategorienanwendung, die den Gegenstandsbezug erzeugt, möglich ist. Neben diesen Kommentatoren ist unter anderen zu erwähnen, dass Dieter Sturma eine erkenntniskritische Rolle vom Kants Selbstbewusstsein betont. 61 Auf ähnliche Weise unterstreicht Dina Emundts das Selbstbewusstsein als eine Bedingung für Erkenntnis. 62 In der englischsprachigen Welt geht Peter F. Strawson davon aus, dass Kants IchVorstellung kein Objekt bezeichnet, denn sie spiele nur „a non-denotative role“ 63. Und das reine Selbstbewusstsein ist für Strawson nichts anderes als eine bloße formale Bedingung, die übrig bleibt, nachdem man von allem empirischen Inhalt des empirischen Bewusstseins abstrahiert. 64 Auf ähnliche Weise geht C. Thomas Powell von einer epistemologischen Perspektive aus und unterstreicht die logische Funktion des Ich. Denn ihm zufolge ist das Ich nur „a necessary form of representation, a logical operator within the domain of our cognitions“ 65. Auch Kitcher vertritt – obwohl etwas anders als Strawson und Powell – eine funktionalistische Deutung. Was Kants Selbstbewusstsein leisten kann, sei ihr zufolge nichts anderes als „cognitive tasks“ 66. So sei Kants Ich für Kitcher in der Tat nur ein phänomenales Ich und die Ich-Theorie lasse sich als eine transzendentale Psychologie bezeichnen. Im Gegensatz zum diesem empirischen Grundposition vertritt Karl Ameriks eine rationalistische Auffassung vom Kants Ich und insistiert, dass alle unsere empirische Apperzeption die transzendentale Apperzeption erfordert. 67 Im Folgenden möchte ich mich mit den oben skizzierten Deutungen nicht näher auseinandersetzen. Vielmehr werde ich Kants Begriff des Selbstbewusstseins dadurch erklären, dass ich einerseits auf die allgemein bekannte Besonderheit an Kants Selbstbewusstsein – rein, ursprünglich und transzendental – eingehe und andererseits drei Aspekte des reinen Selbstbewusstseins erläutere. (b)
Kants Selbstbewusstsein: Rein, Ursprünglich und Transzendental
Bekanntlich bezeichnet Kant die Apperzeption als rein, ursprünglich und transzendental. 68 Diese drei zentralen Beschreibungen treten am prägnantesten in der Schlüsselpassage von § 16 der B-Deduktion auf, wo Kant schreibt: 61 62 63 64
65 66 67 68
Sturma 1985, S. 14. Emundts 2013, S. 51. Strawson 1997, S. 259. Dazu schreibt Strawson: “So when we abstract, as in rational psychology, from the particular empirical content of the experience, it seems reasonable enough to say that what we are left with is an expression of the bare form of consciousness in general.” (Strawson 1997, S. 260 f.) Powell 1990, S. 8. Kitcher 1990, S. 25. Ameriks 1994, S. 335. Ich mache in dieser Untersuchung keinen Unterschied zwischen dem reinen Bewusstsein und reinen Selbstbewusstsein. Denn wenn Kant in den meisten Kontexten vom „reinen“, „transzendentalen“ Bewusstsein, von „einem“ Bewusstsein oder vom Bewusstsein „überhaupt“ spricht, bedeutet das Wort „Bewusstsein“ normalerweise das reine Selbstbewusstsein. Dass Kant einfach mit dem Bewusstsein das Selbstbewusstsein meint, mag daran liegen, dass aus Kants Sicht das Bewusstsein, insofern es als ein Sachverhalt, der aller Erfahrung vorausgeht, betrachtet wird, nichts anderes als das transzendentale Bewusstsein ist. Aber dieses transzendentale Bewusstsein ist laut Kant nur das transzendentale Selbstbewusstsein. Kurz gesagt: Für Kant gibt es zwischen einem transzendentalen Bewusstsein und einem transzendentalen Selbstbewusstsein keinen sinnvollen Unterschied. Denn seine Absicht, vom transzendentalen Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein zu sprechen,
22
1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperception, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperception, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, in dem es die Vorstellung: Ich denke, hervorbringt, die alle andere muß begleiten können und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transscendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntniß a priori aus ihr zu bezeichnen. (B 132)
Nun möchte ich jeweils auf diese drei Beschreibungen näher eingehen. Zunächst bezeichnet Kant die Apperzeption als rein. 69 Um dies deutlich zu machen, erinnern wir uns an Kants Überlegung zur Unterscheidung von Erkenntnissen a priori und reinen Erkenntnissen. In der Einleitung der Kritik versteht Kant unter Erkenntnissen a priori diejenigen Erkenntnisse, die „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden“ (B 3). Und wenig später fährt er fort: „Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist.“ (B 3) Dies besagt, dass Kant die Reinheit als die absolute Unabhängigkeit von der Erfahrung auffasst. Genauer gesagt: Rein ist etwas, wenn es ganz und gar kein Empirisches enthält. Demnach ist eine reine Vorstellung als diejenige zu verstehen, deren Ursprung und Inhalt gar nichts mit dem Empirischen zu tun haben. So enthält eine reine Vorstellung keine Empfindung. Sie lässt sich auch nicht als eine Wahrnehmung bezeichnen. Ganz genau in diesem Sinne bezeichnet Kant die Apperzeption als rein. Das heißt, dass Kants Apperzeption keine Empfindung von sich selbst, also kein Empirisches enthält. In Kants Worten: Das Selbstbewusstsein ist die Vorstellung vom Ich, die „nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse“ (A 355). Somit ist sie eine „rein[e] intellektuell[e]“ (B 422 Anm.) Vorstellung. Im Gegensatz dazu muss ein nicht-reines Selbstbewusstsein ein solches sein, in dem man zugleich über eine Empfindung von sich selbst bzw. Selbstwahrnehmung verfügt. Es ist allerdings bemerkenswert, dass man Kant zufolge zwar wirklich reine Anschauung – z. B. in der Mathematik – haben kann, aber nicht in der Lage ist, reines Selbstbewusstsein wirklich zu haben. Mit anderen Worten: Kants reine Apperzeption ist non-veridical. Sie ist kein mentaler Zustand oder wirklicher Sachverhalt. Denn laut Kant muss das aktuelle Selbstbewusstsein, das man zu irgendeinem Zeitpunkt wirklich besitzt, ein wirkliches Bewusstsein, nämlich ein empirisches sein. Folglich sollte man Kants reines Selbstbewusstsein nicht als einen mentalen Prozess oder einen aktuellen Gemütszustand verstehen. Zweitens ist die Apperzeption deswegen ursprünglich, 70 weil Kant der Meinung ist, dass die Apperzeption als eine der „drei ursprüngliche[n] Quellen, (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele) […] selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden [kann]“ (A 94). Dies besagt, dass sich die Apperzeption als Vermögen auf kein anderes Vermögen zu-
69 70
besteht nur darin, einen transzendentalen Grund für unsere Erfahrung zu finden. Zum Beispiel ist in den folgenden Formulierungen aus verschiedenen Textstellen mit dem „Bewusstsein“ offenbar das reine Selbstbewusstsein gemeint: „Nun können keine Erkenntnisse in uns statt finden, keine Verknüpfung und Einheit derselben unter einander ohne diejenige Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht, und worauf in Beziehung alle Vorstellung von Gegenständen allein möglich ist. Dieses reine, ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die transscendentale Apperception nennen.“ (A 107, Hervorhebung von mir.) „Man muß hier das transscendentale und empirische Bewußtseyn wohl unterscheiden; jenes ist das Bewußtseyn Ich denke und geht aller Erfahrung vorher, indem es sie erst möglich macht. Dies transscendentale Bewußtseyn liefert uns aber keine Erkenntniß unserer Selbst […].“ (R 6311, AA XVIII 610, Hervorhebung von mir.) Vgl. auch B 138; Prolegomena, AA IV 304 f. Vgl. auch B 144, A 107, A 116, A 123, A 124. Vgl. B 142, A 111, A 113, A 122, A 123.
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
23
rückführen lässt. Demnach versteht Kant in der Tat die Ursprünglichkeit der Apperzeption als Unableitbarkeit. Die Apperzeption als Vermögen beruht nämlich auf keinem anderen Vermögen, aber sie kann und muss im Zusammenhang mit anderen Vermögen zustande kommen.71 Aus diesem Grund nennt Kant sie auch die erste Aktivität des Gemüts, wobei es sich um zwei Gesichtspunkte handelt: Die Apperzeption wird als Vermögen und als Aktivität aufgefasst. Dazu schreibt Kant in der Metaphysik Dohna: „Das erste ist das Bewustseyn meiner Selbst, das Ich, es ist der erste actus der Psyche: das Vermögen sich selbst als vorstellendes Subject, und auch als Gegenstand unsrer eigenen Vorstellung zu erkennen.“ (AA XXVIII 670) Die Ursprünglichkeit der Apperzeption wird auch anhand von Kants Konzeption vom „Ich denke“ im § 16 der B-Deduktion verständlich, wie es sich in dem obigen Zitat aus B 132 zeigt. Dieter Henrichs Deutung zufolge ist die Apperzeption ursprünglich deshalb, weil sie die „cartesianische Evidenz“ 72 hat. Genauer gesagt: Henrich versteht Kants Selbstbewusstsein als einen solchen Sachverhalt, der unbezweifelbar und nicht zurückführbar ist, wie Descartes’ Satz „cogito, ergo sum“ die Selbstgewissheit zum Ausdruck bringt. 73 Ob Kants Selbstbewusstsein im cartesianischen Sinne, wie Henrich zeigt, verstanden werden sollte, möchte ich hier nicht näher thematisieren. Wichtig ist nun für meinen Zweck zu sehen, dass Henrich zutreffend darauf aufmerksam macht, die Ursprünglichkeit der Apperzeption bestehe wesentlich darin, dass sie auf kein anderes Bewusstsein zurückgeführt werden kann. Im obigen Zitat aus § 16 nennt Kant die Spontaneität die reine Apperzeption, die weiter als Selbstbewusstsein bezeichnet wird. 74 Es ist leicht zu sehen, dass die Spontaneität im gewissen Sinne schon die Ursprünglichkeit andeutet. Da die reine Apperzeption spontan ist, ist es naheliegend, dass sie die Vorstellung „Ich denke“ hervorbringt. Und umgekehrt ist das „Ich denke“ natürlich „ein Actus der Spontaneität“. Dies deutet darauf hin, dass die Apperzeption als spontanes Vermögen es möglich macht, sich über seine Gedanken durch den Satz „Ich denke“ zu äußern. Infolgedessen sagt Kant auch, dass der Satz „Ich denke“ sprachlich „das Selbstbewußtsein ausdrückt“ (A 399). Laut Kant muss das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können, aber das Selbstbewusstsein bzw. seine Ausdrucksweise das „Ich denke“ kann von keiner Vorstellung weiter begleitet werden. 75 Die letzte Überlegung kann man so verstehen, dass alle gegebenen Vorstellungen dem Ich als ihrem „gemeinschaftliche[n] Subjekt“ (A 350) zuzuschreiben sind, oder umgekehrt: Das Ich kommt bei allen Vorstellungen vor. Infolgedessen kann ich sie als meine Vorstellungen 71 72 73
74
75
Die Apperzeption wird von Kant als das transzendentale ursprüngliche Vermögen bezeichnet, welches Kant manchmal mit dem Verstand gleichsetzt. (Vgl. B 134, AA VIII 213 Anm.) Henrich 1976, S. 59. Henrich schreibt: „Es ist nicht schwer einzusehen, in welchem Sinne dieses Bewußtsein ursprünglich ist: Es hat die Evidenz, über allem Zweifel zu stehen und auch auf kein anderes Bewußtsein zurückgeleitet werden zu können, – die Evidenz also, die zuerst Descartes für die Selbstgewißheit seiner denkenden Substanzen in Anspruch nahm und die man deshalb (um der Kürze der Formel willen) die ‚cartesianische Evidenz‘ zu nennen gewohnt ist.“ (Henrich 1976, S. 58 f.) Es ist natürlich umstritten, worauf sich das Wort „sie“ in dem Satz „Ich nenne sie die reine Apperception“ bezieht. In Tobias Rosefeldts Hauptseminar vom Wintersemester 2015/16 an der Humboldt-Universität zu Berlin schlägt er vor, dass das genannte Wort „sie“ sich bei wohlwollender Interpretation auf die Spontaneität beziehen sollte. Hier folge ich dieser Lesart. Das Wort „begleitet“ in dem Satzteil „von keiner weiter begleitet werden kann“ in der zitierten Passage aus B 132 sollte nach Görlands Version als abgeleitet korrigiert werden. Diese Korrektur spricht auch dafür, dass die Apperzeption ursprünglich ist. Z. B. favorisiert Allison diese Lesart (vgl. Allison 2015, S. 337).
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
bezeichnen. Aber die Vorstellung vom Ich kann nicht mehr zugeschrieben werden. Denn das Ich ist „das absolute Subjekt“ (A 348), dem alle Gedanken inhärieren (vgl. A 349). Demnach ist das Ich-Bewusstsein oder das Bewusstsein seiner selbst, ja das Selbstbewusstsein, nicht ableitbar. In seiner vorkritischen Schrift Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren setzt Kant „das Vermögen des innern Sinnes, d.i. seine eigene Vorstellungen zum Objecte seiner Gedanken zu machen“ (AA II 60) mit dem Selbstbewusstsein gleich und behauptet: „Dieses Vermögen ist nicht aus einem andern abzuleiten, es ist ein Grundvermögen im eigentlichen Verstande“ (ebd.). Dies spricht auch für die Ursprünglichkeit der Apperzeption. Dass die Apperzeption ursprünglich ist, heißt aber nicht, dass das Zustandekommen der Apperzeption bzw. der Einheit der Apperzeption isoliert und unbedingt ist. Vielmehr kann die Einheit der Apperzeption, wie wir sehen werden, nur durch die Anwendung der Kategorien zustande kommen. Dies spricht aber nicht gegen die Ursprünglichkeit der Apperzeption. 76 Nach der obigen Analyse kann man zusammenfassend sagen, dass Kant die Apperzeption als ursprünglich insofern bezeichnet, als sie ein grundlegendes Vermögen ist, dessen Aktivität sich auf keinen anderen Grund zurückführen lässt. Drittes ist es in Kants System relativ unumstritten, dass die Apperzeption als transzendental deswegen bezeichnet wird, weil sie eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ausmacht. Das heißt, dass sie, so Kant, „ein transzendentales (vor aller besondern Erfahrung vorhergehendes) Bewußtsein“ (A 117 Anm.) ist und alle Erfahrung möglich macht. 77 Aber es ist nicht leicht zu verstehen, was Kant mit der transzendentalen Apperzeption genauer meint. Da für Kants Begriff der Apperzeption die Unterscheidung zwischen der transzendentalen und der empirischen Apperzeption am ehesten charakteristisch ist, möchte ich nun anhand dieser Vergleichung auf die sogenannte Transzendentalität der Apperzeption eingehen. 78 Ich werde zwei Punkte diskutieren. (i) Die Unterscheidung zwischen der transzendentalen und der empirischen Apperzeption führt dazu, dass sich Kants Theorie des Selbstbewusstseins von der seiner Vorgänger abgrenzt. 79 Das heißt, dass Kants Konzeption zum transzendentalen Selbstbewusstsein in seinem Zeitalter einen neuen Horizont erweitert. Beispielsweise hat Kant selbst mehrmals darauf hingewiesen, dass seine Vorgänger die besagte Unterscheidung nicht getroffen haben. Dazu schreibt er in der B-Deduktion, dass man auch lieber den innern Sinn mit dem Vermögen der Apperception (welche wir sorgfältig unterscheiden) in den Systemen der Psychologie für einerlei auszugeben pflegt. (B 153)
Und in der Anthropologie heißt es: Daß die Wörter innerer Sinn und Apperception von den Seelenforschern gemeinhin für gleichbedeutend genommen werden, unerachtet der erstere allein ein psychologisches (angewandtes), die zweite aber blos ein logisches (reines) Bewußtsein anzeigen soll, ist die Ursache dieser Irrungen. (AA VII 142) 76 77
78 79
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begründungsverhältnis zwischen der Apperzeption und den Kategorien vgl. Wunderlich 2005, S. 183-189. Auf diese Überlegung verweist Kitcher, indem sie sagt: „Kant characterized the self-consciousness at issue as ‘transcendental’ (for example, B 132), meaning both that it is a necessary condition for the possibility of cognitive experience and that it involves factors not derived from the senses.” (Kitcher 1999, S. 345) Vgl. R 5653, AA XVIII 306; R 5661, AA XVIII 319; Metaphysik Dohna, AA XXVIII 670. Vgl. Thiel 2001, S. 474.
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
25
Diese Ausführungen besagen, dass Kant seinen Begriff der Apperzeption von dem traditionellen Begriff des inneren Sinnes abgrenzen will. 80 Da Kant oft den inneren Sinn mit der empirischen Apperzeption gleichsetzt (vgl. A 107), besteht seine Absicht eigentlich darin, seinen Begriff der Apperzeption auf die transzendentale Ebene zu beschränken, damit er sich von dem empirischen Verständnis der Apperzeption frei machen kann. Somit ist offensichtlich mit dem Wort „Apperzeption“ in den obigen Zitaten die transzendentale Apperzeption gemeint. Auch schon in diesen Zitaten deutet Kant an, dass sich die transzendentale Apperzeption von dem inneren Sinn bzw. der empirischen Apperzeption wesentlich darin unterscheidet, dass sie zu verschiedenen Bereichen gehören. Genauer gesagt: Weil die transzendentale Apperzeption „ein logisches (reines) Bewußtsein“ betrifft, wird sie in der reinen Logik betrachtet, wie Kant in der Metaphysik Dohna schreibt: „Das reine Bewustseyn kommt schon in der Logik vor.“ (AA XXVIII 671) Aber die empirische Apperzeption wird in der empirischen Psychologie untersucht, denn sie ist ein realer Gemütszustand bzw. ein psychologisches Bewusstsein. Also kann man sagen, dass Kants Begriff der Apperzeption die Transzendentalität gewinnt, indem er das psychologische Verständnis in der Tradition aufgibt. Diese Konzeption bringt Kant in der prominenten Fußnote von § 5 der Anthropologie ausführlich und deutlich zum Ausdruck. Dort heißt es: Wenn wir uns die innere Handlung (Spontaneität), wodurch ein Begriff (ein Gedanke) möglich wird, die Reflexion, die Empfänglichkeit (Receptivität), wodurch eine Wahrnehmung (perceptio), d.i. empirische | Anschauung, möglich wird, die Apprehension, beide Acte aber mit Bewußtsein vorstellen, so kann das Bewußtsein seiner selbst (apperceptio) in das der Reflexion und das der Apprehension eingetheilt werden. Das erstere ist ein Bewußtsein des Verstandes, das zweite der innere Sinn; jenes die reine, dieses die empirische Apperception, da dann jene fälschlich der innere Sinn genannt wird. - In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem, was das intellectuelle Bewußtsein an die Hand giebt. - Hier scheint uns nun das Ich doppelt zu sein (welches widersprechend wäre): 1) das Ich als Subject des Denkens (in der Logik), welches die reine Apperception bedeutet (das blos reflectirende Ich), und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist; 2) das Ich als das Object der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes, was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine innere Erfahrung möglich machen. (AA VII 134 Anm.)
Der obigen Passage bedient Kant sich zu einer Erklärung für die in dem Haupttext dargestellte Überlegung: Im inneren Sinn gibt es kein Beharrliches. Es ist leicht zu sehen, dass Kant in der zitierten Passage das traditionelle Missverständnis vom inneren Sinn dadurch zu beseitigen versucht, dass er die reine Apperzeption von der empirischen Apperzeption bzw. dem inneren Sinn abgrenzt. Er weist darauf hin, dass die reine Apperzeption in der Tradition „fälschlich der innere Sinn genannt wird“. Aber in der Tat darf man die empirische Apperzeption nur mit dem inneren Sinn gleichsetzen. 81 Kants Unterscheidung lautet folgendermaßen: Er nennt „das Bewusstsein der Reflexion“ bzw. „ein Bewusstsein des Verstandes“ die reine Apperzeption, weil diese Art des Bewusstseins auf der Spontaneität beruht. Im Gegensatz dazu wird „das Bewusstsein der Apprehension“ bzw. der innere Sinn als die empirische Apperzeption bezeichnet, weil es sich dabei um die Rezeptivität handelt. Dafür spricht auch eine Passage aus dem Paragraphen mit der Überschrift „Vom inneren Sinn“ in der Anthropologie: 80 81
„Man muß die reine (transsc:) Apperception von der empirischen apperceptio percipientis von der apperceptiva percepti unterscheiden.“ (Leningrad-Reflexion, Brandt 1987, S. 19) Kant spricht manchmal zwar von der Apperzeption, aber damit ist empirische Apperzeption bzw. der innere Sinn gemeint. Vgl. A 368, A 370.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein Der innere Sinn ist nicht die reine Apperception, ein Bewußtsein dessen, was der Mensch thut, denn dieses gehört zum Denkungsvermögen, sondern was er leidet, wiefern er durch sein eignes Gedankenspiel afficirt wird. (AA VII 161)
Und in einer Reflexion macht Kant die Unterscheidung auch sehr deutlich, wo er schreibt: Der Sinn ist entweder innerlich oder äußerlich; innerlich wird nur ein Sinn genannt und dadurch die apperception verstanden. Diese ist aber kein Sinn, sondern wir sind uns dadurch so wohl der Vorstellungen der äußeren als inneren sinne bewust. Sie ist blos die Beziehung aller Vorstellungen auf ihr gemeinschaftlich Subiect, nicht aufs obiect. […] Die Form des inneren Sinnes ist die Zeit. Die Form der Apperception ist die formale Einheit im Bewustseyn überhaupt, die logisch ist. Wir haben aber mehrere innere Sinne. Gefühl. (R 224, AA XV 85, Hervorhebung von mir.)
Es ist nun bemerkenswert, dass Kants Unterscheidung bereits eine Richtung, die sich erst in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts auszeichnet, angedeutet hat: Man muss zwischen dem Psychologischen und dem Logischen unterscheiden (z. B. bei Frege und Husserl). Was die Apperzeption angeht, ist Kant im Zitat aus der Anthropologie der Meinung, dass sich die psychologische Redeweise von der logischen unterscheidet. Wie schon einmal zitiert, bedeutet der innere Sinn bzw. die empirische Apperzeption „ein psychologisches (angewandtes)“ Bewusstsein, aber die transzendentale Apperzeption „ein logisches (reines) Bewußtsein“ (AA VII 142). Bei der ersteren Redeweise handelt es sich darum, zu erklären, wie man sich selbst in der inneren Erfahrung („nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes“) bewusst ist. Bei der letzteren Redeweise gilt es zu untersuchen, wie das Selbstbewusstsein möglich ist, wenn man von dem empirischen Bewusstseinsinhalt abstrahiert. Aufgrund dieser Unterscheidung der Redeweisen weist Kant näher darauf hin, dass das Ich, von dem in dem Selbstbewusstsein die Rede ist, als doppelt angesehen werden kann: Einerseits fungiert das Ich als das Subjekt, dem alle Gedanken inhärieren, also als „das bloß reflektierende Ich“ oder das logische Ich, wobei es sich um die reine Apperzeption handelt. Andererseits ist das Ich tatsächlich das Objekt der Wahrnehmung, also das empirisch-psychologische Ich, das man in der inneren Erfahrung durch Introspektion wahrnimmt, wobei es sich um die empirische Apperzeption handelt. Das Vokabular, das Kant hier in der Dichotomie des Bewusstseins verwendet, ist freilich auch bei wohlwollender Interpretation erläuterungsbedürftig. Jedoch reicht es mir hier, die Unterscheidung in Kants eigenen Worten anzugeben, ohne die mit diesen Begriffen zusammenhängenden Theorien ausführlich darzustellen. 82 (ii) Es ist nun wichtig darauf hinzuweisen, dass mit der Unterscheidung zwischen der transzendentalen und der empirischen Apperzeption nicht die Unterscheidung von zwei numerisch verschiedenen Sachverhalten gemeint ist. Vielmehr ist damit die Unterscheidung von 82
Hier befasse ich mich mit der Unterscheidung der Kantischen Apperzeption von der traditionellen nur in Bezug auf die Transzendentalität. Falk Wunderlich zufolge besteht die besagte Unterscheidung wesentlich darin, dass das Selbstbewusstsein in der Tradition als der Umstand verstanden wird, das Subjekt wisse, dass es sich von Objekten unterscheidet. Er schreibt: „In der Leibniz-Wolff-Tradition entspringt das Bewußtsein unserer selbst aus der Apperzeption, die als Bewußtsein von den jeweils gegebenen Vorstellungen verstanden wird, und zwar so, daß sich das Subjekt im Akt des Apperzipierens als das Apperzipierende von den apperzipierten Vorstellungen bzw. den Objekten, auf die sie sich beziehen, unterscheidet. Damit aber ist das Selbstbewußtsein vom jeweiligen Bewußtsein der wechselnden Vorstellungen abhängig. Daß Kant mit der reinen Apperzeption eine neue Instanz in die Bewußtseinstheorie einführt, kann als Kritik an dieser Konzeption verstanden werden: Dadurch, daß die zeitgenössischen Theorien Selbstbewußtsein von den sich wandelnden Vorstellungszuständen des Subjekts abhängig machen, besitzen sie keine Mittel, einen für die Theorie zentralen Aspekt zu erklären, nämlich die Identität des Subjekts.“ (Wunderlich 2005, S. 164)
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
27
zwei Betrachtungsweisen ein und derselben Apperzeption gemeint: eine transzendentale Betrachtungsweise und eine empirische Betrachtungsweise. Bei der ersteren geht es um eine Analyse des Erkenntnisvermögens, das aller Erfahrung zugrunde liegt, indem diese Analyse die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis erläutert. Anders gesagt: Die transzendentale Betrachtungsweise bedeutet eine Analyse der möglichen Bedingungen a priori. Dies bringt Kant im Anhang der Prolegomena eindeutig zum Ausdruck: [D]as Wort: transzendental […] bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. (AA IV 373 Anm.) 83
Bei der empirischen Betrachtungsweise dagegen geht es darum, zu erklären, wie ein Vermögen bzw. eine Erkenntnis im Fall des empirisch Gegebenen in der Erfahrung wirklich stattfindet oder zustande kommt. Diese zwei Betrachtungsweisen der Apperzeption werden von Kant als zwei Arten des Gebrauchs eines Vermögens bezeichnet, indem er schreibt: Alle diese Vermögen haben, außer dem empirischen Gebrauch, noch einen transz., der lediglich auf die Form geht, und a priori möglich ist. (A 95)
Wenig später betont er noch einmal: […] Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption; jede derselben kann als empirisch, nämlich in der Anwendung auf gegebene Erscheinungen, betrachtet werden, alle aber sind auch Elemente oder Grundlagen a priori, welche selbst diesen empirischen Gebrauch möglich machen. (A 115)
In diesen zwei Zitaten macht Kant deutlich, dass es sich bei dem transzendentalen Gebrauch der Apperzeption um den Umstand handelt, die Apperzeption als eine Grundlage, der man unabhängig von der Erfahrung Rechnung tragen kann, zu verstehen, wobei vom empirischen Inhalt abstrahiert wird und damit nur von der Form die Rede ist. Aufgrund dieses transzendentalen Gebrauchs, der erklärt, warum wir berechtigt sind, unter gewissen Bedingungen das Vermögen der Apperzeption anzuwenden, können wir dann deutlich machen, wie das Vermögen „in der Anwendung auf gegebene Erscheinungen“ bzw. a posteriori ins Spiel gebracht wird. Da Kants Vorgänger diese Unterscheidung nicht gemacht haben, können sie auch die transzendentale Funktion der Apperzeption nicht finden. Infolgedessen können sie in der Tat sogar nicht erklären, wie eine empirische Apperzeption möglich ist. Es ist daher offensichtlich, dass für Kants Theorien des Selbstbewusstseins die transzendentale Apperzeption eine zentrale Rolle spielt. Nach der obigen Analyse ist es nicht schwer zu sehen, dass sich Kants Begriff des Selbstbewusstseins in den drei Beschreibungen erklärt. Was das empirische Selbstbewusstsein als das Gegenteil des reinen Selbstbewusstseins betrifft, kann man freilich noch ihre Unterschiede in vielen Hinsichten auffassen. Z. B. kann man sich fragen, ob es bei ihnen um subjektive oder objektive Einheit geht, ob sie die Identität des denkenden Subjekts betreffen oder inwiefern sie das Bewusstsein der Existenz des Ich impliziert. Diese Fragen sollen in den nächsten Kapiteln beantwortet werden. Abschließend kann man so zusammenfassen: Kants Selbstbewusstsein sollte als ein solcher Sachverhalt verstanden werden, der nicht in dem empirisch83
Vgl. auch B 25; A 56/ B 80; Prolegomena, AA IV 290 ff.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
psychologischen Sinne in uns wirklich stattfindet, sondern in der Logik (genauer gesagt: in der transzendentalen Logik) unabhängig von allem empirisch Gegebenen als eine Bedingung der Erfahrung betrachtet wird. Dieses transzendentale Bewusstsein wird von Kant die transzendentale Apperzeption genannt. Das Objekt dieses Bewusstseins ist „das gemeinschaftliche Subjekt“ (A 350), dem alles Denken inhäriert. Denn jeder Gedanke, der aus vielen Vorstellungen besteht, muss ein Subjekt voraussetzen, um darin die Vorstellungen zum Gedanken zu verbinden. Demnach muss dieses logische Subjekt bzw. das logische Ich auch in dem transzendentalen Sinne verstanden werden. Und Kant bezeichnet es als „ein transzendentales Subjekt“ (A 346/ B 404). Also ist Kants Bezeichnung, dass die Apperzeption aus seiner Sicht transzendental und damit von der empirischen unterschieden sein muss, ganz angemessen und verständlich. Der Kürze halbe verwende ich oft die Ausdrücke „das reine Selbstbewusstsein“ bzw. „die reine Apperzeption“. (c)
Drei Aspekte vom reinen Selbstbewusstsein
Bekanntlich hat Kant in seiner Philosophie niemals ausführlich erklärt, was die Natur des Selbstbewusstseins ist. Aber um Kants Theorie des Selbstbewusstseins zu rekonstruieren, stehen wir sogleich vor diesem Problem. Eine vollständige Darstellung vom Gehalt des Selbstbewusstseins ist zweifellos schwer und sogar kaum möglich. Daher möchte Ich hier nur einige wichtige Aspekte von Kants Theorie des Selbstbewusstseins erläutern. Sie machen – mindestens zum Teil – drei Implikationen vom Begriff des Selbstbewusstseins aus. Die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung, was das Selbstbewusstsein bei Kant ist, lässt sich durch die Entfaltung dieser Aspekte in den folgenden Kapiteln spezifizieren. Nun möchte ich aber zuerst einmal darauf eingehen, was diese drei Aspekte sind. Der erste wesentliche Aspekt des Selbstbewusstseins ist die Identität. Ich bin mir meiner selbst bewusst, nicht als eines „so vielfärbig[en] verschieden[en] Selbst“ (B 134), sondern als eines „identischen Selbst“ (A 129). Anders gesagt: Wessen ich mir bewusst bin, muss ein solches Subjekt sein, das in allen verschiedenen Vorstellungen ein und dasselbe ist. Das Selbstbewusstsein impliziert also notwendigerweise das Bewusstsein eines identischen Ich. Was man dabei untersuchen muss, ist somit die Identität des Ich als eines denkenden Subjekts bzw. das Bewusstsein dieser Identität. Aber Kant spricht häufig auch von der „Identität der Apperzeption“ (B 133). Damit soll das Bewusstsein der Identität des Ich gemeint sein. Denn es besteht meiner Ansicht nach zwischen der Identität des Selbstbewusstseins und dem Bewusstsein der Identität des Ich zwar ein terminologischer Unterschied, aber kein sachlicher. Von der Identität des Selbstbewusstseins zu sprechen, heißt nichts anderes, als davon zu sprechen, dass ich mir der Identität meiner selbst bewusst bin. Doch wie ist das Bewusstsein der Identität des Ich genauer zu verstehen? Die Identität des Selbstbewusstseins besteht wesentlich in der Selbstzuschreibung. 84 Dass ich in verschiedenen bewussten Vorstellungen ein und dasselbe Subjekt bin, weiß ich nur 84
Diese Lesart wurde in der Kant-Literatur schon von vielen Interpreten vertreten, z. B. Strawson 1966, S. 97112; Walker 1978, S. 80; Carl 1998, S. 105-122. Gegen diese Lesart spricht Kitcher (1990, S. 92-94). Auch Cassam (1997, S. 118 ff.) bringt einen Einwand dagegen vor, dass Selbstzuschreibung ein IdentitätArgument liefern kann. Zu diesem Problem vgl. auch Wunderlich 2005, S. 151-152. Meine folgende Interpretation unterscheidet sich von der weit verbreiteten Interpretation der Selbstzuschreibung darin, dass ich
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
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dann, wenn ich sie als meine bezeichnen kann, d. h. wenn ich in der Lage bin, mir diese Vorstellungen zuzuschreiben. Anders gesagt: Ich bin mir bewusst, dass ich identisch bin, indem ich sprachlich das Wort „ich“ verwenden und sagen kann, dass die Vorstellungen meine sind. Das Demonstrativpronomen „ich“ oder das Possessivpronomen „mein“ weist in seinem Gebrauch die Identität des Subjekts auf. Wenn ein Subjekt vom Standpunkt der ersten Person aus spricht, kommt das Bewusstsein der Identität zum Ausdruck. Aber das identische Ich, das als Träger aller zugeschriebenen Vorstellungen fungiert, ist nur ein logisches Subjekt aller Gedanken. Der Ausdruck „ich“ hat dabei keinen deskriptiven Inhalt und bezeichnet kein konkretes Objekt. Das Ich, dem alle Vorstellungen zuzuschreiben sind, ist nur ein logisches Ich, welches die Möglichkeit aller Gedanken erfordert. Somit ist die Identität des Ich nur eine logische Identität. In Kants Worten: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können.“ (B 131) Von irgendeiner meiner Vorstellungen muss ich sagen können, dass sie meine ist, d. h. ich denke an sie oder ich schreibe mir sie zu. Darauf werde ich aber erst in Kapitel 3 ausführlich eingehen. Diese semantische Analyse lässt nun sehr leicht die Frage aufkommen, warum wir die Fähigkeit der Selbstzuschreibung haben. Es ist bekanntlich, dass Kant an einigen Stellen die Apperzeption als eine oder eines der „Fähigkeiten oder Vermögen der Seele“ (A 94) bezeichnet. 85 Und er nennt sogar die transzendentale Apperzeption das „Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis“ (A 114). Ein Grund dafür mag darin bestehen, dass die Apperzeption (genauer gesagt: die empirische Apperzeption) in der vorkantischen Tradition als gleichbedeutend mit dem inneren Sinn verwendet wird (vgl. B 153). Der innere Sinn wird in dieser Tradition als ein Sinn angesehen, der sich von den fünf äußeren Sinnen abgrenzt. Denn er lässt sich als ein solches Vermögen verstehen, sich selbst anzuschauen 86 oder sich selbst bewusst zu werden87. Kant geht offenbar von dieser Tradition aus und bezeichnet damit seine transzendentale Apperzeption als ein Vermögen, auch wenn die letztere grundsätzlich von dem traditionellen Begriff der Apperzeption bzw. des inneren Sinnes unterschieden ist. Jedoch bestimmt Kant prinzipiell in seinem erkenntnistheoretischen System nur Sinnlichkeit, Verstand, Urteilskraft und Vernunft als Erkenntnisvermögen. Die Apperzeption ist nicht in diesem System der Einteilung enthalten. In der Kant-Literatur favorisieren manche Interpreten die Interpretation der Apperzeption als Vermögen, wie Kitcher betont, dass Kants Apperzeption sowohl „a root faculty“ als auch „a fundamental power“ 88 ist. Die anderen Interpreten hingegen halten an der Lesart fest, die davon ausgeht, dass man Kants Formulierungen nicht ernst nehmen sollte, denn Kants Apperzeption sei der Sache nach gar keine Fähigkeit. Beispielsweise wehrt sich Emundts sich in seinem Aufsatz „Kant über Selbstbewusst-
85
86 87
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betonen werde, dass die Apperzeption als Vermögen in der Selbstzuschreibung besteht und diese Selbstzuschreibung als logische zu bezeichnen ist. Vgl. auch „das Vermögen, sich bewußt zu werden“ (B 68); „zu diesem Apperzeption als einem Vermögen“ (A 117 Anm.); „mit dem Vermögen der Apperzeption“ (B 153); „das Vermögen des Bewußtseins, die Apperzeption“ (AA IV 542). Vgl. A 22 f./ B 37. In der Metaphysik L1 schreibt Kant: „Die Seele schaut sich aber nur durch den innern Sinn an.“ (AA XXVIII 281) Vgl. A 107. In der Metaphysik L1 heißt es: „Demnach werden die Thiere alle Vorstellungen der äußern Sinne haben; nur derjenigen Vorstellungen werden sie entbehren, die auf dem innern Sinne, die auf dem Bewußtseyn seiner Selbst, kurz auf dem Begriffe vom Ich beruhen.“ (AA XXVIII 276) Kitcher 2011, S. 164.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
sein“ gegen die Interpretation der Apperzeption als Vermögen und insistiert darauf, dass Kants Apperzeption als „eine besondere Art von Bewusstsein“ 89 verstanden werden sollte. Nun geht es mir darum, die These näher zu beleuchten: Kants reine Apperzeption bestehe, egal in welcher Hinsicht (Vermögen oder Bewusstsein) sie verstanden wird, wesentlich darin, dass ein denkendes Subjekt sich selbst alle seine Gedanken bewusst zuschreiben kann. Sollte Selbstbewusstsein als Vermögen angehen werden, so muss Kants Auffassung von der traditionellen Auffassung abweichen, und zwar in der Hinsicht, dass es Kant in erster Linie um das Verhältnis zwischen dem denkenden Subjekt und allen seinen Gedanken geht, wohingegen dies sich in der Tradition nicht besonders auszeichnet. Genauer gesagt: Das Subjekt ist sich bewusst, dass es in allen Gedanken ein und dasselbe ist, indem dieses Subjekt über die Zugehörigkeit aller Gedanken zu seiner selbst reflektiert. Ganz im Gegenteil: Die traditionelle Auffassung vom Bewusstsein und Selbstbewusstsein betrifft vor allem die Vorstellungen bzw. Gegenstände des Bewusstseins. 90 Nun stellt sich die Frage, was für ein Vermögen die Apperzeption ist, wenn sie in Kants System als ein Vermögen zu verstehen ist. Diese Frage scheint leicht zu beantwortet, denn das Synonym für Selbstbewusstsein „das Bewußtsein seiner selbst“ deutet schon darauf hin, die Apperzeption sei „ein Vermögen sich seiner bewußt zu sein“ (B 414). Das heißt nichts anderes, als dass man sich vermittelst dieses Vermögens seiner selbst als eines denkenden Wesens bewusst ist. In Kants Worten: Menschen haben „das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen“ 91. Aber diese Tatsache ist nicht von sich selbst klar. Wir müssen also näher interpretieren, was es heißt, dass ein denkendes Wesen weiß, dass es ein und dasselbe ist. Dies Problem lässt sich dadurch auflösen, dass man sich das Verhältnis zwischen dem denkenden Subjekt und seinen Gedanken klarmacht. Dieses Verhältnis besteht nämlich in der Selbstzuschreibung, die die Identität des Selbstbewusstseins aufweist. In der Metaphysik Mrongovius findet sich eine Textpassage, die für diese Überlegung spricht, wo es heißt: Dieses Ich bleibt, und wenn sich alles geändert hat, wenn sich Körper und Grundsätze geändert haben. Was nun die Identitaet seines Selbst ausmacht, ist schwer zu wissen; auf dieses bezieht sich alles, alles kann sich ändern, nur das Bewußtsein und die Apperception oder das Vermögen, die Vorstellungen auf sein Selbst zu referiren, bleiben. (AA XXIX 878)
In diesem Zitat betont Kant, dass das Ich der Apperzeption in Bezug auf alles Wandelbare identisch bleibt. Und er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Apperzeption das Vermögen ist, „die Vorstellungen auf sein Selbst zu referiren“. Auffällig ist nun, dass Kant nicht sagt, die Apperzeption wäre ein Vermögen, die Vorstellungen miteinander zu verbinden, denn dies ist der Verstand bzw. die Einbildungskraft. Sondern mit Hilfe der Apperzeption sind wir in der Lage, die Vorstellungen auf uns selbst zu beziehen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass wir uns selbst die Vorstellungen zuschreiben können. Mit anderen Worten: Wir wissen, dass wir in allen bewussten Vorstellungen identisch sind. Kants Konzeption der Selbstzuschrei89 90
91
Emundts 2010, S. 54. Laut Wolfgang Carls Untersuchung unterscheidet sich Kants Konzeption des Bewusstseins von der seiner Vorgänger darin, dass Kant die Beziehung des Bewusstseins auf das Subjekt betont, aber seine Vorgänger vor allem auf die Beziehung des Bewusstseins auf seine Inhalte achten (vgl. Carl 1992, S. 61). Dazu schreibt Kant: „Sie [die Apperzeption] ist blos die Beziehung aller Vorstellungen auf ihr gemeinschaftlich Subiect, nicht aufs obiect.“ (R 224, AA XV 85) Zu diesem Punkt vgl. auch Wunderlich 2005, S. 122-127. Preisschrift, AA XX 270.
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
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bung ist vor allem in der transzendentalen Deduktion der Kategorien entwickelt. Z. B. schreibt Kant in der A-Deduktion: Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperception) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei. (A 122)
Und die prominente Stelle in der B-Deduktion lautet: […] daß alle meine Vorstellungen in irgend einer gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen und also als in einer Apperception synthetisch verbunden durch den allgemeinen Ausdruck: Ich denke, zusammenfassen kann. (B 138)
Kants Grundidee kann man so zusammenfassen: Alle gegebenen Vorstellungen müssen zu mir selbst als einem gemeinschaftlichen Subjekt gehören. Denn erst in einem Subjekt ist es möglich, dass sie miteinander verknüpft werden können, damit man Erkenntnisse erwirbt. Das heißt, dass sich alle gegebenen Vorstellungen de facto auf das Ich als ein denkendes Subjekt beziehen müssen. Aber diese Vorstellungen, die ich tatsächlich habe, können genau dann als meine Vorstellungen bezeichnet werden, wenn ich sie mir selbst als einem identischen Subjekt zuschreibe. Diese Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen bedeutet nichts anderes, als dass ich von ihnen weiß, dass sie meine Vorstellungen sind. Dies bedeutet wiederum nur, dass ich mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in diesen gegebenen Vorstellungen bewusst bin. Damit ich aber mir selbst bewusst sein kann, müssen manche Bedingungen erfüllt sein, sie beruhen auf der Spontaneität des denkenden Subjekts. Das heißt, dass ein denkendes Subjekt in der Lage sein muss, das Selbstzuschreiben der gegebenen Vorstellungen vorzunehmen. Also kann man sagen: Wenn Kants Apperzeption als Vermögen zu verstehen ist, muss sie ein solches Vermögen sein, mit Hilfe dessen man sich selbst die gegebenen Vorstellungen zuschreibt, wobei man sich seiner selbst als eines identischen Subjekts bewusst ist. Der zweite wesentliche Aspekt des Selbstbewusstseins ist die Einheit. Da Kant zwischen analytischer und synthetischer Einheit des Selbstbewusstseins unterscheidet und die erstere mit der Identität der Apperzeption gleichsetzt, 92 geht es mir nun um die synthetische Einheit der Apperzeption. Ich bin mir meiner selbst bewusst, als eines solchen Subjekts, das denkt und die gegebenen Vorstellungen synthetisiert. Ein einheitlicher Gedanke ist nur dann möglich, wenn ich das Mannigfaltige in einem Bewusstsein auf gewisse Weise verbinde. Anders gesagt: Der Zusammenhang der gegebenen Vorstellungen in einem Gedanken kommt nur durch eine Synthesisleistung des Subjekts zustande. Der Begriff des Selbstbewusstseins impliziert also das Bewusstsein des Ich als einer vereinheitlichenden Instanz. Denn das denkende Subjekt ist der Einheitsstifter. Insofern kann man auch sagen, dass die Art und Weise, wie die Vorstellungen synthetisiert werden, die Bedingung für die Verwirklichung der synthetischen Einheit der Apperzeption ist. Wie wir sehen werden, erweist dies sich als Kategorien. Kant bezeichnet diese „ursprünglich-synthetische Einheit“ (B 131) als die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins (vgl. B 132), weil sie aller Erfahrung zugrunde liegt. Doch wie lässt sich genauer erklären, dass es sich beim reinen Selbstbewusstsein um ein Ich handelt, das durch seine Aktivität die Einheit stiftet? 92
Vgl. B 133. Auf diesen Punkt werde ich später in 3.1 (c) eingehen.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
Das Selbstbewusstsein kann man laut Kant in gewissem Sinne als das Bewusstsein von der Spontaneität verstehen, weil das Ich, dessen ich mir bewusst bin, ein spontan denkendes Ich ist. Um die Spontaneität und die Aktivität des Subjekts zu betonen, sagt Kant auch manchmal: Die apperception ist das Bewustseyn des Denkens, d.i. der Vorstellungen, so wie sie im Gemüthe gesetzt werden. (R 4674, XVII 647)
Kant stellt bekanntermaßen der „Receptivität unseres Gemüths“ (A 51/ B 75) die „Spontaneität des Erkenntnisses“ (A 51/ B 75) gegenüber. Bei der ersteren handelt es sich um das Vermögen, „Vorstellungen zu empfangen“ (A 51/ B 75), nämlich die Sinnlichkeit; bei der letzteren um das Vermögen, „Vorstellungen selbst hervorzubringen“ (A 51/ B 75), nämlich den Verstand. Kant spricht auch von der „Spontaneität der Begriffe“ (A 50/ B 74), „Spontaneität der Vorstellungskraft“ (B 130) „Spontaneität des Denkens“ (A 78/ B 93), „Spontaneität der Verbindung“ (B 130) und „Spontaneität der Apperzeption“ 93. Kants Vokabular deutet darauf hin, dass es der Begriff der Spontaneität jedenfalls mit den höheren Erkenntnisvermögen oder ihren Handlungen zu tun hat. 94 Es geht mir nun darum, zu erklären, dass es sich im reinen Selbstbewusstsein der Sache nach um das Ich handelt, das spontan ist, indem es über Verbindungsvermögen verfügt und Handlungen ausübt. 95 Zunächst muss man anerkennen, dass für Kant das Subjekt der Rezeptivität und das Subjekt der Spontaneität in der Tat dasselbe Subjekt ist (vgl. B 132). Aber weil das Ich im reinen Selbstbewusstsein nicht als ein in der Anschauung gegebenes Objekt angesehen werden darf, ist das Ich der reinen Apperzeption nicht das rezeptive, passive Subjekt, sondern das Subjekt im Hinblick auf die Spontaneität, nämlich das spontane Ich. Wie wir oben aufgrund Kants Ausführungen in der Anthropologie gezeigt haben, unterscheidet Kant zwischen der reinen und der empirischen Apperzeption und bezeichnet das Ich der reinen Apperzeption als „das bloß reflektierende Ich“ bzw. „das Ich als das Subjekt des Denkens“ (AA VII 134 Anm.), also das logische Ich. Außerdem lässt sich die Spontaneität des Ich durch sein Verbindungsvermögen und seine Handlungen erklären. Ein Verbindungsvermögen kann nur einem spontanen Subjekt zugeschrieben werden, weil die Verbindung laut Kant „ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft“ (B 130) bzw. „eine Verrichtung des Verstandes“ (B 135) ist. Somit kann man sagen, dass das Ich der reinen Apperzeption über das Vermögen verfügt, von sich selbst das gegebene Mannigfaltige nach Regeln zu verbinden. 96 In diesem Sinn dient das Ich sowohl zum Träger aller Gedanken als auch zum Akteur. Nun ist aber bemerkenswert, dass Kant der Anthropologie, AA VII 141. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Punkt vgl. Willaschek 2010, S. 161-171. 95 Zu dieser Konzeption vgl. Carl 1992, S. 63; Carl 1998, S. 105-122. 96 Es ist hier darauf zu achten, dass die Tatsache, das Ich der Apperzeption verfüge über das Verbindungsvermögen, nicht bedeutet, dass die Apperzeption ein Vermögen ist, die gegebenen Vorstellungen zu verbinden. Diese Ansicht vertritt etwa Kitcher, indem sie schreibt: „The faculty enables cognizers to combine or synthesize representations […].“ (Kitcher 2011, S. 161) Anders als Kitcher ist meiner Meinung nach das Vermögen, die gegebenen Vorstellungen miteinander zu verbinden, dem Verstand oder der Einbildungskraft zuzusprechen (vgl. B 130, A 78/ B 103). Die Apperzeption ist ein Bewusstsein vom Ich als Subjekt aller Gedanken. Dabei handelt es sich nur um den Sachverhalt, in dem sich alle gegebene Vorstellungen auf das gemeinschaftliche Subjekt beziehen. Wie wir oben gesehen haben, ist die Apperzeption laut Kant ein Vermögen, aber nur in dem Sinne, dass alle Vorstellungen einem gemeinschaftlichen Subjekt zugeschrieben werden. 93 94
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
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Meinung ist, das Ich sei nicht nur der Besitzer des Verbindungsvermögens, sondern wisse auch, dass es dieses Vermögen hat. Das heißt, dass ich mir meines Verbindungsvermögens bewusst bin, wenn es um das reine Selbstbewusstsein geht. Diese Überlegung hat Kant in § 25 der Kritik so angedeutet: Wenn ich mich selbst im Hinblick auf die Spontaneität betrachte, nenne ich mich Intelligenz (vgl. B 157 Anm.). Und „ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögen bewußt ist“ (B 158). 97 Aufgrund dieses Verbindungsvermögens ist das denkende Subjekt natürlich in der Lage, die gegebenen Vorstellungen miteinander nach Regeln des Verstandes zu verbinden oder zu synthetisieren. Demnach zeichnet sich die Spontaneität des Ich in seiner Handlung aus. Und das Ich weiß, dass es selber diese Handlung ausübt. Somit impliziert das reine Selbstbewusstsein das Bewusstsein der Handlung des Subjekts, genauer gesagt, das Bewusstsein der Synthesis. 98 Es ist daher auffällig, dass Kants reines Selbstbewusstsein nicht als ein statischer, sondern als ein dynamischer Sachverhalt aufgefasst werden sollte. D. h. das Ich, das sich als Objekt des reinen Selbstbewusstseins ansehen lässt, ist zugleich als ein dynamisches Ich zu verstehen, das aufgrund seines Verbindungsvermögens die Handlung der Synthesis durchführt und davon ein Bewusstsein hat, wie Dieter Henrich in seinem Buch Between Kant and Hegel betont: „The self fundamentally has the character of activity: it is an act.” 99 Der dritte wesentliche Aspekt des Selbstbewusstseins betrifft die Existenz des Ich. Kant zufolge ist der Ausdruck „ich“, um den es im reinen Selbstbewusstsein geht, nur „ein bloßes Vorwort“ 100. In heutiger semantischer Sprache verfügt der Begriff „ich“ nicht über deskriptiven Inhalt. Dieser Begriff als ein singularer Terminus bezeichnet kein einzelnes Objekt, zumindest kein Objekt in dem Sinne, dass ein allgemeiner Begriff ein Objekt bezeichnet. Der Begriff „ich“ ist daher kein Prädikatbegriff, sondern nur eine „Bezeichnung“ 101. Doch er bezeichnet kein Objekt. 102 Denn wie Kant selbst sagt, ist die Ich-Vorstellung nur eine „einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung“ (A 345/ B 404). Sie gehört nämlich nicht zur Vorstellungsart, die „ein besonderes Objekt unterscheidet“ (A 346/ B 404). Aus diesem Grund bezeichnet Henrich die „Leerheit“ („emptiness“) als „the inscrutable property of the self“ 103. Dieser logisch-semantische Charakter der Ich-Vorstellung besagt, dass das reine Ich, dessen ich mir bewusst bin, sicherlich auf eine besondere Art existiert, und das Bewusstsein dieser Existenz auch von einer besonderen Art ist. Doch was ist diese Art von Existenz und Bewusstsein?
Kant erwähnt in der Fußnote von § 25 der Kritik „das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin“ (B 157 Anm.). Auch schreibt er in der Preisschrift, dass „das logische Ich das Subjekt […] im reinen Bewußtsein, nicht als Rezeptivität, sondern reine Spontaneität anzeigt“ (AA XX 271). Noch expliziter bezeichnet Kant das reine Selbstbewusstsein als „eine bloß intellectuelle Vorstellung der Selbstthätigkeit eines denkenden Subjects“ (B 278) 98 Vgl. B 133, B 135, B 157. 99 Henrich 2003, S. 40. 100 MAN, AA IV 542. 101 Prolegomena, AA IV 334. 102 Dazu schreibt Strawson: „The ‘I’ of the ‘I think’ […] denotes no object at all, nothing at all.” (Strawson 1997, 255) 103 Henrich 2003, S. 40. 97
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
Bekanntlich ist Kant der Meinung, dass das Ich der Apperzeption weder Erscheinung noch Ding an sich ist (vgl. B 429), sondern „ein logisches Ich“ 104. Es fungiert im Wesentlichen als „das gemeinschaftliche Subjekt“ (A 350), dem alle Gedanken inhärieren. 105 Mit anderen Worten: Das Ich als „das beständige logische Subjekt des Denkens“ ist eine logische Bedingung für die Möglichkeit aller Gedanken. Denn nur in einem Subjekt können verschiedene Vorstellungen einen Gedanken ausmachen. Die verschiedenen Vorstellungen, die unter verschiedene Subjekte verteilt sind, können keinen Gedanken bilden. Somit gibt es nur dann das logische Subjekt, wenn es Gedanken gibt. Da nun die Ich-Vorstellung inhaltlos ist und der Inhalt eines Gedankens nur auf passive Weise gegeben werden kann, kommt das logische Ich nur dann zustande, wenn das gegebene Mannigfaltige auf gewisse Weise synthetisiert wird, d. h. wenn Gedanken vorhanden sind. 106 Daraus geht hervor, dass das Ich nur als logische Bedingung in Gedanken existiert. Dabei ist aber auffällig, dass die Existenz, um die es hier geht, keine Existenz ist, der eine sinnliche Anschauung entspricht. So ist hier noch nicht von der Existenz der Kategorie die Rede. Sie ist vielmehr eine logische Existenz. Diese Benennung ist meiner Ansicht nach deshalb angemessen, weil Kant selbst nicht nur das Ich, wie erwähnt, als das logische Ich bezeichnet, sondern auch die reine Apperzeption als „das Bewußtseyn meiner selbst (logisch)“ 107 bezeichnet. Allerdings ist es noch nötig, zu erklären, was genauer mit der logischen Existenz des Ich gemeint ist. Die logische Existenz bedeutet erstens nicht die Existenz, die es mit dem Raum und der Zeit zu tun hat. Das heißt, dass das Existierende hier kein Objekt ist, das über raumzeitliche Eigenschaften verfügt. Die logische Existenz bedeutet zweitens nicht die Existenz, die einem Ding auf die Weise, wie es an sich selbst beschaffen ist, zukommt. Somit fungiert die logische Existenz weder als Erscheinung noch als Ding an sich. Vielmehr bedeutet die logische Existenz, dass eine Existenz als logische Bedingung vorausgesetzt werden muss, wenn etwas wirklich existiert oder existieren kann. Dementsprechend kann man sagen, dass die logische Existenz des Ich der reinen Apperzeption weder als Erscheinung noch als Ding an sich, sondern als ein logisches Subjekt fungiert, das man in Bezug auf allen Gedanken voraussetzen muss. Denn jeder Gedanke setzt voraus, dass es ein Subjekt geben muss, das als logische Bedingung existieren muss, wenn es Gedanken gibt. Umgekehrt: Die logische Existenz eines denkenden Subjekts kommt auch nur in einem Gedenken zum Ausdruck. Anders gesagt: Ohne Gedanken ist es nicht mehr sinnvoll, davon zu sprechen, dass ein solches Subjekt existiert. Die Überlegung, dass es sich bei Kants Selbstbewusstsein um die logische Existenz des Ich handelt, kommt mit aller wünschenswerten Klarheit in einer Passage aus dem ParalogismusKapitel zum Ausdruck: 108 104 105
106 107 108
Preisschrift, AA XX 271. Arthur Melnik vertritt eine dynamisch-phaenomenologische Auffassung von Kants Ich: Der dritte Status des denkenden Subjekts sei ihm zufolge eine intellektuelle Aktivität. Dazu schreibt er: „The thinking subject or the self for Kant is the abiding intellectual action for unifying inner attending.” (Melnik 2009, S. vii) Vgl. B 422 Anm. Zu diesem Punkt vgl. auch Henrich 2003, S. 42; Horstmann 2007, S. 139. Op, AA XXII 67. Vgl. „Die Form der Apperception ist die formale Einheit im Bewustseyn überhaupt, die logisch ist.“ (R 224, AA XV 85) In der Widerlegung des Idealismus spricht Kant davon, dass das Selbstbewusstsein die Existenz eines Subjekts impliziert, wo er schreibt: „Freilich ist die Vorstellung: ich bin, die das Bewußtsein ausdrückt, welches alles Denken begleiten kann, das, was unmittelbar die Existenz eines Subjects in sich schließt, aber noch kei-
1.2 Das reine Selbstbewusstsein
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Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Function, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung und stellt das Subject des Bewußtseins keinesweges als Erscheinung dar, bloß darum weil es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinnlich oder intellectuell sei. Dadurch stelle ich mich mir selbst weder wie ich bin, noch wie ich mir erscheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes Object überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahire. […] Nun will ich mich meiner aber nur als denkend bewußt werden; wie mein eigenes Selbst in der Anschauung gegeben sei, das setze ich bei Seite […]; im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist. (B 428 f.)
Diese Passage besagt, dass das Subjekt des reinen Selbstbewusstseins nicht als Erscheinung oder Ding an sich angesehen werden darf. Denn es handelt sich dabei nur um das Subjekt, das es mit der Art der Anschauung nicht zu tun hat, nämlich um das bloß denkende Ich, das in Bezug auf alle Gedanken die logische Existenz hat. Somit impliziert das reine Selbstbewusstsein das Bewusstsein der logischen Existenz des Subjekts aller Gedanken. 109 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Kant das Bewusstsein der logischen Existenz des Ich als das intellektuelle Bewusstsein bezeichnet. Dazu schreibt er: „Wenn ich mit dem intellektuellen Bewußtsein meines Daseins, in der Vorstellung Ich bin, welche alle meine Urteile und Verstandeshandlungen begleitet […].“ (B XXXIX Anm.) Dies besagt, dass das intellektuelle Bewusstsein der logischen Existenz des Ich kein wirkliches Bewusstsein ist. Damit ist es von dem Bewusstsein der empirisch bestimmten Existenz des Ich zu unterscheiden. 110 Denn beim letzteren handelt es sich um das empirischen Selbstbewusstsein und das Ich, das zugleich auch ein Objekt der sinnlichen Anschauung ist. Darauf werde ich aber erst in 6.2 ausführlich eingehen. 1.3
Das Verhältnis zwischen reinem Selbstbewusstsein und empirischem Bewusstsein
Wir haben schon davon gesprochen, dass Kant sich in der Kritik nicht darum bemüht, Theorien über Bewusstsein, Selbstbewusstsein und ihr Verhältnis zu entwickeln, und dass Kants Gebrauch von diesen Begriffen nicht in allen Kontexten konsequent ist. Um das Verhältnis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein deutlich zu machen, ist es aber zunächst nötig, zu bestimmen, in welchem Sinne man diese zwei Begriffe verwendet. Wie oben erwähnt, unterscheide ich in dieser Untersuchung zwischen dem transzendentalen Bewusstsein und dem
109
110
ne Erkenntniß desselben, mithin auch nicht empirische, d.i. Erfahrung.“ (B 277) Und in § 25 der transzendentalen Deduktion der Kategorien schreibt Kant: „Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transscendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperception bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin.“ (B 157) In einer Reflexion schreibt Kant auch: „Ich bin: ein Satz der nicht empirisch ist.“ (R 5964, AA XVIII 406) In einer Reflexion aus dem Duisburg’schen Nachlass weist Kant darauf hin, dass wir uns im Selbstbewusstsein unserer eigenen Existenz bewusst sind: „Die Warnehmung ist die position im innern Sinne überhaupt und geht auf Empfindung nach Verheltnissen der apperception des Selbstbewustseyns, nach dem wir uns unsres eignen Daseyns bewust werden.“ (R 4676, AA XVII 659) Dazu schreibt Kant in einer Reflexion, dass „das transscendentale Bewustseyn unserer selbst, welches die Spontaneität aller unserer Verstandeshandlungen begleitet, welches aber im bloßen Ich besteht ohne die Bestimmung meines Daseyns in der Zeit, allerdings unmittelbar sey“ (R 5653, AA XVIII 306) Vgl. auch eine andere Reflexion: „Das Bewußtseyn, wenn ich eine Erfahrung anstelle, ist Vorstellung meines Daseyns, sofern es empirisch bestimmt ist, d. h. in der Zeit. […] Das Bewußtseyn aber, eine Erfahrung anzustellen, oder auch überhaupt zu denken, ist ein transscendentales Bewußtseyn, nicht Erfahrung.“ (R 5661, AA XVIII 319)
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
transzendentalen Selbstbewusstsein nicht, denn Kant scheint sie in den meisten Kontexten als austauschbare Begriffe zu benutzen. Der mögliche subtile Unterschied ist für meine Zecke nicht wichtig. Was das empirische Bewusstsein betrifft, ist es naheliegend, zwischen einem empirischen Bewusstsein bzw. Gegenstandsbewusstsein 111 und einem empirischen Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Das Objekt des empirischen Bewusstseins ist etwas, das von mir als einem empirischen Subjekt verschieden ist. Das Objekt des empirischen Selbstbewusstseins aber ist das empirische Ich. Infolgedessen ist das empirische Bewusstsein streng vom empirischen Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Aufgrund dieser terminologischen Darstellungen werde ich im Folgenden zuerst der Frage nachgehen: Wie verhält sich das reine Selbstbewusstsein zu dem empirischen Bewusstsein (a)? Anschließend werde ich zwei mögliche Einwände gegen meine Interpretation diskutieren und dann kurz auf das Verhältnis von reinem Selbstbewusstsein und empirischem Selbstbewusstsein sowie das Verhältnis von empirischem Bewusstsein und empirischem Selbstbewusstsein eingehen (b). (a)
Das Bedingungsverhältnis zwischen reinem Selbstbewusstsein und empirischem Bewusstsein
Wie bereits mehrmals gezeigt, ist das reine Selbstbewusstsein nach Kant das Bewusstsein vom Ich als Subjekt aller Gedanken, also das Bewusstsein davon, dass ich in allen meinen Gedanken „ein und dasselbe“ (B 132) bin. Auch bezeichnet Kant das reine Selbstbewusstsein als transzendentale Apperzeption, weil es als eine Bedingung fungiert, die sich „vor aller besondern Erfahrung vorhergehend[]“ (A 117 Anm.) bzw. a priori betrachten lässt. Demnach sollte Kants reines Selbstbewusstsein nicht als ein mentaler Zustand oder ein wirklicher Sachverhalt, den jemand aktuell besitzt, verstanden werden. Wir haben auch schon gezeigt, dass das reine Selbstbewusstsein ganz inhaltslos ist. Denn das Wissen um sich selbst bzw. die Vorstellung vom Ich, wenn es nur um das Verhältnis aller Gedanken zu einem logischen gemeinschaftlichen Subjekt geht, läuft noch nicht darauf hinaus, dass man bestimmte Eigenschaften des Ich als Objekt des Bewusstseins erkennen könnte. Somit ist das Ich, von dem beim reinen Selbstbewusstsein die Rede ist, zwar das Objekt des reinen Selbstbewusstseins (Objekt im schwachen Sinne), aber enthält in der Tat nicht „die mindeste Eigenschaft“ (A 355). In diesem Sinne kann man auch sagen, dass das reine Selbstbewusstsein nur „eine formale Bedingung“ (A 363) ist, die nicht ohne den wirklich gegebenen Inhalt des Gedankens zustande kommen kann. Ganz im Gegenteil: Ein empirisches Bewusstsein ist Kant zufolge ein mentaler Zustand, den jemand wirklich besitzt. Es kann in der Zeit aktuell stattfinden. Dies liegt daran, dass das empirische Bewusstsein nicht vor der Erfahrung bzw. unabhängig von der Erfahrung vorkommt. Vielmehr darf man jedenfalls das empirische Bewusstsein nur innerhalb der Erfahrung betrachten, d. h. nur wenn es sich um das Empirische handelt. Aus diesem Grund muss ein empirisches Bewusstsein empirische Bewusstseinsinhalte enthalten. Anders gesagt: Das empirische Bewusstsein hat das, was in einer empirischen Anschauung gegeben ist, zum In-
111
Der Kürze halbe verwende ich statt des Begriffs „Gegenstandsbewusstsein“ einfach den Ausdruck „das empirische Bewusstsein“.
1.3 Verhältnis
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halt. Man kann Kants Konzeption des empirischen Bewusstseins im Zusammenhang mit der Empfindung und der Wahrnehmung auffassen. In einer Reflexion schreibt Kant: Zuerst gehört zu aller Erfahrung [unmittelbar] Vorstellung der Sinne. Zweytens Bewustseyn; dieses, wenn es unmittelbar mit jenem Verbunden ist, heißt empirisches Bewustseyn, und die Vorstellung [die] (g der Sinne), mit empirischem Bewustseyn verbunden, heißt Warnehmung. (R 5923, XVIII 386)
Dieses Zitat besagt, dass Kant das empirische Bewusstsein als das Wissen um eine sinnliche Vorstellung, die die Empfindung als ihre Materie enthält, versteht. Diese bewusste sinnliche Vorstellung wird eine Wahrnehmung genannt, wie Kant sagt: „Eine empirische Vorstellung, deren ich mir bewußt bin, ist Wahrnehmung.“ 112 Es ist daher leicht zu sehen, dass das empirische Bewusstsein eine entscheidende Rolle dafür spielt, eine sinnliche Vorstellung bzw. Empfindung zur Wahrnehmung zu machen. Denn Kant bezeichnet die Empfindung, die „mit Bewußtseyn verbunden“ 113 ist, als Wahrnehmung. Demnach wird die Wahrnehmung von Kant manchmal direkt mit dem empirischen Bewusstsein gleichgesetzt. Dazu schreibt er: „Die Wahrnehmung ist das empirische Bewusstsein, h. i. ein solches, in welchem zugleich Empfindung ist.“ (B 207) 114 Aufgrund dieser Analyse ist es offensichtlich, dass zwischen dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein ein Gegensatz besteht: Jenes ist ein nicht-wirkliches inhaltsloses Bewusstsein, aber dieses ist ein wirklich mit dem empirischen Inhalt versetztes Bewusstsein. Nun ist es noch nötig, auf das Verhältnis zwischen dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein einzugehen. Die Frage nach diesem Verhältnis ist in der Literatur kontrovers diskutiert worden. Denn Kant scheint in der Kritik keine ausführliche Erläuterung zu liefern und es scheint uns auch schwer zu sein, seine Formulierungen über das Verhältnis konsequent zu verstehen. Zuerst einmal sehen wir uns einige Formulierungen an, die im Kontext der transzendentalen Deduktion der Kategorien das Verhältnis von dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein auf verschiedene Weisen zum Ausdruck bringen. Sie lauten: Es liegt […] dem empirischen Bewußtsein die reine Apperception, d.i. die durchgängige Identität seiner selbst bei allen möglichen Vorstellungen, a priori zum Grunde. (A 115 f.) Alles empirische Bewußtsein hat aber eine nothwendige Beziehung auf ein transscendentales (vor aller besondern Erfahrung vorhergehendes) Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner selbst als die ursprüngliche Apperception. (A 117 Anm.) Der synthetische Satz: daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt. (A 117 Anm.) Denn ob wir gleich das Vermögen hätten, Wahrnehmungen zu associiren, so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob sie auch associabel wären; und in dem Falle, daß sie es nicht wären, so würde eine Menge Wahrnehmungen und auch wohl eine ganze Sinnlichkeit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewußtsein in meinem Gemüth anzutreffen wäre, aber getrennt und ohne daß es zu einem Bewußtsein meiner selbst gehörte, welches aber unmöglich ist. Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperception) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei. (A 121 f.) 112 113 114
R 5661, XVIII 319. Preisschrift, AA XX 276. Vgl. auch A 120; B 160; B 164 Anm.; R 4679, XVII 664.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein Diese zeigt also an: daß das empirische Bewußtsein eines gegebenen Mannigfaltigen Einer Anschauung eben sowohl unter einem reinen Selbstbewußtsein a priori […] stehe. (B 144)
Es ist leicht zu sehen, dass Kant in diesen Ausführungen durch fünf verschiedene Ausdrucksweisen das Verhältnis von dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein darstellt: Das reine Selbstbewusstsein liegt dem empirischen Bewusstsein zugrunde; das empirische Bewusstsein bezieht sich notwendigerweise auf das reine Selbstbewusstsein; alles empirische Bewusstsein muss als im reinen Selbstbewusstsein verbunden angesehen werden; alles empirische Bewusstsein gehört zum reinen Selbstbewusstsein; das empirische Bewusstsein steht unter dem reinen Selbstbewusstsein. Jede dieser Formulierungen ist ohne weitere Erklärungen unklar. Aber ich möchte sie hier nicht im Einzelnen interpretieren. Vielmehr reicht es nun für meinen Zweck, anhand anderer Textstellen Kants Grundidee, durch die die obigen Formulierungen verständlich werden, deutlich zu machen. Meiner Ansicht nach vertritt Kant die Auffassung: Das Verhältnis zwischen dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein besteht darin, dass die Möglichkeit des empirischen Bewusstseins das reine Selbstbewusstsein voraussetzt. 115 In Kants eigenen Worten: „[S]o setzt also das empirische Bewußtseyn das transscendentale voraus“ 116. Mit anderen Worten: Das empirische Bewusstsein impliziert schon analytischerweise das reine Selbstbewusstsein. Genauer gesagt: Man kann genau dann wirklich das Bewusstsein von einer empirischen Vorstellung besitzen, wenn man weiß, dass diese Vorstellung mit anderen Vorstellungen zu ein und demselben Subjekt gehört, d. h. wenn das reine Selbstbewusstsein bei allen Vorstellungen ins Spiel kommt. Demnach kann man auch sagen, dass das reine Selbstbewusstsein als ein nicht wirkliches Bewusstsein eine formale Bedingung für ein wirkliches empirisches Bewusstsein ist. Für diese These möchte ich im Folgenden durch zwei Schritte und zwei Kantische Analogien argumentieren. Der erste Schritt betrifft die Beziehung einer Vorstellung auf das Bewusstsein. Wenn man auf Kants ganze transzendentale Ästhetik einen Blick wirft, ist es leicht zu sehen, dass Kant dort die Möglichkeit einer empirischen Anschauung oder sogar aller sinnlichen Vorstellungen erläutert, ohne vom Bewusstsein zu sprechen. 117 Dies heißt aber nicht, dass man bloß aufgrund der Sinnlichkeit eine empirische Vorstellung erwerben kann und zugleich schon weiß, dass man diese sinnliche Vorstellung hat. Um dies zu erreichen, müssen wir noch andere Bedingungen erfüllen. Was Kant in der transzendentalen Ästhetik in Bezug auf anschauliche Vorstellungen macht, besteht vielmehr darin, „die Sinnlichkeit [zu] isolieren“ (A 21/ B 36) und damit nur die sinnlichen Bedingungen der Möglichkeit der Vorstellungen zu betrachten. Kants Konzeption über eine empirische Vorstellung bzw. eine empirische Anschauung kann man so zusammenfassen: Wir können eine sinnliche empirische Vorstellung für sich genommen genau dann erwerben, wenn unsere Sinne durch Gegenstände affiziert werden, wobei wir aufgrund der Sinnlichkeit und durch diese Affektion die Empfindung bekommen, die den Inhalt dieser empirischen Vorstellung bzw. die Materie der Erscheinung ausmacht. Insofern haben wir eine empirische Anschauung (vgl. A 19 f./ B 33 f.). 115 116 117
Diese Lesart wird auch von anderen Interpreten vertreten. Vgl. Ameriks 1994, S. 335; Keller 2004, S. 3. R 6311, XVIII 611. In der transzendentalen Ästhetik spricht Kant freilich vom inneren Sinn. Aber der innere Sinn wird dort vor allem als Anschauungsvermögen verstanden.
1.3 Verhältnis
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Wichtig ist aber zu beachten, dass Kant hier bloß die sinnlichen Bedingungen des Stattfindens einer Anschauung betont, nämlich die Sinnlichkeit oder Rezeptivität und natürlich Raum und Zeit als sinnliche Formen. Sollte man sich bloß auf diese Bedingungen berufen, dann kann man noch nicht sagen, dass man weiß, eine sinnliche Anschauung zu besitzen. Diese Überlegung gilt in der Tat für alle Vorstellung. D. h. wenn man eine Vorstellung besitzt, aber von ihr kein Bewusstsein hat, ist sie nur eine dunkle Vorstellung, also eine unbewusste Vorstellung (siehe 1.1). Um eine Vorstellung bewusst zu machen, geht Kant davon aus, dass sich diese Vorstellung auf das Bewusstsein beziehen muss. Genauer gesagt: Eine Vorstellung hat genau dann den epistemischen Status oder lässt sich genau dann als eine in der Erkenntnis enthaltene Vorstellung ansehen, wenn diese Vorstellung ins Bewusstsein aufgenommen wird. Dazu schreibt Kant: Alle Anschauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direct oder indirect darauf einfließen, und nur durch dieses allein ist Erkenntniß möglich. (A 116)
In diesem Zitat betont Kant, dass alle Anschauungen nur dann als Vorstellungen, die für uns etwas sind, angesehen werden können, wenn sie ins Bewusstsein aufgenommen werden. Diese Überlegung wird von Kant in der bekannten Fußnote zu A 117 noch allgemeiner formuliert, wo es heißt: Alle Vorstellungen haben eine nothwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein: denn hätten sie dieses nicht, und wäre es gänzlich unmöglich, sich ihrer bewußt zu werden, so würde das so viel sagen, sie existirten gar nicht. (A 117 Anm.)
Kants Argument dafür, dass sich alle Vorstellungen auf das empirische Bewusstsein beziehen müssen, ist mehr oder weniger plausibel, wenn man die Möglichkeit dieser Beziehung nicht weiter verfolgt. Denn eine empirisch bewusste Vorstellung, die für uns bzw. in uns wirklich existiert, bedeutet nichts anderes, als dass wir uns der empirischen Vorstellung bewusst. Dies heißt wiederum nur, dass wir wissen, dass wir diese empirische Vorstellung haben. Anders gesagt: Eine Vorstellung, die gar keine Beziehung auf das Bewusstsein hat, ist für uns als erkennende Subjekte nichts. Die obige Überlegung kann man auch anhand Kants Begriff des Bewusstseins verständlich machen. Aus seiner Definition des Bewusstseins 118 ergibt sich, dass ein empirisches Bewusstsein diejenige Vorstellung bedeutet, die aufzeigt, dass eine andere empirische Vorstellung in mir ist. Mit anderen Worten: Dass man ein empirisches Bewusstsein hat, heißt nichts anderes, als dass man weiß, dass man eine empirische Vorstellung hat. Diese empirische Vorstellung ist daher der Inhalt des empirischen Bewusstseins. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass man sich der empirischen Vorstellung bewusst ist. Insofern sich eine empirische Vorstellung auf das Bewusstsein bezieht, lässt sich diese Vorstellung auch als eine empirische bewusste Vorstellung ansehen. Es ist daher auffällig, dass das empirische Bewusstsein, wie bereits erwähnt, ein solcher Sachverhalt ist, dessen Stattfinden dazu führt, dass man eine lediglich auf der Sinnlichkeit beruhende Vorstellung als eine empirische bewusste Vorstellung bezeichnen 118
Vgl. „Eigentlich ist das Bewußtsein eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist.)“ (Jäsche-Logik, IX 33)
40
1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
kann. Infolgedessen sind bewusste Vorstellungen von den unbewussten Vorstellungen zu unterscheiden. Bei den ersteren ist zu betonen, dass wir nicht nur die Vorstellungen besitzen, sondern auch wissen können, dass wir sie besitzen. Dafür spricht Kants Aussage: Das Bewußtsein ist ein Wissen dessen, was mir zukommt. Es ist eine Vorstellung von meinen Vorstellungen, davon man sich bewußt ist. (Metaphysik L1, AA XXVIII 227)
Aus diesen Grund wird das empirische Bewusstsein gewöhnlicherweise Gegenstandsbewusstsein genannt. Denn man bezieht sich dabei auf den Gegenstand, den eine empirische Vorstellung repräsentiert. Und genau wegen dieses empirischen Bewusstseins kann die empirische Vorstellung den Gegenstand repräsentieren. Der zweite Schritt betrifft die Möglichkeit einer empirisch bewussten Vorstellung. Es stellt sich nun die Frage, wie eine empirische Vorstellung, derer man sich bewusst ist, möglich ist. Die Antwort auf diese Frage findet sich in dem Grundsatz der Apperzeption der „Deduktion von oben“. Die relevante Aussage lautet: Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntniß jemals gehören können, bewußt, als einer nothwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können). (A 116)
Da ich erst unten, in Abschnitt 3.2, ausführlich auf Kants Konzeption der „Deduktion von oben“ eingehen werde, möchte ich mich nun nur auf die Erklärung der Möglichkeit der Vorstellung konzentrieren. In der obigen Passage ist Kant der Meinung, dass alle Vorstellungen genau dann möglich sind, wenn man weiß, dass man in diesen Vorstellungen ein und dasselbe ist. In Kants Worten: Das Bewusstsein der Identität des Subjekts ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen. Demnach kann man auch sagen, dass das reine Selbstbewusstsein bzw. das reine Bewusstsein vom identischen Ich bei allen Vorstellungen eine Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen ist. In etwas noch zugänglicheren Worten: Eine gegebene Vorstellung als eine bewusste Vorstellung ist nur dann möglich, wenn man sich diese Vorstellung zuschreibt, d. h. wenn man weiß, dass man diese Vorstellung besitzt. Für diese Überlegung liefert Kant durch den Satz in der Klammer der zitierten Passage ein Argument: Die Vorstellungen, die für uns etwas sind, und die in der Erkenntnis einen Gegenstand repräsentieren, also bewusste Vorstellungen, sind nur dann möglich, wenn sie mit anderen Vorstellungen in einem Subjekt verbunden sind und man davon ein Bewusstsein hat. Denn es versteht sich von selbst, dass eine Vorstellung, von der ich gar nicht weiß, dass sie meine Vorstellung ist, gar nichts repräsentieren kann. Aus diesem Grund kann man sagen, dass eine empirisch bewusste Vorstellung bereits auf analytische Weise impliziert, dass man sich seiner selbst bei dieser Vorstellung bewusst ist, indem man sagt, dass diese Vorstellung meine ist. Das heißt nichts anderes, als dass eine empirisch bewusste Vorstellung das reine Selbstbewusstsein analytisch impliziert. Somit impliziert das empirische Bewusstsein schon das reine Selbstbewusstsein. Das reine Selbstbewusstsein ist also eine Bedingung der Möglichkeit des empirischen Bewusstseins.
1.3 Verhältnis
41
Das Bedingungsverhältnis zwischen dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein macht Kant auch an anderer Stelle der A-Deduktion sehr deutlich, wo er von der Möglichkeit der Wahrnehmung spricht. Sie lautet: Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperception) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei. (A 122)
Wie erwähnt, ist Kants Gebrauch des Worts „Wahrnehmung“ manchmal einfach mit dem Gebrauch vom „empirische[n] Bewusstsein“ (B 207) bzw. „der empirischen Vorstellung mit Bewusstsein“ 119 gleichbedeutend. Kant weist in dieser Passage darauf hin, dass eine Wahrnehmung nicht als eine Vorstellung, derer man sich bewusst ist, bezeichnet werden könnte, d. h. diese Wahrnehmung wäre in der Tat nicht unsere Wahrnehmung, wenn sie nicht als mit dem reinen Selbstbewusstsein zusammenhängend angesehen werden könnte, nämlich wenn ich mir meiner selbst bei dieser Wahrnehmung nicht bewusst wäre. Dies besagt, dass die Möglichkeit der Wahrnehmung als des empirischen Bewusstseins das reine Selbstbewusstsein voraussetzt. In einem Brief an Johann Heinrich Tieftrunk von 1797 betont Kant sogar, dass das empirische Bewusstsein aus zwei Elementen besteht: das Empirische und die reine Apperzeption. Er schreibt: Jede Empfindung, als solche, (als empirisches Bewußtsein) enthält zweierlei, etwas Subiektives und Obiektives. Jenes gehört dem Sinne und ist das Empirische (in strengster Bedeutung), dieses gehört der Apperception und ist das Reine (in strengster Bedeutung). (AA XII 213)
Wenn man nun beim empirischen Bewusstsein von dem empirisch Gegebenen bzw. dem Realen dieses Bewusstseins abstrahiert, ist laut Kant „ein bloß formales Bewußtsein“ übriggeblieben. Dies wird von ihm als „eine stufenartige Veränderung“ bezeichnet. Damit ist aber nur gemeint, dass die reine Apperzeption bzw. das reine Bewusstsein die Grundlage des empirischen Bewusstseins ist. In Kants Worten: Nun ist vom empirischen Bewußtsein zum reinen eine stufenartige Veränderung möglich, da das Reale desselben ganz verschwindet, und ein bloß formales Bewußtsein (a priori) des Mannigfaltigen im Raum und Zeit übrig bleibt […]. (B 208)
Aus diesen zwei Schritten ergibt sich, dass die Möglichkeit des empirischen Bewusstseins das reine Selbstbewusstsein voraussetzt. Mit anderen Worten: Ein empirisches Bewusstsein, das man wirklich besitzt, impliziert bereits analytisch das reine Selbstbewusstsein. Erst mit diesem Bedingungsverhältnis werden die oben genannten fünf Ausdrucksweisen über das reine Selbstbewusstsein und das empirische Bewusstsein verständlich. Um dieses Bedingungsverhältnis näher deutlich zu machen, möchte ich nun noch auf Kants Analogien zum Verhältnis von zwei Arten der sinnlichen Anschauung eingehen. In der A-Deduktion schreibt Kant: Denn das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperception) macht das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus, so fern es blos möglich ist, sich ihrer bewußt zu werden, und alles Bewußtsein gehört eben so wohl zu einer allbefassenden reinen Apperception, wie alle sinnliche Anschauung als Vorstellung zu einer reinen innern Anschauung, nämlich der Zeit. (A 123 f.) 119
Vgl. R 5661, XVIII 319.
42
1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
In diesem Zitat weist Kant darauf hin, dass man das Verhältnis zwischen allem empirischen Bewusstsein 120 und dem reinen Selbstbewusstsein in Analogie zum Verhältnis zwischen aller sinnlichen Anschauung und der reinen inneren Anschauung auffassen kann. Das gemeinsame Verhältnis besteht nämlich darin, dass das erstere zum letzteren gehört. Die Zugehörigkeit des empirischen Bewusstseins zum reinen Selbstbewusstsein bedeutet nach meinem Vorschlag nichts anderes, als dass die Möglichkeit des empirischen Bewusstseins eine vor der Erfahrung vorhergehende Bedingung erfüllen muss. Mit anderen Worten: Bei allen empirisch bewussten Vorstellungen kann ich sagen, dass sie meine sind. Dieses Verhältnis ist ähnlich dem Verhältnis zwischen allen Anschauungen und der reinen Form der inneren Anschauung bzw. der Zeit, und zwar in dem Sinne, dass alle Anschauungen, entweder innere oder äußere, letztlich als Vorstellungen „der Zeit unterworfen [sind], als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen“ (A 99). Auch sagt Kant: „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.“ (A 31/ B 46) Diesbezüglich kann man sagen, dass die Zeit eine „formale Bedingung a priori“ (A 34/ B 50) für alle Anschauungen oder alle „Erscheinungen überhaupt“ (A 34/ B 50) ist. Jedoch ist diese Analogie in dem Sinne nicht geeignet, dass eine äußere Anschauung unmittelbar auf der Form des äußeren Sinnes bzw. dem Raum beruht. Insofern hat sie noch nicht die Zeit zur Bedingung. Also sollte man Kants Analogie nicht in diesem Sinne verstehen. Auf ähnliche Weise heißt es in der B-Deduktion: Diese zeigt also an: daß das empirische Bewußtsein eines gegebenen Mannigfaltigen Einer Anschauung eben sowohl unter einem reinen Selbstbewußtsein a priori, wie empirische Anschauung unter einer reinen sinnlichen, die gleichfalls a priori Statt hat, stehe. (B 144)
In dieser Passage ist Kant der Meinung, dass sich das Verhältnis zwischen dem empirischen Bewusstsein und dem reinen Selbstbewusstsein analog dem Verhältnis zwischen der empirischen Anschauung und der reinen Anschauung verstehen lässt. Der Kernpunkt dieser Analogie ist, dass das erstere unter dem letzteren steht. Dass das empirische Bewusstsein unter dem reinen Selbstbewusstsein steht, heißt nach meinem Vorschlag nichts anders, als dass das letztere eine Bedingung der Möglichkeit des ersteren ist. Ähnlich verhält es sich bei dem Verhältnis zwischen der empirischen Anschauung und der reinen Anschauung, wenn mit der reinen Anschauung hier die reine Form der Anschauung, nicht die reine formale Anschauung gemeint ist. Denn Kant hat in der transzendentalen Ästhetik gezeigt, dass einer empirischen Anschauung die reinen Formen der sinnlichen Anschauung (Raum und Zeit) zugrunde liegen (vgl. A 20/ B 34). Also ist diese Analogie angemessen. (b)
Mögliche Einwände
Nun könnte man freilich gegen die von mir vorgeschlagene These und Argumentation Einwände erheben, indem man an Kants Aussage über das empirische Bewusstsein in § 16 der BDeduktion erinnert. Dort heißt es:
120
Da wir schon gesagt haben, dass Kant in der Tat zwischen reinem Bewusstsein und reinem Selbstbewusstsein nicht unterscheidet, ist im Zitat m. E. mit dem „Bewusstsein“ das empirische Bewusstsein gemeint.
1.3 Verhältnis
43
Denn das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjects. (B 133)
Meine These, dass das reine Selbstbewusstsein dem empirischen Bewusstsein zugrunde liegt, scheint mit dieser Aussage nicht vereinbar zu sein. Denn Kant sagt hier explizit, dass das empirische Bewusstsein zerstreut ist und sich nicht auf das identische Subjekt bezieht. Dies scheint dazu führen, dass ein empirisches Bewusstsein nicht analytisch das reine Selbstbewusstsein implizieren könnte, sondern das empirische Bewusstsein die Verbindung des reinen Selbstbewusstseins erfordern würde. Dieser Einwand scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein, weil er sich direkt auf Kants wörtliche Aussage stützt. Jedoch ist er bei genauerem Hinsehen problematisch. So möchte ich auf diesen Einwand folgendermaßen reagieren: Erst im Kontext, in dem sich diese Aussage befindet, ist die Bedeutung der zitierten Aussage verständlich. In dem dieser Aussage vorhergehenden Satz weist Kant auf sein argumentatives Ziel hin: Die Identität der Apperzeption bzw. das Bewusstsein vom identischen Subjekt ist nur dann möglich, wenn man die Synthesis der gegebenen Vorstellungen ausübt und ein Bewusstsein von dieser Aktivität der Synthesis hat (vgl. B 133). Die zitierte Aussage, die durch das Wort „Denn“ eingeleitet wird, ist offenbar eine negative Begründung für Kants Ziel. Jedoch ist zweierlei bemerkenswert: Erstens betont Kant, dass das empirische Bewusstsein verschiedene Vorstellungen begleitet. Da diese verschiedenen Vorstellungen verschiedene empirische Inhalte haben, unterscheiden sie sich als empirisch bewusste Vorstellungen voneinander. Demnach ist zweitens zu beachten, dass das empirische Bewusstsein „an sich“ zerstreut ist. Mit dem Wort „an sich“ ist gemeint, dass das empirische Bewusstsein jedenfalls auf die Inhalte der empirischen Vorstellungen zutrifft. Das heißt, dass sich das empirische Bewusstsein immer auf die empirischen Vorstellungen als seine Bewusstseinsinhalte bezieht. Somit kann man sagen: Wie viele empirische Vorstellungen es gibt, so viel kommt das empirische Bewusstsein vor. In diesem Sinne ist das empirische Bewusstsein natürlich zerstreut. Demnach kann sich die Identität des Subjekts beim empirischen Bewusstsein nicht zeigen. Dies heißt aber nicht, dass das empirische Bewusstsein in Bezug auf seine Form – man abstrahiert von dem Verhältnis dieses Bewusstseins zu seinem Inhalt – auch zerstreut wäre. Vielmehr kann die empirische Vorstellung, die durch das empirische Bewusstsein begleitet wird, als eine empirisch bewusste Vorstellung nur dann bezeichnet werden, wenn ich sagen kann, dass sie meine Vorstellung ist. Denn eine Vorstellung, von der ich nicht weiß, dass sie meine ist, ist eine unbewusste Vorstellung. Eine solche Vorstellung kann auch nicht durch das empirische Bewusstsein begleitet werden. Also ist zu sagen, dass das empirische Bewusstsein in der Tat schon das reine Selbstbewusstsein voraussetzt. Darüber hinaus könnte ein anderer Einwand gegen meine Interpretation erhoben werden, wenn man sich in der Anthropologie Kants Beispiel über ein Kind, das beim Sprechen den Begriff „Ich“ noch nicht verwenden kann, ansieht. 121 Dieser Einwand mag so formuliert wer121
Kants ausführliche Beschreibung lautet: „Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen: von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. - Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst. -
44
1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
den: Ein Kind kann schon sehr früh sprechen, aber erst nach etwa einem Jahr in der ersten Person reden. D. h. vor einem Jahr hat das Kind das empirische Bewusstsein, indem er Sätze wie „Karl will essen“ aussagen kann. Aber das Kind hat in diesem Zeitraum kein Selbstbewusstsein, weil es noch nicht in der Lage ist, „durch Ich zu reden“ 122, z. B. kann es nicht sagen: „Ich will essen.“ Dies scheint eine kräftige Widerlegung zur These zu sein, dass das empirische Bewusstsein das reine Selbstbewusstsein voraussetzt. Denn das empirische Bewusstsein, das ein Kind vor einem Jahre besitz, setzte noch nicht das Selbstbewusstsein voraus. Also sei das empirische Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein auch möglich. Man kann auf diesen Einwand so reagieren: Zunächst ist darauf zu achten, dass Kants reines Selbstbewusstsein kein mentaler Zustand ist, den jemand – ein Kind oder eine Erwachsene – in der Zeit wirklich hat. Mit anderen Worten: Das Selbstbewusstsein, nämlich der wirkliche Sachverhalt, dass ich weiß, dass ich jetzt beim Schreiben immer ein und dasselbe bin, darf man nicht mit Kants reinem Selbstbewusstsein verwechseln. Vielmehr ist das reine Selbstbewusstsein, von dem vor allem in Kants transzendentaler Deduktion die Rede ist, das Bewusstsein von einem denkenden Wesen, dem alle Gedanken als ihrem gemeinschaftlichen Subjekt inhärieren, also ein Bewusstsein vom logischen Ich. Diesem reinen Selbstbewusstsein ist a priori dadurch Rechnung zu tragen, dass man auf das Verhältnis zwischen allen Gedanken und ihrem Subjekt reflektiert. Somit kann die Tatsache, dass ein einjähriges Kind das empirische Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein besitzt, Kants Theorie des transzendentalen Selbstbewusstseins nicht verletzten. Genauer gesagt: Es ist aus Kants Sicht ganz gleichgültig, wer die Aussage „Karl will essen“ macht, also egal ob es ein Kind oder eine Erwachsene ist. Dabei geht es Kant nur darum, zu zeigen, dass diese Aussage, sofern sie einen Gedanken ausdrückt, ein denkendes Subjekt voraussetzt. Und dieses Subjekt kann sich selbst diesen Gedanken und die Vorstellungen, die diesen Gedanken ausmachen, zuschreiben. Das sogenannte reine Selbstbewusstsein bedeutet nichts anderes als das Wissen um das Verhältnis vom allem Gedanken zu seinem Subjekt. Aber es ist doch eine interessante Frage, wie man ein solches Phänomen 123, dass das empirische Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein vorkommt, erklären kann, wenn man davon ausgeht, dass dem empirischen Bewusstsein das reine Selbstbewusstsein zugrunde liegt. Auf diese Frage lässt sich zweierlei antworten: Zum einen interessiert Kant sich in der Kritik gar nicht für die Untersuchung über die Entwicklung des Bewusstseins bzw. des Selbstbewusstseins im Sinne von Psychologie oder Anthropologie. Vielmehr beschäftigt er sich mit den transzendentalen Bedingungen allen Bewusstseins im epistemologischen Sinne. Insofern kann Kants Theorie des Selbstbewusstseins keine Erklärung für das genannte Phänomen geben. Zum anderen ist darauf aufmerksam zu machen, dass Kants Formulierungen über Selbstbewusstsein oft das Modalverb „können“ verwenden: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können […].“ (B 131) „Alle Anschauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden kön-
122 123
Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen.“ (Anthropologie, AA VII 127) Anthropologie, AA VII 127. Dieses Phänomen gilt auch für Erwachsene. Z. B. ist ein Mann, der beim Fahrradfahren an eine philosophische Frage denkt, so konzentriert, dass er vergessen hat, dass er Fahrrad fährt. D. h. er hat das empirische Bewusstsein vom Umstand der Straße, aber kein Bewusstsein von sich selbst, der Fahrrad fährt.
1.3 Verhältnis
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nen […].“ (A 116) 124 Diese modale Redeweise besagt, dass Kants reines Selbstbewusstsein zwar ein nicht wirklicher Sachverhalt ist, dem man erfahrungsunabhängig Rechnung tragen kann, aber in sprachiger Form dadurch zustande kommen kann, dass man sagt, ich denke X oder ich weiß, dass ich die Vorstellung von X habe. Aus diesem Grund kann man sagen, dass ein einjähriges Kind doch schon die potenzielle Fähigkeit hat, später in der ersten Person zu reden. Das heißt, dass das Kind später sagen kann: Ich weiß, dass ich essen will. Wir haben oben (siehe 1.2) Kants Unterscheidung zwischen der reinen Apperzeption und der empirischen Apperzeption ausführlich erklärt. Abschließend möchte ich hier noch kurz auf ihr Verhältnis eingehen. Zunächst kann man feststellen, dass das reine Selbstbewusstsein dem empirischen Selbstbewusstsein zugrunde liegt, wenn man die schon erläuterte These über das Bedingungsverhältnis zwischen dem reinen Selbstbewusstsein und dem empirischen Bewusstsein annimmt. Denn das empirische Selbstbewusstsein gilt natürlich als eine Art des empirischen Bewusstseins. Aber es ist schwer, in Kants Schriften relevante Textstellen zu finden, aufgrund deren dieses Verhältnis sich deutlich machen lässt. Denn Kant bemüht sich bekanntermaßen nicht darum, eine Theorie über das empirische Selbstbewusstsein zu entwickeln. Allerdings möchte ich aufgrund von einigen Ausführungen Kants zwei Bemerkungen machen. Erstens kann man das Bedingungsverhältnis von reiner Apperzeption und empirischer Apperzeption anhand Kants Konzeption über die objektive Einheit und die subjektive Einheit der Apperzeption begründen. In § 18 der B-Deduktion ist Kant der Meinung, dass man von der transzendental-objektiven Einheit der Apperzeption die empirisch-subjektive Einheit der Apperzeption „unter gegebenen Bedingungen in concreto“ (B 140) ableiten kann, weil „jene a priori zum Grunde liegt“ (A 177/ B 220). Auf gleiche Weise folgt daraus, dass die empirische Apperzeption nichts anderes als das Zustandekommen der transzendentalen Apperzeption unter empirischen Bedingungen ist, wie Kant schreibt: Allein ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden […]. (B 422 Anm.)
Dies kann man anhand eines Beispiels deutlich machen. Nehmen wir an, es gebe einen Gedanken „der Himmel ist blau“, so muss man laut Kant zur Erklärung der Möglichkeit dieses Gedankens voraussetzen, dass es ein denkendes Ich gibt, dem dieser Gedanke und die darin enthaltenen Vorstellungen zukommen. Dieses denkende Ich ist sich seiner selbst bewusst, indem es sich diesen Gedanken zuschreibt. Das Selbstbewusstsein in diesem Sinne ist das reine Selbstbewusstsein. Denn es ist kein mentaler Zustand, den jemand wirklich besitzt, sondern beruht auf der logischen Analyse der Möglichkeit eines Gedankens. Aber wenn jemand wirklich den Gedanken dadurch ausdrückt, dass er das Urteil „der Himmel ist blau“ fällt, ist er sich seiner selbst wirklich bewusst, indem er weiß, dass er als ein denkendes Ich zu dem Zeitpunkt des Fällens des Urteils wirklich in der Zeit existiert. Der Sachverhalt, dass er sich seiner selbst bewusst ist, ist daher sein mentaler Zustand, also ein empirisches Selbstbewusstsein. Zweitens liegt zwar das reine Selbstbewusstsein dem empirischen Selbstbewusstsein zugrunde, aber die Identität des reinen Selbstbewusstseins allein kann noch nicht garantieren, 124
Vgl. auch B 132, B 134.
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1 Bewusstsein und Selbstbewusstsein
dass das empirische Selbstbewusstsein auch über die Identität verfügt. Genauer gesagt: Das identische Ich, von dem im reinen Selbstbewusstsein die Rede ist, führt noch nicht dazu, dass wir berechtigt sind, von einem „stehende[n] und bleibende[n] Selbst“ (A 107) im empirischen Selbstbewusstsein zu sprechen. Diese Überlegung macht Kant in der A-Deduktion sehr deutlich, indem er schreibt: Das Bewußtsein seiner selbst nach den Bestimmungen unseres Zustandes bei der innern Wahrnehmung ist blos empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der innre Sinn genannt, oder die empirische Apperception. (A 107)
Hier deutet Kant darauf hin, dass das empirische Selbstbewusstsein der Sache nach „jederzeit wandelbar“ ist. Das heißt, dass es sich beim empirischen Selbstbewusstsein nicht um ein identisches Ich, dessen man sich bewusst ist, handelt. Ein solches Ich gibt es im inneren Sinn nicht. Dies liegt daran, dass laut Kant alle Vorstellungen des inneren Sinnes stets veränderlich sind. Demnach kann man bei innerer Wahrnehmung kein identisches Ich als Objekt wahrnehmen. Also darf man das identische Ich, das in gewissem Sinne als das Objekt des reinen Selbstbewusstseins angesehen werden kann, nicht mit dem Ich, das als Objekt des empirischen Selbstbewusstseins fungiert, gleichsetzen, weil das erstere der Sache nach kein gegebenes Objekt ist, aber das letztere zugleich ein Objekt der inneren Anschauung ist. Was schließlich das Thema des Verhältnis von empirischem Bewusstsein und empirischem Selbstbewusstsein betrifft, ist es aufgrund der begrifflichen Erklärung schon klar geworden, dass ihre Bewusstseinsinhalte unterschiedlich sind: Jenes ist das Bewusstsein vom Gegenstand, der sich von mir unterscheidet, dieses aber das Bewusstsein von mir selbst. Allerdings hat Kant sich mit diesem Thema kaum beschäftigt. Wenn man das genannte Verhältnis im Rahmen des Kantischen Systems erklären will, ist es sinnvoll, Kants Konzeption in der „Widerlegung des Idealismus“ heranzuziehen. Aufgrund ihr kann man zum folgenden Bedingungsverhältnis gelangen: Das empirische Selbstbewusstsein ist genau dann möglich, wenn man das empirische Gegenstandsbewusstsein hat. Denn Kant geht dort davon aus, dass die innere Erfahrung bzw. das empirisch bestimmte Bewusstsein meines eigenen Daseins die äußere Erfahrung bzw. das Bewusstsein des Daseins äußerer Gegenstände voraussetzt. Da ich im letzten Kapitel dieser Untersuchung Kants Konzeption in der Widerlegung des Idealismus thematisieren werde, möchte ich hier dieses Bedingungsverhältnis nicht weiter betrachten.
2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn Bevor ich mich mit den zentralen Aspekten des Selbstbewusstseins beschäftige, möchte ich noch auf Kants Begriff des inneren Sinnes ausführlich eingehen. Bekanntlich hat Kant diesen Begriff bereits in der transzendentalen Ästhetik der Kritik eingeführt. Aber er bestimmt ihn nicht ganz als passiv und rezeptiv, weil er ihn auch mit dem Begriff der empirischen Apperzeption gleichsetzt. 125 Das heißt, dass der innere Sinn für Kant nicht nur ein Vermögen der Anschauung, sondern auch ein Vermögen des Bewusstseins ist. Allerdings wird diese Besonderheit des inneren Sinnes in der Sekundärliteratur oft nicht genug berücksichtigt. Manche Interpreten betonen, dass der innere Sinn nur über Rezeptivität verfügt, weshalb er sinnlich ist und auf der Affektion beruht. Die anderen Interpreten hingegen achten nur auf den aktiven Aspekt des inneren Sinnes und bestimmen ihn als ein Bewusstseinsvermögen. 126 Meiner Ansicht nach sind die Rezeptivität und die Spontaneität in Kants Theorie des inneren Sinnes untrennbar. Der innere Sinn muss nämlich zugleich als passives und aktives Vermögen angesehen werden. Aufgrund dieser Überlegung der Vereinigung werde ich in diesem Kapitel dafür argumentieren, dass es bei Kant zwei Begriffe des inneren Sinnes gibt: als Vermögen des empirischen Gegenstandesbewusstseins und als Vermögen des empirischen Selbstbewusstseins. Das heißt, dass wir uns durch den inneren Sinn sowohl der äußeren Gegenstände als auch unserer selbst bewusst werden können. Da es sich dabei nicht um das reine Bewusstsein bzw. das reine Selbstbewusstsein, sondern um das empirische Bewusstsein handelt, ist die Anschauung (äußere und innere) mit dem Bewusstsein beim inneren Sinn notwendigerweise verbunden. 127 In Kants theoretische Philosophie gilt der innere Sinn bekanntermaßen als ein schwieriges Thema. Daher beschränke ich mich in diesem Kapitel hauptsächlich auf die Frage, was für ein Vermögen der innere Sinn ist. Diese Frage möchte ich durch folgende drei Abschnitte beantworten: Zuerst werde ich im Rahmen von der transzendentalen Ästhetik der Kritik erklären, wie sich der inneren Sinn zum äußeren Sinn verhält (2.1). Dann werde ich versuchen, durch Kants Konzeption der Selbstaffektion auf die Zeitlichkeit und das Bewusstsein von äußeren Gegenständen einzugehen. Damit lässt sich auch begründen, dass der innere Sinn bei Kant ein Vermögen des empirischen Gegenstandsbewusstseins ist (2.2). Schließlich werde ich dafür argumentieren, dass Kants innerer Sinn neben als Zustandssinn auch als Gegenstandssinn verstanden werden kann. Das heißt, dass der innere Sinn für Kant sowohl ein Vermögen der Selbstanschauung, als auch ein Vermögen des empirischen Selbstbewusstseins ist (2.3).
125 126 127
Siehe 1.2. Auf die konkrete Literatur werde ich in 2.2 verweisen. Dazu schreibt Kant: „Bewustseyn ist das Anschauen seiner Selbst.“ (R 5049, AA XVIII 72)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_3
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
2.1 Das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn In Kants System ist der Sinn „entweder innerlich oder äußerlich“ 128. In der Anthropologie schildert Kant ausführlich die Einteilung der menschlichen Sinne. Er teilt die Sinnlichkeit in zwei Vermögen ein: den Sinn und die Einbildungskraft. Dazu schreibt er: Das erste ist das Vermögen der Anschauung in der Gegenwart des Gegenstandes, das zweite auch ohne die Gegenwart desselben. – Die Sinne aber werden wiederum in die äußeren und den inneren Sinn (sensus internus) eingeteilt; der erstere ist der, wo der menschliche Körper durch körperliche Dinge, der zweite, wo er durchs Gemüt affiziert wird […]. 129
Laut Kant haben wir fünf äußere Sinne 130: der Sinn der „Betastung (tactus)“, des „Gesichts (visus)“, des „Gehörs (auditus)“, „des Geschmacks (gustus)“ und des „Geruchs (olfactus)“ 131. Diese fünf äußeren Sinne als Vermögen entsprechen offenbar den fünf menschlichen Organen. Sie sind ausschließlich für äußere Anschauungen zuständig. Anders als die Vielheit des äußeren Sinnes haben wir nur einen inneren Sinn. Sein entsprechendes Organ ist, wie Kant selber sagt, „die Seele“ 132, weil „es nicht verschiedene Organe sind, durch welche der Mensch sich innerlich empfindet“ 133. Auf ähnliche Weise ist der innere Sinn für innere Anschauungen zuständig. Diese Einteilung der menschlichen Sinne ist für Kants transzendentale Ästhetik wesentlich, weil sie direkt mit den zwei grundlegenden Formen der Sinnlichkeit – Raum und Zeit – zusammenhängt. Allerdings ist Kant nicht der erste Philosoph, der erstmals diese Einteilung macht. Vielmehr führt er das traditionelle Verfahren weiter, das schon lange in der Philosophiegeschichte vorhanden ist. Der Ausdruck des inneren Sinnes taucht bereits in der vorkantischen Philosophie, insbesondere bei John Locke auf. In seinem Buch An Essay Concerning Human Understanding 134 geht Locke davon aus, dass „Sensation“ und „Reflection“ zwei Quellen von „Ideas“ sind. Durch die erste bekommen wir die Vorstellungen „Gelb“, „Weiß“, „Kalt“ usw., durch die zweite die Vorstellungen „Wahrnehmen“, „Denken“, „Wollen“ usw. Beim ersteren geht es um den äußeren Sinn. Die „Reflection“ aber wird von Locke als der innere Sinn („internal Sense“) bezeichnet. 135 Denn die Reflektion ist, so Locke, die Wahrnehmung der Operationen des eigenen Geistes in uns. D. h. unter dem inneren Sinn versteht Locke eine Selbstwahrnehmung. Während die Objekte der „Sensation“ äußere Dinge sind, sind die Operationen 128 129 130
131 132
133 134 135
R 224, AA XV 85. Anthropologie, AA VII 153. Kant benutzt den Terminus „äußeren Sinn“ wechselseitig im Singular und im Plural. Obwohl wir in der Tat fünf äußere Sinne haben, verwende ich diesen Terminus in dieser Arbeit, wie gewöhnlich in der KantLiteratur, meistens im Singular. Anthropologie, AA VII 154. Mit der Seele mag Kant hier einfach das Gemüt meinen. Man sollte nur in grobem Sinne Kants Formulierung betrachten, dass die Seele das Organ des inneren Sinnes ist. Denn der Ausdruck „Seele“ hat eine Mehrdeutigkeit. Diese Verteilung ergibt sich vermutlich daraus, dass Kant dem inneren Sinn wie beim äußeren Sinn ein Organ zuweisen will. Aus heutiger Sicht könnte man sagen, dieses Organ sei das Gehirn. Anthropologie, AA VII 161. Vgl. Book II, Chapter I, § 4. “The other Fountain [...] is the Perception of the Operations of our own Minds within us, as it is employ’d about the Ideas it has got. […] This Source of Ideas, every Man has wholly in himself: And though it be not Sense, as having nothing to do with external Objects; yet it is very like it, and might properly enough be call’d internal Sense. […] But as I call the other Sensation, so I call this REFLEKTION, the Ideas it affords being such only, as the Mind gets by reflecting on its own Operations within it self.” (Locke 1975, S. 105)
2.1 Innerer und äußerer Sinn
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unseres eigenen Geistes die Objekte des inneren Sinnes. Kurz gesagt: Bei Locke können wir sagen, dass wir durch den inneren Sinn die Operationen des Geistes wahrnehmen, also eine Selbstwahrnehmung haben. Lockes Lehre über unsere Sinne und den Ursprung der Vorstellungen hat offensichtlich Kant beeinflusst. Nach Vaihingers Untersuchung stamme der Gegensatz von äußerem und innerem Sinn erst von Locke und Kant entnehme von ihm sogar die Unterscheidung, dass der Raum die Form der äußeren Erscheinungen, die Zeit die Form der inneren Erscheinungen ist. 136 Vor diesem Hintergrund wenden wir uns nun dem Verhältnis von innerem und äußerem Sinn zu. Aufgrund der obigen Einteilung scheint zwischen dem inneren und dem äußeren Sinn eine klare Symmetrie zu bestehen, die jeder Leser der transzendentalen Ästhetik der Kritik auf den ersten Blick bemerken kann. Doch bei genauerem Hinsehen, insbesondere wenn man auf Kants diesbezügliche Überlegungen außerhalb der transzendentalen Ästhetik Rücksicht nimmt, ist diese Symmetrie sehr problematisch. Sie haben vielmehr ein kompliziertes Verhältnis. In der Kant-Literatur gibt es bislang schon eine grundsätzliche Übereinkunft darüber, dass es für das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn mindestens drei Lesarten gibt: Parallelismus, Subordination des äußeren Sinnes unter den inneren Sinn und Abhängigkeit des inneren Sinnes vom äußeren Sinn. Welche im Kantischen System überwiegend sein sollte, ist jedoch umstritten. Meiner Ansicht nach hat Kant dem inneren und dem äußeren Sinn kein durchaus überwiegendes Verhältnis zugeschrieben. Vielmehr sind die genannten drei Lesarten im Rahmen von Kants System insofern miteinander vereinbar, als man berücksichtigt, dass Kant von verschiedenem Verhältnis in verschiedenen Hinsichten spricht. Denn Kants Absicht besteht darin, die unersetzbaren Rollen von innerem und äußerem Sinn und die Bedingungen ihres Zustandekommens zu untersuchen. Ich werde im Folgenden auf diese drei Lesarten ausführlich eingehen. 137 (a)
Parallelismus von innerem und äußerem Sinn
Die erste Lesart des Verhältnisses von innerem und äußerem Sinn ist der Parallelismus (Koordination oder Unabhängigkeit). Dieser Interpretation zufolge sind der innere Sinn und der äußere Sinn zwei sinnliche Anschauungsvermögen, die auf gemeinsamer Rezeptivität beruhen. 136 137
Vgl. Vaihinger 1892, Bd. 2, S. 127. Die zwei Lesarten von dem Parallelismus bzw. der Kooperation und der Subordination wurde vor allem von Robert Reininger ausgeführt (vgl. Reininger 1900, S. 9-62). Wenig später nahm Alois Monzel eine kritische Analyse von Reiningers Auffassungen (vgl. Monzel 1913, S. 84-127) vor. Georg Mohr kritisiert in seinem Buch Das sinnliche Ich (vgl. Mohr 1991, S. 83-105) auch Reiningers Lesarten und fasst anhand verschiedener Textstellen nochmals ausführlich drei mögliche Lesarten zum Verhältnis zwischen dem inneren Sinn und dem äußeren Sinn zusammen: 1) Beide Arten der Sinne sind parallel, denn sie haben ungleichartige Gegenstandsbereiche. 2) „Der innere Sinn ist ein alle Vorstellungen, auch die Vorstellungen des äußeren Sinns, umfassendes Vermögen“ (S. 84) (These von der Universalität des inneren Sinns). 3) Die äußeren Sinne sind fundamentaler als der innere Sinn. (These vom Primat des äußeren Sinns) (vgl. Mohr 1991, S. 83-86) Diese Einteilung vgl. auch Oberst 2013, S. 179. In der jüngeren Literatur verbindet Dietmar H. Heidemann die Lesarten von Subordination und Abhängigkeit zusammen und vertritt die epistemische Interdependenz des inneren und äußeren Sinnes (vgl. Heidemann 2001, S. 311). Andere Literatur zu diesem Thema vgl. Vaihinger 1892, S. 125-127; Baumanns 1981, S. 91-102; Brook 1994, S. 47-55. Die Struktur meiner Interpretation stimmt mit Mohrs Unterscheidung überein, aber mein Hauptpunkt besteht darin, zu erklären, in welchem Sinne man jeweils diese drei Arten des Verhältnisses verstehen und sie zusammen kompatibel machen sollte.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Denn sie kommen nur dann ins Spiel, wenn wir auf gewisse Weise affiziert werden. 138 Jedoch haben sie jeweils ihre eigenen unersetzbaren Funktionen und damit lassen sie sich bezüglich verschiedener Punkte als parallel ansehen. Dieses Verständnis scheint naheliegend zu sein. Denn wie oben erwähnt, findet sich dieses parallele Verhältnis schon ausdrücklich bei Locke. Auch steht dieses Verhältnis im Einklang mit der philosophischen Tradition, in der man sich seit langem mit dem Dualismus zwischen Seele und Körper beschäftigt. 139 Bei Kant wird der Parallelismus von innerem und äußerem Sinn nochmals verstärkt. Dies zeigt sich besonders klar in der transzendentalen Ästhetik der Kritik. 140 Dieses Verhältnis kann man durch das folgende Schaubild zusammenfassend anschaulich machen: Innerer Sinn
Äußerer Sinn
Organ Seele bzw. Gemüt Fünf Sinne Anschauung Innere Anschauung Äußere Anschauung Affektion Innerliche Affektion Äußerliche Affektion Erscheinung Innere Erscheinung Äußere Erscheinung Objekt Sich selbst und innerer Zustand Äußere Gegenstände Verhältnisse Zeitliche Verhältnisse Räumliche Verhältnisse Form Zeit Raum Abb. 2: Kants Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Sinn
Ich möchte hier nicht auf alle diese parallelen Punkte näher eingehen. Aber aus Kants Behauptung, dass der äußere Sinn sich lediglich auf äußere Erscheinungen, jedoch der innere Sinn auf alle Erscheinungen bezieht (vgl. A 34/ B 50), scheint sich zu ergeben, dass der innere Sinn und der äußere Sinn nicht parallel sind. Denn der äußere Sinn ist nur eine Bedingung für die Vorstellungen der körperlichen Dinge, aber alle Vorstellungen liegen im inneren Sinn. Mit anderen Worten: Es gibt eine besondere Art der sinnlichen Vorstellungen, die lediglich dem inneren Sinn zuzusprechen sind. Also ist die Menge des inneren Sinnes größer als die des äußeren Sinnes. Diese Nicht-Parallelität lässt sich folgendermaßen darstellen: Äußerer Sinn
Äußere Erscheinungen Abb. 3: Nicht-Parallelität
Innerer Sinn
Innere Erscheinungen
Das ist der auffälligste Punkt, der dafür spricht, dass der innere und der äußere Sinn nicht als parallel angesehen werden sollten. Wie kann man nun auf diesen Einwand entgegnen, um die Parallelität von beiden Sinnen zu verteidigen? Meiner Ansicht nach ist die Lesart der Parallelität sogar an diesem Punkt haltbar, denn der innere und der äußere Sinn spielen in der Tat für
138 139
140
Dazu schreibt Kant in der Inauguraldissertation: „Die Anschauung unserer Erkenntniskraft nämlich ist immer leidend; und folglich nur insoweit möglich, als etwas unsere Sinne affizieren kann.“ (De mundi, AA II 396 f.) Dazu schreibt Kant in der Inauguraldissertation: „Die Phaenomena prüft und erörtert man , erstlich, sofern sie dem äußeren Sinn zugehören, in der PHYSIK, sodann, sofern dem inneren Sinn, in der empirischen PSYCHOLOGIE.“ (De mundi, AA II 397) Vgl. A 22/ B 37, B 66 ff., A 357, A 370 f.
2.1 Innerer und äußerer Sinn
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die äußeren Erscheinungen verschiedenen Rollen. Sie besteht nämlich in den ungleichartigen „Verhältnisvorstellungen“ (B 67). Dafür möchte ich im Folgenden argumentieren. Schon in der Inauguraldissertation von 1770 hat Kant ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Raum und Zeit selbst keine Verhältnisse sind. 141 Diese Überlegung ist offenbar gegen Leibniz’ Theorie gerichtet, die davon ausgeht, dass Raum und Zeit die von Dingen abhängenden Verhältnisse sind. Auch in der transzendentalen Ästhetik 142 und in der Amphibolie der Reflexionsbegriffe (vgl. A 275 f./ B 331 f.) der Kritik hat Kant mehrmals diese Auffassung bestritten. Aber dies sollte man nicht mit der anderen Kantischen Behauptung verwechseln: Wir stellen uns durch die Formen des inneren und des äußeren Sinnes nichts anderes als zeitliche und räumliche Verhältnisse vor. Diese Behauptung hat Kant bereits in § 1 der transzendentalen Ästhetik angedeutet, indem er die Ansicht vertritt, dass „das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann“ (A 20/ B 34). Auch macht Kant auf diese Konzeption in § 8 der zweiten Auflage der Kritik dadurch aufmerksam, dass er sagt, dass „uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnisvorstellungen gegeben werden“ (B 67). Sie sind nämlich die räumlichen Verhältnisse der äußeren Erscheinungen. Ebenso kann man laut Kant sagen, dass wir in der inneren Anschauung in Bezug auf alle Vorstellungen des inneren Sinnes nichts anderes als die Zeitverhältnisse liefern. Diese zwei Arten des Verhältnisses sind jeweils dem inneren und dem äußeren Sinn zuzuschreiben und sind also unersetzbar. Wir können durch den inneren Sinn niemals die räumlichen Verhältnisse der körperlichen Dinge repräsentieren. Umgekehrt lassen sich die zeitlichen Verhältnisse der Vorstellungen dieser Dinge durch den äußeren Sinn nicht zum Ausdruck bringen. Allgemeiner gesagt: Was alle sinnlichen Vorstellungen betrifft, dient der innere Sinn zu nichts anderem als dazu, ihr Verhältnis in der Zeit beizuordnen. Die Zeit selbst als bloße Form hat keinen Einfluss auf die Inhalte der Vorstellungen. Auf ähnliche Weise kann man sagen, dass der äußere Sinn auch nur dazu dient, „Gegenstände als außer uns“ (A 22/ B 37) vorzustellen, d. h. wir können die Vorstellungen der räumlichen Verhältnisse dieser Gegenstände erwerben. Dazu schreibt Kant: Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein: sie gehört weder zu einer Gestalt, oder Lage etc.; dagegen bestimmt sie das Verhältniß der Vorstellungen in unserm innern Zustande. (A33/ B 49 f.)
An dieser Stelle ist Kant der Meinung, dass die Zeit, die die Form des inneren Sinnes ist, keine Bestimmung äußerer Erscheinungen ausmacht. Denn wir können uns durch die Zeit die räumlichen Eigenschaften der Dinge nicht vorstellen. Dies bedeutet aber nicht, dass wir uns diese Dinge als äußere Erscheinungen nicht in der Zeit vorstellen könnten. Vielmehr ist damit gemeint, dass die Zeit zu den räumlichen Eigenschaften der äußeren Erscheinungen keinen Beitrag leisten kann. Ebenso beeinflusst der äußere Sinn nicht die zeitlichen Verhältnisse aller Erscheinungen.
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Vgl. De mundi, AA II 400; AA II 403. Was die Zeit angeht, schreibt Kant: „Was aber die Verhältnisse, oder Beziehungen aller Art, betrifft, sofern sie den Sinnen vorkommen, ob sie nämlich zugleich sind oder nacheinander, so schließen sie nichts anderes ein als Lagen, die in der Zeit bestimmt werden müssen, entweder in demselben Zeitpunkt oder in verschiedenen.“ (De mundi, AA II 400) Vgl. A 26/ B 42, A 32/ B 49, A 40/ B 57.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Nun kommen wir auf den oben genannten Einwand gegen den Parallelismus zurück. Ihm zufolge ist die Zeit auch eine Bedingung für die äußeren Erscheinungen, somit ist der innere Sinn nicht mit dem äußeren Sinn parallel. Aber aus der obiger Analyse ergibt sich, dass der innere Sinn und der äußere Sinn in Bezug auf die äußeren Erscheinungen im Wesentlichen verschiedene Rolle spielen, indem sie in der Vorstellung der äußeren Gegenstände ungleichartige Verhältnisvorstellungen möglich machen. Folglich kann man sagen, dass der innere Sinn und der äußere Sinn in Bezug auf äußere Erscheinungen immer noch parallel sind. (b)
Subordination des äußeren Sinnes unter dem inneren Sinn
Die zweite Lesart behauptet die Subordination des äußeren Sinnes unter dem inneren Sinn. Das bedeutet, dass der äußere Sinn in gewisser Hinsicht zum inneren Sinn gehört und damit der innere Sinn grundlegender als der äußere ist. Diese Lesart wird in der Kant-Literatur auch als „Universalität“ des inneren Sinnes bezeichnet. 143 Nun stellt sich die Frage, inwiefern man sagen kann, dass der äußere Sinn dem inneren Sinn unterworfen ist, ohne die Lesart des Parallelismus aufzugeben. Diese Frage lässt sich dadurch beantworten, dass man der Beziehung des inneren Sinnes auf die Vorstellungen der äußeren Dinge nachgeht. Es ist bekannt, dass Kant die Auffassung vertritt, alle Vorstellungen gehören zum inneren Sinn, wenn man unter Vorstellungen „Bestimmungen“ (A 34/ B 50) bzw. „Modifikationen des Gemüts“ (A 99) versteht, d. h. wenn mit Vorstellungen im strengen Sinne dasjenige gemeint ist, was man im Bewusstseinszustand hat, wenn man sich irgendein Objekt vorstellt. Insofern nennt Kant den inneren Sinn „den Inbegriff aller Vorstellungen“ (A 177/ B 220). Dafür spricht eine Textstelle aus der A-Deduktion, wo es heißt: Unsere Vorstellungen mögen entspringen, woher sie wollen, ob sie durch den Einfluß äußerer Dinge oder durch innere Ursachen gewirkt sind, sie mögen a priori oder empirisch als Erscheinungen entstanden sein: so gehören sie doch als Modificationen des Gemüths zum innern Sinn […]. (A 98 f.)
Dass alle Vorstellungen zum inneren Sinn gehören müssen, hat laut Kant weder mit dem Ursprung noch mit dem Inhalt der Vorstellungen zu tun. Zu ihm gehören freilich in erster Linie sinnliche Vorstellungen, die man aufgrund der Sinnlichkeit und durch die Affektion bekommt. Es geht mir nun um die Vorstellungen von äußeren Gegenständen bzw. die Vorstellungen, die körperliche Dinge repräsentieren. Das Entstehen dieser Vorstellungen beruht offenbar direkt auf dem äußeren Sinn. Und nach der soeben dargestellten Konzeption gehören zweifellos diese Vorstellungen zum inneren Sinn, wie Kant selber schreibt: Also existiren eben sowohl äußere Dinge, als ich selbst existire, und zwar beide auf das unmittelbare Zeugniß meines Selbstbewußtseins, nur mit dem Unterschiede, daß die Vorstellung meiner selbst als des denkenden Subjects blos auf den innern, die Vorstellungen aber, welche ausgedehnte Wesen bezeichnen, auch auf den äußern Sinn bezogen werden. (A 370 f.)
Hier weist Kant darauf hin, dass sich die Vorstellungen von äußeren Gegenständen sowohl auf den äußeren als auch auf den inneren Sinn beziehen. Nun ist fraglich, was damit gemeint 143
Wie Georg Mohr zeigt, besteht die zentrale Behauptung dieser Lesart darin, dass der innere Sinn Universalität hat, weil er „ein alle Vorstellungen, auch die Vorstellungen des äußeren Sinns, umfassendes Vermögen“ (Mohr 1991, S. 84) ist.
2.1 Innerer und äußerer Sinn
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ist, dass sich die Vorstellungen, die auf dem äußeren Sinn beruhen, auch auf den inneren Sinn beziehen müssen? Dies möchte ich durch zwei Bemerkungen deutlich machen. Zunächst haben wir schon davon gesprochen, dass Kant im gewissen Sinne den inneren Sinn mit der empirischen Apperzeption bzw. dem empirischen Selbstbewusstsein gleichsetzt. In diesem Fall lässt sich der innere Sinn, wie wir sehen werden, als ein Vermögen ansehen, sich seiner selbst empirisch bewusst zu werden. Das bedeutet, dass nur die Vorstellungen, die im Zusammenhang mit dem empirischen Selbstbewusstsein stehen, als meine Vorstellungen bezeichnet werden können. Sonst wären die Vorstellungen, für die dies nicht zutrifft, für mich nichts. Infolgedessen sind nur dann die Vorstellungen, die uns der äußere Sinn darbietet, für uns sinnvoll bzw. epistemisch relevant, wenn wir uns ihrer empirisch bewusst sind, d. h. wenn sie in den inneren Sinn aufgenommen werden. Auf diesen Punkt werde ich erst in den nächsten zwei Abschnitten näher eingehen. Die zweite Bemerkung betrifft das Verhältnis von der Zeit und den Vorstellungen des äußeren Sinnes. Kant zufolge ist die Zeit die Form des inneren Sinnes. Jedoch liegt die Zeit „allen Anschauungen“ (A 31/ B 46) zugrunde. Denn Kant versteht die Zeit als die subjektive Bedingung, „unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können“ (A 33/ B 49). Auch beschreibt Kant die Zeit als „die allgemeine Bedingung“ für „Erscheinungen überhaupt“ (A 31/ B 46). Daraus ergibt sich, dass die Zeit auch als die Bedingung der äußeren Anschauung und der äußeren Erscheinungen angesehen werden muss. Diese Universalität der Zeit bringt Kant in einer Passage aus § 6 der transzendentalen Ästhetik explizit zum Ausdruck. Dort schreibt er: Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüths, zum innern Zustande gehören; dieser innere Zustand aber unter der formalen Bedingung der innern Anschauung, mithin der Zeit gehört: so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen. Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Raume und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Princip des innern Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d.i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit und stehen nothwendiger Weise in Verhältnissen der Zeit. (A 34/ B 50 f.)
Kants Absicht in dieser Passage ist es, wie er im ersten Satz zeigt, zu begründen, dass die Zeit „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“ ist. Dies ist deswegen nötig, weil seine Behauptung, die Zeit sei die Form der inneren Anschauung oder des inneren Sinnes, nahezulegen scheint, dass die Zeit mit den äußeren Erscheinungen gar nichts zu tun hätte. Auch ist es naheliegend, dass die sinnlichen Vorstellungen von sich selbst zum inneren Sinn gehören und notwendig in der Zeit liegen, weil der innere Sinn für diese sogenannten inneren Erscheinungen die unmittelbare Bedingung ist. Allerdings verhält es sich bei äußeren Erscheinungen ganz anders. Der äußere Sinn ist für die äußeren Anschauungen verantwortlich, deren Form der Raum ist. Laut Kant ist der Raum eine Vorstellung a priori. Sie kann nicht von der Erfahrung erborgt werden. Vielmehr liegt der Raum als eine Form des inneren Sinnes allen äußeren Erscheinungen zugrunde. Wenn wir affiziert werden, bekommen wir aufgrund dieser formalen Bedingung die Vorstellungen der äußeren Gegenstände. Weiterhin können wir durch den Raum die Gegenstände als außer uns repräsentieren, d. h. wir können die räumlichen Eigenschaften der Gegenstände repräsentieren. Also ist es zweifellos, dass die äußeren
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Sinne und der Raum unmittelbar die Bedingungen der äußeren Erscheinungen sind. Wie verhalten sich aber die äußeren Erscheinungen zu der Zeit? Kants Argument in der zitieren Passage lautet folgendermaßen: Kants transzendentalem Idealismus zufolge sind äußere Erscheinungen die Dinge, die uns äußerlich erscheinen. Sie werden deswegen als außer uns existierend vorgestellt, nämlich als äußere Erscheinungen, nicht aber als Dinge an sich selbst, weil sie uns auf die Art und Weise erscheinen, wie die Raumvorstellung als reine Form bzw. so etwas wie eine subjektive Struktur zugrunde gelegt wird. In diesem Fall sind die Vorstellungen des äußeren Sinnes die äußeren Anschauungen, in denen die Dinge als äußere Erscheinungen repräsentiert werden können. Nun geht Kant davon aus, dass diese Vorstellungen des äußeren Sinnes, insofern sie als „Bestimmungen des Gemüths“ betrachtet werden, obwohl sie sich auf äußere Dinge beziehen, die sich von unserem Gemüt unterscheiden, auch zum inneren Zustand gehören. Das heißt, dass diese Vorstellungen auf gewisse Weise auf den inneren Sinn bezogen werden müssen, sonst könnten wir nicht sinnvollerweise sagen, dass sie Vorstellungen in unserem Gemütszustand sind. Wie diese Vorstellungen behandelt werden, damit sie als Vorstellungen im inneren Sinne bzw. empirisch bewusste Vorstellungen bezeichnet werden können, hat Kant hier nicht erläutert. Ein Hinweis darauf findet sich erst im hinzugefügten Teil der transzendentalen Ästhetik in der zweiten Auflage (vgl. B 67 f.). Auf die Konzeption über die Synthesis der Vorstellungen durch die Einbildungskraft werde ich erst im nächsten Abschnitt näher eingehen. Ohne weitere Erläuterung gelangt Kant direkt zum Ergebnis: Da der innere Zustand der Zeit unterworfen ist, ist die Zeit auch eine mittelbare Bedingung für äußere Erscheinungen. Aber meiner Ansicht nach sollte man Kants Konklusion so verstehen: Die Vorstellungen des äußeren Sinnes lassen sich, wie wir sehen werden, durch die Synthesis der Einbildungskraft behandeln, so dass sie in den Zeitverhältnissen geordnet werden. Mit anderen Worten: Die Zeit als reine Form oder eine bloße Struktur muss diesen Vorstellungen zugrunde liegen, damit sie einerseits zum inneren Sinne gehören, andererseits als diejenigen Vorstellungen betrachtet werden, durch die die äußeren Erscheinungen möglich sind. In diesem Sinne wird verständlich, dass man laut Kant sagen kann, dass die Gegenstände des äußeren Sinnes als äußere Erscheinungen in der Zeit und den Zeitverhältnissen liegen. Also ist die Zeit eine formale Bedingung für „alle Erscheinungen überhaupt“ bzw. „alle Gegenstände der Sinne“. Aus diesem Grund kann man sagen, dass der äußere Sinn unter dem inneren Sinn subordiniert wird, weil die Vorstellungen des äußeren Sinnes als solche genau dann möglich sind, wenn sie auch auf gewisse Weise zum inneren Sinn gehören, d. h. der äußere Sinn kann nur dann durch seine Vorstellungen äußere Dinge als Erscheinungen repräsentieren, wenn die Vorstellungen von den äußeren Dingen auch auf dem inneren Sinn beruhen. Die Überlegung, der innere Sinn habe in gewisser Hinsicht Universalität, hat Kant eigentlich schon in der Inauguraldissertation von 1770 angedeutet. Er schreibt: Die Zeit aber nähert sich mehr einem allgemeinen und Vernunftbegriff, indem sie schlechthin alles in ihren Beziehungen umfaßt, nämlich den Raum selber und außerdem die Akzidenzen, die in den Verhältnissen des Raumes nicht einbegriffen sind, wie die Gedanken des Gemüts. (De mundi, AA II 405)
An dieser Textstelle weist Kant ausdrücklich auf die Subordination des Raums unter die Zeit hin, weil die Zeit nicht nur die Akzidenzen, die dem Raum nicht zukommen können, sondern
2.1 Innerer und äußerer Sinn
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auch sogar „den Raum selber“ enthält. Somit umfasst die Zeit „schlechthin alles“ in den Zeitverhältnissen. Diesbezüglich ist die Zeit ähnlich wie eine allgemeine Vorstellung bzw. ein Begriff, obwohl sie der Sache nach nur als einzelne Vorstellung bzw. reine Anschauung gilt. Allerdings darf man hier Kants Gedanken nicht so verstehen, als wäre er der Meinung, die Zeit enthalte den Raum und somit ließen sich die räumlichen Verhältnisse auf die Zeitverhältnisse zurückführen. Denn wie wir schon erklärt haben, sind diese zwei Arten des Verhältnisses ungleichartig. Um das Missverständnis zu vermeiden, liefert Kant uns wenig später eine Passage, in der er darauf verweist, wie die Größe des Raums erst durch die Zeit verständlich ist. Sie lautet: Und vor allem, wenn wir den Verstand auf die Erfahrung richten, fordert die Beziehung von Ursache und Verursachtem, wenigstens bei äußeren Gegenständen, die Verhältnisse des Raumes, bei allen aber, äußeren wie inneren, kann sich die Erkenntniskraft nur mit Hilfe der Beziehung der Zeit deutlich machen, was früher und was später sei, oder was die Ursache und was das Verursachte. Und sogar die Größe des Raumes selber läßt sich nicht verständlich machen, wenn wir ihn nicht, bezogen auf ein Maß als Einheit, durch eine Zahl auseinandersetzen, die selber nur eine Menge ist, die man durch Zählen, d. i. dadurch, daß man in einer gegebenen Zeit nacheinander eines zu einem hinzutut, deutlich erkennt. (De mundi, AA II 406)
Diese Passage enthält zwei Sätze. Im ersteren wird ausgesagt, dass die Zeitverhältnisse für alle Gegenstände der Sinne notwendig sind. Im letzteren wird gezeigt, dass die Größe des Raums nur durch eine Zahl bzw. eine Menge erfassbar ist, die wiederum nur durch die Hinzufügung der Einheiten in der Zeit möglich ist. Also gehört der Raum zu der Zeit nur insofern, als sich die Größe der räumlichen Verhältnisse durch die Größe der Zeit, die nur eine Dimension hat, deutlich machen lässt. In diesem Sinn kann man auch sagen, dass der äußere Sinn unter dem inneren Sinn subordiniert ist. Diesbezüglich ist Kants Gedanke von 1770 bis 1781 völlig konsequent. Aufgrund der obigen Analyse ist leicht zu sehen, dass die Lesart der Subordination mit der Lesart des Parallelismus vereinbar ist. Denn man geht von verschiedenen Hinsichten aus, dem Verhältnis von innerem und äußerem Sinn Rechnung zu tragen. (c)
Abhängigkeit des inneren Sinnes vom äußeren Sinn
Neben dem Parallelismus und der Subordination gibt es noch eine dritte Lesart: Der innere Sinn ist abhängig vom äußeren Sinn. Diese Abhängigkeit besteht nämlich darin, dass der innere Sinn nicht ohne äußeren Sinn möglich ist. Anders gesagt: Der äußere Sinn geht dem inneren Sinn voraus. Dementsprechend ist die Zeitvorstellung erst durch die Raumvorstellung möglich. In der Kant-Literatur wird dieses Verhältnis auch häufig die Priorität des äußeren Sinnes über den inneren Sinn genannt. 144 Diese Lesart stützt sich vor allem auf die Textstellen der zweiten Auflage der Kritik, insbesondere auf eine ganze Anzahl von Kants Reflexionen. Zum Beispiel schreibt Kant: Es hat also der äußere Sinn Realität, weil ohne ihn der innere Sinn nicht möglich ist. (R 6311, AA XVIII 612) Den innern Sinn kan keiner allein haben und zwar zum Behuf der Erkentnis seines innern Zustandes […]. (R 6314, XVIII 616)
144
Vgl. Strawson 1966, S. 50 f.; Robinson 1989, S. 275; Mohr 1991, S. 83-86; Oberst 2013, S. 180-183.
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Angesichts dieses revolutionären Gedankens Kants möchte ich im Folgenden darauf eingehen, in welcher Hinsicht Kant die Auffassung vertritt, der innere Sinn sei abhängig vom äußeren Sinn und nur durch den letzteren möglich. Ich werde auch zeigen, dass aufgrund dieser Hinsicht die dritte Lesart mit den anderen beiden vereinbar ist. Bekanntermaßen spricht Kant an zahlreichen Textstellen von einem Beispiel, das wohlgemerkt dazu dient, die Zeit durch den Raum verständlich zu machen, nämlich die Analogie der Zeit zu einer Linie. Dieses Beispiel ist meiner Ansicht nach dazu geeignet, das Verhältnis der Abhängigkeit des inneren Sinnes vom äußeren Sinn zuerst einmal auf intuitive Weise deutlich zu machen. In der Inauguraldissertation von 1770 schreibt Kant: Ideo etiam spatium temporis ipsius conceptui, ceu typus, adhibetur, repraesentando hoc per lineam eiusque terminos (momenta) per puncta.“ („Deshalb wendet man den Raum auch, als Bild, auf den Begriff der Zeit selber an, indem man sie durch eine Linie vorstellt und ihre Grenzen (Augenblicke) durch Punkte.“) (De mundi, AA II 405)
Diese Analogie beschreibt Kant in der transzendentalen Ästhetik der Kritik noch deutlicher. Dort geht er davon aus, dass die Zeitverhältnisse durch die äußere Anschauung einer Linie zum Ausdruck kommen können. Es heißt: Und eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt giebt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit außer dem einigen, daß die Theile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind. Hieraus erhellt auch, daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken lassen. (A 33/ B 50)
Kants Analogie kann man so darstellen: Wir können uns die Zeitfolge nur durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vorstellen. Da die Linie nur eine Dimension hat und unendlich ist, kann man von diesen Eigenschaften der Linie darauf schließen, dass die Zeit ebenso eine Dimension hat und unendlich ist. Allerdings ist diese Analogie nicht völlig angemessen, denn die Teile der Linie sind zugleich, aber die Teile der Zeit sind nacheinander. Dennoch favorisiert Kant diese Analogie. Denn er weist noch einmal in der B-Deduktion darauf hin, dass wir uns die Zeit nicht vorstellen können, ohne eine gerade Linie zu ziehen. 145 Auch in einem Brief an August Wilhelm Rehberg (25. September 1790) erwähnt Kant diese Analogie. Er schreibt: Die Nothwendigkeit der Verknüpfung der beyden sinnlichen Formen, Raum und Zeit, in der Bestimmung der Gegenstände unserer Anschauung, so daß die Zeit, wenn sich das Subject selbst zum Objecte seiner Vorstellung macht, als eine Linie vorgestellt werden muß, um sie als Qvantum zu erkennen […]. (AA XI 210)
In dieser Passage ist Kant der Meinung, dass die Zeit mit dem Raum notwendigerweise verknüpft wird, und dass die Zeit als eine Linie vorgestellt werden muss, um die Zeit als Quanti145
Kants Beispiel in der B-Deduktion lautet: „Daß es aber doch wirklich so sein müsse, kann, wenn man den Raum für eine bloße reine Form der Erscheinungen äußerer Sinne gelten läßt, dadurch klar dargethan werden, daß wir die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist, uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, so fern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen könnten, imgleichen daß wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle innere Wahrnehmungen immer von dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen, folglich die Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raume ordnen […].“ (B 156)
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tät vorzustellen. Somit ist eine innere Anschauung von sich selbst nur durch eine äußere Anschauung von einer Linie verständlich. Da die Zeit Kant zufolge die Form der inneren Anschauung bzw. des inneren Sinnes ist und die äußere Anschauung einer Linie auf dem äußeren Sinn beruht, ergibt sich aus Kants Analogie, dass eine innere Anschauung nur anhand einer äußeren Anschauung vorstellbar ist. Und dies führt dazu, dass der innere Sinn in gewissem Sinne von dem äußeren Sinn abhängt. Jedoch ist es zu beachten, dass man durch diese Analogie nicht sagen kann, dass die Zeit eine abgeleitete Vorstellung wäre, als ob sie auf der Vorstellung des Raumes beruhen würde. Denn Kant betont: „Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden“ (A 23/ B 37). D. h. diese Analogie macht zwar das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn verständlich, aber dient noch nicht zur eigentlichen Argument für die Priorität des äußeren Sinnes über den inneren Sinn. Wenden wir uns nun dem eigentlichen Argument dafür zu, dass der innere Sinn vom äußeren Sinn abhängig ist. Die Ansicht, dass der innere Sinn an den äußeren Sinn geknüpft werden muss, scheint Kant im Jahre 1781 noch nicht zu vertreten. Denn in der ersten Auflage der Kritik finden sich kaum Textstellen, auf die sich diese Lesart stützen kann. Vielmehr behauptet Kant erst in der zweiten Auflage bzw. nach dem Jahre 1787 die Abhängigkeit des inneren Sinnes vom äußeren Sinn, weil die Ausführungen, die für diese Lesart sprechen, erst in den im Jahre 1787 neu verfassten Texten auftauchen. In diesen Ausführungen bringt Kant das wesentliche Verhältnis von innerem und äußerem Sinn zum Ausdruck, indem er auf die sogenannte Selbstaffektion und das Bedingungsverhältnis von innerer und äußerer Erfahrung aufmerksam macht. Genauer gesagt: Der innere Sinn kommt deswegen ins Spiel, weil er durch den Verstand bzw. die Synthesis der Einbildungskraft innerlich affiziert wird. Das heißt, dass eine innere Anschauung von sich selbst genau dann möglich ist, wenn das Mannigfaltige, das durch den äußeren Sinn gegeben ist, unter gewissen Bedingungen geordnet wird. Das liegt daran, dass der innere Sinn durch sich selbst allein kein Mannigfaltiges herstellen kann, sondern die Vorstellungen des äußeren Sinnes und die Gemütstätigkeit, die diese Vorstellungen verbindet, zum Inhalt hat, so dass wir uns durch den inneren Sinn anschauen können. 146 Infolgedessen ist die innere Erfahrung nur unter der Bedingung einer äußeren Erfahrung möglich. In den erst in der zweiten Auflage hinzugefügten Texten des § 8 in der transzendentalen Ästhetik der Kritik handelt Kant von dem Problem, wie eigentlich die Rolle des inneren Sinnes für unsere Erkenntnisse zustande kommt. Kant schreibt: Nicht allein, daß darin die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüth besetzen, sondern die Zeit, in die wir diese Vorstellungen setzen, die selbst dem Bewußtsein derselben in der Erfahrung vorhergeht und als formale Bedingung der Art, wie wir sie im Gemüthe setzen, zum Grunde liegt, enthält schon Verhältnisse des Nacheinander-, des Zugleichseins und dessen, was mit dem Nacheinandersein zugleich ist (des Beharrlichen). Nun ist das, was als Vorstellung vor aller Handlung irgend etwas zu denken vorhergehen kann, die Anschauung und, wenn sie nichts als Verhältnisse enthält, die Form der Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer so fern etwas im Gemüthe gesetzt wird, nichts anders sein kann als die Art, wie das Gemüth durch eigene Thätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst afficirt wird, d.i. ein innerer Sinn seiner Form nach. (B 67 f.)
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In diesem Sinne nennen manche Interpreten die Abhängigkeit des inneren Sinnes vom äußeren Sinn die inhaltliche Abhängigkeit. Vgl. Heidemann 2001, S. 308.
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Ich werde erst im nächsten Abschnitt auf Kants Konzeption in dieser Passage ausführlich eingehen. Im Moment interessiert mich nur, dass Kant die Vorstellungen des äußeren Sinnes als „den eigentlichen Stoff“ im inneren Sinn bezeichnet. Und die Tätigkeit, durch die wir diese Vorstellungen in der Zeit verknüpfen, affiziert den inneren Sinn. Diese Tätigkeit, die Vorstellungen des äußeren Sinnes zu setzen, ist, wie wir sehen werden, die Synthesis der Einbildungskraft, die Kant erst in der transzendentalen Deduktion darstellt. Die Selbstaffektion, die den inneren Sinn ins Spiel bringt, ist nur dann möglich, wenn wir über Vorstellungen des äußeren Sinnes verfügen und auf sie eine Handlung ausführen. Für diese Handlung ist eine aktive Fähigkeit, nämlich der Verstand bzw. die Einbildungskraft zuständig. Ohne den Stoff, den der äußere Sinn darbietet, und die spontane Tätigkeit würde der innere Sinn nicht affiziert werden und damit wäre eine innere Anschauung unmöglich. Aus diesem Grund hat Kant selbst bereits in der Vorrede der zweiten Auflage der Kritik angedeutet, dass wir nur von den Dingen außer uns her „den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn“ (B XXXIX Anm.) erwerben können. Diese Überlegung wird in der Kant-Literatur oft so interpretiert, der innere Sinn habe kein eigenes Mannigfaltiges. 147 Ich teile diese Interpretation in dem Sinne, dass im inneren Sinn die Vorstellungen des äußeren Sinnes den eigentlichen Stoff in Bezug auf Erkenntnisse der äußeren Gegenstände ausmachen. Aber dies bedeutet nicht, dass der innere Sinn bei der Selbstanschauung, insofern wir innerlich affiziert werden, auch nichts enthält. Vielmehr hat eine empirische Selbstanschauung meiner Ansicht nach das Mannigfaltige von sich selbst zum Inhalt. Auf diesen Punkt werde ich noch einmal in Abschnitt 2.3 zurückkommen. Das Argument dafür, dass der Verstand den inneren Sinn dadurch bestimmt, dass wir durch die Synthesis der Einbildungskraft affiziert werden, liefert Kant bekanntlich erst in § 24 der B-Deduktion. Aber die grundlegende Überlegung hat Kant schon in der oben zitierten Passage angedeutet. Kants Hauptgedanken über den inneren Sinn in diesen beiden Lektüren, nämlich in § 8 der transzendentalen Ästhetik und in § 24 der B-Deduktion, sind mit seinen Überlegungen in den ebenfalls erst in der zweiten Auflage der Kritik hinzugefügten Teilen „Widerlegung des Idealismus“ und „Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze“ vereinbar. Diesbezüglich ist Kant im Rahmen der zweiten Auflage der Kritik völlig konsequent. 148 Denn Kant geht in der Widerlegung des Idealismus davon aus, dass die innere Erfahrung eine mittelbare und nur durch die äußere Erfahrung möglich ist (vgl. B 277). Dieser Konzeption zufolge ist es naheliegend, dass der äußere Sinn die Priorität hat, weil ohne ihn eine äußere Erfahrung unmöglich sein würde und damit wir keine innere Erfahrung machen könnten. In ähnlicher Weise weist Kant auch darauf hin, dass die Zeit erst durch den Raum möglich ist. Dies zeigt sich ausdrücklich in einer Reflexion, die zur Widerlegung des Idealismus parallel ist. Sie lautet: Wir brauchen den Raum, um die Zeit zu construiren, und bestimmen also die letztere vermittelst des ersteren. Der Raum, der das äußere Vorstellt, geht also vor der Moglichkeit der Zeitbestimung vorher. (R 6312, AA XVIII 612)
Und in einer anderen Reflexion heißt es: 147 148
Vgl. Klemme 1996, S. 215; Allison 2004, S. 278-280; Heidemann 2001, S. 311; Schmitz 2015, S. 1045. Wie wir sehen werden, gilt diese Deutung auch für die zweite Auflage des Paralogismus-Kapitels.
2.1 Innerer und äußerer Sinn
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Die Raumesvorstellung liegt der Zeitbestimmung der Beharrlichkeit wegen zum Grunde […]. (R 5653, AA XVIII 308)
Da ich mich im letzten Kapitel noch ausführlich mit der Widerlegung des Idealismus beschäftigen werde, möchte ich hier nur Kants Schlussfolgerung erwähnen, eine innere Erfahrung setze eine äußere voraus. Dies spricht ohne Zweifel dafür, dass der innere Sinn von dem äußeren abhängt. Außerdem ist bemerkenswert, dass Kant wenig später im Teil „Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze“ die Priorität des äußeren Sinnes noch einmal dadurch betont, dass die objektive Realität der Kategorien sogar immer einer äußeren Anschauung bedarf. Dazu schreibt er: Noch merkwürdiger aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge zu Folge der Kategorien zu verstehen und also die objective Realität der letzteren darzuthun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen. (B 291)
Was Kant in diesem Zitat behauptet, ist zwar nur, dass äußere Anschauungen erforderlich sind, um äußere Dinge durch Kategorien zu erkennen. Aber genau diese legitime Anwendung der Kategorien auf äußere Anschauungen ermöglicht eine Anschauung, die keine körperlichen Dinge zum Gegenstand hat, also eine innere Selbstanschauung. Ein Argument dafür werde ich, wie gesagt, erst in Abschnitt 2.3 liefern. Darüber hinaus möchte ich noch erwähnen, dass Kants Leningrad-Reflexion, die einfach „Vom inneren Sinne“ betitelt wird, als ein einschlägiger Text gilt, der für die hier untersuchte dritte Lesart spricht. Beispielsweise schreibt Kant: Hieraus ist zu sehen daß wir keinen inneren Sinn haben würden und unser Daseyn nicht in der Zeit bestimmen könnten wenn wir keinen äußeren (wirklichen) Sinn hätten und Gegenstände im Raume als von uns unterschieden uns vorstelleten. (Brandt 1987, S. 19)
In dieser berühmten Reflexion über den inneren Sinn betont Kant hauptsächlich seine in der Widerlegung des Idealismus schon entwickelte Konzeption, dass die Möglichkeit der inneren Erfahrung die der äußeren Erfahrung voraussetzt. An der zitierten Stelle weist Kant ausdrücklich darauf hin, dass wir wirklich den inneren Sinn nur dann haben, wenn wir den äußeren Sinn haben. Die Priorität des äußeren Sinnes über den inneren Sinn wird noch einmal kräftig bestätigt. Jeder Leser, der auf Kants Veränderung der Gedanken achtet, wird diese von Kant fast seit 1787 erst vertretene Theorie anerkennen. Die Widerlegung des Idealismus gilt auch oft als eine Lektüre, in der man über Kants neue Gedanken in der Kritik diskutiert. Allerdings stellt sich nun die Frage: Könnte diese revolutionäre Konzeption den schon dargestellten Lesarten Parallelismus und Subordination widersprechen? Meine Antwort wird sein: Nein! Dafür mache ich die folgende Bemerkung: Bekanntlich sind die Idealisten in der vorkantischen Philosophie der Meinung, dass der innere Sinn die Unmittelbarkeit hat. Denn wir können uns selbst und unseren Zustand unmittelbar wahrnehmen (vgl. B 55, A 367). Diese Überlegung gesteht Kant ohne Zweifel zu. Was er bestreitet, ist die Behauptung der Idealisten, dass die Gegenstände des äußeren Sinnes unerweisbar sind. Der innere Sinn und seine Form sind in Bezug auf ihre Funktion unmittelbar, d. h. sie beruhen nicht auf anderen Mitteln. Also handelt es sich beim inneren Sinn um eine unmittelbare Anschauung (vgl. A 32/ B 48). Diese Unmittel-
60
2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
barkeit des inneren Sinnes bedeutet, dass der äußere Sinn gar keine Priorität über ihn hat, und dass seine Möglichkeit auch nicht auf dem äußeren Sinn basiert. Das ist mit der neuen Konzeption, die Kant in der Widerlegung des Idealismus entwickelt, deswegen verträglich, weil dort von der empirischen Selbsterkenntnis bzw. der inneren Erfahrung die Rede ist. Um uns selbst empirisch zu erkennen, müssen wir auf die äußere Anschauung Rekurs nehmen. Somit bedeutet die Priorität des äußeren Sinnes nichts anderes, als dass die innere Anschauung eine Kooperation mit der äußeren Anschauung insofern braucht, als wir eine innere Erfahrung erwerben, da das Beharrliche nur durch eine äußere Erfahrung möglich ist. In diesem Sinne kann man sagen, dass Kant im Jahre 1787, etwa in der Widerlegung des Idealismus, gar nicht bestreitet, was er in der ersten Auflage der Kritik von 1781 gesagt hat, sondern unter einem neuen Gesichtspunkt das Verhältnis von beiden Sinnen behandelt. Also kann man sagen, dass der innere Sinn die Abhängigkeit von dem äußeren Sinn hat, denn die innere Erfahrung kann nur dann zustande kommen, wenn wir auch eine äußere Erfahrung haben. 149 Aus der obigen Analyse ergibt sich, dass die drei Lesarten bzw. drei Verhältnisse von innerem und äußerem Sinn kompatibel sind. Das hauptsächliche Verhältnis ist der Parallelismus. Das zeigt sich darin, dass beide Sinne nicht nur an vielen Punkten über Symmetrie verfügt, sondern auch ihre Funktionen in Bezug auf die Verhältnisse der Vorstellungen niemals ersetzbar sind, d. h. zu denselben sinnlichen Vorstellungen kann nur der innere Sinn zeitliche Verhältnisse, der äußere Sinn aber die räumlichen Verhältnisse liefern. Diese Lesart bestreitet aber nicht die Universalität des inneren Sinnes, denn er schließt außer seinen eigenen Vorstellungen noch die Vorstellungen des äußeren Sinnes ein und gibt den letzteren die zeitlichen Verhältnisse, was der äußere Sinn nicht tun kann. Ohne den inneren Sinn wären die Vorstellungen des äußeren Sinnes für uns nichts. In diesem Fall geht es um die Subordination des äußeren unter dem inneren Sinn. Was aber die Tatsache angeht, der innere Sinn komme genau dann ins Spiel, wenn er durch die an den Vorstellungen des äußeren Sinnes ausgeübte Synthesis der Einbildungskraft affiziert wird, ist der innere Sinn von dem äußeren Sinn abhängig. Infolgedessen kann man sagen, dass eine innere Erfahrung, die auf dem inneren Sinn beruht, nur durch eine äußere Erfahrung, die es unmittelbar mit dem äußeren Sinn zu tun hat, möglich ist. Die letzten zwei Verhältnisse werden von Georg Mohr in seiner Interpretation als Komplementarität bezeichnet. 150 Mohr geht davon aus, dass der innere und der äußere Sinn notwendig miteinander verbunden sind. Er bestreitet sowohl den Parallelismus als auch die Subordination des äußeren Sinnes unter den inneren Sinn. Seiner Meinung nach ist das Verhältnis von beiden Sinnen Komplementarität bzw. Wechselbedingtheit. Er schreibt: „Kant bestimmt das Verhältnis zwischen äußerem und innerem Sinn weder als das einer Subordination des ersteren unter den letzteren, noch als das einer Koordination (eines Parallelismus) beider als verschiedener ‚Erkenntnisquellen‘. Der innere Sinn ist notwendige Bedingung auch für äußere 149 150
Nach Kant „ist die Realität des äußeren Sinnes mit der des inneren, zur Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt, notwendig verbunden“ (B XLI Anm.) Mohrs Interpretation für das Verhältnis zwischen innerem Sinn und äußerem Sinn zeigt sich in folgenden zwei Thesen: „(1) Der äußere Sinn ist keine „Teilsphäre“ des inneren. […] (2) Der innere Sinn ist der Inbegriff aller unserer Vorstellungen.“ (Mohr 1991, S. 98)
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
61
Erfahrung, der äußere Sinn ist notwendige Bedingung auch für innere Erfahrung.“ 151 Auch Heidemann teilt diese Interpretation, indem er das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn als Interdependenz versteht. 152 Meine Interpretation unterscheidet sich von Mohr und Heidemann darin, dass Parallelismus, Subordination und Abhängigkeit unter verschiedenen Hinsichten in Kants System kompatibel verstanden werden können. 2.2
Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
Wir haben im letzten Abschnitt davon gesprochen, dass eine Symmetrie zwischen dem inneren und dem äußeren Sinn in vielerlei Hinsicht besteht. Aber wir haben auch gesehen, dass der innere Sinn über Universalität insofern verfügt, als ihm alle Vorstellungen angehören, während der äußere Sinn lediglich für die Vorstellungen äußerer Gegenstände zuständig ist. Nun stellt sich die Frage, wie sich äußere Gegenstände auf den inneren Sinn und seine Form beziehen. Genauer gesagt: Wie bearbeitet der innere Sinn die Vorstellungen des äußeren Sinnes, so dass wir sagen können, dass äußere Gegenstände nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit sind? Diese Frage ist deshalb aufzuwerfen, weil wir nicht jedes Mal berechtigt sind, vom Umstand, dass Vorstellungen in der Zeit sind, darauf zu schließen, dass ihre Gegenstände auch notwendigerweise in der Zeit sind. Zum Beispiel kann man nicht sagen, dass die Vorstellung vom Einhorn, die ich in diesem Moment in meinem Bewusstseinszustand besitze, auch wirklich ein in der Zeit existierendes Einhorn repräsentiert, zumindest nicht in dem Sinne, dass sich die anderen Menschen auch auf gleiche Weise das Einhorn als in der Zeit vorstellen können. Darüber hinaus kann man sich noch weiter fragen, inwiefern wir uns der äußeren Gegenstände durch den inneren Sinn bewusst sind, wenn diese Gegenstände wirklich in der Zeit liegen und ihre Vorstellungen auch zum inneren Sinn gehören. Anders gesagt: Wie kann man räumliche Gegenstände durch den inneren Sinn bewusst machen, wenn sie vom äußeren Sinn angeschaut werden? Diese Fragestellung ist auch naheliegend, wenn wir auf Kants Überlegung Rücksicht nimmt, dass der innere Sinn ein „bloßes Wahrnehmungsvermögen“ 153 ist. Das heißt, dass der innere Sinn für Kant auch ein Vermögen des empirischen Bewusstseins von äußeren Gegenständen ist. Damit möchte ich in diesem Abschnitt auf Kants Konzeptionen über Zeitlichkeit und Bewusstsein von räumlichen Gegenständen eingehen. In der gegenwärtigen Kant-Literatur gibt es grundsätzlich zwei Deutungen: Die eine lässt sich als Theorie von Vorstellungen zweiter Stufe bezeichnen. Die andere kann man Theorie von unmittelbaren Vorstellungen nennen. Der ersten Deutung zufolge 154 besteht die Rolle, die der innere Sinn für die Erkenntnisse äußerer Gegenstände spielt, wesentlich darin, sich die Vorstellungen, die wir durch Affektion des äußeren Sinnes gewonnen haben, noch einmal 151 152
153 154
Mohr 1991, S. 102 f. Vgl. „Der innere Sinn ist also material abhängig vom äußeren Sinn; seine Vorstellungsinhalte gehen letztlich zurück auf das Gegebene des äußeren Sinnes. Angewiesen ist aber auch der äußere auf den inneren Sinn, denn äußere Vorstellungen sind für mich nichts, bringe ich sie mir nicht im inneren Sinn aufgrund von Selbstaffektion zu Bewusstsein, wodurch ich mir meiner empirisch bewusst werde. Das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn stellt sich damit nicht als eine bloße Koordination oder Subordination, sondern als eine Interdependenz dar.“ (Heidemann 2001, S. 311) Anthropologie, AA VII 153. Collins 1999, S. 109; Allison 2004, S. 284; Wolff 2006, S. 267.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
vorzustellen. Demnach hat der innere Sinn die Vorstellungen des äußeren Sinnes zum Gegenstand. Dabei fungiert der innere Sinn als ein Vermittler, der die Vorstellungen erster Stufe bearbeitet, damit Vorstellungen einer höheren Stufe (Vorstellungen zweiter Stufe) erzeugt werden. Nach diesem Modell sind äußere Gegenstände deswegen in der Zeit, weil ihre Vorstellungen in der Form des inneren Sinnes durch reflektierende Aktivität geordnet werden, so dass auch diese Gegenstände als zeitlich vorgestellt werden müssen. Diese indirekte Theorie des inneren Sinnes scheint auf Kants eigene Behauptungen zu basieren, indem Kant mehrmals sagt, dass wir durch den inneren Sinn unseren eigenen mentalen Zustand anschauen. 155 Allerdings ist diese Deutung sehr problematisch, und zwar an den folgenden zwei Punkten: Zum einen ist es schwer zu verstehen, warum das, was bereits als Vorstellungen des äußeren Sinnes bezeichnet wird, noch einmal innerlich vorgestellt werden muss. Wie kann man nämlich nachweisen, dass eine äußere Wahrnehmung wirklich solche zwei Schritte (Vorstellungen erster und zweiter Stufe) enthält? Zum anderen gerät diese Deutung in die Schwierigkeit, dass sich die Zeitlichkeit schließlich nur auf Vorstellungen des äußeren Sinnes, nicht aber auf äußere Gegenstände bezieht. Daher wird oft diese indirekte Theorie des inneren Sinnes in der Sekundärliteratur vorgeworfen. 156 Die zweite Deutung geht davon aus, dass der innere Sinn zwar das im äußeren Sinn durch Affektion der Dinge an sich gegebene Mannigfaltige bearbeitet, aber keine Vorstellungen einer höheren Stufe erzeugt. Vielmehr kann der innere Sinn durch seine eigene Aktivität zwischen den Vorstellungen des äußeren Sinnes und den äußeren Gegenständen einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen. Demnach wird die Zeitlichkeit äußerer Gegenstände sehr verständlich. Allerdings ist in dieser Theorie von unmittelbaren Vorstellungen nicht unumstritten, welche Rolle der innere Sinn eigentlich für die Vorstellungen des äußeren Sinnes spielt. Nun möchte ich hier auf zwei Interpretationen kurz hinweisen. Friederike Schmitz ist der Meinung: Kant vertrete keine Theorie von Vorstellungen zweiter Stufe, sondern der innere Sinn beziehe sich direkt auf äußere Erscheinungen und produziere die zeitlich geordneten äußere Anschauungen, indem er durch die figürliche Synthesis affiziert werde. 157 Diese Interpretation hat freilich Vorteile: Mit dieser Konzeption der Selbstaffektion hat Schmitz gut gegen die zweistufige Theorie des inneren Sinnes eingewandt. Auch ist das Problem der Zeitlichkeit äußerer Gegenstände auf angemessene Weise gelöst. Doch in ihrer Interpretation gibt es meiner Ansicht nach noch zwei Probleme: Ersten ist der innere Sinn laut Schmitz nur „a passive capacity“ 158, weshalb er einer Affektion aus dem Verstand bedarf. Schmitz hat offenbar übersehen, dass der innere Sinn bei Kant nicht nur passiv und rezeptiv, sondern schon teilweise ein „Wahrnehmungsvermögen“ 159 ist. Das heißt, dass es sich beim inneren Sinn auch darum handelt, etwas bewusst zu machen. Zweitens ist Schmitzs 155 156 157
158 159
Vgl. A 22/ B 37; A 33/ B 49; A 37/ B 54. Vgl. Valaris 2008, S. 5; Schmitz 2015, S. 1048-1050; Bader 2017, S. 125-126. Schmitz schreibt: “To avoid the problems connected with secondorder representations, they must thus relate to outer appearances, and therefore they can be conceived of as outer representations. And since a figurative synthesis has been performed on them, such outer representations are nothing but outer intuitions (see CPR B129–30, B134–5). Finally, they are given only in the inner sense whose form is time, so we must think of them as exhibiting the form of time or as being temporally ordered.” (Schmitz 2015, S. 1052) Schmitz 2015, S. 1050. Anthropologie, AA VII 153.
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
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Behauptung sehr problematisch, dass, was die Erkenntnisse äußerer Gegenstände angeht, das Resultat des inneren Sinnes nur „temporally ordered outer intuitions“ 160 ist. Denn wenn das der Fall wäre, wäre die Funktion des inneren Sinnes ganz und gar vermindert oder sogar vernichtert worden. Der innere Sinn würde fast keine sachliche Leistung übernehmen. Anderes als Schmitz findet sich in der jüngsten Literatur eine neue Interpretation, die von Ralf M. Bader im Rahmen der Philosophie des Geistes entwickelt. Er ist der Meinung, dass äußere Gegenstände über Zeitlichkeit deswegen verfügen, weil die Zeit die Form des Bewusstseins ist, durch die wir uns direkt äußerer Gegenstände bewusst sind. Sein Argument lautet kurz gesagt folgendermaßen: Wir reflektieren mit Hilfe vom sogenannten „act of reflexive awareness“ 161 über die schon durch den äußeren Sinn gegebenen Vorstellungen, indem wir uns nach innen anschauen. Dabei seien wir uns nicht der Vorstellungen äußerer Gegenstände bewusst, sondern direkt dieser äußeren Gegenstände. Da nun die Zeit die Form des Bewusstseins sei, könne man sagen, dass die Zeit unmittelbar auf äußere Gegenstände angewandt werde. 162 Für Bader besteht der innere Sinne wesentlich darin, „an act of reflexive awareness“ auszuführen. Allerdings vertritt Bader auch zum Teil die Theorie von Vorstellungen zweiter Stufe, weil der innere Sinn auch „new representations“ 163 dadurch produziert, dass er mentale Zustände wieder bearbeitet („reappropriating mental states“). Baders Inpretation hat meines Erachten den großen Vorteil, dass er mit Recht die aktive Rolle des inneren Sinnes sieht, indem er betont, dass das, wessen wir uns durch den inneren Sinn bewusst sind, äußere Gegenstände ist. Doch daraus ergeben sich auch viele Fragen: Was ist genau unter „act of reflexive awareness“ zu verstehen? Wie lässt sich Baders Grundposition, dass die Zeit die Form des Bewusstseins ist, mit Kants Behauptung, dass die Zeit als Form der inneren Anschauung fungiert, vereinbaren? Das größte Problem von Baders Interpretation ist, dass er die Rezeptivität des inneren Sinnes nicht zu berücksichtigen scheint. Darum zieht er die Selbstaffektion, die für Kants Theorie des inneren Sinnes eine zentrale Rolle spielt, nicht in Betracht. In der folgenden Untersuchung werde ich weiter die einstufige Theorie des inneren Sinnes vertreten. Ich werde dafür argumentieren, dass die Voraussetzung für die Lösung der Zeitlichkeit von äußeren Gegenständen der transzendentale Idealismus ist. Genauer Gesagt: Äußere Gegenstände sind äußere Erscheinungen, die Subjektabhängigkeit haben. Dies scheinen die obigen zwei Interpretationen nicht genug betont zu haben. Auch werde ich darauf eingehen, dass die Rezeptivität und die Aktivität bzw. Spontaneität des inneren Sinnes zugleich in Betracht kommen müssen, so dass der innere Sinn im Wesentlichen als ein Vermögen des empirischen Gegenstandsbewusstseins zu verstehen ist. Nur dadurch können die Nachteile der obigen zwei Interpretationen zum Verschwinden gebracht werden. Damit möchte ich im Folgen160 161 162
163
Schmitz 2015, S. 1052. Bader 2017, S. 127. Bader schreibt: “By reflecting on its mental state the subject becomes aware of the represented object, not of the representation itself. The representation is simply the representational vehicle/medium by means of which we become aware of the object. Rather than being aware of the representation, it is via the representation that we become aware of the object that it represents. That is, awareness is not of the representation itself, i.e. of the mental entity that is doing the representing, but of that which is represented, i.e. the intentional object. Accordingly, representations do not feature in the content of awareness. They are not the things of which we are aware. Instead, we are aware of the intentional objects that these representations represent. The object of awareness is, accordingly, the outer appearance.” (Bader 2017, S. 127) Bader 2007, S. 132.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
den so vorgehen: Zuerst werde ich die Idealität des äußeren und des inneren Sinnes kurz darstellen (a). Dann werde ich im Rahmen der B-Deduktion auf Kants Konzeption der Affektion des inneren Sinnes durch die Unterscheidung von der intellektuellen Synthesis und der figürlichen Synthesis ausführlich eingehen, um die Zeitlichkeit und das Bewusstsein von äußeren Gegenständen besser zu erklären (b). Schließlich versuche ich im Zusammenhang mit der Selbstaffektion zu erläutern, wie die Einheit von Raum und Zeit als formalen Anschauungen erzeugt wird (c). (a)
„Idealität des äußeren sowohl als inneren Sinnes“ (B 66)
Kants transzendentalem Idealismus zufolge sind Raum und Zeit nur subjektive Bedingungen der Sinnlichkeit, unter denen uns Dinge erscheinen. Äußere Gegenstände als Erscheinungen sind von ihnen selbst als Dingen an sich zu unterscheiden. Das heißt, dass äußere Gegenstände nicht diejenigen Dinge sind, die ganz unabhängig von unserem Subjekt sind, sondern diejenigen, die wir mit „Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit“ (A 28/ B 44) betrachten. Mit anderen Worten: Äußere Gegenstände lassen sich „ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung“ (A 36/ B 52) nicht als äußere Erscheinungen bezeichnen. Daraus ergibt sich, dass äußere Gegenstände, sofern sie uns auf sinnliche Weise erscheinen, schon die Anwendung der formalen Bedingungen unserer Anschauung implizieren. Somit existieren äußere Gegenstände als Erscheinungen auch nur im Raum und in der Zeit. Dementsprechend können wir uns durch unsere Sinne Dinge nur auf die Weise vorstellen, wie sie uns erscheinen. Was die Gegenstände, die sich gar nicht auf unsere Sinne beziehen, bzw. Dinge, wie sie an sich selbst beschaffen sind, angeht, sind die Formen unserer Sinne nichts anderes als apriorische Vorstellungen oder subjektive Bedingungen. Somit behauptet Kant, dass unsere Sinne als apriorische Dispositionen nur transzendentale Idealität haben. Denn sie treffen sich nicht auf Dinge an sich zu. Auf diese Konzeption möchte ich anhand der von Kant erst in § 8 der zweiten Auflage der Kritik geschriebene Anmerkung „II“ (vgl. B 66 ff.) eingehen. Dort zielt Kant darauf, die vorher schon aufgestellte 164 „Theorie von der Idealität des äußeren sowohl als inneren Sinnes“ (B 66) noch einmal zu beweisen. Seine Hauptthese in dieser Anmerkung kann man so zusammenfassen: Genauso wie wir durch den äußeren Sinn äußere Dinge nur als Erscheinungen, nicht aber als Dinge an sich selbst erkennen können, lässt sich durch den inneren Sinn nur das Ich als Erscheinung, nicht aber so etwas wie das Ich an sich erkennen. Ich möchte hier kurz zwei Argumente Kants darstellen. Was den äußeren Sinn und äußere Gegenstände betrifft, begründet Kant den ersten Teil der besagten These folgendermaßen: Die äußere Anschauung enthält, wenn man von der Materie der Erscheinungen – Empfindungen – abstrahiert, nichts anderes als „bloße Verhältnisse“ (B 67), nämlich räumliche Verhältnisse. Die Explikation dieser Behauptung ist offenbar auf Kants Überlegungen in § 1 der Kritik zurückzuführen, wo er davon ausgeht, dass die Form der Erscheinung „gewisse[] Verhältnisse[]“ (A 20/ B 34) liefert, nach denen das sinnlich gegebene Mannigfaltige geordnet werden kann. Außerdem ist Kant der Meinung, dass der äußere Sinn nichts anderes als „das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt“ (B 67) enthält, insofern wir diesen Gegenstand äußerlich anschauen. Das heißt, dass für uns die äußere An164
Vgl. A 27/ B 43, A 35/ B 52.
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
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schauung dieses Gegenstandes nur dann möglich ist, wenn wir „Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit“ (A 28/ B 44) nehmen. Aufgrund von dieser Begründung gelangt Kant zum Ergebnis, dass wir durch die bloßen Verhältnisse, die sich auf den äußeren Sinn beziehen, „eine Sache an sich“ bzw. „das Innere, was dem Objekte an sich zukommt“ (B 67), nämlich Dinge an sich selbst nicht erkennen können. Inwiefern Kants Argument plausibel ist, brauchen wir hier nicht weiter zu verfolgen. Was den inneren Sinn und das aufzusuchende Ich als Objekt des inneren Sinnes anlangt, liefert Kant auf ähnliche Weise bezüglich des zweiten Teils der Hauptthese ein Argument: In der inneren Anschauung ist nichts anderes als „die Vorstellungen äußerer Sinne“ (B 67) enthalten, die „den eigentlichen Stoff“ (B 67) unserer Erkenntnis ausmachen. Da die Form des inneren Sinnes bzw. der inneren Anschauung, als eine subjektive Bedingung betrachtet, ebenso nichts anderes als bloße Verhältnisse, nämlich die Zeitverhältnisse – Nacheinandersein, Zugleichsein und Beharrlichsein – enthält, lassen sich die Vorstellungen des äußeren Sinnes in der Zeit bzw. nach den Zeitverhältnissen „im Gemüt setzen“ (B 67). Auf diese Überlegung hat Kant bereits der Sache nach in § 6 ausdrücklich hingewiesen. 165 Nun geht Kant davon aus, dass man mit Hilfe des inneren Sinnes nichts anderes machen kann, als die Vorstellungen des äußeren Sinnes den Zeitverhältnissen gemäß zu setzen oder zu ordnen (vgl. B 67). Infolgedessen kann die Form des inneren Sinnes nur dann zustande kommen, d. h. sie kann nur dann zu unserer Erkenntnis Beitrag leisten, wenn wir die Vorstellungen des äußeren Sinnes in der Zeit setzen, wobei Kant der Meinung ist, dass sich das Gemüt beim Setzen der Vorstellungen bzw. durch sich selbst affizieren lässt (vgl. B 67). Daraus folgt, dass wir uns selbst durch den inneren Sinn und die in ihm enthaltenen Zeitverhältnisse nur auf die Art und Weise erkennen können, wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns beschaffen sind. Denn wir erscheinen uns selbst, insofern wir uns selbst durch unsere Tätigkeit bzw. das Setzen der Vorstellungen affizieren. In Kants Worten: Das Ich als Objekt des inneren Sinnes kann „als Erscheinung vorgestellt werden“ (B 68). Diese Position ist offenbar mit Kants Überlegungen in §§ 24-25 der BDeduktion (vgl. B 156-159) und den im vierten Paralogismus (A 379) verträglich. Allerdings brauchen wir hier ebenso nicht näher zu prüfen, ob Kants Argument überzeugend ist. Vor diesem Hintergrund ist es meiner Ansicht nach möglich, das Problem der Zeitlichkeit äußerer Gegenstände zu lösen. Denn wenn man annimmt, Raum und Zeit seien apriorische Form unserer Sinne und die äußere Gegenstände seien die von uns unterschiedenen und überhaupt nicht von uns abhängenden Dinge, ist es aus Kants Sicht gar nicht zulässig, äußerer Gegenstände die Zeitlichkeit zuzuschreiben. Vielmehr vertritt Kant die Ansicht, dass die Rede davon, dass uns äußere Gegenstände erscheinen, bereits die Anwendung der Zeit als einer formalen Bedingung impliziert. Was wir weiter erklären müssen, ist daher nur die Art und Weise, wie der innere Sinn mit seiner Form das durch äußere Affektion gegebene Mannigfaltige bearbeitet. Damit kommen wir zu Kants Konzeption der Selbstaffektion. (b) 165
Affektion des inneren Sinnes durch den Verstand Vgl. „Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein: sie gehört weder zu einer Gestalt, oder Lage etc.; dagegen bestimmt sie das Verhältniß der Vorstellungen in unserm innern Zustande.“ (A 33/ B 49 f.)
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Kant zufolge ist mit der Affektion der Umstand gemeint, dass Gegenstände auf unsere Sinne einwirken, so dass wir sinnliche Vorstellungen erwerben. 166 Dieses kausale Verhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und den Gegenständen sind deshalb nötig, weil unsere Sinne rezeptiv sind und die Erzeugung der Sinneseindrücke auf der Affektion beruhen muss. Wie Kant selbst sagt, ist die Empfindung die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit“ (A 19/ B 34). Da unsere Sinne in den inneren Sinn und den äußeren Sinn eingeteilt sind, spricht Kant dementsprechend von einer inneren und einer äußeren Affektion. Was die Affektion des äußeren Sinnes betrifft, geht Kant bekanntlich davon aus, dass unser äußere Sinn durch Dinge an sich affiziert wird. 167 Was aber die Affektion des inneren Sinnes (innere Affektion oder Selbstaffektion) angeht, hat Kant nicht auf ähnliche Weise einfach gesagt, der innere Sinn lasse sich durch so etwas wie das Ich an sich affizieren. Denn die Selbstaffektion ist, wie wir sehen werden, etwas komplizierter als die äußerliche Affektion. Nun geht es mir darum zu erklären, wie der innere Sinn, während wir durch äußere Affektion das Mannigfaltige erwerben, affiziert wird, so dass äußere Gegenstände auch zeitlich sind und der innere Sinn sie bewusst macht. (i)
Kants Hinweis in § 8 der transzendentalen Ästhetik
In der ersten Auflage der transzendentalen Ästhetik hat Kant, soweit ich sehe, die Affektion des inneren Sinnes noch nicht zum Thema gemacht. Erst in einer von ihm in der zweiten Auflage des § 8 ganz neu hinzugefügten Anmerkung „II“ (B 66-69) handelt Kant vom Problem der Selbstaffektion, obwohl seine Darstellung noch sehr kurz ist. Bei genauem Hinsehen bemerkt man, dass Kants Überlegung in diesem Textstück mit seiner Konzeption im § 24 der BDeduktion zu tun hat. Das heißt, dass die erstere ein Hinweis auf die letztere zu sein scheint. 168 Bevor ich auf Kants Konzeption im § 24 ausführlich eingehe, möchte ich also zuerst erklären, welche Auffassung Kant vertritt, wenn er in dieser textlichen Anspielung erstmals von der Selbstaffektion spricht. Die zentrale Textpassage lautet folgendermaßen: Mit der inneren Anschauung ist es eben so bewandt. Nicht allein, daß darin die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüth besetzen, sondern die Zeit, in die wir diese Vorstellungen setzen, die selbst dem Bewußtsein derselben in der Erfahrung vorhergeht und als formale Bedingung der Art, wie wir sie im Gemüthe setzen, zum Grunde liegt, enthält schon Verhältnisse des Nacheinander-, des Zugleichseins und dessen, was mit dem Nacheinandersein zugleich ist (des Beharrlichen). Nun ist das, was als Vorstellung vor aller Handlung irgend etwas zu denken vorhergehen kann, die Anschauung und, wenn sie nichts als Verhältnisse enthält, die Form der Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer so fern etwas im Gemüthe gesetzt wird, nichts anders sein kann als die Art, wie das Gemüth durch eigene Thätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst afficirt wird, d.i. ein innerer Sinn seiner Form nach. (B 67 f.) 166 167
168
Vgl. A 19/ B 33, B 41, A 26/ B 42, A 35/ B 51. In der sogenannten Lehre der doppelten Affektion werden auch empirische Gegenstände als affizierende Gegenstände angesehen. Vgl. Vaihinger 1892, Bd. 2, S. 53; Adickes 1929, S. 33-59; Stang 2015, S. 1-28. Es ist bekanntlich in der Kant-Literatur umstritten, ob eine doppelte Affektion in Kants System konsequent ist. Manche Kants Nachfolger akzeptieren sogar nicht die transzendente Affektion. Sie versuchen Kants Konzeption der Dinge an sich aufzugeben, z. B. Fichte und Jacobi. Manche gegenwärtigen Interpreten gestehen nur die transzendente Affektion zu und sprechen gegen die empirische Affektion. Diese Interpretation findet man etwa in Prauss 1977, S. 192-212; Allison 2004, S. 64-73. Nach Gawronskys Version sollte „§ 6“, auf den Kant in § 24 Bezug dann nimmt, wenn er vom Paradox des inneren Sinnes spricht, als „§ 8“ korrigiert werden. Vgl. Kant 1998, S. 193.
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
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In dieser Passage stellt Kant die These der Selbstaffektion auf: Das Gemüt lässt sich durch sich selbst affizieren. Genauer gesagt: Der innere Sinn wird durch die Tätigkeit des Gemüts bzw. das Setzen der Vorstellungen des äußeren Sinnes affiziert. Ich möchte im Folgenden versuchen plausibel zu machen, dass Kant schon in seinem kurzen, doch heuristischen Hinweis – obwohl nur implizit – eine Begründung für die These anführen wollte. Erst diese Begründung macht seine Theorie der Selbstaffektion verständlich. Damit werde ich diese implizit in Kants Ausführungen enthaltene Begründung durch zwei Bemerkungen erklären, die jeweils den Stoff und die Tätigkeit der Affektion betrifft. 1) Es ist zunächst auffällig, dass Kant, obzwar er, wie gesagt, im Hinblick auf die Idealität des äußeren und des inneren Sinnes eine parallele Argumentationsstrategie gebraucht hat, doch nicht daran festhält, dass die äußere und die innere Affektion auf ähnliche Weise geschehen könnten. Das heißt, dass Kant nicht behauptet, dass es so etwas wie ein Ich an sich gibt, das meinen inneren Sinn affiziert, wie Dinge an sich den äußeren Sinn affizieren. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass diese Behauptung im Rahmen von Kants System in gewissem Maße sinnvoll sein mag, aber Kant hat hier einen solchen Ansatz nicht eingeführt. Vielmehr geht er davon aus, dass die Selbstaffektion in erster Linie auf das Gegebene des äußeren Sinnes zurückzuführen ist. In der oben zitierten Passage bezeichnet Kant die Vorstellungen des äußeren Sinnes als „den eigentlichen Stoff […], womit wir unser Gemüth besetzen“ (B 67). Dies besagt, dass im inneren Sinn außer den epistemisch irrelevanten Vorstellungen wie „Gefühl der Lust und Unlust“ und „Willen“ (B 66) nichts anderes als das durch den äußeren Sinn gegebene Mannigfaltige vorhanden ist. Dafür spricht auch eine Parallelstelle aus der BVorrede der Kritik, wo Kant behauptet, dass wir von den äußeren Dingen her „den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn“ (B XXXIX Anm.) 169 erwerben. Diese Überlegung lässt sich wiederum damit begründen, dass Kant im Wesentlichen die Ansicht vertritt, es gebe für uns Menschen keine „intellektuell[e] innere Anschauung“ (B 68) 170 . Demnach können wir bloß mit Hilfe des inneren Sinnes und durch so etwas wie eine innere Anschauung von sich selbst ohne Berufung auf äußere Dinge kein Mannigfaltiges geben. Diese Kantische Überlegung wird oft in der Literatur so zusammengefasst: Der innere Sinn habe nicht sein eigenes Mannigfaltige, sondern das Mannigfaltige des äußeren Sinnes macht darin den eigentlichen Stoff bzw. den einzigen Stoff aus. 171 Es ist nun für unseren Zweck wichtig zu beachten, dass dieser sogenannte Stoff für die Selbstaffektion von großer Bedeutung ist. Denn wir müssen mit diesen Stoff unser leeres Gemüt erfüllen. Und tatsächlich ist Kant der Meinung, dass das Mannigfaltige des äußeren Sinnes „ohne Spontaneität im Gemüt gegeben“ (B 68) werden kann. Kant hat bereits in § 6 der Kritik darauf hingewiesen, dass „alle Vorstellungen […] als Bestimmungen des Gemüths, zum innern Zustande gehören; dieser innere Zustand aber unter der formalen Bedingung der innern Anschauung, mithin der Zeit gehört“ (A 34/ 50). Dies besagt, dass das Mannigfaltige des äußeren Sinnes zum inneren Sinn, mithin zu der Zeit gehört. Aber wie dies möglich ist, d. h. wie die Vorstellungen des äußeren 169 170 171
Vgl. auch B 156: „[…] daß wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle innere Wahrnehmungen immer von dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen […].“ Vgl. B 135, B 139, B 149, B 158, B 278. Vgl. Baum 1986, S. 143; Klemme 1996, S. 219; Allison 2004, S. 276-278; Valaris 2008, S. 3; Schmitz 2015, S. 1052.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Sinnes Zeitlichkeit bekommen, bedarf weiterer Erklärung. Wie wir sehen werden, ist dies eine Handlung des Gemüt (das Setzen der Vorstellungen bzw. die Synthesis der Einbildungskraft). Allerding ist bisher klar geworden, dass dieser Stoff für die Selbstaffektion erforderlich ist, sonst hätte das Gemüt kein Mannigfaltiges, an dem seine aktiven Vermögen ausgeübt werden können. 2) Die Affektion des inneren Sinnes beruht auf der Tätigkeit des Gemüts. Mit anderen Worten: Kants Rede davon, dass sich das Gemüt „durch sich selbst“ (B 68) affizieren lässt, sollte genauer so verstanden werden, dass irgendeine Handlung des Gemüts den inneren Sinn affiziert. Demnach ist das „Selbst“ in der Terminologie „Selbstaffektion“ als ein tätiges Subjekt aufzufassen. Wie schon erwähnt, ist die affizierende Handlung das Setzen der Vorstellungen des äußeren Sinnes. 172 An einer Stelle aus der Anthropologie bezeichnet Kant diese Handlung als „Gedankenspiel“ 173. Nun stellt sich die Frage, warum es notwendig ist, dass gerade die Tätigkeit des Gemüts bzw. das Setzen der Vorstellungen den inneren Sinn affiziert. Meine Antwort wird sein: Kant identifiziert die Art und Weise, wie der inneren Sinn und seine Form als eine formale Bedingung zustande kommen, mit der Art und Weise, wie das Gemüt das Mannigfaltige des äußeren Sinnes dieser formalen Bedingung gemäß setzt. Hier scheint es eine gegenseitige Abhängigkeit zu geben: Sollte eine Form nicht in uns a priori zugrunde liegen, so wäre das Setzen der Vorstellungen unmöglich; eine bloß a priori zugrundliegende formale Bedingung wäre nicht ohne das Setzen der Vorstellungen verwirklicht. Dies bringt Kant implizit zum Ausdruck, wenn er sagt: [D]ie Form der Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer so fern etwas im Gemüthe gesetzt wird, nichts anders sein kann als die Art, wie das Gemüth durch eigene Thätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst afficirt wird, [ist] ein innerer Sinn seiner Form nach. (B 67).
Also ist bemerkenswert, dass die Zeitlichkeit der Vorstellungen bzw. die Tatsache, dass das gegebene Mannigfaltige nach den Zeitverhältnissen gesetzt wird, der Sache nach zwei Schritte impliziert: Auf der einen Seite affiziert die Aktivität des Setzens der Vorstellungen den inneren Sinn; auf der anderen Seite werden der innere Sinn und seine Form aufgrund von dieser Affektion an dem Setzen der Vorstellungen mitwirken. Diese zwei Schritte müssen jederzeit als in einem Ganzen geschehen. Das Setzen des Gemüts macht möglich, dass dem inneren Sinn die unmittelbar auf dem äußeren Sinn beruhenden Vorstellungen zugänglich sind. Ohne diese Tätigkeit würde der innere Sinn diese Vorstellungen nicht als seine Vorstellungen betrachten. Umgekehrt: Das Setzen der Vorstellungen ist nur dann sinnvoll, wenn es der Form des inneren Sinnes gemäß stattfindet. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Kants Begründung der Selbstaffektion im § 8 der Kritik nur sein erster Versuch ist. Daher ist diese Theorie in vielen Hinsichten noch nicht klar. Man könnte sich etwa weiter fragen, was genau mit dem Setzen des Gemüts gemeint ist, aus 172
173
Zu der heuristischen Rede vom „Setzen“ schreibt Vaihinger: „Bemerkenswerth ist hier die viermalige Wiederholung des Ausdruckes „Setzen“, der nachher ja bei Fichte eine so grosse Rolle gespielt hat, welch Letzterer bei seiner Lehre von der „Selbstthätigkeit“ des Ich von dieser und von ähnlichen Stellen ausging.“ (Vaihinger 1892, Bd. 2, S. 481.) Vgl. „Der innere Sinn ist nicht die reine Apperception, ein Bewußtsein dessen, was der Mensch thut, denn dieses gehört zum Denkungsvermögen, sondern was er leidet, wiefern er durch sein eignes Gedankenspiel afficirt wird.“ (AA VII 161)
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
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welchen Vermögen dieses Setzen entspringt und welche Ergebnisse diese Affektion hat. Jedoch hat Kant uns einen heuristischen Hinweis gegeben. Wie wir sehen werden, ist mit der Aktivität des Setzens offenbar die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft gemeint, die Kant erst in § 24 der B-Deduktion entwickelt. Dort erklärt Kant, wie der innere Sinn durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft affiziert wird. Also werde ich im Folgenden auf Kants Konzeption der Selbstaffektion im Rahmen des § 24 näher eingehen. (ii)
Synthesis intellectualis und synthesis speciosa
Bekanntermaßen spielt der § 24 für den Argumentationsgang des zweiten Teils der BDeduktion eine entscheidende Rolle. Denn in diesem Paragraphen begründet Kant, wie sich die Kategorien auf die Gegenstände, die nur durch die Formen der sinnlichen Anschauung gegeben sind, anwenden lassen, und zwar indem er zeigt, dass die Einbildungskraft durch die figürliche Synthesis die Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit ermöglicht. Infolgedessen ist die Spontaneität mit der Rezeptivität notwendigerweise verbunden. Kants Strategie besteht also nicht darin, zu erklären, ob die Kategorien für die Gegenstände der sinnlichen Anschauung gültig sind, denn dies hat er schon im ersten Teil der B-Deduktion begründet, sondern darin, zu zeigen, auf welche Art und Weise man die Kategorien auf diese Gegenstände anwenden kann. Dafür ist nach Kant die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft entscheidend. Ich möchte hier Kants Beweisziel und Argumentation nicht thematisieren. Vielmehr geht es mir nun um das Problem der Selbstaffektion. Kant vertritt in § 24 die Ansicht, dass der innere Sinn durch die figürliche Synthesis affiziert wird. 174 Diese Affektion des inneren Sinnes hat meines Erachtens zweierlei zur Folge. Erstens: Die Zeitlichkeit der äußeren Gegenstände wird verständlich. Zweitens: Wir sind uns durch den inneren Sinn äußerer Gegenstände bewusst. Betrachten wir nun Kants Unterscheidung zwischen der intellektuellen Synthesis bzw. „synthesis intellectualis“ (B 151) und der figürlichen Synthesis bzw. „synthesis speciosa“ (B 151). Die intellektuelle Synthesis bezeichnet Kant auch als „Verstandesverbindung“, „bloß intellektuelle[] Verbindung“ (B 151) oder „Synthesis der Apperzeption“ (B 162 Anm.). Denn für diese Synthesis ist nur der „bloße[] Verstand“ (B 150) verantwortlich. Das heißt, dass sich kein anderes sinnliches Vermögen – oder mindestens zum Teil sinnliches – an dieser Synthesis beteiligt, wenn der Verstand sie ausübt, weil laut Kant die Sinnlichkeit, die dabei das Mannigfaltige liefern kann, völlig rezeptiv und mithin nicht in der Lage ist, eine Synthesis zu leisten (vgl. B 129 f.). Genauer gesagt, wird die intellektuelle Synthesis „ohne alle Einbildungskraft bloß durch den Verstand“ (B 152) ausgeübt. Außerdem ist bemerkenswert, dass Kant deswegen die Synthesis, die lediglich auf dem Verstand beruht, als „bloß rein intellektual“ (B 150) charakterisiert, nicht weil das Mannigfaltige, an dem diese Synthesis ausgeübt wird, das in einer intellektuellen Anschauung gegebene Mannigfaltige ist, sondern weil man in dieser Synthesis von den menschlichen sinnlichen Formen der Anschauung – Raum und 174
Die zentralen Textstellen, worauf diese Konzeption beruht, lauten: „Er [der Verstand] also übt unter der Benennung einer transscendentalen Synthesis der Einbildungskraft diejenige Handlung aufs passive Subject, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch afficirt werde.“ (B 153 f.) „Der Verstand findet also in diesem [dem inneren Sinn] nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er [der Verstand] ihn [den inneren Sinn] afficirt.“ (B 155)
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Zeit – abstrahiert. Mit anderen Worten: Eine intellektuelle Synthesis betrifft immer schon eine sinnliche Anschauung, nicht aber eine intellektuelle Anschauung. 175 Allgemeiner gesagt, vertritt Kant meiner Ansicht nach die These: Ob eine Synthesis intellektuell oder nicht ist, hängt nicht von der Natur der gegebenen Stoffe, sondern von der Art und Weise der Synthesis und der daran beteiligen Vermögen ab. Diese Überlegung kommt explizit im ersten Satz des ersten Absatzes in § 24 zum Ausdruck, indem Kant sagt, dass eine Anschauung überhaupt „die unsrige oder irgend eine andere, doch sinnliche“ (B 150) ist. Auch in § 23 hat Kant schon behauptet, die Anschauung überhaupt „mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellectuell ist“ (B 148). Aus diesen beiden Zitaten geht hervor, dass mit einer Anschauung überhaupt eine sinnliche Anschauung überhaupt gemeint ist, wenn Kant sagt, dass es sich bei der intellektuellen Synthesis um das „Mannigfaltige[] einer Anschauung überhaupt“ (B 151) handelt. Für diese Überlegung findet sich natürlich auch bei Kant eine philosophische Begründung. Er geht nämlich davon aus, dass ein Verstand, der anschauen könnte, durch seine Vorstellungen Objekte direkt erzeugen würde, so wäre eine Synthesis des Mannigfaltigen einer intellektuellen Anschauung überflüssig. Der menschliche Verstand hingegen ist „nicht intuitiv, sondern diskursiv“ (A 68/ B 93). An dieser Konzeption hat Kant in der B-Deduktion von vornherein festgehalten und sie mehrmals hervorgehoben. 176 Denn er ist der Meinung, dass der Grundsatz der Apperzeption und mithin die Kategorien für keine intellektuelle Anschauung gelten. Anders gesagt, geht es Kant in der transzendentalen Deduktion nicht um einen Verstand, der imstande wäre, von sich selbst aus einen Gegenstand anzuschauen. Ein anschauender Verstand würde, so Kant, „einen besondern Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen“ (B 139). Daraus folgt, dass das Mannigfaltige, das in einer intellektuellen Anschauung gegeben ist, gar keine Synthesis in Anspruch nimmt. 177 Somit gibt es aus Kants Sicht ebenso wenig eine intellektuelle Synthesis, die sich auf eine intellektuelle Anschauung beziehen würde. Aus diesem Grund darf man die Redeweise von einer „Anschauung überhaupt“, von der in der intellektuellen Synthesis die Rede ist, nicht so verstehen, als behaupte Kant, dass die Anschauung überhaupt eine sinnliche und eine nicht-sinnliche bzw. intellektuelle Anschauung enthalte. Vielmehr ist mit der Anschauung überhaupt „die sinnliche Anschauung überhaupt“ gemeint, die wiederum eine menschliche und eine nicht-menschliche Anschauung impliziert. Wenn eine sinnliche Anschauung auf uns Menschen beschränkt wird, handelt es sich dabei um die Formen der Anschauung Raum und Zeit (vgl. A 26/ B 42). 178
Eine ähnliche Interpretation findet man auch in Haag 2007, S. 256-264. Vgl. B 135, B 138, B 145. 177 Vgl. R 4677: „Wenn wir intellectuell anschaueten, so bedürfte es keiner titel der apprehension, um ein Obiect sich vorzustellen.“ (AA XVII 658) 178 Kant spricht freilich in § 15 der Kritik von einer Synthesis der nicht-sinnlichen Anschauung. Dazu schreibt er: „[S]o ist alle Verbindung, wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht, es mag eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung oder mancherlei Begriffe, und an der ersteren der sinnlichen oder nichtsinnlichen Anschauung sein, eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden […].“ (B 130) Aber nach Mellins Version sollte „sinnlichen oder nichtsinnlichen“ als „empirischen oder nichtempirischen“ korrigiert werden (vgl. Kant 1998, S. 176). Ich übernehme Mellins Konjektur. Also behauptet Kant hier keine Synthesis des Mannigfaltigen der nicht-sinnlichen Anschauung. 175 176
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
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Ein anderer Punkt, der zum Verständnis der intellektuellen Synthesis wichtig ist, besteht darin, dass Kant sagt, die intellektuelle Synthesis beziehe sich „bloß auf die Einheit der Apperzeption“ (B 150) und werde „in der bloßen Kategorie gedacht“ (B 151). Das bedeutet, dass der Verstand in dieser Synthesis zwar dem gegebenen Mannigfaltigen die transzendentale Einheit der Apperzeption bringen kann, aber die reinen Verstandesbegriffe, die dabei ins Spiel kommen, nur als „bloße Gedankenformen“ (B 150) fungieren. Infolgedessen wird durch diese intellektuelle Synthesis noch „kein bestimmter Gegenstand“ erkannt (B 150). Wenn Kant diese Überlegungen im ersten Absatz des § 24 zum Ausdruck bringt, benutzt er sprachlich das deutsche Präteritum „bezog“ und „war“ (B 150). Durch dieses Vokabular will Kant offenbar darauf aufmerksam machen, dass diese Überlegungen bisher – genauer im ersten Teil der BDeduktion – erklärt worden sind. Ich möchte mich hier auch nicht auf Kants Argumentation einlassen. Für meinen Zweck reicht folgende kurze Zusammenfassung. Es wurde im ersten Teil der B-Deduktion gezeigt, dass alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige genau dann unter der synthetischen Einheit der Apperzeption steht, wenn dieses Mannigfaltige unter den Kategorien steht (§§ 16-18). Daraus ergibt sich, dass die Synthesis dieses Mannigfaltigen genau dann unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption steht, wenn diese Synthesis nach den Kategorien ausgeübt wird. Kürzer gesagt, fungiert die kategoriale Synthesis als Bedingung für das Zustandekommen der Einheit der Apperzeption. Da nun Kant sagt, dass er im ersten Teil der B-Deduktion „von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde, abstrahiren muß, um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittelst der Kategorie durch den Verstand hinzukommt, zu sehen“ (B 144), so handelt es sich dabei nur um die intellektuelle Synthesis, die der Verstand den Kategorien als bloßen Gedankenformen gemäß ausübt. Wie sich das Mannigfaltige, das schon die synthetische Einheit der Apperzeption aufweist, auf unsere Form der sinnlichen Anschauung bezieht, um die Einheit der Anschauung, die dieses Mannigfaltige enthält, erklären zu können, hat Kant bisher bzw. bis zu § 24 noch nicht gezeigt. Demnach ist der Gegenstand nach dem bisherigen Beweis nur als ein unbestimmter Gegenstand anzusehen. D. h. es wurde noch nicht festgelegt, dass die Gegenstände, auf die sich die Kategorien beziehen können, tatsächlich die in Raum und Zeit gegebenen Gegenstände, also bestimmte Gegenstände sind. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die intellektuelle Synthesis noch nicht hinreichend, so muss sogleich ein andere Faktor ins Spiel kommen, nämlich die Einbildungskraft. Das ist die Aufgabe des zweiten Teils der B-Deduktion, insbesondere in § 24 und § 26. 179 Aus der obigen Analyse ergibt sich die folgende definitionsartige Erklärung: Synthesis intellectualis ist eine Handlung, die der Verstand an dem sinnlich gegebenen Mannigfaltigen der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß und mithin durch Katego179
Allison vertritt die Auffassung, dass dem ersten Teil der B-Deduktion (§§ 16-20) die intellektuelle Synthesis entspricht. Dazu schreibt er: “He means by it the action of the understanding analyzed in the first part of the Deduction, which was considered in abstraction from the nature of the sensible intuition on which it operates, and it here functions largely as a point of contrast to the figurative synthesis with which he is now primarily concerned and which is directly related to the nature of human sensibility. Although Kant does not characterize it in this way, he effectively begins this section by combining the results of the first part of the Deduction with the conclusion of §23 that the categories only attain sense and significance through their relation to empirical intuition.” (Allison 2015, S. 378) Allison geht auch davon aus, dass der dritten Synthesis in der ADeduktion die intellektuelle Synthesis entspricht. (Vgl. Allison 2015, S. 340)
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rien als bloße Gedankenformen ausübt, wobei von den Formen der sinnlichen Anschauung (Raum und Zeit) abstrahiert wird und also die Einbildungskraft noch nicht ins Spiel kommt. Wenden wir uns nun der figürlichen Synthesis zu. Zunächst ist auffällig, dass Kant der intellektuellen Synthesis nicht so etwas wie eine sinnliche Synthesis, sondern die figürliche Synthesis gegenüberstellt. Denn wie oben erörtert, handelt es sich bereits bei der intellektuellen Synthesis um das sinnlich gegebene Mannigfaltige. Wenn eine andere Art der Synthesis wegen des sinnlichen Mannigfaltigen als ihres Stoffs sinnliche Synthesis genannt werden könnte, wäre dieser Name nicht dazu geeignet, sich von der intellektuellen Synthesis abzugrenzen. 180 In Kants Formulierungen ist es sehr klar, dass die figürliche Synthesis ebenso das „Mannigfaltige[] der sinnlichen Anschauung“ (B 151) betrifft. An einer Stelle aus den Nachträgen sagt er auch, dass es sich bei dieser Synthesis um das „Manigfaltige[] überhaupt“ (AA XXIII 18) handelt. 181 Damit ist natürlich das sinnlich gegebene Mannigfaltige überhaupt gemeint. Somit besteht der Unterschied der figürlichen Synthesis von der intellektuellen Synthesis nicht in dem Mannigfaltigen. Diese figürliche Synthesis wird von Kant auch als die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bezeichnet. Sie lässt sich deshalb als figürlich beschreiben, weil an dieser Art der Synthesis, anders als die intellektuelle Synthesis, die Form unserer sinnlichen Anschauung und das zum Teil sinnliche Vermögen Einbildungskraft beteilig sind. Diese Benennung wird auch noch verständlicher, wenn man Kants Charakterisierungen für die in dieser Synthesis entscheidende Einbildungskraft berücksichtigt: „Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen […].“ (A 120) Und in den Nachträgen „B 12“ schreibt er: „Die reine Synthesis der Einbildungskraft […] bringt nichts als Gestalten hervor.“ 182 Die Vokabel „Bild“ und „Gestalten“ deuten an, dass es ganz angemessen ist, die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft als figürlich zu bezeichnen. Da nun die Beteiligung der Form der Anschauung und der Einbildungskraft dazu führt, dass sich die figürliche Synthesis im Wesentlichen von der intellektuellen Synthesis unterscheidet, möchte ich mich im Folgenden auf diese beiden Punkte konzentrieren, um die figürliche Synthesis deutlich zu machen. Ich beginne mit der Form der Anschauung. Man könnte zuerst die Frage aufwerfen, warum die Form der Anschauung auftreten muss und erst jetzt auftreten kann. Statt auf diese Frage direkt zu antworten, führt Kant im ersten Absatz des § 24, nachdem er die Erklärung der intellektuellen Synthesis abgehandelt hat, sogleich ohne weiteres ein, dass wir Menschen über die Form der Anschauung a priori verfügen. Kant setzt hier offenbar seine Theorie in der transzendentalen Ästhetik voraus. Dazu schreibt er: Weil in uns aber eine gewisse Form der sinnlichen Anschauung a priori zum Grunde liegt, welche auf der Receptivität der Vorstellungsfähigkeit (Sinnlichkeit) beruht, so kann der Verstand als Spontaneität den inneren Sinn durch das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen der synthetischen Einheit der Apperception gemäß bestimmen […]. (B 150)
180 181 182
Der Begriff der sinnlichen Synthesis wird in der Kant-Literatur gebraucht (vgl. Grüne 2009, S. 18). Aber Kant hat die figürliche Synthesis nicht direkt als sinnliche Synthesis bezeichnet. Vgl. „Die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft geht blos auf die Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbildungskraft.“ (AA XXIII 18) AA XXIII 18.
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Kant spricht im ersten Satzteil von „eine[r] gewisse[n] Form der sinnlichen Anschauung“. Diese singularische Redeweise weist darauf hin, dass Kant vor allem von der Form des inneren Sinnes bzw. der Zeit handeln will. In seinen Worten, der Verstand bestimme durch die figürliche Synthesis den inneren Sinn, nicht aber den äußeren Sinn. Die Tatsache, dass Kant sich in erster Linie auf die Zeit in den Darstellungen der figürlichen Synthesis bezieht, mag daran liegen, dass er stets darauf insistiert, dass der innere Sinn bzw. die Zeit die Universalität hat, denn alle Vorstellungen gehören „als Modifikationen des Gemüts zum innern Sinn“ (A 99). Anders gesagt, ist der innere Sinn der „Inbegriff aller Vorstellungen“ (A 177/ B 220). 183 Aus diesem Grund beschränken wir uns im Moment auch auf die Zeit als Form des inneren Sinnes. Nach der transzendentalen Ästhetik kann man Kant meiner Ansicht nach die These zuschreiben: Ein Mannigfaltiges kann uns genau dann auf sinnliche Weise gegeben werden, wenn unsere Sinne affiziert werden und damit ihre Formen ins Spiel kommen. Dafür spricht Kants Definitionen der Anschauung und der Sinnlichkeit. 184 Daraus ergibt sich, dass das sinnlich Gegebene jedenfalls in Verbindung mit Formen unserer Sinne besteht. Und der obigen Beschränkung zufolge muss sich alles Mannigfaltige auf die Form des inneren Sinnes beziehen. Infolgedessen muss die Synthesis des Mannigfaltigen jedenfalls nach dieser Form der Anschauung geschehen. Allerdings könnte man sich sogleich fragen, warum es sich bei der intellektuellen Synthesis schon um das sinnlich gegebene Mannigfaltige handelt, aber diese Form der Anschauung noch nicht auftritt. Meine Antwort wird sein: Es kommt auf Kants Strategie der Deduktion an. Genauer gesagt, will Kant in den bisherigen Deduktionstexten, vor allem in §§ 16-20, nur begründen, dass das Mannigfaltige, das in einer bereits die Einheit enthaltenden Anschauung 185 unter der synthetischen Einheit der Apperzeption und mithin unter den Kategorien steht. Dieses Verfahren ist deshalb berechtigt, weil Kant sagt, dass „die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen“ (B 144). 186 Das heißt, dass der Umstand, der Verstand und seine reinen Kategorien für sich genommen seien bloß diskursiv bzw. nichtsinnlich, darauf hinausläuft, dass man nach dem Argumentationsgang der B-Deduktion von einer intellektuellen Synthesis berechtigterweise sprechen kann, wobei die Form der Anschauung noch nicht in Betracht kommt. Daher ist es immer noch offen, wie eigentlich sich das sinnlich gegebene Mannigfaltige auf die Form der Anschauung bezieht, damit dieses Mannigfaltige die Einheit der Anschauung aufweisen kann. Mit anderen Worten, dieses Mannigfaltige ist in einer „bestimmte[n] Anschauung“ (B 154) enthalten. Dies lässt sich erst durch die figürliche Synthesis begründen. 183 184
185 186
Vgl. auch A 34/ B 50: „[A]lle Vorstellungen […] als Bestimmungen des Gemüts [gehören] zum innern Zustande“. Vgl. „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen° wenigstens nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire. Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen […].“ (A 19/ B 33) Vgl. „Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten Einheit der Anschauung […].“ (B 144 Anm.) Der Grundsatz der Einheit der Apperzeption ist „auch zugleich von allen Bedingungen der sinnlichen Anschauung ganz unabhängig“ (B 137).
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Ich komme nun zum zweiten Punkt. Geht man vom Auftreten der Anschauungsform aus, scheint es naheliegend zu sein, dass der Verstand das Mannigfaltige dieser sinnlichen Form gemäß unmittelbar verbinden könnte, so dass er den inneren Sinn unmittelbar bestimmen könnte. Demnach wäre die Einbildungskraft nicht nötig. Jedoch ist Kant der Meinung, dass diese unmittelbare Zugänglichkeit uns Menschen nicht zur Verfügung steht. Denn sonst wäre der zweite Teil der B-Deduktion überflüssig. Der Grund dafür, dass der Verstand durch seine Synthesis das sinnlich gegebene Mannigfaltige mit der Form der Anschauung nicht unmittelbar in Verbindung bringen kann, besteht wesentlich darin, dass laut Kant der Verstand, in strengem Sinne betrachtet, „ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen“ (A 67/ B 92) ist. Das heißt, dass er „kein Vermögen der Anschauung“ (A 67/ B 92), sondern „ein Vermögen zu denken“ (A 69/ B 94) ist. Außerdem kann der Verstand von seinen Begriffen „keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt“ (A 68/ B 93). Und diese Begriffe als allgemeine Vorstellungen beziehen sich nicht unmittelbar auf Gegenstände der Anschauung. Daraus folgt, dass auch der Verstand sich durch sein Urteil nicht unmittelbar auf Gegenstände der Anschauung beziehen kann. Dieser Umstand macht verständlich, dass der bloße Verstand für das Auftreten der Form der Anschauung nicht hinreichend ist und also ein anderes Vermögen nötig ist. Dieses gesuchte Vermögen ist nun die Einbildungskraft. Aber man könnte sich sogleich fragen, wie die Einbildungskraft diese Aufgabe erledigen kann. Die Antwort auf diese Frage findet sich im dritten Absatz von § 24, wo Kant schreibt: Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft der subjectiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine correspondirende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; so fern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend und nicht wie der Sinn bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperception gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist. (B 151 f.)
In dieser sehr dicht verfassten Passage ist fast jeder Satzteil erläuterungsbedürftig. Was aber meinen jetzigen Zweck betrifft, mag es genug sein, die folgenden drei Bemerkungen zu machen: 1) Die Einbildungskraft ist ein intuitives Vermögen. Anders als die Anschauung unserer Sinne nimmt die Einbildungskraft für ihre Anschauung nicht die Gegenwart eines Gegenstandes in Anspruch. Dies macht Kant auch sehr deutlich in der Anthropologie, indem er schreibt, dass die Einbildungskraft „das Vermögen der Anschauung […] auch ohne die Gegenwart“187 des Gegenstandes ist. Kant zufolge ist alle unsere Anschauung sinnlich. Daraus folgt, dass die Einbildungskraft von Natur aus zum Teil zur Sinnlichkeit gehört. Diese sinnliche Natur der Einbildungskraft führt dazu, dass seine Ausübung sich unmittelbar auf das sinnlich gegebene Mannigfaltige richten kann. Infolgedessen ist sie, wenn sie an den Verstand anknüpft, in der Lage, die Begriffe, die aus dem Verstand entspringen, „sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen)“ (A 51/ B 75). Aus diesem Grund sagt Kant in der zitierten Passage, die Einbildungskraft könne den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben. Dies kommt natürlich nur durch ihre Synthesis zustande. 187
AA VII 153.
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
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2) Die Einbildungskraft ist „ein Vermögen einer Synthesis a priori“ (A 123). Kant charakterisiert sie auch als eine Art der Spontaneität (vgl. B 152, B 162 Anm.). Demnach ist ihre Synthesis „eine Ausübung der Spontaneität“ (B 151). Das heißt, dass die Einbildungskraft zwar teilweise sinnlich, aber doch teilweise spontan ist. Aufgrund dieser aktiven Natur ist die Einbildungskraft fähig, das sinnlich gegebene Mannigfaltige unmittelbar zu synthetisieren. Und weil diese Synthesis wie bei der intellektuellen Synthesis „auf die ursprünglichsynthetische Einheit der Apperception, d.i. diese transscendentale Einheit, geht, welche in den Kategorien gedacht wird“ (B 151), 188 so kann die Einbildungskraft durch ihre Synthesis das sinnlich gegebene Mannigfaltige auf die Einheit der Apperzeption beziehen. Aber um dies zu erreichen, muss diese Synthesis nach den Kategorien geschehen. Diese Überlegung bringt Kant explizit in den Nachträgen „B 12“ zum Ausdruck, wo er schreibt: Das Manigfaltige kan aber nicht durchgängig zu einer apperception gehören als vermittelst einer durchgängigen synthesis der Einbildungskraft u. den Functionen derselben in einem Bewustseyn. (AA XXIII 19)
Darüber hinaus haben wir erwähnt, dass das Mannigfaltige in der Form der sinnlichen Anschauung gegeben werden muss. Daraus ergibt sich, dass die Einbildungskraft mit Hilfe ihrer Synthesis des Mannigfaltigen die Form der Anschauung, die „auf der Receptivität der Vorstellungsfähigkeit (Sinnlichkeit) beruht“ (B 150), ins Spiel bringen kann. Das bedeutet, dass die Form der Anschauung dadurch eine Einheit erwirbt. Somit ist die Einbildungskraft imstande, die sinnliche Form der Anschauung intellektuell zu machen, in Kants Worten, „Anschauungen […] verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)“ (A 51/ B 75). 3) Die Einbildungskraft ist „ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen“ (B 152). Diese Behauptung folgt offenbar aus 1) und 2). Denn wenn man mit Kant die unmittelbare Zugänglichkeit der Einbildungskraft zum sinnlich gegebenen Mannigfaltigen annimmt und davon ausgeht, dass ihre Synthesis nach den Kategorien ausgeübt werden muss, so ist mit Recht zu sagen, dass die Einbildungskraft durch ihre Synthesis des Mannigfaltigen den inneren Sinn bestimmt. Das heißt, dass die Einbildungskraft dem in der Form der Anschauung enthaltenen Mannigfaltigen eine Ordnung bringen kann, so dass eine bestimmte Anschauung gebildet wird. Insofern beschreibt Kant diesen Charakter der Einbildungskraft als „bestimmend“ und genau darin unterscheidet sie sich von unseren Sinnen, die bloß „bestimmbar“ sind. Angesichts dieser bestimmenden Rolle betrachtet Kant die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auch als „eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung“ (B 152). Diese Kantische Aussage ist zwar in mancher Hinsicht rätselhaft, denn es ist fragwürdig, was hier eine Wirkung bedeutet, was eigentlich mit der ersten Anwendung gemeint ist und was denn die allen übrigen Anwendungen sind. 189 Aber in einer Hinsicht ist Kants Formulierung eindeutig: Kant versucht den Status des Verstandes, den er der Sinnlichkeit gegenüberstellt, hervorzuheben. Genauer gesagt, ist die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft nichts anderes als ein Zwischenglied, durch das der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt. Da hier von der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft die 188 189
In der A-Deduktion heißt es: Die Einbildungskraft hat „nichts weiter, als die notwendige Einheit in der Synthesis […] zu ihrer Absicht“ (A 123). Nach Allison gibt es insgesamt drei Anwendungen des Verstandes. Vgl. Allison 2015, S. 393 f.
76
2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Rede ist, ist die Anwendung des Verstandes eine transzendentale Anwendung, die allen anderen empirischen Anwendungen zugrunde liegt. Genau im Hinblick auf diese transzendentale Ebene ist die genannte Anwendung des Verstandes als erste Anwendung anzusehen. Der Umstand, dass Kant die Rolle des Verstandes in der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft betont, macht verständlich, warum Kant an späterer Stelle sagt, der Verstand sei fähig, die Sinnlichkeit zu bestimmen, und die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sei nur ein Name für die Handlung des Verstandes auf das passive Subjekt. 190 Aufgrund der obigen Darstellungen lässt sich die folgende definitionsartige Erklärung machen: Synthesis speciosa ist die Handlung, die die Einbildungskraft auf das sinnlich gegebene Mannigfaltige sowohl nach der Form unserer sinnlichen Anschauung als auch gemäß den Kategorien ausübt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass man Kants Unterscheidung zwischen synthesis intellectualis und synthesis speciosa nicht missverstehen darf. Laut Kant treffen beide nicht das empirisch gegebene Mannigfaltige und sind keine empirische Synthesis. Vielmehr sind sie a priori und transzendental. 191 Denn es handelt sich dabei um den reinen Verstand und „die produktive Einbildungskraft“ (B 152), nicht aber um ihren empirischen Gebrauch. Demnach liegen sie als notwendige Bedingungen der „Möglichkeit anderer Erkenntniß a priori“ (B 151) zugrunde. Auch sollte man diese zwei Arten der Synthesis nicht überinterpretieren. Die intellektuelle Synthesis darf nicht mit der logischen Funktion des Urteils gleichgesetzt werden, weil diese Synthesis schon das sinnlich gegebene Mannigfaltige zum Stoff hat. 192 Ebenso wenig ist die figürliche Synthesis mit dem Schematismus, von dem Kant erst später in der Analytik der Grundsätze handelt, zu identifizieren. Denn es handelt sich dabei noch nicht um die transzendentale Urteilskraft, die zwischen Begriffen und Anschauung vermitteln kann. Wie man dies genauer klärt, kann ich hier nicht weiter untersuchen. (iii) Der innere Sinn als Vereinigung von Rezeptivität und Spontaneität Aus der obigen Erläuterung der figürlichen Synthesis geht hervor, dass sich der innere Sinn genau dann affizieren lässt, wenn der spontane Verstand vermittelst der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft das sinnlich gegebene Mannigfaltige verbindet. Diese Selbstaffektion läuft darauf hinaus, dass die Form des inneren Sinnes zu einer Bedingung dient, unter der äußere Erscheinungen als subjektabhängige Gegenstände konstituiert werden. Mit anderen Worten: Wir stellen uns äußere Gegenstände deshalb auch als zeitlich vor, weil uns diese Gegenstände nicht ohne die zeitliche Bedingung erscheinen können. So kann man mit Recht sagen, dass in der Zeit nicht nur Vorstellungen des äußeren Sinnes, sondern auch äußere Gegenstände sind. Insofern hat Schmitzs Betonung recht, 193 dass der innere Sinn rezeptiv ist, weil die Funktion des inneren Sinnes auf die Affektion aus dem Verstand angewiesen ist. 190
191
192 193
Vgl. „Er also übt unter der Benennung einer transscendentalen Synthesis der Einbildungskraft diejenige Handlung aufs passive Subject, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch afficirt werde.“ (B 153 f.) Zu ihrem Verhältnis schreibt Baum, dass „die figürliche Synthesis selbst in der intellektuellen gründet, oder besser: die intellektuelle Synthesis nur der durch Abstraktion isolierte Akt des bloßen Verstandes ist“ (Baum 1986, S. 137) Longuenesse vertritt etwa die Ansicht, dass die intellektuelle Synthesis die Verbindung von Begriffen in Urteilen bedeutet. (Vgl. Longuenesse 1998, S. 199-209) Vgl. Schmitz 2015, S. 1050.
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
77
Allerdings ist der innere Sinn, wie oben schon mehrmals erwähnt, auch ein „Wahrnehmungsvermögen“ 194. Das bedeutet, dass wir durch dieses Vermögen Gegenstände bewusst machen können. Daher können wir die von uns unterschiedenen Gegenstände wahrnehmen und bewusste Vorstellungen von ihnen erwerben. Insofern ist der innere Sinn nicht nur rezeptiv, sondern auch zum Teil spontan. Betrachten wir nun diesen aktiven Aspekt etwas genauer. Während der äußere Sinn durch Dinge an sich affiziert wird, kann der innere Sinn die Zeit für das durch diese äußere Affektion gegebenes Mannigfaltige gelten lassen, indem er sich durch die figürliche Synthesis dieses Mannigfaltigen affizieren lässt. Dabei spielt aber der innere Sinn noch eine andere Rolle. Er macht nämlich das Mannigfaltige des äußeren Sinnes zu den bewussten Vorstellungen, so dass wir sagen können, dass wir uns der äußeren Gegenstände durch den inneren Sinn bewusst sind. Dies bringt Kant in der sogenannten LeningradReflexion explizit zum Ausdruck, wo er sagt: Bey der inneren Erfahrung aber die ich anstelle afficire ich mich selbst indem ich die Vorstellungen äußerer Sinne in ein empirisches Bewußtseyn [bringe um] meines Zustandes bringe. (Brandt 1987, S. 18)
Kant spricht hier zwar vom empirischen Bewusstsein meines Zustandes, aber man darf diese Redeweise nicht so verstehen, als würde Kant behaupten, dass sich der innere Sinn die Vorstellungen des äußeren Sinnes noch einmal vorstellt. Vielmehr gehören die Vorstellungen des äußeren Sinnes zum inneren Sinn und seiner Form dadurch, dass das Mannigfaltige dieser Vorstellungen durch die Aktivität des Verstandes geordnet wird. Da der innere Sinn sich diese Vorstellungen zuzuschreiben kann, sind sie empirisch bewusste Vorstellungen. Infolgedessen können wir sagen, dass wir uns der äußeren Gegenstände bewusst sind. Daraus ergibt sich, dass der innere Sinn ein Vermögen des empirischen Gegenstandsbewusstseins ist. Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass Kant auch oft die Affektion des inneren Sinnes so beschreibt, der Verstand bestimme den inneren Sinn (vgl. B 150, B 153). Ein Resultat dieser Bestimmung ist eine „bestimmte Anschauung“ (B 154). 195 Wie Kant es selbst ausführt, ist eine bestimmte Anschauung „nur durch das Bewußtsein der Bestimmung desselben durch die transscendentale Handlung der Einbildungskraft (synthetischer Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn), welche ich die figürliche Synthesis genannt habe, möglich […].“ (B 154) Im nächsten Teil werde ich näher verfolgen, wie man sich die Einheit einer bestimmten Anschauung – wie Raum und Zeit als formale Anschauungen – an Beispielen klarmachen kann. (c) 194 195
Einheit von Raum und Zeit Anthropologie, AA VII 153. Dass der innere Sinn affiziert wird, lasse sich nach manchen Interpreten als gleichbedeutend damit verstehen, dass der Verstand den inneren Sinn bestimmt. D. h. Kant scheine in § 24 das Wort „bestimmen“ als Synonym für „affizieren“ benutzen. Diese Lesart vgl. Mohr 1991, S. 161-163. Meiner Ansicht nach sollte man bei wohlwollender Interpretation „bestimmen“ mit „affizieren“ nicht identifizieren. Dies liegt daran, dass sie sich jeweils auf verschiedene heterogene Seiten ein und desselben Subjekts beziehen. Genauer gesagt: Das Bestimmen ist auf die Spontaneität des Verstandes bzw. der Einbildungskraft zurückzuführen. Das Affizieren hingegen beruht auf der Rezeptivität des inneren Sinnes. Das erstere trägt die Einheit zur einen bestimmten Anschauung bei. Das letztere aber ermöglicht nur, dass die Form des inneren Sinnes in er Erzeugung dieser Anschauung mitwirken.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Kant vertritt in seinem System der theoretischen Philosophie die Auffassung, dass alle unsere Anschauungen sinnlich sind (vgl. A 35/ B 52, B 151). Das bedeutet, dass wir eine „unmittelbare Vorstellung des Einzelnen“ auf sinnliche Weise erwerben. 196 Mit der sinnlichen Weise hier ist die Art und Weise gemeint, wie das Subjekt „von Gegenständen affiziert“ (A 35/ B 51) wird. In Kants Worten: „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen […].“ (A 68/ B 93). Daher kann man sagen, dass die Affektion des inneren Sinnes mit der Erzeugung einer sinnlichen Anschauung eng zusammenhängt. Aufgrund der im letzten Teil dargestellten Konzeption der Selbstaffektion kann man Kant die These zuschreiben: Da der Verstand den inneren Sinn durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bestimmt, lässt sich eine bestimmte Anschauung hervorbringen, nämlich eine einzelne Vorstellung, die schon die auf dem Verstand beruhende Einheit enthält. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie Raum und Zeit als formale Anschauungen bzw. als einzelne Vorstellungen, die schon Einheit enthalten, erzeugt werden. In § 26 der B-Deduktion stellt Kant bekanntermaßen die These auf: Raum und Zeit haben zwei Bedeutungen. Zum einen sind sie „Formen der sinnlichen Anschauung“ (B 160), zum anderen sind sie „Anschauungen selbst“ (B 160) bzw. „formale Anschauung[en]“ (B 160 Anm.). Der Unterschied besteht wesentlich darin, dass die Formen der Anschauung bloß das Mannigfaltige geben, aber die formalen Anschauungen schon die Einheit des gegebenen Mannigfaltigen enthalten. 197 Diese These bringt Kant vor allem in einem kurzen Haupttext und einer dazu geschriebenen längeren Fußnote zum Ausdruck. Sie lauten: Aber Raum und Zeit sind nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten), also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt (siehe transsc. Ästhet.). (B 160) Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des mannigfaltigen nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung giebt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit und nicht zum Begriffe des Verstandes (§ 24). (B 160 Anm.)
Was die Formen der Anschauung angeht, 198 ist aus diesen zwei Zitaten zweierlei zu entnehmen: Erstens geben diese Formen das Mannigfaltige; zweitens enthalten sie noch keine EinVgl. „Die unmittelbare Vorstellung des Einzelnen ist die Anschauung.“ (AA XX 325) Kant schreibt in A 430/ B 458: „Der Raum ist bloß die Form der äußeren Anschauung (formale Anschauung), aber kein wirklicher Gegenstand, der äußerlich angeschauet werden kann.“ Nach dieser Aussage scheint kein wesentlicher Unterschied zwischen Formen der Anschauung und formalen Anschauungen zu bestehen. Z. B. ist Longuenesse der Meinung, dass es hier nur um die Unterscheidung zwischen Möglichkeit (Form) und Wirklichkeit (Anschauung) geht. (Vgl. Longuenesse 1998, S. 221.) 198 Für die Anschauungsform gibt Kant verschiedene Charakterisierungen. Es ist in erster Linie auffällig, dass Kant den Raum bzw. die Zeit als „reine Form“ (A 20/ B 34), „bloße Form“ (A 21/ B 35), „wirkliche Form“ (A 37/ B 53) oder „subjektive[] Form[]“ (B 72) beschreibt. Auch bestimmt er die Form durch verschiedene Nomen im Genitiv, z. B. „Form der Sinnlichkeit“ (A 20/ B 34), „Form dieser Rezeptivität“ (A 27/ B 43), „ Form des äußeren Sinnes überhaupt“ (B 41), „Form des inneren Sinnes“ (A 33/ B 49) „Form der sinnlichen Anschauung“ (AA IV 283) oder „Form der Erscheinungen“ (A 22/ B 36). Diese von Kant verwendeten Vokabulare besagen, dass die Anschauungsform durchaus aus dem Subjekt bzw. aus unseren Sin196 197
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
79
heit. Den ersten Punkt kann man so verstehen: Raum und Zeit als reine Formen machen die reinen raum-zeitlichen Verhältnisse möglich, die das reine Mannigfaltige enthalten müssen, weil nur durch die Ordnung dieses reinen Mannigfaltige erst die Verhältnisse möglich sind. Folglich können die Formen der Anschauung für sich genommen bereits das reine Mannigfaltige geben und liegen natürlich der Gegebenheit des empirischen Mannigfaltigen zugrunde. Den zweiten Punkt macht Kant auch sehr deutlich, indem er sagt, dass es sich bei den Formen der Anschauung noch nicht um die „Zusammenfassung des reinen Mannigfaltigen“ handelt. Dies besagt, dass die Formen der Anschauung keine Synthesis voraussetzen, weil sie nur einfach das gegebene Mannigfaltige in sich enthalten. Daher verfügen sie nicht über die Einheit, die nur durch eine Synthesis gestiftet werden kann. In diesem Sinne kann man auch sagen, dass Raum und Zeit als Formen keine Produkte der Einbildungskraft und ihrer reinen Synthesis sind. 199 Nach Kants Theorie in der transzendentalen Ästhetik kann man Kants Erklärung für die Formen der Anschauungen so zusammenfassen: Raum und Zeit als Formen der Anschauung sind die „im Gemüte a priori bereit“ (A 20/ B 34) liegenden formalen Bedingungen, die man erfüllen muss, um eine einzelne Vorstellung vom Einzelnen zu erwerben. Wenn man die subjektive „Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit“ (A 28/ B 44) wegnimmt, gibt es keinen Raum und keine Zeit mehr und damit sind wir nicht in der Lage, Dinge als Erscheinungen anzuschauen. Was die formalen Anschauungen betrifft, ist Kant in den oben zitierten zwei Passagen der Meinung, dass Raum und Zeit als „Anschauungen selbst“ die einzelnen Vorstellungen sind, die schon die Einheit des reinen Mannigfaltigen enthalten. Da diese Einheit erst dann gestiftet werden kann, wenn das reine Mannigfaltige, das durch die sinnlichen Formen gegeben ist, synthetisiert wird, sind Raum und Zeit Produkte der Synthesis. In Kants Worten: Man muss das gegebene reine Mannigfaltige „in eine anschauliche Vorstellung“ zusammenfassen oder zusammensetzen. 200 Diese Leistung ist natürlich dem Verstand bzw. der Einbildungskraft zuzuschreiben. Wie schon erwähnt, ist diese Synthesis nichts anderes als die figürliche Synthesis. Folglich gehört die Einheit von Raum und Zeit zwar „zur Sinnlichkeit“, aber sie entspringt in der Tat aus dem Verstand. Aus diesem Grund kann man sagen, dass sich Raum und Zeit als bestimmte Anschauungen betrachten lassen, „indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt“ (B 160 Anm.). Mit dieser Aussage will Kant offenbar an seine Überlegungen in § 24 anknüpfen. Nach Kants Ausführungen möchte ich hier in Kürze die folgende definitionsartige Erklärung geben:
199
200
nen entspringt, wie Kant betont, dass sie „im Genüte a priori bereit liege[]“ (A 20/ B 34) oder „im Gemüte a priori angetroffen werde[]“ (A 20/ B 34). Sie selber enthält kein Empirisches, so muss sie reine Form sein. Die Rede davon, dass Raum und Zeit die Anschauungsformen sind, kann man so verstehen, dass Raum und Zeit als „subjektive Bedingungen“ (A 49/ B 66) fungieren, die völlig von der „subjektive[n] Beschaffenheit unseres Gemüts“ abhängig sind. Diesen Bedingungen müssen erfüllt werden, wenn wir die Gegenstände der Sinne anschauen. Ohne sie würde keine sinnliche Anschauung möglich. In diesem Sinne ist es naheliegend, dass sie „in meinem Subjekt vor allen wirklichen Eindrücken“ (AA IV 282) bzw. „vor der wirklichen Erscheinung der Gegenstände“ (AA IV 284) vorhergehen. Daraus ergibt sich, dass Raum und Zeit als formale Bedingungen möglich machen, dass wir das Mannigfaltige erwerben bekommen können, wenn der Gegenstand unsere Sinne affizieren. Dieser Punkt ist in der Kant-Literatur sehr umstritten. Vielen Interpreten sind der Meinung, dass die Form der Anschauung auch schon ein Produkt der Einbildungskraft ist. Vgl. Nakano 2011, S. 213-230; Oberst 2013, S. 119. Vgl. B 136 Anm.; B 160 Anm.; Baum 1986, S. 153.
80
2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Raum und Zeit als formale Anschauungen sind „einzelne“, „anschauliche“ Vorstellungen (vgl. B 137/ B 160 Anm.), die bereits die Einheit des reinen Mannigfaltigen enthalten. Sie werden genau dann erzeugt, wenn der Verstand durch die figürliche Synthesis die Sinnlichkeit bestimmt. Wenn Kant im Haupttext von § 26 erstmals eine scharfe Grenzlinie zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung zieht, verweist er selber auf die transzendentale Ästhetik („siehe transsc. Ästhet.“). Um die Einheit formaler Anschauungen verständlich zu machen, ist es sinnvoll, kurz auf Kants relevante Überlegungen in diesem Lehrstück einen Blick zu werfen. In der transzendentalen Ästhetik hat Kant freilich die Einheit von Raum und Zeit nicht direkt erwähnt. Jedoch findet sich in den metaphysischen Erörterungen für Raum und Zeit eine heuristische Redeweise, die andeutet, dass Kant der Sache nach schon von der Einheit des Raumes und der Zeit spricht. Diese Redeweise taucht vor allem in den dritten und vierten Raumargumenten und den dazu parallel geschriebenen vierten und fünften Zeitargumenten in der zweiten Auflage der Kritik auf (vgl. B 39 f., B 47 f.). Im dritten Raumargument, das zeigt, dass der Raum eine reine Anschauung ist, spricht Kant von einem „einigen Raum“ bzw. einem „alleinigen Raum“ (B 39). Dies besagt, dass der Raum als formale Anschauung bzw. reine Anschauung schon die Einheit enthält, so dass er verschiedenen Räumen als seinen Teilen zugrunde liegt. Gleichfalls spricht Kant im fünften Zeitargument von „einer einigen [Zeit]“ (A 32/ B 48). Das bedeutet, dass nur eine Zeit, die schon Einheit enthält, verschiedene Zeiten als ihre Einschränkungen möglich macht. Man könnte hier vielleicht einwenden, dass es Kant im dritten Raumargument nicht um die Einheit, sondern um die Einzigkeit des Raums geht. Ebenso wenig wollte Kant im fünften Zeitargument von der Einheit, sondern von der Einzigkeit der Zeit sprechen. Denn Kant wollte in den Argumenten nur von dem Verhältnis eines einzigen Raums und einer einzigen Zeit zu ihren Teilen als Einschränkungen handeln, um zu zeigen, dass sie keine diskursiven Begriffe sind. Eine solche Lesart ist nach Kants Ausführungen nicht ausgeschlossen. Im Moment brauche ich mich nicht für Kants detaillierte Argumentation für die Implikation der Einheit zu interessieren. Und ich möchte hier die alternative Lesart nicht weiter verfolgen, sondern die für mein Thema wichtigere Frage stellen, wie die Einheit von Raum und Zeit, sofern sie als formale Anschauungen betrachtet werden, durch die Affektion des inneren Sinnes und die Bestimmung des Verstandes hervorgebracht werden kann. Zur Beantwortung der obigen Frage findet sich eine einschlägige Passage in § 24, obwohl Kant dort keine ausführliche Argumentation, sondern nur Beispiele und Kommentare liefert. Die Passage lautet: Dieses nehmen wir auch jederzeit in uns wahr. Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn successiv bestimmen, und dadurch auf die Succession dieser Bestimmung in demselben Acht haben. Bewegung als Handlung des Subjects (nicht als Bestimmung eines Objects), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahiren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Succession zuerst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn afficirt. (B 154 f.)
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen
81
Im ersten Satz dieser Passage knüpft Kant an den vorhergehenden Absatz an und deutet darauf hin, dass man sich die vorher dargestellte, schwer zu verstehende Tatsache, dass der Verstand den inneren Sinn durch die figürliche Synthesis bestimmt, klarerweise vor Augen führen kann. Da Kant, wie gesagt, in den Ausführungen von § 24 die Form des inneren Sinnes voranstellt, möchte ich nun von der Einheit der Zeit anfangen. Kant zufolge lässt sich die Zeit zwar nicht äußerlich vorstellen, 201 aber man kann sie sich „durch Analogie[]“ (A 33/ B 50) zu einer Linie bzw. „unter dem Bilde einer Linie“ (B 156) vorstellen. 202 Das heißt, dass eine gerade Linie als „die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit“ (B 154, vgl. B 292) angesehen werden kann. Und Kant betont sogar, dass wir ohne diese „Darstellungsart […] die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen könnten“ (B 156). Somit kann man die Zeitvorstellung als reine Anschauung im Ziehen einer Linie erläutern. Sehen wir uns ein konkretes Beispiel an: A ………………………….. B _____________________ Abb. 4: Zeitvorstellung und Linie
Um die Linie „B“ zu ziehen, muss man zuerst, wie es sich in „A“ zeigt, verschiedene Punkte nacheinander verbinden, und zwar so, dass sich jeder Punkt als in einem Ganzen enthalten ansehen lässt und er damit in einer bestimmten Beziehung zu anderen Punkten steht. Erst durch die sukzessive Verbindung der Punkte ist es möglich, sich eine Linie vorzustellen, die die Einheit unserer Handlung bzw. des Ziehens aufweist. 203 Das heißt, dass die Erzeugung der Linie auf der Konstruktion des Begriffs der Linie in einer äußeren reinen Anschauung beruht (vgl. A 723/ B 751). Dazu ist zweierlei näher zu klären: Erstens setzten die Punkte die Form der äußeren Anschauung voraus, denn nur aufgrund dieser Form ist aus Kants Sicht sinnvoll zu sagen, dass die Punkte gegeben sind. Denn der Raum als bloße Form, wie Kant formuliert, gebe „nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori“ (B 137). Zweitens wird die Verbindung der Punkte durch Einbildungskraft vorgenommen, weil die vergangenen Punkte mit dem jetzigen Punkt in einer Anschauung stehen müssen und man ein Bewusstsein davon hat, dass sie verschiedene Teile ein und derselben Handlung sind. Also beruht die Erzeugung einer Linie im Wesentlichen nicht auf dem bloßen Beitrag der Sinne, sondern auf unserer bewussten Handlung. Übertragen wir dieses Interpretationsmodell auf die Zeit, dann wird es verständlich, wie die Einheit der Zeit erzeugt wird. Kant zufolge macht die Zeit als Anschauungsform möglich, dass uns das reine Mannigfaltige wie die Punkte im Raum gegeben werden kann. Nun kann die Einbildungskraft, wie es beim Ziehen der Linie geschieht, das gegebene Mannigfaltige nacheinander synthetisieren und man ist sich bewusst, dass jedes Mannigfaltige als in einem sukzessiven Ganzen enthalten anzusehen ist. Infolgedessen lässt sich, wie bei der Erzeugung der Linie, eine Zeit hervorbringen, die auf der Synthesis der Einbildungs201 202 203
Vgl. „Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden […].“ (A 23/ B 37) Kant hat schon darauf hingewiesen, dass diese Analogie nicht in allen Hinsichten gilt. Denn die Teile der Linie sind zugleich, aber die Teile der Zeit sind nacheinander. Vgl. A 33/ B 50. Vgl. „Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z.B. eine Linie, muß ich sie ziehen und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Object (ein bestimmter Raum) erkannt wird.“ (B 137 f.)
82
2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
kraft beruht. Die Einheit der Zeit besteht nämlich in der Einheit, die durch diese Synthesis des reinen Mannigfaltigen gestiftet wird. Daraus geht hervor, dass diese Einheit nicht aus der Sinnlichkeit entspringt, sondern aus der Handlung, die der Verstand bzw. die Einbildungskraft an dem reinen Mannigfaltigen ausübt. Kürzer gesagt: Die Zeit als anschauliche Vorstellung, die schon die Einheit enthält, beruht auf der figürlichen Synthesis. Also ist sie ein Produkt, das der Verstand unter Mitwirkung des inneren Sinnes liefert. Wenden wir uns nun der Einheit des Raumes zu. Wie erläutert, enthält der Raum als bloße Form nur das reine Mannigfaltige. Genauer gesagt: Er ermöglicht, dass das Mannigfaltige gegeben werden kann (vgl. B 137). Aber der Raum als formale Anschauung setzt eine Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen voraus, denn erst durch diese Synthesis ist ein bestimmter Raum als einzelne Vorstellung möglich, die die Einheit enthält (vgl. B 160 Anm.). Nach dem bisher Gesagten ist klar, dass man Kant die These zuschreiben kann: Die Einheit des Raumes wird durch die figürliche Synthesis hervorgebracht. Aber soweit ich sehe, scheint Kant weder in § 24 noch in § 26, auch nirgendwo in der ganzen Kritik, ausführlich darauf einzugehen, wie dem Raum die auf dem Verstand beruhende Einheit zugesprochen wird. Was Kants Intention im Kontext von § 24 anlangt, scheint er in der oben zitierten Passage und der dazu gehörigen Fußnote zeigen zu wollen, dass ihm dies genug klar wäre. Nun möchte ich versuchen, zu erklären, wie plausibel Kants Beispiel ist, um die Erzeugung der Einheit des Raumes zu verstehen. Kants Beispiel lässt sich so zusammenfassen: Bewegung als Bestimmung des Raumes ist Produkt der Handlung des Verstandes bzw. der Einbildungskraft. Die genannte Fußnote lautet: Bewegung eines Objects im Raume gehört nicht in eine reine Wissenschaft, folglich auch nicht in die Geometrie, weil, daß Etwas beweglich sei, nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann. Aber Bewegung als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner Actus der successiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch productive Einbildungskraft und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transscendentalphilosophie. (B 155 Anm.)
Kants Ausführungen zufolge gibt es zwei Begriffe der Bewegung: eine empirische Variante und eine reine Variante. Die Bewegung von irgendeinem Ding im Raum lässt sich nur a posteriori bzw. in der Erfahrung betrachten, weil sie „etwas Empirisches“ (A 41/ B 58) voraussetzen muss. Demnach gehört der Begriff der Bewegung in diesem Sinne nicht zur Geometrie und transzendentalen Philosophie. 204 Vielmehr geht es Kant hier nur um den reinen Begriff der Bewegung. Das heißt, dass die Bewegung als „Handlung des Subjekts“ bzw. „Beschreibung eines Raumes“ zu betrachten ist. Genauer gesagt: Wir abstrahieren vom Beweglichen und achten nur auf den Raum, den diese Bewegung einnimmt. Somit kann die Bewegung als eine Bestimmung des Raumes angesehen werden. Sehen wir uns ein Schaubild an:
204
Vgl. „Daß schließlich die transscendentale Ästhetik nicht mehr als diese zwei Elemente, nämlich Raum und Zeit, enthalten könne, ist daraus klar, weil alle andre zur Sinnlichkeit gehörige Begriffe, selbst der der Bewegung, welcher beide Stücke vereinigt, etwas Empirisches voraussetzen. Denn diese setzt die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus. Im Raum, an sich selbst betrachtet, ist aber nichts Bewegliches: daher das Bewegliche etwas sein muß, was im Raume nur durch Erfahrung gefunden wird, mithin ein empirisches Datum.“ (A 41/ B 58)
2.2 Zeitlichkeit und Bewusstsein von äußeren Gegenständen a
83 b
Abb. 5: Raumvorstellung und Bewegung
Eine Kugel bewegt sich von „a“ bis „b“. So wird ein bestimmter Raum „ab“ gebildet. Diese Bewegung findet freilich außer uns im Raum statt und wir können sie nur in der Erfahrung wahrnehmen. Aber laut Kant können wir diese Bewegung und den bestimmten Raum in einer anderen Hinsicht betrachten: Um sich diesen bestimmten Raum vorzustellen bzw. in der reinen Anschauung zu konstruieren, muss man annehmen, dass uns im inneren Sinn das reine räumliche Mannigfaltige gegeben ist. Somit lässt sich die Bewegung als eine Handlung ansehen, die unsere Einbildungskraft an dem gegebenen Mannigfaltigen ausübt. Das heißt nichts anderes, als dass wir durch die figürliche Synthesis das gegebene Mannigfaltige auf sukzessive Weise verbinden. Demnach ist die Sukzession des Mannigfaltigen nicht als bloß durch inneren Sinn bzw. durch Wahrnehmung gegeben anzusehen, sondern sie wird erst durch die Synthesis der Einbildungskraft erzeugt. Genauer gesagt: Da der innere Sinn durch diese Handlung affiziert wird, lässt sich das gegebene Mannigfaltige der Form des inneren Sinnes gemäß ordnen. Damit bringt der Verstand den Begriff der Sukzession hervor und wir erwerben eine bestimmte Raumvorstellung bzw. eine sukzessive Anschauung, die schon die durch diese Synthesis gestiftete Einheit enthält. In dieser Hinsicht ist die Bewegung nicht als eine Bestimmung der Kugel im Raum zu betrachten, sondern als eine Handlung im denkenden Subjekt, in Kants Worten, als „ein reiner Actus der successiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch productive Einbildungskraft“ (B 155 Anm.). Folglich ist der Raum, der durch diese Bewegung bestimmt wird, nichts anderes als ein Produkt der produktiven Einbildungskraft. Diese Konzeption macht Kant sich auch an einem von ihm selbst später in den „Axiomen der Anschauung“ gebrauchten Beispiel klar, wo er schreibt: Wenn ich sage: durch drei Linien, deren zwei zusammengenommen größer sind als die dritte, läßt sich ein Triangel zeichnen: so habe ich hier die bloße Function der productiven Einbildungskraft, welche die Linien größer und kleiner ziehen, imgleichen nach allerlei beliebigen Winkeln kann zusammenstoßen lassen. (A 164/ B 205)
Zum Schluss möchte ich zusammenfassen: Raum und Zeit als Formen der sinnlichen Anschauung können nach Kants Theorie in der transzendentalen Ästhetik bloß in Berufung auf
84
2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
die Sinnlichkeit erklärt werden. Denn sie sind nichts anderes als die „subjektiven Bedingungen“ (A 26/ 42), unter denen wir die Dinge als Erscheinungen anschauen können. Aber Raum und Zeit als formale Anschauungen beruhen auf der Synthesis der produktiven Einbildungskraft, also auf der Leistung des Verstandes, weil die Einheit, die sie als einzelne Vorstellungen enthalten, erst dadurch erzeugt werden kann, dass der Verstand den inneren Sinn affiziert und bestimmt. 2.3
Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
Wir hatten im letzten Abschnitt gesehen, dass der innere Sinn ein Vermögen des empirischen Bewusstseins von äußeren Gegenständen ist. Da Kant den inneren Sinn auch mit der empirischen Apperzeption identifiziert, ist der andere Begriff des inneren Sinnes das Vermögen des empirischen Selbstbewusstseins. Bekanntlich vertritt Kant in der transzendentalen Ästhetik die Ansicht, dass wir durch den inneren Sinn sowohl unseren inneren Zustand als auch uns selbst anschauen können. Allerdings findet sich in der Kant-Literatur eine Auffassung, die davon ausgeht, dass Kants innerer Sinn nur Zustandssinn, nicht aber Gegenstandssinn ist. Das heißt, dass wir durch den inneren Sinn nur unsere mentalen Zustände bzw. Vorstellungen, nicht aber uns selbst als Objekte anschauen können. Diese Auffassung halte ich für nicht überzeugend, denn sie beruht auf einer Missdeutung von Kants Texten und widerspricht Kants philosophischer Grundposition. Ich möchte in diesem Abschnitt dafür argumentieren, dass der innere Sinn bei Kant nicht nur als Zustandssinn, sondern auch als Gegenstandssinn anzusehen ist. Genauer gesagt: Laut Kant können wir behaupten, dass wir uns selbst durch den inneren Sinn anschauen und diese Selbstanschauung bewusst machen können. Demnach haben wir auch das empirische Bewusstsein von uns selbst. Ich werde meine Übersuchung in drei Schritten entwickeln: Zunächst werde ich die Konsequenz analysieren, die Wolff aus Kants transzendentaler Ästhetik zieht (a). Anschließend werde ich die sachlichen Schwierigkeiten diskutieren, die mit der Anschauung des inneren Sinnes verbunden sind (b). Und schließlich werde ich auslegen, inwiefern das empirische Ich ein Anschauungs- und Bewusstseinsobjekt ist (c). (a)
Michael Wolffs Interpretation vom inneren Sinn
In seinem Aufsatz „Empirischer und transzendentaler Dualismus – Zu Rolf-Peter Horstmanns Interpretation von Kants Paralogismen“ 205 stellt Michael Wolff die Interpretationsthese auf: Der innere Sinn bei Kant sei kein „Gegenstandssinn“, sondern „Zustandssinn“ 206. Das heißt, dass wir durch den inneren Sinn nur unsere eigenen „Gemütszustände“, nicht aber uns selbst als Objekte anschauen können. Demnach gebe es bei Kant keine Selbstanschauung, sondern nur die Anschauung vom inneren Zustand. Für diese These liefert Wolff das folgende Argument: Der äußere Sinn ist in Kants Philosophie bekanntlich ein Vermögen, äußere Dinge anzuschauen. Von diesen Dingen wissen wir 205 206
Vgl. Wolff 2006, S. 265-275. Wolffs Auffassung vom inneren Sinn findet sich auch in seinem anderen Aufsatz „Kants Auflösung des Leib-Seele-Problems“. Vgl. Wolff 2013, S. 53-54. Wolff 2006, S. 267.
2.3 Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
85
zwar nicht, wie sie an sich selbst beschaffen sind, aber wir können sie aufgrund unserer Art der Anschauung als Erscheinungen ansehen. Dies besagt, dass die äußeren Dinge einerseits, sofern sie „nicht bloß äußerlich angeschaut werden können“ (ebd.), Dinge an sich, andererseits, sofern sie als „Objekte[] möglicher äußerer Anschauung“ (ebd.) betrachtet werden, Erscheinungen sind. Dieses Modell ist laut Wolff auf den inneren Sinn und sein Objekt nicht anwendbar. Denn es gibt zwar in uns Gemütszustände und wir können, sofern sie Erscheinungen des inneren Sinnes sind, sinnvoll fragen, wie sie an sich beschaffen sind. Aber es gibt keine Seele an sich bzw. kein Ich an sich. Deshalb kann man nicht einmal sinnvollerweise fragen, wie ein Ich an sich beschaffen ist. Dieser Annahme zufolge gibt es für Kant auch gar kein erscheinendes Ich bzw. ein Ich als Erscheinung, obwohl viele Gemütszustände als Erscheinungen im inneren Sinn vorkommen. Daraus folgt, dass es für Kant ein Ich als Anschauungsobjekt gar nicht gibt und der innere Sinn kein Gegenstandssinn ist. Damit kann man auch sagen, dass das Ich „kein Spezialfall“ des „Ding an sich – Problems“ ist. Wolffs Argumentation stützt sich vor allem auf die Textstelle aus § 2 der transzendentalen Ästhetik: Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüth sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet, giebt zwar keine Anschauung von der Seele selbst als einem Object; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird. (A 22 f./ B 37)
Wolff hat Kants Formulierung („keine Anschauung von der Seele selbst als einem Object“) wörtlich gelesen und gelangt unausweichlich zum Verständnis, der innere Sinn habe kein Ich als Anschauungsobjekt. Soweit Wolffs Interpretation. Es ist aber kaum verwunderlich, dass Wolff aufgrund Kants transzendentaler Ästhetik die Auffassung vertritt, man könne durch den inneren Sinn nur seine eigenen Vorstellungen – vor allem die epistemisch relevanten Vorstellungen von äußeren Gegenständen – anschauen, aber niemals sich selbst als ein Objekt. Diese philosophische Idee ist bekanntlich auf David Hume zurückzuführen. In A Treatise of Human Nature schreibt Hume: For my part, when I enter most intimately into what I call myself, I always stumble upon some particular perception or other, of heat or cold, light or shade, love or hatred, pain or pleasure. I never can catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception. (Hume 2000, S. 165)
In Kantischen Worten formuliert, ist Hume der Meinung, dass wir durch den inneren Sinn uns selbst gar nicht wahrnehmen, sondern nur unsere eigenen Wahrnehmungen begreifen können. Wolffs Interpretation vom inneren Sinn stimmt offenbar mit Humes Position zum Ich überein. 207 Diese Interpretation stellt ja eine zentrale Ansicht heraus, die Kant in der transzendentalen Ästhetik vertritt: Unser innerer Zustand liege im inneren Sinn und gehöre zur seinen formalen Bedingungen, nämlich zur Zeit (vgl. A 34/ B 50). Wie Kants es selbst in dem obigen Zitat aus § 2 formuliert, schaut das Gemüt durch den inneren Sinn „seinen inneren Zustand“ (A 22/ B 37) an. Für Wolffs Interpretation spricht auch eine Textstelle aus Kants Inauguraldissertation, wo es heißt: 207
Eine ähnliche Deutung von Kants innerem Sinn vertritt auch Allison. Er schreibt: „As a result, Kant’s account of inner sense turns out to be surprisingly close to Hume’s, who famously denied that he had any impression of the self […].” (Allison 2015, S. 395)
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn Der eine dieser Begriffe [Raum und Zeit] kommt eigentlich für die Anschauung des Gegenstandes in Betracht, der andere für den Zustand, insbesondere den Vorstellungszustand. (De mundi, AA II 405)
Hier scheint Kant zu behaupten, dass der äußere Sinn ein Gegenstandssinn, der innere aber nur ein Zustandssinn ist. Ich denke, es ist unumstritten, dass der innere Sinn kein Ich zum Objekt hat, wenn man das Objekt im Sinne von äußeren Dingen strengerweise versteht. Denn etwas Unkörperliches kann keineswegs in der Weise angeschaut werden, wie jeder gleichfalls einen äußeren Gegenstand anschaut. Allerdings ist es fragwürdig, ob man sich wirklich in Kants System auf diese Gebrauchsweise des Begriffs des Objekts einschränken sollte. Meiner Ansicht nach lässt Kant in seinen Ausführungen zu, von einem Objekt, das nur in innerer Anschauung gegeben ist, zu sprechen. Diesen Punkt scheint Wolff in seiner Interpretation vom inneren Sinn zu verkennen. Geht man von Wolff aus, so wäre Kants Aussage, „[d]er innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüth sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet, giebt zwar keine Anschauung von der Seele selbst als einem Object“ (A 22 / B 37), dem Wortlaut nach schon widersprüchlich. Denn Kant würde behaupten, dass das Gemüt durch inneren Sinn einerseits sich selbst, das sich von seinem inneren Zustand abgrenzt, anschaut, andererseits sich selbst nicht als Objekt anschaut. Vielmehr ist meiner Meinung nach eine andere Lesart möglich: 208 Kant gesteht die Anschauung von sich selbst als Objekt zu, aber lehnt die Anschauung von der „Seele selbst“, genauer gesagt, der Seele an sich selbst ab. Diese Position ist in Kants System konsequent. Auch an anderen Textstellen aus der transzendentalen Ästhetik wird man leicht sehen, dass Kant eigentlich nicht bestreiten will, dass wir durch den inneren Sinn Selbstanschauung haben können. Dafür sprechen folgende Ausdrücke: „Die Zeit […] als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst“ (A 33/ B 49); „von unsrer Art, uns selbst innerlich anzuschauen“ (A 34/ B 51); „[die Zeit] als die Vorstellungsart meiner selbst als Objects anzusehen“ (A 37/ B 54); „eine Anschauung seiner selbst“ (B 68) „die Selbstanschauung des Gemüths“ (B 69). Wie man Kants Konzeption der Selbstanschauung genauer verständlich machen kann, braucht freilich eine nähere Untersuchung. Aber die obigen Äußerungen deuten schon ausdrücklich darauf hin, dass Wolffs Auffassung, der innere Sinn sei kein Gegenstandssinn, offenbar mit Kants eigener Position nicht vereinbar ist. Es ist also sinnvoll, eine alternative, besser zu den Kantischen Ausdrücken passende Lesart zu suchen. (b)
Schwierigkeiten der Anschauung des inneren Sinnes
Kant bezeichnet den inneren Sinn als ein Vermögen, „vermittelst dessen das Gemüth sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet“ (A 22/ B 37). Und die Form des inneren Sinnes bzw. die Zeit fungiert als die Form „des Anschauens unserer selbst und unseres innern Zustandes“ (A 33/ B 49). Mit diesen Überlegungen scheint Kant zu behaupten, dass wir durch den inneren Sinn sowohl uns selbst als auch unseren inneren Zustand anschauen können. Fragt man sich aber weiter, was mit dieser Behauptung genauer gemeint ist, so sind wir mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: Inwiefern ist eine Selbstanschauung möglich? Was heißt es, unseren inneren Zustand anzuschauen? 208
Ein anderer Einwand gegen Wolffs Deutung von diesem Satz vgl. Rosefeldt 2006, S. 290 f.
2.3 Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
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Ich möchte zunächst die Schwierigkeit mit dem sogenannten Zustandssinn darstellen. Es ist relativ unumstritten, Kants inneren Sinn als Zustandssinn zu bezeichnen. Denn wie schon einmal zitiert, hat Kant von vornherein in § 2 der Kritik diese Überlegung eingeführt, wo er schreibt: [E]s ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird. (A 23/ B 37)
In diesem Zitat scheint Kant zu behaupten, dass alle Vorstellungen als Gemütszustände – vor allem die Vorstellungen von äußeren Gegenständen – in den Zeitverhältnissen deswegen liegen, weil wir, sofern wir die subjektive Bedingung – die Form des inneren Sinnes – erfüllen, diese Gemütszustände anschauen. 209 Anders formuliert, schaut der innere Sinn die Vorstellungen von äußeren Gegenständen an. Das heißt, dass sich der innere Sinn noch einmal die Vorstellungen, die uns schon durch den äußeren Sinn gegeben sind, vorstellen muss. Diese Deutung, die in Kants Formulierungen leicht abzulesen scheint, lässt sich, wie schon im letzten Abschnitt erläutert, als Theorie von Vorstellungen zweiter Stufe bezeichnen. Wolff vertritt offenbar diese Theorie, indem er davon ausgeht, dass wir durch den inneren Sinn nichts anderes als unsere Gemütszustände anschauen und also diese Gemütszustände als „ein Gegenstand innerer Anschauung“ 210 angesehen werden können. Auch Allison ist der Meinung, dass es sich beim inneren Sinn um „a second-order, reflective act“ 211 handelt. Denn seiner Ansicht nach verfügt der innere Sinn nicht über sein eigenes Mannigfaltiges, sondern hat die Vorstellungen vom äußeren Sinn zum Gegenstand. 212 Der Prozess, in dem die Vorstellungen des äußeren Sinnes zum Gegenstand des inneren Sinnes gemacht werden, beschreibt Allison als „a change of epistemic focus“ und „reconceptualisation“ 213. Dies besagt, dass Allison zufolge das Wieder-Vorstellen des inneren Sinnes nicht nur nötig, sondern auch für unsere Erkenntnis entscheidend ist. Diese zweistufige Theorie der Anschauung des inneren Sinnes ist in der Kant-Literatur sehr weit verbreitet. Sie scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein. Denn Kant sagt in der transzendentalen Ästhetik explizit, dass wir durch den inneren Sinn unseren inneren Zustand anschauen, der wiederum aus nichts anderes als allen Vorstellungen – insbesondere den Vorstellungen äußerer Gegenstände – besteht. Allerdings ist diese Interpretation meiner Ansicht nach in vieler Hinsicht problematisch. Erstens ist fragwürdig, ob laut Kant der äußere Sinn allein schon die Vorstellungen von den äußeren Gegenständen bekommen kann. Denn wenn der innere Sinn diese Vorstellungen zu seinem eigenen Gegenstand macht, müssen sie vorher gegeben worden sein. Es scheint schwer zu sein, eine positive Antwort auf diese Frage in Kants transzendentaler Ästhetik zu finden (siehe 2.1 (b)). Zweitens scheint es verdächtig zu sein, dass unsere Vorstellungen wiederum noch einmal vorgestellt werden müssen. Dies würde heißen, dass sich eine innere Anschauung auf die schon vorher gegebenen Vorstellungen 209 210 211 212 213
Kant gebraucht das Wort „Zustand“ normalerweise im Singular. Aber in der Kant-Literatur wird oft seine Pluralform „Zustände“ verwendet. Damit sind, grob gesagt, Vorstellungen gemeint. Wolff 2006, S. 268. Allison 2004, S. 284. Vgl. Allison 2004, S. 279. Allison 2004, S. 284.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
bezieht, die sich unmittelbar auf Gegenstände beziehen. So würde die innere Anschauung sich nur mittelbar auf Gegenstände beziehen. Dies ist ohne Zweifel mit Kants Grundposition, alle Anschauung sei eine einzelne, sich unmittelbar auf Gegenstände beziehende Vorstellung, 214 nicht verträglich. Letztlich ist diese Theorie zwar dazu geeignet, die Zeitlichkeit der Vorstellungen äußerer Gegenstände zu erklären, aber sie scheint eine äußere Anschauung etwas komplexer zu machen. Also könnte man bedenken, ob Kant wirklich an einen solchen doppelten psychologischen Prozess gedacht hat, wenn er sagt, dass wir unseren inneren Zustand anschauen. Im letzten Abschnitt habe ich bereits gezeigt, dass man die zweistufige Theorie des inneren Sinnes durch Kants Konzeption der Selbstaffektion vermeiden kann. Damit werde ich im Folgenden diesen Punkt nicht weiter diskutieren. Wenden wir uns nun der Schwierigkeit der Selbstanschauung zu. Im Gegensatz zur Anschauung vom inneren Zustand ist mit der „Selbstanschauung“ (B 69) die „innere[] Anschauung meiner selbst“ (A 362) gemeint. Das heißt, dass ich mich selbst als ein empirisches Objekt des inneren Sinnes betrachte. Aber die innere Anschauung ist keine Anschauung von unseren Körpern, denn diese ist eine äußere Anschauung. Wie schon erwähnt, bestreitet Wolff in seiner Interpretation von Kants innerem Sinn eine solche Selbstanschauung, denn „eine Seele als Anschauungsobjekt gibt es nicht“ 215. Ebenso wenig ist Allison der Meinung, dass es sich bei Kant um „the phenomenal nature of the self“ 216 handelt. Somit gebe es kein Ich, das sich erscheinen kann. 217 Diese Interpreten räumen in Kants System eine sogenannte Selbstanschauung deshalb nicht ein, weil sie die Schwierigkeit darin sehen, wie das Ich als Anschauungsobjekt verstanden werden kann. In der Tat hat Kant selber mindestens zwei Mal ausdrücklich in der Kritik die Schwierigkeit mit der Selbstanschauung zum Ausdruck gebracht. In § 8 der zweiten Auflage der transzendentalen Ästhetik schreibt Kant: Hiebei beruht alle Schwierigkeit nur darauf, wie ein Subject sich selbst innerlich anschauen könne; allein diese Schwierigkeit ist jeder Theorie gemein. Das Bewußtsein seiner selbst (Apperception) ist die einfache Vorstellung des Ich, und wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subject selbstthätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellectuell sein. (B 68)
In § 24 der B-Deduktion heißt es: Wie aber das Ich, der ich denke, von dem Ich, das sich selbst anschauet, unterschieden (indem ich mir noch andere Anschauungsart wenigstens als möglich vorstellen kann) und doch mit diesem letzteren als dasselbe Subject einerlei sei, wie ich also sagen könne: Ich, als Intelligenz und denkend Subject, erkenne mich selbst als gedachtes Object, so fern ich mir noch über das in der Anschauung gegeben bin, nur gleich andern Phänomenen nicht, wie ich vor dem Verstande bin, sondern wie ich mir erscheine, hat nicht mehr, auch nicht weniger Schwierigkeit bei sich, als wie ich mir selbst überhaupt ein Object und zwar der Anschauung und innerer Wahrnehmungen sein könne. (B 155)
214 215 216 217
Vgl. A 19/ B 33, A 68/ B 93, A 320/ B 377. Wolff 2006, S. 267. Allison 2015, S. 394. So schreibt Allison: “Accordingly, the self cannot be said to appear to itself through inner sense; rather what appears to it are its representations of outer objects, which through a reflective act are taken as its representations in the possessive sense of belonging to itself rather than in the intentional sense as representations of itself.” (Allison 2015, S. 395)
2.3 Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
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In diesen zwei Textpassagen weist Kant darauf hin, dass mit der Selbstanschauung keine intellektuelle Anschauung von sich selbst gemeint ist. 218 Denn zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass es einen Verstand geben mag, der anschauen könnte, aber der menschliche Verstand kann nicht anschauen. Dafür spricht auch eine Passage aus der Metaphysik nach Pölitz: Behaupte ich denkende Wesen, von denen ich intellectuelle Anschauung habe; so ist das mystisch. Die Anschauung ist aber nur sensuell; denn nur die Sinne schauen an; allein der Verstand schaut nicht an, sondern reflectirt. (Metaphysik L1, AA XXVIII 207)
Dass wir Menschen keine intellektuelle Anschauung haben und das Ich der Apperzeption bzw. so etwas wie das Ich an sich in unserer sinnlichen Anschauung nicht gegeben werden kann, ist eine Grundannahme in Kants Philosophie. Somit muss die Selbstanschauung, wenn sie wirklich möglich ist, die Anschauung von dem Ich sein, das in der sinnlichen Anschauung genau dann gegeben ist, wenn unser innerer Sinn innerlich affiziert wird, nämlich eine sinnliche Selbstanschauung. Wie kann ich aber mich selbst innerlich anschauen? Auf diese Frage hat Kant hier keine eindeutige Antwort gegeben. Jede Theorie, wie Kant sagt, steht vor dieser Schwierigkeit. Im folgenden Teil werde ich versuchen, diese Schwierigkeit zu lösen. (c)
Der innere Sinn als Vermögen des empirischen Selbstbewusstseins
Wir haben schon gesehen, dass der innere Sinn äußere Gegenstände bewusst machen kann, indem wir die empirisch bewussten Vorstellungen von diesen Gegenständen dadurch erwerben, dass der innere Sinn durch die Synthesis der Einbildungskraft affiziert wird. Allerdings spielt der innere Sinn noch eine andere Rolle, wenn es sich nicht um die von mir unterschiedenen Gegenstände, sondern um mich selbst als Objekt handelt. Das heißt, dass wir uns unserer selbst auch empirisch bewusst sind, wenn wir uns durch den inneren Sinn anschauen. Doch wie ist dies möglich? Kant vertritt in seiner theoretischen Philosophie die These, dass wir uns selbst durch den inneren Sinn anschauen können. Mit anderen Worten: Es gibt für Kant eine Selbstanschauung und das Ich als Erscheinung ist das Anschauungsobjekt. Für diese Auffassung sprechen in erster Linie die folgenden Textstellen aus der transzendentalen Ästhetik: Die Zeit ist nichts anders als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst […]. (A 33/ B 49) Sie [die Zeit] ist also wirklich, nicht als Object, sondern als die Vorstellungsart meiner selbst als Objects anzusehen. (A 37/ B 54) Alles, was durch einen Sinn vorgestellt wird, ist sofern jederzeit Erscheinung, und ein innerer Sinn würde also entweder gar nicht eingeräumt werden müssen, oder das Subject, welches der Gegenstand desselben ist, würde durch denselben nur als Erscheinung vorgestellt werden können, nicht wie es von sich selbst urtheilen würde, wenn seine Anschauung bloße Selbstthätigkeit, d.i. intellectuell, wäre. (B 68) Wenn das Vermögen sich bewußt zu werden das, was im Gemüthe liegt, aufsuchen (apprehendiren) soll, so muß es dasselbe afficiren und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen, deren Form aber, die vorher im Gemüthe zum Grunde liegt, die Art, wie das Mannigfaltige im Gemüthe beisammen ist, in der Vorstellung der Zeit bestimmt; da es denn sich selbst anschauet, nicht wie es sich unmittelbar
218
Eine Auseinandersetzung damit, dass Kant in den siebziger Jahren eine intellektuelle Anschauung von uns selbst als spontaner und frei handelnder Wesen bzw. Intelligenzen behauptet, vgl. Klemme 1996, S. 123.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn selbstthätig vorstellen würde, sondern nach der Art wie es von innen afficirt wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist. (B 68 f.)
Aus diesen Zitaten sind folgende drei Punkte zu entnehmen: Erstens ist die Zeit eine subjektive Bedingung, unter der wir in der Lage sind, „uns selbst innerlich anzuschauen“ (A 34/ B 51). So muss das Ich, als Anschauungsobjekt betrachtet, „durch den innern Sinn in der Zeit vorgestellt“ (A 379) werden, wie Kant selbst in einer Reflexion sagt: „[I]ch bin in der Zeit […]. Ich schaue mich in der Zeit an.“ 219 Zweitens ist das Ich, das sich durch den inneren Sinn als ein Gegenstand vorstellen lässt, nur das Subjekt als Erscheinung, nicht so etwas wie ein Subjekt an sich. Dazu sagt Kant explizit in der eben genannten Reflexion: „Ich selbst bin Erscheinung.“ 220 Das heißt, dass wir uns selbst als Anschauungsobjekte nur nach der Art und Weise betrachten, wie wir uns erscheinen, indem wir uns innerlich affizieren lassen, aber nicht nach der Art und Weise, wie wir an uns selbst beschaffen sind. 221 Deshalb entspricht dem Ich als Erscheinung nur eine sinnliche Anschauung, nicht aber eine selbsttätige, intellektuelle Anschauung. Der Umstand, dass das Ich als Anschauungsobjekt von dem Ich an sich streng abzugrenzen ist, wird auch in einer Textpassage aus dem Opus postumum deutlich zum Ausdruck gebracht, wo Kant schreibt: Der erste Act des Erkentnisses ist das Verbum: Ich bin das Selbstbewustseyn da Ich Subject mir selbst Object bin: - Hierin liegt nun schon ein Verhältnis was vor aller Bestimmung des Subjects vorhergeht namlich das der Anschauung zu dem des Begriffes wo das Ich doppelt d.i. in zwiefacher Bedeutung genommen wird indem ich mich selbst setze d.i. einerseits als Ding an sich (ens per se) zweytens als Gegenstand der Anschauung und zwar entweder objectiv als Erscheinung oder als mich selbst a priori zu einem Dinge constituirend d.i. als Sache an sich selbst. (Op, XXII 413)
Hier spricht Kant von einem doppelten Ich bzw. dem Ich in zweifacher Bedeutung: Zum einem ist das Ich als „Gegenstand der Anschauung“ zu betrachten; zum anderen ist das Ich als „Ding an sich (ens per se)“ anzusehen. Wir brauchen hier nicht weiter zu verfolgen, was eigentlich das Ich an sich in Kants System ist. Für meinen Zweck reicht es schon aus, darauf hinzuweisen, dass das Ich als Anschauungsobjekt keineswegs als das Ich an sich verstanden werden darf. Drittens ist eine Selbstanschauung nur dann möglich, wenn der innere Sinn innerlich bzw. „von innen“ affiziert wird. Auf diesen Punkt möchte ich hier anhand des letzten der oben zitierten Passagen aus der transzendentalen Ästhetik etwas ausführlicher eingehen. Besonders erläuterungsbedürftig ist die Kantische Aussage: Wenn das Vermögen sich bewußt zu werden das, was im Gemüthe liegt, aufsuchen (apprehendiren) soll, so muß es dasselbe afficiren und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen. (B 68)
Zunächst ist festzulegen, worauf sich die Wörtchen „es“ und „dasselbe“ beziehen. Nach Vaihingers Kommentar bedeutet „es“ „das, was im Gemüthe an sich ist und geschieht“ und „dasselbe“ bezieht sich auf „das Vermögen, sich bewußt zu werden, eben bei uns der innere 219 220 221
R 5655, AA XVIII 314. R 5655, AA XVIII 316. Kant vertritt diese Auffassung auch in der transzendentalen Deduktion und in dem Paralogismus Kapitel. Vgl. B 153, B 156, B 159, A 359, A 379.
2.3 Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
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Sinn“ 222. Es ist nach der Grammatik auch nicht ausgeschlossen, dass „es“ in dem Satz sich auf „Gemüt“ oder das Aufsuchen bezieht. Aber sinngemäß will Kant ausdrücken, dass der innere Sinn dadurch affiziert wird, dass das Gemüt das gegebene Mannigfaltige aufsucht oder apprehendiert. Und nach Vaihinger mag das Wort „aufsuchen“ in dem Satz ein Druckfehler sein. Er schlägt vor, dass dieses Wort nach Kants Sprachgebrauch in den anderen Kontexten als „aufnehmen“ korrigiert werden sollte. 223 Somit kann man Kants Gedanken in dem zitierten Satz so spezifizieren: Wenn das Gemüt das vorher „ohne Spontaneität“ (B 68) gegebene Mannigfaltige aufnimmt, affiziert diese Tätigkeit des Gemüts den inneren Sinn. Dabei muss die Form, die auch „vorher im Gemüthe zum Grunde liegt“, als eine subjektive Bedingung fungieren, unter der die Tätigkeit, das Mannigfaltige zu apprehendieren, stattfinden kann. Nun hat diese Affektion des inneren Sinnes durch die Tätigkeit des Gemüts zur Folge, dass das Gemüt eine Selbstanschauung hervorbringt, weil ein selbsttätiges Subjekt durch seine eigene Tätigkeit den inneren Sinn affiziert. Wie Vaihinger erläutert, affiziert der aktive Teil des Subjekts durch seine eigene Tätigkeit seinen eigenen passiven Teil. 224 Folglich kann man sagen, dass die Selbstanschauung wie bei der Anschauung vom inneren Zustand ebenso auf der Selbstaffektion beruht. Die Affektion, von der in diesem Satz die Rede ist, ist offenbar auf Kants Überlegung in B 67 zurückzuführen, wo er davon ausgeht, dass das Gemüt sich durch sein Setzen bzw. sich selbst affizieren lässt. Die Tatsache, dass wir uns selbst aufgrund von der Selbstaffektion anschauen können, stellt Kant auch am Ende von § 24 der B-Deduktion heraus. Dazu schreibt er: […] wenn wir von den letzteren einräumen, daß wir dadurch Objecte nur so fern erkennen, als wir äußerlich afficirt werden, wir auch vom inneren Sinne zugestehen müssen, daß wir dadurch uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst afficirt werden, d.i. was die innere Anschauung betrifft, unser eigenes Subject nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist, erkennen. (B 156, vgl. auch B 152 f.)
Da wir im letzten Abschnitt (2.2) erläutern haben, dass sich die Tätigkeit, von der Kant in der transzendentalen Ästhetik spricht, mit der figürlichen Synthesis, mit der Kant sich in § 24 beschäftigt, gleichsetzen lässt, brauchen wir hier das Verhältnis von Selbstaffektion und Selbstanschauung nicht weiter zu verfolgen. Vielmehr möchte ich die für meinen Zweck wichtigere Frage stellen: Wie kann man das Ich als Anschauungsobjekt besser verstehen? Dass es aus Kants Sicht ein empirisches Ich als Anschauungsobjekt gibt, lässt sich durch Kants Formulierungen aus verschiedenen Texten belegen. Ich möchte hier zwei Argumente geben. Das erste Argument stützt sich auf eine Reihe von Kants Äußerungen in seinem Spätwerk Opus postumum 225. Kant geht davon aus, dass „das Subject […] ihm selbst Sinnenobject
222 223 224
225
Vaihinger 1892, Bd. 2, S. 481. Vgl. Vaihinger 1892, Bd. 2, S. 481. Vgl. „Indem also das Gemüth, d. h. der active Theil desselben, durch seine ‚Thätigkeit‘ eine ‚Vorstellung setzt‘, afficirt es durch diese seine eigene Thätigkeit zugleich seinen eigenen passiven Theil, das aufnehmende Organ, den inneren Sinn. [..] Dadurch eben sind wir im Stand, den Inhalt jener Thätigkeit uns in der Form der Zeit zum Bewusstsein zu bringen; so erhalten wir eine „innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subject vorhergegeben wird.“ (Vaihinger 1892, Bd. 2, S. 481) Außer den zitierten vgl. auch andere Textstellen in Op: AA XXII 67, AA XXII 85, AA XXII 107, AA XXII 442.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
[ist]“ 226. So hat man eine „Selbstanschauung“ 227. Kant stellt das Ich als Anschauungsobjekt dem Ich als Gegenstand des Verstandes gegenüber. Dazu schreibt er: Ich bin mir meiner selbst als denkenden Subjects Ich bin mir meiner selbst als Objects der Anschauung || bewust|. (Op, AA XXII 22) 1.) Ich bin 2. mir selbst so wohl ein Gegenstand des Denkens als der inneren Anschauung ein Sinnenobject d.i. der Anschauung. (Op, AA XXII 105) Ich bin mir meiner selbst bewust (apperceptio). Ich denke d.i. ich bin mir selbst ein Gegenstand des Verstandes. Aber ich bin mir auch ein Gegenstand der Sinne und der empirischen Anschauung (apprehensio). (Op, AA XXII 119)
Es ist hier leicht zu sehen, dass Kant auf zweierlei Weise von dem Ich spricht: Zum einem bin ich mir meiner selbst als eines denkenden Subjekts bewusst und ich weiß auch, dass ich ein Gegenstand des Denkens bin. Das Ich in diesem Sinne kann offenbar in keiner Anschauung gegeben werden. Zum anderen weiß ich, dass ich ein Objekt der inneren empirischen Anschauung bin. Was ich innerlich anschauen kann, ist nicht nur mein innerer Zustand, sondern auch das Ich, dem dieser Zustand zukommt. Allerdings ist bemerkenswert, dass das Ich als Anschauungsobjekt nicht in dem Sinne zu verstehen ist, dass uns ein Objekt wie äußere Gegenstände auf passive Weise gegeben ist, sondern in dem Sinne, dass ich mich selbst zum Anschauungsobjekt mache. Dies stellt Kant in den folgenden zwei Textpassagen heraus: Ich bin existirend enthält die Apprehension d.i. ist nicht blos ein subjectives Urtheil sondern macht mich selbst zum Object der Anschauung im Raume u. der Zeit. (Op, AA XXII 96) Raum u. Zeit sind also nicht Gegenstände der Anschauung als auf Warnehmung (empirische Vorstellung mit Bewustseyn) beruhender Vorstellung existirender Dinge sondern Anschauung selbst deren Form | die der drey Raumes// und der Einen Zeitabmessung a priori gegeben ist wodurch das Subject sich selbst zum Sinnengegenstande constituirt. (Op, AA XXII 17 f.)
Dass das Subjekt sich selbst zum „Sinnengegenstande“ im Raum und in der Zeit konstituiert, hängt offenbar mit Kants Konzeption der Selbstaffektion zusammen. Wie schon erläutert, lässt das Gemüt sich dadurch affizieren, dass es seine Vorstellungen in der Zeit setzt. Aufgrund dieser Affektion schauen wir uns selbst an. Somit ist das Ich als Anschauungsobjekt nicht einfach wie bei der Anschauung äußerer Gegenstände in der Anschauung gegeben, sondern das Ich macht sich selbst zum Objekt, indem es durch seine eigene Tätigkeit affiziert wird. 228 Kants Ausführungen in Opus postumum deuten darauf hin, dass er sogar am Ende seines Lebens immer noch darauf insistiert, dass das Ich als ein Anschauungsobjekt betrachtet werden kann. Das zweite Argument lautet: Das Ich als Anschauungsobjekt ist kein denkendes Subjekt, das ohne Körper existieren könnte, sondern in dem Sinne zu verstehen, dass es nichts anderes als das Ich ist, das in jedem einzelnen Menschen in Betracht kommt. In Kants Worten, das Ich ist in diesem Fall „Erscheinung des inneren Sinnes (Seele nach der empirischen Psycholo-
Op, AA XXII 443. Op, AA XXII 443. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Selbstanschauung im Op vgl. Choi 1996, S. 63-73. 228 Eine ausführliche Untersuchung zu Kants Selbstsetzungslehre in Opus postumum vgl. Förster 1989, S. 217238. 226 227
2.3 Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
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gie)“ 229 bzw. das „Ich als das Object der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes“ 230. Das Ich als Mensch bezeichnet Kant in der Vorlesungen über Metaphysik nach Pölitz auch als das „Ich in sensu latiori“. 231 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mit der Selbstanschauung nicht die Anschauung von Körper gemeint ist, obwohl das Ich hier im Sinne vom Menschen betrachtet wird. Vielmehr handelt es sich bei der Selbstanschauung um das Ich, das zwar jedenfalls in Verbindung mit dem Körper steht, aber doch im Hinblick auf seine unkörperliche Eigenschaften als ein denkendes, anschauendes Ich betrachtet werden kann. Dazu schreibt Kant zu Beginn des Paralogismus-Kapitels: 232 Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes und heiße Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper. (A 342/ B 400)
Ich teile Wolffs Deutung, dass es in dieser Kantischen Aussage um das Ich als einen Menschen geht. 233 Denn Kant macht die Unterscheidung zwischen Seele und Körper mit der Voraussetzung, dass beide in Verbindung stehen müssen. Für Kant ist es nicht sinnvoll zu sagen, dass es einen Körper ohne Seele gibt. Auch will Kant nicht behaupten, dass es eine Seele ohne Körper gibt, weil er die Rede von der Seele außerhalb des Lebens im Paralogismus-Kapitel eindeutig ablehnt. Jedoch kann ich Wolff nicht zustimmen, wenn er sagt, die denkende Seele könne nicht das Objekt des inneren Sinnes sein, sondern die Gemütszustände seien „ein Gegenstand der inneren Anschauung“ 234. Meiner Ansicht nach kann man hier Kants Formulierung wörtlich nehmen, und zwar Kant will tatsächlich ausdrücken, dass das denkende Ich, wenn von dem Körper dieses Menschen abstrahiert wird, ein Gegenstand des inneren Sinnes ist. Dieser Gegenstand ist nichts anderes als das Ich, das jeder Mensch bei der Selbstbeobachtung von dem Standpunkt der ersten Person aus wahrnimmt. Das Ich in diesem Sinne bezeichnet Kant auch als „das psychologische Ich“ oder „das sinnliche Ich“, mit dem man sich in der empirischen Psychologie oder in der Anthropologie beschäftigt. Diese Überlegung zeichnet sich besonders deutlich in der folgenden Passagen aus Kants Preisschrift aus: Das Ich aber in der zweyten Bedeutung (als Subject der Perception; das psychologische Ich, als empirisches Bewußtseyn, ist mannigfacher Erkenntniß fähig, worunter die die Form der inneren Anschauung, die Zeit, diejenige ist, welche a priori allen Wahrnehmungen und deren Verbindung zum Grunde liegt, deren Auffassung (apprehensio) der Art, wie das Subject dadurch afficirt wird, d.i. der Zeitbedingung gemäß ist, indem das sinnliche Ich vom Intellectuellen, zur Aufnahme derselben ins Bewußtseyn, bestimmt wird. (AA XX 270)
229 230 231
232 233 234
Prolegomena, AA IV 337. Anthropologie, AA VII 134 Anm. Vgl. „Dieses Ich kann im zweifachen Verstande genommen werden: Ich als Mensch, und Ich als Intelligenz. Ich, als ein Mensch, bin ein Gegenstand des inneren und äußeren Sinnes. Ich als Intelligenz bin ein Gegenstand des innern Sinnes nur; ich sage nicht: ich bin ein Körper, sondern: das an mir ist, ist ein Körper. Diese Intelligenz, die mit dem Körper verbunden ist, und den Menschen ausmacht, heißt Seele; aber allein betrachtet ohne den Körper heißt sie Intelligenz.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 225) „In sensu stricto nehme ich das Selbst, sofern ich alles das weglasse, was in sensu latiori zu meinem / Selbst gehört. Das Ich in sensu latiori drückt aber mich als den ganzen Menschen mit Seele und Körper aus.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 265) Im Paralogismen-Kapitel spricht Kant an zahlreichen Textstellen davon, dass die Seele der Gegenstand des inneren Sinnes ist. Vgl. A 357, A 360, A 361, A 362, A 368, A 370, A 385, B 399, B 402, B 415. Vgl. Wolff 2006, S. 267-268. Wolff 2006, S. 268.
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2 Zwei Begriffe vom inneren Sinn
Aus den obigen zwei Argumenten geht hervor, dass Kant in seinem System gar nicht bestreitet, dass es ein Ich gibt, das man als Anschauungsobjekt betrachten kann. Jedoch hat er dieses Ich nicht zum Hauptthema gemacht, denn in seiner theoretischen Philosophie steht das Ich der transzendentalen Apperzeption im Zentrum. Dieses transzendentale Ich darf man nicht mit dem Ich als Anschauungsobjekt verwechseln. Die Seele als Gegenstand des inneren Sinnes kann man als eine solche Entität verstehen, die nicht körperlich ist und die dennoch in der Zeit existieren kann, also das reale Ich, das wirklich die mentalen Aktivitäten durchführt. Wir können diese Entität erleben und ihr alle mentalen Zustände und Aktivitäten in der Erfahrung zusprechen. Von dieser Entität kann man innere Erfahrung haben. Folglich kann diese Entität als das empirische Ich, das für uns erkennbar ist und mit dem die empirische Psychologie beschäftigt ist, bezeichnet werden. Was am Gegenstand des inneren Sinnes besonders ist, besteht darin, dass der Gegenstand des inneren Sinnes nur für die erste Person zugänglich ist. Ich kann zwar den Körper eines anderen Menschen durch die äußeren Sinne anschauen, aber ich kann sein „sich selbst“ und seinen inneren Zustand nicht anschauen. Diese Anschauung von sich selbst ist nur im Fall von der Ersten-Person-Perspektive möglich. Dass ich mich selbst und meinen inneren Zustand anschaue, heißt, dass diese Anschauung nicht auf gleiche Weise im inneren Sinn eines anderen Menschen stattfinden kann. Beispielsweise können wir sagen, dass die Weise, wie der Mensch A sich selbst und seinen eigenen Zustand anschaut, ganz anders als die Weise ist, wie der Mensch B sich selbst und seinen eigenen Zustand anschaut. Mit andern Worten: Diese zwei Weisen gehören zwar beide zur inneren Anschauung, aber sie sind zwei verschiedene mentale Prozesse, die jeweils für sich selbst zugänglich sind und die auf andere Menschen nicht übertragbar sind. Bei den äußeren Gegenständen verhält es sich ganz anders. Die Anschauungen von den Gegenständen der äußeren Sinne sind intersubjektiv. D. h. verschiedene Subjekte können von einem äußeren Gegenstand gleiche Vorstellung gewinnen. Z. B. den Tisch, den ich anschaue, kann ein anderer Mensch auf gleiche Art und Weise anschauen. Also geht es beim Gegenstand des inneren Sinnes um die Psychologie, aber bei den Gegenständen der äußeren Gegenstände um die Physik. Nun können wir allerdings noch einen Schritt weitergehen. Der innere Sinn hat nämlich nicht nur das empirische Ich zum Gegenstand seiner inneren Anschauung, sondern macht dieses Ich auch auf empirische Weise bewusst. Zum Beispiel schreibt Kant in dem Opus postumum: „Ich bin mir meiner selbst als Objects der Anschauung || bewust|.“ 235 Dies lässt sich dadurch begründen, dass der innere Sinn, wie oben erläutert, als eine Vereinigung von Rezeptivität und Spontaneität zu verstehen ist. Kants Gedankengang kann man so zusammenfassen: Wenn wir durch den Verstand bzw. die figürliche Synthesis affiziert werden, schauen wir uns selbst durch den inneren Sinn an, indem wir uns vermittelst einer Introspektion als Objekte betrachten, die mannigfaltige Vorstellungen haben und Handlungen ausführen. Dabei sind wir uns zugleich unserer selbst dadurch bewusst, dass ich weiß, dass ich ein Mensch bin, der einen Körper hat und sich von anderen räumlichen Gegenständen unterscheidet. Daraus ergibt sich, dass das empirische Ich ein Objekt des inneren Sinnes bzw. des empirischen Selbstbewusstseins insofern ist, als es in Verbindung mit einem organischen Körper steht und sich 235
Op, AA XXII 22.
2.3 Ist der innere Sinn nicht Gegenstandssinn?
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damit von anderen Menschen unterscheiden kann. Das ist, wie erwähnt, nichts anderes als das psychologische Ich oder das Objekt der empirischen Psychologie. Dazu schreibt Kant in der Preisschrift: Die Psychologie ist für menschliche Einsichten nichts mehr, und kann auch nichts mehr werden, als Anthropologie, d.i. als Kenntniß des Menschen, nur auf die Bedingung eingeschränkt, sofern er sich als Gegenstand des inneren Sinnes kennet. Er ist sich selbst aber auch als Gegenstand seiner äußern Sinne bewußt, d.h. er hat einen Körper, mit dem der Gegenstand des inneren Sinnes verbunden, der die Seele des Menschen heißt. (AA XX 308)
Schließlich kann man sagen, dass der innere Sinn bei Kant nicht nur ein Vermögen ist, sich selbst anzuschauen, sondern auch ein Vermögen, durch das wir uns sowohl unserer selbst als auch der von uns unterschiedenen Gegenstände bewusst sind. Dieser Gedanken steht, wie wir gesehen haben (siehe 1.3), mit Kants Konzeption in Einklang, dass die transzendentale Apperzeption der empirischen Apperzeption zugrunde liegt.
Zweiter Teil Identität und Einheit
3 Identität des Selbstbewusstseins: „Eines in Vielem“ 236 Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass die Identität ein wesentlicher Aspekt des Selbstbewusstseins ist. Kants Begriff des Selbstbewusstseins impliziert, dass ich mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in verschiedenen Vorstellungen bewusst bin. Wenn man erklären will, was Kants Selbstbewusstsein ist, ist es daher nötig, deutlich zu machen, was Kant unter der Identität des Selbstbewusstseins versteht und wie er dafür argumentiert. Dies ist die Aufgabe des vorliegenden Kapitels. Betrachten wir nun zuerst einmal, warum Kants Theorie über die Identität des Selbstbewusstseins einer Untersuchung bedarf. Meiner Ansicht nach ist Kants Theorie mindestens an drei Punkte unklar: 1) Kant hat im Kontext der transzendentalen Deduktion der Kategorien nicht klar gemacht, was eigentlich die numerische Identität der Apperzeption ist. Wie diese Identität exegetischerweise besser verstanden werden kann, ist auch in der Kant-Literatur sehr umstritten. Geht es Kant um ein besonderes Bewusstsein, das jederzeit unverändert bleibt? Was heißt es dann genauer, dass ein wirkliches Bewusstsein identisch bleibt? Besteht die Identität der Apperzeption wirklich darin, dass alles Bewusstsein über eine allgemeine Form verfügt? Wenn das Identische beim Selbstbewusstsein das Ich ist, wie ist überhaupt das Bewusstsein der Identität des Ich verständlich? Diese Fragen könnten deswegen aufgeworfen werden, weil Kant den Begriff der numerischen Identität der Apperzeption nicht genug erklärt hat. 2) Kant hat zwar die Identität der Apperzeption in der transzendentalen Deduktion der Kategorien zu begründen versucht, aber seine Argumentation scheint so komprimiert zu sein, dass sie schwer zu durchschauen ist. Dieser Umstand ist verständlich, weil Kants Absicht nicht eine Theorie des Selbstbewusstseins, sondern der Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien ist. Genauer gesagt: Kant hat nicht explizit gemacht, wie das Bewusstsein der Identität des Ich möglich ist. Und dabei scheint er seinen Grundgedanken, dass zwischen dem Bewusstsein der Identität und dem Bewusstsein der Synthesis ein Bedingungsverhältnis besteht, nicht genug entwickelt zu haben. Darüber hinaus führt die Unklarheit von Kants Deduktionstexten dazu, dass man oft auf die Rolle, die das Bewusstsein der Identität des Ich für die transzendentale Deduktion spielt, nicht Wert gelegt hat. 3) Wenn die Identität der Apperzeption bedeutet, dass ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in allen meinen Vorstellungen bewusst bin, scheint Kant in Bezug auf die Frage, was das identische Ich ist, in Texten zu schwanken. Was Kants eigentliche Position und die exegetische Konsistenz seines Systems angeht, stimmen viele Kommentatoren darüber nicht ein. 237 Aufgrund dieser sowohl systematischen als auch exegetischen Unklarheit von Kants Theorie möchte ich nun die Identität des Selbstbewusstseins vor allem im Rahmen von Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien untersuchen. Ich werde in drei Abschnitten vorgehen: Zuerst werde ich den Begriff der numerischen Identität erläutern (3.1). Anschließend 236 237
„Die analytische Einheit (identitas, Einerleyheit) u. die synthetische da nicht Eines in Vielem sondern Vieles in Einem vorgestellt wird.“ (Op, AA XXII 41) Literatur vgl. 3.3.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_4
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3 Identität des Selbstbewusstseins
werde ich dafür argumentieren, dass sich Kants Selbstbewusstsein bzw. das Bewusstsein der Identität des Ich durch Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen besser erklären lässt. Außerdem werde ich versuchen, Kants Hauptthese über Identität und Synthesis zu begründen, und dann anhand von Kants Argumenten darauf eingehen, dass die Identität der Apperzeption als Ausgangspunkt der transzendentalen Deduktion fungiert (3.2). Schließlich werde ich diskutieren, was Kant in verschiedenen Phasen unter dem stehenden und bleibenden Ich versteht (3.3). 3.1
Der Begriff der numerischen Identität der Apperzeption
Bekanntlich spricht Kant dem Selbstbewusstsein bzw. der Apperzeption die Eigenschaft der Identität zu. Er charakterisiert die Identität des Selbstbewusstseins in der A-Deduktion als „numerisch“ 238 und stellt mehrmals in beiden Versionen der Deduktion heraus, dass diese Identität „durchgängig“ 239 ist. Auch benutzt Kant die Termini wie „Identität des Subjects“ (B 133), „Identität seiner selbst“ (A 116), „Identität des Bewußtseins“ (B 133), „Bewußtsein der Identität seiner selbst“ (A 108). In manchen Kontexten scheint Kant die Identität der Apperzeption einfach mit der analytischen Einheit der Apperzeption gleichzusetzen. 240 Dieser Umstand deutet darauf hin, dass Kants Gebrauch der Terminologie erläuterungsbedürftig ist. Mit dem Begriff der numerischen Identität meint Kant offenbar nicht den Fall, dass zwei verschiedene Dinge insofern identisch sind, als sie gleiche reale Eigenschaften haben. Gibt es beispielsweise im Raum zwei gleiche Kugeln, die man in Bezug auf ihre Eigenschaften gar nicht voneinander unterscheiden kann, so lassen sie sich zwar wegen der gleichen Eigenschaften als identisch ansehen, aber diese zwei Kugeln sind für sich genommen nicht numerisch identisch. Denn wir können eine von der anderen durch die Stellen, die sie im Raum einnehmen, unterscheiden. 241 Vielmehr ist mit dem Begriff der numerischen Identität der Fall gemeint, dass ein einzelnes Ding für sich allein identisch ist, wie Kant in der Metaphysik Dohna sagt: „Dinge die numerisch einerley sind können nicht doppelt seyn.“ 242 Dies besagt, dass die numerische Identität nur einem Individuum zugesprochen werden kann. Dafür spricht Kants Aussage aus einer Reflexion: Numerische Identitaet ist die Einheit des Individui: dessen, was in Verschiedenen Beziehungen als Viel betrachtet worden. (R 6093, AA XVIII 449)
Somit verwendet Kant in den Vorlesungsschriften auch den Ausdruck „numerica Identitas der individuorum“ 243. Laut Kant ist die numerische Identität der räumlichen Dinge unproblematisch. Denn der berühmte Satz der Antike hat zwar behauptet, dass „alles fließend und nichts in der Welt beharrlich und bleibend sei“ (A 364). Aber Kant geht davon aus, dass die numeri238 239 240 241
242 243
Vgl. A 107, A 113. Vgl. A 112, A 116, B 133, B 135. Vgl. B 133, AA XXII 41. Spezifische Beispiele finden sich auch in Kants Ausführungen in den Prolegomena in § 13. Dort argumentiert Kant dafür, dass zwei Dinge, die in allen Stücken völlig einerlei sind, nur durch das äußere Verhältnis im Raum voneinander unterschieden werden können (vgl. AA IV 285-286). Metaphysik Dohna, AA XXVIII 645. Metaphysik Dohna, AA XXVIII 645.
3.1 Der Begriff der numerischen Identität der Apperzeption
101
sche Identität allen äußeren Dingen im Raum problemlos zugeschrieben werden kann, wenn man zwischen dem Beharrlichen als Subjekt und dem Wandelbaren als Bestimmung unterscheidet. Denn ein Ding als Substanz ist numerisch identisch, auch wenn seine Akzidenzen veränderlich sind. 244 Nun geht es bei der Identität des Selbstbewusstseins nicht um die numerische Identität der äußeren Gegenstände, sondern um die numerische Identität eines bloß denkenden, unkörperlichen Wesens. Damit bleibt noch die Frage zu beantworten, was es genau heißt, dass ein denkendes Wesen über die numerische Identität verfügt. Um Kants Theorie der Identität des Selbstbewusstseins besser zu verstehen, möchte ich dieser Frage in diesem Abschnitt nachgehen. Im Folgenden werde ich zunächst Henrichs Untersuchung kurz darstellen (a). Anschließend werde ich darauf eingehen, dass die Identität der Apperzeption bei Kant als das Bewusstsein der Identität des Ich verstanden werden sollte (b). Schließlich werde ich erklären, warum sich die analytische Einheit der Apperzeption mit der Identität der Apperzeption gleichsetzen lässt (c). (a)
Henrichs Untersuchung der numerischen Identität
Um Kants Begriff der numerischen Identität besser zu verstehen, möchte ich hier kurz Henrichs Untersuchungen darstellen. Denn in der Literatur über Kants Begriff der Identität des Selbstbewusstseins stammt die prominenteste Untersuchung aus Dieter Henrich. 245 Er geht davon aus, dass die Identität des Selbstbewusstseins der Schlüssel zum Verständnis der transzendentalen Deduktion ist. Somit legt er in der Auslegung der Deduktionsargumente auf diesen Anhaltspunkt der Identität viel Wert. Henrichs Grundidee kann man folgendermaßen zusammenfassen: 1) Er beschäftigt sich vor dem Hintergrund der vorkantischen Philosophie mit der Bedeutung des Identitätsbegriffs, den Kant in der transzendentalen Deduktion gebraucht. Diese historische Untersuchung liefert uns eine gute Übersicht über diesen Begriff in der philosophischen Tradition. Damit können wir besser die Rolle verstehen, die der Identitätsbegriff in Kants Philosophie spielt. 2) Henrich interpretiert die Identität als einen Formcharakter des Selbstbewusstseins. Aufgrund dieser Wichtigkeit der Identität bezeichnet er das Selbstbewusstsein als Identitätsprinzip. Demnach gewinnt die Identität des Selbstbewusstseins in der transzendentalen Deduktion einen Vorrang. 3) Henrich hat versucht, jeweils ausgehend von der Einheit und der Identität des Selbstbewusstseins Kants Argumentationsgang der transzendentalen Deduktion zu rekonstruieren. Und letztlich zieht er die Schlussfolgerung, dass eine gelungene Deduktion nicht auf der Einheit des Selbstbewusstseins beruhen kann, sondern der Ausgangspunkt eines überzeugenden Deduktionsgangs die Identität der Apperzeption sein muss. 244
245
Dazu schreibt Kant zu Beginn des dritten Paralogismus: „Wenn ich die numerische Identität eines äußeren Gegenstandes durch Erfahrung erkennen will, so werde ich auf das Beharrliche derjenigen Erscheinung, worauf als Subject sich alles Übrige als Bestimmung bezieht, Acht haben und die Identität von jenem in der Zeit, da dieses wechselt, bemerken.“ (A 361 f.) Henrichs Untersuchungen über die Identität bestehen hauptsächlich aus einem Buch und zwei Aufsätzen: Identität und Objektivität – Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion (1976); „‚Identität‘ – Begriffe, Probleme, Grenzen“ (1979, S. 133-186) und „Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion“ (1988, S. 39-70).
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3 Identität des Selbstbewusstseins
Mit diesem Überblick über Henrichs Untersuchungen möchte ich noch näher auf seine Interpretation des Identitätsbegriffs eingehen. Um deutlich zu machen, in welchem Sinne Kant den Identitätsbegriff verwendet, entwickelt Henrich in seinem Buch Identität und Objektivität (1976) eine historische Erläuterung zur numerischen Identität. 246 Er betrachtet den Begriffsgebrauch der Identität von Leibniz, Baumgarten und Crusius und dadurch fasst er zwei Begriffe der numerischen Identität zusammen. 1) Der strikte Begriff numerischer Identität. Der Vertreter dieser Behauptung ist Leibniz. Nach Leibniz sind, so Henrich, „zwei Objekte dann numerisch identisch, wenn sie genau die gleichen Eigenschaften haben. Solche Objekte können deshalb numerisch identisch genannt werden, weil sie in Wahrheit nur ein einziges Objekt sind, das unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird“ 247. Also ist die numerische Identität totale Identität, die dem Einzelnen zuzusprechen ist. Offensichtlich verfügen nur die Monaden über diese strikte Identität. Spricht man dem Selbstbewusstsein die Identität in diesem Sinne zu, dann können wir sagen, dass das Selbstbewusstsein als wirkliches Einzelnes jederzeit unwandelbar ist. Henrich ist der Meinung, dass es exegetisch nicht ausgeschlossen ist, Kants Identitätsbegriff gewissermaßen im Sinne von strikter Identität aufzufassen. Allerdings weist er weiter darauf hin, dass sich aus einer solchen Identität in der Tat keine überzeugende Deduktionsstrategie ergeben kann. Somit ist diese Überlegung nicht zutreffend. 2) Der gemäßigte Begriff numerischer Identität. Anders als Leibniz geht Crusius davon aus, dass man von der numerischen Identität in Bezug auf den Wechsel der Zustände sprechen muss. Henrich schreibt: „Einzelne Dinge können im Wechsel ihrer Zustände dieselben sein, solange einige der für sie konstitutiven Eigenschaften unverändert bleiben und/oder solange das betreffende Ding im kontinuierlichen und niemals totalen Wechsel seiner Zustände ununterbrochen fortdauert.“ 248 Kommt die Identität als solche dem Selbstbewusstsein zu, dann ist es naheliegend, dass das Subjekt im Vergleich zum Wechsel seiner Zustände unverändert bleibt. Laut Henrich lässt sich mit Hilfe von dieser gemäßigten Identität ein Deduktionsgang aufbauen. Also neigt Henrich dazu, Kants Identitätsbegriff in diesem Sinne zu verstehen. Nach zwölf Jahren beschäftigte Henrich sich noch einmal mit der Bedeutung von numerischer Identität in seinem Aufsatz über die Identität des Subjekts (1988). 249 In dieser Untersuchung benutzt er weiter seine historische Forschungsmethode für die philosophischen Schlüsselbegriffe. Damit verfolgt er diesen Begriff in die vorkantische Tradition, also in die Wolffschule. Henrichs Betrachtung zufolge stammt Kants Identitätsbegriff aus Christian Wolff. Wolff versteht die numerische Identität als die totale Identität des Einzeldinges. Kant spricht nach der Vorgabe der Wolffschule dem Selbstbewusstsein die numerische Identität zu, die einem einzelnen Ding zukommt. Allerdings verlagerte Kant den Identitätsbegriff aus der Ontologie in die Logik. D. h. in der Wolffschule ist die Identität ein Grundbegriff eines Kapitels der Ontologie, aber bei Kant gehört er zur Logik. Aufgrund dieser Verlagerung des theoretischen Ortes des Identitätsbegriffs lässt sich die numerische Identität als logische Identität ver246 247 248 249
Vgl. Henrich 1976, S. 76-79. Henrich 1976, S. 76 f. Henrich 1976, S. 78. Vgl. Henrich 1988, S. 51-56. Im Jahre 1979 hatte Henrich noch im Allgemeinen den Identitätsbegriff in vielen wissenschaftlichen Bereichen behandelt. Vgl. Henrich 1979, S. 133-186.
3.1 Der Begriff der numerischen Identität der Apperzeption
103
stehen. Und die Zeitbedingungen können freilich diese Identität des Selbstbewusstseins nicht berühren. Henrichs Untersuchung hat einen großen Beitrag zum Verständnis von Kants Identitätsbegriff geleistet. Im Vergleich zu seiner Interpretation in 1976 ist meines Erachtens die in 1988 neu verfasste Interpretation klarer und zutreffender. (b)
Das Bewusstsein der Identität des Ich
Tenor der obigen Darstellung war, dass man genau dann berechtigterweise vom Begriff der numerischen Identität Gebrauch machen kann, wenn es sich um ein identisches Individuum handelt. Überträgt man diese Überlegung auf Kants Theorie des Selbstbewusstseins, so scheint sich zu ergeben, dass das Selbstbewusstsein ein Individuum wäre, weil Kant ihm die numerische Identität zuspricht. Für diese Auffassung sprechen freilich einige Textstellen. Beispielsweise bezeichnet Kant die Apperzeption in der A-Deduktion als ein „unwandelbare[s] Bewußtsein“ (A 107). Und in der B-Deduktion nennt er das Selbstbewusstsein „ein und dasselbe“ (B 132). Dies scheint zu besagen, dass Kants Selbstbewusstsein als ein identischer Sachverhalt oder so etwas wie eine Entität verstanden werden sollte. Aber mir scheint es schwer, diese Auffassung verständlich zu machen. Denn zum einen kann ein Bewusstsein oder ein Selbstbewusstsein kein mentaler Vorgang oder Zustand sein, der in der Zeit jedenfalls unverändert bleibt. Zum anderen scheint es auch merkwürdig zu sein, Kants Selbstbewusstsein als ein unwandelbares Individuum anzusehen. 250 Was wir ein Individuum nennen und damit naheliegenderweise als numerisch identisch bezeichnen können, kann vielmehr beim Selbstbewusstsein nur ein denkendes Subjekt bzw. ein Ich sein, genauso wie äußeren einzelnen Gegenständen die numerische Identität zugesprochen wird. Geht man von diese Annahme aus, so ist genauer zu sagen, dass aus Kants Sicht das, was als numerisch identisch bezeichnet wird, das Objekt des Selbstbewusstseins bzw. „das Ich der Apperzeption“ (B 407) sein muss. Dass das Selbstbewusstsein als identisch oder unwandelbar anzusehen ist, lässt sich demnach darauf zurückführen, dass das Objekt des reinen Selbstbewusstseins oder das, dessen man sich bewusst ist, ein identisches Ich ist. Aufgrund dieser Überlegung möchte ich im Folgenden so plausibel wie möglich erläutern, was eigentlich Kant mit der numerischen Identität der Apperzeption meint. Wie schon erwähnt, spricht Kant terminologisch sowohl von der „Identität des Subjects“ (B 133) als auch von dem „Bewußtsein der Identität seiner selbst“ (A 108). Und er scheint die erstere von der letzteren nicht – zumindest nicht explizit – abzugrenzen. Um Kants Terminologie deutlich zu machen, ist es meiner Ansicht nach sinnvoll, zwischen einer ontologischen Hinsicht und einer epistemologischen Hinsicht zu unterscheiden. 251 Was die erstere betrifft, handelt es sich um die Tatsache, dass es ein denkendes Subjekt gibt, das im Wechsel seiner Vorstellungen numerisch identisch ist. Wenn Kant lediglich von der „durchgängige[n] Identität seiner selbst bei allen möglichen Vorstellungen“ (A 116) oder einfach von dem „identischen Selbst“ (A 129) spricht, geht er offenbar von der ontologischen Hinsicht aus. 250 251
Eine Auseinandersetzung mit der Unwandelbarkeit der Apperzeption vgl. Kitcher 2011, S. 164-166. In der Kant-Literatur hat Dieter Sturma schon diese doppelte Hinsicht eingeführt, um Kants Selbstbewusstsein zu interpretieren. Vgl. Sturma 1985, S. 67-75. Interpretation in dieser Richtung vgl. auch Carl 1989, S. 90.
104
3 Identität des Selbstbewusstseins
Aber bei genauerem Hinsehen taucht diese Sprechweise in der transzendentalen Deduktion der Kategorien nicht oft auf. Was die epistemologische Hinsicht betrifft, handelt es sich darum, dass ein denkendes Subjekt weiß, dass es in Bezug auf die Verschiedenheit seiner Vorstellungen ein und dasselbe ist. Das bedeutet, dass das denkende Subjekt sich der numerischen Identität seiner selbst im Wechsel der Vorstellungen bewusst ist. Kurz gesagt: In der epistemologischen Hinsicht ist vom Bewusstsein der Identität des Subjekts bzw. des Ich die Rede. In der transzendentalen Deduktion spricht Kant mehrmals davon, dass es ihm nicht nur um ein numerisch identisches Subjekt, sondern um das Wissen um die Identität dieses Subjekts geht. Er schreibt: Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntniß jemals gehören können, bewußt. (A 116) Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesammt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. (B 135)
Die Rede vom Bewusstsein der Identität des Subjekts bringt Kant auch manchmal dadurch zum Ausdruck, dass das Subjekt sich seine Identität denken oder vorstellen kann. Dazu schreibt er: [D]enn das Gemüth könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte […]. (A 108) […], daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle […]. (B 133)
Darüber hinaus ist noch darauf hinzuweisen, dass Kant nicht nur in der transzendentalen Deduktion, sondern auch im Paralogismus-Kapitel, insbesondere im dritten Paralogismus, die epistemologische Hinsicht der Identität des Subjekts hervorhebt. Auf diesen Punkt werde ich erst im fünften Kapitel ausführlich eingehen. Ich zitiere nun zwei Textpassagen: Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist so fern eine Person. (A 361) [A]ber diese Identität des Subjects, deren ich mir in allen seinen Vorstellungen bewußt werden kann, betrifft nicht die Anschauung desselben […]. (B 408)
Nun wirft die oben von mir vorgeschlagene Interpretation eine weitere Frage auf: Wie verhält sich das Bewusstsein der Identität des Ich zur Identität des Selbstbewusstseins bzw. der Apperzeption? Meines Erachtens sind sie für Kant austauschbare Begriffe. Denn was Kant eigentlich mit der Identität der Apperzeption bezeichnen will, ist nicht die Identität des Ich in der ontologischen Hinsicht, sondern das Bewusstseins der Identität des Subjekts in der epistemologischen Hinsicht. Dies lässt sich damit begründen, dass Kants Begriff des Selbstbewusstseins von vornherein als ein epistemologischer Begriff verstanden werden sollte. Ich hatte schon in Abschnitt 1.2 erklärt, dass Kants reines Selbstbewusstsein das Bewusstsein eines spontanen Subjekts impliziert. Dass ich mir meiner selbst als ein identisches Subjekt in allen Vorstellungen bewusst bin, heißt nichts anderes, als dass ich mir als ein solches Subjekt verschiedene Vorstellungen zuschreibe und sie damit alle als meine Vorstellungen bezeichne. Das ist bekanntlich ein Hauptgedanke, den Kant in § 16 der B-Deduktion darstellt. Geht man von diesem Begriff des Selbstbewusstseins aus, so ist es leicht zu sehen, dass es sich beim
3.1 Der Begriff der numerischen Identität der Apperzeption
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Selbstbewusstsein um das Bewusstsein von sich selbst als ein und demselben Subjekt handelt. Daraus ergibt sich, dass das Selbstbewusstsein das Bewusstsein der Identität des Subjekts impliziert. Es ist daher kein Wunder, dass Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorien manchmal bloß von der „Identität der Apperception selbst“ (B 134) oder noch einfacher von der „Identität des Bewußtseins“ (B 133) spricht. Doch damit ist schon das Bewusstsein der Identität des Ich gemeint. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden den Ausdruck „die Identität der Apperzeption“ im Sinne vom Bewusstsein der Identität des Ich verwenden. In ähnlicher Weise werde ich auch im nächsten Abschnitt darauf eingehen, dass es Kant um das Bewusstsein der Synthesis geht, wenn er dafür argumentiert, dass die analytische Einheit die synthetische Einheit der Apperzeption voraussetzt. Und wie wir auch sehen werden, sollte man die Tatsache, dass die Argumentation der B-Deduktion von der reinen Apperzeption ausgeht, genauer dahingehend verstehen, dass sie von dem Bewusstsein der Identität des Ich ausgeht. Aufgrund dieser terminologischen Erläuterung kann man zusammenfassend etwas genauer sagen, dass die numerische Identität einem denkenden Subjekt zuzusprechen ist. Da das Selbstbewusstsein in gewissem Sinne nichts anderes heißt, als dass dieses Subjekt sich seines identischen Selbst in seiner Vorstellungen bewusst ist, so bedeutet die numerische Identität des Selbstbewusstsein auch nichts anderes als das Bewusstsein der Identität des Subjekts. Anders gesagt: Ich weiß, dass ich in allen meinen Vorstellungen ein und dasselbe bin. Die numerische Identität des Ich wird auch von Kant wiederholt als „durchgängig“ 252 charakterisiert. Denn in allen meinen Vorstellungen weiß ich, dass ich ein und dasselbe Subjekt bin. Diese numerische durchgängige Identität der Apperzeption bezeichnet Kant, wie wir sogleich sehen werden, als die analytische Einheit der Apperzeption. (c)
Identität, analytische Einheit und synthetische Einheit der Apperzeption
In § 16 der B-Deduktion setzt Kant explizit die Identität der Apperzeption mit der analytischen Einheit der Apperzeption gleich, indem er sagt: Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich. (B 133)
Wie sich dieses Bedingungsverhältnis plausibel machen lässt, werde ich erst im nächsten Abschnitt ausführlich darstellen. Mir geht es nun darum, die drei Ausdrücke „die Identität der Apperzeption“, „die analytische Einheit der Apperzeption“ und „die synthetische Einheit der Apperzeption“ deutlich zu machen. Zuerst einmal ist darauf hinzuweisen, dass Kant die zwei Termini „Identität“ und „Einheit“ nicht immer eindeutig auseinanderhält. 253 Generell sind diese zwei Begriffe voneinander zu unterscheiden. Aber in einigen Formulierungen scheint Kant sie einfach zu identifizieren. Beispielsweise spricht er in der A-Deduktion sowohl von der „numerische[n] Einheit dieser 252 253
Vgl. A 112, A 116, B 133, B 135. Zur Unklarheit von Kants Wortgebrauch vgl. auch Wunderlich 2005, S. 211.
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3 Identität des Selbstbewusstseins
Apperception“ (A 107) als auch von „der durchgängigen Einheit des Selbstbewußtseins“ (A 111). Und in der schon einmal genannte Reflexion 6093 sagt er sogar: „Numerische Identitaet ist die Einheit des Individui“ 254. Auch in Opus postumum erwähnt Kant „[d]ie analytische Einheit (identitas, Einerleyheit)“ 255 . Trotz dieser Unstabilität der Kantischen Terminologie werde ich annehmen, dass der Begriff der Identität und der Begriff der Einheit für sich genommen unterschiedlich sind. Insbesondere ist die Identität der Apperzeption von der synthetischen Einheit der Apperzeption abzugrenzen. Außerdem ist manchen Interpretationen zufolge die von Kant explizit gemachte Gleichsetzung von der Identität und der analytischen Einheit der Apperzeption nicht ganz unproblematisch. Denn die Interpreten gehen davon aus, dass man beide bei wohlwollender Interpretation nicht für gleichbedeutend halten sollte. Z. B. ist Manfred Frank der Meinung, „Identität ist wohl unterschieden von analytischer Einheit“ 256. Und Falk Wunderlich vertritt die Ansicht, dass die Identität und die analytische Einheit der Apperzeption „zwei Seiten derselben Medaille“ sind. Dazu schreibt er: „Das Subjekt ist gegenüber seinen Vorstellungen identisch, und die Vorstellungen stehen durch ihre Zugehörigkeit zu demselben Subjekt in analytischer Einheit miteinander.“ 257 Angesichts von Kants terminologischer Unklarheit möchte ich im Folgenden versuchen, eine begriffliche Bemerkung zur Unterscheidung von den genannten drei Ausdrücken zu machen. Betrachten wir zunächst Kants Unterscheidung zwischen der synthetischen und der analytischen Einheit der Apperzeption. 258 Seine Grundgedanken kann man so zusammenfassen: Die synthetische Einheit der Apperzeption besteht darin, dass die gegebenen Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein auf gewisse Weise synthetisiert werden können. Das heißt, dass das Ich zwischen den Vorstellungen, die es tatsächlich besitzt, irgendein einheitliches Verhältnis herstellt und davon ein Bewusstsein hat. Demnach betrifft die synthetische Einheit der Apperzeption das Verhältnis von verschiedenen Vorstellungen, sofern sie zu einem gemeinsamen Subjekt gehören. Im Gegensatz dazu bedeutet die analytische Einheit der Apperzeption, dass ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in Bezug auf die Mannigfaltigkeit der mir gegebenen Vorstellungen bewusst bin. Mit anderen Worten: Von den schon synthetisierten Vorstellungen weiß ich, dass sie meine Vorstellungen sind. Somit lässt sich die analytische Einheit der Apperzeption beim Verhältnis der verschiedenen Vorstellungen zum Ich ausdrücken, indem das Ich diese Vorstellungen ihm selbst als ihrem gemeinsamen Subjekt zuschreibt. Für diese Unterscheidung spricht beispielsweise Kants folgende Aussage aus den Prologomena: Diese Vereinigung in einem Bewußtsein ist entweder analytisch, durch die Identität, oder synthetisch, durch die Zusammensetzung und Hinzukunft verschiedener Vorstellungen zu einander. (AA IV 305)
254 255 256 257 258
AA XVIII 449. AA XXII 41. Frank 1991, S. 416. Dieses Zitat übernehme ich von Wunderlich 2005, S. 218. Wunderlich 2005, S. 214. Nach Wolfgang Carls Untersuchung unterscheidet Kant zum ersten Mal zwischen analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption in den Nachträgen „B 12“. (Vgl. Carl 1989, S. 119.)
3.1 Der Begriff der numerischen Identität der Apperzeption
107
An einer Textstelle aus dem Opus postumum weist Kant auch ausdrücklich darauf hin, dass die analytische Einheit „Eines in Vielem“ und die synthetische Einheit „Vieles in Einem“ ist. Er schreibt: Die analytische Einheit (identitas, Einerleyheit) u. die synthetische da nicht Eines in Vielem sondern Vieles in Einem vorgestellt wird. (AA XXII 41)
Diese zwei Passagen zusammengenommen besagen, dass es sich bei der synthetischen Einheit der Apperzeption darum handelt, viele verschiedene Vorstellungen im Subjekt als Ganzen zu verbinden. Die analytische Einheit hingegen besteht darin, dasselbe Subjekt als Ganzes in verschiedenen Vorstellungen zu finden oder durch Analyse vorzustellen. 259 Aufgrund von dieser Unterscheidung geht Kant davon aus, dass die analytische Einheit der Apperzeption die synthetische Einheit der Apperzeption voraussetzt. 260 Diese von Kant in § 16 der BDeduktion ausgeführte Position steht offenbar mit dem schon in § 15 dargestellten Argument dafür, dass die Analysis die Synthesis vorsetzen muss, in Einklang. Dort schreibt Kant: „[D]aß die Auflösung, Analysis, die ihr Gegentheil zu sein scheint, sie doch jederzeit voraussetze; denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen […].“ (B 130) Wie erwähnt, werde ich erst im nächsten Abschnitt Kants argumentative Konzeption in § 16 thematisieren. Wenden wir uns nun Kants Überlegung zur Identität und analytischen Einheit der Apperzeption zu. Meiner Ansicht nach ist es nicht nötig und auch nicht sinnvoll, zwischen der Identität der Apperzeption und der analytischen Einheit der Apperzeption zu unterscheiden. Auch wenn diese zwei Ausdrücke im wörtlichen Sinne verschieden sind, spielt dieser Unterschied für Kants Zweck in der transzendentalen Deduktion der Kategorien gar keine Rolle. Denn sie sind für Kant in der Tat nur zwei gleichbedeutende Beschreibungen für ein und dieselbe Tatsache. Wie oben schon zitiert, spricht Kant an den Textstellen 261, die es mit der analytischen Einheit der Apperzeption zu tun haben, immer mit von der Identität. Man sieht darin gar keinen Unterschied von beiden. Diese Identifikation kann man sich so klar machen: Die 259
260
261
Zu diesem Punkt vgl. auch eine Textpassage aus der Metaphysik Mrongovius: „Wie sind aber die Begriffe durch Apperception möglich? Dadurch, daß ich mir die Identität meiner Apperception in vielen Vorstellungen vorstelle. Der Begriff ist perceptio communis, z.E. der Begriff vom Körper. Dieser gilt von Metall, Gold, Stein, etc. Darin stelle ich mir eines im Mannigfaltigen vor. Die logische Function desselben besteht in der Allgemeinheit. Dieses ist die analytische Einheit der Apperception, und vieles in einem ist die synthetische Einheit derselben. Die analytische Einheit der Apperception stellt uns nichts neues vor, sondern ist sich nur des Mannigfaltigen in einer Vorstellung bewußt. Die synthetische geht auf vieles, sofern es in einem enthalten ist.“ (AA XXIX 889) Dass sich das Bedingungsverhältnis von der analytischen und der synthetische Einheit der Apperzeption durch eine Analogie dazu erklärt, dass beim Begriff die analytische Einheit des Bewusstseins die synthetische voraussetzt, macht Kant außer in der Fußnote zu B 133 auch in einer Reflexion zur Logik deutlich, wo er schreibt: „Die synthetische Einheit des Bewustseyns ist der transscendentale Grund der Moglichkeit synthetischer Urtheile a priori. Ich verbinde nämlich A mit dem Bewustseyn. Dann B (entweder blos als non A vorgestellt oder auch als etwas, was dazu kommt). Drittens die [Verbindung be] Einheit beyderley distributiven Bewustseyns in ein collectives, d.i. in den Begrif eines Dinges. Also erstlich die Analytische Einheit des Bewustseyns von A und non A (=B) und dann die synthetische Einheit beyder.“ (R 3030, AA XVI 623) In dieser Passage weist Kant darauf hin, dass die Verbindung des Bewusstseins distributiv mit A oder B die analytische Einheit des Bewusstseins bezeichnet, und dass die Verbindung von A und B in einem kollektiven Bewusstsein die synthetischen Einheit des Bewusstsein aufzeigt. Vgl. B 133, AA IV 305, AA XXII 41, AA XXIX 889.
108
3 Identität des Selbstbewusstseins
analytische Einheit der Apperzeption bedeutet, dass das Ich in den Vorstellungen, die es synthetisiert, sich selbst als ein und dasselbe Subjekt repräsentieren kann. Dies heißt wiederum nichts anderes, als dass das Ich weiß, dass es in allen seinen Vorstellungen ein und dasselbe ist. Demnach hat das Ich ein Bewusstsein von der Identität seiner selbst. Da wir schon erklärt haben, dass Kant mit der numerischen Identität der Apperzeption nichts anderes als das Bewusstsein der Identität des Ich meint, ist zu folgern, dass die analytische Einheit eben die Identität der Apperzeption ist. Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen, dass laut Kant die numerische Identität einem Individuum zuzuschreiben ist, nicht aber einem mentalen Vorgang. Demnach handelt es sich beim Selbstbewusstsein der Sache nach um die numerische Identität des Ich. In der folgenden Untersuchung werde ich den Begriff der Identität der Apperzeption im Sinne vom Bewusstsein der Identität des Ich benutzen. Denn wie schon erläutert, geht es Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorie eigentlich um eine empistemologische Hinsicht der Identität des Ich. Auch werde ich nicht mehr zwischen der Identität der Apperzeption und der analytischen Einheit der Apperzeption unterscheiden. 3.2
Argument der Identität des Selbstbewusstseins
Es ist schon klar, dass Kants reines Selbstbewusstsein das Bewusstsein des Ich als eines identischen Subjekts bedeutet. Doch wie das Bewusstsein der Identität des Ich näher erklärt werden kann, ist in der Literatur sehr umstritten. Es ist auch bereits bekannt, dass sich Kants transzendentale Apperzeption vom gewöhnlichen Begriff des empirischen Selbstbewusstseins abgrenzt, weil sie kein mentaler Vorgang ist, der bei jedem einzelnen Menschen wirklich geschieht und der sich in der empirischen Psychologie in Betracht ziehen lässt. Daher heißt die Identität der reinen Apperzeption nicht einfach so viel, dass man in der alltäglichen Sprache sagt, ich sei mir bewusst, dass ich (mit meinem Körper) von heute eben das Ich von gestern bin. Aber wie kann man sich klar machen, dass das Bewusstsein der Identität des Ich sogar bei dem sogenannten reinen Selbstbewusstsein auch verständlich ist? Und warum ist die Identität des Selbstbewusstseins sogar eine grundlegende Bedingung für das gewöhnliche empirische Selbstbewusstsein? Darum ist es nötig zu betrachten, ob sich bei Kant ein plausibles Argument für die Identität des Selbstbewusstseins finden kann. In der Kant-Literatur vertritt Peter F. Strawson bekanntermaßen die Ansicht, dass Kants Selbstbewusstsein durch die Konzeption der Selbstzuschreibung der verschiedenen Vorstellungen verständlich gemacht werden kann. 262 Genauer gesagt: Das Bewusstsein der Identität des Ich ist als der Sachverhalt zu verstehen, dass ich mir bewusst bin, dass ich in der Lage bin, mir selbst eine Reihe von verschiedenen Vorstellungen zuzuschreiben. Die Bedingungen der Möglichkeit dieser Selbstzuschreibung zu erklären, ist laut Strawson eine der wichtigsten Aufgaben der transzendentalen Deduktion der Kategorien. Strawson macht die Konzeption der Selbstzuschreibung in einer Passage besonders deutlich, wo er schreibt:
262
Carl (1998a, S. 109) vertritt auch diese Ansicht. Vgl. auch Evans 1982, S. 226.
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
109
It is a quite general truth that the ascription of different states or determinations to an identical subject turns on the existence of some means of distinguishing or identifying the subject of such ascriptions as one object among others. Applying this general truth to the case before us, we may say, in Kant’s terminology, that the possibility of ascribing experiences to a subject of experiences and hence the possibility of self-ascription of experiences requires that there be some “determinate intuition” corresponding to the concept of a subject of experiences; or, substituting a later terminology for Kant’s, we may say that this possibility requires that there be empirically applicable criteria of identity for subjects of experience. In actual practice this condition is satisfied by the fact that each of us is a corporeal object among corporeal objects, is indeed a man among men. Our personal pronouns, the pronoun “I” included, have an empirical reference; and in some way such a reference must be secured if the general notion of ascribing experiences to a subject of them is to make sense. (Strawson 1966, S. 102)
Wie wir hier sehen, will Strawson nicht nur Kant interpretieren, sondern auch Kants Position auf einen Punkt bringen, den er der Sache nach für nötig und philosophisch gesprochen für plausibel hält. Er geht nämlich davon aus, dass die Möglichkeit der Selbstzuschreibung der verschiedenen Vorstellungen erfordert, dass das Subjekt, dem diese Vorstellungen zugeschrieben werden, zugleich ein Wesen ist, das einen Körper hat. Denn nur dadurch lässt sich dieses Subjekt als Objekt des äußeren Sinnes von anderen Individuum in einer physikalischen Welt unterscheiden. In Strawsons Worten: Die Selbstzuschreibung muss auch die empirisch anwendbaren Kriterien der Identität des Subjekts der Erfahrung erfüllen. Kurz gesagt: Es muss der Fall sein, dass bei der Selbstzuschreibung von Menschen die Rede ist. Jedoch ist Strawson der Meinung, dass Kant diese empirische Tatsache nicht gesehen hat und damit die Möglichkeit der Selbstzuschreibung in der trasnzendentalen Deduktion nicht klar genug erklären kann. 263 Diese vor allem von Strawson vertretene Interpretation der Selbstzuschreibung wird von vielen Kommentatoren verworfen. 264 Ich möchte hier Quassim Cassams Einwand kurz erwähnen. Cassam favorisiert die von Strawson aufgestellte Konzeption – die empirisch anwendbaren Kriterien des Begriffs der Identität des empirischen Subjekts – und behauptet damit, dass das Bewusstsein der Identität des Ich nicht ohne Rücksicht auf das Subjekt als Objekt des äußeren Sinnes möglich ist. 265 Dennoch stimmt er Strawsons Interpretation der Selbstzuschreibung nicht zu, weil ihm zufolge die Begleitung vom „Ich denke“, von der Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorien spricht, gar nicht mit der Selbstzuschreibung gleichgesetzt werden darf. Dazu schreibt er: Despite these similarities, however, it may well be a mistake to interpret Kant’s remarks about the ‘I think’ as giving expression to the first Identity Argument’s self-ascription requirement. To begin with, Kant is concerned in the Deduction with transcendental consciousness of self-identity or ‘transcendental apperception’. The significance of this is that it is not clear that attaching the ‘I’ of transcendental consciousness to a representation is a way of self-ascribing it. (Cassam 1997, S. 154)
Es ist hier leicht zu sehen, dass Strawson und Cassam betonen, dass der menschliche Körper als ein physikalisches Objekt in der Welt eine nowendige Bedingung für die empirische An263 264
265
Vgl. Strawson 1966, S. 96. Zum Beispiel schreibt Kitcher (1990, S. 94): “[T]he ability of subjects of identify cognitive states as their own is only a small and bungled part of the doctrine of apperception.” Andere Einwände vgl. Patten 1975, S. 331-341; Rotenstreich 1981, S. 189-198. Dazu schreibt er: “The central thesis of the Identity Argument is that a necessary condition of consciousness of one’s own identity as the subject of different experiences or representations is awareness of oneself as a physical object.” (Cassam 1997, S. 117)
110
3 Identität des Selbstbewusstseins
wendung des Begriffs des empirischen Subjekts ist. Für Strawson ist die personale Identität nicht ohne Erfüllung dieser Bedingung möglich; für Cassam muss die Identität des Selbstbewusstseins auf dieser Bedingung beruhen. Ich möchte hier die Rolle des menschlichen Körpers nicht weiter diskutieren. Darauf werde ich in Kapitel 5 zurückkommen. Vielmehr möchte ich nun darauf hinweisen, dass Strawson in seiner Kant-Interpretation einen wichtigen Punkt unterstreicht: Die Identität des Selbstbewusstseins bei Kant ist als Selbstzuschreibung in dem Sinne zu verstehen, dass der Begriff „ich“ ohne Berufung auf den menschlichen Körper anwendbar ist und das Ich, dem alle Vorstellungen zugeschrieben werden, als ein logischer Träger fungiert. Das heißt, dass das Ich zum Subjekt aller zugeschriebenen Vorstellungen dient, obwohl der Begriff „ich“ kein gegebenes Objekt bezeichnet. In Strawsons Worten: Dies ist „criterionless self-ascription“ 266. In seiner Kant-Interpretation hat Cassam zwar die logische Idenität des Ich gesehen, aber schließlich immer noch auf dem Argument des Körpers als eines physikalischen Objekts insistiert. 267 Vor diesem Hintergrund möchte ich in diesem Abschnitt anhand Kants Ausführungen in der transzendentalen Deduktion die Interpretation der Selbstzuschreibung verteidigen. Wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, ist die Identität für Kant ein wesentlicher Aspekt des Selbstbewusstseins und diese Identität des Selbstbewusstseins besteht wesentlich in der Selbstzuschreibung. Damit werde ich im Folgenden dafür argumentieren, dass die Selbstzuschreibung ohne Kriterien des Körpers durchführbar ist, denn es handelt sich bei Kants Selbstbewusstsein nur um das logische Ich und seine logische Identität. Daher ist Kants Selbstzuschreibung als logische zu bezeichnen (3.2.1). Anschließend werde ich darauf eingehen, dass die Möglichkeit der Selbstzuschreibung eine Bedingung erfüllen muss. Das heißt, dass das Bewusstsein der Identität des Ich nur durch das Bewusstsein der Synthesis der gegebenen Vorstellungen möglich ist (3.2.2). Schließlich werde ich durch Analyse von Kants Konzeption der sogenannten „Deduktion von oben“ in der A-Deduktion zeigen, dass das Bewusstsein der Identität des Ich für Kant eine argumentative Funktion hat: Die Identität des Selbstbewusstseins fungiert im Argumentationsgang der Deduktion als Ausgangspunkt (3.2.3). 268 3.2.1 Selbstzuschreibung: Eine Verteidigung Kants reines Selbstbewusstsein lässt sich durch Selbstzuschreibung der Vorstellungen besser erklären. Ich bin mir meiner selbst als eines identischen Subjekts bewusst, indem ich mir die gegebenen Vorstellungen zuschreibe. Das heißt, dass das Bewusstsein der Identität des Ich
266 267
268
Strawson 1966, S. 165. Dazu schreibt er: “The moral of this chapter is that there is no getting around the fact that consciousness of the identity of the self as the subject of diverse representations is consciousness of one’s identity qua object among others in the world. The ‘logical’ identity of the Kantian ‘I’ is an abstraction from the identity of an objective continuant, but one should not be misled by such abstractions into thinking that self-consciousness has nothing to do with a concrete sense of the presented subject of one’s thoughts, experiences, and sensations as a physical object among physical objects.” (Cassam 1997, S. 170) Henrich hat schon darauf hingewiesen, dass die Identität des Subjekts zum Beweisgrund einer erfolgreichen Deduktion dienen muss. Vgl. Henrich 1988, S. 51.
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
111
durch die Selbstzuschreibung zum Ausdruck gebracht werden kann. Dies lässt sich mit drei Ebenen – ontologisch, epistemologisch und semantisch – begründen. Was die ontologische Ebene angeht, unterscheidet Kant die passive Seite von der aktiven Seite ein und desselben Subjekts. Er geht davon aus, dass ein passives Subjekt aufgrund der Sinnlichkeit und durch die Affektion eines Gegenstandes sinnliche Vorstellungen erwerben und besitzen kann. Jedoch sind diese gegebenen Vorstellungen zwar in mir vorhanden, aber noch nicht die mir zugeschriebenen Vorstellungen. Das heißt, dass sie der Sache nach nur „meine Vorstellungen“ im schwachen Sinne sind. 269 Denn diese Vorstellungen sind zwar tatsächlich in mir, aber ich weiß noch nicht, dass sie meine sind. Diese ontologische Beziehung der gegebenen Vorstellungen auf ein rezeptives Subjekt liegt der Selbstzuschreibung zugrunde, für die ein spontanes Subjekt zuständig ist. Über die Passivität, die der Selbsttätigkeit entgegensteht, äußert Kant sich explizit in den Prolegomena. Er schreibt: „Wenn uns Erscheinung gegeben ist, so sind wir noch ganz frei, wie wir die Sache daraus beurteilen wollen. Jene, nämlich Erscheinung, beruhte auf den Sinnen, diese Beurteilung aber auf dem Verstande.“ 270 Die Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen ist nur dann möglich, wenn sich diese Vorstellungen auch auf das aktive Subjekt beziehen. Damit muss die epistemologische Beziehung der Vorstellungen auf das Subjekt in Betracht kommen. Selbstzuschreibung ist dem Wortlaut nach so zu verstehen, dass das denkende Subjekt sich selbst die gegebenen Vorstellungen zuschreibt. Das heißt, dass das Ich die gegebenen Vorstellungen als „meine Vorstellungen“ bezeichnet. Dies bedeutet wiederum nichts anderes, als dass ich weiß, dass sie meine Vorstellungen sind. Somit besteht die Selbstzuschreibung wesentlich darin, dass das Ich als Besitzer der Vorstellungen von dem Standpunkt der ersten Person aus seine Beziehung auf die gegebenen Vorstellungen betrachtet. Wenn mir die gegebenen Vorstellungen zugeschrieben sind, bin ich mir natürlich bewusst, dass ich in den mir zugeschriebenen Vorstellungen ein und dasselbe bin. Also kommt das Bewusstsein der Identität des Ich durch Selbstzuschreibung zum Ausdruck. Nun möchte ich die obige Überlegung anhand Kants Ausführungen deutlich machen. Bekanntlich behandelt Kant das Bewusstsein der Identität des Ich vor allem im ersten Teil der BDeduktion, insbesondere in §§ 16-17. 271 Zu Beginn von § 16 findet sich die prominente Aussage: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. (B 130 f.)
Diese Aussage kann man so verstehen: Von jeder meiner Vorstellung kann ich wissen, dass sie meine ist. Das heißt, dass ich an jede meiner Vorstellungen notwendigerweise denken 269
270 271
Es ist zu beachten, dass die Vorstellungen, die de facto in mir vorhanden sind und durch Selbstzuschreibung als meine bezeichnet werden, als „meine Vorstellungen“ im starken Sinne verstanden werden sollten. Das liegt daran, dass ich nicht nur über diese Vorstellungen verfüge, sondern auch weiß, dass ich sie habe. Kants Rede von „meiner Vorstellung“ in der Deduktion sollte meiner Ansicht nach normalerweise im starken Sinne aufgefasst werden. Prolegomena, AA IV 290. Zur Beweisstruktur der B-Deduktion vgl. Henrich 1969, S. 640-659; Wagner 1980, S. 352-366; Tuschling 1984, S. 34-96; Klemme 1996, S. 157-180; Carl 1998b, S. 209.
112
3 Identität des Selbstbewusstseins
kann. Denn wenn es in mir eine Vorstellung gäbe, von der ich nicht wissen könnte, dass ich sie habe, würde es heißen, dass diese Vorstellung zwar in mir etwas repräsentieren würde, indem jede Vorstellung per definitionem etwas repräsentieren muss, aber ich nicht wissen könnte, was sie repräsentiert. Daraus folgt, dass diese Vorstellung „entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein“ würde. Mit der „unmöglichen Vorstellung“ ist gemeint, dass in mir eine solche Vorstellung gar nicht vorhanden ist. Darum kann ich von jeder meiner Vorstellung notwendigerweise wissen, dass ich sie habe. Jedoch hat Kant nicht ganz ausgeschlossen, dass in mir eine solche Vorstellung möglich ist. Denn er gesteht zu, dass eine Vorstellung, von der ich nicht wissen kann, dass ich sie habe, zwar möglich ist, aber „für mich nichts“ ist. Damit ist gemeint, dass eine solche in mir mögliche Vorstellung in der Tat für mich als ein erkennendes Subjekt gar keine Rolle spielt. Das heißt, dass sie epistemisch nicht relevant ist. Dass Kant nicht bestreitet, dass wir unbewusste Vorstellungen haben können, zeigt sich besonders in der Anthropologie. Wie schon im ersten Kapitel erläutert, geht er dort davon aus, dass wir manche Vorstellungen haben, deren wir uns aber nicht bewusst sind. Diese Vorstellungen nennt Kant „dunkle Vorstellungen“, die sich von klaren oder weiter von deutlichen Vorstellungen unterscheiden. 272 Auch im Brief an Herz vom 26. Mai 1789 weist Kant darauf hin, dass wir tatsächlich unbewusste Vorstellungen haben. Sie haben aber keinen epistemischen Status, auch wenn sie in mir „auf Gefühl und Begehrungsvermögen Einflus“ haben. 273 Damit sind die unbewussten Vorstellungen, die in mir wirklich vorhanden sind, gar nicht Vorstellungen, von denen ich wissen kann, dass ich sie habe. Um die soeben zitierte Kantische Aussage verständlich zu machen, ist darüber hinaus bemerkenswert, dass die Redeweise „… muß … begleiten können“ die Notwendigkeit zum Ausdruck bringt, durch den Gedanken „Ich denke“ meine Vorstellungen zu begleiten. Aber damit ist nicht gemeint, dass der Akt des Begleitens mit dem „Ich denke“ in jedem Fall wirklich stattfindet, sondern, dass er in jedem Fall stattfinden kann. Anders gesagt: Es ist immer möglich, dass der Gedanke „Ich denke“ alle meine vergangenen Vorstellungen begleitete, alle meine momentanen Vorstellungen begleitet und alle meine künftigen Vorstellungen begleiten 272 273
Vgl. Anthropologie, AA VII 135 f. Vgl. Die Textpassage lautet: „Denn wenn wir darthun können, daß unser Erkentnis von Dingen selbst das der Erfahrung nur unter jenen Bedingungen allein möglich sey, so sind nicht allein alle andere Be|griffe von Dingen (die nicht auf solche Weise bedingt sind) für uns leer und können zu gar keinem Erkentnisse dienen, sondern auch alle data der Sinne zu einer möglichen Erkentnis würden ohne sie niemals Obiecte vorstellen, ja nicht einmal zu derjenigen Einheit des Bewustseyns gelangen, die zum Erkentnis meiner selbst (als obiect des inneren Sinnes) erforderlich ist. Ich würde gar nicht einmal wissen können, daß ich sie habe, folglich würden sie für mich, als erkennendes Wesen, schlechterdings nichts seyn, wobey sie (wenn ich mich in Gedanken zum Thier mache) als Vorstellungen, die nach einem empirischen Gesetze der Association verbunden wären und so auch auf Gefühl und Begehrungsvermögen Einflus haben würden, in mir, meines Daseyns unbewust, (gesetzt daß ich auch jeder einzelnen Vorstellung bewust wäre, aber nicht der Beziehung derselben auf die Einheit der Vorstellung ihres Obiects, vermittelst der synthetischen Einheit ihrer Apperception,) immer hin ihr Spiel regelmäßig treiben können, ohne daß ich dadurch in mindesten etwas, auch nicht einmal diesen meinen Zustand, erkennete.“ (AA XI 51 f.) Im dieser Passage vorhergehenden Text geht es um eine Darstellung für unsere Anschauungsart und unseren Verstand in Beziehung auf Erkenntnis des Objekts. In der zitierten Passage weist Kant darauf hin, dass ich von allen Daten der Sinne ohne die Funktionen des Verstandes als Bedingung gar nicht einmal würde wissen können, dass ich sie habe, und sie für mich als denkendes Wesen nichts sein würden, obwohl diese Data in mir vorliegen und in Bezug auf Gefühl und Begehrungsvermögen, welches vom Erkenntnisvermögen unterschieden ist, ins Spiel kommen. Die Überlegung, dass „meinen Vorstellungen“, von denen in der zitierten Kantische Aussage die Rede ist, der epistemische Status zuzuschreiben sind, betont auch Thöle. Vgl. Thöle 1991, S. 254 f.
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
113
wird. Was Kant also durch die doppelte Modalität eigentlich zeigen will, ist nur, wie Allison betont, „die Notwendigkeit der Möglichkeit“. 274 Dies deutet an, dass es Kant hier nicht um sprachphilosophische Analyse oder einer Untersuchung der mentalen Vorgänge in der Psychologie, sondern um eine Bedingungsanalyse der Möglichkeit unserer Erkenntnis geht. Kant hat zwar das Wort „Selbstzuschreibung“ nicht benutzt, aber der Gedanke, dass das Bewusstsein der Identität des Ich durch Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen zum Ausdruck kommt, ist in der transzendentalen Deduktion grundlegend. Zwischen den gegebenen Vorstellungen und dem identischen Ich besteht nicht nur eine ontologische Beziehung, indem das Ich als ein gemeinschaftliches Subjekt der Träger aller Vorstellungen ist, sondern auch eine epistemologische Beziehung, weil diese Vorstellungen bewusst gemacht werden müssen und damit als meine bezeichnet werden können. Um diese Überlegung deutlich zu machen, sehen wir uns eine Passage an, die sinngemäß unmittelbar an die oben zitierte Teststelle anschließt: Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesammt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesammt zu einem Selbstbewußtsein gehörten, d.i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung nothwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden. (B 132 f.)
In diesem Zitat weist Kant darauf hin, dass die gegebenen Vorstellungen deswegen als meine bezeichnet werden können, weil sie zu einem Selbstbewusstsein gehören. Das heißt, dass die gegebenen Vorstellungen als meine Vorstellungen in einem allgemeinen Selbstbewusstsein zusammenstehen können, wenn sie eine Bedingung erfüllen. Was diese Bedingung ist, hat Kant hier noch nicht gesagt. Es ist nun auffällig, dass mit dem Ausdruck „in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen“ noch nicht die kategoriale Synthesis gemeint ist, sondern die Selbstzuschreibung. Denn dass die gegebenen Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein zusammenstehen können, heißt nichts anderes, als dass ich mir als Träger diese Vorstellungen zuschreiben kann. Also zeigt die Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen die Identität der Apperzeption. In Kants Worten: „Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesammt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen.“ (B 135) Aber um zur Selbstzuschreibung zu gelangen, wird sich laut Kant später zeigen, dass man noch weitere Bedingungen erfüllen muss. Was schließlich die semantische Ebene betrifft, ist es wichtig auf die Rolle des Begriffs „ich“ in der Selbstzuschreibung zu achten. Die Selbstzuschreibung, um die es in der transzendentalen Deduktion der Kategorien geht, sollte meiner Ansicht nach nicht als empirische Selbstzuschreibung verstanden werden. Das heißt, dass es sich dabei nicht um einen psychologisch wirklich stattfindenden Vorgang handelt. Sonst würde, wie Cassam meint, der menschliche Körper als physisches Objekt für die Begründung der Identität des Selbstbewusstseins eine Rolle spielen müssen. Dies heißt allerdings nicht, dass Kants Selbstzuschrei274
Dazu schreibt Allison: “Kant maintains that it must be possible, for the “I think” to accompany them, even if it does not always actually do so. In short, Kant affirms the necessity of a possibility”. (Allison 2015, S. 335. Vgl. auch Allison 2004, S. 164)
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3 Identität des Selbstbewusstseins
bung nicht durch Sprache zum Ausdruck gebracht werden kann. Vielmehr ist Kants Selbstzuschreibung zwar als eine logische Selbstzuschreibung aufzufassen, wobei es sich um Bedingungsanalyse der Möglichkeit handelt. Aber sie zeigt sich auch in der logisch-semantischen Funktion, die der Gebrauch des Begriffs „ich“ hat. Dass ich in der Lage bin, mir selbst die Vorstellungen, die schon dem passiven Subjekt gegeben sind, zuzuschreiben, lässt sich laut Kant damit begründen, dass wir als Menschen das Vermögen haben, „zu sich selbst Ich zu sagen“ 275. Dies bedeutet, dass wir uns sprachlich von dem Standpunkt der ersten Person aus äußern können. Genauer gesagt: Wir können in unseren sprachlichen Aussagen den Begriff „Ich“ verwenden. Auch können wir aufgrund des Vermögens die anderen zwei Ausdrucksformen dieses Begriffs den Dativ „mir“ und das reflexive Possessivpronomen „mein“ verwenden. 276 In der transzendentalen Deduktion finden sich einige Textstellen, die dafür sprechen, dass man Kant die Konzeption der Selbstzuschreibung vom Standpunkt der ersten Person aus zuschreiben kann: „weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden“ (B 132); „diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesammt zu“ (B 134); „weil ich sie insgesammt meine Vorstellungen nenne“ (B 135); „ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen [kann]“ (B 138). Kants Vokabular deutet darauf hin, dass er zu Beginn der B-Deduktion das Verständnis für die Beziehung gegebener Vorstellungen zum Ich vom Standpunkt der ersten Person aus favorisiert, auch wenn er selbst den Terminus „Selbstzuschreibung“ nicht verwendet. Zum Schluss ist wichtig darauf hinzuweisen, dass mit dem Ich, dem die gegebenen Vorstellungen zugeschrieben sind, nicht jeder einzelne Mensch gemeint ist, sondern nur ein logisches Subjekt, das bewusste Vorstellungen und Gedanken möglich macht. Mit anderen Worten: Der Begriff „ich“ bezeichnet in dem Gebrauch der logischen Selbstzuschreibung kein bestimmtes Objekt. Wessen ich mir durch Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen bewusst bin, ist nichts anderes als ein logisches Subjekt aller Gedanken. Allerdings muss Kant zufolge die Möglichkeit der Selbstzuschreibung auch Bedingungen erfüllen. Damit wenden wir uns dem Verhältnis des Bewusstseins der Identität des Ich zur Synthesis der gegebenen Vorstellungen zu.
275 276
Preisschrift, AA XX 270. Es ist auch bemerkenswert, dass Kant in der Anthropologie ein Beispiel erwähnt, das etwas mit dieser Problematik zu tun hat. Kant schreibt: „Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen: von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. - Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst.“ (AA VII 127) Bevor ein Kind das Wort „Ich“ verwenden kann, kann es nach der obigen Erklärung offenbar keine Selbstzuschreibung ausüben. D. h. es hat zwar schon viele Vorstellungen, aber ist noch nicht in der Lage, diese Vorstellungen als „meine“ zu bezeichnen. Darum hat das Kind kein Bewusstsein der Identität seiner selbst. Dies bildet aber keinen Einwand gegen Kants Konzeption der Selbstzuschreibung. Denn das Kind hat doch die Fähigkeit, die sich später entwickeln kann. Worum es Kant geht, ist keine physiologische bzw. psychologische Untersuchung, sondern Analyse der Möglichkeit der Bedingungen für unsere Erkenntnisvermögen bzw. Erkenntnisse, also nur epistemologische Untersuchung. Außerdem ist zu sagen, dass Selbstzuschreibung auch für den Fall gilt, dass das Wort „Ich“ in manchen Sprachen, z. B. Latein, nicht auftaucht. Denn der Standpunkt der ersten Person kann durch andere Weise ausgedrückt werden, z. B. im Latein durch das Verb.
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
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3.2.2 Identität und Synthesis Bekanntlich vertritt Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorien die Ansicht, dass das Bewusstsein der Identität des Ich nur durch das Bewusstsein der Synthesis möglich ist. Dies möchte ich als These der Identität-Synthesis bezeichnen. Zum Beispiel schreibt Kant in der A-Deduktion, dass in „der Synthesis nach Begriffen […] die Apperception allein ihre durchgängige und nothwendige Identität a priori beweisen kann.“ (A 112) Eine Parallelstelle aus der B-Deduktion lautet: „Nämlich diese durchgängige Identität der Apperception eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen enthält eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich.“ (B 133) Dies besagt, dass die Überlegung, ich sei mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in allen gegebenen Vorstellungen bewusst, indem ich sie als meine bezeichne, genau dann möglich ist, wenn ich ein Bewusstsein davon habe, dass ich die gegebenen Vorstellungen synthetisiere. Oder kurz gesagt: Kein Bewusstsein der Identität des Ich ohne Bewusstsein der Synthesis der Vorstellungen. Doch wie ist das zu begründen? (a)
These der Identität-Synthesis
Bevor ich mich mit den Argumenten, die Kant in der transzendentalen Deduktion für die genannte These liefert, ausführlich beschäftige, möchte ich anhand eines Beispiels die These zu begründen versuchen. Die genannte These kann man etwas vereinfachend folgendermaßen umformulieren: Ein denkendes Subjekt weiß genau dann, dass es in verschiedenen Vorstellungen ein und dasselbe ist, wenn es weiß, dass es diese Vorstellungen synthetisiert. Um diese These zu rechtfertigen, nehmen wir ein Individuum bzw. ein numerisch identisches Subjekt „S“ an. Dieses Subjekt ist in der Lage, die gegebenen Vorstellungen zu verknüpfen und sich seiner selbst bewusst zu werden. Wir nehmen auch an, dass dieses Subjekt an drei nacheinander folgenden Zeitpunkten jeweils drei verschiedene Vorstellungen hat, nämlich am Zeitpunkt „t1“ die Vorstellung „V1“, am „t2“ die „V2“ und am „t3“ die „V3“. Nun betrachten wir die folgenden drei möglichen Fälle. (i)
Ohne Synthesis der Vorstellungen
Der erste Fall ist, dass das Subjekt zwar de facto die gegebenen Vorstellungen besitzt, aber keine Synthesis von diesen Vorstellungen ausübt. Das heißt, dass das Subjekt an jedem Zeitpunkt nur eine einzige Vorstellung haben kann, denn es vergisst immer die vorherigen Vorstellungen und verfügt noch nicht über künftige mögliche Vorstellungen. Genauer gesagt: Wenn das Subjekt am „t2“ die „V2“ hat, kann es die „V1“ nicht haben. Ebenso hat er am „t3“ die „V3“, ohne „V1“ und „V2“ haben zu können. Diesen Fall kann man folgendermaßen anschaulich machen: S S t1 t2 V1 V2 Abb. 6: ohne Synthesis
S t3 V3
116
3 Identität des Selbstbewusstseins
Da nun das Subjekt auf keine Weise eine Vorstellung mit einer anderen verbinden kann, ist es auch nicht in der Lage, sich auf das Subjekt, das eine andere Vorstellung hat, zu beziehen. Somit wäre das Subjekt isoliert, genauso wie seine Vorstellungen isoliert sind. Dies macht das obige Schaubild deutlich: Das Subjekt am „t2“ weiß nicht, dass es selber das Subjekt ist, das am „t1“ die „V1“ hat. Ebenso weiß das Subjekt am „t3“ nicht, dass es selber das Subjekt am „t2“ und „t1“ ist. Das heißt nichts anders, als dass das Subjekt zwar de facto in allen diesen Vorstellungen ein und dasselbe ist, indem es tatsächlich diese Vorstellungen hat, aber es weiß nicht um die Tatsache, dass es numerisch identisch ist. Kurz gesagt, im Fall von Mangel der Synthesis kann das Subjekt die numerische Identität seiner selbst im Wechsel der Vorstellungen nicht beweisen. Also hat das Subjekt kein Bewusstsein von seiner numerischen Identität. Diesen Fall kann man auch durch ein alltägliches Beispiel besser verständlich machen. 277 Nehmen wir einen Menschen an, der Hans heißt. Eines Tages hatte er einen Verkehrsunfall und ein Teil seines Gehirns wurde verletzt. Diese Verletzung führt dazu, dass er alle seine Erinnerung verliert und sich sogar nicht an das, was er vor einer Minute wahrgenommen hat, erinnern kann. D. h. was Hans im Verlauf der Zeit haben kann, ist immer nur neue Vorstellung. Er kann die Vorstellung, die er gehabt hat, nicht verbinden. Zu Hans können wir sagen, dass er vor- und nach dem Verkehrsunfall ein und derselbe ist. Hans’ Mutter erzählt ihm alles, was ihm passiert ist, und sagt zu ihm, dass er Hans heißt und der vergangene Hans ist. Trotzdem weiß Hans nicht, wer er ist, und auch nicht, dass es einen Menschen gab, der Hans heißt. Hans weiß deswegen nicht, dass er vor und nach dem Verkehrsunfall ein und derselbe Hans ist, sogar nicht, dass der Hans von gestern eben der Hans von heute ist, weil ihm die Vorstellungen, die er gehabt hat, nicht in seinem gegenwärtigen Bewusstsein zugänglich sind. Somit kann er auch nicht das Subjekt, dem diese Vorstellung zugesprochen wird, mit sich selbst identifizieren. Also kann man sagen, dass wir als Fremder zu Hans sagen, dass er ein und derselbe ist, weil er den identischen Körper in dem Leben hat. Aber Hans kann zu sich selbst nicht sagen, dass er ein und derselbe ist. (ii)
Synthesis ohne Bewusstsein
Der zweite Fall betrifft eine unbewusste Synthesis der gegebenen Vorstellungen. Angenommen, das Subjekt verknüpft zwar die ihm gegebenen Vorstellungen, aber es hat kein Bewusstsein davon. Mit anderen Worten: Das Subjekt weiß nicht, dass es eine Synthesis der Vorstellungen ausübt. Beispielsweis verbindet das Subjekt zwar am „t2“ die „V2“ mit der „V1“, aber es ist sich dieser Aktivität der Verbindung nicht bewusst. Ebenso verhält es sich beim „t3“. Dieser Fall lässt sich durch folgendes Schaubild schildern: S S S t1 t2 t3 V1 + V2 + V3 Abb. 7: ohne Bewusstsein
Weil die Synthesis der Vorstellungen nach der obigen Annahme ohne Bewusstsein ausgeübt wird, weiß das Subjekt nicht, dass die von ihm verbundenen Vorstellungen schon in irgendeinem Verhältnis stehen. Infolgedessen kann es auch nicht im Zusammenhang der Vorstellun277
Strawson hat dieses Beispiel gebraucht. Vgl. Strawson 1997, S. 259.
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
117
gen miteinander seine einzelnen Vorstellungen begreifen. Demnach kann das Subjekt, das am „t2“ die „V2“ hat, sich selbst mit dem Subjekt, das am „t1“ die „V1“ hat, nicht identifizieren, auch wenn zwischen „V1“ und „V2“ eine reale, aber unbewusste Beziehung besteht. Kurz gesagt: Ein Subjekt, das nicht weiß, dass es die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu verbinden, ausübt, weiß auch nicht, dass es in den verbundenen Vorstellungen ein und dasselbe Subjekt ist. Aus Kantischer Sicht ist dieser Fall auch naheliegend, da Kant zugesteht, dass wir nicht nur unbewusste Vorstellungen, 278 sondern auch unbewusste Synthesis der Vorstellungen (vgl. B 130) haben können. Doch spielen diese Vorstellungen und ihre Synthesis für unsere Erkenntnis keine Rolle. Daher kann man sagen, dass eine unbewusste Synthesis für das Bewusstsein der Identität des Subjekts nicht hinreichend ist. (iii) Synthesis mit Bewusstsein Beim dritten Fall geht es um eine bewusste Synthesis der gegebenen Vorstellungen. Anders als die letzten zwei Fälle nehmen wir nun an, dass das Subjekt nicht nur die gegebenen Vorstellungen synthetisiert, sondern auch ein Bewusstsein von dieser Synthesis hat. Genauer gesagt: Während das „S“ am „t2“ die „V2“ hat, kann es auch in seinem Bewusstsein die „V1“ haben und beide Vorstellungen auf gewisse Weise bzw. in einem bestimmten Verhältnis verknüpfen. Ebenso verhält es sich am „t3“. Dies kann sich im folgenden Schaubild zeigen: S
t1 t2 t3 V1 + V2 + V3 Abb. 8: Synthesis mit Bewusstsein
Da nun das Subjekt vorher die drei gegebenen Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpft hat, kann dieses Subjekt auch in der Verbindung der Vorstellungen „V1+V2+V3“ als seinem Produkt durch Analyse wissen, dass diese Vorstellungen zu ihm insgesamt gehören. D. h. das Subjekt, das am „t2“ die „V2“ hat, weiß, dass es eben das Subjekt ist, das am „t1“ die „V1“ hat, indem es weiß, dass alle diese Vorstellungen seine Vorstellungen sind. Also kann man sagen: Das Subjekt weiß, dass es an verschiedenen Zeitpunkten in Bezug auf alle ihm zugängliche Vorstellungen ein und dasselbe Subjekt ist. Dies bedeutet, dass sich das Subjekt der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten durch die bewusste Synthesis der gegebenen Vorstellungen bewusst ist. Wie es sich im obigen Schaubild zeigt, ist das angenommene Subjekt im Wechsel der gegebenen Vorstellung nicht nur de facto identisch, sondern kann auch wissen, dass es stets ein und dasselbe ist. Aufgrund der obigen Analyse kann man schließlich sagen, dass die These der IdentitätSynthesis plausibel ist. Denn aus den obigen drei Schaubildern ist es leicht zu sehen: Auch wenn ein denkendes Subjekt in der Zeit bzw. im Wechsel der Vorstellungen in der Tat ein und dasselbe ist, kann dieses Subjekt ein Bewusstsein von seiner numerischen Identität nur durch das Bewusstsein von der Synthesis der Vorstellungen haben. Allerdings ist bemerkenswert, dass hier die Synthesis der Vorstellungen nur im allgemeinen Sinne verstanden wird. Wie wir 278
Vgl. Anthropologie, AA VII 135.
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3 Identität des Selbstbewusstseins
später aus Kants Sicht sehen werden, muss die Synthesis, die allein das Bewusstsein der Identität des Subjekts garantieren kann, die kategoriale Synthesis sein. 279 (b)
Argumente aus Kants Texten
Hat Kant eigentlich im Verlauf der Deduktion für die These der Identität-Synthesis argumentiert? Nun möchte ich versuchen, Kants Argumente anhand der relevanten Textpassagen in § 16 der B-Deduktion zu rekonstruieren. Der letzte Satz des ersten Absatzes in § 16 lautet: „Aus dieser ursprünglichen Verbindung läßt sich vieles folgern.“ (B 133) Das ist ein guter Hinweis darauf, wie Kants Argumentationsgang verläuft. Denn Kant will von seiner Überlegung im ersten Absatz zu den Ausführungen des zweiten Absatzes übergehen. Genauer gesagt, will er von dem Bewusstsein der Identität des Ich, das sich durch meine Vorstellungen aufzeigen lässt, zum Bewusstsein der Synthesis dieser Vorstellungen übergehen. Was Kant zeigen wird, besteht also darin, die Bedingung der Möglichkeit der Selbstzuschreibung zu verfolgen. In dem genannten Übergangssatz ist mit dem Ausdruck „dieser ursprünglichen Verbindung“ offenbar nicht der Begriff der Verbindung gemeint, den er in § 15 eingeführt hat, weil dieser Übergangssatz zugleich der Schlusssatz des ersten Absatzes ist und Kant in diesem Absatz noch nicht von der Verbindung spricht, die von dem Verstand ausgeübt wird. Auch darf man diese ursprüngliche Verbindung nicht als die Synthesis verstehen, die die gegebenen Vorstellungen verknüpft. Denn von dieser Synthesis spricht Kant erst im nächsten Absatz. 280 Vielmehr sollte mit der ursprünglichen Verbindung die Verbindung zwischen „Ich denke“ und „meinen Vorstellungen“ gemeint sein. In Kants Worten: Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine nothwendige Beziehung auf das: Ich denke […]. (B 132).
Denn wie schon erörtert, besteht Kants Aufgabe im ersten Absatz des § 16 vor allem darin, das analytische Verhältnis des identischen Ich zu allen meinen Vorstellungen darzustellen. Dieses Verhältnis bzw. diese Verbindung ist deswegen ursprünglich, weil Kant vorher die Apperzeption als ursprünglich bezeichnet (vgl. B 132). Und diese Apperzeption besteht wesentlich nur darin, dass ich mir meines identischen Selbst in Bezug auf meine Vorstellungen bewusst bin. Eben darin besteht auch das analytische Verhältnis des Ich zu meinen Vorstellungen. Somit ist es klar, dass Kants Argumentationsverlauf darin besteht, von der Darstellung dieser ursprünglichen Verbindung auszugehen und anschließend nach der Bedingung der Möglichkeit dieser Verbindung zu suchen. Nun möchte ich mich auf Kants Schlüsseltexte konzentrieren und mich bemühen, Kants Argumente dafür zu rekonstruieren, dass das Bewusstsein der Identität des Ich bzw. die Selbstzuschreibung das Bewusstsein der Synthesis der gegebenen Vorstellungen voraussetzt. Die einschlägige Textpassage lautet: 279
280
Die Hervorhebung der kategorialen Synthesis vgl. Hinsch 1986, S. 43-52. Sturma 1985, S. 67-75. Z. B. schreibt Hinsch, dass „kategoriale Synthesis eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen des Wissens eines Subjekts von der Identität seines Selbstbewußtseins ist“ (Hinsch 1986, S. 44). Allison interpretiert diese ursprüngliche Verbindung als „the transcendental unity of apperception“ (Allison 2015, S. 338).
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
119
Nämlich diese durchgängige Identität der Apperception eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen enthält eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich. Denn das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjects. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich. (B 133)
Kants Hauptgedanken in diesem Zitat ist, dass ich genau dann die gegebenen Vorstellungen als meine bezeichnen kann, wenn ich ein Bewusstsein davon habe, dass ich sie synthetisiere. Das heißt, dass die Identität der Apperzeption, die durch die Selbstzuschreibung der Vorstellungen verwirklicht wird, nur durch das Bewusstsein der Synthesis dieser Vorstellungen möglich ist. Um diese Gedanken zu begründen, liefert Kant hauptsächlich zwei Punkte: Die Identität erfordert Synthesis; die Identität erfordert, genauer gesagt, das Bewusstsein der Synthesis. Was den ersten Punkt betrifft, geht Kant davon aus, dass ich mir verschiedene Vorstellungen genau dann zuschreiben kann, wenn ich eine zu den anderen hinzufüge, d. h. wenn ich zwischen ihnen irgendein Verhältnis herstelle und damit jede von ihnen in einem Ganzen auffassen kann. Was den zweiten Punkt betrifft, reicht eine Synthesis, wie wir sie bei der These der Identität-Synthesis ausgeführt haben, noch nicht aus, um sich die Identität des Subjekts vorzustellen. Erst das Bewusstsein der Synthesis der Vorstellungen ist eine hinreiche Bedingung für das Bewusstsein der Identität. Dafür gibt es meiner Ansicht nach zwei Gründe. 281 Einer ist argumentativ, der andere ist textlich. Der argumentative Grund lautet: Die gegebenen Vorstellungen, die durch Selbstzuschreibung die Identität des Ich aufweisen, sind nicht die unbewussten Vorstellungen, die durch eine unbewusste Synthesis verknüpft werden mögen. Sondern sie sind bewusste Vorstellungen, die schon ein identisches Ich implizieren. Mit etwas zugänglicheren Worten: Ich kann deswegen bei verschiedenen Vorstellungen das identische Ich finden, indem ich sie meine nenne, weil ich weiß, dass nicht andere Subjekte, sondern genau ich als ein Träger diese verschiedenen Vorstellungen verbinde. Ohne Bewusstsein der Synthesis würde das de facto identische Ich, so Kant, „ein so vielfärbiges, verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin“ (B 134). Denn wenn ich nicht weiß, dass ich an den Vorstellungen eine Aktivität ausübe, ist es nicht ausgeschlossen, dass es sich dabei um verschiedene Subjekte handelt. Demnach wäre die Anzahl der unvorstellbaren Subjekte mit der Anzahl der bewussten Vorstellungen gleich. Der textliche Grund betrifft Kants Ausführungen an verschiedenen Textstellen. Wie schon erläutert, bestreitet Kant nicht, dass wir unbewusste Vorstellungen haben können. Ebenso hat 281
Allison ist der Meinung, dass die Synthesis, von der hier die Rede ist, zwei Lesarten impliziert (vgl. Allison 2004, S. 168-172). In einer Lesart ist mit der Synthesis das Ergebnis der Synthesis gemeint, in der anderen bedeutet die Synthesis das Ergebnis der Synthesis. Er schreibt: „It can refer either to the act itself or to its product; and Kant apparently intended it in both senses.” (Allison 2004, S. 169) Was die erste Lesart angeht, ist Kants These, das Bewusstsein der Identität setze das Bewusstsein der Synthesis voraus, sehr plausibel. Von der zweiten Lesart ausgehend ist die Begründung der These zwar problematisch, aber nach Allisons Analyse nicht unverständlich. Ich halte Allisons Deutung für überzeugend, aber versuche eine andere Interpretation vorzuschlagen.
120
3 Identität des Selbstbewusstseins
Kant die Möglichkeit einer unbewussten Synthesis nicht ausgeschlossen. Dazu schreibt er in § 15 der Kritik: [S]o ist alle Verbindung, wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht […]. (B 130)
Eine Parallelstelle dazu findet sich in § 10 der Kritik, wo Kant schreibt: Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. (A 78/ B 103)
Diese zwei Textpassagen deuten darauf hin, dass es aus Kants Sicht möglich ist, dass wir manchmal Synthesis vornehmen, aber kein Bewusstsein davon haben. 282 Wie Allison zeigt, 283 ist die unbewusste Synthesis, von der in beiden Zitaten die Rede ist, als die Synthesis der Einbildungskraft, nicht aber des Verstandes zu verstehen. Da eine unbewusste Synthesis möglich ist und sie für das Bewusstsein der Identität des Ich nicht hinreichend ist, betont Kant, dass die Synthesis, die die Identität der Apperzeption nahelegt, bewusste Synthesis sein muss. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass diese Überlegung nicht mit den Kantischen Ausführungen in § 16 verwechselt werden darf, wo Kant schreibt: Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesammt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen; und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus […]. (B 134)
Kants Aussage, „ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist“, klingt so, als behaupte er, dass man für die Identität der Apperzeption das Bewusstsein der Synthesis der Vorstellungen nicht in Anspruch zu nehmen scheint. Was Kant aber eigentlich zeigen will, ist meines Erachtens die Redeweise der Modalität. D. h. wir können uns jedenfalls der Synthesis der Vorstellungen bewusst werden, obwohl dieses Bewusstsein noch nicht aktuell zustande kommt. Aus diesem Grund sollte der Ausdruck „die Möglichkeit der letzteren“ nicht als die Möglichkeit der Synthesis der Vorstellungen, sondern als die Möglichkeit des Bewusstseins der Synthesis der Vorstellungen verstanden werden. Diese Hervorhebung der Modalität stimmt offenbar mit der Überlegung überein, dass das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können muss, wobei Kant auch die Modalität betont. Ein weiterer Textbeleg dafür, dass das Bewusstsein der Identität des Ich das Bewusstsein der Synthesis in Anspruch nimmt, findet sich in der A-Deduktion. Dort schreibt Kant: Also ist das ursprüngliche und nothwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer eben so nothwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d.i. nach Regeln, die sie nicht allein nothwendig reproducibel machen, sondern dadurch auch ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d.i. den Begriff von Etwas, darin sie nothwendig zusammenhängen: denn das Gemüth könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension
282
283
Vgl. Kants Ausführungen über Tiere. Er schreibt: „Thiere vergleichen zwar Vorstellungen mit einander, aber sie sind sich nicht bewußt, worin sie mit einander harmoniren oder disharmoniren.“ (Metaphysik Mrongovius, AA XXIX 888) Vgl. Allison 2015, S. 339 f.
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
121
(die empirisch ist) einer transscendentalen Einheit unterwirft und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht. (A 108)
Da diese Textpassage sehr dicht geschrieben ist, möchte ich sie hier nicht ausführlich diskutieren. Für meinen Zweck reicht es schon, darauf hinzuweisen, dass das Bewusstsein der Identität des Ich, wie Kant in dieser Passage betont, „ zugleich ein Bewußtsein einer eben so nothwendigen Einheit der Synthesis“ ist und nur dadurch möglich ist, dass man die Identität der Handlung vor Augen hat. 284 Auf diese Passage werde ich später noch einmal zurückkommen. Nun können wir allerdings noch einen Schritt weitergehen. Kant zufolge muss die Synthesis der in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen so stattfinden, dass zwischen diesen Vorstellungen die synthetische Einheit der Apperzeption hergestellt wird. Kant hat bereits im § 15 der B-Deduktion dafür argumentiert, dass alle Verbindung dem Verstand zugesprochen werden muss (vgl. B 130). Diese Überlegung betont Kant noch einmal im § 16 und er bezieht die Verbindung auf die Einheit der Apperzeption. Dazu schreibt er: Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist als das Vermögen, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperception zu bringen […]. (B 134 f.)
Dieser Passage zufolge ist der Verstand in der Lage, die in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen a priori zu synthetisieren und sie damit unter die Einheit der Apperzeption zu bringen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Verstand durch seine Synthesis zwischen den gegebenen Vorstellungen eine Einheit herstellen kann, die sich als die synthetische Einheit der Apperzeption bezeichnen lässt. Diese synthetische Einheit der Apperzeption wird auch von Kant als „transzendentale“, „ursprüngliche“ und „notwendige“ (vgl. B 135) beschrieben. Auch kommt diese synthetische Einheit, die zwischen den in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen besteht, deswegen der Apperzeption zu, weil die Synthesis, die die Einheit herstellt, in einem einzigen Subjekt und mithin in einem einzigen Bewusstsein ausgeübt wird. Dies lässt sich mit folgenden Kantischen Ausdrücken begründen: Man kann die gegebenen Vorstellungen „in einem Bewußtsein verbinden“ (B 133), „in einem Selbstbewußtsein […] vereinigen“ (B 134), „in einem Bewußtsein begreifen“ (B 134) oder „durch Verbindung in einem Bewußtsein“ (B 135) denken. Kants Betonung deutet an, dass die Synthesis der gegebenen Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein stattfinden muss, damit jede dieser Vorstellungen die Einheit des Selbstbewusstseins aufweist. Um dies zu erreichen, muss diese Synthesis, wie wir gemäß Kants Argumentationsverlauf sehen werden, die kategoriale Synthesis sein. Schließlich findet sich am Ende von § 16 eine Zusammenfassung, in der sich Kants Einstellung zur These der Identität-Synthesis am besten auszeichnen. Er schreibt: Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesammt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. Das ist aber so viel, als daß ich mir einer nothwendigen Synthesis derselben a priori bewußt bin, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception heißt, unter der alle mir gegebene Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen. (B 135) 284
Zu diesem Punkt vgl. Henrich 1976, S. 101-107; Carl 1992, S. 182; Allison 2004, S. 171 f.
122
3 Identität des Selbstbewusstseins
Kants Ausführungen kann man so verstehen: Ich bin mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in Bezug auf alle in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen genau dann bewusst, wenn ich mir diese Vorstellungen zuschreibe. Dem identischen Ich verschiedene Vorstellungen zuzuschreiben, ist wiederum genau dann möglich, wenn ich mir der Synthesis der gegebenen Vorstellungen bewusst bin. Diese Synthesis muss in einem Selbstbewusstsein ausgeübt werden, so dass die verbundenen Vorstellungen die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins aufweisen. Kurz gesagt: Das Bewusstsein der Identität des Ich kommt durch die Selbstzuschreibung zustande; aber die Selbstzuschreibung setzt die synthetische Einheit der Apperzeption voraus. Allerdings ist zu beachten, dass Kant im obigen Zitat das argumentative Bedingungsverhältnis nicht ganz zum Ausdruck gebracht hat, indem er die Formulierung „Das ist aber so viel, als daß“ benutzt. Aber dies sollte Kants Hauptargument im § 16 nicht verletzten können. Zum Schluss kann man sagen, dass der Ausgangspunkt der B-Deduktion das Bewusstsein der Identität des Ich bzw. die Identität der Apperzeption ist. In Kants eigenen Worten: Er hat im § 16 nachgewiesen: Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperception selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. (B 134)
3.2.3 Kants Argument der Identität in der „Deduktion von oben“ Ich habe oben erwähnt, dass die Identität der Apperzeption bzw. das Bewusstsein der Identität des Ich als Ausgangspunkt der transzendentalen Deduktion fungiert. Demnach macht die Überlegung, dass die Möglichkeit der Identität eine Synthesis der gegebenen Vorstellungen erfordert, den ersten entscheidenden Schritt einer erfolgreichen Deduktion aus. Da ich bereits im letzten Abschnitt anhand Kants Ausführungen der B-Deduktion auf den Übergang von der Identität zur Synthesis eingegangen bin, möchte ich nun noch einmal im Rahmen der ADeduktion prüfen, wie Kant für das Bewusstsein der Identität des Ich argumentiert und wie sich der Argumentationsgang der Deduktion durch die These der Identität-Synthesis entwickelt. Es ist schon bekannt, dass Kants B-Deduktion eine relativ klare Struktur hat, so kann man leicht sehen, dass der Anfang des Texts eben der Anfang des Argumentationsgangs der Deduktion ist. Aber dieser Vorteil steht uns in der A-Deduktion nicht zur Verfügung, denn ihre argumentative Struktur scheint nicht deutlich zu sein. Nach Kants Einteilung enthält die ADeduktion hauptsächlich eine vorbereitende Darstellung (Zweiter Abschnitt „Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung“) und eine systematische Darstellung (Dritter Abschnitt „Von dem Verhältnisse des Verstandes zu Gegenständen überhaupt und der Möglichkeit diese a priori zu erkennen“). Die letztere besteht vor allem aus einer „Deduktion von oben“ (A 116-119) und einer „Deduktion von unten“ (A 119-125). Diese zwei Textstücke unterscheiden sich darin, dass sie verschiedene Ausgangspunkte haben. Wie die zwei gewöhnlich gebrauchten Bezeichnungen zeigt, geht jenes von der Apperzeption aus, dieses hingegen fängt mit dem Empirischen an. Da Kant in allen Texten der A-Deduktion nur in der
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
123
„Deduktion von oben“ die Apperzeption ausdrücklich als Ausgangspunkt seines Arguments ansieht, möchte ich meine Untersuchung auf dieses Textstück (A 116-119) beschränken. 285 Betrachten wir zunächst die Argumentationsstruktur der „Deduktion von oben“. Kants Argument lässt sich nach meinem Verständnis des Textes als ein vollständiges Argument ansehen, das von der Identität der Apperzeption ausgeht und schließlich die Gültigkeit der Kategorien für alle Gegenstände unserer Sinne zur Folge hat. Das heißt, dass dieses Argument zwar kurz ist, aber fast die meisten wichtigen Punkte enthält, auf die Kant eigentlich in der ADeduktion Wert legen will. Allerdings hat Kant dieses Argument nicht ausführlich entwickelt. Das liegt vermutlich einerseits daran, dass er seine Ausführungen in der dreifachen Synthesis voraussetzt. Andererseits will er vielleicht die einzelnen Punkte erst in der „Deduktion von unten“ ausführlicher darstellen. Nachdem Kant kurz die drei subjektiven Erkenntnisquellen – Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption – erklärt hat (A 115-116), liefert er das Argument der „Deduktion von oben“ durch vier Absätze und eine lange Fußnote. Die Linie von Kants schwer zu durchschauender Argumentation lässt sich nach meinem Verständnis des Textes so wiedergeben: (1) Das Bewusstsein der Identität des Ich erfordert die synthetische Einheit der in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen. (2) Die synthetische Einheit der gegebenen Vorstellungen setzt eine Synthesis a priori voraus. (3) Diese Synthesis a priori lässt sich nur durch die produktive Einbildungskraft ausüben. (4) Demnach bezieht sich die Synthesis der Einbildungskraft notwendigerweise auf die Einheit der Apperzeption. (5) Da die reine Synthesis der Einbildungskraft und die Einheit der Apperzeption beide transzendental sind, ist die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft die reine Form aller Erkenntnis. (6) Der reine Verstand ist nichts anderes als die transzendentale Einheit der Apperzeption, die sich auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bezieht. (7) Deshalb kann der reine Verstand reine Erkenntnisse a priori liefern, die wesentlich in der transzendentalen Einheit der Synthesis der Einbildungskraft bestehen. (8) Es wurde in der Metaphysischen Deduktion begründet, dass der reine Verstand die Kategorien gibt. (9) Somit sind die reinen Erkenntnisse a priori des Verstandes nichts anderes als die Kategorien. (10) Da alle Gegenstände möglicher Erfahrung erst durch die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt werden, bezieht sich der reine Verstand durch die Kategorien auf alle Gegenstände unserer Sinne bzw. Erscheinungen. Diese Rekonstruktion liefert uns einen Blick darauf, wie Kant von der Identität der Apperzeption zum Vorkommen der Kategorien übergeht. Sie bedarf freilich einer textnahen Erläuterung. Auch müssen wir die anderen Textstellen aus der A-Deduktion heranziehen, um jeden 285
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Beweisstruktur der A-Deduktion vgl. Carl 1992, S. 42-59.
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3 Identität des Selbstbewusstseins
einzelnen Schritt und ihren Zusammenhang zu begründen. Aber es würde hier zu weit führen, auf alle Schritte dieser Rekonstruktion ausführlicher einzugehen. Für meinen jetzigen Zweck mag es genügen, den ersten Schritt möglichst plausibel zu erläutern. Denn darin zeigt sich am besten die von mir vorgeschlagene Interpretationshypothese: Die Identität der Apperzeption fungiert als Ausgangspunkt der Deduktion. Damit werde ich mich im Folgenden vor allem auf den ersten Absatz der „Deduktion von oben“ konzentrieren. Ich möchte diese Passage vorständig zitieren und die Sätze einzeln durchnumerieren. 286 Sie lautet: [1] Wollen wir nun den innern Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen bis auf denjenigen Punkt verfolgen, in welchem sie alle zusammenlaufen müssen, um darin allererst Einheit der Erkenntniß zu einer möglichen Erfahrung zu bekommen, so müssen wir von der reinen Apperception anfangen. [2] Alle Anschauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direct oder indirect darauf einfließen, und nur durch dieses allein ist Erkenntniß möglich. [3] Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntniß jemals gehören können, bewußt, als einer nothwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können). [4] Dies Princip steht a priori fest und kann das transscendentale Princip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen (mithin auch in der Anschauung) heißen. [5] Nun ist die Einheit des Mannigfaltigen in einem Subject synthetisch: also giebt die reine Apperception ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die Hand. (A 116 f.)
In diesen fünf Sätzen stellt Kant das transzendentale Prinzip der Apperzeption in der „Deduktion von oben“ in Gestalt einer außerordentlich komprimiert abgefassten Argumentationsskizze dar. Wie sich im obigen Schritt (1) zeigt, besteht Kants Aufgabe darin, zu begründen, dass das Bewusstsein der Identität des Ich die synthetische Einheit der in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen erfordert. Um Kants Begründung besser verständlich zu machen, möchte ich im Folgenden die ganze zitierte Passage durch eine Satz für Satz analysierende Interpretation der Reihe nach kommentieren. Zu [1]: Zunächst erwähnt Kant einen textlichen Rückverweis („dieser Verknüpfung der Vorstellungen“). Was damit gemeint ist, sollte man in dem zugehörigen Kontext der ADeduktion finden. Da Kant in den der zitierten Passage vorhergehenden zwei Absätzen nicht direkt von der Verknüpfung der Vorstellungen spricht, soll er den Ausdruck auf den zweiten Abschnitt „Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung“ beziehen. So ist mit der „Verknüpfung der Vorstellungen“ die dreifache Synthesis gemeint. Und da die dreifache Synthesis über die gleiche Argumentationsstruktur verfügt, der empirischen Synthesis liege jeweils eine transzendentale Synthesis zugrunde, sollte die Verknüpfung der Vorstellungen, von denen hier die Rede ist, genauer die empirische Synthesis der Vorstellungen bedeuten. Denn Kant versucht „den innern Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen“ zu verfolgen. Das heißt, dass Kant im dritten Abschnitt den Grund der Möglichkeit der empirischen Synthesis der empirischen Vorstellungen noch einmal „vereinigt und im Zusammenhange“ untersuchen will. Parallel dazu spricht Kant kurz vor der Darstellung der dreifachen Synthesis davon, dass die Spontaneität „der Grund einer dreifachen Synthesis“ (A 97) ist. 287 Dieser gesuchte Grund 286 287
Eine detaillierte Rekonstruktion zu dieser Passage vgl. auch Thöle 1991, S. 236-239. Carl versteht die hier besagte Verknüpfung der Vorstellungen als „die Synthesis empirischer Vorstellungen, deren apriorische Bedingungen zuvor genannt werden“ (Carl 1992, S. 199).
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
125
ist deswegen ein entscheidender Punkt, weil Kant zweierlei ankündigt: Zum einen müssen alle verknüpften Vorstellungen in den Punkt zusammenlaufen. Das bedeutet, dass alle Vorstellungen sich auf diesen Punkt beziehen und im Zusammenhang mit diesem Punkt miteinander verbunden sind. Zum anderen geht nur aus diesem Punkt „allererst Einheit der Erkenntnis“ hervor. Das impliziert, dass die Art der Einheit nicht die abgeleitete empirische Einheit, sondern die ursprüngliche transzendentale Einheit sein muss. Dieser grundlegende Punkt ist laut Kant die reine Apperzeption. Das Argument, das von diesem obersten Grund unserer Erkenntnis ausgeht, wird oft als „Deduktion von oben“ bezeichnet. Zu [2]: Wie Kant in der transzendentalen Ästhetik ausführt, können wir aufgrund von der Sinnlichkeit Anschauungen erwerben. Aber Kant geht nun davon aus, dass die Anschauungen es mit uns als erkennenden Subjekten gar nicht zu tun haben, wenn sie nicht „ins Bewußtsein aufgenommen werden können“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die gegebenen Anschauungen als bewusste Vorstellungen angesehen werden können müssen, wenn sie unsere Erkenntnisse der Gegenstände ausmachen können. Mit dem Ausdruck „ins Bewußtsein aufnehmen“ ist meines Erachtens gemeint, dass man nicht nur tatsächlich eine Vorstellung hat, sondern sich ihrer auch bewusst ist. 288 Außerdem weist Kant darauf hin, dass wir die gegebenen Anschauungen ins Bewusstsein entweder unmittelbar oder mittelbar aufnehmen können. Eine Parallelstelle dazu findet sich in § 5 der Anthropologie, wo er davon spricht, dass wir uns der Vorstellungen, die wir tatsächlich haben, entweder unmittelbar oder mittelbar bewusst werden können. 289 In der von Kant direkt zur zitierten Passage verfassten Fußnote wiederholt er noch einmal diese Konzeption. Und er gebraucht dort die empirische Redeweise. Dazu schreibt er: Alle Vorstellungen haben eine nothwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein: denn hätten sie dieses nicht, und wäre es gänzlich unmöglich, sich ihrer bewußt zu werden, so würde das so viel sagen, sie existirten gar nicht. (A 117 Anm.)
Aus dieser Ausführungen folgt, dass die gegebenen Anschauungen sich auf das Bewusstsein beziehen müssen, damit sie als Stoff unserer Erkenntnis fungieren können. Es ist aber hier meiner Ansicht nach nicht nötig, weiterzuverfolgen, was mit der Rede vom Bewusstsein gemeint ist und worin die Beziehung der Anschauungen zum Bewusstsein genauer besteht. Denn was Kant hier liefert, ist nur eine allgemeine Beschreibung. Und was er eigentlich zeigen will, ist nichts anders als die Tatsache: „[D]ie Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse möglich machen.“ (A 97) Denn eine gegebene Anschauung, die bloß auf der Rezeptivität beruht und mithin gar nichts mit dem Bewusstsein zu tun hat, kann sogar nicht eine Wahrnehmung (empirisch bewusste Vorstellung) genannt werden, geschweige denn, dass sie in unserem Erkenntnisprozess eine sinnvolle Rolle spielen kann. Das ist auch der Grund, weshalb Kant in der berühmten Stufenleiter der Meinung ist, dass die Gattung die Vorstellung überhaupt ist, und dass unter ihr anschließend die Vorstellung mit Bewusstsein
288
289
Vgl. auch Kants Nachträge zur Kritik: „Alle Anschauungen sind nichts vor uns wenn sie nicht ins Bewustseyn aufgenommen werden. Also ist ihr Verhältnis zur möglichen Erkentnis nichts als das Verhältnis zum Bewustseyn.“ (AA XXIII 19) Vgl. AA VII 135.
126
3 Identität des Selbstbewusstseins
steht (vgl. A 320/ B 376). Dort hat er schon Anschauungen in bewusste Vorstellungen eingeordnet. Zu [3]: Kants Aussage in diesem Satz spezifiziert seine im letzten Satz allgemeiner dargestellte Überlegung. Er will nämlich von dem Verhältnis zwischen den gegebenen Vorstellungen und der reinen Apperzeption näher handeln. Diese Aussage enthält zwei Thesen. Die erste kommt durch den Hauptsatz zum Ausdruck. Die zweite wird durch den in Klammern stehenden Satz ausgesagt. Nach Kants Formulierung scheint dieser Satz nur zur Begründung der ersten These zu dienen. Aber er drückt der Sache nach eine noch wichtigere These aus, die für den Argumentationsgang von großer Bedeutung ist. Die erste These lautet: Das Bewusstsein der Identität des Ich bzw. die Identität der Apperzeption ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit aller epistemisch relevanten Vorstellungen. Dieser Gedanke lässt sich so verdeutlichen: Die Vorstellungen, die den epistemischen Status haben, sind genau dann möglich, wenn ich mir meiner selbst als eines identisches Subjekts in diesen Vorstellungen bewusst bin, d. h. wenn ich von ihnen weiß, dass sie meine Vorstellungen sind. Denn sonst wären diese Vorstellungen, wie es sich in [2] gezeigt hat, für mich als erkennendes Subjekt nichts. Die Aussage in Klammern lässt sich als Begründung für diese These insofern ansehen, als Kant darin zu erklären versucht, wie der Umstand, eine gegebene Vorstellung werde als meine Vorstellung bezeichnet, möglich ist. So lautet die zweite These: Die epistemisch relevanten Vorstellungen als meine Vorstellungen können genau dann etwas repräsentieren, wenn sie in einem Bewusstsein miteinander verbunden werden können. Diese These kann man so deutlich machen: Die gegebenen Vorstellungen können deswegen etwas repräsentieren, weil sie als in einem Ganzen zusammenhängende anzusehen sind, d. h. weil zwischen ihnen irgendeine synthetische Einheit besteht. Dazu ist es natürlich erforderlich, dass diese Vorstellungen synthetisiert werden können, um die synthetische Einheit herzustellen. Somit ist es klar, dass meine Vorstellungen, die etwas repräsentieren können, die synthetische Einheit dieser Vorstellungen voraussetzt. Diese beiden Thesen zusammengenommen laufen darauf hinaus, dass das Bewusstsein der Identität des Ich die synthetische Einheit der Vorstellungen voraussetzt. Denn die Synthesis, die den gegebenen Vorstellungen synthetische Einheit verschaffen kann, macht es möglich, dass diese Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein stehen. Infolgedessen kann das Subjekt, das die Synthesis vornimmt, wissen, dass es in allen diesen Vorstellungen durchgängige Identität hat. Zu dieser Konzeption findet sich in Kants Nachträgen der Kritik eine Parallelstelle, wo er schreibt: Aber alle Verknüpfung des Manigfaltigen der Anschauung ist nichts wenn es nicht in die Einheit der Apperception aufgenommen worden ingleichen gehört iede an sich mögliche Erkentnis nur dadurch zu einem möglichen Erkentnis daß sie mit allen andern möglichen im Verhältnis zu einer Apperception gehöret. (AA XXIII 19)
Hier betont Kant, dass sich die Verknüpfung des Mannigfaltigen der Anschauung auf die reine Apperzeption beziehen muss. 290 290
Schon in einer Reflexion aus dem Duisburg’schen Nachlass um 1775 hat Kant diese Konzeption erwähnt, wo es heißt: „Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen. Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir.“ (R 4676, AA XVII 656)
3.2 Argument der Identität des Selbstbewusstseins
127
Zu [4]: Kant hat bereits in [3] erwähnt, dass das Bewusstsein der Identität des Ich in Bezug auf meine Vorstellungen apriorische Gewissheit hat. Aber erst hier in [4] ist von der Apriorität ausdrücklich die Rede. Er geht nämlich davon aus, dass sich das Prinzip, wir seien uns der durchgängigen Identität unserer selbst in Bezug auf unsere Vorstellungen bewusst, a priori festlegen lässt. Auch bezeichnet Kant dieses Prinzip als transzendental. Dies besagt, dass es Kant hier nicht um empirische Vorstellungen geht, mithin auch nicht um die empirische Synthesis dieser Vorstellungen. Vielmehr betrifft das Prinzip das reine Mannigfaltige, das in einer Anschauung gegeben ist, und eine reine Synthesis dieses Mannigfaltigen. Wenig später im nächsten Absatz setzt Kant sogleich auseinander, dass sich diese reine Synthesis durch die produktive Einbildungskraft ausüben lässt (A 118). Diese Überlegung ist für den Leser der Kritik nicht neu. Schon § 10 der Kritik, wo Kant zum ersten Mal den Begriff der Synthesis einführt, formuliert: Eine solche Synthesis ist rein, wenn das mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit). (A 77/ B 103)
Aus dieser Überlegung ergibt sich die apriorische Gewissheit des Prinzips jedenfalls dann, wenn Kant damit meint, dass das Bewusstsein der Identität des Ich in erster Linie auf der reinen Synthesis des reinen Mannigfaltigen der Anschauung beruht. Und die Art der Einheit, von der hier die Rede ist, ist daher nicht die empirische Einheit, sondern die transzendentale Einheit, die sich erfahrungsunabhängig durch die reine Synthesis herstellen lässt. Zu [5]: Kant rekapituliert hier wieder die schon in Klammern dargestellte Überlegung in [3], die Einheit des Mannigfaltigen der gegebenen Vorstellungen sei synthetisch. Denn diese Vorstellungen können nur dann etwas repräsentieren, wenn sie in einem Bewusstsein miteinander verknüpft werden können. Abschließend zieht Kant die Schlussfolgerung, die reine Apperzeption gebe „ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung“. Diese Behauptung scheint rätselhaft zu sein. Wie lautet denn das Prinzip? Inwiefern gibt die reine Apperzeption dieses Prinzip? In der Fußnote zu [5] fasst Kant das Prinzip mit den Worten zusammen: Der synthetische Satz: daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt. (A 117 Anm.)
Hier versteht Kant diesen Grundsatz als synthetisch, wohingegen er den Grundsatz der Apperzeption in der B-Deduktion als analytisch ansieht (vgl. B 135, B 138). Ich möchte diesem Punkt hier nicht weiter diskutieren. 291 Es reicht mir nun, darauf hinzuweisen, dass die synthetische Einheit der in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen nur mit Rekurs auf die reine Apperzeption begründet werden kann. Somit ist mit dem Wort „gibt“ nichts anderes gemeint, als dass die Apperzeption die synthetische Einheit der gegebenen Vorstellungen erfordert. Genauer gesagt, kommt das Bewusstsein der Identität des Ich nur durch die Synthesis a priori zustande, die die Einheit der gegebenen Vorstellungen herstellt. Diese Synthesis a priori wird von Kant noch einmal zu Beging des an [5] direkt anschließenden Absatz hervorgehoben: 291
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. Guyer 1980, S. 205-212; Allison 1996, S. 4152; Carl 1992, S. 204-205; Kitcher 2011, S. 121-125.
128
3 Identität des Selbstbewusstseins
„Diese synthetische Einheit setzt aber eine Synthesis voraus oder schließt sie ein; und soll jene a priori nothwendig sein, so muß letztere auch eine Synthesis a priori sein.“ (A 118) Wie erläutert, ist diese Überlegung schon in der Aussage [3] implizit enthalten. Zum Abschluss lässt sich zusammenfassen, dass Kant in der „Deduktion von oben“ tatsächlich von dem Bewusstsein der Identität des Ich bzw. der Identität der reinen Apperzeption ausgeht. Aus der oben Satz für Satz durchgeführten Analyse der zitierten Passage folgt die folgende Argumentationsskizze, die den oben genannte Schritt „(1)“ der „Deduktion von oben“ begründet: 1) Das Bewusstsein der Identität des Ich ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen. 2) Die gegebenen Vorstellungen können etwas nur dann repräsentieren, wenn sie mit anderen gegebenen Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpft werden können. 3) Demnach muss eine synthetische Einheit alles Mannigfaltigen der gegebenen Vorstellungen hergestellt werden. Also erfordert das Bewusstsein der Identität des Ich die synthetische Einheit der in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen. 3.3
Das stehende und bleibende Ich
Nach dem bisher Gesagten kann man die Identität der reinen Apperzeption so verstehen, dass ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in verschiedenen Vorstellungen bewusst bin. Und es ist schon klar geworden, dass kein Bewusstsein der Identität des Ich ohne Bewusstsein der Synthesis der Vorstellungen möglich ist. Demnach handelt es sich in dem reinen Selbstbewusstsein um ein identisches Ich. Dieses Ich wird von Kant in der transzendentalen Deduktion bekanntermaßen als „das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperception)“ (A 123) bezeichnet. Auch benutzt er die synonymen Ausdrücke: das „identische[] Selbst“ (A 129) 292 und das „stehende[] oder bleibende[] Selbst“ (A 107). Im ParalogismusKapitel charakterisiert Kant dieses Ich als „ein transzendentales Subjekt“ (A 346/ B 404), „das beständige logische Subjekt“ (A 350), „das numerischidentische Selbst“ (A 362) oder „das gleichlautende Ich“ (A 363). Außerdem nennt Kant dieses Ich in der Anthropologie „das blos reflectirende Ich“ 293. Üblicherweise verwendet Kant, wie schon mehrmals erwähnt, in der Preisschrift auch den bekannten Terminus „das logische Ich“ 294. Ich werde im Folgenden der Kürze halber das Kantische Ich „das identische Ich“ nennen. Da die Aufgabe des vorliegenden Kapitels darin besteht, zu erklären, was die Identität des Selbstbewusstseins ist, möchte ich mich in diesem letzten Abschnitt noch damit beschäftigen, was Kant unter dem identischen Ich, dessen ich mir bewusst bin, in verschiedenen Zeitphasen versteht. Anders gesagt: Ich möchte der Frage nachgehen, was genauer das stehende und bleibende Ich bedeutet. Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zuerst auf Kants Konzeption vor 1781, genauer gesagt, in dem Duisburg’schen Nachlass und in der Metaphysik L1 eingehen (3.3.1). Dann werde ich im Rahmen der transzendentalen Deduktion Kants Konzeption zum identischen Ich untersuchen (3.3.2).
292 293 294
Vgl. auch B 135, B 138. Anthropologie, AA VII 134. Preisschrift, AA XX 270 f.
3.3 Das stehende und bleibende Ich
129
3.3.1 Das Ich als Substanz: Duisburg’scher Nachlass und Metaphysik L1 Bevor die erste Auflage der Kritik erschien, scheint Kant eine naheliegende, doch zugleich auch sonderbare Ansicht zu vertreten: Das stehende und bleibende Ich ist eine denkende Substanz. 295 Sie ist naheliegend, weil unsere Vorstellungen ebenso einer immateriellen Substanz zukommen müssen, wie alle Eigenschaften der Dinge materiellen Substanzen zukommen. Und in der vorkantischen Philosophie (etwa bei Descartes und Leibniz) ist das denkende Ich als eine geistige Substanz verstanden worden. Kants Ansicht ist aber auch sonderbar, weil durchaus nicht einsichtig ist, wie er in seinem philosophischen System zu der Auffassung gekommen ist und warum er später nach 1781 diese Position aufgegeben hat. Kants Konzeption zum Ich als Substanz findet sich vor allem in dem Duisburg’schen Nachlass um 1775 296 und in den „Vorlesungen über Metaphysik nach Pölitz“ (Metaphysik L1) um 1778 (hauptsächlich in den „Einleitenden Begriffen“ 297). Ich beginne mit Kants eigenen Notizen. Bekanntlich gilt der sogenannte Duisburg’schen Nachlass als Kants erster Versuch zur Deduktion der Kategorien. Dort geht er davon aus, dass das denkende Ich so etwas wie ein Substratum ist. Sehen wir uns Kants eigene Formulierungen etwas genauer an: Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen. Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir. Dieses sind insgesamt Verhaltnisse, welche zwar nicht regeln der Erscheinung geben, aber machen, daß alle Erscheinung als unter Regeln enthalten vorgestellt werde. Das Ich macht das Substratum zu einer Regel überhaupt aus, und die apprehension bezieht iede Erscheinung darauf. (R 4676, AA XVII 656) Die Warnehmung ist die position im innern Sinne überhaupt und geht auf Empfindung nach Verheltnissen der apperception des Selbstbewustseyns, nach dem wir uns unsres eignen Daseyns bewust werden. Alle Warnehmung steht eben so wohl unter einer Regel der Beurtheilung. (R 4677, AA XVII 659)
In der ersten Passage bezeichnet Kant das Ich als das Substratum, auf das sich alle Erscheinungen beziehen. Nach Kants Sprachgebrauch ist mit dem Substratum normalerweise so etwas wie das Subsistierende oder das Beharrliche gemeint, dessen Gegenteil die inhärierenden oder wandelbaren Akzidenzen sind (vgl. A 182 ff./ B 224 ff.). Somit ist das Ich der Ursprung aller Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen. Und es fungiert als Träger aller Gedanken. Das Ich existiert in allen Gedanken, oder alle „Gedanken sind in mir“. In der zweiten Passage weist Kant ausdrücklich darauf hin, dass wir uns unserer eigenen Existenz in dem Selbstbewusstsein bewusst sind. Dies bringt andeutungsweise zum Ausdruck, dass das denkende Ich als eine immaterielle Substanz in allen Gedanken existiert. Diese grundlegende Position vom Ich stellt Kant auch dadurch heraus, dass er sagt: „Ich bin das original aller obiecte.“ 298 Und wenig später fährt er fort: „Das Gemüth ist sich selbst also das Urbild von [der Moglichkeit] einer solchen synthesis durch das ursprüngliche und nicht abgeleitete Denken.“ 299
295 296 297 298 299
Zum Beispiel schreibt Kant in einer Reflexion: „Die Seele ist in der transscendentalen apperception substantia Noumenon.“ (R 6001, AA XVIII 420) Vgl. R 4674 – R 4684, AA XVII 643 ff. Vgl. AA XXVIII 221 ff. R 4674, AA XVII 646. R 4674, AA XVII 647.
130
3 Identität des Selbstbewusstseins
Sind diese Überlegungen gegeben, so ist es leicht zu sehen, dass das Ich deswegen als stehend und bleibend bzw. identisch charakterisiert werden kann, weil es als eine immaterielle Substanz offenbar beharrlich ist. Der Grund dafür, dass Kant im Jahre 1775 auf eine substantialistischen Auffassung vom Ich gekommen war, mag darin bestehen, dass er damals von der dogmatischen Metaphysik stark beeinflusst wurde. 300 Denn ohne ein solches Substratum als Korrelatum würden alle Vorstellungen sich nicht auf „ihr gemeinschaftlich[es] Subjekt“301 beziehen. Gemäß diesem Modell der Ich-Substanz versucht Kant in dem Duisburg’schen Nachlass, wie Carls Untersuchung zeigt, 302 durch die Gleichsetzung der Funktionen der Apperzeption mit den Kategorien die Deduktion der Kategorien vorzunehmen. Aber Kant hat später in der ersten Auflage der Kritik wegen der Entdeckung der Paralogismen die Auffassung der Ich-Substanz und die darauf beruhende Konzeption der Deduktion aufgegeben. 303 Wenden wir uns nun Kants Konzeption der Ich-Substanz in der Metaphysik L1 zu. Da die Metaphysik L1 die Mitschrift von Kants Schüler Pölitz ist, scheint die Gültigkeit dieses Textes in vielerlei Hinsichten fraglich zu sein. 304 Dennoch möchte ich hier Kants Hauptgedanken kurz darstellen. Betrachten wir zuerst einmal Kants Unterscheidung vom Ich in verschiedenen Bedeutungen. Kant sagt: Dieses Ich kann im zweifachen Verstande genommen werden: Ich als Mensch, und Ich als Intelligenz. Ich, als ein Mensch, bin ein Gegenstand des inneren und äußeren Sinnes. Ich als Intelligenz bin ein Gegenstand des innern Sinnes nur; ich sage nicht: ich bin ein Körper, sondern: das an mir ist, ist ein Körper. Diese Intelligenz, die mit dem Körper verbunden ist, und den Menschen ausmacht, heißt Seele; aber allein betrachtet ohne den Körper heißt sie Intelligenz. (AA XXVIII 224)
In dieser Passage weist Kant darauf hin, dass das Ich zwei Bedeutungen hat: als Mensch und als Intelligenz. Das Ich als Intelligenz lässt sich wiederum in Intelligenz ohne Körper und Intelligenz mit Körper einteilen. Die Intelligenz, die in Verbindung mit Körper steht, nennt Kant die Seele. Aus terminologischem Grund kann man der Sache nach eine Trichotomie annehmen: Das Ich, das ganz unabhängig vom Körper existiert, ist eine Intelligenz; das Ich, das zwar im Zusammenhang mit dem Körper steht, wobei aber vom Körper abstrahiert wird, ist die Seele; das Ich, das Körper und Seele enthält, ist ein Mensch. Wenig später in der Metaphysik L1 führt Kant weiterhin eine Unterscheidung vom Ich ein. Dazu sagt er: 305 Wenn ich von der Seele rede, so rede ich von dem Ich in sensu stricto. Den Begriff der Seele bekommen wir nur durch das Ich; also durch die innere Anschauung des inneren Sinnes, indem ich mir aller meiner Gedanken bewusst bin, dass ich demnach von mir als einem Zustande des innern Sinnes reden kann. Dieser Gegenstand des innern Sinnes, dieses Subject, das Bewußtseyn in sensu stricto ist die Seele. In sensu stricto nehme ich das Selbst, sofern ich alles das weglasse, was in sensu latiori zu meinem Selbst gehört. Das Ich in sensu latiori drückt aber mich als den ganzen Menschen mit Seele und Körper aus. Der Körper aber ist ein Gegenstand des äußern Sinnes. Ich kann jeden einzelnen Theil des Körpers durch den äußeren Sinn wahrnehmen, so wie alle anderen Gegenstände. Die Seele ist aber ein Gegenstand des innern Sinnes. So fern ich mich nun als einen Gegenstand fühle und dessen bewußt bin; so bedeutet dies das Ich in sensu stricto oder die Selbstheit nur allein, die Seele. Diesen Begriff der Seele würden wir nicht haben, wenn wir nicht von dem Object 300 301 302 303 304 305
Eine entwicklungsgeschichtliche Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. Klemme 1999, S. 507-529. R 224, AA XV 85. Vgl. Carl 1989, S. 101. Nach Horstmann ist es auch nicht ausgeschlossen, dass Kant im Jahre 1775 eine nicht-substantialistische Deutung vom Ich vertritt. Vgl. Horstmann 2007, S. 141-143. Mögliche Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Textes vgl. Horstmann 2007, S. 144. Vgl. auch Kants Vorlesungsschrift Menschenkunde, AA XXV 861.
3.3 Das stehende und bleibende Ich
131
des inneren Sinnes alles Aeußere abstrahiren könnten: mithin drückt das Ich in sensu stricto nicht den ganzen Menschen, sondern die Seele allein aus. (AA XXVIII 265)
In diesem Zitat ist Kant der Meinung, dass die erfahrungsunabhängig betrachtete Seele das Ich in sensu stricto ist, weil die Seele allein der Gegenstand des inneren Sinnes ist und wir „von der Seele a priori reden“ 306 können. Das heißt, dass sich hier die Seele als ein bloß denkendes Wesen bzw. das denkende Ich bezeichnen lässt. Das Ich als Mensch hingegen ist das Ich in sensu latiori, weil es zugleich der Gegenstand des inneren und des äußeren Sinnes ist. Die obige Einteilung kann man durch das folgende Schaubild veranschaulichen: das Ich
Intelligenz (Ohne Körper)
Seele (mit Körper verbundene Intelligenz)
das Ich in sensu stricto
Mensch (Seele + Körper)
das Ich in sensu latiori
Abb. 9: Einteilung des Ich
Nun geht Kant in der Metaphysik L1 davon aus, dass die sogenannte „Seele a priori“ 307 eine Substanz ist. Die zentrale Passage, in der Kant seine Position ausdrückt, lautet folgendermaßen: Der bloße Begriff vom Ich, der unveränderlich ist, den man gar nicht mehr beschreiben kann, so fern er das Object des innern Sinnes ausdrückt und es unterscheidet, ist das Fundament von vielen anderen Begriffen. Denn dieser Begriff von Ich drückt aus: 1) Die Substantialität. – Substanz ist das erste Subject aller inhärirenden Accidenzen. Es ist dieses Ich aber ein absolutes Subject, dem alle Accidenzen und Prädicate zukommen können, und was gar kein Prädicat von einem andern Dinge seyn kann. Also drückt das Ich das Substantiale aus; denn dasjenige substratum, was allen Accidenzen inhäriert, ist das substantiale. Dieses ist der einzige Fall, wo wir die Substanz unmittelbar anschauen können. Wir können von keinem Dinge das substratum und das erste Subject anschauen; aber in mir schaue ich die Substanz unmittelbar an. Es drückt also das Ich nicht allein die Substanz, sondern auch das substantiale selbst aus. Ja was noch mehr ist, den Begriff, den wir überhaupt von allen Substanzen haben, haben wir von diesem Ich entlehnt. Dieses ist der ursprüngliche Begriff der Substanzen. (AA XXVIII 225 f.)
Kants Ausführungen zufolge ist das denkende Ich deswegen als eine Substanz anzusehen, weil zum einen der Begriff vom Ich nicht als Prädikat von anderen Dingen gebraucht werden kann, d. h. das Ich sei „das erste Subject“ bzw. „ein absolutes Subject“, dem alle Akzidenzen zukommen. Zum anderen ist das Ich das Objekt des inneren Sinnes und wir haben eine innere Anschauung vom Ich. Kants Auffassung hier ist offenbar ganz anders als in der ersten Kritik. In der ersten Auflage der Kritik hat Kant diese Konzeption zum Ich als Substanz bekanntermaßen verworfen (vgl. A 348 f.). Ein wichtiger Grund dafür besteht darin, dass Kant, wie Carl überzeugend nachgewiesen hat, 308 etwa zwei Jahre vor der Veröffentlichung der ersten Auflage der Kritik den Paralogismus in der traditionellen Seelenlehre entdeckt. Über diesen 306 307 308
Metaphysik L1, AA XXVIII 266. Metaphysik L1, AA XXVIII 266. Vgl. Carl 1989, S. 173 f.
132
3 Identität des Selbstbewusstseins
Punkt kann ich hier nicht näher diskutieren. Vielmehr möchte ich die für meinen Zweck wichtigere Frage verfolgen, welche Auffassung Kant nach dem Verwurf der Konzeption der IchSubstanz später in der transzendentalen Deduktion vertritt. Diese Frage werde ich im nächsten Teil beantworten. 3.3.2 Kants Konzeption in der transzendentalen Deduktion Die substantialistische Deutung des Ich macht zwar verständlich, dass das Ich „unveränderlich“ bzw. „stehend und bleibend“ ist, aber es darf, wie Kant im Paralogismus-Kapitel ausführt, keinesfalls als ein in der Anschauung gegebenes Objekt angesehen werden (vgl. B 410). Daher ist das Ich durchaus keine „Substanz in der Erscheinung“ (A 399). Und es ist zwar zulässig, das Ich als „ein logisches Objekt“, „ein intentionaler Gegenstand“ oder „ein Gedankending“ zu bezeichnen, 309 aber das Ich kann gar nicht ein erkennbarer Gegenstand sein. Was ist das identische Ich? Ich möchte im Folgenden versuchen, auf diese Frage im Rahmen der transzendentalen Deduktion zu antworten. In der transzendentalen Deduktion ist Kant der Meinung, dass sich alle Vorstellungen, insofern sie sich als meine bewussten Vorstellungen bezeichnen lassen, auf das identische Ich als ihres Korrelatum beziehen. Dazu schreibt er: Denn das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperception) macht das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus, so fern es blos möglich ist, sich ihrer bewußt zu werden. (A 123).
Dies besagt, dass alle Vorstellungen, insofern sie miteinander verknüpft werden können und damit einen Gedanken ausmachen, ein gemeinschaftliches Subjekt erfordern. Dieses Subjekt fungiert sowohl als ein logischer Träger aller Vorstellungen als auch als eine alle Synthesisleistungen stiftende Instanz. Das bedeutet, dass dieses Subjekt nicht bloß ein Empfänger, den Kant als „das sinnliche Ich“ 310 bezeichnet, sondern ein konstituierendes Ich ist. Wie Horstmann beschreibt, ist das Ich ein „Kraftzentrum“ 311, um das sich alle Vorstellungen herumdrehen. Ohne ein solches Ich wären verschiedene Vorstellungen zwar aufgrund der Rezeptivität unserer Sinnlichkeit gegeben, aber sie könnten nicht als meine Vorstellungen bezeichnet werden und mithin keinen Gedanken bilden. Denn jeder Gedanke ist nur durch ein vereinheitlichendes Subjekt möglich (vgl. A 352 f.). Die verschiedenen Vorstellungen, die zu verschiedenen Subjekten gehören, können keinen Gedanken ausmachen. Aus diesem Grund bezeichnet Kant dieses Ich als „die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden Gedanken“ (A 398). Somit begleitet dieses Ich alle meine Vorstellungen oder Gedanken. In Kants Worten: Das Ich muss „bei allem Denken immer wiederum“ (A 350) vorkommen. Von den obigen Überlegungen ausgehend ist es nötig, der Beziehung der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen auf das identische Ich Rechnung zu tragen. Laut Kant besteht zwischen den gegebenen Vorstellungen und dem identischen Ich eine wechselseitige Abhängigkeit. Einerseits sind die mir gegebenen Vorstellungen von einem de facto identisch bleibenden Ich ab309 310 311
Vgl. Rosefeldt 2001, S. 430-436. Preisschrift, AA XX 270. Horstmann 2007, S. 141.
3.3 Das stehende und bleibende Ich
133
hängig. Genauer gesagt: Die gegebenen Vorstellungen sind auf die Konstruktion des Subjekts angewiesen. Denn nur dadurch, dass das Subjekt diese Vorstellungen besitzt und verknüpft, können sie Gedanken ausmachen und mithin Objekte präsentieren. Ohne Konstruktion des Ich gibt es kein vorgestelltes Objekt. Somit kann man sagen, dass alle Vorstellungen ein ontologisches bzw. reales Verhältnis zum identischen Ich haben müssen. So schreibt Kant: „Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine nothwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subject, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.“ (B 132) Und die mannigfaltigen Vorstellungen sind „insgesammt in mir, d.i. Bestimmungen meines identischen Selbst“ (A 129). Andererseits ist das identische Ich auch von den gegebenen Vorstellungen abhängig. Das heißt, dass das identische Ich genau dann vorliegt, wenn es Gedanken gibt. Das Ich existiert nämlich auf keine andere Weise als „in allen Gedanken“ (A 350) und „in der Tat“ (B 422 Anm.) (Denkhandlung). Dies liegt daran, dass „die bloße Vorstellung“ (A 117 Anm.) vom Ich nichts anderes als „die bloße Form des Bewußtseins“ (A 382) ist. Es kann sich genau dann realisieren, wenn der Stoff zum Denken bereitgestellt ist und das Ich daran tätig ist. Dafür spricht Kants Aussage: Allein ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgiebt, würde der Actus: Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung oder des Gebrauchs des reinen intellectuellen Vermögens. (B 422 Anm.)
Aus diesem Grund kann man sagen, dass ich mir meiner selbst als ein und dasselben Subjekt lediglich in den von mir synthetisierten Vorstellungen bewusst bin, und zwar nur dann, wenn ich sie alle als meine Vorstellungen bezeichne. Dazu schreibt Kant: Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesammt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. (B 135)
Auf diesen Punkt bin ich bereits in Abschnitt 3.2 ausführlich eingegangen. Nun geht aus der obigen Analyse hervor, dass das identische Ich ein epistemisches bzw. beweisbares Verhältnis zu den gegebenen Vorstellungen hat. Nur in der kategorialen Synthesis dieser Vorstellungen kann, wie Kant selbst ausdrückt, „die Apperzeption allein ihre durchgängige und notwendige Identität a priori beweisen“ (A 112). Diese Überlegung stimmt offenbar auch mit dem im letzten Abschnitt angegebenen Gedanken überein, dass das Bewusstsein der Identität des Ich nicht ohne Bewusstsein der Synthesis der gegebenen Vorstellungen möglich ist. Nun ist es wichtig darauf zu achten, warum das Ich im Vergleich zur Mannigfaltigkeit der gegebenen Vorstellungen als identisch bzw. stehend und bleibend zu kennzeichnen ist. Dies lässt sich zugegebenermaßen durch die Theorie über Selbstzuschreibung der Vorstellungen klären. Laut Kant bin ich mir meiner selbst als ein und dasselben Subjekt bewusst, das sich in verschiedenen Vorstellungen befindet, indem ich von jeder dieser Vorstellungen wissen, dass sie meine ist. Mit anderen Worten: Dadurch, dass ich mir selbst verschiedene Vorstellungen zuschreibe, habe ich ein Bewusstsein davon, dass ich im Wechsel der Vorstellungen als das gemeinschaftliche Subjekt fungiere. Da ich in den Vorstellungen identisch bin, bezeichnet Kant das Bewusstsein von sich selbst auch als „ein und dasselbe [Bewusstsein]“ (B 132). Für die Theorie der Selbstzuschreibung sprechen die folgenden Kantischen Äußerungen:
134
3 Identität des Selbstbewusstseins
[D]enn er sagt nichts weiter, als daß alle meine Vorstellungen in irgend einer gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen und also als in einer Apperception synthetisch verbunden durch den allgemeinen Ausdruck: Ich denke, zusammenfassen kann. (B 138) Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperception) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei. (A 122)
Wie schon in Abschnitt 3.2 erläutert, setzt allerdings die Selbstzuschreibung der Vorstellungen die Synthesis dieser Vorstellungen voraus, „weil auf andere Art und ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde.“ (B 137) Hier brauchen wir diesen Punkt nicht zu wiederholen. Abschließend möchte ich nur noch darauf hinweisen, dass das stehende und bleibende Ich, von dem in der transzendentalen Deduktion die Rede ist, nicht als eine immaterielle oder geistige Substanz bezeichnet werden kann. Denn es ist, wie gesagt, nichts anderes als eine logische Bedingung für alle Gedanken und dient nur zum gemeinschaftlichen Subjekt, dem die Vorstellungen, die einen Gedanken ausmachen, zuzuschreiben sind. Damit ist Kants Konzeption zum stehenden und bleibenden Ich in der Kritik gewissenmaßen von der substantialistischen Auffassung des Ich in dem Duisburg’schen Nachlass und in der Metaphysik L1 abzugrenzen. Wie Kant im Paralogismus-Kapitel ausführt, ist es zwar zulässig, das stehende und bleibende Ich als „Substanz im Begriffe“ (A 400) zu bezeichnen, aber es ist keineswegs eine „vor sich selbst fortdauernde Seele“, also keine „Substanz in der Erscheinung“ (A 399). Mit anderen Worten: Wir sind nicht dazu berechtigt, „Gedanken zu Sachen“ zu machen, „die subjektive Bedingung des Denkens“ als „die Erkenntnis des Objekts“ (A 396) anzusehen, oder besser gesagt, „das beständige logische Subject des Denkens für die Erkenntniß des realen Subjects der Inhärenz“ (A 350) zu halten.
4 Einheit des Selbstbewusstseins: „Vieles in Einem“ Neben der Identität ist ein anderer wesentlicher Aspekt des Selbstbewusstseins die Einheit. Der Sachverhalt, dass ich mir meiner selbst bewusst bin, impliziert nämlich noch, dass ich darüber reflektiere, dass verschiedene Vorstellungen zu mir gehören, indem ich zwischen diesen Vorstellungen einen bestimmten Zusammenhang herstelle. Das heißt, dass ich mir bewusst bin, dass verschiedene Vostellungen in einem Subjekt verbunden sind. Daher lässt sich die Einheit des Selbstbewusstseins als „Vieles in Einem“ charakterisieren, während die Identität des Selbstbewusstseins, wie schon im letzten Kaptel erläutert, durch die Redeweise von „Einem in Vielem“ bezeichnet werden kann. 312 Kant zufolge kann das Bewusstsein dem gegebenen Mannigfaltigen eine Einheit „verschaffen“ (A 103). Dementsprechend verfügt die transzendentale Apperzeption auch über eine Einheit, die von Kant als transzendental beschrieben wird, „um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen“ (B 132). Bekanntlich führt Kant diese transzendentale Einheit in die transzendentale Deduktion der Kategorien deswegen ein, weil sie zur Grundlage des Beweises der objektiven Gültigkeit der Kategorien dient. Allerdings ist dieses Mittel zum Zweck für Kant so grundlegend, dass er es als „de[n] höchste[n] Punkt“ (B 133 Anm.) der Transzendental-Philosophie ansieht. Man kann zwar deutlich sehen, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption für Erkenntnisse der Gegenstände eine zentrale Rolle spielt. Und es ist auch klar, dass sich diese Einheit im Gedankengang der Deduktion auf die Synthesis der gegebenen Vorstellungen und mithin auf die Kategorien beziehen muss. Doch es ist noch nicht ganz klar, was genauer Kant mit der Einheit der Apperzeption meint, um sie von den anderen Arten der Einheit abzugrenzen. Und es ist nicht leicht zu verstehen, warum die Einheit der Apperzeption etwas mit unserer mentalen Aktivität der Synthesis zu tun hat. Auch scheint Kant nicht genug zu begründen, wie diese transzendentale Einheit zu unserer Erkenntnis des Gegenstandes beiträgt, so dass sie sich als eine objektive Einheit bezeichnen lässt. Diese Probleme versuche ich im vorliegenden Kapitel zu lösen, um die Einheit des Selbstbewusstseins verständlich zu machen. Ich möchte folgendermaßen vorgehen: Zuerst werde ich erklären, warum die Einheit des Selbstbewusstseins als qualitative Einheit zu verstehen ist (4.1). Anschließend werde ich anhand Kants Theorie der dreifachen Synthesis genauer untersuchen, wie sich die Einheit des Selbstbewusstseins durch die drei Aspekte einer Synthesis realisiert (4.2). Schließlich werde ich erläutern, warum die Einheit des Selbstbewusstseins eine objektive Einheit ist (4.3). 4.1
Einheit des Selbstbewusstseins als qualitative Einheit
In diesem Abschnitt möchte ich untersuchen, warum laut Kant die Einheit des Selbstbewusstseins als qualitative Einheit zu verstehen ist. Um auf diese Frage zu antworten,
312
Vgl. „Die analytische Einheit (identitas, Einerleyheit) u. die synthetische da nicht Eines in Vielem sondern Vieles in Einem vorgestellt wird.“ (Op, AA XXII 41)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_5
136
4 Einheit des Selbstbewusstseins
werde ich zunächst kurz den ontologischen Begriff „Unum“ (eins) in der traditionellen Metaphysik betrachten und dann die Kantische Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Einheit erläutern (a). Im Anschluss werde ich erklären, wie die Einheit des Selbstbewusstseins von der Kategorie der Einheit abgegrenzt wird (b). Schließlich werde ich dafür argumentieren, dass sich die qualitative Einheit des Selbstbewusstseins auf die Einfachheit des Subjekts zurückführen lässt (c). (a)
Unum: quantitative und qualitative Einheit
Um die Vollständigkeit der Kategorientafel zu begründen, behandelt Kant in § 12 der Kritik drei Grundbegriffe, die zur traditionellen Ontologie gehören: Einheit, Wahrheit und Vollkommenheit. 313 Diese Begriffe zeichnen sich insbesondere in dem scholastischen Satz aus: „quodlibet ens est unum, verum, bonum. [Ein jedes Seiende ist eines, wahr und gut.]“ (B 113) Nach den alten Scholastikern kann jedes Ding durch diese drei innerlichen allgemeinen Prädikate beschrieben werden. So hielten sie diese Prädikate für apriorische Begriffe von Gegenständen. Wenn das der Fall wäre, wären diese Begriffe mit den zwölf Kategorien gleichzustellen. Jedoch geht Kant davon aus, dass die drei Grundbegriffe zwar reine Begriffe a priori sind, aber in der Tat nicht als transzendentale Prädikate der Dinge, sondern nur als „logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntnis der Dinge überhaupt“ (B 114) gelten. Auch untersucht Kant den Ursprung des scholastischen Satzes und gelangt zu der Auffassung, dass den drei Begriffen der Sache nach die Kategorien der Quantität (Einheit, Vielheit und Allheit) zugrunde liegen. Somit gehören die drei Begriffe nicht zu den Stammbegriffen, sondern zu den reinen abgeleiteten Begriffen. Aus diesem Grund lässt sich die Kategorientafel bzw. die Gesamtzahl der Kategorien nicht für unvollständig erklären. Nun geht es mir um den Begriff „unum“ (eins) oder seine nominale Form „unitas“ (Einheit). In der Ontologie von Baumgartens Metaphysica definiert er „unum“ fogelndermaßen: Das EINE ist dasjenige, dessen Bestimmungen untrennbar sind, das TRANSZENDENTAL EINE aber dasjenige, dessen Bestimmungen an sich untrennbar sind. Also ist jedes Ding ein transzendentales Eines. (Baumgarten 2011, S. 81)
Dies besagt, dass Baumgarten zufolge die Einheit die Untrennbarkeit der Bestimmungen in einem Ding bedeutet. In gewissem Sinne hat Kant diesen Begriff der Einheit fortgeführt. 314 In seinen Vorlesungsschriften unterscheidet Kant zwischen quantitativer Einheit und qualitativer Einheit. 315 Er schreibt: 313 314
315
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Begriffen vgl. Leisegang 1915, S. 403-421. Kant geht davon aus, dass der Ausdruck „Ein jedes Ding ist einig“ (AA XXVIII 555) ein tautologischer Satz ist. Dazu schreibt er: „Es sind tavtologische Sätze daß jedes Ding ein Ding sey, daß ihm das zukomme, was ihm zukommt, und daß ihm alles zukommt, was ihm zukommt.“ (AA XXVIII 630) Das heißt, dass die „Einheit des Bestimmbaren“ (AA XXVIII 556) bereits in dem Begriff eines Dinges analytisch enthalten ist. (Vgl. AA XXVIII 414 f.; AA XXVIII 495 f.) In seinen Vorlesungsschriften beschreibt Kant den Begriff der Qualität und der Quantität in der traditionellen Metaphysik: „Der Autor redt jezt von der Qualitaet und Quantitaet. Die Determination eines Dinges so fern sie betracht werden kan als was an ihm gesezt wird, ist Qualitaet, und die Bestimmung des Dinges, wie viel ein und daßelbe, an dem Dinge gesezt wird, ist Quantitaet. - Aehnlichkeit ist die Uebereinstimmung der Qualitaet, Gleichheit, die Identitaet der Quantitaet, haben Dinge beydes zusammen, so sind sie congruentia.“ (AA XXVIII 414)
4.1 Qualitative Einheit
137
Die Einheit ist entweder qualitativ, oder quantitativ. Die erstere besteht in der Inseparabilität des Mannigfaltigen. - Die lezte ist die der Zusammensetzung einer Größe aus dieser Einheit. Im ersten Sinn nennen wir es z.B. die Einheit des Theater Stückes oder dergleichen. Die leztere wird immer schlechthin gesetzt, daher man sie die Categorische nennt. Die Predicate des Dinges wovon man handelt, müßen doch mit diesem Begriff verbunden werden. (AA XXVIII 630)
In diesem Zitat weist Kant darauf hin, dass die quantitative Einheit in der Inseparabilität der Zusammensetzung einer Größe, die qualitative Einheit in der Inseparabilität des Mannigfaltigen besteht. Das heißt, dass es sich bei der quantitativen Einheit um die Einheit, die als Größe zusammengesetzt werden kann, handelt. Aber die qualitative Einheit bedeutet, dass das Mannigfaltige in einem Ganzen verbunden ist. Hier ist bemerkenswert, dass Kant die quantitative Einheit als kategorische Einheit, die qualitative Einheit als so etwas wie „die Einheit des Theater Stückes“ beschreibt. Diese Unterscheidung charakterisiert Kant manchmal auch dadurch, dass er die quantitative Einheit als Einheit des Objekts, die qualitative Einheit aber als Einheit des Mannigfaltigen im Objekt bezeichnet. 316 Darüber hinaus versucht Kant durch die grammatikalische Unterscheidung zwischen Singular und Plural die quantitative und die qualitative Einheit deutlich zu machen. Dazu schreibt er in der Reflexion mit dem Titel „Über formale und materiale Bedeutung einiger Worte“: Es giebt mehrere Worte, die im Singulari gebraucht einen andern Sinn haben, als wenn man sie im Plurali braucht; sie sind alsdann im Singulari in formaler, im Plurali in materialer Bedeutung zu nehmen: diese sind Einheit, Vollkommenheit, Wahrheit, Möglichkeit. Einheit im Singulari gebraucht ist qualitativ, im Plurali gebraucht quantitativ. Qualitative Einheit ist wie der Grund des Ganzen, quantitative wie ein Theil des Ganzen zu betrachten. So kann man z.B. nicht sagen, die Wärme bestehe aus Lauigkeiten, man bestimmt also ihre Größe nicht nach den Theilen, welche sie enthält, sondern nach den Wirkungen, die sie hervorbringt, z.B. daß sie die Körper ausdehnt und man kann ihr daher nicht eine eigentliche Größe beilegen, sondern einen Grad, die Einheit, die sich bei ihr findet, ist also qualitative Einheit. - Die Einheiten, aus welchen discrete Größen (Zahlen) bestehen, sind quantitative Einheiten. (R 5663, AA XVIII 322)
In dieser Passage ist Kant der Meinung, dass der Gebrauch des Worts „Einheit“ im Singular von dem im Plural abzugrenzen ist. Diese zwei Arten des Gebrauchs unterscheiden sich voneinander in Bezug auf die formale und die materiale Bedeutung. 317 Die Einheit, die im Singular benutzt wird, ist qualitative Einheit, wobei es sich um den Grund des Ganzen handelt. Die Einheit, die im Plural verwendet werden kann, ist quantitative Einheit, wobei es sich um ein Teil des Ganzen handelt. Demnach kann man sagen: Das Gegenteil der qualitativen Einheit ist Mannigfaltigkeit (nicht einheitlich); aber das Gegenteil der quantitativen Einheit ist Vielheit (viele Einheiten). Kommen wir nun auf Kants Ausführungen in § 12 der Kritik zurück. Wie oben schon erwähnt, beruhen die drei ontologischen Grundbegriffe laut Kant auf den Kategorien der Quantität. Und da man dabei von dem „Verhältnis der Begriffe auf Objekte“ (B 115) abstrahiert, können die drei Begriffe nur in formaler Bedeutung gebraucht werden. Das heißt, dass sie nur zu allgemeinen logischen Regeln der Erkenntnis des Dinges überhaupt dienen. Allerdings ist bemerkenswert, dass die drei Begriffe, die aus den Kategorien der Quantität abgeleitet werden, 316 317
Vgl. R 5736, AA XVIII 340. Vgl. Kants Reflexion: „Einheit, Warheit und Vollkommenheit können formaliter oder materialiter genommen werden. Im ersten fall ist nur singularis, indem das Manigfaltige nur in eine Form paßt, im zweyten pluralis Moglich.“ (R 4804, AA XVII 733)
138
4 Einheit des Selbstbewusstseins
auch nur in der Erzeugung des Quantums in Bezug auf Gleichartiges gebraucht werden sollten. Doch in der traditionellen Ontologie wurden diese Begriffe „in Absicht auf die Verknüpfung auch ungleichartiger Erkenntnisstücke in einem Bewußtsein durch die Qualität eines Erkenntnisses als Prinzips“ (B 115) verwendet. Das bedeutet, dass diese Begriffe tatsächlich die Qualität der Dinge betreffen. Somit versteht Kant die traditionellen Begriffe (unum, verum und bonum) als qualitative Einheit, qualitative Vielheit und qualitative Vollständigkeit. Was die qualitative Einheit angeht, schreibt er: In jedem Erkenntnisse eines Objects ist nämlich Einheit des Begriffs, welche man qualitative Einheit nennen kann, so fern darunter nur die Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Erkenntnisse gedacht wird, wie etwa die Einheit des Thema in einem Schauspiel, einer Rede, einer Fabel. (B 114)
In dieser Passage bezeichnet Kant die Einheit des Begriffs als qualitative Einheit. Sie besteht nämlich darin, das gegebene Mannigfaltige zusammenzufassen, damit man Erkenntnisse eines Objekts gewinnen kann. Anders gesagt: Wie Kants Beispiel zeigt, bedeutet die qualitative Einheit nichts anderes, als dass sich verschiedene Inhalte auf ein Gemeinsames beziehen. Beispielsweise können verschiedene Szenen in einem Schauspiel aufgrund eines einzigen Themas zusammengesetzt werden; oder in einer Rede bringen die einzelnen Sätze zusammengenommen ein gemeinsames Thema zum Ausdruck. Was die Einheit des Selbstbewusstseins angeht, haben wir im letzten Kapitel davon gesprochen, dass Kant zwischen der analytischen und der synthetischen Einheit unterscheidet. Und er setzt die analytische Einheit mit der Identität des Selbstbewusstseins gleich. Nun kann man aufgrund von der obigen Darstellung sagen, dass die Identität des Selbstbewusstseins die quantitative Einheit ist. Denn dabei geht es darum, dass in verschiedenen Zeiten in Bezug auf verschiedene Vorstellungen nur von ein und demselben Subjekt die Rede ist. Das heißt, dass nach der Quantität das Ich als Objekt des reinen Selbstbewusstseins „numerisch-identisch“ (A 344/ B 402) ist. Die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins hingegen ist als die qualitative Einheit anzusehen, weil es sich hier darum handelt, die verschiedenen Vorstellungen in einem Subjekt zu verbinden. So ist dieses Subjekt der „Qualität nach einfach“ (A 344/ B 402). Diese Entsprechung hat Kant in den zwei Tafeln der rationalen Seelenlehre sehr deutlich dargestellt. 318 Damit kann man auch sagen, dass der dritte und der zweite Paralogismus, von dem Kant im Paralogismus-Kapitel spricht, jeweils die quantitative und die qualitative Einheit des Selbstbewusstseins betreffen. 319 (b)
„Einheit“ in der Kategorientafel und Einheit des Selbstbewusstseins
Bekanntlich ist die „Einheit“ in Kants Kategorientafel das erste Moment der Quantität. Ihr Gegenstück ist das zweite Moment bzw. die Kategorie der „Vielheit“. Die Kategorie der „Allheit“ als das dritte Moment wird durch die Verbindung von der Einheit und der Vielheit und mit Hilfe vom „besonderen Actus des Verstandes“ (B 111) erzeugt, wie Kant selbst schreibt: „So ist die Allheit (Totalität) nichts anders als die Vielheit als Einheit betrachtet.“ (B 111) Nach Kants Ausführungen im Schematismus-Kapitel (vgl. A 142/ B 182) und im Kapitel 318 319
Vgl. A 344/ B 402, A 404. Vgl. Henrich 1976, S. 55; Horstmann 1993, S. 417.
4.1 Qualitative Einheit
139
über Grundsätze des Verstandes (vgl. A 162 f./ B 202 f.) haben es die Kategorien der Quantität mit der Zahl und extensiver Größe zu tun. Da Kant jede Kategorie als eine Art und Weise der Synthesis versteht, betreffen die Kategorien der Quantität die Synthesis des Gleichartigen. Wir haben oben gezeigt, dass laut Kant die quantitative Einheit als „Inseparabilität der Zusammensetzung einer Größe“ 320 zu verstehen ist und im Plural verwendet werden kann. Somit lässt sich die Einheit in der Kategorientafel als quantitative Einheit bezeichnen. Man darf diese quantitative Einheit mit der qualitativen, synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins, von der vor allem in der transzendentalen Deduktion die Rede ist, nicht verwechseln. Die erstere ist nur eine der zwölf Kategorien, also eine der apriorischen Funktionen des Verstandes. Sie dient mit anderen Kategorien zusammen dazu, zwischen den gegebenen Vorstellungen eine synthetische Einheit herzustellen. Insofern ist die Einheit als Kategorie von den anderen Kategorien wie der Substanz, der Ursache usw. nicht verschieden, weil sie alle nichts anderes sind als eine Art und Weise, wie die synthetische Einheit der gegebenen Vorstellungen bewirkt wird. Im Gegensatz dazu werden wir sehen, dass die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins eine grundlegendere Einheit ist, nämlich die Einheit, die man sich bei jeder Kategorie (auch bei der Kategorie der „Einheit“) denkt. Daher ist sie als qualitative Einheit zu nennen, wodurch „das Manigfaltige in eines gebracht wird“ 321. Auf diesen Unterschied weist Kant im § 15 der B-Deduktion ausdrücklich hin, wo er schreibt: Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis desselben noch den der Einheit desselben bei sich. Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich. Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit (§ 10); denn alle Kategorien gründen sich auf logische Functionen in Urtheilen, in diesen aber ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht. Die Kategorie setzt also schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit (als qualitative, § 12) noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urtheilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche enthält. (B 130 f.)
Kants Ziel in dieser Passage ist es, die Möglichkeit der Verbindung überhaupt zu begründen. Nun geht es mir darum zu erklären, wie Kant die Unterscheidung zwischen der Kategorie der Einheit und der noch höher gesuchten Einheit macht. Zuerst spricht Kant von der Einheit, die „a priori vor allen Begriffen der Verdingung vorhergeht“ und „den Begriff der Verbindung allererst möglich“ macht. Auch definiert Kant die Verbindung als „Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen“. 322 Daraus folgt, dass die synthetische Einheit des Mannigfaltigen für die eigentliche Verbindung entscheidend ist. Diese Einheit, die die Verbindung möglich macht, ist offenbar die ursprüngliche Einheit der Apperzeption, die Kant später in § 16 thematisiert. Denn er hat darauf hingewiesen, dass wir diese Einheit noch höher suchen müssen. Nun ist bemerkenswert, dass Kant diese noch höher gesuchte Einheit als qualitative Einheit bezeichnet und daran erinnert, dass sie sich auf die oben schon in § 12 besprochene Einheit bezieht. Diese qualitative Einheit unterscheidet sich nicht nur von der Kategorie der 320 321 322
AA XXVIII 630. R 4674, AA XVII 643. Vgl. Kants Reflexion: „[Die Einheit] Das Verheltnis des Vielen unter einander, so fern sie [zusammen] in einem enthalten sind, ist die Verbindung.“ (R 5750, AA XVIII 343)
140
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Einheit, sondern ist auch grundlegender als die letztere. Dieses Verhältnis hat Kant in der oben zitieren Passage angedeutet. Laut Kant fungieren alle Kategorien als Regeln der Synthesis des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen. Sie werden im obigen Zitat als „Begriffe der Verbindung“ bezeichnet. Die Einheit, die Kant „noch höher suchen“ will, geht allen Kategorien voraus, also auch der Kategorie der Einheit. Dafür liefert Kant in der zitierten Passage ein Argument. Es lässt sich folgendermaßen wiedergeben: (P1): Alle Kategorien gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen. (P2): Die logischen Funktionen in Urteilen beruhen auf der Verbindung bzw. der Einheit der gegebenen Begriffe in Urteilen. (P3): Die Verbindung entsteht dadurch, dass die höher gesuchte Einheit zur Synthesis des Mannigfaltigen hinzukommt. Anders gesagt: Die Verbindung beruht auf der höher gesuchten Einheit. (K): Alle Kategorien setzen schon die Verbindung voraus, die auf der höher gesuchten Einheit beruht. Aufgrund dieser Rekonstruktion ist es klar, dass die Kategorie der Einheit bereits die nach Kants Argumentationsstrategie noch höher gesuchte Einheit voraussetzt. Diese qualitative Einheit ist, wie wir sehen werden, die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, worauf der „logische[] Gebrauche“ des Verstandes bzw. „die Möglichkeit des Verstandes“ (B 131) beruht. Allerdings ist es bisher noch offen geblieben, wie sich die Kategorien auf die noch höher gesuchte Einheit verhalten. Dieses Thema werde ich in den nächsten zwei Abschnitten 4.2 und 4.3 aufgreifen. (c)
Qualitative Einheit des Selbstbewusstseins und Einfachheit des Ich
Wie schon erwähnt, ist das Selbstbewusstsein ein Sachverhalt, in dem es möglich sein muss, dass ich mir alle gegebenen Vorstellungen zuschreibe. Daher besteht die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins wesentlich darin, die in einem denkenden Subjekt gegebenen Vorstellungen als in einem Selbstbewusstsein verbunden anzusehen. Kurz gesagt: Die gegebenen Vorstellungen gehören nicht nur tatsächlich zu mir als einem identischen Selbst, sondern ich weiß auch, dass sie alle als meine Vorstellungen in meinem Bewusstsein auf bestimmte Weise verbunden sind. Wir haben bereits davon gesprochen, dass die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins laut Kant als qualitative Einheit zu verstehen ist, weil es sich hier darum handelt, verschiedene Vorstellungen als in Einem Bewusstsein enthalten zu betrachten. Nun stellt sich die Frage, warum die Einheit des Selbstbewusstseins eine qualitative Einheit ist. Die Antwort wird sein: Im reinen Selbstbewusstsein ist das Objekt, das durch die IchVorstellung repräsentiert wird, das logische Ich bzw. das transzendentale Subjekt. Es ist einfach und inhaltslos. Mit anderen Worten: Die qualitative Einheit des Selbstbewusstseins lässt sich auf die Einfachheit und Inhaltslosigkeit des logischen Subjekts aller Gedanken zurückführen. Bekanntlich bezieht Kant im Paralogismus-Kapitel die qualitative Einheit des Subjekts bzw. des Selbstbewusstsein auf seine Einfachheit. Denn ihm zufolge ist die Seele „[i]hr Qualität nach einfach“ (A 344/ B 402). Die Einfachheit ist eine der vier Aspekte der unbe-
4.1 Qualitative Einheit
141
dingten Einheit des denkenden Subjekts, nämlich die „unbedingte Einheit der Qualität“ (A 404). Daher möchte ich im Folgenden anhand Kants Ausführungen im zweiten Paralogismus für die obige Antwort zwei Argumente geben. 323 Das erste Argument betrifft die Tatsache, dass aller Gedanke ein denkendes Subjekt erfordert. Verschiedene Vorstellungen können nur dann einen Gedanken ausmachen, wenn sie zu einem denkenden Wesen gehören. Anders gesagt: Die Vorstellungen, die jeweils numerisch verschiedenen Subjekten zukommen, können keinen Gedanken bilden. In Kants Worten: Das Ich „als gemeinschaftliche[s] Subjekt, […] dem [das Denken] inhäriert“, ist das „logische Subjekt des Denkens“ (A 350). Somit muss das Ich „bei allem Denken immer wiederum“ (A 350) vorkommen. Das Ich, sofern es aus verschiedenen Vorstellungen einen Gedanken macht, ist unteilbar. Insofern ist „das Ich“, so schreibt Kant, „der Singularis der Handlung des Denkens“ 324 . Diese Unteilbarkeit eines denkenden Subjekts nennt Kant die Einfachheit bzw. „Simplizität“ (A 351). Kants Ziel des zweiten Paralogismus ist es, den Erkenntnisanspruch der rationalen Psychologie auf die Einfachheit des denkenden Subjekts zurückzuweisen. Dies bedeutet aber nicht, dass das Ich zusammengesetzt wäre. Vielmehr will Kant zeigen, dass wir insofern berechtigt sind, dem Ich die logische Einfachheit zuzuschreiben, als wir die Vorstellung der Einfachheit nicht für „eine Erkenntniß von der Einfachheit des Subjects selbst“ (A 355) halten. 325 Dass ein singuläres Subjekt zu allem Denken erforderlich ist, bringt Kant in der zweiten Auflage des Paralogismus-Kapitels explizit zum Ausdruck. Er schreibt: Daß das Ich der Apperception folglich in jedem Denken ein Singular sei, der nicht in eine Vielheit der Subjecte aufgelöset werden kann, mithin ein logisch einfaches Subject bezeichne, liegt schon im Begriffe des Denkens […]. (B 407)
In der ersten Auflage des zweiten Paralogismus bezeichnet Kant die logische Einfachheit des Ich, von dem er hier spricht, auch als absolute Einheit des Subjekts bzw. „eine unteilbare Einheit“ (A 355). Das heißt, dass es immer möglich sein muss, dass die Vorstellung „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleitet, indem ich sagen kann, dass ich sie denke (vgl. B 131). Dazu schreibt Kant, dass „wir nur darum absolute Einheit des Subjects zu einem Gedanken erfordern, weil sonst nicht gesagt werden könnte: Ich denke (das Mannigfaltige in einer Vorstellung)“ (A 354). Um diese absolute Einheit des Subjekts in Bezug auf alle Gedanken zu verdeutlichen, sehen wir uns Kants eigenes Beispiel an: Denn setzet, das Zusammengesetzte dächte: so würde ein jeder Theil desselben einen Theil des Gedanken, alle aber zusammengenommen allererst den ganzen Gedanken enthalten. Nun ist dieses aber widersprechend. Denn weil die Vorstellungen, die unter verschiedenen Wesen vertheilt sind, (z.B. die einzelne Wörter eines Verses) niemals einen ganzen Gedanken (einen Vers) ausmachen: so kann der Gedanke nicht einem Zusammengesetzten als einem solchen inhäriren. (A 352)
323 324 325
Die folgende Interpretation verdankt viel den Untersuchungen von Dieter Henrich (1976, S. 58-62). R 4234, AA XVII 470. Dafür spricht auch Kants Formulierung: „So viel ist gewiß, daß ich mir durch das Ich jederzeit eine absolute, aber logische Einheit des Subjects (Einfachheit) gedenke, aber nicht, daß ich dadurch die wirkliche Einfachheit meines Subjects erkenne.“ (A 356)
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
Kants Argument ist klar: Wären die einzelnen Wörter eines Verses auf verschiedene Subjekte bzw. verschiedene Teile eines zusammengesetztes Subjekts verteilt, so könnten diese Wörter keinen ganzen Gedanken ausdrücken, den der Vers ursprünglich enthält. Denn ohne ein einheitliches Subjekt wäre keine Verbindung der Vorstellungen möglich. Daraus ergibt sich analogerweise, dass alle Vorstellungen, die einen Gedanken ausmachen, die absolute Einheit eines denkenden Subjekts voraussetzen. Diese Kantische Konzeption teilen auch die anderen Philosophen. Zum Beispiel schreibt Gottlob Frege in seinem Aufsatz Der Gedanke (1918): Jede Vorstellung hat nur einen Träger; nicht zwei Menschen haben dieselbe Vorstellung. (Frege 1990, S. 352) Wenn jeder Gedanke eines Trägers bedarf, zu dessen Bewusstseinsinhalte er gehört, so ist er Gedanke nur dieses Trägers […]. (Frege 1990, S. 353)
Oder ähnlich wie Kants Beispiel schreibt William James: Take a sentence of a dozen words, and take twelve men and tell to each one word. Then stand the men in a row or jam them in a bunch, and let each think of his word as intently as he will; nowhere will there be a consciousness of the whole sentence. (James 1890, S. 160) 326
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass das Ich als das Objekt des reinen Selbstbewusstseins im logischen Sinne bzw. ohne Erkenntnisansprüche einfach ist. Das Selbstbewusstsein ist ein einfaches Bewusstsein. 327 Darauf beruht erst, dass die gegebenen Vorstellungen als meine Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein synthetisch verbunden werden können. Das heißt, dass ich mir meiner selbst als desjenigen Subjekts, das die gegebenen Vorstellungen besitzt und verknüpft, bewusst bin. Somit lässt sich die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins als qualitative Einheit („Vieles in Einem“) auf die Einfachheit des Subjekts reduzieren. In Kants Worten: Insofern „wir bloß beim Denken stehen bleiben“ (B 413), wird die Einfachheit des denkenden Subjekts „in eine bloße logische qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt […] verwandelt“ (B 413, vgl. B 419). Das zweite Argument ist ein unmittelbares Resultat aus dem ersten: Ist das denkende Subjekt unteilbar, d. h. hat das Ich die logische Einfachheit, so kann es als Objekt des reinen Selbstbewusstseins keine realen Eigenschaften enthalten, obwohl ihm als einem gemeinschaftlichen Subjekt alle Vorstellungen zuzuschreiben sind. Mit anderen Worten: Im reinen Selbstbewusstsein enthält die Ich-Vorstellung für sich genommen keinen Inhalt. 328 Um dies 326 327 328
Ich übernehme dieses Zitat aus Förster 2011, S. 40. Kant bezeichnet das Selbstbewusstsein manchmal auch als „das einfache Bewußtsein“ (A 360). In der transzendentalen Deduktion hat Kant bereits davon gesprochen, dass das Ich kein Mannigfaltiges enthält. Dazu schreibt er in § 16: „Denn durch das Ich als einfache Vorstellung ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden. Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen.“ (B 135) Wenig später in § 17 wiederholt er nochmal diese Überlegung, wo es heißt: „Aber dieser Grundsatz ist doch nicht ein Princip für jeden überhaupt möglichen Verstand, sondern nur für den, durch dessen reine Apperception in der Vorstellung: Ich bin, noch gar nichts Mannigfaltiges gegeben ist.“ (B 138) In diesen zwei Passagen weist Kant darauf hin, dass das Ich eine kein Mannigfaltiges enthaltende Vorstellung ist. Kants Argument kann man so verstehen: Da das Mannigfaltige nur in der Anschauung gegeben werden kann, liefert der Verstand, der „nicht intuitiv, sondern diskursiv“ ist (A 68/ B 93), für sich durch das Selbstbewusstsein kein Mannigfaltiges. D. h. dadurch, dass ich bloß denke, oder dass ich mir meiner selbst bewusst bin, bekomme ich von mir selbst nichts Mannigfaltiges, weil hierbei von dem reinen Selbstbewusstsein die
4.1 Qualitative Einheit
143
zu verdeutlichen, betrachten wir Kants eigenes Argument etwas genauer. In der ersten Auflage des zweiten Paralogismus schreibt er: Der Satz: Ich bin einfach, muß als ein unmittelbarer Ausdruck der Apperception angesehen werden, so wie der vermeintliche Cartesianische Schluß: cogito, ergo sum, in der That tautologisch ist, indem das cogito (sum cogitans) die Wirklichkeit unmittelbar aussagt. Ich bin einfach, bedeutet aber nichts mehr, als daß diese Vorstellung: Ich, nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse, und daß sie absolute (obzwar blos logische) Einheit sei. (A 354 f.)
Wir brauchen uns hier nicht für Kants Überlegung zum Cartesianischen Schluss zu interessieren. Wichtig ist nun darauf zu achten, dass die Einfachheit des Ich, sofern sie unmittelbar durch das reine Selbstbewusstsein zum Ausdruck gebracht wird, zur Inhaltslosigkeit des Ich führt. Das heißt, dass die Ich-Vorstellung „die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung“ (A 345/ B 404) ist. 329 Denn das Ich, von dem im reinen Selbstbewusstsein die Rede ist, ist kein reales Subjekt, das sich im Laufe des Lebens entwickelt. Vielmehr wird dabei von allen Eigenschaften des Subjekts abstrahiert, so dass „es lediglich durch den an Inhalt gänzlich leeren Ausdruck Ich […] bezeichnet wird“ (A 355). Infolgedessen kann man sagen, dass das Ich der reinen Apperzeption weder ein Objekt der empirischen Anschauung, das ein Mannigfaltiges enthält, noch eine einfache Substanz, sondern „ein logisch einfaches Subjekt“ (B 407) ist. Die Leerheit des Ich läuft darauf hinaus, dass die Einheit des Selbstbewusstseins als qualitative Einheit anzusehen ist. Denn dieses leere Ich trägt nichts zum Inhalt seines Gedankens bei. Im Gegenteil: Erst in ihm lässt sich das gegebene Mannigfaltige verknüpfen und dadurch können alle Gedanken als meine Gedanken bezeichnet werden. Bei allen meinen Gedanken bin ich mir meiner selbst bewusst, als nämlich eines solchen Subjekts, das als „eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges“ fungiert. Aus diesem Grund ist die Einheit des Selbstbewusstseins auf die Inhaltslosigkeit des Subjekts zurückzuführen. Abschließend möchte ich nur noch herausstellen, dass die Einheit des Selbstbewusstseins, nach der Qualität betrachtet, auf der Einfachheit des Subjekts beruht. Diese qualitative Einheit ist die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins, die mich im nächsten Abschnitt beschäftigen wird. Die quantitative Einheit des Selbstbewusstseins bzw. die Einheit, die nach der Quantität betrachtet wird, ist die analytische Einheit bzw. die Identität des Selbstbewusstseins, womit ich mich schon im letzten Kapitel beschäftigt habe. 4.2
Einheit des Selbstbewusstseins als synthetische Einheit
Wie bereits mehrmals betont, ist Kants Begriff des Selbstbewusstseins vom gewöhnlichen Begriff des Selbstbewusstseins abzugrenzen. Denn für Kant muss die Möglichkeit des Sachverhalts, dass ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts bewusst bin, eine gewisse Bedingung erfüllen, unter der ich gegebene Vorstellungen als meine bezeichnen kann. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass diese Bedingung nichts anderes als die Synthesis ist.
329
Rede ist. Allerdings wird die Konzeption, dass das „Ich“ eine einfache Vorstellung ist, erst von Kant in den beiden Versionen des Paralogismus-Kapitels ausführlich entwickelt. Vgl. A 355, A 381 f.
144
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Genauer gesagt: Das Gemüt muss aufgrund seiner Spontaneität das gegebene Mannigfaltige auf gewisse Weise bearbeiten. Diese Aktivität des Gemüts ist, in Kantischer Sprache, die Synthesis der gegebenen Vorstellungen. Dabei ist Kant der Meinung, dass das Gemüt durch seine Aktivität dem gegebenen Mannigfaltigen einen gewissen Zusammenhang beilegt. Das heißt, dass das Gemüt zwischen den gegebenen Vorstellungen eine Einheit herstellt. Damit gehören diese Vorstellungen zu einem Selbstbewusstsein. Wenn ich mir nun bewusst bin, dass verschiedene gegegebene Vorstellungen als meine Vorstellungen in mir synthetisch verbunden sind, bin ich mir zugleich des Verhältnisses dieser Vorstellungen zu mir bewusst. Dabei handelt es sich um die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins. Denn verschiedene Vorstellungen sind als in einem Subjekt miteinander verbunden anzusehen. Und ich bin mir dieser Verbindung bzw. des Verhältnisses der Vorstellungen bewusst. Kurz gesagt: „Vieles in Einem“. Hier sieht man leicht, dass die Synthesis bzw. die Aktivität des Gemüts für die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins eine entscheidende Rolle spielt. Denn es ist nicht mehr möglich, von der synthetische Einheit des Selbstbewusstseins zu sprechen, wenn das Gemüt überhaupt nicht ins Spiel kommt, d. h. wenn das Gemüt das gegebene Mannigfaltige gar nicht bearbeitet. Darüber hinaus ist Kant der Meinung, dass wir uns tatsächlich unseres „Verbindungsvermögens“ (B 158) und seiner Ausübung bewusst werden können. Demnach muss das Bewusstsein der Synthesis auch möglich sein. Im letzten Kapitel haben wir zwar dafür argumentiert, dass das Bewusstsein der Synthesis für das Bewusstsein der Identität des Ich notwendig ist, aber noch nicht erklärt, wie die Synthesis der gegebenen Vorstellungen ausgeführt wird, auf welche Art und Weise die gegebenen Vorstellungen synthetisiert werden und wie sich die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins auf diese Synthesis genauer bezieht. Nun möchte ich auf die Aktivität des Gemüts näher eingehen. Die Frage, die mich in diesem Abschnitt beschäftigt, lautet, wie die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins durch die Synthesis der Vorstellungen möglich ist. Bekanntlich lässt sich die genannte Aktivität des Gemüts als dreifache Synthesis spezifizieren. Oder wie Kant selber sagt, beruht die Synthesis auf der Spontaneität 330 und gehört also zu den „Thätigkeiten des Gemüths“ 331. Da Kant im zweiten Abschnitt der A-Deduktion – „[v]on den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung“ (A 95 ff.) – ausführlich darstellt, wie das Gemüt die Tätigkeit der Synthesis vornimmt, möchte ich im Folgenden die oben aufgeworfene Frage im Rahmen von Kants Theorie der dreifachen Synthesis beantworten. Es ist zunächst sehr klar, dass das Ziel der dreifachen Synthesis darin besteht, durch Beschäftigungen mit den drei Aspekten ein und derselben Synthesis bzw. durch Untersuchungen der „drei subjektive[n] Erkenntnisquellen“ (A 97) die objektive Realität der Kategorien zu beweisen. Allerding will ich hier nicht auf Kants Ausführungen in der dreifachen Synthesis ausführlich eingehen. Auch will ich seine Argumente für den Beweis der Gültigkeit der Kategorien nicht rekonstruieren. Vielmehr besteht mein Zweck darin, durch Erklärungen der drei Aspekte der Synthesis die Möglichkeit der synthetischen Einheit der Apperzeption näher zu begründen. Damit werde ich im Folgenden meine Untersuchung nach der Reihe von Kants Darstellung der dreifachen Synthesis vornehmen. 330 331
„Diese [Spontaneität] ist nun der Grund einer dreifachen Synthesis […].“ (A 97) R 5216, AA XVIII 121.
4.2 Synthetische Einheit
145
4.2.1 Apprehension: Vorstellungen im Ganzen aufzufassen Der erste Aspekt der dreifachen Synthesis ist die Synthesis der Apprehension. Sie dient dazu, das gegebene Mannigfaltige im Ganzen aufzufassen. So bezeichnet Kant auch die Apprehension als „Auffassung“ 332 der Sinneseindrücke. Da die Sinnlichkeit ein rezeptives Vermögen ist, ist das Mannigfaltige, das sie darbietet, noch nicht verbunden. Dies bedeutet, dass alle Sinneseindrücke als „Modificationen des Gemüths“ (A 97) 333 im inneren Sinn nur „zerstreuet und einzeln“ (A 120) anzutreffen sind. Sie gelten noch nicht als Erkenntnisse der Gegenstände. Dazu schreibt Kant: Wenn eine jede einzelne Vorstellung der andern ganz fremd, gleichsam isoliert und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntniß ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist. (A 97)
Damit sich jede einzelne Vorstellung als in einem Ganzen bzw. im Zusammenhang mit anderen Vorstellungen enthaltend ansehen lässt, ist eine Handlung, die auf einem spontanen Vermögen beruht, erforderlich. 334 Denn die Sinnlichkeit empfängt zwar Eindrücke, aber ist selbst nicht in der Lage, sie zu synthetisieren. Diese gesuchte Synthesisleistung kann nur der Verstand bzw. die Einbildungskraft liefern. Die Rede davon, dass Vorstellungen im Ganzen aufgefasst werden, lässt sich durch Kants Rede von der absoluten Einheit erklären. Er geht davon aus, dass jede Vorstellung „als in einem Augenblick enthalten […] niemals etwas anderes als absolute Einheit sein“ (A 99) kann. Dies besagt, dass sich jede komplexe Vorstellung (z. B. eine Anschauung) als „absolute Einheit“ ansehen lässt. 335 In einem Augenblick besteht eine gegenwärtige Anschauung aus dem Mannigfaltigen, das einen bestimmten Zusammenhang besitzt. Egal wie kurz der Augenblick ist, muss eine Anschauung ein komplexes Ganzes des Mannigfaltigen sein. 336 Aber es ist hier zu beachten, dass diese Überlegung mit Kants Behauptung, dass eine Anschauung eine einzelne Vorstellung ist, nicht verwechselt werden darf. Mit einzelner Vorstellung ist gemeint, dass unter eine Anschauung nur ein einziger Gegenstand fallen kann. Dennoch ist die Anschauung von diesem Gegenstand eine komplexe Vorstellung, denn sie enthält das Mannigfaltige dieses Gegenstandes. Mit anderen Worten: Das Mannigfaltige, das in einer Anschauung enthalten ist, kann als dasjenige vorgestellt werden, das mit dem anderen Mannigfaltigen zusammen zu einer Anschauung gehört. Somit muss das 332 333 334
335 336
Vgl. Anthropologie, AA VII 142; KU, AA V 189 u. 251. Vgl. auch R 5636, XVIII 267. Vgl. Kants Formulierung: „Wir [können uns] müssen uns, wenn wir die Erscheinung vollstandig apprehendirten, einen Erzeugungsbegrif machen können. Dieser ist aber nur möglich, wenn das zufallige, was geschieht, im ganzen [genommen] oder in seiner ganzen Bestimmung (g relation) genommen nothwendig ist. Wenn ich mir nicht vorstellete, daß die Begebenheit in Betracht des gantzen nothwendig oder eine seite von dem, was bestandig ist, wäre, so würde ich meine Vorstellung vor keine Erkentnis und also auch nicht vor etwas, was einem obiect zukommt, halten.“ (R 5221, AA XVIII 123) Eine ausführliche Interpretation zum Ausdruck „absolute Einheit“ vgl. Grüne 2009, S. 153-155. Vgl. Kants Formulierung: „Alle Erscheinungen stehen als Vorstellungen in der Zeit und werden in der Zeit bestimmt. Als ein Theil einer gantzen Erscheinung kann sie nicht in einem Augenblicke, sondern in einem Theile der Zeit bestimmt werden (genetisch apprehendirt werden). Ein Theil der Zeit liegt zwischen zwey Grentzen und also zwey Augenbliken, ist also selber [bestimbar in der] eine Zeit, mithin ieder Theil der Erscheinung exponibel in der Zeit; also so wie die Zeit selbst besteht sie nicht aus einfachen Theilen.“ (R 5390, XVIII 169 f.)
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
Mannigfaltige der Anschauung als dasjenige angesehen werden, das die Einheit der Anschauung besitzt. Wie Hoppe erklärt, kann das Mannigfaltige „als einheitlich Zusammengehöriges“ 337 präsent sein. Die Tätigkeit des Gemüts, Vorstellungen im Ganzen aufzufassen, charakterisiert Kant als die Synthesis der Apprehension. Er schreibt: Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde (wie etwa in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben nothwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie gerade zu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches und zwar in einer Vorstellung enthalten niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann. (A 99)
Hier versteht Kant unter der Synthesis der Apprehension eine Handlung, das gegebene Mannigfaltige zu durchlaufen und zusammenzunehmen. In der B-Deduktion beschreibt er die Synthesis der Apprehension als „Zusammensetzung des Mannigfaltigen“ (B 160). Da diese Handlung unmittelbar die Sinneseindrücke, die in der Anschauung eintreten, auf sukzessive Weise ergreift, 338 ist sie der Einbildungskraft zuzuschreiben. 339 Eine Apprehension kann freilich auf empirische Weise stattfinden, wenn es um die empirisch gegebenen Sinneseindrücke geht. Aber Kant betont, dass es auch eine reine Synthesis der Apprehension geben muss, wenn das Mannigfaltige a prioiri gegeben ist. Und auf dieser a priori stattfindenden Synthesis beruhen Raum und Zeit als reine Anschauungen (formale Anschauungen). 340 Wolfgang Carl bezeichnet diese reine Ausübung des Gemüts als einen transzendentalen Gebrauch des Sinnes. 341 Nun ist es wichtig zu beachten, dass die Apprehension als der erste Aspekt ein und derselben Synthesis wesentlich darin besteht, das passiv gegebene Mannigfaltige durch Einbildungskraft sukzessiverweise aufzunehmen und damit jedes im Ganzen aufzufassen. Bewusstsein spielt dabei wohlgemerkt schon eine wichtige Rolle, weil Apprehension die mannigfaltigen Vorstellungen bewusst machen kann. Diese Überlegung ist in der Literatur sehr weit verbreitet. 342 Ich teile auch diese Meinung. Allerdings ist meiner Ansicht nach ein wichtiger Punkt bislang noch nicht genug bemerkt worden: Die Synthesis der Apprehension macht zwar 337 338 339
340
341 342
Hoppe 1983, S. 179. Vgl. „Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv.“ (A 189/ B 234) Diese Überlegung bringt Kant später in der „Deduktion von unten“ explizit zum Ausdruck: „Es ist also in uns ein thätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Thätigkeit aufnehmen, d.i. apprehendiren.“ (A 120) Dafür spricht auch Kants Aussage aus dem Duisburg’schen Nachlass: „Die Einheit der apprehension ist mit der Einheit der Anschauung Raum und Zeit nothwendig verbunden, denn ohne diese würde die letztere keine realvorstellung geben.“ (R 4678, AA XVII 660) Vgl. Carl 1992, S. 155. Zum Beispiel geht Hoppe davon aus, dass die Synthesis der Apprehension nicht bloß als „Zusammensetzen von einzelnen Empfindungen zu ganzheitlichen Wahrnehmungen“ aufgefasst werden sollte, sondern „vor allem als ein Zusammenfassen oder Zusammenhalten von ganzheitlichen Anblicken oder Wahrnehmungen eines Gegenstandes“ (Hoppe 1983, S. 179). Außerdem ist Carl der Meinung: „Die Apprehension ist das bewußte Erleben gegebener Vorstellungen, das nicht darin besteht, daß man einfach Eindrücke hat, sondern darin, daß man Empfindungen zu einer bewußten Vorstellung macht.“ (Carl 1991, S. 150) Haag sagt: „Die Synthesis der Apprehension bewirkt, dass das Mannigfaltige bewusst durchlaufen wird.“ (Haag 2007, S. 213) Auch Grüne schreibt: „Die Funktion des Apprehendierens besteht somit darin, Teilvorstellungen sinnlicher Vorstellungen bzw. deren Inhalte bewusst zu machen.“ (Grüne 2009, S. 158)
4.2 Synthetische Einheit
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gegebene Vorstellungen bewusst, aber dies lässt sich nicht ohne Rekurs auf die Synthesis der Rekognition erklären. Denn das Bewusstmachen der Vorstellungen muss darauf beruhen, dass wir uns durch Reflexion das Besitzverhältnis dieser Vorstellungen zu einem Subjekt vorstellt. Dafür muss die transzendentale Apperzeption schon zugrunde gelegt werden. Dies sieht man leicht darin, dass das Wort „Bewusstsein“ und seine offizielle Rolle erst in der Synthesis der Rekognition auftauchen. Auch weist Kant in dem Duisburg’schen Nachlass darauf hin, dass die Apprehension eine solche Handlung ist, derer man sich bewusst werden muss. 343 Und er schreibt: „Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen.“ 344 Folglich ist die Synthesis der Apprehension, sofern sie Vorstellungen bewusst macht, nur durch die Rekognition möglich. Schließlich ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass der erste Aspekt der dreifachen Synthesis wesentlich darin besteht, das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige in einem Ganzen aufzufassen, indem das Gemüt von einer Vorstellung zu einer anderen fortgeht und dann diese durchlaufenen Vorstellungen insgesamt erfasst. Infolgedessen wird zwischen den gegebenen Vorstellungen ein mereologisches Verhältnis hergestellt. Das heißt, dass jede Vorstellung als mit anderen verbunden anzusehen ist. Dies macht die erste Bedingung dafür aus, dass jede Vorstellung die synthetische Einheit der Apperzeption aufweist. Damit aber ein Ganzes der Vorstellungen wirklich gebildet wird, darf der vorherige Eindruck nicht wieder verloren gehen. Dazu ist die Synthesis der Reproduktion erforderlich. 4.2.2 Reproduktion: Das Ganze der Vorstellungen zu ermöglichen Der zweite Aspekt der dreifachen Synthesis ist die Synthesis der Reproduktion. Sie bedeutet nämlich die Handlung, die vorherigen Vorstellungen zu reproduzieren. Genauer gesagt: Diese Handlung besteht wesentlich darin, dass das Gemüt während des Erwerbens einer aktuellen Vorstellung zugleich eine schon apprehendierte Vorstellung in momentanen Gedanken behält. Die Reproduktion der Vorstellungen ist dewegen nötig, weil Verhältnisse der Vorstellungen, wenn jede Vorstellung in der Zeit immer verloren geht, unmöglich sind. Laut Kant wird die Reproduktion „in der Einbildung“ (A 100) ausgeführt. Das heißt, dass ebenso die Einbildungskraft, wie bei der Apprehension, für die Reproduktion verantwortlich ist. Denn die Einbildungskraft ist ein Vermögen, „auch ohne Gegenwart des Gegenstandes“ 345 eine vergangene Vorstellung zu vergegenwärtigen. Außerdem ist Kant der Meinung, dass es neben einer empirisch reproduktiven Synthesis der Einbildungskraft noch eine transzendentale Synthesis der Einbildungskraft geben muss, die auf reines Mannigfaltige gerichtet ist und auf apriorische Weise stattfindet. Letztlich betont Kant, dass die Synthesis der Reproduktion, sofern sie auf der reinen Ebene betrachtet wird, „zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts“ (A 102) 343
344 345
Dazu schreibt Kant: „Wir sind uns und unserer eigenen Handlungen bewust und der Erscheinungen, insofern wir uns der apprehension derselben bewust werden, entweder dadurch wir sie einander coordiniren oder eine Empfindung durch die andere apprehendiren.“ (R 4679, AA XVII 662) Wenig später fährt er fort: „Wir nehmen etwas nur wahr dadurch, daß wir uns unsrer apprehension bewust seyn, folglich des Daseyns in unserm innern Sinne […].“ (R 4681, AA XVII 667) R 4676, AA XVII 656. Anthropologie, AA VII 167.
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
gehört und auf dem „transzendentale[n] Vermögen der Einbildungskraft“ (A 102) beruht. Kants Argumentation ist nicht an allen Punkten klar, aber hier brauchen wir nicht auf alle Argumente einzugehen. Was mich nun beschäftigt, ist die Frage, wie sich die Reproduktion der Vorstellungen auf die synthetische Einheit der Apperzeption bezieht. Es ist schon deutlich, dass die Möglichkeit dieser Einheit eine Synthesis der gegebenen Vorstellungen erfordert. Nun ist es aber unklar, ob der zweite Aspekt der Synthesis auch in einem Selbstbewusstsein stattfindet und wie er das Ganze der Vorstellungen im Lichte vom Bewusstsein möglich macht. In der Kant-Literatur hat Johannes Haag zwar darauf hingewiesen, dass die Synthesis der Reproduktion „letztlich bewusste Vorstellungen erst möglich macht“ 346, aber die Rolle des Bewusstsein scheint in der Beschäftigung mit der Synthesis der Reproduktion nicht genug berücksichtigt zu werden. Zum Beispiel hat Hansgeorg Hoppe in seiner Interpretation überhaupt nicht vom Bewusstsein gesprochen. 347 Damit möchte ich im Folgenden darauf eingehen, dass auch die Kantische Überlegung, dass die Synthesis der Reproduktion das Ganze der Vorstellungen möglich macht, nur im Rekurs auf die Ebene des Bewusstseins verständlich ist. Es gilt zunächst zu beachten, dass das Ziel der Reproduktion darin besteht, die zeitlich vorhergehenden Vorstellungsinhalte in aktuelles Bewusstsein zu rufen. Denn wenn die vorherigen Vorstellungen beim Apprehendieren immer „aus den Gedanken“ (A 102) verloren gehen, ist es unmöglich, verschiedene Vorstellungen zu vergleichen und zu verknüpfen. In diesem Fall würde sich ein Zusammenhang zwischen den gegebenen Vorstellungen nicht ergeben. Somit ist die Apprehension allein noch nicht hinreichend, um die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins herzustellen. Diese Überlegung kommt in einer Passage aus der „Deduktion von unten“ sehr explizit zum Ausdruck, wo Kant schreibt: Es ist aber klar, daß selbst diese Apprehension des Mannigfaltigen allein noch kein Bild und keinen Zusammenhang der Eindrücke hervorbringen würde, wenn nicht ein subjectiver Grund da wäre, eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüth zu einer andern übergegangen, zu den nachfolgenden herüber zu rufen und so ganze Reihen derselben darzustellen, d.i. ein reproductives Vermögen der Einbildungskraft, welches denn auch nur empirisch ist. (A 121)
Nun sehen wir uns etwas genauer an, wie Kant dafür argumentiert, dass die Einbildungskraft durch die Synthesis der Reproduktion „eine ganze Vorstellung“ (A 102) bzw. eine „ganze Reihe[]“ (A 121) der Sinneseindrücke ermöglicht. Bekanntlich versucht Kant im zweiten Aspekt der dreifachen Synthesis für die „empirische Synthesis der Reproduktion“ eine zugrundeliegende Synthesis zu finden und die letztere als einen apriorischen Grund der Möglichkeit der Erfahrung zu erklären. Da die Einbildungskraft Kant zufolge sowohl im empirischen Sinne als auch im transzendentalen Sinne betrachtet werden kann (vgl. A 115), ist es naheliegend, dass es dementsprechend eine empirische Synthesis der Reproduktion und eine transzendentale Synthesis der Reproduktion gibt. Kants Argumentation fängt mit der empirischen Variante an. Zuerst scheint Kant eine These, die wir im Alltag leicht akzeptieren könnten, zum Ausdruck zu bringen: Es gibt eine empirische Synthesis der empirischen Einbildungskraft bzw. eine empirische Reproduktion. Diese 346 347
Haag 2007, S. 218. Hoppe 1983, S. 181-185.
4.2 Synthetische Einheit
149
These ist im Wesentlichen auf die empirische Tatsache zurückzuführen: Weil wir empirische Einbildungskraft haben, sind wir in der Lage, aufgrund einer gegenwärtigen Vorstellung eine vorherige Vorstellung zu reproduzieren und diese beiden Vorstellungen auf gewisse Wiese zu verknüpfen. Diese empirische Reproduktion ist abhängig von einem empirischen Gesetz, nach welchem das Verhältnis von beiden Vorstellungen entweder „Begleiten“ oder „Folge“ (A 100) ist. Beispiele dafür sind jeweils: Während ich meinen diesjährigen Geburtstag feiere, denke ich mir die Geburtstagsparty vom letzten Jahr; wenn ich den Sonnenschein sehe, denke ich an die Erwärmung des Steins. 348 Was die transzendentale Variante angeht, will Kant zeigen, wie die empirische Reproduktion und das damit zusammenhängende Gesetz der Assoziation möglich sind. Seine Antwort besteht darin, einen transzendentalen Grund „anzunehmen“. Dies kann man durch die folgende These formulieren: Da wir eine transzendentale Einbildungskraft haben, sind wir in der Lage, eine transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bzw. eine transzendentale Reproduktion auszuüben. Diese Aktivität der transzendentalen Einbildungskraft gehört „zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts“ (A 102). Nun muss Kant auch diese These begründen. Genauer gesagt: Er sollte erläutern, warum eine transzendentale Reproduktion möglich ist und der empirischen Reproduktion zugrunde liegt. Dazu liefert Kant die folgende zentrale Passage: Wenn wir nun darthun können, daß selbst unsere reinste Anschauungen a priori keine Erkenntniß verschaffen, außer so fern sie eine solche Verbindung des Mannigfaltigen enthalten, die eine durchgängige Synthesis der Reproduction möglich macht, so ist diese Synthesis der Einbildungskraft auch vor aller Erfahrung auf Principien a priori gegründet, und man muß eine reine transscendentale Synthesis derselben annehmen, die selbst der Möglichkeit aller Erfahrung (als welche die Reproducibilität der Erscheinungen nothwendig voraussetzt) zum Grunde liegt. Nun ist offenbar, daß, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich nothwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die erste Theile der Linie, die vorhergehende Theile der Zeit oder die nach einander vorgestellte Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproduciren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die reinste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können. (A 102)
Kants Ausführungen kann man so verstehen: Er gibt zuerst zwei Behauptungen: (i) Wir können beweisen, dass Raum und Zeit als reine Anschauungen a priori nur dann Erkenntnisse liefern können, wenn das reine Mannigfaltige, das durch eine reine Synthesis der Apprehension aufgefasst wird, auch einer reinen Synthesis der Einbildungskraft unterworfen ist, d. h. wenn dieses Mannigfaltige a priori auch reproduzierbar ist. (ii) Die reine Synthesis der Einbildungskraft beruht auf Prinzipien a priori und man muss eine transzendentale Synthesis der Einbildungskraft annehmen. Nun weist Kant darauf hin, dass diese beiden Behauptungen das Verhältnis haben: Wenn (i), dann (ii). Nach Modus ponens müssen wir die Behauptung (i) bejahen, um daraus die Behauptung (ii) zu ziehen. Statt aber eine Erklärung für die Behauptung (i) zu geben, liefert Kant uns nur einige Beispiele. Und er scheint zu meinen, dass diese Beispiele „offenbar“ die Behauptung (i) rechtfertigen können. 348
Kants Formulierungen vgl. A 100, A 121, B 140, B 142. In der Anthropologie schreibt Kant: „Das Gesetz der Assoziation ist: empirische Vorstellungen, die nacheinander oft folgten, bewirken eine Angewohnheit im Gemüt, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch entstehen zu lassen.“ (AA XVII 176)
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
Betrachten wir nun das Beispiel der Linie. Laut Kant können wir nur dann eine Linie in Gedanken ziehen, wenn wir eine vorhergehende Teilvorstellung der Linie im gegenwärtigen Gedanken behalten, wobei wir auch eine gegenwärtige Teilvorstellung der Linie haben. Anders gesagt: Die ganze Vorstellung einer Linie ist nur dann gebildet, wenn die Teilvorstellungen dieser Linie reproduzierbar sind. Denn sonst würden wir immer nur eine momentane Vorstellung haben, die nicht im Ganzen der Einheit der Vorstellung aufgefasst werden könnte. So würde die Vorstellung einer Linie unmöglich. Ebenso verhält es sich bei den anderen Beispielen über eine bestimmte Zeit und eine Zahl. Bei diesen drei Beispielen handelt es sich um die reine Synthesis der Reproduktion, wobei nämlich von dem reinen Mannigfaltigen die Rede ist. Infolgedessen ist es naheliegend, dass Raum und Zeit als reine Anschauungen selbst nur dann möglich sind, wenn das reine Mannigfaltige, das sie a priori enthalten, reproduzierbar ist. Aus dieser Bejahung folgt die Behauptung (ii). Kants Argumentation macht ja deutlich, dass eine reine Synthesis der Einbildungskraft in Bezug auf das reine Mannigfaltige der Vorstellungen von Raum und Zeit a priori ausgeübt werden muss, so lässt sich diese reine Synthesis als transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bezeichnen, die aller Erfahrung zugrunde liegt. 349 Auch ist diese Aktivität der Reproduktion, die nicht auf empirische Weise, sondern a priori stattfindet, laut Kant dem „transzendentale[n] Vermögen der Einbildungskraft“ (A 102) zuzuschreiben. Jedoch ist noch zu berücksichtigen, dass Kant nicht weiter erklärt, was mit den „Prinzipien a priori“ gemeint ist. Somit sehen wir hier aus Kants Argument gar nicht, was es heißt, dass die reine Synthesis der Einbildungskraft „auf Prinzipien a priori gegründet“ ist. 350 Aus Kants Argumenten in der Synthesis der Reproduktion ist es leicht zu sehen, dass das Gemüt mit Hilfe der Einbildungskraft das Ganze der Vorstellungen möglich macht, weil es die vorherigen Vorstellungen reproduzieren kann. Vorstellungen zu reproduzieren, heißt aber nichts anderes, als dass die vergangenen Vorstellungsinhalte im aktuellen Bewusstsein auftreten. Demnach muss die Reproduktion auch bewusst stattfinden. Das heißt, dass es immer möglich sein muss, die zeitlich verschiedenen Vorstellungsinhalte in einem Bewusstsein zu verbinden. Insofern ist auch die Synthesis der Reproduktion als eine Bedingung dafür anzusehen, dass zwischen den gegebenen Vorstellungen die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins vorliegt. Also sind die Apprehension und die Reproduktion zusammen genommen notwendig für die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins. Sie sind als zwei Aspekte der dreifachen Synthesis „unzertrennlich verbunden“ (A 102).
349 350
Hoppe bezeichnet die reine Synthesis der Einbildungskraft als faktische Synthesis. Er will betonen, dass diese Synthesis bei Raum und Zeit wirklich a priori ausgeübt wird. (Vgl. Hoppe 1983, S. 181-185) Wenn es überhaupt Prinzipien a priori gibt, müssen sie sicherlich die Kategorien sein. Aber dies sollte argumentativ hier nicht auftauchen, sondern später in der Synthesis der Rekognition. Vgl. Carls Ansicht: „Die Annahme, daß es Prinzipien a priori der Synthesis der Einbildungskraft gibt, wird von Kant nicht begründet; er zeigt vielmehr nur, daß diese Synthesis sich auf etwas erstreckt, was a priori gegeben ist.“ (Carl 1992, S. 160)
4.2 Synthetische Einheit
151
4.2.3 Rekognition: Begriffe als Regeln, Vorstellungen im Ganzen zu verbinden Damit ein Ganzes der gegebenen Vorstellungen gebildet wird und mithin die Einheit der Anschauung möglich ist, reichen das Durchlaufen und das Reproduzieren der Vorstellungen noch nicht aus. Oder besser gesagt: Nur durch diese zwei Aspekte der Synthesis stehen die gegebenen Vorstellungen noch nicht unter der synthetischen Einheit des Selbstbewusstsein. Um dies zu erreichen, ist eine weitere Bedingung erforderlich. Das Gemüt muss nämlich noch eine „Synthesis der Rekognition im Begriffe“ vornehmen. Was heißt das aber genau? Etwas vereinfachend kann man Kants Grundidee so zusammenfassen: Die Synthesis der gegebenen Vorstellungen muss auf die Art und Weise stattfinden, wie ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Vorstellungen gemäß den apriorischen Regeln entsteht, die durch apriorische Begriffe zum Ausdruck kommen. Um dies zu verdeutlichen, ist es nötig, das Thema der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins im Rahmen der „Synthesis der Rekognition“ aufzugreifen. Der Sache nach gilt der Text der „Synthesis der Rekognition“ als das wichtigste Textstück, in dem man die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins verständlich machen kann. Da aber dieses inhaltsreiche Textstück sehr kompliziert ist, kann ich hier nicht alle Punkte thematisieren. Vielmehr werde ich im Folgenden meine Untersuchung so durchführen: Zuerst versuche ich Kants Aufgabe in der Synthesis der Rekognition deutlich zu machen und seine Argumentation zu skizzieren (a). Anschließend werde ich auf die Einheit der Apperzeption und die Funktionen der Synthesis a priori eingehen (b). Schließlich werde ich einen Schlüsseltext aus A 108 ausführlich kommentieren, um zu zeigen, dass die Einheit des Selbstbewusstseins nur dadurch möglich ist, dass wir Gegenstände durch Urteile erkennen (c). (a)
Aufgabe und Argumentationsskizze von der Synthesis der Rekognition
Was genau unter der Synthesis der Rekognition zu verstehen ist, hat Kant nicht explizit zum Ausdruck gebracht. Das Wort „Rekognition“ taucht sogar – außer in der Überschrift – nicht mehr im Haupttext von der „Synthesis der Rekognition im Begriffe“ auf. Damit ist in erster Linie zu erklären, was die Rekognition bedeutet. Aufgrund von Kants Ausführungen kann man die Rekognition so verstehen: Die Synthesis der Rekognition ist eine Handlung, die einerseits die Identifikation einer reproduzierten Vorstellung mit der vorherigen Vorstellung im Hinblick auf ihren Inhalt garantiert und die andererseits durch das Aufnehmen des Mannigfaltigen ins Bewusstsein ein einheitliches Ganzes der komplexen Vorstellung bildet. Während laut Kant die Synopsis dem Sinn, die Apprehension und die Reproduktion der Einbildungskraft, zugeschrieben wird, ist die Rekognition dem Verstand zuzuschreiben. 351 Denn wenn die Einbildungskraft die Apprehension und die Reproduktion vornimmt, liefert der Verstand zugleich Regeln a priori, so dass die Synthesisleistung der Einbildungskraft dem Mannigfaltigen der Vorstellungen einen bestimmten Zusammenhang bringen kann (vgl. A 124). Da die Regeln a priori Kant zufolge durch Begriffe a priori ausgedrückt werden, fungieren die reinen Verstandesbegriffe als ein Hilfsmittel, durch das die Rekognition zustande kommt. Aus 351
Vgl. A 94, A 97, A 115.
152
4 Einheit des Selbstbewusstseins
diesem Grund heißt der dritte Aspekt der Synthesis „Synthesis der Rekognition im Begriffe“. Und mit Begriff ist letztlich reiner Verstandesbegriff gemeint. Allerdings ist fragwürdig, warum wir eine Rekognition brauchen. Kants Ausführungen knüpfen unmittelbar an die Synthesis der Reproduktion an, indem er begründen will, dass die Reproduktion nur dann sinnvoll (nicht vergeblich) ist, wenn ein anderer Aspekt der Synthesisleistung des Gemüts in Rücksicht genommen wird. Zu Beging der Synthesis der Rekognition schreibt Kant: Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduction in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann. Vergesse ich im Zählen, daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugethan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge durch diese successive Hinzuthuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis. (A 103)
In dieser Passage gibt Kant zwar keine Definition der Rekognition an, weist aber darauf hin, weshalb es nötig ist, eine Synthesis der Rekogntion einzuführen. Seine Konzeption kann man so verstehen: Die bereits erörterte Reproduktion der Vorstellungen ist nur dann in Bezug auf den Anspruch des Vorstellungsinhalts geltend, wenn man weiß, das, was man jetzt denkt, sei eben dasselbe, was man früher dachte. Würde man dieses nicht wissen, dann würde das, was man jetzt denkt, als eine neue Vorstellung gelten, die mit der früheren im Hinblick auf den Inhalt nicht identisch wäre. Das Mannigfaltige, das in dieser neuen Vorstellung enthalten ist, wäre in Beziehung auf das, was man früher dachte, isoliert und würde keinen Zusammenhang mit den gegenwärtigen Vorstellungen haben. Dies würde auch nahelegen, dass die Handlung, die vorherige Vorstellung wieder herzustellen, gar keine Reproduktion genannt werden könnte. So könnte eine Reproduktion der Vorstellungen im eigentlichen Sinne gar nicht stattfinden. Wenn das der Fall wäre, würde laut Kant das Mannigfaltige der Vorstellungen „kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann“ (A 103). Im Gegensatz zu dieser Annahme macht Kant darauf aufmerksam, dass das Stattfinden einer fruchtbaren Reproduktion der Sache nach eine Bedingung erfüllen muss: Es gibt ein Bewusstsein, das zugleich mitwirken muss. Dieses Bewusstsein kann dem Mannigfaltigen der Vorstellungen irgendeine Einheit bringen, damit es eine komplexe Vorstellung als ein Ganzes ausmacht. Diese Leistung des Bewusstseins ist das, was Kant als Rekognition bezeichnet. Deshalb ist es verständlich, dass der Auftritt der Synthesis der Rekognition im Hinblick auf die Argumentationsstrategie nicht unmittelbar die Gründe der Möglichkeit der Erfahrung betrifft, sondern darin besteht, die Möglichkeit der eigentlichen Reproduktion aufzuzeigen und schließlich zu begründen, dass die ersten zwei Aspekte der Synthesis – Apprehension und Reproduktion – einen höheren Grund in Anspruch nehmen. Um den für die Rekognition entscheidenden Zusammenhang zwischen Bewusstsein, Einheit und Begriff deutlich zu machen, führt Kant ein Beispiel an. Er schreibt: Vergesse ich im Zählen, daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugethan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge durch diese successive Hinzuthu-
4.2 Synthetische Einheit
153
ung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis. (A 103)
Dieses Beispiel von einer Zahl hat Kant vorher schon in der Synthesis der Reproduktion erwähnt (vgl. A 102). Aber dort geht es um die Reproduktion der reinen Vorstellungen, um die Vorstellung einer gewissen Zahl zu bilden. Nun beschreibt Kant etwas ausführlicher das Beispiel und will darauf hinweisen, dass die Erzeugung irgendeiner Zahl beim Zählen außer der Aktivität der Reproduktion noch einer Aktivität der Rekogntion bedarf. Diese Aktivität der Rekognition besteht nämlich darin, dass man ein Bewusstsein davon hat, eine Einheit zu den anderen sukzessiv hinzuzutun. In diesem Fall ist die „successive Hinzuthuung von Einem zu Einem“ die Synthesis. Somit läuft die Rekognition darauf hinaus, dass zu den vorhergehenden Einheiten, insofern sie reproduziert werden, eine darauf folgende Einheit hinzugefügt werden kann, damit eine Zahl erzeugt wird. Sonst würden wir beim Zählen immer eine neue isolierte Einheit haben und könnten keine Menge bekommen. Also betont Kant im obigen Zitat das Wesen der Zahl: Der Begriff der Zahl besteht „lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis“. Mit anderen Worten: Dass eine bestimmte Zahl beim Zählen erzeugt wird, heißt nichts anderes, als dass man sich des Umstands bewusst ist, dass diese Zahl als eine ganze Vorstellung aus der Hinzufügung der sukzessiven gleichartigen Einheiten entspringt. Aufgrund des Beispiels des Zählens wendet Kant sich dem Verhältnis von Begriff und Bewusstsein zu, welches er später im Rest der Synthesis der Rekognition thematisiert. Dazu schreibt er: Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben. Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproducirte in eine Vorstellung vereinigt. (A 103)
Es ist zuerst einmal bemerkenswert, dass Kant hier nur im allgemeinen Sinne vom Begriff und Bewusstsein spricht. Er meint damit noch nicht die reinen Verstandesbegriffe und die transzendentale Apperzeption. Somit macht es keinen Sinn zu diskutieren, wie sich hier das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein verhält. Es fällt weiterhin auf, dass Kant dennoch bereits auf den für die Rekogntion entscheidenden Punkt hinweist: Die Synthesis der Rekognition kann nur dann zustande kommen, wenn wir anhand des Bewusstseins das Mannigfaltige, das in der Apprehension und der Reproduktion bearbeitet wird, in eine Vorstellung vereinigen. Dies ist wiederum nur dann möglich, wenn man Begriffe verwendet. Begriffe sind also Arten und Weisen, wie man die Rekognition vornimmt. In Kants Worten: „Diese Gründe der Recognition des Mannigfaltigen […] sind nun jene Kategorien.“ (A 125) Es ist klar, dass Kants Endabsicht der Synthesis der Rekognition darin besteht, die Kategorien zu deduzieren und damit zu begründen, dass sie als „allgemeine[] Funktionen der Synthesis“ (A 112) gelten, unter denen alles Mannigfaltige der Anschauung stehen muss. Um einen Überblick über die Synthesis der Rekognition zu geben, möchte ich der Kürze halbe Kants Argumentation folgendermaßen skizzieren: (1) Das Bewusstsein garantiert, dass eine reproduzierte Vorstellung im Hinblick auf ihren Inhalt mit der vorherigen Vorstellung identisch ist. Damit ist es erst möglich, das Gan-
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
ze des gegebenen Mannigfaltigen auszumachen, d. h. eine komplexe Vorstellung, die bereits die Einheit des Bewusstseins besitzt, zu erwerben. (2) Der Gegenstand unserer Erkenntnis ist, allgemein gesagt, „Etwas überhaupt = X“ (A 104), das unserer Erkenntnis korrespondiert und das sich davon unterscheidet. Da unsere Erkenntnis sich notwendigerweise auf ihren Gegenstand bezieht, macht die Einheit unserer Erkenntnis „den Begriff von einem Gegenstande“ aus. (3) Wir erkennen nur dann einen Gegenstand, wenn wir die gegebenen Vorstellungen auf bestimmte Art und Weise verbinden, d. h. wenn wir „die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ (A 105) herstellen. (4) Die Einheit der Erkenntnis bzw. die formale Einheit des Bewusstseins wird nur dann hergestellt, wenn wir die gegebenen Vorstellungen gemäß der „Function der Synthesis nach einer Regel“ verknüpfen. (5) Ein Begriff fungiert als eine „Regel der Anschauungen“ (A 106). Reine Verstandesbegriffe fungieren also als apriorische Regeln der Anschauungen. (6) Aus (4) und (5) folgt, dass die Einheit der Erkenntnis nur dann hergestellt wird, wenn wir das in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige nach den Verstandesbegriffen synthetisieren. (7) Die formale Einheit des Bewusstseins besteht in der transzendentalen Einheit der Apperzeption. (8) Aus (2), (3) und (7) folgt, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption den Begriff des transzendentalen Gegenstandes ausmacht. (9) Aus (5) und (8) folgt, dass Kategorien (reine Verstandesbegriffe) als der Begriff des transzendentalen Gegenstandes gelten. (10) Alle Erscheinungen stehen unter den Kategorien. Ich kann hier Kants Gedankengang nicht ausführlich erläutern. Für meine Zwecke reicht diese Argumentationsskizze. Sind Kants grundlegende Überlegungen zur Synthesis der Rekognition gegeben, so geht es mir darum zu erklären, wie die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins durch reine Verstandesbegriffe als apriorische Regeln möglich ist. Oder anders formuliert: Wie kann man den Kantischen Gedanken besser verstehen, dass die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins genau dann zustande kommt, wenn wir mit Hilfe der Funktionen der Synthesis a priori Gegenstände erkennen. (b)
Die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins und Funktionen der Synthesis a priori
Wie schon mehrmals erwähnt, erfordert die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins eine Synthesis der gegebenen Vorstellungen. Diese Synthesis besteht nicht nur in der Apprehension und Reproduktion, sondern auch in der Rekognition. Das heißt, dass eine Synthesis nach Regeln a priori – kategoriale Synthesis – erforderlich ist. Die Synthesis in diesem Sinne ist laut Kant eine apriorische Grundlage der Erkenntnis der Gegenstände. Nun enthalten Kants Ausführungen in der „Synthesis der Rekognition“ implizit die folgende These: Die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins lässt sich nur dadurch realisieren, dass man durch Kategorien Gegenstände erkennt. Dafür möchte ich im Folgenden in drei Punkten argumentieren.
4.2 Synthetische Einheit
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Erstens ist Kant der Meinung, dass Begriffe als Regeln der Synthesis fungieren. 352 Es ist klar, dass ein de facto identisches Subjekt, in dem verschiedene Vorstellungen gegeben sind, vorausgesetzt werden muss und diese gegebenen Vorstellungen „ins Bewusstsein aufgenommen“ werden müssen, um eine Vorstellung mit den anderen vergleichen und verknüpfen zu können. 353 Damit aus den gegebenen Vorstellungen eine Erkenntnis wird, müssen sie auf gewisse Weise synthetisiert werden, so dass sich die durch diese Synthesis erworbene Erkenntnis auf einen Gegenstand bezieht. Das heißt, dass die Synthesis der Vorstellungen manchen Regeln unterworfen ist. Nun ist Kant zufolge eine Regel „die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden kann“ (A 113). Und er schreibt in einer Reflexion: Regel ist: die Allgemeinheit der Bedingung in der Bestimmung des Mannigfaltigen. […] Oder sie ist die Einheit der Bedingung, unter der etwas allgemeingültig bestimmt wird. oder die Bestimmung eines Begrifs, so fern sie zugleich allgemeingültig ist. (R 5750, AA XVIII 343) 354
Dies besagt, dass eine Regel eine allgemeingültige Bedingung ist, die die Synthesis des Mannigfaltigen erfüllen muss, um die Einheit von den synthetisierten Vorstellungen herzustellen. 355 Nun ist laut Kant ein Begriff „seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines, und was zur Regel dient“ (A 106). Das heißt, dass ein Begriff als allgemeine Vorstellung 356 eine Regel ist, unter der das Mannigfaltige, das dieser Begriff enthält, vereinigt werden kann. Und die „Regeln, so fern sie objectiv sind […], heißen Gesetze.“ (A 126) Daraus geht hervor, dass reine Verstandesbegriffe als apriorische Regeln fungieren, wonach sich das in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige synthetisieren lässt. Erst dadurch ist die Einheit der Anschauung möglich. Was die Argumentationsstrategie in der A-Deduktion anlangt, ist bemerkenswert, dass Kant mit Berufung auf die Überlegung, dass die Kategorien als apriorische Regeln bzw. Gesetze gelten, die objektive Gültigkeit der Kategorien zu beweisen scheint. Wir werden im nächsten Abschnitt (4.3) sehen, dass im ersten Teil der B-Deduktion zwischen der Einheit der Apperzeption und der Einheit der Kategorien ein argumentativer Zusammenhang besteht: Die Einheit der Apperzeption ist nur dann möglich, wenn man eine objektive Einheit zwischen den gegebenen Vorstellungen herstellt. Diese objektive Einheit ist wiederum nur dann möglich, wenn man ein Urteil fällt. Aber das Urteil setzt die Kategorienanwendung voraus. Also ist die Einheit der Apperzeption allein durch die Kategorienanwendung möglich. Allerdings kann man diesen klaren Zusammenhang leider in der dreifachen Synthesis nicht finden. Es ist auffällig, dass die Rede von Urteilen in Kants Darstellung in der Synthesis der Rekognition gar nicht auftaucht. Das heißt, dass Kants Urteilstheorie in dem Argumentationsgang der ADeduktion, zumindest in der dreifachen Synthesis, überhaupt keine Rolle spielt. Somit ist es Nach Bernhard Thöle enthält Kants Begriff der Regel zwei Bedeutungen: Die eine ist „so etwas wie eine Handlungsanweisung, eine Methode oder ein Schema, nach dem eine Handlung vollzogen wird.“ Die andere ist „Regularität“. Vgl. Thöle 1991, S. 224. 353 Vgl. AA XXIII 19. 354 Vgl. „Einheit der Bedingung, unter der etwas allgemein gesetzt wird, ist Regel.“ (R 5751, AA XVIII 343) 355 Vgl. „[Die Einheit] Das Verheltnis des Vielen unter einander, so fern sie [zusammen] in einem enthalten sind, ist die Verbindung. Die Verbindung nach einer Regel: Ordnung.“ (R 5750, AA XVIII 343) 356 Vgl. Jäsche-Logik, AA IX 91. 352
156
4 Einheit des Selbstbewusstseins
sinnvoll, dass man den Zusammenhang von der Einheit der Apperzeption und den Kategorien exegetischerweise ohne Rekurs auf Urteile versteht. Zweitens sind die Kategorien, sofern sie als apriorische Regeln der Anschauungen fungieren, Funktionen der Synthesis a priori. 357 Es ist klar, dass die gegebenen Vorstellungen unter einer Regel zusammengefasst werden müssen, um die Einheit dieser Vorstellungen herzustellen. Mit anderen Worten: Das Durchlaufene und Reproduzierte müssen in Bezug auf die Funktionen der Synthesis a priori bestimmt werden, damit die synthetische Einheit bewirkt wird. Dafür spricht Kants Aussage: Diese [synthetische Einheit] ist aber unmöglich, wenn die Anschauung nicht durch eine solche Function der Synthesis nach einer Regel hat hervorgebracht werden können […]. (A 105)
Außerdem geht Kant davon aus, dass die Apprehension der Vorstellungen derart vorgenommen werden muss, dass sie gemäß den Funktionen der Synthesis a priori bestimmt werden, um diese apprehendierten Vorstellungen als in einem Selbstbewusstsein verbunden ansehen zu können. Aus diesem Grund bezeichnet Kant die Kategorien auch als Funktionen der Apperzeption, wie er in dem Duisburg’schen Nachlass schreibt: Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen. (R 4676, AA XVII 656) 358
Dies legt nahe, dass wir die Erscheinungen nicht durch anderes apprehendieren können, als durch die Kategorien, sonst könnten die Erscheinungen nicht „unserm Bewußtsein, mithin uns selbst angehören“ (A 125). Mit anderen Worten: Die gegebenen Vorstellungen stehen nur dann unter der Einheit der Apperzeption, wenn wir synthetische Einheit von diesen Vorstellungen gemäß den Kategorien herstellen. Dies bringt Kant explizit zum Ausdruck, indem er sagt: Nach diesem [Grundsatz von der Einheit der Apperzeption] müssen durchaus alle Erscheinungen so ins Gemüth kommen oder apprehendirt werden, daß sie zur Einheit der Apperception zusammenstimmen, welches ohne synthetische Einheit in ihrer Verknüpfung, die mithin auch objectiv nothwendig ist, unmöglich sein würde. (A 122)
Drittens: Ist das in der Anschauung eines Gegenstandes gegebene Mannigfaltige in Bezug auf die Funktionen der Synthesis a priori bestimmt, dann erwerben wir eine Erkenntnis dieses Gegenstandes, so dass dieses Mannigfaltige als in einem Selbstbewusstsein synthetisch verbunden angesehen werden kann. Infolgedessen kann ich sagen, dass alle Vorstellungen in dieser Erkenntnis meine sind. Diese Überlegung lässt sich damit begründen, dass Kant in der „Synthesis der Rekognition“ zu zeigen versucht, wie sich die Funktionen der Synthesis a priori zum Gegenstand unserer Erkenntnis verhalten. Kant geht von der Frage aus, mit der man sich seit langem in der traditionellen Philosophie beschäftigt hat: Wie bezieht sich überhaupt eine Erkenntnis auf ihren Gegenstand? Oder wie 357
358
Kants Definition der Funktion lautet: „Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“ (A 68/ B 93) Dazu schreibt Michael Wolff: „Kant benutzt ‚funktion‘ so, wie man von physiologischen Funktionen spricht, zum Beispiel vom Sehen als der Funktion des Auges.“ (Wolff 1995, S. 20) Eine ausführliche Interpretation zu dieser Aussage vgl. Carl 1989, S. 138.
4.2 Synthetische Einheit
157
Kant selber formuliert: Was meint man „unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen“ (A 104)? Für die Empiristen scheint die Beantwortung dieser Frage so zu sein: Wenn unsere Vorstellungen mit einem außer uns liegenden Gegenstand übereinstimmen, haben wir eine Erkenntnis von diesem Gegenstand. Anders gesagt: Wir erkennen einen Gegenstand, der ganz subjektunabhängig bzw. „außer der Vorstellungskraft“ ist. Jedoch bestreitet Kant offenbar diese traditionelle Auffassung. Für Kant haben wir es in der Erkenntnis gar nicht mit einem subjektunabhängigen Gegenstand zu tun. Denn Erscheinungen sind nur „sinnliche Vorstellungen“ (A 104); d. h. Erscheinungen sind insofern Gegenstände, als sie auf der „Vorstellungsart“ (B 72) unserer Sinnlichkeit bzw. der „Anschauungsart des Subjekts“ (B 69) beruhen. Wenn man, wie sich schon in der Tradition gezeigt hat, von demjenigen Gegenstand sprechen will, der sowohl unserer Erkenntnis korrespondiert, als auch davon unterschieden ist, sagt Kant, dass dieser Gegenstand als nichts anderes als „etwas überhaupt = X“ (A 104) angesehen werden kann. Mehr kann man davon nicht sagen. Dies impliziert, dass Kant nicht der Meinung ist, dass es außer unserer Vorstellungskraft noch einen Gegenstand gibt, der als der Gegenstand unserer Erkenntnis bezeichnet werden kann. Wenn man im Sinne von den traditionellen Empiristen den Gegenstand der Erkenntnis auffasst, ist dieser gesuchte Gegenstand bzw. „X“ „vor uns nichts“ (A 105). Nach dieser Überlegung, dass der Gegenstand einer Erkenntnis nicht mehr den subjektunabhängigen Gegenstand bzw. so etwas wie das Ding an sich bedeutet, ist es naheliegend, dass für Kant der Gegenstand der Erkenntnis mit uns als Subjekten der Erkenntnis auf gewisse Weise zu tun hat. Zunächst geht Kant davon aus, dass der traditionelle Gedanke, die Erkenntnis beziehe sich notwendigerweise auf ihren Gegenstand, darauf hinausläuft, dass die Erkenntnis eine Einheit erfordert, die „den Begriff von einem Gegenstande ausmacht“ (A 105). Nun stellt sich die Frage, was mit dieser Einheit gemeint ist. Kants Antwort lautet: Die Einheit, die „der Gegenstand nothwendig macht“ (A 105) ist nichts anderes als „die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ (A 105). Für viele von Kants Vorgängern – insbesondere die Empiristen – entspringt die Einheit der Erkenntnis aus dem Gegenstand, der außer unserer Vorstellungskraft liegt. So scheint es naheliegend zu sein, dass der Gegenstand diese Einheit notwendig macht. Gegenüber dieser Auffassung ist Kant der Meinung, dass wir es tatsächlich mit einem solchem Gegenstand gar nicht zu tun haben, denn er ist, wie gesagt, eigentlich nur ein „X“ oder „vor uns nichts“ (A 105). Somit entspringt die Einheit der Erkenntnis laut Kant sicherlich nicht aus dem genannten Gegenstand. Vielmehr muss diese Einheit aus dem Subjekt stammen. Genauer gesagt: Sie ist die formale Einheit unseres Bewusstseins, wenn wir das Mannigfaltige der Vorstellungen synthetisieren. In diesem Sinne basiert die Einheit der Erkenntnis auf der Stiftung des Subjekts. Um dies deutlich zu machen, schreibt Kant: Alsdann sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben. Diese ist aber unmöglich, wenn die Anschauung nicht durch eine solche Function der Synthesis nach einer Regel hat hervorgebracht werden können, welche die Reproduction des Mannigfaltigen a priori nothwendig und einen Begriff, in welchem dieses sich vereinigt, möglich macht. (A 105)
Hier weist Kant darauf hin, dass wir nur dann im Mannigfaltigen einer Anschauung die synthetische Einheit erzeugen können, wenn diese Anschauung durch die Funktion der Synthesis
158
4 Einheit des Selbstbewusstseins
nach einer Regel gebildet wird. Es ist klar, dass Kant diese Funktionen der Synthesis a priori mit den Kategorien gleichsetzt. Demnach kann die synthetische Einheit nur dann zustande kommen, wenn das Mannigfaltige der gegebenen Vorstellung gemäß den Kategorien verknüpft wird. 359 Da laut Kant diese synthetische Einheit den Begriff eines Gegenstandes ausmacht, gelten Kategorien nur als Begriffe eines Gegenstandes. Dies lässt sich durch ein Beispiel erklären. Kant schreibt: So denken wir uns einen Triangel als Gegenstand, indem wir uns der Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel bewußt sind, nach welcher eine solche Anschauung jederzeit dargestellt werden kann. Diese Einheit der Regel bestimmt nun alles Mannigfaltige und schränkt es auf Bedingungen ein, welche die Einheit der Apperception möglich machen; und der Begriff dieser Einheit ist die Vorstellung vom Gegenstande =X, den ich durch die gedachte Prädicate eines Triangels denke. (A 105)
Stellt man sich ein Dreieck vor, d. h. zeichnet man in Gedanken ein Dreieck, dann denkt man sich in der Tat eine Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel. Dieses Dreieck, sofern man es als einen Gegenstand vorstellt, kann durch diese Regel in der Anschauung konstruiert werden. Die Regel drückt wesentlich eine Einheit aus. Daraus folgt, dass die Einheit der Regel ein Dreieck als Gegenstand möglich macht. Also sagt Kant, dass der Begriff der Einheit die Vorstellung von Gegenstand = X ist. Bei diesem Beispiel ist „etwas überhaupt = X“ ein solcher Gegenstand, der durch die Einheit der Regel (den Begriff des Dreieckes), sofern dadurch das Mannigfaltige bestimmt wird, ausgemacht wird. Dieses Beispiel besagt, dass sich die Einheit des Bewusstseins durch Begriffe zum Ausdruck bringen lässt. Auf ähnliche Weise kann man sagen, dass Kategorien, sofern sie als apriorische Regeln der Anschauung fungieren, Funktionen der Synthesis a priori sind, wodurch ein Gegenstand überhaupt bestimmt werden kann. 360 Ohne Kategorien würde kein Gegenstand gedacht und erkannt werden. Aus den oben erläuterten drei Punkten ergibt sich, dass Kategorien als Funktionen der Synthesis a priori die „Bedingung[en] der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption“ (A 124) sind. Nur dadurch, dass wir mit Hilfe der Kategorien Gegenstände erkennen, ist es möglich, dass die synthetische Einheit der Apperzeption durch diese Erkenntnis zustande kommt. (c)
Textinterpretation zu A 108
Wie schon erwähnt, spricht Kant in der „Synthesis der Rekognition“ nicht direkt von Urteilen. Dies führt dazu, dass wir im Rahmen der A-Deduktion nicht berechtigt zu sein scheinen, einen Zusammenhang zwischen der Einheit der Apperzeption und den Urteilen aufzubauen. Allerdings findet sich in A 108 ein Schlüsseltext, in dem Kant über die Einheit der Apperzeption, die Identität des Ich und die Handlung des Gemüts diskutiert. Dabei wird auch der genannte Zusammenhang angedeutet. Da die Textpassage inhaltsreich und sehr schwer zu verstehen ist, möchte ich sie hier vollständig zitieren und sinngemäß durchnumerieren. Im An-
359 360
An einigen Stellen identifiziert Kant die Einheit des Bewusstseins direkt mit den Kategorien. Vgl. R 5926, AA XVIII 388; R 5927, AA XVIII 388 f. Vgl. Kants Reflexion: „Der Grundsatz: alles, was gedacht wird, steht unter einer Regel, denn nur vermitelst der Regel ist es ein obiect des Denkens.“ (R 4678, AA XVII 661)
4.2 Synthetische Einheit
159
schluss daran werde ich Kants Ausführungen nach den Sinnabschnitten auslegen. Kants Text lautet folgendermaßen: [1] Eben diese transscendentale Einheit der Apperception macht aber aus allen möglichen Erscheinungen, die immer in einer Erfahrung beisammen sein können, einen Zusammenhang aller dieser Vorstellungen nach Gesetzen. [2] Denn diese Einheit des Bewußtseins wäre unmöglich, wenn nicht das Gemüth in der Erkenntniß des Mannigfaltigen sich der Identität der Function bewußt werden könnte, wodurch sie dasselbe synthetisch in einer Erkenntniß verbindet. [3] Also ist das ursprüngliche und nothwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer eben so nothwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d.i. nach Regeln, die sie nicht allein nothwendig reproducibel machen, sondern dadurch auch ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d.i. den Begriff von Etwas, darin sie nothwendig zusammenhängen: [4] denn das Gemüth könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transscendentalen Einheit unterwirft und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht. (A 108)
Zu [1]: In diesem Satz fasst Kant die vorher abgehandelte Idee zusammen: Die Einheit der Apperzeption erfordert die Anwendung der Kategorien. Genauer gesagt: Dass die gegebenen Vorstellungen unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption stehen, heißt nichts anderes, als dass wir diese Vorstellungen gemäß den notwendigen Regeln a priori bzw. den „Gesetzen“ verbinden. Dies heißt wiederum, dass die gegebenen Vorstellungen unter den Kategorien als Funktionen der Synthesis a priori subsumiert werden. Also ist die transzendentale Einheit der Apperzeption nur dadurch möglich, dass die Kategorien auf Erscheinungen angewandt werden. Aus diesem Grund sagt Kant, dass die Einheit der Apperzeption den Zusammenhang der Vorstellungen festlegt („macht“). Die Überlegung, dass die Erscheinungen nur dann eine Ordnung haben und damit zur Einheit des Gemüts gehören, wenn sie manchen apriorischen Bedingungen (Kategorien) unterworfen sind, bringt Kant in einer Reflexion aus dem Duisburg’schen Nachlass explizit zum Ausdruck: Daß die Erscheinungen keine andere Ordnung haben können und nicht anders zur Einheit der Vorstellungskraft gehören können, als daß sie dem gemeinschaftlichen principio der disposition gemäß sind. Denn alle Erscheinung mit ihrer durchgängigen Bestimmung muß doch Einheit im Gemüthe haben, folglich solchen Bedingungen unterworfen seyn, wodurch die Einheit der Vorstellungen möglich ist. Nur das, was zu der Einheit der Vorstellungen gefodert wird, gehört zu den obiectiven Bedingungen. (R 4678, AA XII 659)
Zu [2]: Durch diese Äußerung versucht Kant den in [1] angegebenen Gedanken noch einmal auf eine negative Weise zu begründen. Auf positive Weise kann man sagen: Die Einheit der Apperzeption („diese Einheit des Bewußtseins“) ist nur dann möglich, wenn wir uns der „Identität der Funktion“ bewusst werden können. Wie bereits erläutert, sind Kategorien Funktionen der Synthesis a priori. Mit der „Funktion“, von der hier die Rede ist, meint Kant offenbar die „Funktion der Synthesis nach einer Regel“ (A 105), also jede Kategorie. Denn allein durch Kategorien kann das Mannigfaltige derart synthetisiert werden, dass eine Erkenntnis entsteht. 361 Interessanterweise spricht Kant aber hier von „Identität der Funktion“. Was ist damit gemeint? Meines Erachtens will Kant zum Ausdruck bringen, dass die Kategorien als apriorische Regeln konstante Formen sind, wobei das darunter subsumierte Mannigfaltige 361
Mir scheint es besser, nach Willes Version „sie“ durch es zu ersetzen (vgl. Kant 1998, S. 216). Denn es ist klar, dass nur das Gemüt das Mannigfaltige verbinden kann. Auch wenn „sie“ sich auf „Einheit“ bzw. „Funktion“ bezieht, ist Kants Gedanke hier verständlich.
160
4 Einheit des Selbstbewusstseins
variabel sein kann. Eine identische Funktion bedeutet also eine identische Kategorie. Dadurch ergibt sich, dass die Einheit der Apperzeption nur dann möglich ist, wenn man weiß, dass dieselben Kategorien unter verschiedenen empirischen Umständen gebraucht werden. Zu [3]: Aus den Überlegungen in [1] und [2] zieht Kant eine Schlussfolgerung: Das Bewusstsein der Identität des Subjekts ist zugleich das Bewusstsein der Einheit der Synthesis aller Erscheinungen. Aufgrund von Kants Hauptgedanken in der „Synthesis der Rekognition“ ist diese Identifikation meiner Ansicht nach als ein Bedingungsverhältnis zu verstehen: Das erstere ist hinreichend für das letztere; das letztere ist notwendig für das erstere. 362 Genauer gesagt: Ich bin mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in Bezug auf die gegebenen Vorstellungen nur dann bewusst, wenn ich ein Bewusstsein davon habe, dass ich zwischen den gegebenen Vorstellungen eine synthetische Einheit herstelle. 363 Diese Behauptung folgt deswegen aus den Überlegungen in [1] und [2], weil die Einheit der Synthesis aller Erscheinungen durch nichts anderes erzeugt werden kann, als durch den Gebrauch der Kategorien. Dementsprechend betont Kant, dass die Synthesis aller Erscheinungen „nach Begriffen, d. i nach Regeln“ ausgeübt werden muss. Und die Kategorien, insofern sie als Begriffe eines Gegenstandes überhaupt fungieren, können einer Anschauung einen Gegenstand bestimmen. Anders gesagt: Das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige wird in dem Begriff eines Gegenstandes überhaupt („Begriff von Etwas“) vereinigt. 364 Zu [4]: In dieser Aussage will Kant für das in [3] dargestellte Verhältnis zwischen dem Bewusstsein der Identität des Subjekts und dem Bewusstsein der Einheit der Synthesis von der anderen Seite her näher argumentieren. Formulieren wir Kants Argument auf positive Weise um, so heißt es: Ich bin mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in Bezug auf meine verschiedenen Vorstellungen nur dann auf apriorische Weise bewusst, wenn ich ein Bewusstsein davon habe, dass meine Handlung identisch ist. Kurz gesagt: Das Bewusstsein der Identität des Subjekts setzt das Bewusstseins der Identität der Handlung voraus. Was heißt das aber genau? Man könnte sagen, dass Kant zu kurz greift. Erläuterungsbedürftig ist zuerst einmal der Ausdruck „Identität der Handlung“. Die Handlung, die hier im Singular steht, bedeutet meiner Ansicht nach das Urteilen. 365 Denn das Besondere dieser Handlung besteht darin, die durchlaufenen Vorstellungen unter einer transzendentalen Einheit zu bringen, und dies muss gemäß apriorischen Regeln bzw. Kategorien geschehen. 366 Nach Kants Charakterisierung für das Urteil in der B-Deduktion, dass „ein Urtheil nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen“ (B 142), ist es klar, dass diese genannte Handlung eben darin besteht, dass das Subjekt durch die Kategorienan-
362 363
364 365 366
Dieses Verhältnis interpretiert Allison durch die Termini „ratio essendi“ und „ratio cognoscendi“. Vgl. Allison 2015, S. 230. Kants Überlegung hier scheint zu seiner Überlegung in § 16 der B-Deduktion parallel zu sein: Die Identität der Apperzeption setzt die synthetische Einheit der Apperzeption voraus. Dazu vgl. meine Interpretation in 3.2. Zu dieser Überlegung vgl. auch § 17 der B-Deduktion und meiner Interpretation in 4.3. Diese Auffassung vgl. auch Carl 1992, S. 182; Förster 2011, S. 41. Parallel zu dieser Stelle schreibt Kant in der B-Deduktion, dass „die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell und gänzlich a priori in der Kategorien enthalten ist, notwendig gemäß sein müsse“ (B 162 Anm.)
4.3 Objektive Einheit
161
wendung ein Urteil fällt. 367 Dass dieser Handlung die Identität zugesprochen wird, heißt nichts anderes, als dass man beim Urteilen die gleichen Urteilsformen insofern benutzt, als von dem Inhalt der Urteile abstrahiert wird. Sonst wäre es schwer zu verstehen, warum eine Handlung des Subjekts identisch ist. Folgt man diesen Überlegungen, so ist der Kantische Gedanke verständlich, dass ich meiner selbst als identisch nur dann bewusst bin, wenn ich ein Bewusstsein habe, dass ich durch Fällen der Urteile Gegenstände erkenne, wobei ich die konstanten Urteilsformen verwende. 368 Zum Abschluss lässt sich so zusammenfassen: Kants Verfahrensweise der dreifachen Synthesis besteht wesentlich darin, die drei Aspekte ein und derselben Synthesis zu isolieren und jeden für sich genommen zu betrachten. Sie zusammen genommen machen die apriorischen Gründe unserer Erkenntnis von Gegenständen aus. Die gegebenen Vorstellungen stehen nur dann unter der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins, wenn sie in Bezug auf diese drei Aspekte der Synthesis bestimmt werden. Umgekehrt ist das Zustandekommen der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins nicht nur darauf angewiesen, dass dem Gemüt das Mannigfaltige gegeben ist, 369 sondern auch darauf, dass das Gemüt eine Aktivität vornimmt, durch die sich das gegebene Mannigfaltige gemäß den Kategorien verbinden lässt. Dieser Prozess des Gemüts ist die sogenannte dreifache Synthesis. Damit kann man auch sagen, dass keine synthetische Einheit des Selbstbewusstseins möglich ist, ohne Gegenstände zu erkennen oder ohne Gegenstandsbewusstsein zu haben. 4.3
Einheit des Selbstbewusstseins als objektive Einheit
Wie wir in den letzten zwei Abschnitten gesehen haben, ist die Einheit des Selbstbewusstseins – im Gegensatz zur Identität betrachtet – dahingehend zu verstehen, dass ich mir meiner selbst insofern bewusst bin, als ich darüber reflektiere, dass die verschiedenen Vorstellungen in mir miteinander verbunden sind. Die Einheit dieses Sachverhalts ist, wie schon erläutert, eine qualitative, synthetische Einheit. Nun behauptet Kant, dass diese Einheit des Selbstbewusstseins noch eine objektive Einheit ist. In der transzendentalen Deduktion der Kategorien schreibt Kant der objektiven Einheit der Apperzeption einen epistemologischen Status zu, weil sie als „eine objektive Bedingung aller Erkenntnis“ (B 138) fungiert. Das heißt, dass wir jederzeit dieser objektiven Einheit bedürfen, um Gegenstände zu erkennen. Nach Kants Ausführungen in §§ 17-19 der B-Deduktion lässt sich die transzendentale Einheit der Apperzeption deswegen als objektiv bezeichnen, weil sich die mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen nur mit Hilfe dieser Einheit auf ein Objekt beziehen können. Mit Kants Worten: Die verschiedenen Vorstellungen, sofern sie unter der Einheit der Apperzeption stehen, müssen als in ei367 368
369
Vgl. Kants Formulierung: „Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann.“ (A 69/ B 94) In der Literatur liefert Henrich eine ausführliche Interpretation zu [4]. Er hat mehrmals diese Passage zitiert und seine Rekonstruktion zur transzendentalen Deduktion ist zum guten Teil auf diese Passage gestützt. Darum dient ein vollständiger Paragraph seines Buches Identität und Objektivität dem Ziel, Kants in dieser Passage potenziell implizierte Gedankenbewegung ausführlich zu erläutern. Laut Henrich ist die genannte Handlung weder eine Synthesis noch das Urteilen, sondern eine Konstitutionshandlung, die das Subjekt als Akteur ausübt. Vgl. Henrich 1976, S. 101-107. Das ist eine ontologische Tatsache. Vgl. Horstmann 2007, S. 139.
162
4 Einheit des Selbstbewusstseins
nem „Begriff vom Objket vereinigt“ (B 139) angesehen werden. Aus diesem Grund muss die objektive Einheit der Apperzeption von der subjektiven Einheit des Bewusstseins streng abgegrenzt werden. Soweit Kants Grundidee in der transzendentalen Deduktion. Es ist zwar schon deutlich geworden, dass die objektive Einheit der Apperzeption für den Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien eine argumentative Rolle spielt, da sich diese objektive Einheit auf Urteile bezieht und schließlich die Kategorienanwendung als eine Bedingung dafür in Anspruch genommen wird. Dabei rekapituliert Kant auch mehrmals, dass die objektive Einheit der Apperzeption allgemeingültig ist, um sie von der bloß subjektiv gültigen Einheit des Bewusstseins zu unterscheiden. Allerdings ist es durch Kants Ausführungen noch nicht klar, was hier der Ausdruck „objektiv“ genauer bedeutet. Und es ist durchaus nicht einsichtig, was Kant eigentlich mit der mehrfachen Betonung „[im] Begriff vom Objekt“ (B 139) bzw. „im Objekt“ (B 142) meint. Damit ist es nötig, den Fragen nachzugehen, warum die transzendentale Einheit der Apperzeption objektiv ist und wie Kant dafür argumentiert. In der Kant-Literatur geht zum Beispiel Wolfgang Carl davon aus, dass Kant in der Tat die objektive Einheit der Apperzeption bis § 18 der B-Deduktion noch nicht begründet. 370 Außerdem ist Bernhard Thöle der Meinung, dass Kants Argument für die These, dass die synthetische Einheit der Apperzeption eine objektive Einheit ist, in § 17 der B-Deduktion nicht gelungen ist. Jedoch kann man Thöle zufolge Kants These, um sie besser zu verstehen, so interpretieren, dass die objektive Einheit der Apperzeption wesentlich darin besteht, dem Objekt verschiedene Vorstellungsinhalte als seine Eigenschaften zuzuschreiben. 371 Zwar kann man Kant vorwerfen, dass er in der transzendentalen Deduktion die These über die objektive Einheit aufstellt, aber nicht weiter – zumindest nicht explizit und ausführlich – begründet. Aber Kants These wird meiner Ansicht nach verständlich, wenn man Kants Ausführungen in verschiedenen Kontexten und die damit zusammenhängenden Überlegungen in Betracht zieht. Ich halte Thöles Interpretation für überzeugend, aber meine, dass man die Objektivität durch Explikationen des Gegenstandsbezugs und des Zusammenhanges mit der Zeit noch deutlicher machen kann. Im Folgenden möchte ich so vorgehen: Zuerst werde ich die objektive Einheit der Apperzeption im Zusammenhang mit dem Objektbegriff und der objektiven Zeitfolge erklären. Dabei sollen zunächst drei Probleme in Kants Argumentationslinie der B-Deduktion diskutiert werden. Und ich werde vor allem die These begründet, dass die objektive Einheit des Selbstbewusstseins nur dann vorliegt, wenn wir uns auf eine objektive Welt dadurch beziehen, dass wir aufgrund von den Kategorien Urteile über diese Welt fällen (4.3.1). Anschließend werde ich darauf eingehen, wie sich die objektive Einheit der Apperzeption von der subjektiven Einheit des Bewusstseins unterscheidet, und dann dafür argumentieren, dass für die objektive Einheit der Apperzeption das Fällen der Erfahrungsurteile notwendig ist, weil Wahrnehmungsurteile nur die subjektive Einheit des Bewusstsein zum Ausdruck bringt (4.3.2).
370 371
Vgl. Carl 1998b, S. 198. Vgl. Thöle 1991, S. 261-262.
4.3 Objektive Einheit
163
4.3.1 Objektive Einheit und Objektbegriff (a)
Drei Probleme in der Argumentationslinie des ersten Teils der B-Deduktion
Kant spricht bekanntlich vor allem im ersten Teil der B-Deduktion (§§ 16-20) – insbesondere in §§ 17-18 – von der objektiven Einheit des Selbstbewusstseins. Daher ist es sinnvoll, im Rahmen dieses Textes durch eine Auseinandersetzung mit Kants Argumenten die oben aufgeworfene Frage zu beantworten. Es ist leicht zu sehen, dass sich Kants Argumentationsgang des ersten Teils der B-Deduktion durch verschiedene Arten der Einheit als Anhaltspunkte rekonstruieren lässt. Denn das Verhältnis zwischen verschiedenen Schritten ist als das Verhältnis zwischen verschiedenen Arten der Einheit anzusehen. Sie sind nämlich analytische Einheit, synthetische Einheit, objektive Einheit, Urteilseinheit und Einheit durch Kategorien. Bevor ich mich mit der objektiven Einheit der Apperzeption beschäftige, möchte ich zuerst Kants Argumentationsstruktur der Kürze und Deutlichkeit halber skizzieren und dann drei damit zusammenhängende Probleme diskutieren. Die Argumentationsschritte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Das Subjekt ist sich der Identität seiner selbst bezüglich aller seinen Vorstellungen bewusst. D. h. alle in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen stehen unter der analytischen Einheit der Apperzeption. (§ 16) (2) Die analytische Einheit der Apperzeption setzt die synthetische Einheit der Apperzeption voraus. (§ 16) (3) Die synthetische Einheit der Apperzeption ist eine objektive Einheit. (§§ 17-18) (4) Die objektive Einheit der Apperzeption besteht nur darin, dass man die gegebenen Vorstellungen durch das Fällen eines Urteils verbindet, wobei die Urteilseinheit hergestellt wird. (§ 19) (5) Die Urteilseinheit setzt die Anwendung der Kategorien voraus. (§ 20) (6) Also: Das Bewusstsein der Identität des Subjekts (die Identität der Apperzeption) ist nur durch die Anwendung der Kategorien möglich. Anders gesagt: Alle in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen stehen notwendigerweise unter den Kategorien. In dieser Argumentationsskizze ist leicht zu sehen, dass die Deduktion von der Identität der Apperzeption ausgeht und schließlich zum Auftreten der Kategorien gelangt. Dies wird oft in der Kant-Literatur als ein regressives Argument interpretiert. 372 Außerdem ist es wichtig zu beachten, dass die Einheit für jeden Schritt eine entscheidende Rolle spielt. Und Kants Argumentationsgang lässt sich dadurch deutlich machen, dass man den Übergang oder das Bedingungsverhältnis von verschiedenen Arten der Einheit erklärt. Die ersten zwei Schritte habe ich schon im letzten Kapitel (siehe 3.2.2) erläutert. Nun geht es mir um Schritte (3) bis (5). Ich möchte im Folgenden auf drei Probleme in Kants Argumentationslinie eingehen. (i)
Synthetische Einheit und objektive Einheit
Wie es sich in der obigen Argumentationsskizze zeigt, besteht die Aufgabe des dritten Schritts darin, für die objektive Einheit der Apperzeption zu argumentieren. Auf den ersten Blick 372
Vgl. Ameriks 2003, S. 51-66; Schulting 2012, S. 61-75.
164
4 Einheit des Selbstbewusstseins
scheint Kant die synthetische Einheit der Apperzeption mit der objektiven Einheit einfach zu identifizieren. Aber man kann sich die Frage stellen, was eigentlich mit dieser Identifikation gemeint ist. Anders formuliert: Wie sollte man das Verhältnis von synthetischer Einheit der Apperzeption und objektiver Einheit genauer verstehen? Kants Antwort auf diese Frage findet sich im zweiten Absatz des § 17. Ich möchte hier die ganze Passage zitieren und die Sätze durchnumerieren: [1] Verstand ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. [2] Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Object. [3] Object aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist. [4] Nun erfordert aber alle Vereinigung der Vorstellungen Einheit des Bewußtseins in der Synthesis derselben. [5] Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objective Gültigkeit, folglich daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht. (B 137)
Das ist ein dichter Text und alle Sätze scheinen ohne weitere Erläuterungen unklar zu sein. Dennoch versuche ich im Folgenden Kants Argument zu rekonstruieren: 1) Die Erkenntnisse eines Objekts können wir genau dann erwerben, wenn sich die uns gegebenen Vorstellungen auf das Objekt beziehen (aufgrund von [1] und [2]). 2) Ein Objekt lässt sich durch einen Begriff vorstellen. Diesen Begriff vom Objekt kann man als Objektbegriff bezeichnen. Objektbegriff impliziert schon Gegenstandsbezug, denn dieser Begriff repräsentiert dieses Objekt (per definitionem). 3) Im Objektbegriff sind die in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen vereinigt. D. h. der Objektbegriff fungiert als eine Regel, nach der das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung synthetisiert wird (aufgrund von [3]). 4) Die Vereinigung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung erfordert Einheit des Bewusstseins, im Kontext der Deduktion, die synthetische Einheit der Apperzeption (aufgrund von Kants Konzeption im § 15). 5) Aus 3) und 4) folgt, dass Objektbegriff und synthetische Einheit der Apperzeption irgendein Verhältnis haben müssen. Denn sie sind beide für die Vereinigung der gegebenen Vorstellungen entscheidend. 6)* Also: Die synthetische Einheit der Apperzeption besteht im Objektbegriff. D. h. sie macht allein den Gegenstandsbezug der gegebenen Vorstellungen aus (aufgrund von [5]). In dieser Rekonstruktion ist es leicht zu sehen, dass aus den Prämissen 1) bis 4) in der Tat nur 5) folgt. Jedoch behauptet Kant mit 6)*, dass die synthetische Einheit der Apperzeption allein den Gegenstandsbezug ausmacht. Aufgrund dieser Behauptung lässt sich die synthetische Einheit der Apperzeption als objektiv bezeichnen. Kants Argument scheint nicht plausibel zu sein. 373 Abgesehen von Kants wörtlicher Argumentation ist es nun fragwürdig, weshalb Kant auf diese Behauptung kommt. Oder: Man kann sich etwas genauer fragen, was mit dem Ausdruck „allein […] ausmachen“ gemeint ist. Dazu gibt es mindestens drei Lesarten.
373
Auf die Lücke von Kants Argument verweist auch Thöle in seiner Rekonstruktion. Vgl. Thöle 1991, S. 261.
4.3 Objektive Einheit
165
Die erste Lesart geht davon aus, dass die synthetische Einheit der Apperzeption eine notwendige Bedingung für den Gegenstandsbezug ist. So beziehen sich die gegebenen Vorstellungen nur dann auf das Objekt, wenn diese Vorstellungen unter der synthetischen Einheit der Apperzeption stehen. Kurz gesagt: Die synthetische Einheit macht den Gegenstandsbezug möglich. 374 Sehen wir uns Kants Formulierungen im § 17 an, so scheint es naheliegend zu sein, dass Kant selber zur dieser Lesart tendiert. Denn er sagt explizit: „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis.“ (B 138) Allerdings ist diese Lesart meiner Ansicht nach nicht angemessen, wenn man davon ausgeht, dass Kant sich an einer analytischen Beweisstrategie im ersten Teil der B-Deduktion orientiert. Denn wenn er in § 16 behauptet, dass die analytische Einheit der Apperzeption die synthetische voraussetzt, muss er auch in § 17 daran festhalten, dass die synthetische Einheit der Apperzeption den Gegenstandsbezug voraussetzt, nicht umgekehrt. Die zweite Lesart ist der Meinung, dass die synthetische Einheit der Apperzeption ganz mit dem Gegenstandsbezug gleichzusetzen ist. So ist die erstere sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung für den letzteren. 375 Gegen diese Lesart könnte man einen Einwand so formulieren: Geht es Kant im ersten Teil der B-Deduktion wirklich – wie Allison behauptet – um den Objektbegriff im schwächeren Sinne? Wenn das der Fall wäre, würde die synthetische Einheit der Apperzeption auch für die Vorstellungen gelten, die im Traum vorkommen, weil diese Vorstellungen sich auf ein Objekt im schwächeren Sinne beziehen. Dies passt offenbar nicht zur Kants Position. 376 Der dritten Lesart zufolge will Kant nur behaupten, dass die synthetische Einheit der Apperzeption nur dann möglich ist, wenn die gegebenen Vorstellungen einen Gegenstandsbezug haben. Das heißt, die Tatsache, dass die gegebenen Vorstellungen die synthetische Einheit der Apperzeption aufweisen, setzt voraus, dass man diese Vorstellungen im Objektbegriff synthetisiert. So ist die Vereinigung der gegebenen Vorstellungen im Objektbegriff eine notwendige Bedingung für die synthetische Einheit der Apperzeption. Umgekehrt: Die synthetische Einheit der Apperzeption ist hinreichend für den Gegenstandsbezug. Demnach kann man mit Recht sagen, dass Kant in § 17 dieselbe Argumentationsmethode wie in § 16 gebraucht. Infolgedessen besteht die Aufgabe des genannten Schritts (3) darin, zu begründen, dass die syn374
375
376
Diese Lesart ist in der Literatur sehr weit verbreitet. Z. B. schreibt Hoppe: „Diese ursprüngliche Einheit, die die Gegenstandsbeziehung von Vorstellungen ermöglichen soll, nennt Kant die ‚ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption‘, und er kennzeichnet sie ausdrücklich als die Einheit des Selbstbewußtseins.“ (Hoppe 1983, S. 122) Wenig später fährt er fort: „Daß die Einheit des Selbstbewußtseins notwendige Bedingung für die Gegenstandsbeziehung unserer Vorstellungen ist, ist klar.“ (Hoppe 1983, S. 126) Ebenso schreibt Baum: „Die synthetische Einheit der Apperzeption ist also in dem Sinne objektiv, als sie die in der Verbindung des Mannigfaltigen der anschaulichen Vorstellung gedachte Beziehung auf ein Objekt überhaupt, also die Erkenntnis selbst erst möglich, ja notwendig macht.“ (Baum 1986, S. 107) Vgl. auch Zöller 1984, S. 148. Ein Vertreter dieser Lesart ist Allison. Er schreibt: “[T]he clear implication of both is that the synthetic unity of consciousness is not only a necessary condition of the possibility of the representation of an object but also a sufficient one.” (Allison 2015, S. 352) Und er hat so argumentiert: “Accordingly, it is appropriate to ask if these consequences can be avoided by interpreting these terms in a weaker or ‘thin’ sense and if so, whether there is any textual justification for doing so. To begin with, by ‘object’ in the thin sense I understand an object of thought or intentional object, which may, though need not be, something actual in the sense of being empirically real. Correlatively, by ‘cognition’ in the thin sense I understand the act of thinking by a discursive intellect or, more simply, discursive thinking.” (Allison 2015, S. 353) Ein ausführlicherer Einwand gegen diese Lesart vgl. Thöle 1991, S. 261 f.
166
4 Einheit des Selbstbewusstseins
thetische Einheit der Apperzeption die objektive Einheit voraussetzt, die dadurch hergestellt wird, dass die gegebenen Vorstellungen tatsächlich im Begriff des Objekts verbunden werden. Ich werde später diese Lesart dadurch verteidigen, dass ich auf das Verhältnis vom den objektiven Einheit und dem Objektbegriff näher eingehe. (ii)
Objektive Einheit und Urteilseinheit
Wie es sich oben in Schritt (4) gezeigt hat, erfordert der Agumentationsgang der B-Deduktion den Nachweis, dass die objektive Einheit der Apperzeption erst durch die Einheit von Vorstellungen im Urteil möglich ist. Nun stellt sich die Frage, wie sich das Bedingungsverhältnis der objektiven Einheit der Apperzeption zur „Urteilseinheit“ 377 begründen lässt. Dazu ist es nötig, Kants Konzeption in § 19 der B-Deduktion Rechnung zu tragen. Mit der Urteilseinheit ist diejenige Einheit gemeint, die zwischen den in einem Urteil enthaltenen Vorstellungen (z. B. Subjekt und Prädikat) dadurch hergestellt wird, dass man dieses Urteil fällt. 378 Es ist hier auffällig, dass diese Art der Einheit direkt von dem Fällen eines Urteils abhängig ist. Mit anderen Worten: Die Urteilseinheit bedeutet die Einheit, die durch die logische Form aller Urteile zum Ausdruck gebracht wird. Somit impliziert diese Art der Einheit, dass wir ein Urteil im Sinne der formalen Logik fällen. Dies wird aus Kants Titel von § 19 „Die logische Form aller Urtheile besteht in der objectiven Einheit der Apperception der darin enthaltenen Begriffe“ (B 140) klar. Hier kündigt Kant explizit an, dass es ihm in § 19 um die logische Form aller Urteile geht, und dass er dem Verhältnis zwischen dieser logischen Form und der objektiven Einheit der Apperzeption nachgehen will. Was genauer mit der Redeweise „in … besteht“ gemeint ist, ist die Aufgabe meiner folgenden Untersuchung. Geht man von dem Titel des § 19 aus, 379 so scheint es auf den ersten Blick klar zu sein, dass Kants Argument darin besteht, die objektive Einheit der Apperzeption mit der Urteilseinheit zu identifizieren. Dies wird auch aus Kants Charakterisierung für das Urteil klar: Ein Urteil sei nichts anderes, als die Art, „gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen“ (B 141). 380 Was Kant aber eigentlich beweisen will, ist vielmehr das Verhältnis, dass die objektive Einheit der Apperzeption die Urteilseinheit voraussetzt. Das heißt, dass Kant die These vertritt: Die objektive Einheit der Apperzeption ist nur dann möglich, wenn wir die Urteilseinheit durch das Fällen eines Urteils herstellen. In der Literatur ist Bernhard Thöle der Meinung, dass Kants Argument wesentlich darin besteht, zu zeigen, dass sich die Vorstellungsgehalte im Urteil (nicht im Sinne der Wahrnehmungsurteile) als Eigenschaften auf ein Objekt beziehen. Demnach handelt es sich im Urteil 377 378 379 380
Diesen Ausdruck übernehme ich aus Thöle 1991, S. 263. Vgl. In einer Reflexion schreibt Kant: „Das Urtheil ist die Vorstellung der Einheit [der Beg] gegebener Begriffe, so fern einer dem andern Untergeordnet ist.“ (R 3060, AA XVI 635) Vgl. auch Kants Formulierung: „Die Form aber eines jeden Urtheils besteht in der obiectiven Einheit des Bewustseyns der gegebenen Begriffe […].“ (R 5923, AA XVIII 386) Vgl. „Die Einheit des Bewustseyns [der Vorstellungen in] des Manigfaltigen in der Vorstellung eines obiects überhaupt ist das Urtheil.“ (R 5933, AA XVIII 392) „Es ist aber diese nothwendigkeit der Verknüpfung nicht eine Vor|stellung empirischen Ursprunges [und gleichwohl], sondern setzt eine Regel voraus, die a priori gegeben [ist] seyn muß, d.i. Einheit des Bewustseyns, die a priori statt findet. Diese Einheit des Bewustseyns ist in den momenten des Verstandes beym Urtheilen enthalten, und nur das ist obiect, worauf in Beziehung Einheit des Bewustseyns [a prio] der manigfaltigen Vorstellungen a priori gedacht wird.“ (R 5923, AA XVIII 386 f.) „Die obiective Einheit im Bewustseyn verschiedener Vorstellungen ist die form des Urtheils.“ (R 5934, AA XVIII 393)
4.3 Objektive Einheit
167
nicht um eine subjektive Vorstellungsverbindung. Daraus folgt, dass die objektive Einheit der Apperzeption nur durch die Urteilseinheit möglich ist. 381 Ich halte diese Interpretation für sehr überzeugend, aber meine, dass ein anderer Punkt auch berücksichtigt werden muss, um Kants These besser zu verstehen: Wir sollten noch auf die Funktion der Kopulas im Urteil achten. Bekanntlich ist der § 19 für das Verständnis der Kantischen Urteilstheorie von großer Bedeutung. Die Überlegung, dass die Urteilstheorie im Argumentationsgang der Deduktion eine entscheidende Rolle spielt, zählt zu einem der wichtigsten Punkte, die Kant erst in der BDeduktion einführt. Denn in der A-Deduktion beruft Kant sich kaum auf das Urteil. Aber in der B-Deduktion lässt sich das Urteil als eine Brücke ansehen, die die objektive Einheit der Apperzeption mit der Kategorienanwendung verbindet. Die zentrale Textpassage im § 19 lautet: Wenn ich aber die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urtheile genauer untersuche und sie als dem Verstande angehörige von dem Verhältnisse nach Gesetzen der reproductiven Einbildungskraft (welches nur subjective Gültigkeit hat) unterscheide, so finde ich, daß ein Urtheil nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen. Darauf zielt das Verhältnißwörtchen ist in denselben, um die objective Einheit gegebener Vorstellungen von der subjectiven zu unterscheiden. Denn dieses bezeichnet die Beziehung derselben auf die ursprüngliche Apperception und die nothwendige Einheit derselben. (B 141 f.)
Die Kopula „ist“ (Infinitiv „sein“) trifft nur auf ein kategorisches Urteil zu. So geht es dabei nur um einen Fall der Relation des Urteils. Aber da das kategorische Urteil die grundsätzlichste Form aller Urteile in Bezug auf ihre Relation ist, lässt sich die Kopula „ist“ als ein typischer Fall ansehen, wobei man auf die Urteilseinheit besser eingehen kann. In der zitierten Passage weist Kant ausdrücklich darauf hin, dass die Kopula oder das „Verhältnißwörtchen“ dazu dient, „gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen“. Um dies deutlich zu machen, ist es nötig, zuerst einmal zu erklären, warum der Gebrauch der Kopula die Urteilseinheit bezeichnet. Eine bemerkenswerte Textstelle findet sich zunächst in der Jäsche-Logik, wo Kant von der Definition der Kopula spricht: In den kategorischen Urtheilen machen Subject und Prädicat die Materie derselben aus, die Form, durch welche das Verhältniß (der Einstimmung oder des Widerstreits) zwischen Subject und Prädicat bestimmt und ausgedrückt wird, heißt die Copula. (AA IX 105)
Dieser Definition gemäß versteht Kant unter der Kopula die Form des kategorischen Urteils. Dies besagt, dass man nur „vermittelst der Copula“ (A 266/ B 322) ein kategorisches Urteil fällen kann. Genauer gesagt: Nur durch den Gebrauch der Kopula wird das kategorische Verhältnis des Subjektbegriffs zum Prädikat bestimmt. Und in einem kategorischen Urteil – im Sinne der formalen Logik zu betrachten – werden die begrifflichen Inhalte vom Subjektbegriff und Prädikat abstrahiert (vgl. A 76/ B 102). Es ist daher zu beachten, dass es sich im Gebrauch der Kopula nur um die „logische[] Funktion des Verstandes in Urteilen“ bzw. „die bloße Verstandesform“ (A 70/ B 95) handelt. Dies wird aus der folgenden Passage klar:
381
Vgl. Thöle 1991, S. 263-264.
168
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Sein ist offenbar kein reales Prädicat, d.i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauche ist es lediglich die Copula eines Urtheils. Der Satz: Gott ist allmächtig, enthält zwei Begriffe, die ihre Objecte haben: Gott und Allmacht; das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein Prädicat oben ein, sondern nur das, was das Prädicat beziehungsweise aufs Subject setzt. (A 598 f./ B 626 f.)
Dieses Zitat entstammt aus Kants Kritik an dem ontologischen Gottesbeweis. Er weist darauf hin, dass „Sein“ kein reales Prädikat ist, und dass es als die Kopula eines Urteils nur den logischen Gebrauch betrifft. 382 Das bedeutet, dass die Kopula keine reale Eigenschaft eines Dinges bezeichnet, sondern die Beziehung des Prädikats auf das Subjekt setzt. So muss die Kopula als „ein logisches Daseyn“ 383 aufgefasst werden, das vom realen Dasein abzugrenzen ist. Das heißt nichts anderes, als dass die Kopula, die „bey den Logikern der Verbindungsbegriff heißt“ 384, nur dazu dient, die in einem kategorischen Urteil enthaltenen Begriffe (Subjekt und Prädikat) im logischen Sinne zu vergleichen oder zu verknüpfen. 385 Ob die Gegenstände dieser Begriffe wirklich existieren oder nicht, auf welche Art und Weise diese Begriffe im Hinblick auf ihre Inhalte bestimmt werden, ist noch nicht ausgemacht. In einer Reflexion aus den 1780ern bezeichnet Kant diesen Fall als logische Bestimmung. Dazu schreibt er: Logisch bestimmen heißt ein praedicat von einem Dinge entweder bejahen oder Verneinen (copula in einem Urtheil) unangesehen des Inhalts. (R 5704, AA XVIII 330)
Dies kann man anhand des von Kant gegebenen Beispiels über Gott deutlich machen. 386 In dem kategorischen Urteil „Gott ist allmächtig“ bezeichnet die Kopula „ist“ nur die „logische Beziehung zwischen Gott und der Allmacht“ 387. Durch diese Kopula wird nicht gezeigt, ob Gott existiert oder wie sich diese zwei Begriffe hinsichtlich ihrer Inhalte zueinander verhalten. Denn insofern die Kopula „ist“ als „logisch bestimmen“ fungiert, kann man auch sagen, dass das Allmächtige Gott ist. Also ist es für uns wichtig zu beachten, dass es sich beim Gebrauch der Kopula im kategorischen Urteil nur um den logischen Gebrauch des Verstandes handelt. 388 Wir haben oben den Terminus „Urteilseinheit“ eingeführt. Nun ist es nötig, im Zusammenhang mit der Erläuterung der Kopula näher zu erklären, was die Urteilseinheit ist. In der Jäsche-Logik liefert Kant uns eine Erklärung eines Urteils überhaupt. Es heißt: 389
382 383 384 385 386
387 388
389
Vgl. AA XXVIII 1027. AA XXVIII 313. R 3920, AA XVII 345. Vgl. R 5142, AA XVIII 102. In seinem Werk Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes schreibt Kant: „Wenn ich sage: Gott ist allmächtig, so wird nur diese logische Beziehung zwischen Gott und der Allmacht gedacht, da die letztere ein Merkmal des erstern ist. Weiter wird hier nichts gesetzt. Ob Gott sei, das ist, absolute gesetzt sei oder existire, das ist darin gar nicht enthalten.“ (AA II 74) AA II 74. Dies macht Kant deutlich an einer Stelle der Kritik, wo es heißt: „So war die Function des kategorischen Urtheils die des Verhältnisses des Subjects zum Prädicat, z.B. alle Körper sind theilbar. Allein in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs des Verstandes blieb es unbestimmt, welchem von beiden Begriffen die Function des Subjects, und welchem die des Prädicats man geben wolle. Denn man kann auch sagen: Einiges Theilbare ist ein Körper.“ (B 128 f.) Zur Definition des Urteils vgl. auch R 3044, XVI 629; R 3045, AA XVI 630; R 3050, AA XVI 632; R 3053, AA XVI 633; R 3055, XVI 634.
4.3 Objektive Einheit
169
Ein Urtheil ist die Vorstellung der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen. (AA IX 101)
Zur Unterscheidung zwischen Materie und Form der Urteile schreibt er weiter: Zu jedem Urtheile gehören als wesentliche Bestandstücke desselben Materie und Form. In den gegebenen, zur Einheit des Bewußtseins im Urtheile verbundenen Erkenntnissen besteht die Materie, in der Bestimmung der Art und Weise, wie die verschiedenen Vorstellungen, als solche, zu Einem Bewußtsein gehören, die Form des Urtheils. (AA IX 101)
Aus diesen zwei Zitaten ist es klar, dass ein Urteil im Wesentlichen darin besteht, die gegebenen Vorstellungen zur Einheit des Bewusstseins zu verbinden. Da die Form des Urteils die Art und Weise bedeutet, wie die gegebenen Vorstellungen zu einem Bewusstsein gehören, bezeichnet die Form des Urteils die Einheit des Bewusstseins. Damit kann man sagen, dass die Urteilseinheit eben die Einheit des Bewusstseins ist. Allerdings ist zu beachten, dass die Einheit des Bewusstseins nicht direkt mit der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption gleichgesetzt werden darf. Was ein kategorisches Urteil angeht, sind die gegebenen Vorstellungen, so Kant, „zur Einheit des Bewußtseins untergeordnet“ 390, d. h. eine Vorstellung als das Prädikat wird einer anderen Vorstellung als dem Subjekt untergeordnet. Wir haben oben gezeigt, dass laut Kant die Kopula die Form des kategorischen Urteils ist, so bezeichnet die Kopula im kategorischen Urteil die Urteilseinheit. Allerdings ist es zu berücksichtigen, dass die Kopula als Kennzeichen der Urteilseinheit nur auf das kategorische Urteil zutrifft, denn sie bezeichnet nur in Bezug auf das Verhältnis des Subjekts zum Prädikat die Urteilseinheit. Mit anderen Worten: Die Urteilseinheit kann auch durch andere Formen der Urteile zum Ausdruck gebracht werden. Denn gemäß Kants Urteilstafel gibt es zwölf logische Formen der Urteile, so kann jede Form der Urteile im Hinblick auf einen Aspekt der Urteile die Urteilseinheit bezeichnen. Aufgrund der obigen Analyse ist es klar: Insofern man ein Urteil fällt, d. h. die gegebenen Vorstellungen in Bezug auf die logischen Formen des Urteils bestimmt, sind diese Vorstellungen als „im Objekt verbunden“ (B 142) anzusehen. Nur auf diese Weise kommt die objektive Urteilseinheit zustande. Um die anfangs aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von der objektiven Einheit der Apperzeption und der Urteilseinheit zu beantworten, kehren wir noch einmal zu Kants Ausführungen in § 19 zurück: „Denn dieses [das Verhältniswörtchen] bezeichnet die Beziehung derselben [gegebener Vorstellungen] auf die ursprüngliche Apperception und die nothwendige Einheit derselben.“ (B 142) Das heißt nichts anderes, als dass die objektive Urteilseinheit, die durch den Gebrauch der Kopula ausgedrückt wird, die objektive Einheit der gegebenen Vorstellungen bezeichnet, die durch die Vereinigung im Objektbegriff hergestellt wird. Also kann man sagen, dass die gegebenen Vorstellungen unter der objektiven Einheit der Apperzeption nur dann stehen, wenn zwischen diesen Vorstellungen die Urteilseinheit hergestellt wird, d. h. wenn man den logischen Formen des Urteils gemäß über eine objektive Welt Urteile fällt. (iii) Urteilseinheit und Kategorienanwendung
390
Jäsche-Logik, AA IX 104.
170
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Wie schon erwähnt, gebraucht Kant im ersten Teil der B-Deduktion eine analytische Methode, die darin besteht, die Bedingung der Möglichkeit für eine bestimmte Einheit zu finden. Nun behauptet Kant im oben genannten Schritt (5), dass das Fällen der Urteile die Anwendung der Kategorien voraussetzt, weil die logischen Funktionen des Urteilens auf Kategorien zurückzuführen sind. Dementsprechend ist die Urteilseinheit nur durch die Kategorienanwendung möglich. Wie lässt sich dies begründen? Wenn Kant in § 20 der B-Deduktion die Kategorien mit den logischen Funktionen des Urteiles identifiziert, verweist er auf § 13. Aber nach Vaihingers Version sollte „§ 13“ zu „§ 10“ korrigiert werden. 391 Kants Formulierung lautet: Nun sind aber die Kategorien nichts andres als eben diese Functionen zu urtheilen, so fern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist (§ 10). (B 143)
Diese Aussage besagt, dass sich die Kategorien mit den logischen Funktionen des Urteilens genau dann gleichsetzen lassen, wenn das in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige im Hinblick auf die logischen Funktionen des Urteilens bestimmt wird.392 Um dies deutlich zu machen, ist es nötig, sich nach Kants Hinweis seine Überlegung in § 10 der Kritik in Erinnerung zu rufen. Dort schreibt er: Dieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit giebt, die giebt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. Derselbe Verstand also und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen vermittelst der analytischen Einheit die logische Form eines Urtheils zu Stande brachte, bringt auch vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt in seine Vorstellungen einen transscendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objecte gehen, welches die allgemeine Logik nicht leisten kann. (A 79/ B 104 f.)
Diese dichte Textpassage spielt für Kants metaphysische Deduktion eine zentrale Rolle. 393 Aber im Moment interessiert mich nur die Identifikation von zwei Arten der Einheit. Diese Passage enthält zwei Sätze und der zweite lässt sich als eine Erläuterung des ersten ansehen. Im ersten Satz behauptet Kant, dass die Urteilseinheit, die zwischen verschiedenen Begriffen („verschiedenen Vorstellungen“ als allgemeinen Vorstellungen) in einem Urteil besteht, und die Einheit, die durch die Synthesis der verschiedenen Vorstellungen („verschiedener Vorstellungen“ als einzelner Vorstellungen) in einer Anschauung hergestellt wird, derselben Funktion des Verstandes zuzuschreiben sind. Und Kant bezeichnet die Funktion bzw. die synthetische Einheit als einen reinen Verstandesbegriff. Im zweiten Satz korreliert Kant die erste Art der Einheit als analytische Einheit mit der zweiten als synthetischer Einheit. Dementsprechend korrespondieren die logischen Formen des Urteilens den reinen Verstandesbegriffen. Sie sind der Sache nach zwei Seiten ein und derselben Medaille. Aus diesem Grund kann man sagen, dass die logischen Funktionen des Urteilens, sofern das gegebene Mannigfaltige durch sie bestimmt wird, den Gebrauch der Kategorien voraussetzen. Genauer gesagt: Wenn man eine Erfahrung eines Gegenstandes bzw. eine empirische Erkenntnis dieses Gegenstandes 391 392
393
In der Akademie-Ausgabe steht auch § 10 (vgl. Kant 1998, S. 186). Vgl. „Unsre reine Verstandes Begriffe enthalten blos die Form der Urtheile, wenn wir sie wollen allgemein gültig machen, in so fern die Vorstellung durch eine oder andre Form der Urtheile bestimmt ist.“ (Metaphysik Volckmann, AA XXVIII 406) Eine ausführliche Auseinandersetzung vgl. Hoeppner 2011, S. 201 ff.
4.3 Objektive Einheit
171
erwirbt, muss ein Erfahrungsurteil vom Gegenstand mit Hilfe der logischen Urteilsform gefällt werden. Dazu ist der Objektbegriff erforderlich, den Kant als Kategorien bezeichnet. Dafür sprechen folgende zwei Reflexionen: 394 Denn die Logische form des Verstandes im Urtheilen muß doch vorhergehen, und die Erscheinungen [müssen, als bestimmt] (als bloße Vorstellungen) müssen als bestimmt in Ansehung einer jeden dieser Formen angesehen werden, sonst kan keine Erfahrung daraus entspringen. (R 5926, AA XVIII 388) Also ist Categorie der Begrif von einem obiecte überhaupt, so fern es in Ansehung einer logischen Function der Urtheile a priori an sich bestimmt ist (daß man [es durch keine andere] durch diese Function die Verbindung des Manigfaltigen in seiner Vorstellung denken muß). (R 5932, AA XVIII 392)
Hiermit endet der erste Teil der B-Deduktion. Allerdings möchte ich noch anhand Kants Ausführungen in den „Reflexionen“ das Verhältnis von der objektive Einheit der Apperzeption und den Kategorien darstellen. Generell kann man sagen, dass das Selbstbewusstsein genau dann vorliegt, wenn die Kategorien angewandt werden. 395 Nun will ich aber darauf näher eingehen, dass auch die objektive Einheit der Apperzeption nur durch die Anwendung der Kategorien möglich ist. Schon mit der Überschrift vom § 20 – „Alle sinnliche Anschauungen stehen unter den Kategorien als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann“ (B 143) – hat Kant angegeben, dass alle gegebenen Vorstellungen unter dem reinen Selbstbewusstsein genau dann stehen, wenn sie unter den Kategorien stehen. Dies besagt, dass sich die Kategorien als Bedingungen ansehen lassen, die man erfüllen muss, um das reine Selbstbewusstsein zustande zu bringen. Der Sache nach versucht Kant eine direkte Beziehung der objektiven Einheit der Apperzeption auf die Kategorien aufzubauen, indem er davon ausgeht, dass die Einheit des Bewusstseins, die man als allgemein und a priori betrachte, nichts anderes als die Kategorien ist. Als Belegstellen finden sich zwei Passagen aus den Reflexionen in den 1780er Jahren: 396 Nun ist die Einheit des Bewustseyns in dieser Zusammensetzung, so fern jene (g als) allgemein betrachtet wird, der Verstandesbegrif, und jene Einheit gehört zur Erfahrung als obiectiver Erkentnis, also werden auch Verstandesbegriffe a priori zur Moglichkeit der Erfahrung erfodert. (R 5926, AA XVIII 388)
394
395
396
Vgl. auch eine andere Reflexion: „Durch die categorie stelle ich mir ein obiect (g überhaupt) als bestimt vor in ansehung der logischen functionen der Urtheile: des subiects (nicht Pradicat), der Conseqventz als Grund, der Vielheit in seiner Vorstellung. Warum aber muß ich jedes obiect als bestimt in ansehung nicht allein einer, sondern aller logischen Functionen in Urtheilen vorstellen? Weil dadurch nur allein obiective Einheit des Bewustseyns, d.i. allgemeingültige Verknüpfung der Warnehmungen, mithin die Erfahrung als die eintzige realitaet der Erkenntnisse moglich ist.“ (R 5932, AA XVIII 391) Vgl. Hinsch 1986, S. 32-35; Henrich 1988, S. 41-44; Thöle 1991, S. 264-269; Carl 1998, 200-201. Eine entgegengesetzte Auffassung ist, dass manche Interpreten das Selbstbewusstsein als „generierendes Prinzip für die Kategorien“ verstehen (Falk Wunderlich verweist auf die Vertreter dieser Deutung wie Magdalena Aebi und Karen Gloy. Vgl. Wunderlich 2005, S. 175). Auf ähnliche Weise interpretiert Klaus Reich reine Verstandesbegriffe als Produkte einer „logischen Analyse des Bewußtseins meiner selbst in dem Gedanken Ich denke (cogito)“. Dazu schreibt er: „Wir behaupten also, wir bedienen uns in dieser Rede der reinen Verstandesbegriffe nur zur Bezeichnung des Inhalts des Bewußtseins meines Denkens überhaupt […].“ (Reich 1932, S. 29) Vgl. andere Formulierungen: „Categorie ist die Vorstellung des Verhaltnisses des Manigfaltigen der Anschauung zu einem allgemeinen Bewustseyn (zur Allgemeinheit des Bewustseyns, welches eigentlich obiectiv ist).“ (R 5927, AA XVIII 388) „Categorie ist die (g nothwendige) Einheit des Bewustseyns (g in der Zusammensetzung) des Manigfaltigen der Vorstellungen (g Anschauung) […].“ (R 5931, AA XVIII 390 f.)
172
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Diese Einheit des Bewustseyns, so fern sie allgemein ist und a priori vorgestellt werden kan, ist der reine Verstandesbegrif. Dieser kan also nichts anderes seyn als das allgemeine der Einheit des Bewustseyns, welches die obiective Gültigkeit eines Urtheils ausmacht. (R 5927, AA XVIII 389)
Mit der Einheit des Bewusstseins, von der in diesen zwei Zitaten die Rede ist, ist offensichtlich die objektive Einheit der Apperzeption gemeint. Wie wir oben gesehen haben, ist jedoch die Gleichsetzung der objektiven Einheit mit den Kategorien so zu verstehen, dass das Selbstbewusstsein im Hinblick auf die gegebenen Vorstellungen eine objektive Einheit genau dann hat, wenn die Kategorien auf diese gegebenen Vorstellungen angewandt werden. Aus der argumentativen Hinsicht ist allerdings zu sagen, dass die logischen Formen des Urteils eine wichtige Rolle spielen müssen, wie Kant es in § 19 ausführt. Betrachtet man die logischen Formen des Urteils und die Kategorien zusammengenommen zum Fällen der Erfahrungsurteile, so ergibt sich, dass sich die objektive Einheit der Apperzeption auf eine objektive Erfahrung bzw. die Urteile über eine objektive Welt beziehen muss. 397 Dazu schreibt Kant: Die obiective Einheit im Bewustseyn verschiedener Vorstellungen ist die form des Urtheils. Also stehen alle Warnehmungen, so fern sie Erfahrung ausmachen sollen, unter den formalen Bedingungen der Urtheile überhaupt, und die [Ver] Bestimmung derselben durch diese Function ist der Verstandesbegrif. (R 5934, AA XVIII 393) Diese Einheit des Bewustseyns macht die Form der Erfahrung aus als obiectiver empirischer Erkentnis. (R 5927, AA XVIII 389)
In diesen zwei Passagen weist Kant darauf hin, dass sich die objektive Einheit der Apperzeption auf eine objektive Erfahrung bezieht, und zwar in dem Sinne, dass diese Einheit die Form der Erfahrung ausmacht. Wenn man Wahrnehmungen zur Erfahrung machen möchte, müssen die Kategorien angewandt werden, denn sie fungieren als „Grund der Möglichkeit der Erfahrung“ 398. Da wir zeigen werden, dass Erfahrungsurteile darin bestehen, die Wahrnehmungen unter Kategorien zu subsumieren, 399 ergibt sich daraus, dass die objektive Einheit der Apperzeption nur dann möglich, wenn die Kategorien angewandt werden, um empirische Erkenntnis bzw. eine objektive Erfahrung zu erwerben. Dies heißt nichts anderes, als dass man über eine von uns unabhängige bzw. objektive Welt urteilt. Nur in diesem Fall haben Kategorien als reine Verstandesbegriffe a priori die objektive Realität. 400 (b)
Objektbegriff
Wie der letzte Teil gezeigt hat, spielt die objektive Einheit der Apperzeption für den Argumentationsgang der B-Deduktion eine entscheidende Rolle. Hier kann ich nicht jeden ein397
398 399 400
In einer Passage aus den Vorlesungsschriften weist Kant ausdrücklich auf das Verhältnis von dem Gegenstandsbezug, der Urteilsform, der Kategorien und der Erfahrung. Sie lautet: „Zu allen Erfahrungen gehört auch noch eine Beziehung dieser Vorstellungen der Sinne aufs Object, und um meine Vorstellungen aufs Object zu beziehen, so muß die Form des Urtheils bestimmt seyn. Diejenige Begriffe, welche die Bestimmung eines Objects überhaupt in einer andren Form, enthalten, heißen reine Verstandes Begriffe, und diese machen zuerst die Erfahrung möglich, denn durch diese werden unsre sinnliche Vorstellungen auf Objecte bezogen, dies macht, daß unsre Vorstellungen Erkentniße von Objecten sind.“ (Metaphysik Volckmann, AA XXVIII 405) R 5923, AA XVIII 385. Vgl. Prolegomena, AA IV 301. Vgl. Kants Reflexion: „Daher wird in der Beziehung auf mögliche Erfahrung die obiective Realität aller Begriffe, d.i. ihre Bedeutung zu suchen seyn.“ (R 5923, AA XVIII 385)
4.3 Objektive Einheit
173
schlägigen Punkt näher diskutieren. Vielmehr möchte ich mich nun auf die Frage nach der objektiven Einheit der Apperzeption konzentrieren. Es ist schon klar, dass sich die Kategorien schließlich als Objektbegriff erweisen, 401 und dass die gegebenen Vorstellungen, die nach der Einheit der Kategorien verbunden sind, Gegenstandsbezug haben. Jedoch ist es noch fraglich, warum die objektive Einheit der Apperzeption nur im Zusammenhang mit dem Objektbegriff und dem Gegenstandsbezug erklärt werden kann. Bekanntlich hat Kant bereits in § 15 der Kritik darauf aufmerksam gemacht, dass „wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben“ (B 130). Das bedeutet, dass wir nur dann das Mannigfaltige der Vorstellungen als „im Objekt verbunden“ ansehen können, wenn wir als selbsttätige Subjekte die Handlung des Verbindens ausüben. Wenn das Mannigfaltige der Vorstellungen „im Objekt verbunden“ ist, ist es naheliegend, dass diese Vorstellungen Gegenstandsbezug haben. Da Kant mehrmals darauf hingewiesen hat, dass die Verbindung nicht durch Gegenstände auf rezeptive Weise gegeben werden kann, 402 ist es sehr klar, dass sich der Gegenstandsbezug auch nicht auf rezeptive Weise aufbauen lässt. Nun stellt sich zunächst die Frage, wie eigentlich der Gegenstandsbezug möglich ist. Um den Terminus „Gegenstandsbezug“ näher deutlich zu machen, ist es sinnvoll, eine Unterscheidung anhand Kants Brief an Marcus Herz (21. Feb. 1772), in dem er zum ersten Mal die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vorstellungen und Gegenständen aufwirft, zu machen. In diesem bekannten Brief hat Kant angekündigt, dass er ein Buch mit dem Titel „Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“ 403 schreiben wird. Diese Überlegung ist sozusagen der Ansatz, der dazu führt, dass Kant die drei Kritiken schreibt. Außerdem berichtet Kant, dass ihm damals noch „etwas wesentliches“ fehlte, das „den Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse“ 404 der Metaphysik ausmacht. Damit ist offenbar vor allem das Problem gemeint, das Kant durch die transzendentale Deduktion in der Kritik zu lösen versucht. 405 Nun geht es mir im Herz-Brief um verschiedene Arten des Gegenstandsbezugs. Kant schreibt: Ich frug mich nemlich selbst: auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das subiect von dem Gegenstande afficirt wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sey und wie diese Bestimmung unsres Gemüths etwas vorstellen d.i. einen Gegenstand haben könne. Die passive oder sinnliche Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstände, und die Grundsätze, welche aus der Natur unsrer Seele entlehnt werden, haben eine begreifliche Gültigkeit vor alle Dinge in so fern sie Gegenstände der Sinne seyn sollen. Eben so: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des obiects activ wäre, d.i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die Göttliche Erkentnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so würde auch die Conformitaet derselben mit den obiecten verstanden werden können. Es ist also die Möglichkeit so wohl des intellectus archetypi, auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, als des intellectus ectypi, der die data seiner logischen Behandlung aus der sinnlichen Anschauung der Sachen schöpft, zum wenigsten verständlich. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes, (außer in der Moral von den guten Zwecken) 401
402 403 404 405
Vgl. Kants Reflexion: „Also ist Categorie der Begrif von einem obiecte überhaupt, so fern es in Ansehung einer logischen Function der Urtheile a priori an sich bestimmt ist (daß man [es durch keine andere] durch diese Function die Verbindung des Manigfaltigen in seiner Vorstellung denken muß).“ (R 5932, AA XVIII 392) Vgl. B 129 f., B 134 f. AA X 129. AA X 130. Zu diesem Thema vgl. Carl 1989, S. 16-54.
174
4 Einheit des Selbstbewusstseins
noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali). Die reine Verstandesbegriffe müssen also nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahirt seyn, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Qvellen haben, aber doch weder in so ferne sie vom Obiect gewirkt werden, noch das obiect selbst hervorbringen. (AA X 130 f.)
In dieser Passage spricht Kant von drei Arten des Gegenstandsbezugs. Die erste Art ist der Gegenstandsbezug der passiven oder sinnlichen Vorstellungen. Kant geht davon aus, dass die sinnlichen Vorstellungen nur die Art enthalten, wie wir durch Gegenstände affiziert werden, so haben diese Vorstellungen „eine begreifliche Beziehung auf Gegenstände“. Mit anderen Worten: Da die Erzeugung der sinnlichen Vorstellungen von der Affektion der Gegenstände abhängig ist, beziehen sie sich auf irgendeine Weise unmittelbar auf die Gegenstände. Das ist damit vereinbar, dass sich eine Anschauung als einzelne Vorstellung unmittelbar auf einen Gegenstand bezieht (vgl. A 68/ B 93). Man könnte sich zwar fragen, was mit dem Gegenstand, auf den sich die sinnlichen Vorstellungen beziehen, gemeint ist. Aber wir brauchen hier diese Frage nicht weiter zu verfolgen. Die zweite Art ist der Gegenstandsbezug der Vorstellungen des göttlichen Verstandes bzw. der Vorstellungen in der Moral. Das ist laut Kant ebenso unproblematisch, weil diese Vorstellungen selbst ihre Gegenstände hervorbringen. Die dritte Art ist der Gegenstandsbezug der reinen Verstandesbegriffe, die im menschlichen Verstand ihren Ursprung a priori haben. Dieser Gegenstandsbezug ist nach Kant deswegen problematisch, weil die reinen Verstandesbegriffe weder Ursachen des Gegenstandes noch Wirkungen des Gegenstandes sind. Der Gegenstandsbezug, um den es bei der objektiven Einheit des Selbstbewustseins geht, gehört offenbar zur dritten Art. Da es Kant nicht um die empirische Tatsache geht, dass ein Gegenstand einen Begriff möglich macht, gilt es nun zu untersuchen, wie sich die objektive Einheit der Apperzeption zum apriorischen Objektbegriff und Gegenstandsbezug verhält. Kants Grundidee ist, dass der Objektbegriff, um den es hier geht, derjenige ist, über den wir a priori verfügen müssen, um empirische Gegenstände zu erkennen. Dieser Objektbegriff wird, genauer gesagt, von den reinen Verstandesbegriffen ausgemacht. Demnach ist der Gegenstandsbezug, von dem Kant spricht, derjenige, den wir durch unsere apriorischen Begriffe konstruieren. Das heißt, dass wir nur durch die Begriffsanwendung auf einen Gegenstand der Erfahrung Bezug nehmen können. Aus diesem Grund kann man sagen, dass die synthetische Einheit der Apperzeption deswegen objektiv ist, weil die gegebenen Vorstellungen, die diese Einheit aufweisen, gemäß dem Objektbegriff verknüpft werden. Mit anderen Worten: Die synthetische Einheit der Apperzeption ist nicht subjektiv, da die Vorstellungen, deren ich mir als in mir synthetisch verbunden bewusst bin, einen Gegenstand repräsentieren, den wir intersubjektiverweise als Gegenstand der Erfahrung erkennen können. Allerdings ist diese Überlegung im Kontext der Deduktion nicht prima facie klar. Denn Kant hat uns zwar in § 17 eine zentrale Charakterisierung für den Objektbegriff geliefert: „Object aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“ (B 137) Und zu Beginn des § 18 gibt er wieder eine Zusammenfassung für den schon in § 17 dargestellten Hauptgedanken: „Die transscendentale Einheit der Apperception ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Object vereinigt wird.“ (B 139) 406 Aber es ist in der Tat schwer zu sehen, was er 406
Diese Überlegung zeigt sich auch im Kapitel über Phaenomena und Noumena. Vgl. A 250.
4.3 Objektive Einheit
175
hier mit dem Objekt meint. 407 Handelt es sich dabei um ein Objekt, das in der Anschauung gegeben werden kann, oder nur um ein Objekt, das sich bloß durch Begriffe denken lässt? Trotz der Ambiguität ist Kants Überlegung meines Erachtens mindestens in einer Hinsicht klar: Er will vom Objekt der Erkenntnis sprechen. Genauer gesagt: Den gegebenen Vorstellungen, weil sie sich auf ein Objekt beziehen, lässt sich „objektive Gültigkeit“ (B 137) zuschreiben und sie werden damit „Erkenntnisse“ (B 137). Also scheint es Kant hier nicht um das Objekt im schwächeren Sinn zu gehen, z. B. alle intentionalen Gegenstände wie Gegenstände im Traum, 408 sondern tatsächlich um das Objekt, auf das man Erkenntnisanspruch erheben kann, nämlich das Objekt im stärkeren Sinne. Wie ist aber ein solcher Objektbegriff zu verstehen? Außer den zwei genannten zentralen Charakterisierungen hat Kant dazu nichts mehr gesagt. In einigen Reflexionen finden sich Parallelstellen, wo er schreibt: Was ist object? Das, dessen Vorstellung ein Inbegriff mehrer dazu gehoriger Pradicate ist. (R 6350, AA XVIII 676) Object ist das, in dessen Vorstellung verschiedene andere (g als) synthetisch verbunden gedacht werden können. (R 6350, AA XVIII 676) Der Begriff, der die synthetische Einheit der Apperception des Manig|faltigen (was dazu kommen möchte) enthält, ist der Begriff von einem object. (R 6350, AA XVIII 676 f.)
Die Überlegung, dass das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung im Objektbegriff vereinigt werden kann, lässt sich dadurch erklären, dass laut Kant jeder Begriff als eine Regel fungiert, nach der das gegebene Mannigfaltige synthetisiert werden kann (vgl. A 105 f.). Kant weist darauf hin, dass das Wesentliche im Objektbegriff die synthetische Einheit der Apperzeption ist. 409 Insofern das gegebene Mannigfaltige zu einem Selbstbewusstsein gehört, muss dieses Mannigfaltige auch durch den Objektbegriff verbunden werden. Dazu schreibt Kant in einer Reflexion: Das Manigfaltige, so fern es als nothwendig zu einem Bewustseyn (oder auch zur Einheit des Bewustseyns überhaupt) gehorig vorgestellt wird, wird [als gehorig] durch den Begrif von einem obiect gedacht: das obiect ist immer ein Etwas überhaupt. (R 5927, AA XVIII 389)
Aus der obigen Analyse geht hervor, dass die synthetische Einheit der Apperzeption Kant zufolge deshalb als objektiv zu bezeichnen ist, weil die Synthesis, die vom Subjekt zur 407
408 409
Kants Hauptgedanke hier ist offensichtlich zur Konzeption des transzendentalen Gegenstandes in der ADeduktion parallel. Allerdings verzichtet Kant in der B-Deduktion auf diese Redeweise. (Vgl. Allison 2015, S. 351) Vgl. Allison 2015, S. 355. Vgl. Kants Reflexion: „Die obiective Einheit des Bewustseyns des Manigfaltigen der Vorstellungen ist die Verknüpfung desselben entweder mit einem und demselben Begriffe, e.g. Alle Menschen [oder] (mit einem Worte: eine allgemeingültige Verbindung (g der Begriffe) in einem Bewustseyn), und denn heißt die Einheit logisch; oder diese logische Einheit des Bewustseyns wird in dem Begriffe eines Dinges als bestimmt angesehen und macht seinen Begriff aus: das ist die synthetische oder transscendentale Einheit des Bewustseyns. Dort wird die Einheit [distributiv] vorgestellt, die blos das Verhaltnis der [Vorstellungen] Begriffe betrift; hier diejenige, die selbst einen Begrif vom Dinge ausmacht durch die Vereinigung seines Manigfaltigen in einem Bewustseyn. e.g. [Alle] Viele [Menschen] Dinge sind ausser einander, und andererseits: der Raum ist Eines, was vieles ausser einander begreift. Jenes ist die quantitaet [eines] des Begrifs eines Urtheils, dieses der Begrif [der] eines Dinges als Qvanti.“ (R 5930, AA XVIII 390)
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen in Anspruch genommen wird, gemäß dem Objektbegriff stattfindet. Das heißt, dass das gegebene Mannigfaltige, sofern es im Objektbegriff verknüpft wird, in der objektiven Einheit der Apperzepiton steht. Demnach macht der Objektbegriff den Gegenstandsbezug unserer Vorstellungen möglich. Dieser Objektbegriff besteht laut Kant aus den reinen Verstandesbegriffen bwz. den Kategorien. (c)
Zusammenhang von der objektiven Einheit der Apperzeption und der Zeit
In den letzten zwei Teilen haben wir gesehen, dass Kant die These vertritt: Die synthetische Einheit der Apperzeption ist für die objektive Einheit der gegebenen Vorstellungen hinreichend. Umgekehrt: Dass zwischen den gegebenen Vorstellungen durch den Objektbegriff eine objektive Einheit hergestellt wird, ist dafür notwendig, dass diese Vorstellungen unter der synthetischen Einheit der Apperzeption stehen. Demnach hängt die objektive Einheit der Apperzeption davon ab, dass das Mannigfaltige der gegebenen Vorstellungen nicht auf empirische Weise, sondern gemäß der reinen Form der Zeit und auf apriorische Weise synthetisiert wird. Denn im ersteren Fall handelt es sich um die subjektive Einheit des Bewusstseins, die zufällig ist und die Kant als „eine Bestimmung des inneren Sinnes“ (B 139) bezeichnet. Im letzteren Fall dagegen besteht zwischen den synthetisierten Vorstellungen eine objektive Zeitfolge. Aus disem Grund möchte ich nun die objektive Einheit der Apperzeption im Zusammenhang mit der Zeit näher erklären. Um die objektive Einheit der Apperzeption von der subjektiven abzugrenzen, liefert Kant in § 18 der B-Deduktion eine Passage, in der er auf den Zusammenhang zwischen der synthetischen Einheit der Apperzeption als einer objektiven Einheit einerseits und der Zeit als einer Anschauungsform andererseits verweist. Dort schreibt er: Die transscendentale Einheit der Apperception ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Object vereinigt wird. Sie heißt darum objectiv und muß von der subjectiven Einheit des Bewußtseins unterschieden werden, die eine Bestimmung des inneren Sinnes ist, dadurch jenes Mannigfaltige der Anschauung zu einer solchen Verbindung empirisch gegeben wird. Ob ich mir des Mannigfaltigen als zugleich oder nach einander empirisch bewußt sein könne, kommt auf Umstände oder empirische Bedingungen an; daher die empirische | Einheit des Bewußtseins durch Association der Vorstellungen selbst eine Erscheinung betrifft und ganz zufällig ist. Dagegen steht die reine Form der Anschauung in der Zeit, bloß als Anschauung überhaupt, die ein gegebenes Mannigfaltiges enthält, unter der ursprünglichen Einheit des Bewußtseins lediglich durch die nothwendige Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung zum Einen: Ich denke, also durch die reine Synthesis des Verstandes, welche a priori der empirischen zum Grunde liegt. (B 140)
In dieser Passage ist zweierlei bemerkenswert. Erstens geht Kant davon aus, dass es sich beim inneren Sinn um zwei Varianten handelt: das empirische Mannigfaltige und das reine Mannigfaltige. Es ist freilich klar, dass wir durch den inneren Sinn Sinneseindrücke erwerben können, die empirische Vorstellungsinhalte ausmachen. Die Verbindung von ihnen ist bloß empirisch, weil diese Verbindung von den „empirische[n] Bedingungen“ (B 139) abhängt. Das heißt, dass sie nur auf der Assoziation der Wahrnehmungsepisoden beruht. Die Einheit des Bewusstseins, die sich in den auf diese Weise verbundenen Vorstellungen zeigt, ist daher nur subjektiv. Jedoch hat der innere Sinn eine reine Form, in der reines Mannigfaltiges a priori gegeben ist. Dies führt dazu, dass die Zeit, wenn von den darin auftauchenden empirischen
4.3 Objektive Einheit
177
Vorstellungsinhalten abstrahiert wird, für sich genommen als „Anschauung überhaupt“ zu betrachten ist. Deshalb handelt es sich dabei um eine reine Einheit des reinen Mannigfaltigen. Zweitens stellt Kant im obigen Zitat heraus, dass die reine Form des inneren Sinnes unter der ursprünglichen Einheit der Apperzeption steht, indem sich das reine Mannigfaltige auf das „Ich denke“ bezieht. Diese Überlegung hat Kant schon in § 16 begründet, wo er schreibt: „Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine nothwendige Beziehung auf das: Ich denke […].“ (B 132) Dies besagt, dass das rein gegebene Mannigfaltige die analytische Einheit der Apperzeption aufweisen kann. Dieser Umstand setzt aber nach Kants Konzeption in § 16 wiederum voraus, dass das Mannigfaltige in einem Selbstbewusstsein synthetisiert werden muss. Infolgedessen ist eine reine Synthesis des Verstandes dafür notwendig, dass sich die Zeit als Anschauungsform auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption bezieht. Was meinen Zweck angeht, ist es nun wichtig, der Kantischen Überlegung Rechung zu tragen, dass die synthetische Einheit der Apperzeption, unter der das reine Mannigfaltige steht, nur dann objektiv wird, wenn dieses Mannigfaltige in einer einzigen Zeit geordnet wird, d. h. wenn der Verstand durch die Kategorien das a priori gegebene Mannigfaltige verbindet. Darauf weist Kant in einer Reflexion ausdrücklich hin: Daß etwas obiectiv bestimmt sey, kan ich nicht a posteriori erkennen, ohne nach einer Regel a priori es obiectiv zu bestimmen; denn alles, was obiectiv bestimt ist, muß a priori aus dem Begriffe des obiects sich bestimmen lassen, zwar nicht der Materie, doch der form der Verknüpfung nach. (R 5643, XVIII 284)
Diese Konzeption, dass eine objektive Einheit zwischen den gegebenen Vorstellungen eine objektive Zeitfolge voraussetzt, die auf der Anwendung der Kategorien beruht, wird auch klar, wenn man Kants Überlegungen in den „Analogien der Erfahrung“ betrachtet. 410 Kant schreibt: Der allgemeine Grundsatz aller drei Analogien beruht auf der nothwendigen Einheit der Apperception in Ansehung alles möglichen empirischen Bewußtseins (der Wahrnehmung) zu jeder Zeit, folglich, da jene a priori zum Grunde liegt, auf der synthetischen Einheit aller Erscheinungen nach ihrem Verhältnisse in der Zeit. Denn die ursprüngliche Apperception bezieht sich auf den innern Sinn (den Inbegriff aller Vorstellungen) und zwar a priori auf die Form desselben, d.i. das Verhältniß des mannigfaltigen empirischen Bewußtseins in der Zeit. In der ursprünglichen Apperception soll nun alle dieses Mannigfaltige seinen Zeitverhältnissen nach vereinigt werden; denn dieses sagt die transscendentale Einheit derselben a priori, unter welcher alles steht, was zu meinem (d.i. meinem einigen) Erkenntnisse gehören soll, mithin ein Gegenstand für mich werden kann. (A 177 / B 220)
In dieser Passage weist Kant darauf hin, dass sich die ursprüngliche Einheit der Apperzeption auf die reine Form des inneren Sinnes bezieht. Denn alles Mannigfaltige, das aufgrund dieser Form gegeben ist, soll in der Apperzeption nach den Zeitverhältnissen vereinigt werden. Das heißt, dass jeder mannigfaltigen Vorstellung eine bestimmte zeitliche Stelle zugeordnet werden muss. Dies ist aber nur dann möglich, wenn wir die Verstandesbegriffe – z. B. die Relationskategorien – auf das reine Mannigfaltige anwenden. Wenig später schreibt Kant in der zweiten Analogie: Zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört Verstand, und das erste, was er dazu thut, ist nicht, daß er die Vorstellung der Gegenstände deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung eines Gegenstandes über410
Diese Interpretation wird zum ersten Mal von Tobias Rosefeldt in seinem Hauptseminar „Kants transzendentale Deduktion der Kategorien“ im Wintersemester 2015/16 vorgeschlagen.
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4 Einheit des Selbstbewusstseins
haupt möglich macht. Dieses geschieht nun dadurch, daß er die Zeitordnung auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt, indem er jeder derselben als Folge eine in Ansehung der vorhergehenden Erscheinungen a priori bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt, ohne welche sie nicht mit der Zeit selbst, die allen ihren Theilen a priori ihre Stelle bestimmt, übereinkommen würde. Diese Bestimmung der Stelle kann nun nicht von dem Verhältniß der Erscheinungen gegen die absolute Zeit entlehnt werden (denn die ist kein Gegenstand der Wahrnehmung), sondern umgekehrt: die Erscheinungen müssen einander ihre Stellen in der Zeit selbst bestimmen und dieselbe in der Zeitordnung nothwendig machen, d. i. dasjenige, was da folgt oder geschieht, muß nach einer allgemeinen Regel auf das, was im vorigen Zustande enthalten war, folgen; woraus eine Reihe der Erscheinungen wird, die vermittelst des Verstandes eben dieselbige Ordnung und stetigen Zusammenhang in der Reihe möglicher Wahrnehmungen hervorbringt und nothwendig macht, als sie in der Form der innern Anschauung (der Zeit), darin alle Wahrnehmungen ihre Stelle haben müßten, a priori angetroffen wird. (A 199 f./ B 245)
Um den ganzen Gedankengang Kants zu verstehen, bedarf diese Passage freilich einer ausführlichen Erklärung. Aber für meinen Zweck ist es wichtig zu beachten, dass laut Kant die Zeitordnung der gegebenen Vorstellungen durch den Verstand gestiftet wird. Genauer gesagt: Der Verstand macht „die Vorstellung eines Gegenstandes überhaupt“ bzw. den Objektbegriff möglich. Der Verstand kann den gegebenen Vorstellungen ihre Stellen in der Zeit dadurch bestimmen, dass er diese Vorstellungen nach dem Objektbegriff bzw. kategorial bestimmt. Da es sich im jetzigen Fall um „modi der Zeit“ bzw. „Folge“ (A 177/ B 219) handelt, ist der Objektbegriff die Kausalität. Ohne diese kategoriale Bestimmung der gegebenen Vorstellungen wäre eine objektive Einheit dieser Vorstellungen unmöglich. Daraus ergibt sich, dass die gegebenen Vorstellungen nur dann unter der objektiven Einheit der Apperzeption stehen, wenn die Kategorien als Objektbegriff auf diese Vorstellungen angewandt werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass Kants Behauptung, die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption sei eine objektive Einheit, so verstanden werden sollte: Die synthetische Einheit der Apperzeption setzt die Verbindung der gegebenen Vorstellungen im Objektbegriff voraus. Anders gesagt: Die gegebenen Vorstellungen stehen nur dann unter der synthetischen Einheit der Apperzeption, wenn eine objektive Einheit zwischen diesen Vorstellungen nach dem Objektbegriff hergestellt wird, d. h. wenn sie kategorial bestimmt werden. 4.3.2 Subjektive Einheit und Wahrnehmungsurteile Um besser zu verstehen, was die objektive Einheit der Apperzeption ist, möchte ich noch auf Kants Konzeption der Wahrnehmungsurteile eingehen. Denn Kant selber hat auch in § 18 der B-Deduktion versucht, die objektive Einheit der Apperzeption durch ihre Unterscheidung von der subjektiven Einheit zu erklären. Und er geht davon aus, dass die subjektive Einheit des Bewusstseins in den Wahrnehmungsurteilen zum Ausdruck kommt. Wir haben schon erläutert, dass die objektive Einheit der Apperzeption nur dann vorliegt, wenn die gegebenen Vorstellungen im Objektbegriff synthetisiert werden. Nun kann man ein negatives Argument vorbringen, das zeigen soll, dass die Synthesis der gegebenen Vorstellungen, die nicht im Objektbegriff stattfindet, dafür nicht ausreichend ist, dass diese Vorstellungen die objektive Einheit der Apperzeption aufweisen. Im Folgenden will ich dieses Argument durch eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von subjektiver Einheit und Wahrnehmungsurteilen rekonstruieren.
4.3 Objektive Einheit
179
Zunächst ist es nötig, einen Blick auf Kants Unterscheidung zwischen der objektiven und der subjektiven Einheit der Apperzeption (des Bewusstseins) zu werfen. 411 Diese Unterscheidung macht Kant bekanntermaßen in § 18 der B-Deduktion deutlich. Hier will ich sie durch die folgende Tabelle veranschaulichen: Empirische Einheit der Apperzeption
Transzendentale Einheit der Apperzeption
subjektiv gültig objektiv gültig zufällig notwendig eine Bestimmung des inneren Sinnes im Objekt verbunden durch Assoziation durch reine Synthesis des Verstandes von der empirischen Bedingung abhängig aller Erfahrung vorausgehend nicht intersubjektiv zugänglich intersubjektiv zugänglich bloß in einem Bewusstseinszustand im Objektbegriff Wahrnehmungsurteile Erfahrungsurteile Abb. 10: Kants Unterscheidung der Einheit der Apperzeption
Es würde zu weit führen, hier auf alle Punkte der obigen Unterscheidung ausführlich einzugehen. Vielmehr geht es mir nun darum, zu erklären, wie sich die subjektive Einheit des Bewusstseins zu Wahrnehmungsurteilen verhält. Dazu soll zuerst einmal in Betracht gezogen werden, wie Kant die Erfahrungsurteile, die die objektive Einheit zum Ausdruck bringen, von den Wahrnehmungsurteilen, die nur die subjektive Einheit ausdrücken, unterscheidet. Kant hat die Theorie der Wahrnehmungsurteile zwar in den Prolegomena (1783) entwickelt, aber in der B-Deduktion der Kritik (1787) nicht mehr erwähnt. 412 In §§ 18-19 der Kritik findet sich zwar ähnliche Überlegungen, aber Kant verwendet diesen Terminus nicht. 413 Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Kant in den Prolegomena eine andere Theorie des Urteils als in der Kritik vertreten könnte. 414 Um vorsichtig zu sein, werde ich Kants Konzeption der Wahrnehmungsurteile unabhängig vom argumentativen Verlauf der B-Deduktion behandeln. Allerdings würde eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Rätsel der Wahrnehmungsurteile den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Vielmehr werde ich mich vor allem auf die Frage konzentrieren, weshalb die Wahrnehmungsurteile nur die subjektive Einheit des Bewusstseins zum Ausdruck bringen.
411
412 413 414
In § 18 scheint Kant zwischen dem Bewusstsein und dem Selbstbewusstsein bzw. der Apperzeption nicht zu unterscheiden, so möchte ich hier nicht über ihre subtile Unterscheidung diskutieren und einfach annehmen, dass Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Apperzeption im Kontext von § 18 gleichbedeutend sind. Nach Pollok hat Kant seine Position revidiert. Vgl. Pollok 2012, S. 118. Allison zufolge ist der § 18 der Kritik ein Ersatz für die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen. (Vgl. Allison 2015, S. 356) Es ist seit langem umstritten, ob die Theorie der Wahrnehmungsurteile mit Kants Theorie des Urteils in der Kritik vereinbar ist. In der Kant-Literatur finden sich zwei entgegengesetzte Meinungen. Die eine hält Wahrnehmungsurteile für unzulässig, weil sie mit der Position der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht kompatibel sind. Beispielsweise geht Adickes davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsund Erfahrungsurteilen ganz und gar den Konsequenzen des Kantischen Systems widerspricht. Deshalb hat Kant völlig auf diese Unterscheidung in der zweiten Auflage der Kritik verzichtet. (Vgl. Adickes 1897, S. 48) Der anderen Meinung zufolge ist die Theorie der Wahrnehmungsurteile mit Kants System verträglich. Zum Beispiel schreibt Freudiger, dass „die zweite Ausgabe der Kr.d.r.V Wahrnehmungsurteile nicht nur zulässt, sondern geradezu voraussetzt“ (Freudiger 1991, S. 414). Diese Meinung vgl. auch Lohmar 1992, Mohr 1995, Rohs 1996.
180
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Kant bezeichnet Wahrnehmungsurteile deswegen auch als Urteile, weil er in den Prolegomena über einen nicht anspruchsvollen Begriff des Urteils verfügt, d. h. er folgt nicht seinen sonstigen Sprachgebrauch des Urteils wie in der Kritik. So schreibt er in § 22 der Prolegomena: Die Summe hievon ist diese: die Sache der Sinne ist, anzuschauen; die des Verstandes, zu denken. Denken aber ist Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen. Diese Vereinigung entsteht entweder blos relativ aufs Subject und ist zufällig und subjectiv, oder sie findet schlechthin statt und ist nothwendig oder objectiv. Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist das Urtheil. Also ist Denken so viel als Urtheilen, oder Vorstellungen auf Urtheile überhaupt beziehen. Daher sind Urtheile entweder blos subjectiv, wenn Vorstellungen auf ein Bewußtsein in einem Subject allein bezogen und in ihm vereinigt werden; oder sie sind objectiv, wenn sie in einem Bewußtsein überhaupt, d.i. darin nothwendig, vereinigt werden. (AA IV 304 f.)
In dieser Passage verwendet Kant offensichtlich den Begriff „Urteil“ im weiteren Sinne. Denn er setzt das Denken mit dem Urteilen gleich und versteht darunter die „Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein“. Diese Vereinigung wird in zwei Arten eingeteilt: zufälligsubjektive und notwendig-objektive. Die erstere betrifft den Bewusstseinszustand eines Subjekts, die letztere findet aber in einem Bewusstsein überhaupt statt. Dies besagt, dass das Urteil im weiteren Sinne noch nicht „logische Funktionen“ (A 79/ B 105) und Kategorien (vgl. B 142 f.) erfordert. 415 Wie wir sehen werden, müssen Wahrnehmungsurteile in diesem weiteren Sinne verstanden werden. Sonst dürften sie, wenn man von Kants Urteilsbegriff in der Kritik (vgl. A 68/ B 93, § 19) ausgeht, gar nicht als „Urteile“ bezeichnet werden. Mit dieser Überlegung zum Urteilsbegriff wird es verständlich, dass empirische Urteile in Wahrnehmungsurteile und Erfahrungsurteile eingeteilt werden können. Diese Konzeption entwickelt Kant vor allem in §§ 18-20 der Prolegomena. Eine zentrale Textstelle lautet: Empirische Urtheile, so fern sie objective Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurtheile; die aber, so nur subjectiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurtheile. Die letztern bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subject. Die erstern aber erfordern jederzeit über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung noch besondere, im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurtheil objectiv gültig ist. (AA IV 298)
In dieser Passage weist Kant darauf hin, dass der wesentliche Unterschied zwischen zwei zwei Arten von Urteilen in ihrem Geltungsanspruch besteht: Wahrnehmungsurteile haben nur subjektive Gültigkeit; Erfahrungsurteile haben aber objektive Gültigkeit. Dieser Unterschied lässt sich weiter darauf zurückführen, ob die Urteile die Anwendung der Verstandesbegriffe voraussetzen. Denn Kant will durch diese Unterscheidung dafür argumentieren, dass die objektive Einheit der Erfahrungsurteile auf den Kategorien beruht. Um diesen Unterschied näher deutlich zu machen, möchte ich nach Kants Ausführungen drei Bemerkungen machen: 1) Kant setzt die objektive Gültigkeit mit der notwendigen Allgemeingültigkeit gleich. Dazu schreibt er: „Es sind daher objective Gültigkeit und
415
Die Definition des Urteils in der Jäsche-Logik sollte auch in diesem Sinne verstanden werden. Dort heißt es: „Ein Urtheil ist die Vorstellung der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen.“ (AA IX 101) Mit dieser Definition spricht Kant wenig später tatsächlich von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen: „Ein Wahrnehmungsurtheil ist bloß subjectiv, ein objectives Urtheil aus Wahrnehmungen ist ein Erfahrungsurtheil.“ (AA IX 113)
4.3 Objektive Einheit
181
nothwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann) Wechselbegriffe […].“ 416 Kants Argument dafür lautet: Wenn ein Urteil mit einem Gegenstand übereinstimmt, d. h. wenn es objektiv gültig ist, muss es für alle urteilenden Subjekte gelten. Umgekehrt: Wenn ein Urteil für jedermann gültig ist, beruht die Verbindung der Wahrnehmungen nicht auf einem gewissen Bewusstseinszustand eines Subjekts, sondern das Urteil drückt „eine Beschaffenheit des Gegenstandes“ 417 aus. Es ist daher ein objektiv-gültiges Urteil. Im Gegensatz dazu bedeutet die subjektive Gültigkeit der Wahrnehmungsurteile, dass die „logische[] Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subject“ 418 nur für dieses Subjekt gilt. Anders gesagt: Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass diese Verknüpfung auf dieselbe Weise im Bewusstseinszustand eines anderen Subjekts vorkommt, aber eine Allgemeingültigkeit wird dabei nicht in Anspruch genommen. Denn eine Ausnahme bzw. eine Verbindung der Wahrnehmungen auf andere Weise ist zulässig. 2) Bei den Erfahrungsurteilen handelt es sich um ein Verhältnis der Wahrnehmungen, durch das der Gegenstand der Urteile bestimmt wird. Dieses Verhältnis beruht auf der Anwendung der Verstandesbegriffe. Die Wahrnehmungsurteile hingegen drücken nur „eine Beziehung zweier Empfindungen auf dasselbe Subject, nämlich mich selbst und auch nur in meinem diesmaligen Zustande der Wahrnehmung“ 419 aus. Daher hat die Verknüpfung der Vorstellungen in den Wahrnehmungsurteilen keinen Gegenstandsbezug. 3) Kant betont, dass es sich bei den Erfahrungsurteilen um die Verknüpfungen der Wahrnehmungen „in einem Bewußtsein überhaupt“ 420, bei den Wahrnehmungsurteilen aber nur um die Verknüpfung der Wahrnehmungen „in einem Bewusstsein meines Zustandes“ 421 handelt. Das Bewusstsein überhaupt unterscheidet sich vom Bewusstsein meines Zustandes darin, dass das erstere die allgemeine Form des Bewusstseins betrifft, aber das letztere nur einen mentalen Sachverhalt eines bestimmten Menschen bedeutet. In den Prolegomena hat Kant von zwei Arten der Wahrnehmungsurteile gesprochen. Zur ersten Art gehören die Wahrnehmungsurteile, die niemals in Erfahrungsurteile verwandelt werden können. Dazu hat Kant drei Beispiele angeführt: „das Zimmer ist warm“, „der Zucker ist süß“ und „der Wermut ist widrig“ 422. Diese Sätze haben zwar die logische Form des Urteils, von der in der Kritik die Rede ist, aber sie gelten jedenfalls nur als Wahrnehmungsurteile. 423 Denn in ihnen wird nur über das „Gefühl“ geurteilt, das man beim Wahrnehmen eines Objekts erwirbt. Die Prädikate dieser Urteile drücken keine Eigenschaft des Objekts aus. Also haben sie der Sache nach keine „Beziehung aufs Objekt“ 424. Zur zweiten Art gehören die Wahrnehmungsurteile, die Erfahrungsurteile dadurch werden können, dass man Kategorien hinzufügt. Das heißt, dass ein Urteil sich auf das Objekt bezie-
Prolegomena, AA IV 298. Prolegomena, AA IV 298. Prolegomena, AA IV 298. 419 Prolegomena, AA IV 299. 420 Vgl. R 5928, AA XVIII 389. 421 Prolegomena, A IV 300. 422 Vgl. Prolegomena, AA IV 299 Anm. 423 Vgl. Apel sagt: „Dennoch sind diese Urteile Erfahrungsurteile von objektiver Gültigkeit.“ (Apel 1923, S. 159) 424 Prolegomena, AA IV 299 Anm. 416 417 418
182
4 Einheit des Selbstbewusstseins
hen kann, indem die Wahrnehmungen unter Kategorien subsumiert werden. Dazu schreibt Kant: Alle unsere Urtheile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurtheile: sie gelten blos für uns, d.i. für unser Subject, und nur hinten nach geben wir ihnen eine neue Beziehung, nämlich auf ein Object, und wollen, daß es auch für uns jederzeit und eben so für jedermann gültig sein solle […]. (Prolegomena, AA IV 299 Anm.)
Für diese Art der Wahrnehmungsurteile hat Kant zwei Beispiele genannt, die unterschiedliche Ausdrucksformen haben: Die Luft ist elastisch. 425 Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. 426
Es ist hier leicht zu sehen, dass Wahrnehmungsurteile sowohl durch die kategorische Urteilsform als auch durch die hypothetische Urteilsform formuliert werden können. 427 Diese zwei Wahrnehmungsurteile können dadurch, dass die Kategorie der Kausalität auf die Verknüpfung der Wahrnehmungen angewandt wird, in Erfahrungsurteile verwandelt werden. Die entsprechenden Ausdrucksformen der Erfahrungsurteile lauten: 428 Die Luft ist elastisch. Die Sonne erwärmt den Stein.
Wie die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen in Anlehnung an diese Beispiele näher erklärt werden kann, möchte ich hier nicht weiter thematisieren. Für meinen Zweck reicht die obige Darstellung. Nun kommen wir auf die oben aufgeworfene Frage zurück, warum sich die objektive Einheit der Apperzeption durch das Fällen der Wahrnehmungsurteile nicht realisieren kann. Anders formuliert: Warum stehen die Vorstellungen, die in einem Wahrnehmungsurteil verbunden sind, nicht unter der objektiven Einheit der Apperzeption? Kants Antwort auf diese Frage kann man so verstehen: Bei Wahrnehmungsurteilen handelt es sich nur um das empirische Bewusstsein, das verschiedene Subjekte in konkreten Umständen besitzen, nicht aber um die reine Apperzeption, von der in der transzendentalen Deduktion der Kategorien die Rede ist. In Kants Worten: Die Verknüpfung der Wahrnehmungen findet nur „in einem Bewußtsein meines Zustandes“ bzw. „in meinem Gemüthszustande“ 429 statt.
425 426 427
428
429
Vgl. Prolegomena, AA IV 299. Vgl. Prolegomena, AA IV 301 Anm. Das Urteil „die Luft ist elastisch“ als Wahrnehmungsurteil kann auch so umformuliert werden: „Wenn Luft (in einer bestimmten Menge) unter variablem Druck steht, so verändert sich ihre Ausdehnung (ceteris paribus im umgekehrten Verhältnis).“ (Vgl. Wolff 2012, S. 132 f.) Diesbezüglich versteht Georg Mohr die Wahrnehmungsurteile als Vorstufen von Erfahrungsurteilen. (Vgl. Mohr 1995, S. 332). Allerdings hat Peter Rohs eine andere Meinung: „Es liegt deswegen nahe, Wahrnehmungsurteile und Erfahrungsurteile nicht so sehr als zwei distinkte Klassen von Urteilen anzusehen, sondern eher als zwei Pole, zwischen denen sich die empirische Erfahrung erstreckt. Der eine Pol ist das unmittelbar Wahrgenommene, das als solches in einzelnen Sachverhalten besteht; der andere Pol ist das ‚Ganze verglichener und verknüpfter Vorstellungen‘“. (Rohs 1996, S. 174.) Zu diesem Punkt vgl. auch Bernhard 2003, S. 182. Prolegomena, AA IV 300.
4.3 Objektive Einheit
183
Das heißt, dass diese Verknüpfung nur für den „damaligen bzw. diesmaligen Zustande“ 430 meines Subjekts gilt. Demnach ist diese Verknüpfung nur eine „logische[] Verknüpfung“ 431, die lediglich eine empirische Regelmäßigkeit wiedergibt. So sind Wahrnehmungsurteile „blos für uns, d.i. für unser Subject“ (ebd.) gültig, wobei es sich nicht um eine „Beziehung auf den Gegenstand“ 432 handelt. In der heutigen Sprache ausgedrückt, haben Wahrnehmungsurteile keinen Wahrheitswert. Es ist daher zulässig, dass zwei Subjekte aufgrund verschiedener Wahrnehmungen in Bezug auf dasselbe Objekt zwei widersprüchliche Wahrnehmungsurteile fällen können. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass Wahrnehmungsurteile nur subjektive Einheit des empirischen Bewusstseins zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel hat das denkende Subjekt, das das Urteil – „wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm“ – fällt, zwar in seinem Bewusstsein die Vorstellung „Sonnenschein“ mit der Vorstellung „Steinwarm“ verbunden. Aber dadurch kommt nur zum Ausdruck, dass dieses Subjekt in diesem Moment diese zwei Vorstellungen auf diese Weise verbindet. Das Subjekt will eigentlich nur sagen: Mir scheint, dass die Sonne den Stein erwärmt. Dies besagt, dass die zwei Vorstellungen nur bezüglich dieses konkrten Umstands unter der Einheit des Bewusstseins des Subjekts stehen. Daraus ergibt sich, dass das Fällen der Wahrnehmungsurteile nicht zur objektiven Einheit der Apperzeption, sondern zur subjektiven Einheit des Bewusstseins führen kann. Folglich ist die objektive Einheit der Apperzeption bloß durch Wahrnehmungsurteile nicht möglich. Bei Erfahrungsurteilen verhält es sich ganz anders. Wie wir bereits erklärt haben, besteht der wesentliche Unterschied von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen darin, ob die Kategorien angewandt sind. Ein Erfahrungsurteil ist zwar im Hinblick auf seine Inhalte, die a posteriori gegeben sind, ganz empirisch und zufällig, 433 aber die Verbindung der empirisch gegebenen Vorstellungen in diesem Urteil ist nach der Form notwendig, objektiv und allgemeingültig. Denn diese Verbindung ist nicht nur „die logische Verknüpfung“ 434, sondern beruht auf den Kategorien. In Kants Worten: In einem Erfahrungsurteil wird alle Wahrnehmung unter Verstandesbegriffe subsumiert. 435 Also kann man genauer sagen: Was ein kategorisches Erfahrungsurteil angeht, muss es sowohl die logische Form eines kategorischen Urteils „S ist P“ als auch den intersubjektiven Gültigkeitsanspruch haben. Nun ist es für uns wichtig darauf hinzuweisen, dass Kant zufolge die Verbindung der gegebenen Vorstellungen im Erfahrungsurteil „in einem Bewußtsein überhaupt“ 436 stattfindet. Mit dem „Bewusstsein überhaupt“ ist offenbar die reine Apperzeption bzw. die „Apperzeption überhaupt“ (B 143) gemeint. Die Verbindung in einem Bewusstsein überhaupt setzt laut Kant die Kategorienanwendung voraus. Infolgedessen kommt die objektive Einheit der Apperzeption nur durch Erfahrungsurteile, die Kategorienanwendung implizieren, zustande. Es lässt sich also resümieren, dass Wahrnehmungsurteile nur subjektive Einheit der Apperzeption zum Ausdruck bringen, weil sie von dem empirischen Bewusstseinszustand eines 430 431 432 433 434 435 436
Prolegomena, AA IV 299. Prolegomena, AA IV 298. Prolegomena, AA IV 300. Vgl. B 142; Prolegomena, AA IV 305 Anm. Prolegomena, AA IV 304. Vgl. Prolegomena, AA IV 302. Prolegomena, AA IV 300 und 304.
184
4 Einheit des Selbstbewusstseins
Subjekts und der wahrgenommene Regelmäßigkeit abhängen. Im Gegensatz dazu ist die objektive Einheit der Apperzeption, die der Erkenntnis eines Objekts zugrunde liegt, nur durch das Fällen der Erfahrungsurteile, die Kategorienanwendung voraussetzen, möglich. Zum Schluss möchte ich dieses Kapitel kurz zusammenfassen: Die Einheit des reinen Selbstbewusstseins ist als qualitative, synthetische und objektive Einheit zu verstehen. Diese Einheit des Selbstbewusstseins liegt genau dann vor, wenn man durch die Kategorienanwendung objektivgültige Urteile fällt, d. h. wenn man Gegenstände erkennt. Also lassen sich die Kategorien als Bedingungen ansehen, unter denen die Einheit des Selbstbewusstseins zustande kommt. In diesem Sinne kann man auch sagen, dass die Einheit des Selbstbewusstseins auf das Gegenstandsbewusstsein (das Erkennen der Gegenstände) angewiesen ist. Kurz gesagt: Kein Selbstbewusstsein ohne Gegenstandsbewusstsein.
Dritter Teil Personale Identität und Existenzbewusstsein
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität In Kants Theorie des Selbstbewusstseins ist die Identität ein wesentlicher Aspekt des Selbstbewusstseins. Wir haben schon in Kapitel 1 davon gesprochen, dass der Begriff des Selbstbewusstseins das Bewusstsein der Identität des Ich impliziert. Denn das Selbstbewusstsein besteht wesentlich darin, dass ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts bewusst bin. Auch haben wir bereits in Kapitel 3 anhand von Kants Projekt der transzendentalen Deduktion der Kategorien untersucht, was das Bewusstsein der Identität des Ich genauer bedeutet. Nun können wir noch einen Schritt weitergehen, indem wir die Frage aufwerfen, ob das Ich der reinen Apperzeption eine Person ist und das Bewusstsein der Identität des Ich die personale Identität impliziert. Diese Fragestellung liegt nahe, wenn man sich an Kants Formulierung über die Person erinnert: „Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist so fern eine Person.“ (A 361) Auf den ersten Blick scheint daraus hervorzugehen, dass das Selbstbewusstsein, genauer sagt, das Bewusstsein der Identität des Ich die Personalität und die personale Identität implizit enthält. Das ist aber, wie wir sehen werden, gerade für Kant nicht der Fall. Aufgrund dieses engen Zusammenhangs zwischen Selbstbewusstsein und Person möchte ich im vorliegenden Kapitel Kants Theorie über personale Identität untersuchen. 437 Bekanntlich behandelt Kant in der Kritik, was die theoretische Philosophie betrifft, das Thema der personalen Identität im dritten Paralogismus des Paralogismus-Kapitels. Damit möchte ich vor allem anhand Kants Projekt des dritten Paralogismus die oben aufgeworfene Frage beantworten. Aber um meine Untersuchung in einem begrifflichen Hintergrund besser zu entwickeln, möchte ich mit Kants in der transzendentalen Dialektik zugrunde liegendem Gedanken anfangen. So werde ich in drei Abschnitten vorgehen: Zunächst werde ich erläutern, wie der Begriff der Seele als eine transzendentale Idee entsteht (5.1). Anschließend werde ich analysieren, worin der Fehler des Vernunftschlusses der Personalität besteht (5.2). Schließlich werde ich zwei vorkantische Konzeptionen über personale Identität kurz präsentieren und dann auf Kants positive Position eingehen (5.3). 5.1
Das Entstehen der transzendentalen Idee von der Seele
In der traditionellen Metaphysik ist die Seele (das Ich, das denkende Subjekt oder das denkende Wesen) der Gegenstand der rationalen Psychologie. Zum Beispiel beschäftigt sich Baumgarten in seinem Metaphysica mit der Natur und dem Ursprung der menschlichen Seele, der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper, dem Zustand der Seele nach dem Tod usw. Baumgarten zufolge ist die menschliche Seele „eine immaterielle Substanz“ (§ 757), die über
437
Es ist schon in der Literatur bekannt, dass das Thema über personale Identität immer im Zusammenhang mit der Identität des Selbstbewusstseins aufgegriffen wird. Und die Diskussion über den dritten Paralogismus wird dementsprechend auch oft mit Rekurs auf Kants Konzeption zum Ich in der transzendentalen Deduktion vorgenommen. Vgl. Kitcher 1982, S. 515-517; Powell 1990, S. 130-172; Longuenesse 2007, S. 149-167; Dyck 2014, S. 141-172.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_6
188
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
„Personalität“ (§ 756) 438 verfügt. Allerdings hat Kant den Begriff der Seele nicht einfach aus der Tradition übernommen. Vielmehr ist er der Meinung, dass der Begriff der Seele seinen Ursprung in der menschlichen Vernunft hat, wie er sich deutlich ausdrückt: Dieser Begriff ist „lediglich ein reines und echtes Produkt […] der reinen Vernunft“ (A 335/ B 392). Bevor ich auf Kants Kritik am dritten Paralogismus ausführlich eingehe, möchte ich der Frage nachgehen, wie der Begriff der Seele, die später als Person bezeichnet wird, in Kants System entsteht. Die Antwort auf diese Frage findet sich in der „Einleitung“ (A 293 ff./ B 349 ff.) und dem „Ersten Buch“ (A 310 ff./ B 366 ff.) der transzendentalen Dialektik. Bekanntlich sind diese Textstücke recht inhaltsreich und bisher sind viele Probleme in der Literatur noch umstritten. Damit kann ich hier nicht auf Kants ganzes Projekt eingehen, sondern ich möchte mich nur auf Kants Gedankengang zum Vernunftbegriff der Seele konzentrieren. Betrachten wir zuerst einmal die Vernunft und ihren Gebrauch. Kant definiert die Vernunft im engeren Sinne (im Gegensatz zum Verstand) als „das Vermögen der Prinzipien“ (A 299/ B 356). Dementsprechend ist die Vernunfterkenntnis als „Erkenntnis aus Prinzipien“ (A 309/ B 357) zu verstehen. Sie besteht nämlich wesentlich darin, „das Besondre im Allgemeinen durch Begriffe“ (ebd.) auf apriorische Weise zu erkennen. Laut Kant können wir von der Vernunft einen zweifachen Gebrauch machen. Im logischen Gebrauch wird „von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert“ (A 299/ B 355) und dabei handelt es sich dabei nicht um Gegenstandsbezug. Die Vernunft sorgt nur dafür, „mittelbar zu schließen“ (ebd.). Im realen Gebrauch (reinen, transzendentalen oder spekulativen) enthält die Vernunft „selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze“ (ebd.) und sie muss sich auf Gegenstände a priori beziehen. In Kants Projekt der transzendentalen Dialektik steht offenbar der reale Vernunftgebrauch im Vordergrund. Denn in diesem Fall bringt die Vernunft selbst, wie wir sehen werden, die apriorischen Vernunftbegriffe hervor, die Kant transzendentale Ideen nennt: Seele, Welt und Gott. Es geht mir nun um den Begriff der Seele. Um Kants Konzeption, die Vernunft in ihrem realen Gebrauch erzeuge die Idee der Seele, besser zu verstehen, ist es zunächst nötig, dem logischen Vernunftgebrauch anhand eines Beispiels Rechnung zu tragen. Der Satz „Cajus ist sterblich“ ist ein Erfahrungsurteil, das auf dem Verstand beruht. Das heißt, dass jemand, der erfährt, dass Cajus stirbt, dieses Urteil aufgrund seiner Erfahrung unmittelbar fällen kann. Aber man kann auch die in diesem Satz ausgedrückte Erkenntnis als eine solche ansehen, die die Vernunft aufgrund ihres logischen Gebrauches aus einem allgemeinen Prinzip ohne Berufung auf die Erfahrung erwirbt. Dazu ist laut Kant erforderlich, einen Begriff zu suchen, der als eine Bedingung fungiert. Unter dieser Bedingung ist das Prädikat des Satzes „ist sterblich“ gegeben. Zum Beispiel kann man den Begriff des Menschen finden (man kann natürlich auch andere Begriffe als Beispiele anführen), indem man nach dem Verstand eine allgemeine Regel gibt: „Alle Menschen sind sterblich.“ Außerdem müssen wir noch den Gegenstand, den wir durch die Vernunft erkennen wollen, unter der bereits gegebenen Regel dadurch subsumieren, dass wir „vermittelst der Urteilskraft“ (A 304/ B 360) urteilen: „Cajus ist ein Mensch.“ Damit bilden wir einen Vernunftschluss. 439 438 439
Baumgarten 2011, S. 407. Vgl. „Den Satz: Cajus ist sterblich, könnte ich auch bloß durch den Verstand aus der Erfahrung schöpfen. Allein ich suche einen Begriff, der die Bedingung enthält, unter welcher das Prädicat (Assertion überhaupt)
5.1 Die Idee von der Seele
189
Unter dem Vernunftschluss versteht Kant „das Erkenntnis der Notwendigkeit eines Satzes durch die Subsumtion seiner Bedingung unter eine gegebene allgemeine Regel“ 440. Demensprechend enthält ein Vernunftschluss die folgenden wesentlichen Bestandteile: Die gegebene allgemeine Regel ist der Obersatz (major). „[D]er Satz, der ein Erkenntnis unter die Bedingung der allgemeinen Regel subsumiert“ (ebd.), heißt der Untersatz (minor). Und „der Satz, welcher das Prädikat der Regel von der subsumierten Erkenntnis bejahet oder verneinet“ (ebd.), ist der Schlusssatz (conclusio). 441 Der Obersatz und der Untersatz werden Prämissen des Vernunftschlusses genannt. Laut Kant lassen sich die Vernunftschlüsse der Relation der Urteile (der Obersätze) nach in kategorische, hypothetische und disjunktive Vernunftschlüsse einteilen. 442 Von ihnen ausgehend gelangen wir Kant zufolge jeweils zu den drei transzendentalen Ideen (Seele, Welt und Gott). Nun geht es mir um den kategorischen Vernunftschluss. In einem jeden kategorischen Vernunftschluss gibt es drei Hauptbegriffe: Das Prädikat in der Konklusion ist der Oberbegriff (O). Er steht zugleich im Obersatz an der Prädikatstelle (dem ersten Kasus nach). Der Subjektbegriff in der Konklusion heißt der Unterbegriff (U). Er steht auch im Untersatz an der Subjektstelle. In einem Vernunftschluss gibt es neben diesen zwei Begriffen noch einen anderen Begriff, der sowohl im Obersatz als auch im Untersatz vorkommt, nämlich den Mittelbegriff (M). Der Mittelbegriff steht nur in beiden Prämissen, denn er spielt nur eine vermittelnde Rolle und dadurch werden der Oberbegriff und der Unterbegriff verbunden, in Kants Worten, „weil durch denselben [Mittelbegriff] ein Erkenntnis unter die Bedingung der Regel subsumiert wird“ 443. Nach Kants Terminologie lässt sich der oben gebildete Vernunftschluss durch einen Syllogismus veranschaulichen: S1: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Cajus ist sterblich.
Allerdings begnügt die Vernunft sich nicht mit einem Vernunftschluss. Vielmehr will sie die Bedingungen der gegebenen Bedingungen bis zum Unbedingten anstreben. Dazu schreibt Kant: „Man sieht daraus: daß die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntniß des Verstandes auf die kleinste Zahl der Principien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche.“ (A 305/ B 361) Dies besagt, dass wir im obigen Beispiel „vermittelst eines Prosyllogismus“ (A 307/ B 364) Bedingungen für die Prämissen suchen können. Sehen wir den obigen Obersatz als den Schlusssatz
440 441 442
443
dieses Urtheils gegeben wird (d. i. hier den Begriff des Menschen), und nachdem ich unter diese Bedingung, in ihrem ganzen Umfange genommen, (alle Menschen sind sterblich) subsumirt habe: so bestimme ich darnach die Erkenntniß meines Gegenstandes (Cajus ist sterblich).“ (A 322/ B 378) Jäsche-Logik, AA IX 120. Vgl. auch A 304/ B 360, A 330/ B 386 f. Vgl. „Das Verhältnis also, welches der Obersatz, als die Regel, zwischen einer Erkenntnis und ihrer Bedingung vorstellt, macht die verschiedenen Arten der Vernunftschlüsse aus.“ (A305/ B 361) Vgl. auch JäscheLogik, AA IX 121 f. Jäsche-Logik, AA IX 123.
190
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
eines Prosyllogismus (S2) an, so kann man etwa den Begriff der Tiere als Mittelbegriff finden und nach dergleichen Verfahrensweise diesen Prosyllogismus folgendermaßen bilden: 444 S2: Alle Tiere sind sterblich. Alle Menschen sind Tiere. Alle Menschen sind sterblich.
Sucht man für den Obersatz von S2 noch Bedingungen, dann kann man ihn als den Schlusssatz eines neuen Prosyllogismus (S3) ansehen und einen neuen Mittelbegriff (z. B. Lebewesen) finden. So lautet der Prosyllogismus von S2: S3: Alle Lebewesen sind sterblich. Alle Tiere sind Lebewesen. Alle Tiere sind sterblich.
Fasst man S1, S2 und S3 in einer Syllogismus-Kette zusammen, dann ist die Suche nach Bedingungen noch deutlicher: SK: Alle Lebewesen sind sterblich. Alle Tiere sind Lebewesen. Alle Tiere sind sterblich. Alle Menschen sind Tiere. Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Cajus ist sterblich.
Gemäß der „Forderung der Vernunft“ (A 305/ B 362) und der obigen Verfahrensweise kann man auf der aufsteigenden Reihe der Bedingungen zum Bedingten immer noch vorgehen. Damit nennt Kant die Verfahrensregel, gemäß der die Vernunft nach den allgemeinen Bedingungen strebt, eine logische Maxime des logischen Vernunftgebrauchs: „[D]er eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche) sei: zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.“ (A 307/ B 364) Wenden wir uns nun dem realen Vernunftgebrauch zu. Was die Erzeugung der transzendentalen Ideen betrifft, geht Kant so vor: Genauso wie von den logischen Formen des Urteils die reinen Verstandesbegriffe abgeleitet werden können, lassen sich die Vernunftbegriffe aus den Formen des Vernunftschlusses herleiten. Dafür ist offenbar entscheidend, dass die logi444
Es ist in der Literatur umstritten, ob man den Obersatz oder den Untersatz eines Syllogismus als den Schlusssatz eines Prosyllogismus ansehen sollte. Im Prinzip kann man meiner Ansicht nach von einer beider Prämissen ausgehen. Denn die Absicht der Vernunft ist es, das Unbedingte für die gegebenen Bedingungen zu suchen. Eine ausführliche Analyse für die Lesart, die von dem Untersatz ausgeht, vgl. Rosefeldt 2017, S. 236244.
5.1 Die Idee von der Seele
191
sche Maxime des logischen Vernunftgebrauchs zum realen bzw. transzendentalen Prinzip des realen Vernunftgebrauchs übergeht. Dazu schreibt Kant: Diese logische Maxime kann aber nicht anders ein Principium der reinen Vernunft werden, als dadurch daß man annimmt: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten). (A 307/ B 364)
Dieses Prinzip nennt Kant das „oberste[] Prinzip der reinen Vernunft“ (A 308/ B 365). Der genannte Übergang besteht wesentlich darin, dass die bloß analytische subjektive Maxime zum synthetischen objektiven Prinzip dadurch gemacht wird, dass der Gegenstandsbezug im letzteren in Betracht kommt, während er in der ersteren abstrahiert wird. Genauer gesagt: Die Vernunft strebt nicht nur, „so lange es angeht“ (A 307/ B 364), nach dem Unbedingten zum Bedingten („finden“), sondern sie muss das Unbedingte auf einen realen Gegenstand beziehen („geben)“, obwohl dieser Gegenstand in der Anschauung nicht gegeben werden kann. Der Begriff von einem solchen Unbedingten wird von Kant als eine transzendentale Idee bezeichnet. Allerdings ist bemerkenswert, dass Kant im „ersten Buch“ der transzendentalen Dialektik, bei genauerem Hinsehen, von zwei Arten des Entstehens der transzendentalen Ideen zu sprechen scheint. Die eine beruht auf dem sogenannten Prosyllogismus; die andere betrifft das Verhältnis der Vorstellungen zum Subjekt. Beides stützt sich auf den realen Vernunftgebrauch. Ich möchte im Folgenden jeweils auf Kants Argumente eingehen. Wie gesagt, konzentriere ich mich nur auf die Idee von der Seele. (a)
Prosyllogismus-Argument
In der oben dargestellten Syllogismus-Kette ist es leicht zu sehen, dass sich für jeden kategorischen Obersatz immer noch ein anderer Obersatz als Bedingung suchen lässt. Und der Mittelbegriff eines Vernunftschlusses, sofern er als eine Bedingung angesehen wird, fungiert immer zugleich als Subjektbegriff im Obersatz und als Prädikatbegriff im Untersatz (z. B. „Mensch“, „Tiere“ und „Lebewesen“). Rufen wir uns Kants Konzeption, dass alle Begriffe als „Prädikate möglicher Urteile“ (A 69/ B 94) gebraucht werden können, in Erinnerung, so geht es hervor, dass wir niemals zum Unbedingten gelangen können, und zwar niemals zu einem Subjektbegriff, der „selbst nicht mehr Prädikate“ (A 323/ B 379) ist. Auch wenn wir beim Fortschreiten des kategorischen Prosyllogismus einen solchen Begriff gelegentlich haben könnten, kann man immer noch fragen, warum der von diesem Begriff bezeichnete Gegenstand genau das denkende Ich bzw. die Seele ist. Damit scheint Kant mit einer sachlichen Schwierigkeit konfrontiert zu sein. Und er gibt, soweit ich sehe, in der Kritik keine Antwort. Allerdings scheint Kant selbst später diese Schwierigkeit gesehen zu haben und versucht in den Prologomena eine Lösung zu geben. Er schreibt: Die reine Vernunft fordert, daß wir zu jedem Prädicate eines Dinges sein ihm zugehöriges Subject, zu diesem aber, welches nothwendiger Weise wiederum nur Prädicat ist, fernerhin sein Subject und so forthin ins Unendliche (oder so weit wir reichen) suchen sollen. Aber hieraus folgt, daß wir nichts, wozu wir gelangen können, für ein letztes Subject halten sollen, und daß das Substantiale selbst niemals von unserm noch so tief eindringenden Verstande, selbst wenn ihm die ganze Natur aufgedeckt wäre, gedacht werden könne: weil die
192
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
specifische Natur unseres Verstandes darin besteht, alles discursiv, d. i. durch Begriffe, mithin auch durch lauter Prädicate zu denken, wozu also das absolute Subject jederzeit fehlen muß. (AA IV 333)
Wenig später fährt er fort: Nun scheint es, als ob wir in dem Bewußtsein unserer selbst (dem denkenden Subject) dieses Substantiale haben und zwar in einer unmittelbaren Anschauung; denn alle Prädicate des innern Sinnes beziehen sich auf das Ich als Subject, und dieses kann nicht weiter als Prädicat irgend eines andern Subjects gedacht werden. (AA IV 334)
Im obigen ersten Zitat sagt Kant explizit, dass wir im Prinzip „ein letztes Subjekt“ bzw. „das absolute Subjekt“ gar nicht finden können. Doch er weist sogleich im zweiten Zitat darauf hin, dass die Vorstellung vom Ich bzw. vom denkenden Subjekt niemals als Prädikatbegriff gebraucht werden kann. So scheint es naheliegend zu sein, dass das denkende Ich das gesuchte Unbedingte in dem kategorischen Vernunftschluss ist. Aber das ist ja nur ein Zufall oder ein Sonderfall vom Subjektbegriff. „Denn das Ich“, so schreibt Kant weiter, „ist kein Begriff, sondern nur Bezeichnung des Gegenstandes des inneren Sinnes“ 445. Dies besagt, dass der sogenannte Ich-Begriff gar kein Prädikatbegriff im allgemeinen Sinn ist, weil er keine reale Eigenschaft eines denkenden Wesens bezeichnet. Somit kann man auch sagen, dass der IchBegriff der Sache nach gar nicht zur Reihe der gesuchten Subjektbegriffe (bzw. der Mittelbegriff) in der Syllogismus-Kette passt. Dass das Unbedingte im kategorischen Vernunftschluss mit dem denkenden Ich bzw. der Seele gleichgesetzt wird, ist, wenn man so sagen will, nur ein Zufall. Denn zwischen dem gesuchten Unbedingten mit dem denkenden Ich besteht keine notwendige Verbindung, oder besser gesagt: Eine solche Verbindung ist nicht zwingend. Also ist dieses Argument für das Entstehen der transzendentalen Idee von der Seele zwar im „Ersten Buch“ der transzendentalen Dialektik dominierend, aber in der Tat weniger plausibel. Jedoch hat Kant uns ein zweites Argument geliefert, das zwar kürzer formuliert ist, aber überzeugender zu sein scheint. (b)
Vorstellungen-Subjekt-Argument
Nach Kants wörtlichen Ausführungen findet sich dieses Argument vor allem im Anschnitt „System der transzendentalen Ideen“ (A 333 ff./ B 390 ff.). Aber von Kants philosophischer Position ausgehend ist dieses Argument naheliegend und meiner Ansicht nach vielversprechender. Sehen wir uns zunächst Kants eigene Formulierungen in dem soeben genannten Abschnitt an, wo er schreibt: Nun ist das Allgemeine aller Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können: 1) die Beziehung aufs Subject […], so ist alles Verhältniß der Vorstellungen, davon wir uns entweder einen Begriff oder Idee machen können, dreifach: 1. das Verhältniß zum Subject […]. (A 333 f./ B 390 f.)
Was das Entstehen des Vernunftbegriffs von der Seele betrifft, spricht Kant in dieser Passage zweimal vom Verhältnis aller Vorstellungen zu einem Subjekt. Um diesen Hinweis deutlich zu machen, ist es nötig, an Kants Hauptgedanken über dieses Verhältnis zu erinnern. 446 Laut Kant können verschiedene Vorstellungen nur dann einen Gedanken ausmachen, wenn sie zu 445 446
Prolegomena, AA IV 334. Eine ausführliche Erläuterung vgl. Abschnitt 4.1.
5.1 Die Idee von der Seele
193
einem Subjekt gehören und darin verknüpft werden können. Die verschiedenen Vorstellungen, die unter verschiedene Subjekte verteilt sind, machen keinen Gedanken aus. Mit anderen Worten: Die verschiedenen Vorstellungen werden nur dann als meine Vorstellungen bezeichnet, wenn ich sie besitze und in einem Bewusstsein verbinde. Daraus ergibt sich, dass das denkende Ich als ein gemeinschaftliches Subjekt in allen meinen Vorstellungen und Gedanken fungiert. In Kants Worten: Das Ich als „das beständige logische Subjekt des Denkens“ (A 350) muss „bei allem Denken immer wiederum“ (A 350) vorkommen. Somit hat das Ich nur eine „logische[] Bedeutung“ (A 350) und dient zur „subjektive[n] Bedingung des Denkens“ (A 396). Alle Vorstellungen, sofern sie meine Vorstellungen sind und einen Gedanken ausmachen können, müssen dem Ich als einem gemeinschaftlichen Subjekt inhärieren. Jedoch kann dieses Ich nicht eine Eigenschaft eines anderen Dinges sein. Das heißt, dass der Ich-Begriff nur als Subjektbegriff, nicht aber als Prädikatbegriff gebraucht werden kann. Aus dieser Kantischen Überlegung ist es klar, dass alle Vorstellungen ein Verhältnis zu einem denkenden Subjekt haben müssen. Da dieses denkende Ich als „formale Bedingung“ alles Denkens fungiert und selbst unbedingt ist, lässt es sich als das Unbedingte in dem kategorischen Urteil ansehen. Und da die Vernunft es in ihrem realen Gebrauch zur Absicht hat, Begriffe des Unbedingten hervorzubringen, um die vereinzelten Erfahrungen des Verstandes zu systematisieren, so betrachtet die Vernunft dieses denkende Ich als ein Unbedingtes und nimmt zugleich an, dass es so etwas wie ein reales Objekt ist, obwohl es nicht in der sinnlichen Anschauung gegeben werden kann. Es ist nämlich ein transzendental reales Objekt bzw. ein transzendentes Objekt. Der Begriff von diesem Ich als einem Unbedingten ist ein Vernunftbegriff. Auf diesen Punkt hat Kant tatsächlich später im Teil „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre, zu Folge diesen Paralogismen“ (A 381 ff.) hingewiesen. Dort schreibt er: Weil ferner die einzige Bedingung, die alles Denken begleitet, das Ich in dem allgemeinen Satze: Ich denke, ist, so hat die Vernunft es mit dieser Bedingung, so fern sie selbst unbedingt ist, zu thun. Sie ist aber nur die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden Gedanken, bei dem ich von allem Gegenstande abstrahire, und wird gleichwohl als ein Gegenstand, den ich denke, nämlich Ich selbst und die unbedingte Einheit desselben, vorgestellt. (A 398)
Es ist daher kaum verwunderlich, dass Kant im oben genannten Abschnitt „System der transzendentalen Ideen“, nachdem er das Verhältnis der Vorstellungen zum Subjekt eingeführt hat, ohne weiteres darauf hinweist, die erste transzendentale Idee sei „die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts“ (A 334/ B 391). Und anschließend sagt er sogleich im nächsten Absatz: „Das denkende Subjekt ist der Gegenstand der Psychologie […].“ (A 334/ B 391) Denn wie sich im obigen Zitat aus A 398 zeigt, ist das denkende Ich die einzige Bedingung, die einen Gedanken möglich macht, oder eine Bedingung, die selbst unbedingt ist. So ist es naheliegend oder sogar notwendig, dass die Vernunft dieses Ich als ein Unbedingtes ansieht und einen Vernunftbegriff hervorbringt. Wie oben bereits erwähnt, sind Kants Ausführungen über dieses Argument sehr knapp. Doch wie wir gesehen haben, stützt dieses Argument sich der Sache nach auf eine grundsätzliche Position Kants. Dass das denkende Subjekt mit einem Unbedingten, nach dem die reine Vernunft strebt, gleichgesetzt wird, ist durchaus kein Zufall, sondern eine notwendige Konsequenz derjenigen Tatsache:
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande, und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen. (A 298/ B 355)
Abschließend möchte ich nur noch darauf hinweisen, dass die oben dargestellten zwei Argumente für das Entstehen der transzendentalen Idee von der Seele parallel zu sein scheinen. In Kants Text des „Ersten Buches“ der transzendentalen Dialektik ist es schwer zu sehen, wie sie miteinander zusammenhängen können. Da Kants zugrundeliegende Strategie der transzendentalen Ideen, wie gesagt, darin besteht, einerseits aufgrund des Übergangs vom logischen zum realen Vernunftgebrauch und andererseits mit Hilfe des Übergangs von der logischen Maxime zum obersten Prinzip der reinen Vernunft die Vernunftbegriffe des Unbedingten aus den Arten des Vernunftschlusses herzuleiten, so ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die zwei Argumente in der Tat zusammenfallen und im Wesentlichen als ein und derselbe Gedankengang anzusehen sind. Aber diese Vermutung lässt sich, soweit ich sehe, in Kants Ausführungen nicht gut belegen. Um diese sachliche Schwierigkeit zu lösen, müssen wir uns mit anderen Textstellen und Kants systematischer Überlegung beschäftigen. Dies will ich hier nicht weiter verfolgen. Trotz der Unklarheit der Kantischen Argumentation ist aufgrund des Projekts der transzendentalen Dialektik festzulegen, dass das erste Unbedingte der reinen Vernunft die Seele bzw. das denkende Ich ist. Denn Kants Paralogismus-Kapitel, das sich mit den rationalpsychologischen Behauptungen über die Seele kritischerweise beschäftigt, knüpft unmittelbar an diese transzendentale Idee an. Was unsere Ausgangsfrage nach dem Ich, das in der rationalen Psychologie als Person bezeichnet wird, anlangt, lässt sich nun aufgrund des bisher Gesagten so zusammenfassen: Aus Kants Sicht ist das denkende Ich, dessen Begriff nur als Subjektbegriff, nicht als Prädikatbegriff gebraucht wird, genau das Unbedingte, das die reine Vernunft gemäß ihrer Natur suchen will. Im Wesentlichen fungiert dieses Ich nur als eine logische Bedingung, die ermöglicht, dass alle Vorstellungen meine Vorstellungen sind und Gedanken ausmachen können. Aber die reine Vernunft macht den Begriff von diesem Unbedingten zu einer transzendentalen Idee, als ob sie einem in einer nicht-sinnlichen Anschauung gegebenen Gegenstand wirklich entspräche. Allerdings kann man laut Kant vom Begriff der Idee nur regulativen, nicht aber konstitutiven Gebrauch machen (vgl. A 642/ B 670). Wenn man „das, was bloß in Gedanken existiert, hypostasiert“ (A 384), d. h. wenn das denkende Ich als „die subjektive Bedingung des Denkens vor die Erkenntnis des Objekts gehalten wird“ (A 396), entsteht der transzendentale Schein der reinen Vernunft. Denn dieses Ich ist kein erkennbares Objekt. Wie wir sehen werden, ist die rationalpsychologische Behauptung, dass die Seele bzw. das denkende Ich eine Person ist, ein solcher transzendentaler Schein.
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität 5.2
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Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
Der dritte Paralogismus in der ersten Auflage des Paralogismus-Kapitels ist der Paralogismus der Personalität. Kants Absicht ist es, die rationalpsychologische Behauptung, die Seele sei eine Person, zurückzuweisen. Diese Zurückweisung beruht freilich auf seinem wohlbekannten Grundgedanken: Wir sind nicht dazu berechtig, Erkenntnisansprüche auf das bloß denkende Ich bzw. die Seele zu erheben. Kants Ausführungen im Text des dritten Paralogismus sind allerdings schwer zu verstehen und die Argumentationslinie ist auch nicht leicht zu durchschauen. Manche Formulierungen sind nach meinem Verständnis des Textes nur in Anlehnung an Kants Hauptgedanken über die Identität des Ich in der transzendentalen Deduktion der Kategorien verständlich. 447 Damit möchte ich in diesem Abschnitt erklären, wie Kant den Fehlschluss der Personalität diagnostiziert. Ich werde zuerst auf die scheinbare Gültigkeit des dritten Paralogismus eingehen (5.2.1). Dann werde ich aus Kants Sicht analysieren, worin die Ambiguität des Mittelbegriffs des Vernunftschlusses besteht (5.2.2). Schließlich werde ich anhand Kants Gedankenexperiment eines äußeren Beobachters erläutern, weshalb man aus der logischen Identität des Ich nicht auf die personale Identität schließen darf (5.2.3). 5.2.1 Scheinbare Gültigkeit des Paralogismus der Personalität Wir haben in Abschnitt 5.1 gesehen, dass das bloß denkende Ich bzw. die Seele der Gegenstand der rationalen Psychologie ist. Sie geht davon aus, dass die Seele über Personalität bzw. personale Identität verfügt. Um diese These zu rechtfertigen und danach zu widerlegen, baut Kant in der ersten Auflage des Paralogismus-Kapitels einen Vernunftschluss auf, dessen Schlusssatz die Behauptung „die Seele ist eine Person“ ist. Heiner F. Klemme zufolge hat niemand in der deutschen Metaphysiktradition die Persönlichkeit der Seele in Form eines Syllogismus bewiesen. 448 Demnach sollte der Vernunftschluss der Personalität als eine Zusammenfassung aufgefasst werden, die Kant mit Berufung auf die Vorgabe der rationalen Psychologie macht. Außerdem ist Dieter Henrich der Meinung, dass Kant von Christian Wolff den Begriff der Person übernimmt. Denn Wolff definiert Person als eine Substanz, die Erinnerungsfähigkeit hat: „Persona dicitur ens, quod memoriam sui conservat, hoc est, meminit, se esse idem illud ens, quod ante in hoc vel isto fuit statu“ (Psych. Rat. § 741). 449 Deshalb nennt Kant den dritten Paralogismus den Paralogismus der Personalität. In der ersten Auflage der Kritik lautet der genannte Vernunftschluss folgendermaßen: Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist so fern eine Person: Nun ist die Seele etc. Also ist sie eine Person. (A 361)
447
448 449
Laut Kitcher wird Kants Text aufgrund der subjektiven Deduktion sehr verständlich. Sie schreibt: „I think Kant's message in the Third Paralogism is very clear in the text – if the text is read in light of the Subjective Deduction.“ (Kitcher 1982, S. 534-535) Vgl. Klemme 1996, S. 331. Ich übernehme dieses Zitat von Henrich (1988, S. 56). Die deutsche Übersetzung lautet: „Person ist ein Ding, das sich bewußt ist, es sei eben dasjenige, was vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen.“
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
Wir haben in Abschnitt 5.1 davon gesprochen, dass ein kategorischer Vernunftschluss zwei Prämissen (P1, P2) und eine Konklusion (K) enthält. Und in den zwei Prämissen sind nur drei Begriffe enthalten: Oberbegriff (O), Unterbegriff (U) und Mittelbegriff (M). Gemäß dieser Terminologie lässt sich der obigen Vernunftschluss so wiedergeben: Obersatz (P1): Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist (M), ist sofern eine Person (O). Untersatz (P2): Die Seele (U) ist das, was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist (M). Konklusion (K): Die Seele (U) ist eine Person (O).
Die Form dieses Vernunftschlusses lautet: (P1): M ist O. (P2): U ist M. (K): U ist O.
Auf den ersten Blick scheint dieser Syllogismus der Form nach gültig zu sein. Dass Kant der rationalen Psychologie diesen Vernunftschluss zuschreibt, besagt, dass die rationalen Psychologen diesen Vernunftschluss für gültig halten sollten. Sie behaupten nicht nur die Persönlichkeit der Seele, sondern gehen auch davon aus, dass diese Behauptung durch einen gültigen Vernunftschluss gerechtfertigt werden kann. Da Kant die rationale Psychologie als eine „scheinbare[] Wissenschaft[]“ (A 397) bezeichnet, ist es sinnvoll, der scheinbaren Gültigkeit dieses Vernunftschlusses im Hinblick auf seinen Inhalt Rechnung zu tragen. Im Folgenden möchte ich erklären, inwiefern der Vernunftschluss der Personalität in der rationalen Psychologie überzeugend ist. Ich werde jeweils auf beide Prämissen und die Konklusion eingehen. Zum Obersatz: Aus dieser Aussage ist zuerst einmal zu entnehmen, dass ein Ding, das die folgenden vier Bedingungen erfüllt, als eine Person bezeichnet werden kann: Bewusstseinsfähigkeit, Selbstbewusstsein, numerische Identität in verschiedenen Zeiten und Bewusstsein dieser Identität. 1) Alle leblose Dinge im Raum und alle Tiere sind aus der Menge der Person ausgeschlossen, weil sie nicht in der Lage sind, sich bewusst zu werden. Zur Menge der Person gehören daher nur die Menschen und die anderen möglichen denkenden Wesen. 450 2) Das Selbstbewusstsein bestimmt näher die Wesen, die über Bewusstseinsfähigkeit verfügen, damit der Begriff der Person gebildet wird. Unter dem Selbstbewusstsein im Kontext des Obersatzes ist zu verstehen, dass sich ein bewusstseinsfähiges Wesen auf sich selbst beziehen kann. Das heißt, dass dieses Wesen das Wort „ich“ bzw. den Ich-Begriff verwenden kann. So ist es naheliegend, dass wir nur Vernunftwesen als Person bezeichnen können. 3) Die numerische Identität in verschiedenen Zeiten ist ein zentrales Kriterium dafür, dass etwas als eine Person bezeichnet wird. Mit der numerischen Identität ist nicht gemeint, dass verschiedene Dinge in Bezug auf ihre Qualität identisch sind, sondern dass ein Einzelnes bzw. ein Individuum im Wechsel der Zeit unverändert bleibt. Kant schreibt in einer Reflexion: Numerische Identitaet ist die Einheit des Individui: dessen, was in Verschiedenen Beziehungen als Viel betrachtet worden. (R 6093, AA XVIII 449)
450
Vgl. R 4239, AA XVII 473.
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
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Den Ausdruck „in verschiedenen Zeiten“ ersetzt Kant manchmal durch die gleichbedeutenden Ausdrücke „bei der Vielheit in der Zeit“ (A 404) oder „in jedem Zustande meines Denkens“ (B 419). Da die Zeit die Form des inneren Sinnes ist und jeder mentale Zustand in der Zeit stattfindet, lässt sich die genannte numerische Identität dahingehend verstehen, dass ein Wesen im Wechsel seiner mentalen Zustände unverändert bleibt. Das heißt, dass das denkende Wesen wirklich mit Kontinuität in der Zeit existieren muss. 4) Der Obersatz scheint eine epistemische Dimension zu implizieren. Das gesuchte Wesen, das über faktische Identität verfügt, muss auch ein Bewusstsein davon haben, dass es ein und dasselbe ist. Wie Kant es selbst in den „Vorlesungen über Metaphysik“ ausführt, ist das „Bewustseyn der Identität des Subjects“ erforderlich, denn „ohne dies ist die Person todt“. 451 Da die Identität eines Wesens und das Bewusstsein dieser Identität für den Begriff der Person entscheidend sind, sprechen wir in der philosophischen Diskussion über Person oft nur von personaler Identität. Mit anderen Worten: Der Begriff der Person impliziert notwendigerweise die personale Identität. Nun stellt sich noch die Frage, woher der Obersatz tatsächlich kommt, oder wer eigentlich diese von Kant gelieferte Aussage vertritt? Eine naheliegende Antwort ist der vorkantische Rationalismus. Das heißt, dass der Obersatz die Position der Rationalisten wie Leibniz und Wolff ausdrückt. 452 Diese Überlegung ist ohne Untersuchung der historischen Texte auch akzeptabel, denn Kants Projekt im dritten Paralogismus besteht doch darin, die rationalpsychologische Behauptung über die Persönlichkeit der Seele zu widerlegen. So sind ohne Zweifel die Prämissen, aus denen sich diese Behauptung folgern lässt, für die rationalen Psychologen allgemein anerkannt. Ich halte diese Überlegung für völlig zutreffend. Jedoch gibt es in der Kant-Literatur eine Interpretation, die davon ausgeht, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass der Obersatz auch zum großen Teil aus der Tradition der Empiristen wie Locke entspringt. Denn wenn man einen Blick auf Lockes Definition der Person wirft, 453 ist leicht zu sehen, dass das, was durch den Obersatz zum Ausdruck gebracht wird, völlig mit Lockes Konzeption übereinstimmt. D. h. eine Person besteht lediglich in einem solchen vernünftigen Wesen, durch dessen Bewusstsein sich die Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bestätigen lässt. 454 Diese Begründung scheint prima facie plausibel zu sein. Allerdings hat diese Interpretation meines Erachtens nur die Gemeinsamkeit von Empiristen und Rationalisten bezüglich der Person im Blick, nämlich das entscheidende Identitätsbewusstsein. Sie hat aber eine wichtige Verschiedenheit übersehen, die darin besteht, dass die Person bei Locke gar nichts mit der Substanz zu tun hat, aber bei den rationalen Psychologen eine immaterielle Substanz voraussetzt. Beide Richtungen sind miteinander nicht vereinbar. Also ist es ratsam, zu behaupten, dass der Obersatz zwar in Bezug auf seinen Ausdruck aus Locke stam451 452 453
454
Metaphysik Dohna, AA XXVIII 688. Vgl. Hughes 1983, S. 405-411; Henrich 1988, S. 56; Klemme 1996, S. 329; Dyck 2014, S. 160. In seinem Buch An Essay Concerning Human Understanding schreibt Locke: “We must consider what Person stands for; which, I think, is a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking, and as it seems to me essential to it.” (Locke 1975, S. 335) Vgl. Bennett 1974, S. 93; Brook 1994, S. 191; Kitcher 1982, S. 533; Kitcher 1990, S. 195. Kitcher hat sogar in 2011 ihre frühere Meinung verändert und weicht immer mehr von den Rationalisten ab. Sie geht davon aus, dass der Obersatz nicht aus der rationalen Psychologie, sondern aus Locke stammt, der zu den Empiristen gehört. (Vgl. Kitcher 2011, S. 185.)
198
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
men könnte, aber den Rationalisten insofern ausschließlich zuzuschreiben ist, als ihr Begriff der Person den Begriff der Substanz voraussetzt (vgl. A 365). Ich werde später in Abschnitt 5.3 diese Verschiedenheit durch die Auseinandersetzung mit der personalen Identität bei Locke und Leibniz deutlich machen. Zum Untersatz: Wie schon einmal erwähnt, fungiert der Obersatz in einem Vernunftschluss als eine allgemeine Regel. Die Aufgabe des Untersatzes besteht darin, etwas unter der genannten Regel zu subsumieren. Daraus folgt, dass etwas aufgrund der allgemeinen Regel in der Konklusion bestimmt wird. Genauer gesagt: Wenn es irgendein Wesen gibt, das die oben angegebenen vier Bedingungen erfüllt, ist es eine Person. Nun geht die rationale Psychologie davon aus, dass die Seele ein solches Wesen ist. Zunächst ist es klar, dass die Seele die Bewusstseinsfähigkeit hat und in der Lage ist, sich ihrer selbst bewusst zu werden, weil sie über den inneren Sinn verfügt. 455 Dazu sagt Kant in den Vorlesungsschriften: Der Seele aber bin ich mir durch den innern und nicht durch den äußern Sinn bewußt. (Metaphysik L1, AA XXVIII 271) Das Bewußtseyn seiner selbst, der Begriff vom Ich, findet bei solchen Wesen, die keinen innern Sinn haben, nicht statt; demnach kann kein unvernünftiges Thier denken: ich bin; hieraus folgt der Unterschied, daß Wesen, die einen solchen Begriff von Ich haben, Persönlichkeit besitzen. (Metaphysik L1, AA XXVIII 276)
Der Umstand, dass ein denkendes Wesen den Ich-Begriff verwenden kann, legt daher nahe, dass es sich von allen Tieren unterscheidet und damit eine Person ist. Hingegen haben die Tiere nur den äußeren Sinn, so können sie nicht als Person bezeichnet werden. 456 Darüber hinaus ist die Seele nach der rationalen Psychologie ein identisches denkendes Wesen in verschiedenen Zeiten und sich dieser numerischen Identität bewusst. 457 Die Identität der Seele zeigt sich auch darin, dass sie sich während der Veränderung ihres Körpers nicht verändert. Dazu sagt Kant in den Vorlesungsschriften: Geburt, Leben und Tod, sind also nur Zustände der Seele; denn die Seele ist eine einfache Substanz; also kann sie auch nicht erzeugt werden, wenn der Körper erzeugt, und auch nicht aufgelöset werden, wenn der Körper aufgelöset wird. (Metaphysik L1, AA XXVIII 282)
Von dieser Identität hat die Seele ein Bewusstsein, weil sie sich in verschiedenen Zuständen bewusst ist, dass sie eine Substanz ist, der diese Zustände zukommen. Und genau das Bewusstsein der Identität führt dazu, dass der Seele der Status, eine Person zu sein, zuzuschreiben ist. Dafür sprechen die folgenden Äußerungen aus Kants Verlesungsschriften:
455
456
457
Vgl. „Das Bewußtseyn seiner selbst und die Identität der Person beruht auf dem innern Sinn. Der innere Sinn aber bleibt doch auch noch ohne den Körper, weil der Körper kein Princip des Lebens ist, also auch die Persönlichkeit.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 296) Vgl. „Demnach werden die Thiere alle Vorstellungen der äußern Sinne haben; nur derjenigen Vorstellungen werden sie entbehren, die auf dem innern Sinne, die auf dem Bewußtseyn seiner Selbst, kurz auf dem Begriffe vom Ich beruhen. Sie werden demnach keinen Verstand und keine Vernunft haben; denn alle Handlungen des Verstandes und der Vernunft sind nur in sofern möglich, als man sich seiner selbst bewußt ist.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 276) Vgl. „Die Persönlichkeit, die Hauptsache bei der Seele nach dem Tode, und die Identität der Persönlichkeit der Seele besteht aber darin: daß sie sich bewußt sey, daß sie eine Person ist, und daß sie sich auch der Identität bewußt ist; denn sonst wäre der vorige Zustand mit dem künftigen gar nicht verknüpft.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 296)
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
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Ich bin mir nicht mehrerer Substanzen bewußt. Denn wenn mehrere denkende Wesen im Menschen wären; so müßte man doch auch sich mehrerer denkenden Wesen bewußt seyn. Das Ich drückt aber die Unität aus; ich bin mir Eines Subjects bewußt. (Metaphysik L1, AA XXVIII 267) Wir betrachten die Seele […] nach ihrer Persönlichkeit, als Intelligenz, in dem Bewustseyn ihrer Identität in verschiednen Zuständen. (Metaphysik Dohna, AA XXVIII 679) Zum künftigen Leben wird erfordert […] die Fortdauer ihrer Persönlichkeit. - Ohne das lezte kann man nicht sagen daß Menschen künftig als vernünftige Wesen existiren werden. - Memoria perdurabilis Verknüpfung beider Zustände, mit dem Bewustseyn der Identität des Subjects, ohne dies ist die Person todt. (Metaphysik Dohna, AA XXVIII 688)
Zur Konklusion: Da der Begriff der Seele im Untersatz unter der allgemeinen Regel subsumiert wird, ergibt sich, dass die Seele eine Person ist. Das ist nach der rationalen Psychologie eine Erkenntnis der Eigenschaft der Seele. Und diese Eigenschaft ist die „Hauptsache bei der Seele nach dem Tode“ 458. Die Seele ist einerseits das Prinzip des Lebens, 459 andererseits ist ihre Persönlichkeit sogar nach dem Tod des Menschen fortdauernd. 460 Aufgrund der obigen Darstellung kann man sagen, dass der Vernunftschluss der Personalität plausibel zu sein scheint, weil er von der rationalen Psychologie her mit der logischen Form eines richtigen Vernunftschlusses übereinstimmt. Allerdings kann Kant diesen Vernunftschluss ebenso zerstören, wie er ihn aufbaut. 5.2.2 Ambiguität des Mittelbegriffs im dritten Paralogismus Kant nennt den oben genannten Vernunftschluss der Personalität einen Paralogismus. Dazu schreibt er in der Jäsche-Logik: Ein Vernunftschluß, welcher der Form nach falsch ist, ob er gleich den Schein eines richtigen Schlusses für sich hat, heißt ein Trugschluß (fallacia). Ein solcher Schluß ist ein Paralogismus, in so fern man sich selbst dadurch hintergeht […]. (AA IX 134 f.)
Und eine Parallelstelle aus einer Reflexion lautet: Paralogism ist ein Vernunftschlus, der der Form nach falsch ist, ob er gleich der Materie (den Vordersätzen) nach richtig ist. (R 5552, AA XVIII 218)
Ferner heißt es in der Kritik: Der logische Paralogismus besteht in der Falschheit eines Vernunftschlusses der Form nach, sein Inhalt mag übrigens sein, welcher er wolle. Ein transscendentaler Paralogismus aber hat einen transscendentalen Grund, der Form nach falsch zu schließen. (A 341/ B 399)
Diese drei Zitate zeigen, dass ein Vernunftschluss, wenn er der Form nach falsch ist, egal was sein Inhalt ist, ein Paralogismus, genauer gesagt, ein logischer Paralogismus ist. Wenn der formale Fehler des Schlusses noch einen transzendentalen Grund hat, bezeichnet Kant einen solchen Paralogismus als einen transzendentalen Paralogismus. Mit dem transzendentalen Grund ist gemeint, dass der Grund des Fehlers in der Natur der menschlichen Vernunft selbst 458 459 460
Metaphysik L1, AA XXVIII 296. Vgl. R 4240, AA XVII 474. Vgl. Metaphysik Dohna, AA XXVIII 686 u. 688.
200
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
wurzelt und nur unter dem Gesichtspunkt der transzendentalen Philosophie aufgedeckt werden kann. Also ist der formale Fehler des transzendentalen Paralogismus verborgener als der des logischen Paralogismus. Denn der erstere ist aufgrund der Natur der Menschenvernunft unvermeidlich, der letztere aber besteht nur in der beim Schließen begangenen Unachtsamkeit, die eigentlich vermeidbar sein sollte. Bekanntlich ist Kant der Meinung, dass der Vernunftschluss der rationalen Psychologie zum transzendentalen Paralogismus gehört. Daraus ergibt sich, dass der Vernunftschluss der Personalität zwar scheinbar gültig, aber tatsächlich der Form nach falsch ist, und dass dieser formale Fehler in der Natur der Menschenvernunft besteht. So legt dieser transzendentale Paralogismus einen transzendentalen Schein nahe, der zwar unvermeidlich, aber entdeckbar ist (vgl. A 341/ B 399). Der sogenannte transzendentale Schein besteht in der Konklusion des dritten Paralogismus „die Seele ist eine Person“. Ich werde im Folgenden darauf eingehen, wie man laut Kant den formalen Fehler des Vernunftschlusses der Personalität aus dem Gesichtspunkt der transzendentalen Philosophie anders als beim logischen Paralogismus aufdecken kann. Mit dem „Gesichtspunkt der transzendentalen Philosophie“ ist nichts anderes gemeint, als dass Kant in seiner kritischen Philosophie die grundlegende Unterscheidung zwischen der Anschauung und dem Denken eines Gegenstandes macht. Genauer gesagt: Die Anschauung eines Gegenstandes unterscheidet sich von dem bloßen Denken desselben Gegenstandes. Was die erstere betrifft, muss uns der Gegenstand in der sinnlichen Anschauung gegeben sein, und dadurch bekommen wir eine einzelne Vorstellung des Gegenstandes (eine Anschauung als einzelne Vorstellung). Aber für das Denken eines Gegenstandes wird es nicht in Anspruch genommen, dass der Gegenstand tatsächlich in der Anschauung gegeben werden kann. Einen Gegenstand zu denken, heißt nur, dass man die Begriffe, die keinen Widerspruch enthalten, auf etwas überhaupt anwendet. Was durch diese Begriffe gedacht wird, kann ein intentionaler Gegenstand sein, der sich nicht in Raum und Zeit befindet und der nur in unserem Geist vorhanden ist. Also impliziert das Denken eines Gegenstandes bei weitem nicht das anschaulich Gegebene dieses Gegenstandes. Wie wir sehen werden, spielt diese Unterscheidung für die Diagnose des Fehlschlusses der rationalen Psychologie eine entscheidende Rolle. Ich möchte aufgrund dieser Unterscheidung die Ambiguität des Mittelbegriffs des dritten Paralogismus erläutern. (a)
Zum Mittelbegriff im Obersatz
Kant zufolge enthalten die dialektischen Vernunftschlüsse der rationalen Psychologie „richtige Prämissen“ (A 402). Was den Obersatz des dritten Paralogismus anlangt, räumt Kant offenbar diese Aussage über den Begriff der Person ein und hält sie für wahr. 461 Wenn das der Fall ist, stellt sich nun sogleich die Frage, wie man aus Kants Sicht diese Aussage genauer verstehen sollte. Es ist in der Kantischen Philosophie wohlbekannt, dass die Erkenntnis im strengen Sinne Anschauungen und Begriffe erfordert. Erweitert man durch ein Urteil unsere Erkenntnis eines Gegenstandes, so muss dieses Urteil synthetisch sein. Und dass wir einen Gegenstand erkennen, setzt voraus, dass dieser Gegenstand in der Anschauung gegeben werden kann. Geht man von dieser Überlegung aus, dann ergibt sich, dass es sich beim Obersatz, wenn er nicht bloß ein analytischer Satz, sondern ein erweiterndes Erkenntnisurteil ist, um 461
Laut Ameriks ist der Obersatz „clearly accepted by Kant“ (Ameriks 2000, S. 130).
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
201
eine Anschauung handelt. 462 Genauer gesagt: Der Mittelbegriff im Obersatz – was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist – muss als ein solcher Begriff verstanden werden, dessen Inhalt etwas in der Anschauung Gegebenes korrespondiert. Im jetzigen Fall ist es klar, dass ein bewusstseinsfähiges Wesen, wenn es sich als eine Person erkennen lässt, in der sinnlichen Anschauung gegeben werden muss. Und gemäß den oben angegebenen vier Bedingungen für den Begriff der Person muss dieses Wesen auch wissen, dass es im Verlauf der Zeit bzw. im Wechsel der Zustände kontinuierlich existiert. Sonst würde der Obersatz keine Erkenntnis der Persönlichkeit eines Wesens zum Ausdruck bringen. Diese Erläuterung des Obersatzes lässt sich mit Kants im Paralogismus-Kapitel zugrundliegender Idee begründen. Da diese Idee wohlbekannt ist, brauche ich sie hier nur kurz zusammenzufassen. Laut Kant handelt es sich in den Obersätzen der paralogistischen Vernunftschlüsse um die Dinge, die in der Anschauung gegeben werden können. Denn sonst dürften die Obersätze nicht als erweiternde Erkenntnisurteile angesehen werden. Diese Idee bringt Kant an verschiedenen Textstellen zum Ausdruck. Am deutlichsten zeigt sie sich in Kants Ausführungen über den ersten Paralogismus in der zweiten Auflage. Dort schreibt Kant: Im Obersatze wird von einem Wesen geredet, das überhaupt, in jeder Absicht, folglich auch so, wie es in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht werden kann. (B 411)
Diese Grundidee ist offenbar dazu geeignet, den Obersatz des dritten Paralogismus zu verdeutlichen. 463 Demnach wird ein Wesen nur dann eine Person genannt, wenn es ein Objekt der Anschauung ist. Anders gesagt: Es muss ein in Raum und Zeit wirklich existierendes Wesen sein. Denn bloß durch die begriffliche Analyse des Mittelbegriffs „was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist“ kann man noch nicht folgern, dass das Wesen, das nur durch den Mittelbegriff bestimmt wird, eine Person ist. Um festzulegen, ob ein bloß durch Begriffe dargestelltes Wesen eine Person ist, muss man über den Begriff des Wesens hinausgehen und bestätigen, ob es mindestens ein Wesen, das unter diesen Begriff fällt, in der Anschauung gibt. Und tatsächlich hat Kant selbst dies in der zweiten Auflage des dritten Paralogismus angedeutet, indem er sagt, dass „verschiedene synthetische Urteile, welche sich auf die gegebene Anschauung gründen […] erfordert werden“ (B 408 f.), 462
463
C. Thomas Powell ist der Meinung, dass Kants Text eine alternative Lesart impliziert: Beide Prämissen können als analytische Sätze verstanden werden. Dazu schreibt er: „[...] so if we read both premisses correctly (as analytic and not empirical), we validly derive an analytic and trivial conclusion about the way the soul is represented.” (Powell 1990, S. 136) In gewissem Sinne stimme ich Powells Interpretation zu. D. h. wenn man beide Prämissen und die Konklusion im dritten Paralogismus als analytische Sätze versteht, ist der Schluss völlig gültig. Aber in diesem Fall würde dieser Vernunftschluss ganz trivial und sogar sinnlos. Denn was die rationale Psychologie in Bezug auf die Persönlichkeit der Seele durchführte, würde nichts anderes als eine begriffliche Analyse sein. So wäre die Konklusion „die Seele ist eine Person“ nur eine Wiederholung des Untersatzes. Mit anderen Worten: Die Konklusion würde nur bedeuten, dass das Ich identisch ist. Somit würde die Persönlichkeit gar nicht diejenige Eigenschaft, die rationale Psychologie in Anspruch nimmt, nämlich die Seele bliebe vor der Geburt und nach dem Tod identisch. Demnach würde der dritte Paralogismus nicht der Vernunftschluss sein, durch den die rationale Psychologie die Persönlichkeit der Seele zu rechtfertigen glaubt. Und Kant wollte natürlich nicht der rationalen Psychologie einen echt trivialen Vernunftschluss zuschreiben. Also ist es für Kants Absicht gar nicht zutreffend, den Obersatz als analytischen Satz zu verstehen. Später werden wir sehen, dass nur der Untersatz ein analytischer Satz ist. Zum Problem mit der Übertragung des Modells im ersten Paralogismus auf die anderen vgl. Thöle 2010, S. 106.
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
um die Identität eines denkenden Wesens als einer Substanz bzw. die Identität der Person zu beweisen. Folglich ist es klar geworden, dass der Mittelbegriff im Obersatz in der Tat unter dem genannten Gesichtspunkt der Kantischen transzendentalen Philosophie eine Bedingung impliziert: Das Wesen, was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist, kann in der Anschauung gegeben werden. So kann man den Obersatz im Zusammenhang mit der Anschauung folgendermaßen umformulieren: 464 (P1*): Was in der Anschauung gegeben werden kann und sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist (M), ist sofern eine Person (O).
In dieser umformulierten Version des Obersatzes ist die Abkürzung des Mittelbegriffs „M“ und des Oberbegriffs „O“ unverändert, denn diese Umformulierung ist nur eine Spezifizierung dessen, was im originalen Obersatz enthalten ist. D. h. die Neuformulierung besteht nur darin, die Bedingungen dafür, dass der Obersatz im Kantischen Sinne für gültig zu halten ist, hinzuzufügen. Also ist (P1*) mit (P1) der Sache nach gleichbedeutend. (b)
Zum Mittelbegriff im Untersatz:
Der Mittelbegriff im Untersatz – „ist das, was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist“ – hat zwar mit dem im Obersatz den gleichen Sprachausdruck, aber der erstere unterscheidet sich sinngemäß vom letzteren. Das heißt, dass der Mittelbegriff des Untersatzes für Kant in einer anderen Hinsicht zu verstehen ist, wenn man ihn als eine berechtigte bzw. wahre Prämisse gelten lässt. Diese Hinsicht besteht nämlich darin, dass es sich im Untersatz um ein nicht in der sinnlichen Anschauung gegebenes Wesen handelt. Dies lässt sich auch mit Kants im Paralogismus-Kapitel zugrundliegender Idee begründen. Aus Kants Sicht handelt es sich in allen Untersätzen, an deren Subjektstellen der IchBegriff bzw. der Begriff der Seele steht, um das denkende Ich, das als „das gemeinschaftliche Subjekt“ bzw. „das beständige logische Subjekt“ (A 350) aller Gedanken fungiert. Dieses Ich dient nur zur „formale[n] Bedingung“ alles Denkens und es selbst darf nicht wiederum als ein erkennbares Objekt angesehen werden. 465 Oder besser gesagt: Bei dem Gedanken vom Ich 464 465
Das Sternchen soll hier und im Folgenden zum Ausdruck bringen, dass der mit ihm gekennzeichnete Satz aus Kants Sicht verstanden wird. Vgl. A 402, B 407, B 409, B 412. Es ist bekannt, dass die notorische Frage danach, ob Kants Ich als ein Objekt aufgefasst werden kann, in der Kant-Literatur sehr kontrovers ist (vgl. Horstmann 1993, Rosefeldt 2006). Ich möchte hier darauf hinweisen, dass es aufgrund machen Textstellen Kants nicht ausgeschlossen ist, das Ich als ein Objekt anzusehen. Diese Textstellen tauchen vor allem in der ersten Version des ParalogismusKapitels auf. Beispielsweise schreibt Kant im ersten Paralogismus: „[W]eil das Bewußtsein das einzige ist, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht, und worin mithin alle unsere Wahrnehmungen als dem transscendentalen Subjecte müssen angetroffen werden, und wir außer dieser logischen Bedeutung des Ich keine Kenntniß von dem Subjecte an sich selbst haben, was diesem so wie allen Gedanken als Substratum zum Grunde liegt.“ (A 350) In dieser Passage ist Kant der Meinung, dass das sogenannte logische Subjekt das transzendentale Subjekt oder das Subjekt an sich selbst ist, welches als ein Substratum allen Gedanken zugrunde liegt. Obwohl jeder dieser Termini erläuterungsbedürftig ist, geht es mir hier nur darum, dass das Ich bzw. das Subjekt als ein Substratum angesehen wird, das sich durch die Ich-Vorstellung, die nur logische Bedeutung hat, bezeichnen lässt. Also scheint Kant zu meinen, dass das Ich ein Objekt ist. An einer anderen Textstelle unterstreicht Kant die Identität des Ich als Substratum im Vergleich zu allem, was im inneren Sin-
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
203
oder dem Satz „Ich denke“ wird „von allem Gegenstande abstrahiert“ (A 398). Vom logischen Ich ist daher nur „im Denken überhaupt“ (B 409) bzw. „im Begriffe des Denkens“ (B 407) die Rede. Da es sich nun in der Rede davon, dass alle Vorstellungen einem gemeinschaftlichen Ich inhärieren, um Gedanken auszumachen, nicht um ein real gegebenes Ich handelt, ist das logische Ich kein Objekt der Anschauung. 466 Diese Überlegung kommt am prägnantesten in Kants Bemerkung zum Untersatz des Paralogismus der Substantialität in der zweiten Auflage zum Ausdruck, wo er schreibt: Im Untersatze aber ist nur von demselben die Rede, so fern es sich selbst als Subject nur relativ auf das Denken und die Einheit des Bewußtseins, nicht aber zugleich in Beziehung auf die Anschauung, wodurch es als Object zum Denken gegeben wird, betrachtet. (B 411)
Dieses Zitat besagt, dass es sich im Untersatz des Paralogismus der Substantialität nur um ein Wesen handelt, das sich nicht auf die ihm entsprechende Anschauung beziehen kann. D. h. das genannte Wesen betrifft nur „das Denken und die Einheit des Bewußtseins“. Diese Erläuterung gilt auch offenbar für den Untersatz des dritten Paralogismus. Infolgedessen ist es klar, dass der Mittelbegriff des Untersatzes nur auf ein nicht in der Anschauung gegebenes Objekt zutrifft. Was das Besondere am Mittelbegriff des dritten Paralogismus betrifft, ist allerdings noch wichtiger zu klären, wie sich das Ich bzw. die Seele zum Bewusstsein seiner numerischen Identität verhält. Nun ist Kant der Meinung, dass der genannte Untersatz „die Seele ist das, was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist“ ein analytischer Satz ist. 467 Darauf weist Kant in der ersten Auflage des dritten Paralogismus ausdrücklich hin, indem er sagt, dass „die Persönlichkeit der Seele nicht einmal als geschlossen, sondern als ein völlig identischer Satz des Selbstbewußtseins in der Zeit angesehen werden“ (A 362) muss. Und in der zweiten Auflage ist dies noch deutlicher, wo er schreibt: „Der Satz der Identität meiner selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein
466
467
ne wirklich stattfindet, und weist direkt, obwohl nicht ganz sicher, darauf hin, dass die Ich-Vorstellung ein einfaches Objekt bezeichnet. Es heißt: „Denn in dem, was wir Seele nennen, ist alles im continuirlichen Flusse und nichts Bleibendes außer etwa (wenn man es durchaus will) das darum so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Mannigfaltiges hat, weswegen sie auch scheint ein einfaches Object vorzustellen oder, besser gesagt, zu bezeichnen.“ (A 382 f.) Dies Objekt wird auch laut Kant „ein[en] Gegenstand, den ich denke, nämlich: Ich selbst und die unbedingte Einheit desselben“ (A 398) genannt. Diese Formulierungen sollten, scheint mir, nicht ernst aufgefasst werden. Denn das denkende Wesen bzw. die Seele ist schon lange in der traditionellen Metaphysik als ein Objekt, das uns durch den inneren Sinn zugänglich ist, betrachtet worden. Von dieser Überlegung möchte Kant sich offenbar abgrenzen. Aber solange er an der rationalen Psychologie, die das denkende Wesen zum Gegenstand hat, Kritik üben möchte, wäre er gezwungen, von dem denkenden Wesen als Objekt zu sprechen. Jedoch sollte die nicht seine eigentliche positive Absicht sein. Aus diesem Grund wird die Überlegung, das Ich als Objekt zu betrachten, von I-S. Choi als ein „rationalistischer Rest, der bei Kant selbst unbewußt geblieben ist“ (Horstmann 1993, S. 419) bezeichnet. Vgl. Kants Formulierungen: „Die Seele ist keine Erscheinung. denn die Seele enthält wirklich die Bedingung aller moglichen Erscheinungen in sich, und in ihr könnten alle, wenn nur zu anfangs die data gegeben wären, a priori bestimmt werden.“ (R 5109, AA XVIII 90 f.) „Das logische Ich ist für ihm selbst kein Object der Erkentnis aber wohl das physische selbst und zwar durch die categorien als Arten der Zusammensetzung des Manigfaltigen der inneren (empirischen) Anschauung so fern sie (die Zusammensetzung) a priori möglich ist.“ (Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik, AA XX 338) Bekanntlich geht Kant davon aus, dass alle Untersätze in vier rationalpsychologischen Paralogismen analytische Sätze sind. Diese Überlegung wird in den kurzen Darstellungen der vier Paralogismen der zweiten Auflage der Kritik explizit zum Ausdruck gebracht (vgl. B 407-409).
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eben so wohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz […].“ (B 408) Aus technischem Grund kann man diesen Ausdruck sinngemäß als folgende These umformulieren: Ich bin mir der numerischen Identität meiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst.
Sofern diese Äquivalenz des Untersatzes als ein analytischer Satz angesehen wird, ist es naheliegend, dass die begrifflichen Inhalte des Prädikats schon auf analytische Weise im Subjektbegriff enthalten sind. Damit möchte ich im Folgenden erklären, inwiefern das Verhältnis vom Ich zum Bewusstsein der Identität des Ich zu verstehen ist. Zuerst einmal ist es nötig, an Kants Grundgedanken über die Identität des Ich in der transzendentalen Deduktion kurz zu erinnern (siehe 3.2). Ich bin mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in verschiedenen gegebenen Vorstellungen deshalb bewusst, weil ich sie mir selbst zuschreibe und dadurch als meine Vorstellungen bezeichne. Dies ist wiederum nur dann möglich, wenn ich die gegebenen Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein synthetisiere. Diese Synthesis kann nicht anders vorgenommen werden, als dass ich die Kategorien gebrauche. Also setzt das Bewusstseins der Identität des Ich das Bewusstsein der kategorialen Synthesis der gegebenen Vorstellungen voraus, wie Kant sich am prägnantesten in § 16 ausdrückt, dass „die analytische Einheit der Apperzeption […] nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich“ (B 133) ist. Mit anderen Worten: In allen meinen bewussten Vorstellungen fungiert das Ich als ein gemeinschaftliches Subjekt, dem sie zugeschrieben werden. Und von jeder meiner Vorstellung weiß ich, dass sie meine ist. Somit ist das Bewusstsein der Identität des Ich in den von mir synthetisierten Vorstellungen auf analytische Weise enthalten. Kants Gedankengang in der transzendentalen Deduktion ist bekanntlich komplexer, aber für meine Zwecke mag diese kurze Zusammenfassung genügen. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die obige These, die man nach Kant zum Verständnis des Mittelbegriffs des Untersatzes aufstellen kann, dadurch auslegen, dass ich eine Schlüsselpassage aus dem Text des dritten Paralogismus der A-Auflage Satz für Satz kommentiere. Denn in dieser Passage wiederholt Kant der Sache nach in einer anderen Sprechweise den oben skizzierten Gedanken. Diese genannte Passage möchte ich durchnummerieren und ausführlich folgendermaßen zitieren: [1] Nun aber bin ich ein Gegenstand des innern Sinnes, und alle Zeit ist blos die Form des innern Sinnes. [2] Folglich beziehe ich alle und jede meiner successiven Bestimmungen auf das numerisch identische Selbst in aller Zeit, d.i. in der Form der inneren Anschauung meiner selbst. [3] Auf diesen Fuß müßte die Persönlichkeit der Seele nicht einmal als geschlossen, sondern als ein völlig identischer Satz des Selbstbewußtseins in der Zeit angesehen werden, und das ist auch die Ursache, weswegen er a priori gilt. [4] Denn er sagt wirklich nichts mehr als: in der ganzen Zeit, darin ich mir meiner bewußt bin, bin ich mir dieser Zeit als zur Einheit meines Selbst gehörig bewußt; [5] und es ist einerlei, ob ich sage: diese ganze Zeit ist in mir als individueller Einheit, oder: ich bin mit numerischer Identität in aller dieser Zeit befindlich. (A 362)
Zu [1]: Hier erinnert Kant an seine bereits in der transzendentalen Ästhetik entwickelte Theorie über die Zeit und den inneren Sinn. Dort ist er der Meinung, dass die Zeit die Form des inneren Sinnes ist. Demnach müssen alle gegebenen Vorstellungen, die als „Bestimmungen des Gemüts“ (A 34/ B 50) zum inneren Sinn gehören, die formale Bedingung der inneren Anschauung, nämlich die Zeit erfüllen. D. h. sie müssen gemäß den Zeitverhältnissen geordnet werden (vgl. B 67). Den Wechsel der gegebenen Vorstellungen als nacheinander vorzu-
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
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stellen, ist nur durch eine einzige Zeit möglich. Da alle Zeiten laut Kant nur Teile einer einzigen Zeit sind (A 32/ B 48), machen alle möglichen gegebenen Vorstellungen, die die Teile der Zeit einnehmen, die ganze Zeit aus. Mit anderen Worten: Statt direkt von der Zeit zu sprechen, kann man sich die Zeit dadurch vorstellen, dass man von den zeitlich geordneten Vorstellungen spricht. Diese Überlegung läuft darauf hinaus, dass wir die Rede von der Zeit in die Rede von verschiedenen zeitlich gegebenen Vorstellungen exegetischerweise umwandeln können. Folglich lässt sich das Verhältnis des Ich zu der Zeit auf das Verhältnis des Ich zu seinen zeitlich gegebenen Vorstellungen zurückführen. Zu [2]: Zunächst ist zu bemerken, dass Kant mit dem Ausdruck „alle und jede meiner successiven Bestimmungen“ nichts anderes als die sinnlich gegebenen, zeitlich geordneten Vorstellungen meint. Diese Vorstellungen gehören einerseits zu einem gemeinschaftlichen Subjekt, sonst könnten sie nicht verbunden werden und mithin keinen Gedanken ausmachen. Andererseits kann ich mir diese Vorstellungen zuschreiben und weiß, dass sie meine Vorstellungen sind, weil ich sie alle in einem Selbstbewusstsein synthetisiere. Also ist es klar, dass sich die gegebenen Vorstellungen auf das numerisch identische Ich als ihr logisches Subjekt beziehen müssen. Zu [3]: Geht man von dem in [2] angegebenen Verhältnis zwischen dem identischen Ich und den gegebenen Vorstellungen aus, so liegt es nahe, dass „die Persönlichkeit der Seele“ behauptet werden kann. Aber mit dem Ausdruck „Persönlichkeit der Seele“ ist hier in Kants Augen nicht mehr die Persönlichkeit der Seele gemeint, die aufgrund der Anschauung eines Wesen im Obersatz dargestellt worden ist, sondern nur die folgende Tatsache, dass ich mir meines identischen Selbst als eines logischen Subjekts in allen gegebenen Vorstellungen bewusst bin, wobei das Ich hier nur als ein gemeinschaftliches Subjekt, nicht aber als ein erkennbares Objekt fungiert. Infolgedessen ist das Bewusstsein der Identität des Ich im Verhältnis zwischen dem Ich und den Vorstellungen analytischerweise enthalten. Aus diesem Grund ist es verständlich, dass „die Persönlichkeit der Seele“ nicht als geschlossen angesehen werden darf. Und sie ist nicht mehr die Persönlichkeit, die die rationale Psychologie im Sinn hat. 468 Zu [4]: Nun versucht Kant selbst zu erklären, warum das Bewusstsein der Identität des Ich so naheliegend ist. Seine Ausführungen enthalten zwei Punkte. Erstens: Dass ich mir meiner selbst in der Zeit bewusst bin, heißt nichts anderes, als dass ich mir meiner selbst in den zeitlich geordneten Vorstellungen bewusst bin. Zweitens: Die Kantische Aussage, dass ich mir der Zeit „als zur Einheit meines Selbst gehörig“ bewusst bin, kann man dahingehend verstehen, dass ich mir der zeitlich geordneten Vorstellungen derart bewusst bin, dass sie von mir verbunden werden und mithin zu mir als einem gemeinschaftlichen Subjekt gehören. Daraus geht hervor, dass zwischen dem Ich und den gegebenen Vorstellungen ein wechselseitiges Verhältnis besteht: Ich bin mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in den gegebenen Vorstellungen deshalb bewusst, da ich sie in einem Selbstbewusstsein synthetisiere. Umge-
468
In der jüngsten Literatur vertritt Corey W. Dyck auch diese Meinung. Ihm zufolge ist die Persönlichkeit der Seele, von der an der genannten Stelle die Rede ist, nicht die rationalpsychologische, sondern dabei geht es eigentlich um die Identität des logischen Ich. Vgl. Dyck 2014, S. 167.
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kehrt: Die Synthesis der Vorstellungen, die einen Gedanken ausmachen kann, ist auch nur durch ein gemeinschaftliches Subjekt möglich. Zu [5]: Das wechselseitige Verhältnis zwischen der Identität des Ich und der Mannigfaltigkeit der gegebenen Vorstellungen will Kant durch zwei gleichbedeutende Aussagen näher deutlich machen. Zum einen sind die zeitlich geordneten Vorstellungen als in mir synthetisch verbunden anzusehen, wobei ich als ein gemeinschaftliches Subjekt bzw. „individuelle Einheit“ fungiert. Somit handelt es sich dabei – wenn man Kants Sprechweise in der transzendentalen Deduktion der Kategorien benutzen will – um die sogenannte synthetische Einheit der Apperzeption. Zum anderen bin ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in den gemäß der Zeitordnung verbundenen Vorstellungen bewusst, indem ich diese Vorstellungen als meine bezeichnen kann. Dabei handelt es sich um die analytische Einheit der Apperzeption bzw. das Bewusstsein der Identität des Ich. Wie wir schon erläutert haben, sind diese zwei Hinsichten nur zwei Seiten derselben Medaille. Es ist daher leicht zu sehen, dass Kant in der Tat in der oben zitierten Passage nur seinen Grundgedanken in der transzendentalen Deduktion rekapituliert. 469 Aus dem obigen Kommentar geht hervor, dass die Behauptung des Untersatzes „ich bin mir der numerischen Identität meiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst“ ein analytischer Satz ist. Denn es ist begrifflich wahr, dass ich mir meiner selbst als eines identischen Subjekts in den gegebenen Vorstellungen bewusst bin, weil sie von mir synthetisiert werden und mithin einen Gedanken ausmachen können. Dabei ist das identische Ich nur eine logische Bedingung der Möglichkeit aller Gedanken. Insofern sind wir nicht dazu berechtigt, dieses Ich als ein Objekt der Anschauung anzusehen. Aus diesem Grund ist der Mittelbegriff im Untersatz von dem im Obersatz insofern unterschieden, als er aus Kants Sicht eine wahre Prämisse eines Vernunftschlusses ist. Und der Untersatz ist schließlich laut Kant zu verstehen als „bloße[] Analysis des Satzes, ich denke“ (B 408), „die Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt“ ober „[d]ie logische Erörterung des Denkens überhaupt“ (B 409). Also kann man den Untersatz des dritten Paralogismus im Kantischen Sinne folgendermaßen umformulieren: (P2*): Die Seele (U) ist das, was nicht in der Anschauung gegeben werden kann und sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist (M*). 469
Meine Interpretation zur oben zitierten Passage ist ganz anders als Ameriks. Ihm zufolge ist Kants Überlegung zum Verhältnis von dem Ich und der Zeit eine besondere Idee („quite odd idea“), die Kant den rationalen Psychologen zuschreibt. Ameriks schreibt: “What makes the idea so odd, after all, is simply that it so blatantly involves the basic non-Kantian mistake of confusing the empirical and transcendental levels […]. That is, it mistakes the genuine transcendental claim that time is a mere form for us […] with the quite different and incorrect empirical claim that it is but a form of the individual. If time were such an individual form, it would follow that the self is continuous and a person in it.” (Ameriks 2000, S. 132 f.) Anders als Ameriks bin ich der Meinung, dass Kant an der Stelle seine eigene positive Ansicht zum Ausdruck bringt. Ameriks verweist auf Kants Grundidee, dass die Zeit eine bloße Form für uns ist. D. h. was die Zeit als Form des inneren Sinnes betrifft, kann man sagen, dass die Zeit in Mir als empirischem Subjekt ist, das über das Vermögen der Sinnlichkeit verfügt. Denn das heißt nichts anderes, als dass der innere Sinn in Mir ist. Aber das scheint mir eine triviale Lesart zu sein. (Vgl. Klemme 1995, S. 333) Wie ich oben erklärt habe, werden Kants Ausführungen sehr verständlich, wenn man sich an Kants Gedanken in der transzendentalen Deduktion der Kategorien erinnert und die Rede von den zeitlich geordneten Vorstellungen heranzieht. Also ist die Rede davon, dass die Zeit in Mir ist, gar nicht eine Verwirrung zwischen transzendentaler und empirischer Ebene. Wenn man dies übersieht, wäre die Überlegung, wie Ameriks sagt, keine Kantische.
5.2 Kants Diagnose des Fehlschlusses der Personalität
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In dieser Neuformulierung des Untersatzes wird der Mittelbegriff durch „M*“ gekennzeichnet. Denn er unterscheidet sich von dem im Obersatz des dritten Paralogismus aufgetauchten Mittelbegriff, den ich oben als „M“ gezeigt habe. Der Unterschied besteht darin, dass es sich bei M um die Anschauung eines Wesens, aber bei M* nur um das Denken überhaupt handelt. Da Unterbegriff (U) und Oberbegriff (O), die jeweils im Untersatz und im Obersatz auftauchen, in der Konklusion unverändert bleiben, lautet die Form des Vernunftschlusses der Personalität folgendermaßen: (P1*): M ist O. (P2*): U ist M*. (K*): U ist O.
Aus dieser abgekürzten Struktur des Vernunftschlusses kann man deutlich sehen, dass der rationalpsychologische Vernunftschluss der Personalität der Form nach tatsächlich ungültig ist, also wie gesagt, ein Paralogismus. Das liegt daran, dass der Mittelbegriff im Obersatz und im Untersatz jeweils verschiedene Bedeutung hat. D. h. solange man den Obersatz und den Untersatz als zwei Prämissen eines Vernunftschlusses ansieht, müssen sie zugleich als jeweils gerechtfertigt betrachtet werden. Denn um die Prämissen per se als wahr gelten zu lassen, muss der Mittelbegriff im verschiedenen Sinn verstanden werden. Dieses macht Kant sehr deutlich in einer Reflexion, wo er schreibt: Paralogism ist ein Vernunftschlus, der der Form nach falsch ist, ob er gleich der Materie (den Vordersätzen) nach richtig ist. - Er entspringt, wenn [ein Be] der Mittelbegriff in beyden Prämissen in verschiedener Bedeutung genommen wird - wenn namlich das logische Verhältnis (g im Denken) in einem der Vordersatze in dem Anderen für ein reales (der Objecte der Anschauung) genommen wird. (R 5552, AA XVIII 218)
Daraus ergibt sich, dass in der Tat in dem dritten Paralogismus vier unterschiedliche Begriffe enthalten sind. Demnach basiert der Paralogismus der Sache nach auf den sogenannten „quaternio terminorum“. 470 Kant bezeichnet diesen Fehlschluss als „Sophisma figurae dictionis“ (B 411). Wie schon einmal erwähnt, hat der Vernunftschluss der Personalität deswegen scheinbare Gültigkeit, weil die Ambiguität des Mittelbegriffs in beiden Prämissen ohne den Gesichtspunkt der transzendentalen Philosophie nicht gefunden worden wäre. Das ist auch der Grund, weswegen die rationale Psychologie den formalen Fehler begangen hat. Der genannte Gesichtspunkt der transzendentalen Philosophie besteht nämlich darin, bei der Rede von einem Ding zwischen „in der Anschauung“ und „im Denken überhaupt“ zu unterscheiden. Aufgrund dieser Unterscheidung ist es leicht zu sehen, dass der Mittelbegriff trotz der Gleichheit des sprachlichen Ausdrucks in beiden Prämissen auf verschiedene Weisen ein und dasselbe Wesen betrifft. Genauer gesagt, im Obersatz handelt es sich so um das Wesen, wie es in der Anschauung gegeben werden kann. Im Untersatz hingegen ist vom Wesen so die Rede, wie es nur auf das Denken überhaupt zutrifft und kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist. Daraus ergibt sich, dass die Schlussfolgerung aus den beiden Prämissen auf die Konklusion „die Seele ist eine Person“ falsch ist. 470
Vgl. Wolff 2006, S. 271. Nach Carls Untersuchung hat Kant erst etwa zwei Jahre vor Erscheinen der ersten Auflage der Kritik die Ambiguität des Mittelbegriffs entdeckt. Vgl. Carl 1989, S. 173 f.
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
5.2.3 Gedankenexperiment: äußerer Beobachter Der Fehlschluss der Personalität lässt sich zwar durch die Aufdeckung der Zweideutigkeit des Mittelbegriffs diagnostizieren. Aber Kant scheint in der ersten Auflage des dritten Paralogismus diese grundlegende Strategie nicht mehr herauszustellen. Denn die Tatsache, dass der Obersatz sich von dem Untersatz des Vernunftschlusses im Hinblick auf Anschauungen unterscheidet, ist bereits im ersten Paralogismus naheliegend. 471 Vielmehr favorisiert Kant nun eine andere Verfahrensweise. Nachdem er im ersten Absatz des Textes des dritten Paralogismus das Verhältnis zwischen dem identischen Ich und den verschiedenen Vorstellungen in der Zeit dargestellt hat, führt Kant ein Beispiel ein, nämlich das berühmte Gedankenexperiment eines äußeren Beobachters. Dieses Beispiel dient meiner Ansicht nach dazu, gegen die rationalpsychologische Behauptung über die Personalität der Seele zu argumentieren. Ich möchte im Folgenden auf Kants Argument ausführlich eingehen. Der vollständige Text, der dieses Beispiel schildert, lautet folgendermaßen: Die Identität der Person ist also in meinem eigenen Bewußtsein unausbleiblich anzutreffen. Wenn ich mich aber aus dem Gesichtspunkte eines andern (als Gegenstand seiner äußeren Anschauung) betrachte, so erwägt dieser äußere Beobachter mich allererst in der Zeit, denn in der Apperception ist die Zeit eigentlich nur in mir vorgestellt. Er wird also aus dem Ich, welches alle Vorstellungen zu aller Zeit in meinem Bewußtsein und zwar | mit völliger Identität begleitet, ob er es gleich einräumt, doch noch nicht auf die objective Beharrlichkeit meiner selbst schließen. Denn da alsdann die Zeit, in welche der Beobachter mich setzt, nicht diejenige ist, die in meiner eigenen, sondern die in seiner Sinnlichkeit angetroffen wird, so ist die Identität, die mit meinem Bewußtsein nothwendig verbunden ist, nicht darum mit dem seinigen, d.i. mit der äußeren Anschauung meines Subjects, verbunden. (A 362 f.)
Der erste Satz der oben zitieren Passage klingt zunächst so, als ob Kant hier wirklich die personale Identität behaupten würde. Das ist aber gerade nicht der Fall. Denn Kants Grundposition des dritten Paralogismus ist es, die Behauptung der Persönlichkeit der Seele zurückzuweisen. Zweitens ist es nach dem Wortlaut nicht ausgeschlossen, dass Kant hier die Behauptung der rationalen Psychologie wiederholt. Aber er will sogleich diese Behauptung durch das Gedankenexperiment widerlegen. 472 Eine dritte Lesart scheint mir allerdings adäquater zu sein: 473 Der Ausdruck „die Identität der Person“ in dem genannten Satzes sollte man nicht wörtlich verstehen, sondern er sagt nichts anderes als das Bewusstsein der Identität des Ich aus. 474 Das heißt, Kant rekapituliert das Ergebnis des vorangehenden Absatzes (siehe 5.2.2). Denn das Adverb „also“ deutet an, dass Kant mit diesem Satz der Sache nach an den vorher angegebenen Gedankengang anknüpfen will. Ich möchte im Folgenden diese Lesart etwas genauer erläutern.
471 472 473 474
Vgl. Klemme 1996, S. 336. Longuenesse ist der Meinung, dass diese Lesart nicht plausibel ist. vgl. Longuenesse 2007, S. 154. Dyck vertritt diese Lesart. Vgl. Dyck 2014, S. 167. Wie Ameriks schon gezeigt hat, sollte man den Ausdruck „[d]ie Identität der Person“ in dem genannten Satz nicht wörtlich verstehen. Er schreibt „Once again, he cannot be taking ‚person‘ literally, and what he must mean is rather that when one reflects on experiences at various times it always seems that the being who had those (now inwardly recollected) experiences is (numerically) the same as the present being.“ (Ameriks 2000, S. 134) Allerdings hat Ameriks nicht darauf hingewiesen, dass die „Person“ als das Ich im Kantischen Sinne verstanden werden sollte. Was Kant mit „Person“ an dieser Stelle meint, ist meines Erachtens das gemeinschaftliche Subjekt aller Gedanken bzw. das logische Ich.
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Zunächst rufen wir uns die von Kant in dem vorangehenden Satz angesprochene Überlegung in Erinnerung. Die gegebenen Vorstellungen können nur dann einen Gedanken ausmachen, wenn sie alle zu einem gemeinschaftlichen Subjekt gehören. Und da ich die gegebenen Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein miteinander verbinde, bin ich in der Lage, mir selbst die verbundenen Vorstellungen zuzuschreiben. Insofern ich jede Vorstellung als meine bezeichnet, bin ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in verschiedenen Vorstellungen bewusst. Infolgedessen ist die Identität des Ich als eines logischen Subjekts analytischerweise in allen meinen Vorstellungen enthalten. Aus diesem Grund kann man sagen, dass „die Identität der Person“, sofern damit nichts anderes als die Identität des logischen Subjekts in den zugeschriebenen Vorstellungen gemeint ist, in „meinem eigenen Bewusstsein“ notwendigerweise impliziert ist. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein meiner selbst impliziert schon das Bewusstsein der Identität des Ich in den bewussten Vorstellungen. Also ist der erste Satz der oben zitierten Passage nichts anderes als eine Wiederholung der vorhergegangenen Überlegung, dass die Persönlichkeit der Seele nur „ein völlig identischer Satz des Selbstbewußtseins in der Zeit“ (A 362) ist. In beiden Kontexten bedeuten daher die zwei Termini „Persönlichkeit“ und „Person“ nicht mehr das, was die rationale Psychologie in der Tat behaupten wollte. Im Anschluss an die Rekapitulation im ersten Satz fängt Kant umgehend sein Gedankenexperiment an. Schon das Adverb „aber“, das eine Wende der Formulierung ausdrückt, deutet darauf hin, dass Kant durch dieses Beispiel dafür argumentieren will, dass wir nicht dazu berechtigt sind, von der Identität des logischen Ich auf die sogenannte personale Identität der Seele zu schließen. Statt Kants Äußerungen zu erklären, möchte ich zuerst im Folgenden das Beispiel mit meinen eigenen Worten ausführlich darstellen. Wenn ich mich aus der Perspektive eines anderen Menschen betrachte, fungiere ich zugleich als ein äußerer Beobachter und als das Objekt seiner Beobachtung. Anders als der Umstand, dass ein anderer Mensch meinen Körper nur als einen Gegenstand seines äußeren Sinnes beobachten kann, ist hier der Beobachter in der Lage, durch den inneren Sinn seine Vorstellungen zu beobachten. Das heißt, der Beobachter kann in seiner Sinnlichkeit und gemäß der Zeit die Vorstellungen ordnen oder sich setzen. Ebenso kann ich in meiner Sinnlichkeit gemäß der Zeit meine Vorstellungen ordnen. Wenn der Beobachter, weil er die Tatsache zur Kenntnis nimmt, dass alle Vorstellungen dem logischen Ich als einem gemeinschaftlichen Subjekt inhärieren, behauptet, dass er mich als ein objektives identisches Wesen beobachtet, dann kann ich auch wegen derselben Tatsache auf gleiche Weise sagen, dass ich ein objektives identisches Wesen bin, dem meine Vorstellungen zukommen. Demnach unterscheiden sich die Sinnlichkeit und die Zeit des Beobachters von meiner Sinnlichkeit und meiner Zeit. Und das identische Wesen, das der Beobachter behaupten würde, ist gar nicht das identische Wesen, dem ich in meinem inneren Sinn meine Vorstellungen zuschreibe. Das ist aber absurd. Denn das Ich als ein denkendes Subjekt und als ein Objekt des inneren Sinnes muss ein und dasselbe Ich sein. Aus der obigen Analyse des Kantischen Gedankenexperiments ist leicht zu sehen: Wenn ich (als ein empirisches Subjekt bzw. ein Mensch) mich aus der Perspektive eines äußeren Beobachters betrachte, verwandle ich mich in zwei empirische Subjekte (Beobachter und ich als Objekt seiner Beobachtung), die jeweils Sinnlichkeit, inneren Sinn und Zeit haben. Und
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
Aufgrund des identischen Ich, das als ein gemeinschaftliches Subjekt aller Gedanken fungiert, bekommen die zwei empirischen Subjekte die Identität, die nur in ihrem eigenen Bewusstsein anzutreffen ist. Also kann man sagen, dass, wenn man sich nur auf das logische Ich beruft, ein empirisches Subjekt zu zwei empirischen Subjekten wird. 475 Aus diesem Grund ist es laut Kant unzulässig, von der Identität des logischen Ich auf die Identität eines realen Subjekts zu schließen. 476 Das kommt explizit im zentralen Satz der oben zitierten Passage zum Ausdruck: „Er wird also aus dem Ich, welches alle Vorstellungen zu aller Zeit in meinem Bewußtsein und zwar mit völliger Identität begleitet, ob er es gleich einräumt, doch noch nicht auf die objective Beharrlichkeit meiner selbst schließen.“ (A 362) Ich möchte zum Abschluss noch darauf hinweisen, dass die Überlegung, das Gedankenexperiment eines äußeren Beobachters werde als ein Argument gegen den rationalpsychologischen Schluss gebraucht, naheliegende Gründe hat. Zunächst ist bemerkenswert, dass Kant nicht einen anderen Menschen als äußeren Beobachter annimmt, sondern ich zugleich als ein Beobachter und ein beobachtetes Wesen angesehen werde. Denn der erste Fall trifft nicht auf die personale Identität zu. Für irgendeinen anderen Menschen bin ich jedenfalls nur ein äußerer Gegenstand seines äußeren Sinnes. Ihm sind meine mentalen Zustände keineswegs zugänglich. Hinsichtlich des Körpers ist schon klar genug, dass ich mich von einem anderen Menschen unterscheide, wobei also die Frage nach der personalen Identität nicht betroffen ist. Geht man aber von einem numerisch identischen Menschen unter dem Gesichtspunkt eines äußeren Beobachters aus, so kann man, wenn man nur von dem logischen Subjekt ausgeht, dem alle Gedanken zukommen, auf zwei numerisch verschiedene Subjekte schließen. D. h. das logische Subjekt aller Gedanken kann allein noch nicht ein reales Subjekt garantieren. Also ist der Schluss der Personalität in der rationalen Psychologie falsch.
475 476
Vgl. R 4933, AA XVIII 32. Béatrice Longuenesse bezeichnet hier das logische Ich als Zement der Gedanken. Das ist m. E. eine zutreffende Metapher. Sie verweist auf den illegitimen Schluss der Identität. Dazu schreibt sie: “But the thought ‘I’, here, serves as the cement of the chain of thoughts and experiences in which past, present and future are connected, by referring them to the current thinker, myself. Such self-reference is a necessary condition for any thought at all, but in no way guarantees the actual identity through time of the entity I reminisce having been in the past or anticipate being in the future.” (Longuenesse 2007, S. 157)
5.3 Konzeptionen der personalen Identität 5.3
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Konzeptionen der personalen Identität
Im letzten Abschnitt hatten wir gesehen, dass der Grundfehler des dritten Paralogismus darin besteht, dass die rationale Psychologie die Seele, die nur als eine Bedingung des Denkens überhaupt fungiert, als ein Objekt unserer Erkenntnis missversteht. Und das Bewusstsein der Identität des logischen Subjekts aller Gedanken wird fälschlicherweise als das Bewusstsein der Identität eines wirklich existierenden Subjekts bzw. eines realen Subjekts angesehen. So ist die rationalpsychologische Behauptung „die Seele ist eine Person“ in der Tat eine Illusion. Sie verspricht uns nämlich überhaupt keine Erkenntnis der Natur der Seele. Nachdem Kant diese Behauptung der traditionellen Metaphysik destruiert hat, stellt sich nun die Frage: Was ist denn aus Kants Sicht eine Person? Oder anders formuliert: Inwiefern kann man von der personalen Identität sprechen? Diese Frage möchte ich im vorliegenden Abschnitt beantworten. Ich werde zunächst die drei Arten der Identität, von denen Kant im Kontext des dritten Paralogismus spricht, darstellen (5.3.1). Dann werde ich anhand Kants Beispiel erläutern, warum in seinen Augen die Konzeptionen der personalen Identität von Locke und Leibniz nicht überzeugend sind (5.3.2). Schließlich werde ich dafür argumentieren, dass wir nach Kant nur einen Menschen als Person bezeichnen können und nur ein Mensch über personale Identität verfügt (5.3.3). 5.3.1 Drei Arten der Identität im dritten Paralogismus In Kants Kritik des dritten Paralogismus spricht er von drei Arten der Identität: die Identität eines äußeren Gegenstandes, die Identität des logischen Ich und die Identität der Person. Die relevanten Textstellen in beiden Auflagen des Paralogismus-Kapitels lauten folgendermaßen: Wenn ich die numerische Identität eines äußeren Gegenstandes durch Erfahrung erkennen will, so werde ich auf das Beharrliche derjenigen Erscheinung, worauf als Subject sich alles Übrige als Bestimmung bezieht, Acht haben und die Identität von jenem in der Zeit, da dieses wechselt, bemerken. (A 361 f.) Da nun diese Identität der Person aus der Identität des Ich in dem Bewußtsein aller Zeit, darin ich mich erkenne, keinesweges folgt […]. (A 365) [A]ber diese Identität des Subjects, deren ich mir in allen seinen Vorstellungen bewußt werden kann, betrifft nicht die Anschauung desselben, dadurch es als Object gegeben ist, kann also auch nicht die Identität der Person bedeuten […]. (B 408)
Im obigen ersten Zitat handelt es sich um die numerische Identität eines äußeren Gegenstandes. Mit dem äußeren Gegenstand meint Kant hier einen solchen Gegenstand, der sich im Raum befindet und der durch den äußeren Sinn angeschaut werden kann. Dazu gehört offenbar auch der menschlichen Körper. Laut Kant kann man die Identität eines äußeren Gegenstandes in der Erfahrung erkennen, insofern er als Erscheinung betrachtet wird. Dieser Gegenstand als Ding an sich ist auf keine Weise erkennbar, so ist die Rede von seiner Identität sinnlos. An einem äußeren Gegenstand als Erscheinung lässt sich eine Unterscheidung zwischen dem Beharrlichen und dem Wandelbaren machen, nämlich die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz bzw. zwischen dem „Substratum“ und „den wandelbaren Bestimmungen“ (A 381). Beharrlich in der Zeit ist Kant zufolge die Substanz, der alle Eigenschaften des
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Gegenstandes zukommen. Auf dieser Beharrlichkeit beruht die numerische Identität eines äußeren Gegenstandes. Also besteht die numerische Identität eines äußeren Gegenstandes nicht darin, dass einige oder alle Eigenschaften dieses Gegenstandes in verschiedenen Zeiten unverändert bleiben, sondern darin, dass seine Substanz trotz alles möglichen Wechsels der Eigenschaften identisch ist. Aus diesem Grund ist es wichtig zu beachten, dass die Begründung der numerischen Identität eines äußeren Gegenstandes im Wesentlichen auf der Beharrlichkeit der Substanz beruht. Diese Art der Identität wird im Folgenden nicht weiter in Betracht kommen. In den oben zitierten zweiten und dritten Passagen, die jeweils aus der A- und B-Auflage des Paralogismus-Kapitels stammen, handelt es sich um die Identität des logischen Ich und die Identität der Person. 477 Kants Grundidee ist, dass allein aus der Identität des logischen Ich noch nicht die Identität der Person folgt. Das ist eine zentrale These, durch die Kant den Erkenntnisanspruch der rationalen Psychologie auf die Personalität der Seele abweist. Neben den genannten zwei Stellen wird diese Überlegung von Kant im dritten Paralogismus mehrmals herausgestellt: „aus dem Ich, welches alle Vorstellungen zu aller Zeit in meinem Bewußtsein und zwar mit völliger Identität begleitet […], doch noch nicht auf die objective Beharrlichkeit meiner selbst [zu] schließen“ (A 362 f.); „[die] reine Vernunft [hat] uns eine ununterbrochene Fortdauer des Subjects aus dem bloßen Begriffe des identischen Selbst vor[ge]spiegelt“ (A 366). Dieser Äußerungen zufolge ist Kant der Meinung, dass die rationalen Psychologen die Identität des Ich mit der Identität der Person verwechselt haben. Genauer gesagt: Sie schließen von der Identität des Ich auf die Identität der Person. Also spielt die Aufdeckung dieser Verwechselung in Kants Kritik des dritten Paralogismus eine wichtige Rolle. Nun möchte ich versuchen, Kants Unterscheidung von diesen zwei Arten der Identität deutlich zu machen. In Kants Text des dritten Paralogismus findet sich eine Textpassage, in der er vom Vergleich dieser zwei Arten der Identität ausdrücklich spricht. Dort schreibt Kant: Es ist also die Identität des Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten nur eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges, beweiset aber gar nicht die numerische Identität meines Subjects, in welchem unerachtet der logischen Identität des Ich doch ein solcher Wechsel vorgegangen sein kann, der es nicht erlaubt, die Identität desselben beizubehalten, obzwar ihm immer noch das gleichlautende Ich zuzutheilen, welches in jedem andern Zustande, selbst der Umwandelung des Subjects, doch immer den Gedanken des vorhergehenden Subjects aufbehalten und so auch dem folgenden überliefern könnte. (A 363)
In diesem Zitat weist Kant auf die oben angesprochene Verwechslung der rationalen Psychologie ausdrücklich hin: Die logische Identität des Ich beweist gar nicht die numerische Identität des Subjekts. Denn wir sind laut Kant nicht dazu berechtigt, ein gemeinschaftliches Subjekt aller Gedanken bzw. das logische Ich für ein wirklich existierendes Subjekt bzw. ein rea-
477
Vgl. auch folgende Formulierungen: „Folglich beziehe ich alle und jede meiner successiven Bestimmungen auf das numerisch identische Selbst in aller Zeit […].“ (A 362) „[I]ch bin mit numerischer Identität in aller dieser Zeit befindlich.“ (A 362) „[Das Ich], welches alle Vorstellungen zu aller Zeit in meinem Bewußtsein und zwar mit völliger Identität begleitet“ (A 362 f.). „[W]eil wir zu unserem identischen Selbst nur dasjenige zählen, dessen wir uns bewußt sind, und so allerdings nothwendig urtheilen müssen, daß wir in der ganzen Zeit, deren wir uns bewußt sind, eben dieselbe sind.“ (A 364) „[Die] numerische[ ] Identität unserer selbst, die wir aus der identischen Apperception folgeren“ (A 365).
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
213
les Ich zu halten. 478 Diese Überlegung kommt in Kants Ausführungen des ersten Paralogismus der A-Auflage explizit zum Ausdruck, wo es heißt: Hieraus folgt: daß der erste Vernunftschluß der transscendentalen Psychologie uns nur eine vermeintliche neue Einsicht aufhefte, indem er das beständige logische Subject des Denkens für die Erkenntniß des realen Subjects der Inhärenz ausgiebt, von welchem wir nicht die mindeste Kenntniß haben, noch haben können weil das Bewußtsein das einzige ist, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht, und worin mithin alle unsere Wahrnehmungen als dem transscendentalen Subjecte müssen angetroffen werden, und wir außer dieser logischen Bedeutung des Ich keine Kenntniß von dem Subjecte an sich selbst haben, was diesem so wie allen Gedanken als Substratum zum Grunde liegt. (A 350)
In dieser Passage ist es sehr leicht zu sehen, dass Kants Diagnose des dialektischen Vernunftschlusses der Substantialität darin besteht, die Verwechslung des „beständige[n] logische[n] Subject[s] des Denkens“ mit der „Erkenntniß des realen Subjects der Inhärenz“ aufzudecken. Er geht nämlich davon aus, dass das Subjekt, um das es an der ersteren Stelle geht, als ein transzendentales Subjekt bezeichnet werden kann und nur über die logische Bedeutung verfügt. Dieses Subjekt lässt sich nicht zum Objekt der Erkenntnis machen, denn man abstrahiert von allen seinen Eigenschaften. Kant spricht von diesem Subjekt im Sinne von „bloß logisch genommen“ (B 419), somit ist es nur ein „logisch einfaches Subjekt“ (B 407). Dieses Subjekt kann nicht wirklich existieren, sondern es ist nur eine logische Voraussetzung dafür, dass jeder Gedanke von einem Subjekt abhängt. D. h. alles Denken bezieht sich auf das Ich als „das gemeinschaftliche Subjekt“ (A 350), „das Ich ist […] in allen Gedanken“ (A 350), und das Ich kommt „bei allem Denken immer wiederum“ (A 350) vor. Kurz gesagt: Die wesentliche Beziehung von dem Ich und allen Gedanken besteht darin, dass alle Vorstellungen einem logischen Subjekt inhärieren, um einen Gedanken ausmachen zu können, so dass man dieses Subjekt als einen Träger aller Gedanken beschreiben kann. Mit anderen Worten, alle Gedanken setzen ein logisches Subjekt voraus, dem sie sich zusprechen lassen. Ein reales Subjekt hingegen ist entweder ein transzendental reales Subjekt oder ein empirisch reales Subjekt. Wie wir mehrmals erwähnt haben, ist Kant der Meinung, dass sich die Rede vom realen Subjekt im transzendentalen Sinne deswegen ergibt, weil das logische Subjekt alles Denkens in der traditionellen Metaphysik fälschlicherweise hypostasiert wird. Genauer gesagt: Die rationale Psychologie missversteht dieses logische Subjekt, das unerkennbar ist, als ein Objekt, das man erfahrungsunabhängig erkennen könnte, wie Kant selbst ausdrückt, dass „die subjektive Bedingung des Denkens vor die Erkenntnis des Objekts gehalten wird“ (A 396). Somit werden die „Gedanken zu Sachen“ (A 395) gemacht. 479 Was wir laut Kant erkennen können, ist daher nur ein reales Subjekt im empirischen Sinne, also ein in der Erfahrung wirklich existierendes Wesen, das über mentale Zustände verfügt, nämlich jeder einzelne Mensch. Ein empirisch reales Subjekt ist ein Gegenstand des inneren Sinnes bzw. das Subjekt als Erscheinung. In Kants unveröffentlichter Preisschrift spricht er von der doppelten Bedeutung des Ich: „[D]as logische Ich, als Vorstellung a priori“ ist das Subjekt der Apperzeption, „das psychologische Ich, als empirisches Bewußtsein“ ist das Subjekt der
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In der bisherigen Kant-Literatur über Paralogismen sind manche Interpreten auf diesen Unterschied eingegangen. Vgl. Horstmann 1993, S. 417; Klemme 1996, S. 333; Rosefeldt 2000, S. 107-114. Vgl. auch A 384, A 402, B 426 f.
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
Perzeption. 480 Das logische Ich ist das logische Subjekt alles Denkens, das psychologische Ich ist das empirisch reale Subjekt. Aufgrund dieser Unterscheidung ist es klar, dass das logische Subjekt auch nicht mit dem empirischen realen Subjekt gleichgesetzt werden darf. Aus dieser Unterscheidung zwischen dem logischen Subjekt und dem realen Subjekt ergibt sich schließlich, dass die „logische[] Identität des Ich“ von der „[realen] Identität meines Subjects“ (A 363) streng abzugrenzen ist. Nach Kants Grundidee im dritten Paralogismus ist es klar geworden, dass die logische Identität des Ich nicht als personale Identität bezeichnet werden darf. Nun bleibt, wenn es für Kant personale Identität gibt, nur die einzig mögliche Alternative übrig: die Identität eines empirisch realen Subjekts. Darauf werde ich in 5.3.3 ausführlich eingehen. 5.3.2 Kants Argument gegen Locke und Leibniz Bevor ich zu Kants positiver Konzeption der personalen Identität übergehe, möchte ich zwei historische Konzeptionen mit Kant vergleichen. In der vorkantischen Tradition der Philosophie bezieht sich bekanntermaßen die Theorie der personalen Identität von John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz direkt auf Kants dritten Paralogismus. Die Konzeptionen der personalen Identität von beiden werden oft in einem vergleichenden Zusammenhang diskutiert, weil Leibniz’ Buch Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1765) ein kritischer Kommentar zu Lockes An Essay Concerning Human Understanding (1689) ist. Dementsprechend richtet sich Leibniz’ Kapitel über personale Identität unmittelbar gegen Lockes Kapitel „Of Identity and Diversity“ (Buch II, Kapitel XXVII), in dem Locke seine Theorie der Person dargestellt hat. Beides hat bezüglich der personalen Identität seine eigene Begründung, die mit ihren anderen philosophischen Theorien zusammenhängt. Es würde hier zu weit führen, auf ihre Konzeptionen der personalen Identität ausführlich einzugehen. Für meine Zwecke mag es genügen, ihre Hauptgedanken zu skizzieren. Damit möchte ich mich in diesem Teil vor allem darauf konzentrieren, anhand eines Beispiels zu erklären, wie Kant gegen die Konzeptionen von Locke und Leibniz argumentiert. (a)
Locke und Leibniz über personale Identität
Als Vertreter des Empirismus geht Locke davon aus, dass das Bewusstsein die Identität der Person garantiert, und dass diese personale Identität nichts mit der Substanz zu tun hat. In seinem Buch An Essay Concerning Human Understanding liefert Locke uns eine Definition der Person, die in der philosophischen Geschichte eine grundlegende Rolle spielt. Er schreibt: We must consider what Person stands for; which, I think, is a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking, and as it seems to me essential to it. (Locke 1975, S. 335)
Lockes Definition zufolge kann ein Wesen als eine Person bezeichnet werden, wenn es folgende Bedingungen erfüllt: Es ist ein denkendes, verständiges Wesen; es verfügt über gewisse 480
Vgl. AA XX 270. Diese Unterscheidung findet sich auch in der Anthropologie (vgl. AA VII 134 Anm.).
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
215
Fähigkeiten wie Vernunft und Reflexion; es kann sich selbst als sich selbst betrachten und von einem anderen Wesen unterscheiden; es bleibt in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten identisch; es muss insbesondere das Bewusstsein besitzen. Außerdem unterscheidet Locke zwischen der Identität der materiellen Substanz, der der Menschen und der der Person. 481 Die Identität der materiellen Substanz besteht darin, dass die Bestandteile der Materie unverändert bleiben. 482 Aber Locke ist der Meinung, dass die Identität des Menschen nicht darin besteht, dass die körperlichen Teile unverändert bleiben, sondern in demselben anhaltenden Leben, das verschiedenen Partikeln der Materie, die einen organisierten Körper ausmacht, mitgeteilt wird. 483 Anders als die beiden Arten der Identität betont Locke, dass die Identität der Person lediglich auf dem Bewusstsein beruht. Dazu schreibt er: For since consciousness always accompanies thinking, and ‘ tis that, that makes every one to be, what he calls self; and thereby distinguishes himself from all other thinking things, in this alone consists personal Identity, i.e. the sameness of a rational Being: And as far as this consciousness can be extended backwards to any past Action or Thoughts so far reaches the Identity of that Person; it is the same self now it was then; and ’tis by the same self with this present one that now reflects on it, that that Action was done. (Locke 1975, S. 335)
Diese Passage enthält Lockes erste grundsätzliche Behauptung über die personale Identität: Das Bewusstsein ist allein für die personale Identität entscheidend. In dem dieser Passage vorangehenden Kontext spricht Locke davon, dass das Bewusstsein notwendigerweise das Denken begleitet und sogar dessen Wesen ausmacht. Im obigen Zitat weist er näher darauf hin, dass das Bewusstsein zwei Rollen spielt: Zum einen macht das Bewusstsein dadurch, dass es jedes Denken begleiten muss, möglich, dass das Wesen, das denkend ist, sich selbst als sich selbst betrachtet und das Pronomen „Ich“ gebraucht. Zum anderen führt das Bewusstsein dazu, dass sich das denkende Wesen, das das Bewusstsein besitzt, von anderen denkenden Wesen unterscheidet, indem es sich selbst das Ich nennt. Also ist laut Locke das Bewusstsein für die Identität der Person entscheidend und bereits hinreichend, weil nur das Bewusstsein ermöglicht, dass ein denkendes Wesen weiß, dass es ein und dasselbe ist. Außerdem macht Locke darauf aufmerksam, dass das Bewusstsein eine Einschränkung für die identische Person ist. D. h. wo das Bewusstsein sich ausdehnt, da ist die identische Person vorhanden. Locke ist deswegen der Meinung, dass das Bewusstsein allein die identische Person garantiert, weil das Bewusstsein die vergangene Existenz und Handlungen in derselben Person vereinigen kann. 484Auch ist noch zu berücksichtigen, dass Locke in seinen Ausführungen selten das Selbstbewusstsein erwähnt. 485 Aber wie Allison sich zeigt, enthält Lockes
481 482 483
484 485
Dazu schreibt er: “It being one thing to be the same Substance, another the same Man, and a third the same Person.” (Locke 1975, S. 332) Vgl. „Thirdly, The same will hold of every Particle of Matter, to which no Addition or Substraction of Matter being made, it is the same.” (Locke 1975, S. 329) Vgl. „This also shews wherein the Identity of the same Man consists; viz. in nothing but a participation of the same continued Life, by constantly fleeting Particles of Matter, in succession vitally united to the same organized Body.” (Locke 1975, S. 331 f.) Vgl. Locke 1975, S. 340. Vgl. Locke 1975, S. 341.
216
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
Bewusstsein in der Tat schon notwendigerweise das Selbstbewusstsein. 486 Anders gesagt: Aus Lockes Behauptung “Self depends on Consciousness” geht schon hervor, dass bei ihm die Rede vom Bewusstsein die Rede vom Selbstbewusstsein impliziert. Darüber hinaus ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Lockes zweite grundsätzliche Behauptung darin besteht, dass die Identität der Person nicht davon abhängt, ob die immaterielle Substanz bzw. die denkende Substanz identisch ist. Dazu schreibt er: For it being the same consciousness that makes a Man be himself to himself, personal Identity depends on that only, whether it be annexed only to one individual Substance, or can be continued in a succession of several Substances. (Locke 1975, S. 336)
Und wenig später heißt es: [T]he same immaterial Substance without the same consciousness, no more making the same Person by being united to any Body, than the same Particle of Matter without consciousness united to any Body, makes the same Person. (Locke 1975, S. 339 f.)
Wie oben davon gesprochen wird, dass es bei der Identität des Menschen nicht auf die materielle Substanz ankommt, betont Locke im Kapitel „Of Identity and Diverstity“ wiederholt, dass die personale Identität gar nichts mit der immateriellen Substanz zu tun hat. Genauer gesagt: Einerseits kann ein und dieselbe Person einer oder mehreren immateriellen Substanzen zukommen, d. h. eine Person kann im Wechsel der Substanzen identisch bleiben. Andererseits ist es auch nicht ausgeschlossen, dass ein und dieselbe immaterielle Substanz in verschiedenen Zeiten verschiedene Personen sein kann. Kurz gesagt: Locke zufolge spielt die immaterielle Substanz für die personale Identität gar keine Rolle. Um dies zu begründen, hat Locke uns wegen seiner empiristischen Argumentationsweise zahlreiche Beispiele geliefert. Aber theoretisch mag es daran liegen, dass wir die denkende Substanz nicht wissen können, und dass die primären Qualitäten nicht erkennbar sind. 487 Soweit Lockes Konzeption von personaler Identität. Als Vertreter des Rationalismus hingegen ist Leibniz der Meinung, dass das Bewusstsein zwar in gewissem Maße die personale Identität sichert, aber man ohne Verweis auf eine geistige Substanz die Identität einer Person nicht erklären kann. Im Brief an Arnauld vom Juni 1686 schreibt Leibniz: Es muss notwendigerweise einen Grund für die wahre Aussage geben, dass wir kontinuierlich existieren, d. h., dass ich, der ich in Paris war, jetzt in Deutschland bin. Wenn es nämlich keinen Grund dafür gibt, könnte man ebenso gut sagen, dass dies jemand anders ist. Es ist wahr, dass meine innere Erfahrung mich a posteriori von dieser Identität überzeugt hat, aber es muss auch einen Grund a priori dafür geben. Es ist nun unmöglich, einen anderen Grund als den folgenden zu finden: Sowohl meine Attribute bezüglich des früheren Zeitpunkts und Zustands als auch jene bezüglich des darauf folgenden Zeitpunkts und Zustands sind Prädikate desselben Subjekts – sie sind in demselben Subjekt. Was bedeutet es aber zu sagen, dass das Prädikat im Subjekt ist, außer dass der Begriff des Prädikats in gewisser Weise im Begriff des Subjekts eingeschlossen ist? 488
486 487 488
Vgl. Allison 1966, S. 44. Zu diesem Punkt vgl. Allison 1966, S. 45; Tester 2014, S. 88. Ich übernehme dieses Zitat von Dominik Perler (2016, S. 332).
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
217
In dieser Passage weist Leibniz ausdrücklich darauf hin, dass meine innere Erfahrung bzw. das Bewusstsein, von dem Locke in seiner Konzeption spricht, zwar meine Identität beweisen kann, aber nur auf empirische bzw. aposteriorische Weise. Für die wahre Tatsache, dass ich als eine Person kontinuierlich existiere, ist nach Leibniz ein apriorischer Grund erforderlich. Er besteht nämlich darin, dass alle Attribute ein und demselben Subjekt inhärieren. Dieses Subjekt muss Leibniz zufolge eine geistige Substanz sein, denn nur sie verfügt über wirkliche Identität. Dazu schreibt Leibniz in seinem Buch Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand noch deutlicher: Auch ich bin der Meinung, daß die Bewußtheit oder das Selbstbewußtsein eine moralische oder persönliche Identität beweist. Eben hierdurch unterscheide ich die Fortdauer einer Tierseele von der Unsterblichkeit der Menschenseele. Die physische und reelle Identität ist in dem einen wie in dem andern Fall erhalten, was aber den Menschen betrifft, so entspricht es den Regeln der göttlichen Vorsehung, daß seine Seele zudem noch die moralische Identität, die uns selbst als solche erscheint, bewahrt, damit hieraus die Identität einer Person entsteht, die fähig ist, die Strafen und Belohnungen zu empfinden. Sie scheinen anzunehmen, daß diese Identität für unser Bewußtsein bewahrt bleiben könnte, auch wenn es keine wirkliche Identität geben sollte. Ich machte glauben, daß dies vielleicht durch die Allmacht Gottes geschehen kann, aber nach der Ordnung der Dinge setzt die Identität, derer sich die Person, indem sie sich als dieselbe empfindet, selbst bewußt ist, die wirkliche Identität bei jedem von Reflexion und Selbstgefühl begleiteten Übergang zur nächstfolgenden Stufe voraus: denn eine so innerliche, unmittelbare Perzeption kann von Natur nicht täuschen. (Leibniz 1996, S. 222)
Damit ist es klar, dass „das Bewußtsein nicht das einzige Mittel [ist], um die persönliche Identität zu konstituieren“ 489. Und noch wichtiger ist zu beachten, dass die mentalen Zustände, die uns laut Locke zugänglich sind, für Leibniz der Sache nach gar nicht möglich sind, wenn es kein über die Zeit hinweg real existierendes Subjekt gibt. Dieses denkende Subjekt ist nichts anderes als eine geistige Substanz, die dazu dient, die mentalen Zustände in einer Einheit zu verbinden. Also unterscheidet sich Leibniz in Bezug auf den Grund der personalen Identität wesentlich von Locke. (b)
Kants Gegenargument: Übertragung der Substanzen
Bekanntlich hat Kant im Rahmen des dritten Paralogismus insgesamt zwei Gedankenexperimente oder Beispiele angeführt. Beides dient dazu, die rationalpsychologische Behauptung über die Persönlichkeit der Seele zu widerlegen. Das erste habe ich bereits im Zusammenhang mit der kritischen Rekonstruktion des Vernunftschlusses der Personalität erklärt (siehe 5.2.3). Nun möchte ich das zweite erläutern. Denn es ist meiner Ansicht nach dafür geeignet, aus Kants Sicht gegen die oben dargestellten Konzeptionen von Locke und Leibniz zu argumentieren. Das genannte Beispiel findet sich in einer Fußnote, wo Kant schreibt: Eine elastische Kugel, die auf eine gleiche in gerader Richtung stößt, theilt dieser ihre ganze Bewegung, mithin ihren ganzen Zustand (wenn man blos auf die Stellen im Raume sieht) mit. Nehmet nun nach der Analogie mit dergleichen Körpern Substanzen an, deren die eine der andern Vorstellungen sammt deren Bewußtsein einflößte, so wird sich eine ganze Reihe derselben denken lassen, deren die erste ihren Zustand sammt dessen Bewußtsein der zweiten, diese ihren eigenen Zustand sammt dem der vorigen Substanz der dritten und diese eben so die Zustände aller vorigen sammt ihrem eigenen und deren Bewußtsein mittheilte. Die letzte Substanz würde also aller Zustände der vor ihr veränderten Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein,
489
Leibniz 1996, S. 224.
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5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
weil jene zusammt dem Bewußtsein in sie übertragen worden, und dem unerachtet würde sie doch nicht eben dieselbe Person in allen diesen Zuständen gewesen sein. (A 363 Anm.)
Dieses Beispiel über die Übertragung der Substanzen kann man so umformulieren: Genauso wie die Kugeln, die sich in einer geraden Linie bewegen, ihre Bewegungen und Zustände aufeinander übertragen können, nehmen wir eine Reihe der immateriellen denkenden Substanzen an, die auch beweglich (nicht im Sinne des Raumes) sind. Diese Substanzen sind in der Lage, ihre Zustände und Bewusstsein mitzuteilen. So kann man sich einen sukzessiven Prozess vorstellen: Die erste Substanz überträgt ihren Zustand und das Bewusstsein dieses Zustandes auf die zweite Substanz. Die zweite Substanz überträgt ihren eigenen Zustand und den Zustand der vorigen Substanz sowie das Bewusstsein dieser Zustände auf die dritte. Die dritte Substanz überträgt ebenso alle Zustände, die sie bisher besessen hat, und das Bewusstsein dieser Zustände auf die vierte. Auf diese Weise geht es mit allen anderen Substanzen in der Reihe weiter. Somit besitzt die letzte Substanz ihren eigenen Zustand und die Zustände der vorigen Substanzen sowie das Bewusstsein aller Zustände. Das bedeutet, dass sich die letzte Substanz aller vorigen Zustände als ihrer eigenen Zustände bewusst ist. Anders gesagt: Die letzte Substanz weiß, dass alle vorige Zustände ihre eigenen Zustände sind. Was Kant an diesem Beispiel zeigen will, ist nichts anderes als die Selbstzuschreibung der mentalen Zustände, worauf ich bereits in 3.2.1 eingegangen bin. Alle Substanzen, die voneinander unterschieden sind, können sich selbst ihre vorigen Zustände zuschreiben. So kann die letzte Substanz alle vorigen Zustände behalten und sie sich selbst zuschreiben. Genauer gesagt: Die erste Substanz kann von einem Zustand sagen, dass er ihre ist. Die zweite Substanz kann von den Zuständen, die sie besitzt, sagen, dass sie ihre sind. So kann die letzte Substanz von allen vorigen Zuständen sagen, dass sie ihre sind. Daraus folgt, dass die Substanzen sich zwar in dem Prozess der Übertragung verändern, aber das logische Subjekt, dem die Zustände zuzuschreiben sind, ein und dasselbe ist, denn bei jedem Zustand taucht dasselbe Ich („meine“) auf. In Kants Worten: „[Da]s gleichlautende Ich […] in jedem andern Zustande, selbst der Umwandelung des Subjects, [kann] doch immer den Gedanken des vorhergehenden Subjects aufbehalten und so auch dem folgenden überliefern […]“ (A 363). Dies besagt, dass es sich bei den verschiedenen Substanzen nur um ein logisches Subjekt handelt, das identisch bleibt. Daraus geht hervor, dass in diesem Beispiel das denkende Wesen, dem alle Zustände zukommen, in Bezug auf verschiedene Substanzen das logische Ich ist. Im Gegensatz dazu sind die Subjekte, die jeweils von den verschiedenen Substanzen abhängen, reale Subjekte oder reale Ich. Obwohl das logische Ich identisch bleibt, sind die realen Subjekte voneinander verschieden. Damit gelangt Kant im besagten Beispiel zur Schlussfolgerung: Die letzte Substanz ist in allen Zuständen nicht dieselbe Person gewesen. Das heißt, alle denkenden Substanzen in der Reihe sind unterschiedliche Personen. Folglich können wir sagen, dass die Identität des logischen Ich die Identität der Person noch nicht garantieren kann. Aufgrund der obigen Analyse des Kantischen Beispiels wird es klar, dass Kant sicherlich Lockes Konzeption der personalen Identität bestreitet. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Locke geht davon aus, dass das identische Bewusstsein die personale Identität hinreichend garantiert, wobei es nichts mit der Substanz zu tun hat. Aber in Kants Beispiel kann die letzte Substanz sich an alle vorige Zustände erinnern und sie ist sich dessen bewusst, dass alle diese Zustände ihre eigenen sind. Das ist das, was Locke eigentlich in Anspruch nimmt. Dennoch
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
219
ist Kant zufolge die letzte Substanz nicht in allen Zuständen dieselbe Person. Vielmehr sind jede der in der Reihe enthaltenen Substanzen bzw. jedes reale Subjekt eine Person. Zweitens: Kant kann sogar Lockes sogenanntes identisches Bewusstsein nicht anerkennen. Denn für Kant ist Lockes Bewusstsein nur empirisches Bewusstsein, das sich auf eigene innere Erfahrung bezieht. Durch dieses Bewusstsein sind wir uns zwar unserer selbst bewusst, aber es kann laut Kant gar nicht identisch bleiben. Denn im inneren Sinn ist alles fließend. Dazu schreibt Kant: „Das Bewußtsein seiner selbst nach den Bestimmungen unseres Zustandes bei der innern Wahrnehmung ist blos empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen geben […].“ (A 107; vgl. B 133) Da das empirische Bewusstsein selbst jederzeit wandelbar ist, sind wir gar nicht berechtigt zu sagen, dass wir uns eines identischen Subjekts bewusst sind. Insofern ist Kants Beispiel der Übertragung der Substanz gegen Locke gerichtet. 490 Allerdings impliziert dieses Beispiel, obwohl Leibniz der Gegenspieler von Locke ist, ebenso wenig, dass Kant Leibniz’ Konzeption der personalen Identität zustimmen würde. Nach Leibniz ist ein denkendes Subjekt als immaterielle Substanz für die personale Identität entscheidend, weil nur durch diese geistige Substanz garantiert wird, dass die verschiedenen mentalen Zustände als in einer Einheit verbunden angesehen werden können. Nun haben wir aber gesehen, dass das sogenannte denkende Ich, das als Träger der mentalen Zustände fungiert, aus Kants Sicht nichts anderes als ein logisches Subjekt ist. Dieses Subjekt selbst ist keine geistige Substanz. Und wie Kant im ersten Paralogismus ausführt (vgl. A 348 f.), gibt es gar kein denkendes Ich als geistige Substanz. Das logische Subjekt, um das es beim Wechsel der Substanzen im obigen Beispiel geht, darf man nicht mit einer identischen Person gleichsetzen. Folglich kann man sagen, dass Kants Beispiel der Übertragung der Substanzen auch als ein Gegenargument der Leibniz’schen Konzeption der personalen Identität gilt. 5.3.3 Kants positive Position: Menschen als Personen Wir hatten schon gesehen, dass Kant mit den Konzeptionen von Locke und Leibniz nicht zufrieden ist. Aber im Text des dritten Paralogismus bemüht Kant sich nicht darum, eine Theorie über personale Identität zu liefern. Auch hat er im Text nirgendwo explizit oder implizit darauf hingewiesen, wer über personale Identität verfügt und wie sich dies begründen lässt. Dieser Umstand bereitet kaum geringere sachliche Schwierigkeiten als das Verständnis der Kritik des dritten Paralogismus. Nun möchte ich im letzten Teil dieses Kapitels versuchen, Kants positive Position im Rahmen seiner theoretischen Philosophie deutlich zu machen. 491 Ich beginne mit Kants Unterscheidung vom Begriff der Person in theoretischem und praktischem Gebrauch. In den „Vorlesungen über Metaphysik nach Pölitz“ spricht Kant von dieser Unterscheidung, die aus der Tradition der Schulmetaphysik stammt. 492 Sie heißt: 490
491 492
Vgl. „Moralisch also ist die Identität gar nicht zu bezweifeln, aber (physisch) theoretisch kann man sie nicht annehmen, so wenig als im Fluß das Wasser immer das nemliche bleibt (Locke Versuch).“ (Metaphysik Dohna, AA XXVIII 683) Vgl. Longuenesse (2017, S. 163) vertritt auch eine positive Interpretation. Vgl. auch Metaphysik Dohna, AA XXVIII 683.
220
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
Die Persönlichkeit kann practisch und psychologisch genommen werden; practisch, wenn ihr freie Handlungen zugeschrieben werden; psychologisch, wenn sie sich ihrer selbst und der Identität bewußt ist. (Metaphysik L1, AA XXVIII 296)
Diese Unterscheidung taucht später tatsächlich in Kants eigenen Werken auf. In der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ schreib Kant: Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist. (MS, AA VI 223)
Dieser Unterscheidung zufolge gibt es zwei Bedeutungen der Persönlichkeit: Im psychologischen Sinne handelt es sich darum, dass sich ein denkendes Wesen seiner Identität bewusst ist. Insofern verfügt es über Persönlichkeit. Das ist der theoretische Gebrauch. Im praktischen Sinne betrifft die Persönlichkeit Freiheit und Zurechnung der Handlungen eines vernünftigen Wesens. 493 Das heißt, dass die Persönlichkeit dafür entscheidend ist, dass ihre Handlungen nach moralischen Gesetzen beurteilt werden können und sie für ihre Handlungen verantwortlich ist. Das ist der praktische Gebrauch des Begriffs der Person. Mir geht es hier nur um den theoretischen Gebrauch. Nun kehren wir noch einmal zur Konklusion des Vernunftschlusses des dritten Paralogismus zurück. Wie erläutert, hält Kant den Schlusssatz „die Seele ist eine Person“ insofern für falsch, als die rationale Psychologie mit diesem Satz einen Erkenntnisanspruch auf die Seele erhebt. Das heißt, dass diese rationalpsychologische Behauptung aus Kants Sicht abgelehnt werden muss, weil sie der Sache nach eine „Erweiterung unserer Selbsterkenntnis durch reine Vernunft“ (A 366) oder „eine metaphysische Bestimmung des Objekts“ (B 409) fälschlicherweise ausdrückt. Diese Erweiterung oder Bestimmung ist Kant zufolge deswegen unberechtigt, weil sie über die Grenzen der Erfahrung hinausgeht. Somit ist die Behauptung der Persönlichkeit der Seele tatsächlich nur ein transzendentaler Schein, der der spekulativen Vernunft selbst zuzusprechen ist. Dass Kant die rationalpsychologische Behauptung der Persönlichkeit destruiert, besagt allerdings nicht notwendig, dass Kant jedenfalls diese Behauptung bestreiten wollte. Vielmehr lässt Kant im gewissen Sinne einen Spielraum für die Behauptung „die Seele ist eine Person“. Insofern diese Behauptung nur als eine Wiederholung des Untersatzes betrachtet wird, bedeutet sie nichts anderes als das Bewusstsein „der logischen Identität des Ich“ (A 363). Genauer gesagt: Dass das denkende Ich bzw. die Seele eine Person ist, bringt aus Kants Sicht nur zum Ausdruck, dass ich mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in allen meinen Vorstellungen auf apriorische Weise bewusst bin. Das ist aber keine Erkenntnis von der identischen Eigenschaft der Seele, also keine Persönlichkeit im Sinne der rationalen Psychologie. Aus diesem Grund sagt Kant, dass die genannte Behauptung „in der Idee, aber nicht in der Realität“ (A 351) bzw. „im Begriffe“ „unstreitige Richtigkeit“ (A 400) hat. Diese Überlegung kommt auch im letzten Absatz des Texts im dritten Paralogismus deutlicher zum Ausdruck, wo Kant schreibt: 493
Vgl. R 4228, XVII 467; R 5049, XVIII 73; R 6713, XIX 139.
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
221
Indessen kann so wie der Begriff der Substanz und des Einfachen, eben so auch der Begriff der Persönlichkeit (so fern er blos transscendental ist, d.i. Einheit des Subjects, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperception ist) bleiben, und so fern ist dieser Begriff auch zum praktischen Gebrauche nöthig und hinreichend. (A 365)
Folglich ist es klar, dass der Begriff der Persönlichkeit insofern bleiben kann, als er ein transzendentaler Begriff ist und die Einheit des Subjekts betrifft. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass die Persönlichkeit der Seele nur die Einheit, die das Subjekt bezüglich aller ihm zugeschriebenen Vorstellungen hat, zum Ausdruck bringt. Das heißt, das Subjekt, das nicht als Objekt unserer Erkenntnis betrachtet werden kann, ist bei allen verschiedenen Vorstellungen ein und dasselbe. Diese Einheit als quantitative Einheit ist der Sache nach als numerische Identität zu verstehen. 494 Der Begriff der Person in diesem Sinne ist zum praktischen Gebrauch nötig und hinreichend. Darüber hinaus bezeichnet Kant in einer Reflexion das Bewusstsein der logischen Identität des Ich bzw. die Persönlichkeit im genannten eingeschränkten Sinne auch als transzendental-logische Persönlichkeit, wo er schreibt: [Der innere Sinn] Bewustseyn ist das Anschauen seiner Selbst. Es [würde] wäre nicht Bewustseyn, [so] wenn es Empfindung wäre. In ihm liegt alles Erkentnis, wovon es auch sey. Wenn ich von allen Empfindungen abstrahire, so setze ich das Bewustseyn voraus. Es ist die [transscendentale] logische Persohnlichkeit […]. (R 5049, AA XVIII 73)
Allerdings sind wir als Kants Leser offenbar mit diesem aus der Kritik gezogenen Ergebnis nicht zufrieden. Denn es verspricht uns nichts anderes als die logische Identität des Ich. Die Frage, wer denn über personale Identität verfügt, ist dadurch bei weitem nicht gelöst. Damit ist es sinnvoll und nötig, noch einen Schritt weiterzugehen, und zwar die Frage zu stellen, ob auch der menschliche Körper für die personale Identität eine Rolle spielt, so dass wir Menschen als Personen bezeichnen können. Diese Fragestellung hört sich trivial an. Aber wie wir sehen werden, ist die Beantwortung dieser trivialen Frage von nicht-trivialer Bedeutung, wenn wir laut Kant im theoretischen Sinne noch von der personalen Identität sprechen wollen. Auch Kant selbst hat in einer Reflexion auf ähnliche Weise diese Frage aufgeworfen, wo es heißt: Es frägt sich also, ob es möglich sei, daß die menschliche Seele auch ohne Körper eine besondere Persohn sey (zum wenigsten könte sie sich alsdenn ihres äußeren Zustandes nicht bewust werden, weil dazu gehöret, das man sich durch eben denselben Sinn empfindet, womit man äussere Dinge warnimmt). Diese Frage enthält nicht, ob gewisse Unterbrechungen ihrer Persöhnlichkeit (als der Schlaf) statt finden, sondern ob sie iemals ohne einen Körper sich ihrer Selbst bewust werden könne. (R 4237, AA XVII 472) 495
Jedoch hat Kant uns hier keine Antwort gegeben. Nun sehen wir uns zuerst einmal ein Szenario an: Stellen wir uns vor, dass Kant jeden Tag in der kleinen Stadt Königsberg mit der Begleitung von seinem Diener Lampe spazieren geht. Könnte Kant glauben, dass er jeden Tag beim Spaziergang von einem neuen Lampe begleitet würde? Könnte er nicht anerkennen, dass sein Diener Lampe in dessen Leben stets ein und dieselbe Person ist? Ich denke, Kant ist davon überzeugt, dass Lampe in seinem Leben personale Identität besitzt. Von dieser intuitiven Antwort auf die oben aufgeworfene Frage ausgehend möchte ich im Folgenden dafür argu494 495
Vgl. A 404. Siehe auch 4.1. Vgl. auch: „Die Frage, ob die Freyheit möglich sey, ist vielleicht mit der einerley, ob (g der Mensch) eine wahre Persohn sey und ob das Ich in einem wesen von äußeren bestimungen moglich sey.“ (R 4225, XVII 464 f.)
222
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
mentieren, dass die personale Identität aus Kants Sicht nur mit Rekurs auf den menschlichen Körper möglich ist. Demnach können nur die Menschen als Personen im theoretischen Sinne bezeichnet werden. Betrachten wir zunächst Kants eigene Äußerungen über den Zusammenhang von einem Menschen und einer Person. In der Anthropologie schreibt Kant: Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person […]. (AA VII 127)
Und in Kants Spätwerk Opus postumum findet sich eine Parallelstelle: Daß der Mensch nicht allein denkt sondern auch zu sich selbst sagen kann ich denke macht ihn zu einer Person. (AA XXI 103)
In diesen zwei Textpassagen drückt Kant explizit aus, dass ein Mensch eine Person ist, indem er das Personalpronomen „Ich“ verwenden kann und dadurch sich selbst von allen anderen Arten lebender Wesen (z. B. den Tieren) unterscheidet. 496 Außerdem ist Kant der Meinung, dass der Mensch über die personale Identität verfügt, weil er im Wechsel der Vorstellungen ein und derselbe bleibt. Bemerkenswert ist nun, dass Kant hier schon auf ein Argument dafür verweist, dass sich ein Mensch als eine Person ansehen lässt. Dieses Argument kann man so verstehen: Ein Mensch ist in der Lage, sich selbst seine verschiedenen Vorstellungen zuzuschreiben, indem er den Ich-Begriff verwenden und den Satz „ich denke, dass p“ aussagen kann. Mit anderen Worten: Von allen von mir verbundenen Vorstellungen kann ich wissen, dass sie meine sind. Somit fungiert das Ich als ein gemeinschaftliches Subjekt aller Vorstellungen, um daraus Gedanken zu bilden. Wie mehrmals erwähnt, lässt sich dieses Subjekt als das logische Ich beschreiben. Alle Vorstellungen sind auf dieses Ich als einen logischen Träger angewiesen, sonst würden sie keinen Gedanken ausmachen. Umgekehrt: Ich bin mir meiner selbst als ein und desselben Subjekts in verschiedenen Vorstellungen nur dann bewusst, wenn ich die gegebenen Vorstellungen „vermöge der Einheit des Bewußtseins“ bzw. in einem Selbstbewusstsein verbinde. Daher ist es leicht zu sehen, dass die Verwendung des Ich-Begriffs das Bewusstsein der Identität des Ich bezeichnet. Das ist aber kein neuer Gedanken Kants, sondern dies hat er, wie wir schon gesehen haben (siehe 3.2), vor allem in der transzendentalen Deduktion der Kategorien entwickelt. Jedoch läuft diese Überlegung darauf hinaus, dass der Mensch die erste Bedingung dafür erfüllt, über personale Identität zu verfügen. Sie ist, wie wir sehen werden, nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Um dies näher zu begründen, möchte ich noch zwei Textstellen heranziehen. In der Anthropologie schreibt Kant: Die Frage, ob bei den verschiedenen inneren Veränderungen des Gemüths (seines Gedächtnisses oder der von ihm angenommenen Grundsätze) der Mensch, wenn er sich dieser Veränderungen bewußt ist, noch sagen 496
Vgl. Kants Formulierungen: „Wesen, die einen solchen Begriff von Ich haben, Persönlichkeit besitzen“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 277). „Das Ich enthält das, was den Menschen von allen Thieren unterscheidet. […] Das Ich macht den Menschen zur Person, und dieser Gedanke giebt ihm das Vermögen über alles, es macht ihn zu seinem eigenen Gegenstande der Betrachtung.“ (Menschenkunde, AA XXV 859)
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
223
könne, er sei ebenderselbe (der Seele nach), ist eine ungereimte Frage; denn er kann sich dieser Veränderungen nur dadurch bewußt sein, daß er sich in den verschiedenen Zuständen als ein und dasselbe Subject vorstellt, und das Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstellungsart) nach, aber nicht der Materie (dem Inhalte) nach zwiefach. (AA VII 134 Anm.)
Parallel dazu heißt es in der Preisschrift: [Das Ich] zeigt aber ein über alle Sinnenanschauung so weit erhabenes Vermögen an, daß es, als der Grund der Möglichkeit eines Verstandes, die gänzliche Absonderung von allem Vieh, dem wir das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen, nicht Ursache haben beyzulegen, zur Folge hat, und in eine Unendlichkeit von selbstgemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht. Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeynt, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person […]. (AA XX 270)
Im ersten Zitat weist Kant ausdrücklich darauf hin, dass ein und dasselbe Subjekt bzw. das logische Ich vorausgesetzt werden muss, um den Wechsel meiner mentalen Zustände bewusst zu machen. Und aufgrund dieser Tatsache ist ein Mensch berechtigt zu sagen, dass er „ebenderselbe“ ist. Im zweiten Zitat sagt Kant in anderer Sprechweise, dass der Mensch sich von allem Vieh darin unterscheidet, dass er das Vermögen hat, „zu sich selbst Ich zu sagen“. Wie schon erläutert, ist diese Verwendung des Ich-Begriffs auf die Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen zurückzuführen. Auffällig ist aber, dass Kant an beiden Stellen eine doppelte Persönlichkeit bestreitet. Das heißt, das Ich ist, nur sofern es zugleich als Subjekt des Denkens und als Objekt der Anschauung verstanden wird, eine Person. Dies impliziert, dass das Ich hier sowohl im spontanen Sinne als auch im rezeptiven Sinne aufgefasst wird. Also ist dabei natürlich von dem Menschen die Rede. Allerdings haben wir oben bereits erläutert, dass man von der logischen Identität des Ich noch nicht auf die personale Identität schließen darf. Nun ist es für uns wichtig zu verfolgen, weshalb wir aufgrund des logischen Ich und im Sinne vom Menschen berechtigt sind, von der personalen Identität zu sprechen. Meine Antwort wird sein: Der menschliche Körper liefert die Beharrlichkeit, die eine identische Person voraussetzen muss. Damit wende ich mich dem zweiten Argument zu. 497 Nach Kants Ausführungen in der zweiten Auflage des dritten Paralogismus (vgl. B 408 f.) ist eine gegebene Anschauung für die Identität der Person erforderlich, weil nur dadurch ein denkendes Wesen als Objekt gegeben werden kann. Und es ist bekanntlich in Kants Philosophie so, dass es im inneren Sinn durchaus kein Beharrliches gibt, da die gegebenen Vorstellungen bzw. mentalen Zustände ständig fließend sind. Um nicht bloß beim Denken von einem denkenden Ich als Objekt stehenzubleiben, sondern dieses Subjekt zugleich zum Objekt der Anschauung zu machen, muss dieses denkende Ich in Verbindung mit einem organischen Körper stehen, sonst könnte es die Gegenstände im Raum nicht anschauen. Denn es ist nur dann sinnvoll zu sagen, dass ich die von mir unterschiedenen Gegenstände anschaue, wenn ich selbst im Raum eine Stelle einnehme. Somit ist es klar, dass der menschliche Körper eine Voraussetzung dafür ist, äußere Erfahrung zu haben. Und eine innere Erfahrung ist nicht ohne äußere Erfahrung möglich, wie es Kant selbst in der Widerlegung des Idealismus ausführt. Ich werde auf die von Kant in der zweiten Auflage der Kritik aufgestellte These über die Priorität 497
In der Kant-Literatur vertreten manche Kommentatoren auch diese Auffassung. Vgl. Strawson 1966, S. 164 ff.; Sturma 1985, S. 75; Rosefeldt 2000, S. 101 ff.; Longuenesse 2007, S. 155; Baum 2010, S. 239.
224
5 Identität des Selbstbewusstseins und personale Identität
des äußeren Sinnes und des Raums zwar erst im nächsten Kapitel näher eingehen (siehe 6.2). Aber schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass wir uns laut Kant nur dann unserer Existenz als in der Zeit bestimmt bewusst sind, wenn wir nicht nur als bloß denkende Wesen, sondern auch mit organischen Körpern in einer räumlichen Welt existieren, wie Kant in einer Reflexion schreibt: Wir sind uns selbst vorher Gegenstand des äußeren Sinnes, denn sonst würden wir unseren Ort in der Welt nicht warnehmen und uns mit anderen Dingen im Verhältnis anschauen können. - Daher kann die Seele als Gegenstand des inneren Sinnes ihren Ort im Korper nicht warnehmen, sondern sie ist in dem Ort, worinn der Mensch ist. (R 6315, AA XVIII 619)
Was folgt daraus für die Kantische Behauptung der personalen Identität? Wir haben gar keine Grundlage, unabhängig vom äußeren Sinn und dem menschlichen Körper ein sogenanntes bloß denkendes Wesen zu erkennen. Die Erkenntnis der Persönlichkeit der Seele ist nur dann möglich, wenn die Seele mit einem organischen Körper verbunden ist und damit als in Raum und Zeit beharrlich betrachtet wird. Von dieser Konzeption hat Kant in der Kritik nur implizit gesprochen, indem er in „Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele“ der B-Auflage des Paralogismus schreibt: Also bleibt die Beharrlichkeit der Seele, als bloß Gegenstandes des inneren Sinnes, unbewiesen und selbst unerweislich, obgleich ihre Beharrlichkeit im Leben, da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich klar ist, womit aber dem rationalen Psychologen gar nicht Gnüge geschieht, der die absolute Beharrlichkeit derselben selbst über das Leben hinaus aus bloßen Begriffen zu beweisen unternimmt. (B 415)
Um Kants Konzeption der personalen Identität zu erläutern, wird diese Passage, soweit ich sehe, zum ersten Mal von Strawson als Beleg zitiert. 498 Nachher werfen viele KantInterpreten Strawson vor, dass er diese Passage überinterpretiert. 499 Dennoch folge ich hier Strawsons Interpretation. Im Zitat geht Kant davon aus, dass die Beharrlichkeit der Seele insofern unerweisbar ist, als die Seele bloß als das Ich im Satz „Ich denke“ bzw. ein erfahrungsunabhängiges denkendes Wesen verstanden wird. Jedoch ist er auch der Meinung, dass die Beharrlichkeit der Seele „für sich klar“ ist, wenn von der Seele im Sinne des Menschen im Leben die Rede ist. Das liegt daran, dass der menschlichen Körper, mit dem die Seele verbunden ist, „ein Gegenstand äußerer Sinne“ ist. Wie oben bei der ersten Art der Identität erklärt, besitzt ein Gegenstand des äußeren Sinnes notwendigerweise die Beharrlichkeit. Demnach kann ein empirisches Subjekt bzw. ein Mensch in seinem Leben über Beharrlichkeit verfügen, die auf dem Körper beruht. Abgesehen vom Körper ist laut Kant die Rede von der Beharrlichkeit eines bloß denkenden Wesens unberechtigt. Und solange man alle Eigenschaften eines empirischen Subjekts erkennen will, ist die Verbindung eines denkenden Wesens mit seinem Körper vorauszusetzen. Für diese Konzeption sprechen auch Kants folgende Ausführungen aus den Prolegomena: Nun ist die subjective Bedingung aller unserer möglichen Erfahrung das Leben: folglich kann nur auf die Beharrlichkeit der Seele im Leben geschlossen werden, denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Erfahrung [...]. Also kann die Beharrlichkeit der Seele nur im Leben des Menschen (deren Beweis man uns wohl 498 499
Vgl. Strawson 1966, S. 164. Vgl. Sellars 1970, S. 10; Kitcher 1982, S. 535; Ameriks 2000, S. 143-148.
5.3 Konzeptionen der personalen Identität
225
schenken wird), aber nicht nach dem Tode (als woran uns eigentlich gelegen ist) dargethan werden [...]. (AA IV 335)
In den von Kant im Jahre 1783 veröffentlichten Prolegomena sind die Paragraphen (§§ 4649), die zusammen den Titel „Psychologische Ideen“ tragen, parallel zur ersten Version des Paralogismus-Kapitels in der Kritik. In den erst drei Paragraphen handelt es sich hauptsächlich um Kants Zurückweisung der Substantialität der Seele. Seine Grundidee ist, dass Substantialität und Beharrlichkeit nur für Gegenstände einer möglichen Erfahrung gelten. Somit ist jeder Versuch, diese Begriffe über mögliche Erfahrung hinaus zu verwenden, nicht erlaubt. Diese Überlegung richtet sich offenbar auch gegen die rationalpsychologische Behauptung, dass die menschliche Seele außer im Leben sogar vor der Geburt und nach dem Tod beharrlich bleibt. 500 Nun handelt es sich in dem Paragraphen (§ 48), aus dem das obige Zitat stammt, darum, inwiefern wir die Beharrlichkeit der Seele als Substanz behaupten können. Kants Antwort lautet: Die Beharrlichkeit der Seele als Substanz ist innerhalb der möglichen Erfahrung gültig. Da nun laut Kant das menschliche Leben die Grenze der möglichen Erfahrung ist, sind wir berechtigt, von der Beharrlichkeit der Seele im Leben des Menschen zu sprechen. Außerdem ist Kant zufolge klar, dass die Beharrlichkeit der Seele hinreichende Voraussetzung für die Persönlichkeit der Seele ist (vgl. A 365). Daraus folgt zweifellos, dass die Seele im Sinne vom Menschen die personale Identität hat. Ich werde auf die Kantische Überlegung zum empirischen Subjekt als Substanz in der Erscheinung unten, in Abschnitt 6.3, näher eingehen. Aus den obigen zwei Argumenten geht hervor, dass ein denkendes Wesen nur dann als eine Person bezeichnet werden kann, wenn es zwei Bedingungen erfüllt: Zum einen ist es in der Lage, den Ich-Begriff zu verwenden und Selbstzuschreibung der gegebenen Vorstellungen vorzunehmen, wobei es um das identische Ich auf der logischen Ebene geht. Zum anderen hat das denkende Wesen zugleich im Leben einen beharrlichen Körper, d. h. es ist tatsächlich ein reales empirisches Subjekt, das innere und äußere Erfahrung in sich beinhaltet. Nur ein solches empirisches Subjekt bzw. ein Mensch verfügt über die personale Identität. Insofern ist die Behauptung „die Seele (als Mensch betrachtet) ist eine Person“ eine empirische Selbsterkenntnis. Schließlich kann man auch sagen, dass Kants positive Position der personalen Identität mit der Grundidee seiner Philosophie – der Unterscheidung von transzendentaler Idealität und empirischer Realität – übereinstimmt. Das identisch Ich als formale Bedingung aller Gedanken allein kann noch nicht die identische Person begründen. Die identische Person lässt sich nur einem empirischen Subjekt, das einen beharrlichen Körper besitzt, zuschreiben.
500
Vgl. Metaphysik L1, AA XXVIII 282 f.
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich Die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung ist, was es in Kants Philosophie heißt, dass ich mir meiner selbst bewusst bin. In den letzten Kapiteln hatten wir gesehen, dass dieser Sachverhalt für Kant zwei wesentliche Aspekte impliziert. Erstens: Wessen ich mir bewusst bin, ist ein identisches Ich. Daher enthält das Selbstbewusstsein das Bewusstsein der Identität des Ich. Allerdings ist diese Identität des reinen Selbstbewusstseins für personale Identität zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend. Zweitens: Wessen ich mir bewusst bin, ist auch ein spontanes, aktives Ich, das über Verbindungsvermögen verfügt. Demnach enthält das Selbstbewusstsein das Bewusstsein davon, dass verschiedene Vorstellungen in mir verbunden sind. Und die Einheit des reinen Selbstbewusstseins kann sich nur in der Synthesis der gegebenen Vorstellungen realisieren. Nun könnte man sich noch fragen, ob das Ich, dessen ich mir bewusst bin, existiert. Wenn ja, inwiefern? Wenn nicht, warum nicht? Damit soll in diesem Kapitel der dritte in Kants Selbstbewusstsein implizierte Aspekt untersucht werden: Das Selbstbewusstsein enthält das Bewusstsein der Existenz des Ich. Wir haben im ersten Kapitel davon gesprochen, dass es sich in Kants theoretischer Philosophie um zwei Arten des Selbstbewusstseins handelt: das reine und das empirische Selbstbewusstsein. Dementsprechend gibt es für Kant auch zwei Arten meiner eigenen Existenz und zwei Arten des Bewusstseins meiner eigenen Existenz. Sehen wir uns zuerst einmal Kants eigene Formulierung an: 501 Man muß die reine (transsc:) Apperception von der empirischen apperceptio percipientis von der apperceptiva percepti unterscheiden. Die erste sagt blos ich bin. Die zweyte ich war, ich bin, und ich werde seyn d. i. ich bin ein Ding der Vergangenen der Gegenwärtigen und Künftigen [seyn] Zeit wo dies Bwußtseyn ich bin allen Dingen Bestimmung meines Daseyns als Größe gemein ist. Die letztere ist cosmologisch die erste rein psychologisch. Die cosmologische apperce welche mein Daseyn als Große in der Zeit betrachtet setzt mich in Verheltnis gegen andre Dinge die da sind waren und seyn werden […]. (Leningrad-Reflexion, Brandt 1987, S. 19)
Diese Passage stammt aus Kants eigenen Notizen Leningrad-Reflexion. Seine Ausführungen besagen, dass es sich bei der reinen bzw. psychologischen 502 Apperzeption um „blos ich bin“ handelt. Bei der empirischen bzw. kosmologischen Apperzeption hingegen handelt es sich um die Existenz des Ich als eines Objekts in verschiedenen Zeiten: meine Existenz in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft. Hier ist offenbar von meiner Existenz als Größe die Rede. Diese zwei Arten der Existenz sind freilich unterschieden: Im ersteren Fall ist das existierende Ich, wie Kant an anderer Stelle sagt, nur „ein Gegenstand des Verstandes“. Aber im letzteren Fall geht es um „ein[en] Gegenstand der Sinne und der empirischen Anschauung“. 503 Wie wir sehen werden, nennt Kant das Bewusstsein der ersten Vgl. auch Kants Formulierung in den Prolegomena: „Da aber das Ich in dem Satze: Ich bin, nicht blos den Gegenstand der innern Anschauung (in der Zeit), sondern das Subject des Bewußtseins, so wie Körper nicht blos die äußere Anschauung (im Raume), sondern auch das Ding an sich selbst bedeutet, [...].“ (AA IV 337) 502 „Psychologisch“ wird hier nicht in dem Sinne wie an anderen Stellen (vgl. Anthropologie, AA VII 134 Anm.) verwendet. Hier ist es mit dem Wort „transzendental“ gleichbedeutend. 503 Vgl. „Ich bin mir meiner selbst bewust (apperceptio). Ich denke d.i. ich bin mir selbst ein Gegenstand des Verstandes. Aber ich bin mir auch ein Gegenstand der Sinne und der empirischen Anschauung (apprehensio).“ (Op, AA XXII 119) 501
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_7
228
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
Art der Existenz das intellektuelle Bewusstsein der Existenz des Ich und bezeichnet das Bewusstsein der zweiten Art der Existenz als das empirische Bewusstsein meiner eigenen in der Zeit bestimmten Existenz. 504 Nach dem in den letzten Kapiteln Gesagten ist es zwar klar geworden, dass Kants reines Selbstbewusstsein kein wirklich stattfindender mentaler Vorgang ist. Darum ist das Objekt des reinen Selbstbewusstseins nur das logische Ich, das als das gemeinschaftliche Subjekt fungiert, um ihm verschiedene Vorstellungen zuzuschreiben. Dieses Ich ist also nur eine logische Voraussetzung für die Möglichkeit der Gedanken. Es ist zwar auch schon deutlich, dass es beim empirischen Selbstbewusstsein um das empirische Ich geht, das in der empirischen Anschauung gegeben werden kann. Die Existenz dieses Ich ist in der Zeit bestimmbar. Allerdings ist es noch nicht klar, ob wir behaupten können, dass das logische Ich existiert, und was für ein Bewusstsein wir von dieser Existenz haben. Auch ist es nicht ersichtlich, unter welchen Bedingungen wir berechtigt sind zu sagen, dass wir uns unserer empirischen Existenz als in der Zeit bestimmt bewusst sind. Und wie lässt sich dies aus Kants Sicht philosophisch begründen? Wenn die Existenz eines empirischen Subjekts als in der Zeit bestimmt anzusehen ist, kann man sich sogleich die weitere Frage stellen, ob die empirische Selbsterkenntnis in Kants System der Philosophie überhaupt möglich ist. Wenn das der Fall ist, wie kann man laut Kant begründen, dass die Substanzkategorie auf das empirische Subjekt anwendbar ist? Angesicht dieser Unklarheit möchte ich mich in diesem Kapitel mit dem Bewusstsein der Existenz des Ich beschäftigen. Ich werde dafür argumentieren, dass es in Kants reinem Selbstbewusstsein um das intellektuelle Bewusstsein von der Existenz des logischen Ich geht. Diese Art der Existenz ist nicht im Sinne von der schematisierten Existenzkategorie zu verstehen, sondern als eine logische Existenz anzusehen (6.1). Anschließend werde ich auch von dem empirischen Selbstbewusstsein handeln und zeigen, dass das Bewusstsein der zeitlich bestimmten Existenz des empirischen Ich nur dann möglich ist, wenn dieses Ich zugleich als Objekt des äußeren Sinnes in der physikalischen Welt existiert (6.2). Schließlich werde ich darauf eingehen, dass die empirische Selbsterkenntnis bei Kant möglich ist, und dass das empirisch in der Zeit bestimmte Ich als Substanz in der Erscheinung verstanden werden kann (6.3). 6.1
Das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz
Nach dem Begriff des reinen Selbstbewusstseins scheint die folgende Tatsache naheliegend zu sein: Wenn ich mir meiner selbst bewusst bin, habe ich auch ein Bewusstsein davon, dass ich existiere. Das ist ja begrifflich wahr. Denn ich könnte mir irgendeiner meiner Eigenschaften nicht bewusst sein, aber ich muss mir meiner eigenen Existenz bewusst sein. Sonst wäre es widersprüchlich, d. h. ich könnte nicht sagen, dass ich mir meiner selbst bewusst bin. Daher impliziert das reine Selbstbewusstsein das Bewusstsein der Existenz des logischen Ich. Allerding stellt sich sogleich die weitere Frage, was hier mit der Existenz des Ich und mit dem 504
Vgl. „Diese apperceptio ist 1., empirica, das Bewustseyn seiner Selbst als eines Wesens dessen Daseyn in der Zeit bestimmt ist; das Bewustseyn, in sofern ich selbst bestimmend bin, nennt man intellectualis, apperceptio pura. Sie ist sehr schwer zu fassen.“ (Metaphysik Dohna, AA XXVIII 670)
6.1 Das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz
229
Bewusstsein dieser Existenz gemeint ist. In Folgenden versuche ich dies anhand Kants Ausführungen deutlich zu machen. Wie schon mehrmals erwähnt, handelt es sich beim reinen Selbstbewusstsein um das Ich, das nicht als Objekt der Anschauung betrachtet werden darf. Kant bezeichnet die Existenz dieses Ich als „die Art des Daseins zum Denken überhaupt“ (B 410), weil dieses Ich gar nichts mit der Anschauung zu tun hat. Außerdem besteht das Besondere an dieser Art der Existenz darin, dass das Ich weder als Erscheinung noch als Ding an sich existiert. Dies bringt Kant sowohl in der transzendentalen Deduktion der Kategorien als auch im Paralogismus-Kapitel zum Ausdruck: Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transscendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperception bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. (B 157) Dadurch stelle ich mich mir selbst weder wie ich bin, noch wie ich mir erscheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes Object überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahire. (B 429)
Was für ein Ich existiert, wenn es weder Objekt einer sinnlichen Anschauung noch Objekt der intellektuellen Anschauung ist? Kant geht davon aus, dass die Existenz des Ich im reinen Selbstbewusstsein weder im Sinne vom Materialismus noch im Sinne vom Spiritualismus verstanden werden darf. 505 Das heißt, dass das Ich einerseits nicht in Raum und Zeit existiert, 506 andererseits wir nicht dazu berechtigt sind, zu behaupten, dass das Ich außerhalb unserer Erfahrung so existiert, als ob es neben uns wirklich einen Geist gäbe. Ganz im Gegenteil: Im reinen Selbstbewusstsein existiert das Ich nur „zum Denken überhaupt“ (B 410) oder „zum Behuf einer möglichen Erfahrung“ (B 426). Das Ich fungiert also als eine apriorische Bedingung für allen Gedanken. Denn es ist im Wesentlichen „das, was bloß in Gedanken existiert“ (A 384). Von ihm haben wir nur einen „in allen Stücken unbestimmten Begriffe“ (B 426). In diesem Sinne kann man auch sagen, dass das Ich nur eine logische Annahme ist, wie Kant es als „die bloße Form des Bewußtseins“ (A 382) bezeichnet. Genauer gesagt: Das Ich im reinen Selbstbewusstsein ist nur ein logisches Objekt. Seine Existenz kann man in gewissem Sinne als logische Existenz beschreiben (wenn man sie so nennen will), wie Kant selbst behauptet, dass das Ich als Subjekt nur im logischen Sinne verstanden wird. Dazu schreibt er: Weil hier nun im zweiten Satze [Ich denke als Subjekt] nicht bestimmt wird, ob ich nur als Subject und nicht auch als Prädicat eines andern existiren und gedacht werden könne, so ist der Begriff eines Subjects hier bloß logisch genommen, und es bleibt unbestimmt, ob darunter Substanz verstanden werden solle oder nicht. (B 419)
Wir können laut Kant nicht bestimmen, ob dieses logische Ich als Substanz oder als Akzidenz existiert, aber wir müssen mit Kant annehmen, dass es insofern notwendigerweise existiert, als ein Gedanke vorliegt. Denn für Kant muss jeder Gedanke, wie mehrmals gesagt, ein denkendes Wesen voraussetzen, das zu einem gemeinschaftlichen Subjekt dient, dem alles Den505
506
Vgl. „Also wenn der Materialism zur Erklärungsart meines Daseins untauglich ist, so ist der Spiritualism zu derselben eben sowohl unzureichend; und die Schlußfolge ist, daß wir auf keine Art, welche es auch sei, von der Beschaffenheit unserer Seele, die die Möglichkeit ihrer abgesonderten Existenz überhaupt betrifft, irgend etwas erkennen können.“ (B 420) Vgl. „ohne die Bestimmung meines Daseyns in der Zeit“ (R 5653, AA XVIII 306).
230
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
ken inhäriert (vgl. A 350). Das heißt, dass das Ich „die subjektive Bedingung des Denkens“ (A 396) ist. Wie Kant betont, ist das Ich „in allen Gedanken“ (A 350) oder muss „bei allem Denken“ (A 342/ B 400) vorkommen. Es muss auch „alle meine Urtheile und Verstandeshandlungen“ (B XXXIX Anm.) begleiten. Die Existenz des Ich ist daher eine logische Voraussetzung für alle Gedanken, „indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urtheilen […].“ (A 346/ B 404). In Kants Theorie des Selbstbewusstseins ist also die Rede von der logischen Existenz des Ich nicht nur zulässig, sondern Kant behauptet auch, dass man ein Bewusstsein von dieser Existenz hat. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Aussage, ich sei mir meiner selbst als eines nicht existierenden Subjekts bewusst, begrifflich widersprüchlich ist. So kann man sagen, dass das Selbstbewusstsein immer das Bewusstsein der Existenz implizieren muss. Kants Begriff des Selbstbewusstseins ist nicht nur in ontologischer Hinsicht, sondern auch in epistemologischer Hinsicht zu verstehen. Allerdings darf man hier das Bewusstsein nicht im gewöhnlichen Sinne verstehen. Es ist vielmehr ein „logische[s] Bewustseyn” 507. Da dieses Bewusstseins kein wirklicher Vorgang des Gemüts ist und sich nicht auf die Existenz eines Subjekts als Objekt der Anschauung bezieht, bezeichnet Kant es auch als das „intellectuelle[] Bewußtsein meines Daseins“ (B XXXIX Anm.) bzw. „das transscendentale Bewustseyn meines Daseyns überhaupt“. 508 Dies wird verständlich, wenn man bemerkt, dass Kant das reine Selbstbewusstsein bzw. die Vorstellung vom logischen Ich als eine intellektuelle Vorstellung charakterisiert. Zum Beispiel schreibt er: Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellectuelle Vorstellung der Selbstthätigkeit eines denkenden Subjects. (B 278) Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: Ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satze sei empirische Vorstellung; vielmehr ist sie rein intellectuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. (B 422 Anm.)
Wie oben bereits erwähnt, ist dieses im logischen Sinne existierende Ich zwar kein Geist, von dem beim Spiritualismus in der traditionellen Metaphysik die Rede ist. Jedoch beschreibt Kant dieses Ich manchmal auch als Intelligenz. Denn Kant will betonen, dass dieses Ich auf aktive Weise existiert und in der Lage ist, von sich selbst her eine Synthesisleistung vorzunehmen, so dass man sagen kann, dass das Ich als „ein[] selbsttätige[s] Wesen“ (B 158) nur in seine Aktivität bzw. „bloß in Gedanken existiert“ (A 384), oder besser gesagt, „ich existiere denkend“ (B 420). Ich bin mir meiner Spontaneität bewusst und „ich existire als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt ist“ (B 158). Demnach sagt Kant, diese Spontaneität mache, dass „ich mich Intelligenz nenne“ (B 158). Der Umstand, dass ich mir beim reinen Selbstbewusstsein meiner eigenen Existenz bewusst bin, bedeutet aber nicht, dass ich eine Erkenntnis von dieser Existenz habe. Denn hier wird das Ich als Subjekt nur logisch genommen. D. h. es ist als Objekt des reinen Selbstbewusstsein nur ein unbestimmtes Objekt, 507 508
Op, AA XXII 96. R 6313, AA XVIII 615. Vgl. auch: „[D]as transscendentale Bewustseyn unserer selbst, welches die Spontaneität aller unserer Verstandeshandlungen begleitet, welches aber im bloßen Ich besteht […], [macht] die Form der Intellectualität meines Subiects [aus].“ (R 5653, AA XVIII 306) „[D]as Bewustseyn, in sofern ich selbst bestimmend bin, nennt man intellectualis, apperceptio pura. Sie ist sehr schwer zu fassen. (Metaphysik Dohna, AA XXVIII 670)
6.1 Das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz
231
wie Kant in den Nachträgen der Kritik schreibt: „‚Ich bin‘ ist also kein Erkenntnis des Subjects, sondern blos das Bewustseyn der Vorstellung des Objects überhaupt.“. 509 Nun können wir allerdings noch einen Schritt weitergehen, und zwar stellt sich die Frage, wie eigentlich das Ich der reinen Apperzeption existiert? Nach dem bisher Gesagten ist es klar: Wenn es einen Gedanken gibt, muss das Ich als eine Bedingung dieses Gedankens zugleich existieren. D. h. Ich existiere denkend, oder anders gesagt: Das „Ich denke“ impliziert das „Ich bin“. Dieser Punkt ist aber nicht leicht zu verstehen. Denn es hat mit dem Cartesianischen Satz „cogito, ergo sum“ zu tun und Kants Kritik an diesem Satz ist sehr kompliziert. Dennoch möchte ich im Folgenden versuchen, im Kantischen Sinne die Art und Weise, wie das logische Ich existiert, zu erklären, ohne dass ich mich auf die Cartesianische Konzeption und die Streitigkeiten einlasse, ob Kant Descartes wirklich verstanden hat. Ich werde auf zwei Kantische Argumente für die genannte Art der Existenz eingehen. Zunächst geht Kant davon aus, dass das Ich der reinen Apperzeption nichts mit der Anschauung von diesem Ich zu tun hat. Genauer gesagt: Wir haben von dem logischen Ich weder sinnliche Anschauung noch intellektuelle Anschauung. Dazu schreibt Kant: Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Function, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung und stellt das Subject des Bewußtseins keinesweges als Erscheinung dar, bloß darum weil es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinnlich oder intellectuell sei. Dadurch stelle ich mich mir selbst weder wie ich bin, noch wie ich mir erscheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes Object überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahire. […] Nun will ich mich meiner aber nur als denkend bewußt werden; wie mein eigenes Selbst in der Anschauung gegeben sei, das setze ich bei Seite […]; im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist. (B 428 f.)
Dies besagt, dass ich mir meiner selbst nur als denkend bewusst bin, wobei von der Art der Anschauung abstrahiert wird. Allgemeiner gesagt: Man abstrahiert hier von allem empirisch Gegebenen, auch „von meiner empirisch bestimmten Existenz“ (B 427). 510 Das heißt, es ist irrelevant, ob das Ich hier als ein Objekt der Anschauung wirklich in der Zeit existiert; es ist hier auch davon nicht die Rede, dass das Ich als körperliches Wesen bzw. als Mensch in Raum und Zeit existiert. 511 Der Umstand, dass ich weiß, dass es beim Denken ein Ich geben muss, führt noch nicht dazu, dass ein Mannigfaltiges der Anschauung von diesem Ich gegeben werden könnte. Demnach kann das Ich als ein denkendes Subjekt, insofern es bloß denkt, „sein eigen Dasein in der Zeit dadurch nicht bestimmen“ (B 422). Auch bedeutet das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz nicht, dass ihr eine „intellektuelle Anschauung“ (B XXXIX Anm.) korrespondiert, weil „man die Möglichkeit einer solchen Art zu existiren nicht einsieht“ (B 412). Aus diesem Grund wird verständlich, weshalb Kant im § 25 der transzendentalen Deduktion der Kategorien behauptet, dass mein eigenes Dasein beim 509
510 511
AA XXIII 43. Vgl. auch Kants Formulierung in der Kritik: „Freilich ist die Vorstellung: ich bin, die das Bewußtsein ausdrückt, welches alles Denken begleiten kann, das, was unmittelbar die Existenz eines Subjects in sich schließt, aber noch keine Erkenntniß desselben, mithin auch nicht empirische, d.i. Erfahrung […].“ (B 277) Vgl. „Ich denke mich selbst zum Behuf einer möglichen Erfahrung, indem ich noch von aller wirklichen Erfahrung abstrahire […].“ (B 426) Vgl. „[E]s mag dergleichen nun existiren oder nicht.“ (A 347/ B 405) „Aber ob dieses Bewußtsein meiner selbst ohne Dinge außer mir, dadurch mir Vorstellungen gegeben werden, gar möglich sei, und ich also bloß als denkend Wesen (ohne Mensch zu sein) existiren könne, weiß ich dadurch gar nicht.“ (B 409)
232
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
„Ich denke“ schon gegeben ist, aber die Art meiner Existenz noch nicht bestimmt ist. Kants Formulierung lautet: Das: Ich denke, drückt den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen. Das Dasein ist dadurch also schon gegeben, aber die Art, wie ich es bestimmen, d.i. das mannigfaltige zu demselben Gehörige in mir setzen solle, ist dadurch noch nicht gegeben. (B 157 Anm.)
Im Paralogismus-Kapitel ist bekanntlich die Aussage „Ich denke“ einerseits als ein apriorischer Satz zu verstehen, wobei es sich um das intellektuelle Bewusstsein der logischen Existenz des Ich handelt. Jedoch lässt sich diese Aussage anderseits als ein empirischer Satz betrachten und es handelt sich dabei um eine empirische Anschauung vom Ich und das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz. Im ersteren Sinne wird das „Ich denke“ „nur problematisch genommen“ (A 347/ B 405). Im letzteren Sinne wird es empirisch genommen. 512 Nun geht es mir um das problematisch genommene „Ich denke“. Was ist aber damit gemeint? Kants Grundidee ist meines Erachtens dahingehend zu verstehen: Mit dem Wort „problematisch“ ist hier die „bloße[] Möglichkeit“ (A 347/ B 405) oder „logische Möglichkeit“ (A 75/ B 101) eines denkenden Wesens und seines Denkens gemeint. 513 Demnach ist es dabei noch nicht festgelegt, wer denkt, wann er denkt und was er denkt. Der Denkende und sein Denken leisten daher zum Inhalte der Gedanken keinen Beitrag. Diesbezüglich ist die sprachliche Ausdruckform „Ich denke, dass p“ allgemeingültig. Jedoch ist es im problematischen Satz „Ich denke“ schon festgelegt, dass jeder Gedanke einem denkenden Subjekt inhärieren muss. Das heißt, für jeden meinen Gedanken „p“ bin ich das logische Subjekt und kann sagen, dass ich „p“ denke. Somit ist das „Ich denke“ eine erfahrungsunabhängige Gedankenform oder, wie Kant sagt, „die Form eines jeden Verstandesurtheils überhaupt“ (A 348/ B 406) und „die Form der Apperception“ (A 354). In diesem Sinne bezeichnet Kant das „Ich denke“ als „transscendental“ (A 341/ B 399). Dazu schreibt Kant: Ich denke ist ein Satz a priori; ist eine bloße Categorie des Subjects, intellectuale Vorstellung ohne irgendwo und irgendwenn, also nicht empirisch. (Nachträge, AA XXIII 38)
Den Satz „Ich denke“, sofern er problematisch genommen wird, charakterisiert Kant auch als einen logischen Akt, wie er schreibt: 514 Der logische Act Ich denke (apperceptio) ist ein Urtheil (iudicium), aber noch kein Satz (propositio) und noch kein Act des Erkentnisvermögens (facultas cognoscendi) wodurch ein Object gegeben sondern nur im Allgemeinen gedacht wird. Es ist ein logischer Act der Form nach ohne Inhalt cogitans sum, me ipsum nondum cognosco noch weniger ein Vernunftschlus […]. (Op, AA XXII 95)
Dies besagt, dass das denkende Ich, von dem in diesem logischen Akt die Rede ist, lediglich „im Allgemeinen gedacht“ wird, wobei man noch nicht über das Denken hinausgeht. 515 Kein
512 513 514 515
Vgl. B 420, B 422, B 428. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem „Ich denke“ als problematisch und empirisch genommen vgl. Rosefeldt 2000, S. 20-23; Henning 2010, S. 331-356. Zum Gebrauch des Begriffs „problematisch“ vgl. A 74/ B 100, A 75/ B 101, A 254/ B 310, A 255/ B 311, A 286/ B 343, A 287/ B 343, A 339/ B 397. Vgl. B 132; B 137; B 423; Op, AA XXII 79. Vgl. „Das Urtheil ich bin denkend ist kein synthetisches d.i. nicht ein solches was über den Begrif der Vorstellung meiner selbst hinausgeht und über eine Bestimmung des Subjects hinausgeht.“ (Op, AA XXII 91)
6.1 Das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz
233
gegebenes Mannigfaltiges der Anschauung wird hier als Stoff zum Denken dargeboten. Auch wird kein reales Prädikat im bloß problematisch genommenen „Ich denke“ ausgesagt. 516 Folglich ist in dem problematisch genommenen Gedanken „Ich denke“ zwar das logische Dasein des Ich schon gegeben, aber keine empirische Anschauung von diesem Dasein bzw. keine „Wahrnehmung von einem Dasein“ (A 347/ B 405) enthalten. Hier ist bemerkenswert, dass mein eigenes Dasein deswegen „gegeben“ ist, weil alles Denken ein denkendes Wesen als sein logisches Subjekt voraussetzt. So sollte das Wort „gegeben“, von dem Kant hier spricht, nicht dahingehend verstanden werden, dass mein eigenes Dasein auf sinnliche Weise bzw. passiv in der Anschauung gegeben wäre. Es ist daher auch klar, dass das Ich, das nur über logische Existenz verfügt, nicht als Substanz bezeichnet werden darf. Denn die legitime Anwendung der schematisierten Substanzkategorie setzt eine sinnliche Anschauung voraus. Dazu schreibt Kant: „[S]o ist die Art, wie ich existire, ob als Substanz oder als Accidenz, durch dieses einfache Selbstbewusstseins gar nicht zu bestimmen möglich.“ (B 420) Das ist bekanntlich Kants Aufgabe im ersten Paralegismus (vgl. A 348-351). Wenden wir uns nun dem zweiten Argument zu. Für Kant ist die Aussage „Ich existiere“ bzw. „Ich bin“ ein analytischer Satz. Und meine Existenz bzw. mein Dasein ist schon im Gedanken „Ich denke“ analytischerweise enthalten. Damit knüpft Kant an den Cartesianischen Satz „cogito, ergo sum“ an. Was unsere Zwecke angeht, ist es hier wichtig darauf hinzuweisen, dass sich das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz auf den Gedanken „Ich denke“ zurückführen lässt, oder besser gesagt: Das „Ich denke“ bringt das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz zum Ausdruck. Was heißt das aber genau? Sehen wir uns zuerst einmal Kants Äußerungen in der berühmten Fußnote zu B 422 an: 517 Das: Ich denke, ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz und hält den Satz: Ich existire, in sich. Ich kann aber nicht sagen: alles, was denkt, existirt; denn da würde die Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu nothwendigen Wesen machen. Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satze: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafür hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existirt, vorausgehen müßte) sondern ist mit ihm identisch. (B 422 Anm.)
Bevor ich Kants Ausführungen in dieser Passage zu verdeutlichen versuche, möchte ich kurz Kants Hauptgedanken im zweiten Postulat „des empirischen Denkens überhaupt“ (vgl. A 218 ff./ B 265 ff.) in Erinnerung rufen, weil er dort davon handelt, wie die Existenz eines Dinges zu erkennen ist. Laut Kant repräsentieren die Kategorien der Modalität keine realen Eigenschaften der Dinge, sondern drücken nur „das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen“ (A 219/ B 266) aus. Existenz bzw. Dasein als eine Modalkategorie dient daher nicht dazu, innere Bestimmungen eines Dinges zu bezeichnen. Anders gesagt: Im Begriff eines Dinges ist „kein Charakter seines Daseins“ (A 225/ B 272) enthalten. Parallel dazu schreibt Kant im Kapitel über den ontologischen Gottesbeweis: Sein ist offenbar kein reales Prädicat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. (A 598/ B 626) 516 517
Vgl. „Ich bin das Object meiner eigenen Vorstellung d.i. ich bin mir meiner selbst bewust. Dieser logische Act ist noch kein Satz denn ihm mangelt das Prädicat.“ (Op, AA XXII 98) Zur Interpretation dieser Fußnote vgl. Horstmann 1993, S. 424-425; Rosefeldt 2000, S. 234-250; Wolff 2006, S. 269.
234
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
Diese Überlegung besagt, dass sich von dem Begriff eines Dinges nicht auf die Existenz dieses Dinge analytisch schließen lässt. Um die Existenz eines Dinges zu erkennen, ist vielmehr eine Wahrnehmung erforderlich. Das heißt, dass das Ding in der empirischen Anschauung gegeben werden muss. „[D]ie Wahrnehmung“, schreibt Kant, ist also „der einzige Charakter der Wirklichkeit“ (A 225/ B 273). Und Kant betont weiter: „Wo also Wahrnehmung und deren Anhang nach empirischen Gesetzen hinreicht, dahin reicht auch unsere Erkenntnis vom Dasein der Dinge.“ (A 226/ B 273) Was genauer mit der Wahrnehmung gemeint ist, interessiert uns momentan nicht. Wichtig ist uns nur darauf zu achten, dass die Existenz eines Dinges keine konstitutive Eigenschaft des Dinges ausmacht. 518 So unterscheidet sich der Begriff der Existenz von den Begriffen, die reale Eigenschaften der Dinge bezeichnen. Und nur mit Rekurs auf Wahrnehmung ist die Existenz eines Dinges beweisbar. Vor diesem Hintergrund können wir auf Kants Ausführungen in der oben zitierten Passage zurückkommen. Betrachten wir zuerst den Syllogismus, den Kant Descartes unterstellt: (P1): Alles, was denkt, existiert. (P2): Ich denke. (K): Ich existiere.
Kant hält die Konklusion für falsch, obwohl der Schluss formal gültig ist. Das liegt daran, dass der Obersatz für sich genommen eine falsche Behauptung ist. Denn wie Kant sagt, mache im Obersatz „die Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu nothwendigen Wesen“. Parallel dazu sagt er vorher im Haupttext: „[E]in jedes denkende Wesen existirt (welches zugleich absolute Nothwendigkeit und also zu viel von ihnen sagen würde) […].“ (B 420) Was ist damit gemeint? Nach der obigen Zusammenfassung der Kantischen Überlegungen im zweiten Postulat wird verständlich, dass die Eigenschaft des Denkens auf keinen Fall einen Denker in Bezug auf seine Existenz notwendig macht. Das bedeutet, dass das Denken eines Wesens die wirkliche Existenz des denkenden Wesens nicht analytischerweise impliziert. Denn laut Kant ist das Denken „diskursiv“ (A 68/ B 93). Und es lässt sich auf den Gebrauch der Begriffe reduzieren, wie Kant schreibt: „Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe.“ (A 69/ B 94). Wie gesagt, enthält kein Begriff den Charakter der Existenz eines Dinges. Um die Existenz eines Dinges zu erkennen, muss das Ding in der Anschauung gegeben und mithin wahrgenommen werden. So muss man über das bloße Denken eines Dinges hinausgehen und sich auf Anschauung berufen. Daraus geht hervor, dass die Behauptung „alles, was denkt“ die Existenz eines Denkenden nicht enthält. Da nun der Obersatz (P1) ungerechtfertigt ist, ist der Schluss falsch. Infolgedessen darf die Konklusion (K) nicht als gefolgert angesehen werden, wenn sie ihrerseits eine gütige Behauptung sein sollte. 519 Allerdings behauptet Kant in der zitierten Passage, dass der Gedanke „Ich denke“ bereits die Tatsache „Ich existiere“ enthält. Daher ist der Ausdruck „Ich existiere“ mit dem „Ich den518
519
Vgl. „Das Daseyn ist kein constitutives praedicat (determinatio), es kann also auch nicht per analysin aus dem Begrif eines Dinges Gefunden werden als zu seinem Inhalt gehörig. Also kann es aus Begriffen nicht obiectiv bewiesen werden […].“ (R 5255 AA XVIII 133) Nach Dieter Sturma scheint Kant den Cartesianischen Satz missverstanden zu haben, denn Descartes hält „cogito, ergo sum“ nicht für einen Schluss. Er schreibt: „Auch Descartes ist nicht davon ausgegangen, dass die Formel cogito ergo sum als ein Schluss im üblichen Sinne verstanden werden kann, und in den Meditationen wird diese Formel nicht einmal verwandt.“ (Sturma 1998, S. 405)
6.1 Das intellektuelle Bewusstsein meiner eigenen Existenz
235
ke“ identisch. Denn Kant bezeichnet oft einen analytischen Satz in gewissem Sinne auch als einen identischen Satz. Für Kant ist also der Cartesianische Satz „cogito, ergo sum“ tautologisch. Der Gedanke „Ich denke“ enthält schon meine eigene Existenz. Widerspricht das nicht den im letzten Absatz angegebenen Überlegungen? Die Antwort ist: Nein! Um dies zu begründen, müssen wir noch zeigen, wie die Gleichsetzung des „Ich denke“ mit dem „Ich existiere“ zu verstehen ist. Damit knüpfen wir an das Thema zum intellektuellen Bewusstsein meiner logischen Existenz an. Bei genauem Hinsehen hat Kant schon in der Fußnote, aus der die zitierte Passage stammt, einen hinreichenden Hinweis darauf gegeben, in welchem Sinne meine eigene Existenz verstanden werden sollte. Direkt im Anschluss an die oben zitierte Passage fährt Kant fort: Er [der Satz ‚Ich denke‘] […] geht aber vor der Erfahrung vorher […] und die Existenz ist hier noch keine Kategorie, als welche nicht auf ein unbestimmt gegebenes Object, sondern nur ein solches, davon man einen Begriff hat, und wovon man wissen will, ob es auch außer diesem Begriffe gesetzt sei, oder nicht, Beziehung hat. Eine unbestimmte Wahrnehmung bedeutet hier nur etwas Reales, das gegeben worden und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst (Noumenon), sondern als Etwas, was in der That existirt und in dem Satze: Ich denke, als ein solches bezeichnet wird. Denn […] vielmehr ist sie [die Vorstellung ‚Ich‘] rein intellectuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. (B 422 Anm.)
Um die für mein Thema wichtigen Informationen herauszustellen, habe ich in diesem Zitat die Formulierungen, die von dem „Ich denke“ als einem empirischen Satz handeln, ausgelassen. Nun ist es klar, dass Kant uns in dieser Passage die folgenden drei wichtigen Punkte liefert. Erstens ist die „Existenz“, um die es hier geht, keine Kategorie. 520 Wie gesagt, muss sich die Existenz als Kategorie auf die Wahrnehmung eines Dinges beziehen. D. h. wir müssen festlegen, ob das Ding, auf das die Kategorie der Existenz angewandt wird, in der Anschauung bzw. „außer diesem Begriffe“ (Begriff des Dinges) gegeben ist. Diese Kategorie ist nicht anwendbar auf „ein unbestimmt gegebenes Object“. Im Gegensatz dazu ist die Existenz, von der im Satz „Ich denke“ die Rede ist, bereits auf das Ich angewandt worden, das nicht in der Anschauung gegeben ist und das mithin unbestimmt ist. Denn Kant sagt explizit, der Gedanke „Ich denke“ gehe der Erfahrung voraus. Es ist daher auffällig, dass die Existenz hier sozusagen ein Sonderfall ist. Sie ist nichts anderes als die logische Existenz, die wir oben erläutert haben. Die folgenden zwei Punkte lassen sich als Begründungen für den ersten ansehen. Zweitens drückt der Satz „Ich denke“ „etwas Reales“ aus und es handelt sich dabei nur um das „Denken überhaupt“. Das heißt, dass sich dieses Denken hier noch nicht auf Anschauung bezieht und das Ich als ein Denkender kein Objekt der Anschauung ist. Es ist weder Erscheinung noch Ding an sich. Es ist daher nur die logische Bedingung für alle Gedanken, also das logische Ich. Da dieses Ich nur eine Forderung der Gedanken ist, besteht es nirgendwo als in seinen Gedanken. In diesem Fall kann man sagen, dass das Ich nur dann existiert, wenn Ge-
520
An anderer Stelle sagt Kant auch, dass Substanz und Ursache, wenn sie in ähnlicher Weise auf das denkende Subjekt angewandt wird, keine Kategorien bedeuten. Dazu schreibt er: „Wenn ich mich hier als Subject der Gedanken oder auch als Grund des Denkens vorstelle, so bedeuten diese Vorstellungsarten nicht die Kategorien der Substanz oder der Ursache, denn diese sind jene Functionen des Denkens (Urtheilens), schon auf unsere sinnliche Anschauung angewandt, welche freilich erfordert werden würde, wenn ich mich erkennen wollte.“ (B 429)
236
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
danken vorliegen. Aus diesem Grund sagt Kant auch, das Ich sei „Etwas, was in der That existirt“. Das Ich existiert nämlich nur in seiner Denkhandlung. 521 Drittens ist das Ich im „Ich denke“ eine intellektuelle Vorstellung. Denn das bedeutet, wie mehrmals erläutert, nichts anderes, als dass in allen Gedanken ein logisches Subjekt vorausgesetzt werden muss, um jeden Gedanken als meinen Gedanken bezeichnen zu können. Folglich kann man auch sagen, dass ein Gedanke bzw. das Denken die logische Existenz des Ich analytischerweise impliziert. Aber diese logische Existenz bedeutet nicht die Kategorie der Existenz. Aufgrund der obigen drei Punkte ist es klar, dass das „Ich denke“ mit dem „Ich existiere“ im Hinblick auf meine eigene logische Existenz gleichgesetzt werden kann. Abschließend möchte ich nur noch darauf hinweisen, dass Kant auch die Aussage „Ich existiere“ als einen analytischen Satz bezeichnet. Dazu schreibt er: 522 Erstlich das Bewustseyn meiner selbst (sum) welches logisch ist (cogito) nicht als ein Schlus (ergo sum) sondern nach der Regel der Identität (sum cogitans) in welchem Act der Vorstellung d.i. des Denkens noch keine Synthesis das Mannigfaltigen der Anschauung angetroffen wird sondern der blos ein analytisches Urtheil enthält. (Op, AA XXII 83)
Diese Behauptung ist dennoch mit Kants grundlegender Position verträglich, dass „ein jeder Existenzialsatz synthetisch sei“ (A 598/ B 626). 523 Dies kann man nach dem bisher Gesagten so verstehen: Im Satz „Ich existiere“ als analytischem Satz ist die Existenz keine Kategorie, sondern damit ist die logische Existenz des Ich als Subjekts aller Gedanken gemeint. Dabei wird die Existenz auf das Objekt des reinen Selbstbewusstseins bzw. das logische Ich angewandt. Wie schon erläutert, hat man ein intellektuelles Bewusstsein von dieser Existenz des Ich. Ganz im Gegenteil: Für alle Gegenstände der Sinne ist jeder Satz, der die Existenz dieser Gegenstände aussagt, synthetisch, wobei der Begriff der Existenz eine Modalkategorie ist. Das liegt daran, dass die Existenz als Modalkategorie kein reales Prädikat ist und dass sich die Rechtfertigung einer Existenzaussage auf eine Anschauung des Gegenstandes beziehen muss. 524 Diesen Unterschied kann man in der Kantischen Formulierung aus den Nachträgen zur Kritik deutlich sehen: 525 Ich existiere ist ein analytisch Urtheil; ein Körper existirt, ein synthetisch. (AA XXIII 21)
Zum Schluss lässt sich zusammenfassen, dass die Existenz, von der im reinen Selbstbewusstsein bzw. bei dem Gedanken „Ich denke“, sofern er problematisch genommen wird, die Rede ist, als logische Existenz verstanden werden sollte. Das heißt, im reinen Selbstbewusstsein wird das Ich „ohne die Bestimmung meines Daseyns in der Zeit“ 526 betrachtet. So wird im Satz „Ich existiere“ bzw. „Ich bin“ die schematisierte Existenzkategorie nicht auf das logi521 522 523 524 525
526
Diese Deutung wird vor allem von Horstmann vertreten. Vgl. Horstmann 1993, S. 420. Vgl. AA XXII 79, AA XXII 89. Vgl. „Alle Existenzialsätze [sind] synthetisch.“ (R 5231, AA XVIII 126) Ich kann an dieser Stelle nicht weiter untersuchen, warum ein Existenzsatz synthetisch ist. Eine ausführliche Untersuchung vgl. Rosefeldt 2011, S. 343-350. Vgl. „‚Ich bin‘: ist dieses ein analytisches oder synthetisches Urtheil? A, ein Object überhaupt existirt, ist immer ein synthetisches Urtheil, und kann nicht a priori erlangt werden: „Ich bin“ ist also kein Erkenntnis des Subjects, sondern blos das Bewustseyn der Vorstellung des Objects überhaupt.“ (AA XXIII 42-43) R 5653, AA XVIII 306.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
237
sche Ich angewandt. Und das Bewusstsein meiner eigenen Existenz ist nur ein intellektuelles Bewusstsein, wobei es sich noch nicht um ein erkennbares Ich und die Selbsterkenntnis handelt. Ich möchte letztlich eine Passage aus Kants Leningrad-Reflexion herzanziehen, um diesen Abschnitt abzuschließen: [D]urch das intellectuelle Bewußtseyn stellen wir uns selbst vor aber wir erkennen uns gar nicht weder wie wir erscheinen noch wie wir sind und der Satz: Ich bin ist kein Erfahrungssatz sondern ich lege ihn zum Grund bey jeder Warnehmung und um Erfahrung zu machen. (Er ist auch kein Erkenntnissatz). (Brandt 1987, S. 18)
6.2
Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
(a)
Fragestellung: Wie lässt sich begründen, dass ich weiß, dass ich in der Zeit existiere?
Bekanntlich spricht Kant von zwei Arten des Selbstbewusstseins: das reine und das empirische Selbstbewusstsein. Dementsprechend gibt es auch zwei Arten des Bewusstseins meiner eigenen Existenz. Wir haben im letzten Abschnitt erläutert, was das intellektuelle Bewusstsein von der logischen Existenz des Ich bedeutet. Nun möchte ich mich in diesem Abschnitt mit dem empirischen Bewusstsein der Existenz des Ich beschäftigen. Wie gesagt, impliziert das Selbstbewusstsein das Bewusstsein von der Existenz des Ich. Bin ich mir meiner selbst als eines Subjekts bewusst, das sich in meinen verschiedenen mentalen Zuständen befindet, so bin ich mir zugleich dessen bewusst, dass ich als ein Subjekt in der Zeit existiere. Aber man wirft sogleich die Frage auf: Wie ist das empirische Bewusstsein meiner eigenen in der Zeit bestimmten Existenz möglich? Anders formuliert: Wie lässt sich begründen, dass ich weiß, dass ich wirklich als ein empirisches Subjekt in einer bestimmten Zeit existiere? Wie wir schon in Abschnitt 2.3 gesehen haben, bestreitet Kant nicht, dass das Ich als ein empirisches Subjekt der Gegenstand des inneren Sinnes ist. Das heißt, in Kants Augen kann das empirische Ich als ein Objekt in der empirischen inneren Anschauung gegeben werden. Da dieses Ich in der Zeit wirklich existiert und wahrgenommen wird, lässt sich seine Existenz als empirische Existenz bezeichnen, oder wie Kant selber sagt: „meine[] empirisch bestimmte Existenz“ (B 427), „das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen“ (AA V 86), „sensibele Existenz“ (AA V 102) oder „sinnliche[] Vorstellungsart der Existenz“ (AA V 102). Das Bewusstsein von dieser Art der Existenz ist dementsprechend als das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz anzusehen, in Kants Worten: das „bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins“ (B 275) bzw. das „empirische[] Bewußtsein meines Daseins“ (B XXXIX Anm.). Dieses empirische Bewusstsein unterscheidet sich nämlich vom im letzten Abschnitt angegebenen intellektuellen Bewusstsein meiner eigenen Existenz darin, dass meine empirische Existenz hier nicht als die logische Bedingung für alle Gedanken fungiert, sondern eine empirische Tatsache bedeutet, die in einer bestimmten Zeit wirklich vorliegt. Somit kann man sagen, dass beim intellektuellen Bewusstsein meiner eigenen Existenz nur von der Spontaneität des Denkens die Rede ist, aber es sich beim empirischen Bewusstsein meiner eigenen Existenz sowohl um die Spontaneität des Denkens als auch um die Rezeptivität der Anschauung handelt.
238
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz kann man auch anhand Kants Überlegungen zum Zusammenhang von „Ich denke“ und „Ich bin“ deutlich machen. Wie im letzten Abschnitt erwähnt, lässt sich für Kant die Aussage „Ich denke“ in zweifacher Hinsicht verstehen: Das „Ich denke“ wird als problematisch und als empirisch genommen. Was die erstere Hinsicht angeht, haben wir bereits gezeigt, dass meine eigene Existenz bzw. „Ich bin“ schon im Gedanken „Ich denke“ analytischerweise enthalten ist, weil es sich dabei nur darum handelt, dass alle Gedanken das Ich als ihr logisches Subjekt voraussetzen. Nun geht Kant, was die letztere Hinsicht anlangt, davon aus, dass der Satz „Ich denke“ auch als empirischer Satz betrachtet werden kann. Dazu schreibt er im Paralogismus-Kapitel: 527 Der Satz: Ich denke, oder: Ich existire denkend, ist ein empirischer Satz. Einem solchen aber liegt empirische Anschauung, folglich auch das gedachte Object als Erscheinung zum Grunde […]. (B 428)
Dies besagt, dass sich die Aussage „Ich denke“ im empirischen Sinne auf meine eigene Existenz bezieht. Denn es heißt nichts anderes, als dass ich zugleich in einer bestimmten Zeit wirklich existiere, wenn ich an irgendetwas denke. Dabei habe ich von mir selbst eine empirische Anschauung, weil die „Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört, diesem Existentialsatz zum Grunde liege“ (B 422 Anm.). So bin ich nicht nur ein Objekt des Denkens bzw. „ein Gegenstand des Verstandes“ 528, sondern auch „ein Sinnenobject“ 529. Demnach existiert das empirische Ich als Erscheinung in der Zeit. Diesbezüglich spricht Kant auch davon, dass ich eine „inner[e] Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit“ 530 habe. Diese Kantische Konzeption zeigt sich besonders deutlich in der folgenden Passage: Der Satz aber: Ich denke, so fern er so viel sagt, als: Ich existire denkend, ist nicht bloße logische Function, sondern bestimmt das Subject (welches dann zugleich Object ist) in Ansehung der Existenz und kann ohne den inneren Sinn nicht stattfinden, dessen Anschauung jederzeit das Object nicht als Ding an sich selbst, sondern bloß als Erscheinung an die Hand giebt. In ihm ist also schon nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens, sondern auch Receptivität der Anschauung, d.i. das Denken meiner selbst auf die empirische Anschauung eben desselben Subjects angewandt. (B 429 f.)
Hier weist Kant ausdrücklich darauf hin, dass der innere Sinn mitwirken muss, wenn es sich um „die Bestimmbarkeit meines Daseins bloß in Ansehung meiner Vorstellungen in der Zeit“ (B 420) handelt. Das heißt, dass ich mich selbst als ein Objekt bestimme, das in der Zeit wirklich existiert. Dies nimmt offenbar in Anspruch, dass die Spontaneität des Denkens und die Rezeptivität der Anschauung in Verbindung stehen. Also ist es klar, dass meine in der Zeit bestimmte empirische Existenz von der sogenannten logischen Existenz des Subjekts abzugrenzen ist. Um die erstere nachzuweisen, muss man mehrere Bedingungen erfüllen. Mit diesen Überlegungen zur empirischen Existenz des Ich kommen wir noch einmal auf die oben aufgeworfene Frage zurück: Wie ist eigentlich das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz in einer bestimmten Zeit möglich? D. h. kann ich unmittelbar durch meine 527 528
529 530
Vgl. A 342/ B 400, A 346/ B 404, B 420, B 421, B 422. Vgl. „Ich bin mir meiner selbst bewust (apperceptio). Ich denke d.i. ich bin mir selbst ein Gegenstand des Verstandes. Aber ich bin mir auch ein Gegenstand der Sinne und der empirischen Anschauung (apprehensio)“ (Op, AA XXII 119) Op, AA XXII 105. Vgl. „Ich bin mir meiner selbst als denkenden Subjects Ich bin mir meiner selbst als Objects der Anschauung || bewust|.“ (Op, AA XXII 22) Prolegomena, AA IV 336.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
239
Gedanken feststellen, dass ich als ein empirisches Subjekt in der Zeit existiere? Wenn nicht, worauf muss ich mich berufen? Es ist bekannt, dass Kant in seiner theoretischen Philosophie nicht auf die Theorien des empirischen Selbstbewusstseins Wert legt. Ebenso wenig spielt das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz für das Projekt der Kritik eine Rolle. Allerdings finden sich, soweit ich sehe, in der Kritik zwei Textstücke, in denen man Antwort auf die obigen Fragen finden kann: „der vierte Paralogismus“ in der ersten Auflage und die „Widerlegung des Idealismus“ in der zweiten Auflage. Damit möchte ich im Folgenden versuchen, anhand Kants Ausführungen in diesen Textstücken die oben aufgeworfene Ausgangsfrage zu beantworten: Wie lässt sich begründen, dass ich weiß, dass ich in der Zeit existiere? (b)
Antwort aus dem vierten Paralogismus von 1781
Kants vierter Paralogismus von 1781 hat die Aufgabe, die Wirklichkeit der Gegenstände des äußeren Sinnes nachzuweisen und mithin durch den transzendentalen Idealismus den Außenweltskeptizismus zu widerlegen. 531 In seiner Darstellung dieses Projekts kann man eine Antwort auf die obige Frage finden. Ich möchte diese Antwort durch folgende These formulieren: Wir können uns unserer eigenen Existenz in der Zeit unmittelbar bewusst werden, d. h. innere Erfahrung hat unmittelbare Gewissheit. Bevor ich anhand Kants Ausführungen für diese These argumentiere, möchte ich Kants Grundidee des vierten Paralogismus kurz darstellen. Im vierten Paralogismus geht es um Kants Kritik an der Behauptung über die Idealität der äußeren Gegenstände. Genauer gesagt: Kant will die rationalpsychologische Behauptung über das Verhältnis des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit der Gegenstände im Raum zurückweisen. So nennt Kant den Vernunftschluss, der den Zweifel an dieser Wirklichkeit zur Folge hat, den Paralogismus der Idealität bzw. des äußeren Verhältnisses. Er lautet: Dasjenige, auf dessen Dasein nur als einer Ursache zu gegebenen Wahrnehmungen geschlossen werden kann, hat eine nur zweifelhafte Existenz. Nun sind alle äußere Erscheinungen von der Art, daß ihr Dasein nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern auf sie als die Ursache gegebener Wahrnehmungen allein geschlossen werden kann: Also ist das Dasein aller Gegenstände äußerer Sinne zweifelhaft. Diese Ungewißheit nenne ich die Idealität äußerer Erscheinungen, und die Lehre dieser Idealität heißt der Idealism, in Vergleichung mit welchem die Behauptung einer möglichen Gewißheit von Gegenständen äußerer Sinne der Dualism genannt wird. (A 366367)
Kant zufolge besteht der Grundfehler dieses Vernunftschlusses darin, dass der Mittelbegriff zweideutig ist. Das heißt, dass der Mittelbegriff im Obersatz und im Untersatz jeweils verschiedene Bedeutungen hat, insofern der Obersatz und der Untersatz als richtige Prämissen in einem Vernunftschluss gelten. So enthält dieser Vernunftschluss der Sache nach vier Begriffe („quaternio terminorum“) und ist nichts anderes als „sophisma figurae dictionis“ (B 411). Nach Kants Ausführungen kann man die Zweideutigkeit des Mittelbegriffs so verstehen: Der Mittelbegriff des Obersatzes – „Dasjenige, auf dessen Dasein nur als einer Ursache zu gegebenen Wahrnehmungen geschlossen werden kann“ – muss in dem Sinne verstanden werden, dass wir es nur mit Erscheinungen zu tun haben, und dass die Dinge an sich, die ihnen 531
Zu Kants Änderung der Gedanken vgl. Rosefeldt 2013, S. 221-260.
240
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
zugrunde liegen, unerkennbar sind. Somit gilt die Rede davon, dass wir von gegebenen Wahrnehmungen als Wirkungen auf das Dasein der ihnen entsprechenden Dinge als Ursachen schließen, nur für Erscheinungen. Aber der Mittelbegriff des Untersatzes – „von der Art, daß ihr Dasein nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern auf sie als die Ursache gegebener Wahrnehmungen allein geschlossen werden kann“ – ist im transzendentalen Sinne zu verstehen. Denn für Kant ist es ganz naheliegend: Da äußere Erscheinungen, insofern sie als „im transzendentalen Verstande außer uns“ (A 372) betrachtet werden, gar nicht „in uns“ sind oder ohne Beziehung auf unsere Sinne stehen, können wir sie natürlich nicht unmittelbar wahrnehmen. Somit fungieren sie nur als „ein uns unbekannter Grund“ (A 380) aller erkennbaren Erscheinungen. Aufgrund dieser Zweideutigkeit des Mittelbegriffs in beiden Prämissen kann man sagen, dass die Konklusion auf einem Fehlschluss beruht. Daher bringt der vierte Paralogismus nur einen „trüglichen Scheine“ (A 369) zum Ausdruck. Den wesentlichen Fehler kann man so zusammenfassen, dass der Begriff des Daseins der Gegenstände im Obersatz und im Untersatz jeweils im empirischen und im transzendentalen Sinne gebraucht wird. 532 Aus der Analyse des Fehlschlusses zieht Kant die Konsequenz, dass die Behauptung des Außenweltskeptizismus unhaltbar ist. Kants positive Position ist, dass wir die materiellen Gegenstände im Raum unmittelbar wahrnehmen können und also von ihrer Existenz unmittelbare Gewissheit haben. Bekanntlich hat Kants Text des vierten Paralogismus zahlreiche interessante Inhalte. Ich kann hier Kants Projekt nicht weiter untersuchen. 533 Vielmehr möchte ich vor diesem Hintergrund die oben aufgestellte These begründen: Warum ist Kant im Jahre 1781 der Meinung, dass wir uns der Existenz unserer selbst als denkende Wesen in der Zeit unmittelbar bewusst werden können? In Kants Ausführungen des vierten Paralogismus vertritt er die Auffassung: Wie wir uns aller unseren Vorstellungen unmittelbar bewusst werden können, sind wir auch in der Lage, äußere Erscheinungen bzw. materielle Gegenstände im Raum unmittelbar wahrzunehmen. Demnach darf die Existenz der Gegenstände des äußeren Sinnes nicht als geschlossen angesehen werden, sondern wir haben von dieser Existenz unmittelbare Gewissheit. Zu dieser Überlegung findet man in der 1782 anonym erschienenen Göttinger Rezension 534 eine interessante Bemerkung. Die Rezensenten schreiben: So wäre also der gemeine oder, wie ihn der Verf. nennt, der empirische Idealismus entkräftet, nicht durch die bewiesene Existenz der Körper, sondern durch den verschwundenen Vorzug, den die Überzeugung von unserer eigenen Existenz vor jener haben sollte. (Garve/ Feder 2001, S. 185)
Es ist hier leicht zu sehen, dass die Rezensenten nicht glaubten, dass es Kant gelungen war, den empirischen Idealismus zurückzuweisen. Genauer gesagt: Nach ihnen hatte Kant die Existenz der Körper nicht bewiesen, sondern er setzte die Überzeugung von der Existenz der Körper mit der Überzeugung von der Existenz unseres denkenden Subjekts gleich. Somit ist 532
533 534
Eine andere Lesart für die Zweideutigkeit des Mittelbegriffs geht von der Kantischen Überlegung aus: Der Ausdruck „außer uns“ führt eine nicht zu vermeidende Zweideutigkeit bei sich (vgl. A 373). Vgl. Klemme 1996, S. 339-361. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem vierten Paralogismus vgl. Kalter 1975, S. 138-142. Die Rezension erschien anonym im Jahre 1782 in der Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Nachher wurde erwiesen, dass die Rezensenten Garve und Feder waren. Vgl. Garve/ Feder 2001, S. 183-190.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
241
der Vorzug, den wir vom Gegenstand des inneren Sinnes haben, verschwunden. Und etwas einfacher gesagt vertritt Kant schließlich die Ansicht, dass wir sowohl von unserer eigenen Existenz als auch von der Existenz der materiellen Dinge im Raum unmittelbare Gewissheit haben. Ob die Bemerkung der Rezensenten über Kants vierten Paralogismus zutrifft, ist hier nicht mein Thema. Und inwiefern Kants Argument für die unmittelbare Gewissheit von der Existenz der äußeren Gegenstände plausibel ist, möchte ich nun auch nicht thematisieren. Vielmehr ist es für meine Zwecke sinnvoller, der Frage nach der unmittelbaren Gewissheit von der Existenz unserer selbst als denkenden Wesen nachzugehen. Es ist bereits klar geworden, dass die genannten Psychologen bzw. die empirischen Idealisten schon die unmittelbare Gewissheit vom Gegenstand des inneren Sinnes zugestanden haben. Sie gehen nämlich davon aus, dass unsere eigene Existenz das einzige ist, was man allenfalls nicht bezweifeln kann. Was sie in Zweifel ziehen, ist nur die Existenz der äußeren Gegenstände. Dafür spricht die folgende Passage: Wir können mit Recht behaupten, daß nur dasjenige, was in uns selbst ist, unmittelbar wahrgenommen werden könne, und daß meine eigene Existenz allein der Gegenstand einer bloßen Wahrnehmung sein könne. (A 367)
In der Tat hat Kant bereits in der transzendentalen Ästhetik davon gesprochen, dass der traditionelle Idealismus die Existenz des Gegenstandes des inneren Sinnes nicht bezweifelt, wo er schreibt: Die absolute Realität des Raumes hofften sie nicht apodiktisch darthun zu können, weil ihnen der Idealismus entgegensteht, nach welchem die Wirklichkeit äußerer Gegenstände keines strengen Beweises fähig ist: dagegen die des Gegenstandes unserer innern Sinnen (meiner selbst und meines Zustandes) unmittelbar durchs Bewußtsein klar ist. Jene konnten ein bloßer Schein sein, dieser aber ist ihrer Meinung nach unleugbar etwas Wirkliches. (A 38/ B 55)
Nach Kants Ausführungen in dieser Passage ist der traditionelle Idealismus der Meinung, dass wir uns der Wirklichkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes unmittelbar klarerweise bewusst sind. Demnach ist ohne Zweifel der Gegenstand des inneren Sinnes („mein[] selbst und mein[] Zustand[]“) „unleugbar etwas Wirkliches“. Das bedeutet, dass für die traditionellen Idealisten die Existenz eines denkenden Wesens eine zweifellose Tatsache ist und wir um diese Existenz unmittelbar wissen können. Diese grundlegende Position der traditionellen Idealisten hat Kant noch einmal in den Prolegomena von 1783 herausgestellt. Dort schreibt er: Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrige Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der That kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand correspondirte. (AA IV 288 f.)
Dieses Zitat deutet darauf hin, dass Kant die oben genannte Behauptung des traditionellen Idealismus nicht bestreitet. Und wenn man sich die Texte des vierten Paralogismus etwas genauer ansieht, ist es auffällig, dass Kant diese Behauptung sogar mehrmals erwähnt. Er scheint sie anzuerkennen oder mindestens stillschweigend zu akzeptieren. Um das Ziel der Begründung der Wirklichkeit der materiellen Gegenstände im Raum zu erreichen, scheint Kant auch diese Behauptung als seinen Ausgangspunkt zu betrachten. Das heißt, dass man als ein transzendentaler Idealist die Existenz der Materie einräumt, „ohne aus dem bloßen Selbst-
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6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
bewußtsein hinauszugehen und etwas mehr als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum anzunehmen“ (A 370). Nun stellt sich die Frage: Wie kann man ein Argument aus Kants Sicht rekonstruieren, wenn er tatsächlich die These vertritt, dass wir uns der Existenz unserer selbst als denkender Wesen unmittelbar bewusst werden können? Eine Antwort auf dieser Frage besteht in dem Umstand, dass Kant in der ersten Auflage des Paralogismus-Kapitels, insbesondere im vierten Paralogismus, an dem sogenannten empirischen Dualismus und transzendentalen Monismus festhält. 535 Kants Konzeption kann man so verstehen: Unter dem Gesichtspunkt der Erscheinung kann man zwischen dem empirischen Ich als unkörperlichem Wesen einerseits und den äußeren Dingen als ausgedehnten Wesen andererseits sinnvollerweise unterscheiden. Das bedeutet, dass das empirische Ich als „ein [empirischer] innerer Gegenstand […] lediglich im Zeitverhältnisse vorgestellt wird“ (A 373). So ist es keine Materie. „[E]in [empirischer] äußerer [Gegenstand]“ (A 373) hingegen kann sowohl im Raum als auch in der Zeit vorgestellt werden. Somit unterscheidet sich dieser Gegenstand als Materie vom denkenden Wesen. Kurz gesagt: Es ist sinnvoll und auch nötig, zwischen der inneren Erscheinung und den äußeren Erscheinungen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung nennt Kant empirischen Dualismus. Dies macht er in der folgenden Passage sehr deutlich: Frägt man nun, ob denn diesem zu Folge der Dualism allein in der Seelenlehre statt finde, so ist die Antwort: Allerdings! aber nur im empirischen Verstande; d.i. in dem Zusammenhange der Erfahrung ist wirklich Materie als Substanz in der Erscheinung dem äußeren Sinne, so wie das denkende Ich, gleichfalls als Substanz in der Erscheinung, vor dem inneren Sinne gegeben; und nach den Regeln, welche diese Kategorie in den Zusammenhang unserer äußeren sowohl als inneren Wahrnehmungen zu einer Erfahrung hineinbringt, müssen auch beiderseits Erscheinungen unter sich verknüpft werden. (A 379)
Kants empirischer Dualismus oder, wie er selber sagt, „der Dualism […] im empirischen Verstande“ beruht offenbar auf seiner Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich. D. h. wenn es um die erkennbaren Erscheinungen geht, sind wir dazu berechtigt, sowohl von der „Materie als Substanz in der Erscheinung“ als auch von dem „denkende[n] Ich […] als Substanz in der Erscheinung“ zu sprechen, wobei die äußeren Sinne und der innere Sinn jeweils für diese zwei Arten der Erscheinung verantwortlich sind. Auch lässt Kant in der Tat zu, dass man ihn als einen Dualist bezeichnet: „Der transscendentale Idealist kann hingegen ein empirischer Realist, mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist sein.“ (A 370) Also erkennt Kants empirischer Dualismus sowohl das empirische reale Ich als auch empirische reale Gegenstände im Raum an. Aber Kant ist auch der Meinung, dass man nicht einen Schritt weiter gehen darf. Das heißt, es ist nicht mehr sinnvoll, zwischen dem denkenden Ich und den körperlichen Dingen zu unterscheiden, wenn es sich dabei um die Dinge an sich selbst handelt. Anders gesagt: Wir können zwischen dem, was den äußeren Erscheinungen zugrunde liegt, und dem, was den inneren Erscheinungen zugrunde liegt, nicht sinnvollerweise unterscheiden. So darf man nicht sagen, es gebe ein denkendes Wesen an sich, das sich von den Dingen, wie sich an sich selbst beschaffen sind, unterscheide (vgl. A 358 f.). Diese Theorie lässt sich als transzendentaler Monismus bezeichnen. Dazu schreibt Kant:
535
Michael Wolff vertritt diese Auffassung. Vgl. Wolff 2006, S. 265-275.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
243
Wollte man aber den Begriff des Dualismus, wie es gewöhnlich geschieht, erweitern und ihn im transscendentalen Verstande nehmen, so hätten weder er, noch der ihm entgegengesetzte Pneumatismus einerseits, oder der Materialismus andererseits nicht den mindesten Grund, indem man alsdann die Bestimmung seiner Begriffe verfehlte und die Verschiedenheit der Vorstellungsart von Gegenständen, die uns nach dem, was sie an sich sind, unbekannt bleiben, für eine Verschiedenheit dieser Dinge selbst hält. (A 379)
In dieser Passage weist Kant explizit darauf hin, dass sein Dualismus nicht „im transscendentalen Verstande“ gedeutet werden darf. Dies impliziert, dass seinem empirischen Dualismus nicht der transzendentale Dualismus, sondern der transzendentale Monismus entspricht. Denn der transzendentale Dualismus ist der Meinung, dass es sowohl ein denkendes Wesen an sich als auch die Materie an sich gibt, in Kants Worten, „beide, als vor sich existierende Dinge“ (A 380). Für Kant ist dieser gewöhnliche transzendentale Dualismus deswegen unzulässig, weil wir nicht dazu berechtigt sind, „die Verschiedenheit der Vorstellungsart von Gegenständen, die uns nach dem, was sie an sich sind, unbekannt bleiben, für eine Verschiedenheit dieser Dinge selbst“ zu halten. Kurz gesagt: Man darf Erscheinungen mit Dingen an sich selbst nicht verwechseln und auch nicht annehmen, dass die Verschiedenheit, die im Bereich der möglichen Erfahrung gültig ist, entsprechend im Bereich der Dinge an sich vorhanden ist. Somit ist die Unterscheidung zwischen unkörperlichem Wesen und körperlichen Dingen im transzendentalen Sinne nicht erlaubt oder, besser gesagt, sinnlos. Darüber hinaus macht Kant in der oben zitierten Passage darauf aufmerksam, dass sich sein transzendentaler Monismus, der mit seinem empirischen Dualismus vereinbar ist, vom traditionellen Monismus abgrenzt, nämlich vom „Pneumatismus“ („Spiritualismus“) und vom „Materialismus“. Denn beide nehmen „Erscheinungen vor Dinge an sich selbst“ (A 380), so gesteht jener „einzig und allein Materie“, dieser „bloß denkende Wesen“ zu. Also sind der transzendentale Dualismus und diese zwei ihm entgegengesetzten Arten vom traditionellen Monismus in Kants Augen unberechtigt. Im Anschluss an die soeben zitierte Passage fährt Kant fort: Ich, durch den innern Sinn in der Zeit vorgestellt, und Gegenstände im Raume außer mir sind zwar specifisch ganz unterschiedene Erscheinungen, aber dadurch werden sie nicht als verschiedene Dinge gedacht. Das transscendentale Object, welches den äußeren Erscheinungen, imgleichen das, was der innern Anschauung zum Grunde liegt, ist weder Materie, noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als zweiten Art an die Hand geben. (A 379 f.)
Diese wohlbekannte Textstelle gilt als der stärkste Beleg dafür, dass Kant den empirischen Dualismus und den transzendentalen Monismus vertritt. Kants Ausführungen zufolge liegt das transzendentale Objekt zwar allen Erscheinungen zugrunde, aber damit ist nichts anderes gemeint als „ein uns unbekannter Grund“. Dennoch verfügen wir über zwei empirische Begriffe, nämlich den empirischen Begriff der Materie und den empirischen Begriff des denkenden Wesens. Geht man von dieser Konzeption Kants aus, so ist die unmittelbare Gewissheit von der Existenz meiner selbst als eines denkenden Wesens sehr verständlich. Und die traditionelle Überlegung, dass „der Gegenstand des inneren Sinnes (Ich selbst mit allen meinen Vorstellungen) unmittelbar wahrgenommen wird, und die Existenz desselben gar keinen Zweifel leidet“ (A 368), lässt sich also aus Kants Sicht durch einen neuen Umstand erklären. Dieser
244
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
Umstand besteht, kurz gesagt, darin, dass es sich bei der Existenz eines denkenden Wesens nicht mehr um das denkendes Wesen im transzendentalen Sinne, sondern im empirischen Sinne handelt. Von diesem empirischen Ich hat man „innere Wahrnehmungen“ (vgl. A 378, A 379). D. h. das empirische Ich kann als ein wirklicher Gegenstand des inneren Sinnes betrachtet werden. So sind wir uns der Wirklichkeit unserer selbst in der Zeit unmittelbar bewusst. Da dieses wirklich in der Zeit existierende Wesen unkörperlich ist, unterscheidet es sich von aller Materie, die im Raum ebenfalls wirklich existiert. Die Existenz dieses empirischen Ich ist deswegen unanzweifelbar, weil es uns zum einen nicht um das sogenannte denkende Wesen an sich geht, zum anderen wir uns bloß auf innere Erfahrung einschränken. Somit unterscheidet sich die Existenz des empirischen Ich, von der in Kants empirischem Dualismus die Rede ist, im Wesentlichen von der im traditionellen Idealismus dargestellten Existenz eines denkenden Wesens. Denn diesem letzten Idealismus zufolge existiert sogar dieses denkende Wesen außerhalb des Lebens. Kants positive Position über die unmittelbare Gewissheit von der Existenz des empirischen Ich zeigt sich insbesondere in der folgenden Passage: Also existiren eben sowohl äußere Dinge, als ich selbst existire, und zwar beide auf das unmittelbare Zeugniß meines Selbstbewußtseins, nur mit dem Unterschiede, daß die Vorstellung meiner selbst als des denkenden Subjects blos auf den innern, die Vorstellungen aber, welche ausgedehnte Wesen bezeichnen, auch auf den äußern Sinn bezogen werden. Ich habe in Absicht auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände eben so wenig nöthig zu schließen, als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegenstandes meines innern Sinnes (meiner Gedanken); denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) zugleich ein genugsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist. (A 370 f.)
Die soeben angegebene unmittelbare Gewissheit von der Existenz des empirischen Ich zeigt sich auch ausdrücklich in § 49 der Prolegomena von 1783. Dieser Paragraph ist thematisch direkt auf den vierten Paralogismus von 1781 gerichtet. So lautet Kants Grundthese: Genauso wie „der Gegenstand des innern Sinnes, die Seele, wirklich in der Zeit ist“ (AA IV 337), seien die materiellen Gegenstände im Raum auch wirklich. Damit wird, so Kant, der „materiale Idealismus“ durch seinen „formale[n] Idealismus“ (ebd.) erfolgreich beseitigt. Anders gesagt: Die Frage, „ob die Körper (als Erscheinungen des äußern Sinnes) außer meinen Gedanken als Körper existieren“ (ebd.), und die Frage, „ob ich selbst als Erscheinung des innern Sinnes (Seele nach der empirischen Psychologie) außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existiere“ (ebd.), müssen beide verneint werden. Wenn man sich Kants Ausführungen in diesem Paragraphen etwas genauer ansieht, ist es leicht zu finden, dass Kant noch an seinem empirischen Dualismus festhält; d. h. er stellt der Existenz der Seele als Gegenstand des inneren Sinnes die Existenz der Gegenstände des äußeren Sinnes gegenüber, und die Wirklichkeit von beiden können wir unmittelbar wahrnehmen. Dazu schreibt Kant: Empirisch außer mir ist das, was im Raume angeschaut wird; und da dieser sammt allen Erscheinungen, die er enthält, zu den Vorstellungen gehört, deren Verknüpfung nach Erfahrungsgesetzen eben sowohl ihre objective Wahrheit beweiset, als die Verknüpfung der Erscheinungen des innern Sinnes die Wirklichkeit meiner Seele (als eines Gegenstandes des innern Sinnes), so bin ich mir vermittelst der äußern Erfahrung eben sowohl der Wirklichkeit der Körper als äußerer Erscheinungen im Raume, wie vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit bewußt, die ich auch nur als einen Gegenstand des innern Sinnes durch Erscheinungen, die einen innern Zustand ausmachen, erkennen kann, und wovon mir das Wesen an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegt, unbekannt ist. (Prolegomena, AA IV 336)
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
245
Diese Passage besagt, dass Kant die Gewissheit von der Existenz des denkenden Wesens ganz und gar aus der Sicht seines empirischen Dualismus versteht. Ihm zufolge können wir durch die Verknüpfung der Erscheinungen des inneren Sinnes die Wirklichkeit meiner Seele beweisen. Auch sind wir uns „vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit bewußt“. Aber mit der Seele ist hier nur der Gegenstand des inneren Sinnes als Erscheinung gemeint, nicht „das Wesen an sich selbst“. In Analogie zu dieser Überlegung ist die Wirklichkeit der Gegenstände des äußeren Sinnes zu beweisen, wobei es aber um die äußere Erfahrung geht. Wie die sogenannte innere Erfahrung möglich ist, werde ich anhand Kants Widerlegung des Idealismus im nächsten Teil thematisieren. Aus den obigen Überlegungen kann im Hinblick auf das Bewusstsein meiner Existenz, folgendes Resümee gezogen werden: Stellt man Kant im Jahre 1781 die Frage, wie ich wissen kann, dass ich als ein empirisches Subjekt in der Zeit wirklich existiere, so würde Kant antworten: Solange ich mich als Erscheinung betrachte, d. h. solange ich mich nicht als ein denkendes Wesen an sich selbst betrachte, kann ich mit Hilfe des inneren Sinnes und ohne Berufung auf äußere Gegenstände bzw. meinen Körper meine eigene Existenz in der Zeit unmittelbar wahrnehmen. (c)
Antwort aus der Widerlegung des Idealismus von 1787
Wir sind offenbar mit der obigen Antwort nicht zufrieden. Sie ist zu billig zu haben. Denn man könnte vielleicht sagen, dass Kant nur eine Auskunft darüber gibt, welche einschränkenden Bedingungen ich beim empirischen Bewusstsein meiner eigenen Existenz erfüllen muss. Man könnte auch weitere Fragen aufwerfen: Wie ist meine eigene Existenz als in der Zeit bestimmt möglich? Bin ich auch von einer von mir unterschiedenen räumlichen Welt abhängig, um mir meiner eigenen Existenz bewusst werden zu können? Wie kann ich zwischen meiner wirklichen Existenz und der Existenz im Traum bzw. im Wahnsinn unterscheiden? Auf diese Fragen erwarten wir von Kant eine Antwort, und tatsächlich hat er dazu nicht geschwiegen. In seiner „eigentliche[n] Vermehrung“ (B XXXIX Anm.) der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft findet man Kants Antwort auf die obigen Fragen. Damit ist es nötig, über Kants vierten Paralogismus von 1781 hinauszugehen und seiner Konzeption vom empirischen Bewusstsein meiner eigenen Existenz im Rahmen der Widerlegung des Idealismus von 1787 Rechnung zu tragen. Bekanntlich war Kant im Jahre 1782, nachdem er „die Göttinger Rezension“ von Garve/ Feder gelesen hatte, sehr empört. Denn sein transzendentaler Idealismus in der ersten Auflage der Kritik wurde als „ein System des höhern […] Idealismus“, der „Geist und Materie auf gleiche Weise umfaßt, die Welt und uns selbst in Vorstellungen verwandelt“ 536, missverstanden. Und sein Idealismus wurde als Berkeleys Idealismus ähnlich angesehen. 537 Um auf diesen Vorwurf zu reagieren, hat Kant nicht nur in den Prolegomena von 1783 einen Anhang geschrieben, sondern auch in der zweiten Auflage der Kritik (1787) direkt nach dem zweiten „Postulat des empirischen Denkens überhaupt“ einen ganz neuen Text „Widerlegung des Ide536 537
Garve/ Feder 2001, S. 183. Vgl. Garve/ Feder 2001, S. 184.
246
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
alismus“ (B 274 ff.) hinzugefügt. Dieses Textstück hat zwar das gleiche Thema wie der vierte Paralogismus von 1781, aber Kant verzichtet auf die Verfahrensweise im vierten Paralogismus. Er bedient sich nämlich nicht mehr der Ergebnisse der transzendentalen Ästhetik und beruft sich auch nicht auf den transzendentalen Idealismus, um den traditionellen Idealismus zu entkräften. Sondern er geht in der neuen „Widerlegung“ unmittelbar von der Cartesianischen Position aus, um zugleich diese Art des Idealismus („problematischen Idealismus“) durch eine neue „Beweisart“ (B XXXIX Anm.) bzw. einen „indirekten Beweis“ 538 zu widerlegen. In diesem neuen Verfahren vertritt Kant bekanntlich die Ansicht, dass „selbst unsere innere dem Cartesius unbezweifelte Erfahrung nur unter Voraussetzung äußerer Erfahrung möglich sei“ (B 275). Seine Absicht ist es, durch Erläuterungen dieser Voraussetzung die Existenz der materiellen Gegenstände im Raum zu beweisen und mithin den problematischen Idealismus von Descartes zurückzuweisen. Ich möchte hier nicht Kants ganzes Projekt über die Widerlegung des Idealismus untersuchen. Vielmehr geht es mir nur darum, die oben besprochene Ausgangsfrage zu beantworten, wie sich philosophisch begründen lässt, dass wir uns unserer eigenen Existenz als in der Zeit empirisch bestimmt bewusst werden können. Diese Frage kann man nun aufgrund von der Kantischen Position in der „Widerlegung“ so beantworten: Wir können nur dann wissen, dass wir als denkende Wesen in einer bestimmten Zeit existieren, wenn wir wissen, dass es von uns unterschiedene materielle Gegenstände im Raum gibt und wir als körperliche Wesen in Relation mit diesen Gegenständen stehen. Mit anderen Worten: Das empirische Bewusstsein unserer eigenen in der Zeit bestimmten Existenz ist nur dann möglich, wenn wir ein Bewusstsein davon haben, dass wir als Menschen in der physikalischen Welt existieren. Diese Antwort kann man auch, in Kants Worten, durch folgende These formulieren: „Das bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins“ (B 275) ist nur durch „ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir“ (B 276) möglich. Im Folgenden möchte ich zunächst kurz Kants Projekt der „Widerlegung“ darstellen. Dann werde ich meine Begründung für die Antwort in vier Schritten entwickeln. i) Kants Projekt der Widerlegung des Idealismus Ich fange mit einem Überblick über die „Widerlegung des Idealismus“ an. Mit diesem Textstück knüpft Kant an das „Postulat der Wirklichkeit“ an und geht davon aus, dass erst hier – nach dem zweiten Postulat – die „rechte[] Stelle“ (B 274) ist, den Idealismus, der „[e]inen mächtigen Einwurf“ (B 274) gegen die Wirklichkeit der Dinge ausmacht, zurückzuweisen. Wie Kant in der B-Vorrede zu der Kritik angekündigt hat, ist der Beweis, den er in der „Widerlegung des Idealismus“ vornimmt, ein „einzig mögliche[r] Beweis von der objectiven Realität der äußeren Anschauung“ (B XXXIX Anm.). 539 Dies zeigt sich in Kants Rede davon, dass das Widerlegen des Idealismus nicht anders geschehen kann, als indem man zeigt, dass die innere Erfahrung die äußere voraussetzt. 540 Der Text der „Widerlegung“ enthält eine deutliche Struktur: eine Einführung, einen Lehrsatz, einen Beweis und drei Anmerkungen. 538 539 540
Vgl. Förster 1985, S. 294; 1988, S. 130. Vgl. R 5653, AA XVIII 308. Vgl. B 275; R 6311, AA XVIII 610.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
247
In der Einleitung (B 274-275) unterscheidet Kant zwischen dem problematischen und dem dogmatischen Idealismus. Sie stehen als zwei Varianten des materialen Idealismus Kants formalem Idealismus entgegen. 541 Der problematische oder skeptische Idealismus (vgl. A 377) von Descartes ist der Meinung, dass wir nicht in der Lage sind, die Existenz äußerer Gegenstände mit Sicherheit auf unmittelbare Weise zu beweisen. Das heißt, dass „das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns“ (B 275) in der Tat zweifelhaft ist. Da dieser Idealismus die Existenz äußerer Gegenstände nicht leugnet, sondern nur in Zweifel zieht, ist er „vernünftig und einer gründlichen philosophischen Denkungsart gemäß“ (B 275). So bezeichnet Kant ihn als einen „Wohltäter der menschlichen Vernunft“ (A 377), denn er erteilt uns eine Warnung, dass die Existenz äußerer Gegenstände ohne „hinreichende[n] Beweis“ (B 275) nicht für selberverständlich und zweifellos gehalten werden soll. Der dogmatische Idealismus von Berkeley vertritt die Auffassung, dass der Raum und die Dinge im Raum „bloße Einbildungen“ (B 274) sind. Das heißt, dass die sogenannten äußeren Gegenstände nur als Wahrnehmungen bzw. Vorstellungen in uns existieren. 542 So ergeben sich laut Berkeley „Widersprüche“ (A 377), wenn man behauptet, dass die Dinge außer uns existieren. 543 Also leugnet der dogmatische Idealismus die Existenz äußerer Gegenstände. Allerdings stimmen beide Varianten des materialen Idealismus miteinander darin überein, dass das denkende Wesen unbezweifelbar ist. Was das Projekt in der „Widerlegung des Idealismus“ angeht, sagt Kant, dass er den dogmatischen Idealismus in der transzendentalen Ästhetik beseitigt (vgl. B 274) hat, und dass das Antinomie-Kapitel auch zum Argument gegen diesen Idealismus dienen kann (vgl. A 377). Somit richtet Kant sich nun vor allem gegen den problematischen Idealismus. In einer parallelen Reflexion verwendet Kant einfach die Überschrift „Widerlegung des problematischen Idealismus“ 544. Um die Existenz äußerer Gegenstände zu beweisen, liefert Kant direkt nach der Einleitung einen Lehrsatz, der der Position des problematischen Idealismus entgegengesetzt ist. Er lautet: Das bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir. (B 275)
Jeder Terminus in dieser Formulierung bedarf weiterer Erläuterung. Aber ich möchte hier nur darauf hinweisen, was Kant mit dem Wort „beweiset“ meint. Nach Kants Ausführungen in dem „Beweis“ und den „Anmerkungen“ kann man „beweiset“ als „voraussetzt“ verstehen. Allgemeiner gesagt: A beweist B, heißt, A setzt B voraus. D. h. A ist hinreichend für B und B ist notwendig für A. Also ist A nur dann möglich, wenn wir B haben. Kurz gesagt: B ist eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von A. Übertragen wir diese Überlegung auf den 541 542
543
544
Vgl. Prolegomena, AA IV 337. Vgl. Berkeleys Formulierung: “For as to what is said of the absolute existence of unthinking things without any relation to their being perceived, that seems perfectly unintelligible. Their esse is percipi, nor is it possible they should have any existence, out of the minds or thinking things which perceive them.” (Berkeley 1998, S. 104) Vgl. Berkeley schreibt: “But with how great an assurance and acquiescence soever this principle may be entertained in the world; yet whoever shall find in his heart to call it in question, may, if I mistake not, perceive it to involve a manifest contradiction. For what are the forementioned objects but the things we perceive by sense, and what do we perceive besides our own ideas or sensations; and is it not plainly repugnant that any one of these or any combination of them should exist unperceived?” (Berkeley 1998, S. 104) R 6311, AA XVIII 610.
248
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
Lehrsatz, dann geht hervor, dass „das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir“ eine notwendige Bedingung für „[d]as bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins“ ist. Infolgedessen kann man sagen, dass das letztere das erstere beweist, denn das Bewusstsein meines Daseins in der Zeit, was wir ohne Zweifel haben können, setzt schon das Dasein äußerer Gegenstände voraus. Um den Lehrsatz zu rechtfertigen, liefert Kant anschließend einen dicht geschriebenen Absatz als Beweis (B 275-276). Bekanntlich ist dieser Absatz sehr schwer zu verstehen und in der Kant-Literatur kontrovers diskutiert worden. 545 Es würde hier zu weit führen, eine ausführliche Auslegung zu geben. Für meine Zwecke mag es genügen, Kants Argumentationslinie der Kürze halber folgendermaßen wiederzugeben: Das Bewusstsein meiner eigenen Existenz in der Zeit ist mit dem Bewusstsein der Zeitbestimmung notwendig verbunden. Nun setzt alle Zeitbestimmung etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Das Beharrliche kann aber nicht in mir wahrgenommen werden, sondern ist erst durch Dinge außer mir möglich. Also ist das Bewusstsein meiner eigenen in der Zeit bestimmten Existenz nur durch Dinge außer mir möglich. 546 Auf dem „Beweis“ folgen drei Anmerkungen. Die „Anmerkung 1“ (B 276 f.) ist offenbar gegen Descartes gerichtet, sowohl gegen seinen Zweifel an der Existenz äußerer Gegenstände, als auch gegen seine Meinung, die bloße Vorstellung „ich bin“ für empirische Erkenntnis über eigene Existenz zu halten. Die „Anmerkung 2“ betrifft die Beharrlichkeit und das Ich im reinen Selbstbewusstsein. Kant betont nämlich, dass das Beharrliche allein an den Gegenständen im Raum anzutreffen ist, und dass die intellektuelle Vorstellung vom Ich keine Anschauung enthält. Schließlich geht es Kant in der „Anmerkung 3“ darum, nochmals das Resultat des Beweises hervorzuheben und darauf hinzuweisen, dass sowohl innere als auch äußere Erfahrung von der bloßen Einbildung abzugrenzen sind. ii) Argumentation für das empirische Bewusstsein meiner eigenen zeitlich bestimmten Existenz Vor diesem Hintergrund wende ich mich der oben aufgestellten These zu: Das empirische Bewusstsein unserer zeitlich bestimmten Existenz setzt voraus, dass wir ein Bewusstsein haben, dass wir als Menschen in der physikalischen Welt existieren. Ich werde im Folgenden diese These durch vier Schritte begründen. (1) Ich bin mir nur dann meiner eigenen Existenz als in der Zeit empirisch bestimmt bewusst, wenn ich mir der Möglichkeit der Zeitbestimmung bewusst bin.
545 546
Vgl. Allison 1976, S. 223-253; Förster 1985, S. 287-303; Guyer 1987, 279-329; Heidemann 1998, S. 111116; Emundts 2006, S. 295-309; Chignell 2017, 149-156. Vgl. Kants Argumentation in einer Reflexion: „In unserm innern Sinn wird unser Daseyn in der Zeit bestimmt und setzt also die Vorstellung der Zeit selbst voraus; in der Zeit aber ist die Vorstellung des Wechsels enthalten; Wechsel setzt etwas Beharrliches voraus, woran es wechselt und welches macht, daß der Wechsel wahrgenommen wird. Die Zeit selbst ist zwar beharrlich, aber sie kann allein nicht wahrgenommen werden, folglich muß es ein Beharrliches geben, woran man den Wechsel in der Zeit wahrnehmen kann. Dies Beharrliche können wir selbst nicht seyn, denn wir sind eben als Gegenstand des innern Sinnes durch die Zeit bestimmt; es kann also das Beharrliche blos in dem, was durch den äußern Sinn gegeben wird, gesetzt werden. So setzt also Möglichkeit der innern Erfahrung Realität des äußern Sinnes voraus.“ (R 6311, AA XVIII 611)
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
249
Wie in Abschnitt 6.1 erläutert, handelt es sich beim intellektuellen Bewusstsein der logischen Existenz des Ich darum, dass alles Denken „ohne die Bestimmung meines Daseyns in der Zeit“ 547 ein logisches Subjekt voraussetzt (vgl. A 350). Nun geht es aber um ein denkendes Ich, das als empirisches Subjekt in der Zeit wirklich existiert. Dass ich mir meiner eigenen Existenz als in der Zeit bestimmt bewusst bin, heißt nichts anderes, als dass ich festlegen kann, dass ich als ein denkendes Wesen in einer bestimmten zeitlichen Abfolge existiere. So kann ich zum Beispiel zwischen dem Ich, das gestern existierte, und dem Ich, das jetzt existiert, unterscheiden. Meine Existenz ist daher in der Zeit bestimmt. Aber um dies möglich zu machen, muss ich wissen können, dass die Zeitbestimmung selbst möglich ist. Das heißt, dass ich verschiedene Zeitpunkte unterscheiden muss und mithin um das Nacheinandersein und das Zugleichsein weiß. Für diese Überlegung spricht die Kantische Aussage: „Nun ist das Bewußtsein [meines Daseins] in der Zeit mit dem Bewußtsein der Möglichkeit dieser Zeitbestimmung nothwendig verbunden […].“ (B 276) (2) Die Zeitbestimmung setzt das Beharrliche voraus. Diese Behauptung erinnert offenbar an Kants erste Analogie. Dort geht er davon aus, dass alle Zeitverhältnisse bzw. Zeitbestimmungen nur durch das Beharrliche als Substrat möglich sind. Dazu schreibt er: Nur in dem Beharrlichen sind also Zeitverhältnisse möglich (denn Simultaneität und Succession sind die einzigen Verhältnisse in der Zeit), d. i. das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem alle Zeitbestimmung allein möglich ist. (A 182 f./ B 226)
Wenig später betont Kant noch einmal diese Überlegung, ohne dieses Beharrliche sei also kein Zeitverhältnis (vgl. A 183/ B 226). Daraus ergibt sich, dass die Zeitbestimmungen aller Erscheinungen das Beharrliche voraussetzen. Also sagt Kant, das Beharrliche sei der „Grund der Zeitbestimung“ 548. Oder: Da sich, wie wir sehen werden, das Beharrliche auf den Raum beziehen muss, sagt Kant auch: „Die Raumesvorstellung liegt der Zeitbestimmung der Beharrlichkeit wegen zum Grunde […].“ 549 Diese Konzeption lässt sich anhand einer Kantischen Überlegung in einer Reflexion verdeutlichen. 550 Laut Kant ist die Apprehension der Vorstellungen im inneren Sinne „jederzeit sukzessiv“ (A 189/ B 234). Eine Vorstellung geht immer zur anderen über, ohne dass eine Rückkehr der Vorstellungen stattfinden kann. Damit aber „eine vor- und rückwerts angestellte Apprehension, die in Ansehung der obiecte des inneren Sinnes nicht statt findet“ 551, möglich ist, ist etwas Beharrliches, das nicht auf dem inneren Sinn beruht, notwendig. Denn nur an dem Beharrlichen lässt sich der Wechsel der Vorstellungen vorstellen. Das heißt, dass die 547 548 549 550
551
R 5653, AA XVIII 306. R 6312, AA XVIII 612. R 5653, AA XVIII 308. Vgl. „Das Zugleichseyn [der Vorstellung] von A und B kan ohne ein Beharrliches gar nicht vorgestellt werden. Denn eigentlich ist alle apprehension successiv. Aber so fern die Succession nicht blos Vorwärts von A nach B, sondern auch (g so oft ich will) rükwerts von B nach A geschehen kan, ist nothwendig, daß A fortdaure. Die Vorstellungen der Sinne A und B müssen also einen anderen Grund als den im inneren Sinne, [mith] aber doch in irgend einem Sinne, mithin in dem äußeren Sinne haben; folglich muß es Gegenstände der äußeren Sinne geben […].“ (R 6313, AA XVIII 614) R 6313, AA XVIII 614.
250
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
Apprehension zweier Vorstellungen nicht nur von A nach B, sondern auch von B nach A vorgenommen werden kann. (3) Das Beharrliche ist nur durch die Anschauung von materiellen Gegenständen im Raum möglich. Wo ist etwas Beharrliches anzutreffen? 552 Es ist zunächst klar, dass das transzendentale Ich nicht als das Beharrliche fungieren kann. Denn Kant zufolge kommt dieses Ich zwar als ein identisches Subjekt bei allen Gedanken vor, aber von ihm haben wir „nicht die mindeste Anschauung“ (A 350) oder „nicht das mindeste Prädikat der Anschauung“ (B 278). Auch ist es kaum zu bezweifeln, dass der innere Sinn das Beharrliche nicht liefern kann, weil „in dem innern Sinne alles Successiv ist, mithin nichts rükwerts Genommen werden kann […].“553 Mit anderen Worten: Es gibt im inneren Sinn „gar keine beharrliche Anschauung“ (B 292). Nun geht Kant davon aus, dass das Beharrliche auf der Rezeptivität bzw. Passivität des Subjekts beruhen muss. Es darf nämlich nicht ein Produkt des bloßen Denkens sein, wie Kant sagt, dass wir das Beharrliche „nicht als Spontaneitaet der Selbstbestimmung ansehen können“ 554. Sonst wäre das Beharrliche nur so etwas wie eine gedachte Vorstellung bzw. eine „beharrliche[] Vorstellung“, die in der Tat „sehr wandelbar und wechselnd sein“ (B XXXIX Anm.) kann. So würde es auch nicht der Zeitbestimmung zugrunde liegen. Im Gegensatz dazu muss das Beharrliche im Hinblick auf die Passivität des Subjekts betrachtet werden und also sich auf etwas von mir Unterschiedenes stützen. Diese Überlegung bringt Kant in einer Reflexion explizit zum Ausdruck, wo er schreibt: Nun kan das Beharrliche nicht [eine Bestimmung] in der Bestimmung der Zeit blos gedacht werden und zur Spontaneität der Selbstbestimmung gehören, denn alsdenn würde es nicht der Zeitbestimmung zum Grunde liegen. Folglich muß es in Beziehung auf die bloße Receptivitaet des Gemüths, d.i. in Beziehung auf etwas afficirendes, was von mir unterschieden ist, vorgestellt werden, und diese Vorstellung kan nicht geschlossen, sondern muß ursprünglich seyn. (R 5653, AA XVIII 309)
Infolgedessen kommt Kant zu der Auffassung, dass sich das Beharrliche unmittelbar auf Gegenstände des äußeren Sinnes beziehen muss. Und nur aufgrund der „Ursprüngliche[n] Passivität von mir […], bey der ich gar nicht thatig bin“ 555, ist es möglich, „eine Vorstellung von etwas als ausser mir zu bekommen“ 556. Da nun wir mit Hilfe des äußeren Sinnes die Gegenstände außer mir unmittelbar anschauen können, haben wir eine „beharrliche Anschauung“. Aber das Beharrliche kann „nicht eine Anschauung in mir sein“ (B 275). D. h. es ist „von allen meinen Vorstellungen unterschieden[]“ (B XXXIX Anm.). So ist es nur in „etwas außer 552
553 554 555 556
Hier präsentiere ich ein anderes Argument als im „Beweis“ der Widerlegung des Idealismus. Dort lautet Kants Argument für das Beharrliche folgendermaßen: Ich bin mir bewusst, dass ich als ein denkendes Wesen in der Zeit existiere, indem ich Vorstellungen habe. Daher bezeichnet Kant Vorstellungen als „Bestimmungsgründe meines Daseins“ (B 275). Aber Vorstellungen, insofern sie als Modifikationen bzw. Zustände des Gemüts betrachtet werden, bedürfen sie, so Kant, „selbst ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches“ (B 275), um in Beziehung auf es die Zeitverhältnisse dieser Vorstellungen zu bestimmen. Hieraus zieht Kant die Schlussfolgerung: „Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir möglich.“ (B 275) R 6312, AA XVIII 612. R 5653, AA XVIII 308. R 5653, AA XVIII 307. R 5653, AA XVIII 307.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
251
mir“ (B XXXIX Anm.) anzutreffen. 557 Etwas von mir Unterschiedenes bwz. etwas außer mir kann aber nicht anderes sein als die materiellen Gegenständen im Raum. 558 Also ist das Beharrliche nur durch die materiellen Gegenstände möglich. In diesem Sinne kann man auch sagen, dass die Zeitbestimmung nur durch die Raumvorstellung möglich ist. 559 (4) Die Anschauung von materiellen Gegenständen im Raum erfordert, dass ich als ein körperliches Wesen in Relation mit den von mir unterschiedenen Dingen stehe. Aus (1), (2) und (3) folgt, dass das empirische Bewusstsein meiner eigenen in der Zeit bestimmten Existenz nur dann möglich ist, wenn ich weiß, dass es tatsächlich Gegenstände im Raum gibt und ich sie mit Hilfe des äußeren Sinnes anschauen kann. Denn im Hinblick auf das Beharrliche sind diese materiellen Gegenstände aus sachlichen Gründen notwendig. Nun können wir allerdings noch einen Schritt weitergehen. Die Tatsache, dass ich materielle Gegenstände im Raum anschaue und sie als von mir unterschieden bzw. außer mir bezeichne, ist nur dann möglich, wenn ich mich als ein organisches Wesen im Raum befinde und mithin die Relation zwischen mir und Gegenständen außer mir vorstellen kann. Dies läuft darauf hinaus, dass ich als Mensch, der einen organischen Körper hat, in der Welt existieren muss. Kant hat in der „Widerlegung“ diese Konsequenz nicht gezogen. Aber in den Reflexionen, die thematisch parallel zur „Widerlegung“ geschrieben wurden, hat er ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass wir auch zugleich als Gegenstände des äußeren Sinnes im Raum existieren müssen, damit das empirische Bewusstsein unserer Existenz in der Zeit möglich ist. 560 Die traditionellen Idealisten haben in der Tat den äußeren Sinn und seine Realität bestritten, 561 aber aus Kants Sicht wäre der für diese Idealisten unleugbare innere Sinn nicht ohne äußeren Sinn möglich. 562 Daher müssen der innere Sinn und der äußere Sinn zugleich als Bedingun557 558
559
560 561 562
Vgl. „Meine Vorstellungen können nicht ausser mir seyn und ein äußeres object der Vorstellungen nicht in mir, denn das wäre ein Wiederspruch.“ (R 6315, AA XVIII 620) Allerdings ist hier darauf zu achten, dass der Terminus „außer mir“ bzw. „außer uns“ im empirischen Sinne zu verstehen ist. Das heißt, dass mit äußeren Gegenständen bzw. den Gegenständen des äußeren Sinnes im Raum nicht die Dinge gemeint sind, die „im transzendentalen Verstande außer uns“ (A 372) und also ohne Beziehung auf unsere Sinne existieren, sondern die Dinge, die abhängig von uns sind und sich als „empirisch äuerliche Gegenstände“ (A 373) ansehen lassen. Kurz gesagt: Die äußeren Gegenstände sind nicht Dinge an sich, sondern äußere Erscheinugnen. Dazu schreibt Kant im vierten Paralogismus: „Weil indessen der Ausdruck: außer uns, eine nicht zu vermeidende Zweideutigkeit bei sich führt, indem er bald etwas bedeutet, was als Ding an sich selbst von uns unterschieden existirt, bald was blos zur äußeren Erscheinung gehört, so wollen wir, um diesen Begriff in der letzteren Bedeutung, als in welcher eigentlich die psychologische Frage wegen der Realität unserer äußeren Anschauung genommen wird, außer Unsicherheit zu setzen, empirisch äußerliche Gegenstände dadurch von denen, die so im transscendentalen Sinne heißen möchten, unterscheiden, daß wir sie gerade zu Dinge nennen, die im Raume anzutreffen sind.“ (A 373) Dazu schreibt Kant: „Denn im Raume allein setzen wir das Beharrliche, in der Zeit ist unaufhorlicher Wechsel. Nun aber ist die Bestimmung des Daseyns eines Dinges in der Zeit, d.i. in einem solchen Wechsel, unmöglich, ohne ihrer Anschauung auch das Beharrliche zu verbinden. Dieses muß also ausser uns als Gegenstand des äußeren Sinnes [gegeben] angeschauet werden.“ (R 5653, AA XVIII 307) Vgl. auch R 5653, AA XVIII 308; R 6312, AA XVIII 612. Vgl. R 5653, AA XVIII 309; R 6312, AA XVIII 612. Vgl. B 276 Anm.; B XXXIX Anm. Vgl. „Den innern Sinn kan keiner allein haben und zwar zum Behuf der Erkentnis seines innern Zustandes, und doch behauptet das der Idealism.“ (R 6314, AA XVIII 616) In der Leningrad-Reflexion heißt es: „Hieraus ist zu sehen daß wir keinen inneren Sinn haben würden und unser Daseyn nicht in der Zeit bestimmen könnten wenn wir keinen äußeren (wirklichen) Sinn hätten und Gegenstände im Raume als von uns unterschieden uns vorstelleten.“ (Brandt 1987, S. 18)
252
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
gen für das empirische Bewusstsein unserer eigenen Existenz angesehen werden, wie Kant sagt: „Es hat also der äußere Sinn Realität, weil ohne ihn der innere Sinn nicht möglich ist. Hieraus scheint zu folgen, daß wir unser Daseyn in der Zeit nur immer im Commercio erkennen.“ 563 Damit kommen wir zur Konklusion: Wir können nur dann wissen, dass wir als denkende Wesen in einer bestimmten Zeit existieren, wenn wir wissen, dass wir auch als Menschen, die in der Welt Orte einnehmen, existieren und die materiellen Gegenstände im Raum anschauen können. Mit anderen Worten: Beim empirischen Bewusstsein meiner zeitlich bestimmten Existenz ist nur von der „Existenz eines Einzelnen“ 564 die Rede, nämlich von der Existenz eines Menschen im Raum und in der Zeit. Nur diese Art meiner Existenz kann als eine Erscheinung angesehen werden und damit ist sie bestimmbar. Dazu schreibt Kant in der Leningrad-Reflexion: „Ich bin mir meiner Selbst als Weltwesens unmittelbar und ursprünglich bewust und eben dadurch allein ist mein eigen Daseyn nur als Erscheinung bestimmbar als Größe in der Zeit […].“ 565 Die Kantische Überlegung, dass ich mich als ein Weltwesen im Raum und in der Zeit befinden muss, um mir meiner Existenz in der Zeit als empirisch bestimmt bewusst werden zu können, lässt sich letztlich durch zwei Textpassagen aus der Reflexion 6315 zusammenfassen. Sie lauten: Wir sind uns selbst vorher Gegenstand des äußeren Sinnes, denn sonst würden wir unseren Ort in der Welt nicht warnehmen und uns mit anderen Dingen im Verhältnis anschauen können. - Daher kann die Seele als Gegenstand des inneren Sinnes ihren Ort im Korper nicht warnehmen, sondern sie ist in dem Ort, worinn der Mensch ist. (AA XVIII 619) Ich bin selbst ein Gegenstand meiner äußeren Anschauung im Raum und könnte ohne das meine Stelle in der Welt nicht wissen. Daher die Seele ihren Ort im Korper nicht kennen kan, weil sie sich durch äußeren [Ort] Sinn, also als ausser sich warnehmen müßte. (AA XVIII 620)
Was folgt daraus für die Kantische Behauptung des empirischen Bewusstseins unserer eigenen Existenz in der Zeit? Nun ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Kant nicht nur die Notwendigkeit der äußeren Anschauung herausstellt. D. h. „ein Daseyn ausser mir liegt der Bestimmung meines eigenen Daseyns, d.i. dem empirischen Bewustseyn meiner selbst zum Grunde.“ 566 Auch will er nicht nur betonen, dass wir zugleich als Menschen existieren müssen. Vielmehr kommt Kant letztlich auf die Verbindung innerer und äußerer Erfahrung zu sprechen. Das heißt, dass man dem inneren Sinn und dem äußeren Sinn in einem Zusammenhang Rechnung tragen muss. Ganz entsprechend sagt Kant auch, dass wir „Raumes und Zeitbestimung jederzeit zugleich verrichten müssen […].“ 567 Oder wie wir in der obigen Argumentation davon ausgegangen sind, sind zwei Arten des Existenzbewusstseins notwendig verbunden. 568 Dazu schreibt Kant in einer Reflexion: „Der Satz ist: [unser] das empirische Bewust-
563 564 565 566 567 568
R 6311, AA XVIII 612. Leningrad-Reflexion, Brandt 1987, S. 20. Brandt 1987, S. 20. R 6314, AA XVIII 616. R 5653, AA XVIII 308. Vgl. B 276; B XXXIX Anm.
6.2 Das empirische Bewusstsein meiner eigenen Existenz
253
seyn unsers Daseyns in der Zeit ist mit dem empirischen Bewustseyn einer Relation von etwas ausser uns nothwendig verbunden […].“ 569 Zum Schluss möchte ich noch etwas genauer erklären, was mit der Verbindung der inneren und der äußeren Erfahrung gemeint ist. Zunächst ist darauf zu achten, dass Kant in der „Widerlegung“ den Terminus „innere Erfahrung“ in dem Sinne verwendet, dass sie die empirische Erkenntnis von dem zeitlich bestimmten Dasein eines denkenden Wesens bedeutet. 570 Da „Erkenntnis“ hier nicht im strengen Sinne verstanden wird, setzt Kant auch die innere Erfahrung einfach mit „d[em] empirische[n] Bewußtseyn meines Daseyns“ 571 gleich. Somit ist die innere Erfahrung, von der in der „Widerlegung“ die Rede ist, nichts anderes als eine bestimmte Wahrnehmung meiner eigenen Existenz in der Zeit. Dass ich eine innere Erfahrung habe, heißt in diesem Sinne nichts anderes, als dass ich „[d]as bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins“ (B 275) habe. Auf ähnliche Weise bedeutet – wenn wir uns auf den Kontext der „Widerlegung“ beschränken – eine äußere Erfahrung, dass wir das Dasein der materiellen Gegenstände im Raum wirklich wahrnehmen. Das heißt, dass wir „[d]as unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge“ (B 276 Anm.) haben. Angesichts der wichtigen Rolle, die das Beharrliche für die innere Erfahrung spielt, legt Kant darauf Wert, dass die innere Erfahrung mit der äußeren untrennbar verbunden ist, und dass sie zusammen genommen „eine einzige Erfahrung“ (B XXXIX Anm.) ausmachen. 572 Er schreibt in der B-Vorrede der Kritik: [S]o ist die Realität des äußeren Sinnes mit der des innern zur Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt nothwendig verbunden [...]. (B XXXIX Anm. Hervorhebung von mir)
Und wenig später fährt er fort, dass [...] Existenz [des äußeren Dinges] in der Bestimmung meines eigenen Daseins nothwendig mit eingeschlossen wird und mit derselben nur eine einzige Erfahrung ausmacht, die nicht einmal innerlich stattfinden würde, wenn sie nicht (zum Theil) zugleich äußerlich wäre. (B XXXIX Anm. Hervorhebung von mir)
Dass Kant hier von „einer Erfahrung überhaupt“ bzw. „eine[r] einzige[n] Erfahrung“ spricht, deutet darauf hin, dass er die Ansicht vertritt: Das empirische Bewusstsein meiner selbst und das empirische Bewusstsein der äußeren Gegenstände sind zwei Seiten derselben Medaille. Dies ist aus Kants Sicht so zu verstehen: Ohne Existenz des Menschen bzw. des denkenden Wesens, das auch einen organischen Körper hat, wäre das Bewusstsein der Existenz der materiellen Gegenstände unmöglich. Umgekehrt: Ohne sich der Existenz der Gegenstände im Raum bewusst zu werden, könnte man sich seiner eigenen Existenz in der Zeit nicht bewusst werden. Infolgedessen können wir „unser Daseyn in der Zeit nur immer im Commercio er569
570 571 572
R 5653, AA XVIII 308. Vgl. Kant schreibt, dass „das Bewustseyn anderer Dinge ausser mir […] und die Bestimmung ihrer Existenz im Raume mit der Bestimmung meines Daseyns in der Zeit zugleich seyn müsse, ich mir also meines eigenen empirisch bestimmten Daseyns nicht mehr als dessen der Dinge (die ich, was sie an sich sind, nicht kenne) ausser mir.“ (R 5653, AA XVIII 306) Vgl. Kant schreibt: „[D]enn Erkenntniß unserer Selbst ist die Bestimmung unseres Daseyns in der Zeit […].“ (R 6311, AA XVIII 610) Vgl. Ameriks 1982, S. 247-250; Guyer 1983, S. 343. Vgl. „[D]iese innere Erfahrung, oder welches einerlei ist, das empirische Bewußtseyn meines Daseyns setze äußere Wahrnehmung voraus.“ (R 6311, AA XVIII 610) Vgl. auch B 277. Vgl. A 379, A 386.
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6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
kennen.“ 573 Diese Überlegung läuft darauf hinaus, dass das Ich als ein denkendes Wesen nur im Zusammenhang mit den äußeren Gegenständen, also nur als Mensch in der physikalischen Welt sinnvollerweise erforscht werden kann, wie dies tatsächlich in der empirischen Psychologie gemacht wird. In Kants Worten: Wir sind nur dazu berechtigt, „unsere Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studieren“ (A 382). Die sogenannte rationale Psychologie, die die Existenz der Seele vor der Geburt und nach dem Tod des Menschen behauptet, ist nichts anderes „als eine, alle Kräfte der menschlichen Vernunft übersteigende Wissenschaft“ (A 382). Also sind wir nicht zur Behauptung berechtigt, dass ein denkendes Wesen, das nicht mit dem organischen Körper in Verbindung steht, bzw. „ein Geist“ 574 in der Zeit existiert. Vergleichen wir die Antwort aus dem vierten Paralogismus von 1781 mit der aus der „Widerlegung“ von 1787, so geht hervor, dass Kant im Jahre 1781 der Sache nach das Problem der Möglichkeit der inneren Erfahrung nicht behandelt hat. Denn sein Argument für die Wirklichkeit der äußeren Gegenstände im vierten Paralogismus beruft sich nicht auf die Analyse der inneren Erfahrung, sondern auf den transzendentalen Idealismus. Somit hatte er stillschweigend die Konzeption der inneren Erfahrung in der traditionellen Metaphysik anerkannt. So sah er noch nicht, dass die Möglichkeit der inneren Erfahrung selbst auch einer weiteren Erklärung bedarf. Aufgrund dieser Tatsache sollte man nicht sagen, dass Kant von 1781 bis 1787 seine Position über die innere Erfahrung ändert. Jedoch kann man sinnvollerweise sagen, dass Kant seit dem Jahr 1787 seine Einsicht der inneren Erfahrung vertieft, indem er daran denkt, dass das Bewusstsein meines Daseins in der Zeit bzw. die innere Erfahrung etwas Beharrliche voraussetzen muss. 6.3
Die empirische Selbsterkenntnis: das Ich als Substanz in der Erscheinung
Ich habe in den letzten zwei Abschnitten das Bewusstsein meiner eigenen Existenz in zweierlei Hinsicht erläutert. Nun kann man noch die Frage stellen, ob das Selbstbewusstsein die Selbsterkenntnis impliziert. Genauer gesagt: Inwiefern kann ich im theoretischen Sinne eine Selbsterkenntnis erwerben, wenn ich mir meiner eigenen Existenz bewusst bin? Zu dieser Frage findet sich in erster Linie Kants eigene Auskunft in den „Losen Blättern zu den Fortschritten der Metaphysik“, wo Kant schreibt: Wenn ich mich erkännte wie ich bin nicht wie ich mir erscheine so würde meine Veränderung einen Wiederspruch in mir machen. Ich würde niemals derselbe Mensch seyn. Die Identität des Ich wäre aufgehoben. […] Das logische Ich ist für ihm selbst kein Object der Erkentnis aber wohl das physische selbst und zwar durch die categorien als Arten der Zusammensetzung des Manigfaltigen der inneren (empirischen) Anschauung so fern sie (die Zusammensetzung) a priori möglich ist. (Aus dem Nachlass ca.1791-1795, AA XX 338)
Hier lehnt Kant zugegebenermaßen ab, dass ich mich derart erkennen kann, wie ich an mir selbst bin. Denn das logische Ich ist „kein Object der Erkenntnis“. Insofern ist es klar, dass das intellektuelle Bewusstsein der logischen Existenz des Ich noch keine Selbsterkenntnis 573
574
R 6311, AA XVIII 612. Vgl. auch zu: „Das Erkentnis meiner selbst als in der Zeit bestimmten Wesens. Dies ist das empirische Erkentnis. - Daß das letztere nur [als] das [Dase] meiner selbst als in einer Welt existirenden Wesens seyn könne und zwar um des empirischen Bewustseyns und seiner Moglichkeit willen, so fern [es] ich mich als object erkennen soll, wird auf folgende Art bewiesen.“ (R 6313, AA XVIII 615) Preisschrift, AA XX 309.
6.3 Die empirische Selbsterkenntnis
255
impliziert. Aber Kant gesteht zugleich an dieser Stelle zu, dass „das physische selbst“ erkennbar ist. Nun möchte ich mit diesem heuristischen Hinweis dem Problem der empirischen Selbsterkenntnis in diesem Abschnitt nachgehen. Ich werde zunächst auf Kants Überlegung zur empirischen Selbsterkenntnis in der B-Deduktion der Kritik eingehen (a). Dann werde ich mich vor allem auf das Problem der Ich-Substanz konzentrieren und erklären, inwiefern das denkende Ich als eine Substanz in der Erscheinung verstanden werden kann (b). (a)
Das Problem der empirischen Selbsterkenntnis in der B-Deduktion
Bekanntlich hat Kant in der A-Deduktion das Problem der Selbsterkenntnis nicht behandelt. Aber dieses Problem wird in § 24 und § 25 der B-Deduktion thematisiert. Im zweiten Teil des § 24 (B 152-156) argumentiert Kant dafür, dass der Verstand durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft den inneren Sinn bestimmt, wobei er davon ausgeht, dass wir uns selbst erkennen können, „nur wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind“ (B 152). Von dieser Überlegung ausgehend handelt Kant in § 25 von der Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Genauer gesagt: Aufgrund der These, die bereits in § 24 dargestellt wird, versucht Kant in § 25 weiter zu erklären, inwiefern die Selbsterkenntnis im Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein und der Kategorienanwendung möglich ist. Diesbezüglich kann man den § 25 als ein Nebenthema der B-Deduktion lesen. Denn er spielt für den Argumentationsgang des zweiten Teils der B-Deduktion (§§ 21-27) keine zentrale Rolle. Das heißt aber nicht, dass Kants Thema in § 25 gar nichts mit der Deduktion der Kategorien zu tun hat. Sondern Kant will in diesem Paragraphen herausstellen, dass die sinnliche Anschauung für die Kategorienanwendung eine notwendige Bedingung ist. Dies gilt sowohl für Erkenntnisse der Gegenstände im Raum als auch für Erkenntnisse eines denkenden Wesens in der Zeit. Kants Argumente im § 25 möchte ich folgendermaßen zusammenfassen. 1) Die Bedingungen, die man zum Erwerben der Selbsterkenntnis erfüllen muss, sind gleich wie die Bedingungen, die die Erkenntnis der äußeren Gegenstände im Raum erfordert. Sie sind, kurz gesagt, Kategorien und sinnliche Anschauungen. Durch Kategorien können wir uns „ein[] Objekt[] überhaupt“ (B 158) denken; in einer sinnlichen Anschauung ist das Mannigfaltige gegeben. Was die Selbsterkenntnis betrifft, brauchen wir außer den Kategorien, durch die „ich mich denke“ (B 158), noch eine sinnliche „Selbstanschauung“ (B 157 Anm.). In Kants Worten: „[Z]um Erkenntniß unserer selbst [ist] außer der Handlung des Denkens, die das Mannigfaltige einer jeden möglichen Anschauung zur Einheit der Apperception bringt, noch eine bestimmte Art der Anschauung, dadurch dieses Mannigfaltige gegeben wird, erforderlich […].“ (B 157) 2) Das Selbstbewusstsein ist noch keine Selbsterkenntnis. Denn es fehlt beim bloßen Selbstbewusstsein noch an einer Anschauung von dem Subjekt des Bewusstseins. Genauer gesagt: Was das Selbstbewusstsein auf der transzendentalen Ebene angeht, handelt es sich weder um das Ich als Erscheinung noch um das Ich an sich, sondern um das logische Ich. Dieses Ich, das bei allem Denken vorkommt, ist sich lediglich seines „Verbindungsvermögens“ (B 159) bewusst. Und da ich mir meiner selbst dadurch bewusst bin, dass ich mich bloß denke, scheint daraus zu folgen, dass ich meine Existenz bestimmen könnte. Jedoch ist laut Kant meine Existenz oder die Vorstellung „ich bin“ nur „ein Denken, nicht ein Anschau-
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6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
en“ (B 157). Somit impliziert im Hinblick auf das logische Ich sowohl „Ich denke“ als auch „Ich bin“ bei weitem keine Selbsterkenntnis, wobei dagegen nur vom Denken die Rede ist. 3) Wir können uns selbst erkennen nur auf die Art und Weise, wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind. D. h. Selbsterkenntnis ist nur insofern möglich, als das Ich als Erscheinung betrachtet wird. Dies scheint Kant damit zu begründen, dass er zur Selbsterkenntnis das logische Ich, das sich weder als Erscheinung noch als ein Objekt an sich ansehen lässt (B 157), und so etwas wie das Ich an sich, das in der traditionellen Metaphysik einer intellektuellen Anschauung zu entsprechen scheint (B 159), ausschließt. In diesen zwei Fällen ist jedenfalls eine sinnliche Anschauung, die die Selbsterkenntnis erfordert, mangelhaft. Allerdings gilt eher, dass Kant in § 25 eine schwierigere Frage aufwirft, als dass er das Problem der Selbsterkenntnis auflöst. Denn die Rede davon, dass wir uns selbst nur als Erscheinungen erkennen können, ist ja rätselhaft. Kant hat zwar die Überzeugung, dass die Erkenntnis vom Ich als Erscheinung bzw. empirische Selbsterkenntnis möglich ist, aber er hat nicht weiter dargestellt, wie wir solche Erkenntnis erwerben können, auch niemals ein Erkenntnisurteil als Beispiel für empirische Selbsterkenntnis angeführt. Dies führt dazu, dass sogar Kants Position zur Möglichkeit der Selbsterkenntnis in der Literatur sehr umstritten ist. 575 Der Grund dafür, dass in § 25 keine ausführliche Erläuterung zur Selbsterkenntnis entwickelt wird, mag darin bestehen, dass Kant durch diesen Paragraphen nur die sinnliche Bedingung der Kategorienanwendung hervorheben will und damit die Behauptung zurückweist, im Mangel der sinnlichen Anschauung bloß aufgrund des Selbstbewusstseins die Selbsterkenntnis zu erwerben. Was die Erzeugung der empirischen Selbsterkenntnis betrifft, ist dies Thema nicht sein Interesse. Dennoch kann man, wie gesagt, durch Kants Ausführungen in § 25 mindestens feststellen, dass die empirische Selbsterkenntnis zwei Bedingungen erfüllen muss: Erstens muss das Mannigfaltige in der inneren Anschauung gegeben werden, d. h. es muss ein Ich geben, das als Objekt des inneren Sinnes angesehen werden kann; zweitens muss es „das Denken eines Objekts überhaupt“ (B 158) geben, d. h. ich denke mich selbst durch die Kategorien. Die Integration dieser zwei Bedingungen läuft darauf hinaus, dass wir der Form des inneren Sinnes gemäß und durch die Kategorien das Ich als Objekt erkennen können. Mit anderen Worten: Die Kategorien lassen sich auf die sinnliche Selbstanschauung anwenden. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, zu erläutern, wie genau die sogenannte empirische Selbsterkenntnis möglich ist. Da es mir in diesem Kapitel um die Existenz des Ich geht, möchte ich die empirische Selbsterkenntnis dadurch untersuchen, dass ich im Folgenden ausführlich darauf eingehe, wie das Ich als Erscheinung in der Zeit existiert. Anders gesagt: Ich möchte die Frage beantworten, Inwiefern die Substanzkategorie auf das Ich als Erscheinung anwendbar ist, so dass das denkende Ich als eine Substanz in der Erscheinung bezeichnet werden kann. (b)
res cogitans als substantia phaenomenon 576
In der rationalistischen Tradition der Philosophie, insbesondere seit Descartes, ist ein denkendes Wesen (res cogitans) eine geistige Substanz. Ihm stehen die ausgedehnten Dinge (res 575 576
Vgl. etwa Baum 1986, S. 143 ff.; Klemme 1996, S. 221-228; Emundts 2007; 189-206. Zur „Substanz in der Erscheinung“ vgl. A 146/ B 186; B 225; A 188/ B 231; A 399.
6.3 Die empirische Selbsterkenntnis
257
extensa) gegenüber, die sich als materielle Substanzen bezeichnen lassen. Wir hatten bereits in Abschnitt 3.3 gesehen, dass sich Kant – wenn man seine Formulierungen in dem Duisburg’schen Nachlass (um 1775) 577 und in der Metaphysik L1 (1778) 578 ernst nimmt – vor 1781 noch nicht ganz von der rationalistischen Tradition befreit hatte und mithin eine substantialistische Auffassung vom denkenden Ich vertrat. Allerdings ist es bekanntlich so, dass Kant in der ersten Auflage der Kritik seine Position ändert. Denn wie Carls Untersuchung zeigt 579, hat Kant etwa Ende der siebziger Jahre die sogenannten Paralogismen entdeckt. Und diese Entdeckung nötigt ihn die Auffassung der IchSubstanz aufzugeben. In den ersten zwei Auflagen der Kritik ist daher Kants Position konsequent: Das bloß denkende Wesen bzw. das transzendentale Ich ist keine Substanz. Denn ein solches Ich kann gar nicht in der Anschauung gegeben werden. Es fungiert nämlich nur als „die subjektive Bedingung des Denkens“ (A 397) und darf nicht als ein erkennbares Objekt angesehen werden. Mit anderen Worten: Die Substanz als schematisierte Kategorie lässt sich auf das bloß denkende Wesen nicht anwenden. Somit kann man auch sagen, dass das bloß denkende Wesen (res cogitans) kein substantielles Phänomen bzw. keine Substanz in der Erscheinung (substantia phaenomenon) ist. Aber wie oben bereits dargestellt, ist Kant davon überzeugt, dass wir uns selbst insofern erkennen können, als wir uns selbst als Erscheinungen betrachten. Auch wie Abschnitt 6.2 gezeigt, können wir uns unserer zeitlich bestimmte Existenz bewusst werden, wenn wir als Menschen ein Bewusstsein davon haben, dass es im Raum von uns unterschiedene Gegenstände gibt. Nun stellt sich die Frage, ob und inwiefern „ein denkendes Wesen“ (res cogitans), das sich in mentalen Zuständen befindet und dem die zeitlich bestimmte Existenz zuzuschreiben ist, als eine „Substanz in der Erscheinung“ (substantia phaenomenon) bezeichnet werden kann. 580 Eine Antwort auf diese Frage scheint sich sofort anzubieten, wenn man einen Blick auf den Teil der Kritik „Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze“ wirft. Kant ist in diesem Teil der Meinung, dass die objektive Realität der Kategorie immer eine Anschauung erfordert, genauer sagt, eine äußere Anschauung. Dementsprechend ist die Substanzkategorie nur auf Gegenstände des äußeren Sinnes anwendbar, weil wir von ihnen äußere Anschauungen haben und das Beharrliche in Anspruch nehmen können. Dazu schreibt er: Noch merkwürdiger aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge, zu Folge der Kategorien, zu verstehen, und also die objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauung, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen. Wenn wir z.B. die reinen Begriffe der Relation nehmen, so finden wir, daß 1) um dem Begriffe der Substanz correspondirend etwas Beharrliches in der Anschauung zu geben (und dadurch die objective Realität dieses Begriffs darzuthun), wir eine Anschauung im Raume (der Materie) bedürfen, weil der Raum allein beharrlich bestimmt ist, die Zeit aber, mithin alles, was im inneren Sinne ist, beständig fließt. (B 291)
Geht man von dieser Überlegung aus, so ist die Beantwortung der genannten Frage offensichtlich: Die Substanzkategorie ist auf ein denkendes Wesen als empirisches Ich nicht anwendbar. Daher kann man sagen, dass dieses Ich nicht substantia phaenomenon ist. Dies liegt 577 578 579 580
Vgl. R 4676, XVII 656. Vgl. AA XXVIII 225 f. Vgl. Carl 1989, S. 116 f. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Substanz in der Erscheinung vgl. Oberst 2017, S. 1-18.
258
6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
daran, dass wir laut Kant einerseits von dem Ich als Erscheinung gar keine äußere Anschauung haben, andererseits im inneren Sinn nicht über beharrliche Anschauung verfügen. 581 Nimmt man diese Konzeption mit Kants Ergebnis der Kritik an der rationalen Seelenlehre zusammen, dann ergibt sich, dass Kant bezüglich des Ich sowohl substantia noumenon als auch substatia phaenomenon bestreitet. Kurz gesagt: Das Ich bzw. die Seele dürfte, egal in welchem Sinne von ihr die Rede ist, keineswegs als eine Substanz bezeichnet werden. Diese Auffassung wird in der Kant-Literatur zum Beispiel von Michael Wolff in seinem Aufsatz „Empirischer und transzendentaler Dualismus“ vertreten. 582 Ihm zufolge bestreitet Kant sowohl in der ersten als auch in der zweiten Auflage der Kritik den transzendentalen Substanzendualismus. D. h. es gebe keine Seele an sich, die man den materiellen Substanzen gegenüberstellen könne. Darüber hinaus geht Wolff davon aus, dass Kant letztlich „in der zweiten Auflage die These des empirischen Dualismus und auch die Bezeichnung seines eigenen Standpunkts als eines ‚empirischen Dualismus‘ aufgegeben hat.“ 583 Um dies zu begründen, schreibt Wolff weiter: „Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass er in der zweiten Auflage die Ansicht aufgegeben hat, es sei dem inneren Sinn für sich genommen, unabhängig vom äußeren Sinn, so etwas wie ein substanzielles Phänomen (eine substantia phaenomenon) gegeben“ (ebd.). Somit gelangt Wolff schließlich zu dem Ergebnis: Kant vertrete den transzendentalen Monismus und lehne den empirischen Dualismus ab. Also kann man weder die Seele an sich noch die Seele als Erscheinung eine Substanz nennen. Es gebe nämlich in der Tat keine Seele, die der innere Sinn zum Objekt hat. Wolffs Deutung beruht offenbar auf seiner grundlegenden Position: Der innere Sinn sei „kein Gegenstandssinn, sondern ein Zustandssinn“ 584 Auf diesen Punkt bin ich schon in Abschnitt 2.3 eingegangen. Folgt man Wolffs Interpretation, so scheint es nicht sinnvoll, sich weiter mit der empirischen Selbsterkenntnis auseinanderzusetzen. Denn wenn es gar kein empirisches Ich als Objekt bzw. substantia phanomena gäbe, wäre die Rede davon unzulässig, uns selbst als Erscheinungen zu erkennen. Wolffs Untersuchung hat gut auf systematische Weise Kants Konzeption vom empirischen Ich vorgeführt und sehr schön zum Ausdruck gebracht, dass Kants eigene Position schwankend ist. Jedoch sind wir offenbar mit einer solchen absolut verneinende Antwort nicht zufrieden. Denn Kant will, wie wir schon in Abschnitt 2.3 gesehen haben, eine sogenannte Selbstanschauung nicht bestreiten und insistiert immer noch darauf, dass wir uns selbst als Erscheinung erkennen können. Also scheint es mir noch sinnvoller zu sein, eine angemessenere, in Kants System konsequente Interpretation zu finden. Eine Möglichkeit, die These, die Substanzkategorie sei nur auf die beharrliche äußere Anschauung anwendbar, mit der These, dass das empirische Ich in gewissem Sinne als Objekt des inneren Sinnes bzw. als substantia phaenomenon verstanden werden darf, verträglich zu machen, ist, vorläufig ausgedrückt, mit Kant anzunehmen, ein denkendes Wesen (res cogitans) könne sinnvollerweise nur im Zusammenhang mit seinem organischen Körper (res extensa) betrachtet werden. Das heißt, dass es nicht mehr sinnvoll ist, unabhängig von unserem Leib und außerhalb einer physikalischen Welt noch von einer selbständigen Seele zu sprechen. 581 582 583 584
Vgl. B 291; A 364; A 382. Vgl. auch Emundts 2007, S. 189-206. Wolff 2006, S. 274. Wolff 2006, S. 267.
6.3 Die empirische Selbsterkenntnis
259
Etwas vereinfachend gesagt: Die Rede von einem denkenden Ich ist nur dann berechtigt, wenn wir uns als in der Welt existierende Wesen bzw. als Menschen betrachten. In diesem Sinne ist es zulässig, das denkende Ich als eine Substanz in der Erscheinung oder substantia phanomena zu verstehen. Die Wissenschaft, die sich mit dem Ich oder der Seele in diesem Sinne beschäftigt, ist eine empirische Wissenschaft, die von Kant als empirische Psychologie oder Anthropologie bezeichnet wird. Für diese Überlegung möchte ich im Folgenden etwas genauer argumentieren. Erinnern wir uns zuerst einmal an Kants Theorie der Substanz. Laut Kant muss die Anwendung der Substanzkategorie zwei Bedingungen erfüllen: 1) Es gibt etwas, das nur als Subjekt, nicht als bloße Bestimmung anderer Dinge existiert. Dies folgt direkt aus der Definition der Substanz. 585 2) Von dem genannten etwas haben wir eine beharrliche Anschauung. Das ist die grundlegende Aufforderung der objektiven Gültigkeit der Substanzkategorie. 586 Nun ist es nötig, zu erklären, wie das Ich als empirisches Subjekt die besagten zwei Bedingungen erfüllen kann. Die Erfüllung der ersten Bedingung liegt nahe, wenn man einem empirischen Subjekt aus dem semantischen Gesichtspunkt Rechnung trägt. Dieser semantische Gesichtspunkt besteht nämlich in dem Gebrauch des Begriffs ‚ich‘. Wir als Menschen in der Welt verfügen über eine besondere Eigenart: Wir können uns sprachlich von dem Standpunkt der ersten Person aus äußern. D. h. wir können uns selbst durch die Verwendung des Wortes ‚ich‘ bezeichnen und unterscheiden uns damit von anderen Dingen oder Menschen. Z. B. „ich bin so und so“. Ich kann sagen: Ich bin in diesem Zimmer, nicht aber: In diesen Zimmer gibt es so viele Ich. Das Wort ‚ich‘ als ein Personalpronomen darf nur als Subjektbegriff und im Singular gebraucht werden. 587 Und derjenige, der das Wort ‚ich‘ in seinen Aussagen verwendet, kann immer wissen, dass er ein und dasselbe Subjekt ist, das verschiedene Vorstellungen besitzt. Demnach dient der Begriff ‚ich‘ dazu, sich selbst verschiedene Vorstellungen oder mentale Zustände zuzuschreiben. Wir Menschen haben, so Kant, „das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen“ 588, nämlich das Vermögen der Selbstzuschreibung. Dieses Vermögen legt nahe, dass wir uns von anderen Lebewesen unterscheiden. Dazu schreibt Kant in der Anthropologie: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen.“ 589 Dieses semantische Merkmal des Begriffs ‚ich‘ bringt offenbar zum Ausdruck, dass jeder Mensch, der diesen Begriff verwendet, sich immer auf sich selbst bezieht. Dieser Begriff ist 585 586
587 588 589
Vgl. A 348, B 288. Vgl. „Denn bloß diese Beharrlichkeit ist der Grund, warum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz anwenden […] (A 184/ B 277). „Soll er also unter der Benennung einer Substanz ein Object, das gegeben werden kann, anzeigen; soll er ein Erkenntniß werden: so muß eine beharrliche Anschauung, als die unentbehrliche Bedingung der objectiven Realität eines Begriffs, nämlich das, wodurch allein der Gegenstand gegeben wird, zum Grunde gelegt werden.“ (B 412) Vgl. auch A 354. Vgl. B 407, AA XXIV 567, AA XXIV 908. Preisschrift, AA XX 270. Anthropologie, AA VII 127. Vgl. auch Kants Formulierung in den Vorlesungsschriften: „Das Ich enthält das, was den Menschen von allen Thieren unterscheidet. Wenn ein Pferd den Gedanken Ich fassen könnte, so würde ich herunter steigen, und es als meine Gesellschaft betrachten müssen. Das Ich macht den Menschen zur Person, und dieser Gedanken giebt ihm das Vermögen über alles, es macht ihn zu seinem eigenen Gegenstande der Betrachtung.“ (Menschenkunde, AA XXV 859)
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6 Das Bewusstsein der Existenz des Ich
nicht von der Art, dass Begriffe als allgemeine Vorstellungen deskriptive Inhalte haben. 590 Das heißt, der Begriff „ich“ ist kein Prädikatbegriff. 591 Darauf weist Kant an manchen Textstellen, wo er die eigentliche Bedeutung der Ich-Vorstellung betont, ausdrücklich hin. 592 Beispielsweis schreibt er: „Allein dieses Ich ist so wenig Anschauung als Begriff von irgend einem Gegenstande.“ (A 382) In den Prolegomena heißt es: „Wäre die Vorstellung der Apperzeption, das Ich, ein Begriff, wodurch irgendetwas gedacht würde, so würde es auch als Prädikat von anderen Dingen gebraucht werden können oder solche Prädikate in sich enthalten.“ 593 Vielmehr ist das Wort ‚ich‘ nur eine Bezeichnung. 594 Es bezeichnet nämlich nur sich selbst, der lediglich als das einzige Subjekt fungiert und der nicht zur Eigenschaft eines anderen Subjekts dient. Diese Überlegung zeigt sich besonders deutlich in Kants Vorlesungsschriften, wo er schreibt: Das Ich ist das allgemeine Subject aller Prädicate, alles Denkens, aller Handlungen, aller möglichen Urtheile, die wir von uns als einem denkenden Wesen fällen können. Ich kann nur sagen: Ich bin, Ich denke, Ich handele. […] Ich kann kein Prädicat von einem andern Wesen seyn. Mir kommen zwar Prädicate zu; allein das Ich kann ich nicht von einem andern prädiciren, ich kann nicht sagen: ein anderes Wesen ist das Ich. (Metaphysik L1, AA XXVIII 266)
Dieser Umstand unserer Sprache besagt, dass jeder Mensch oder, allgemeiner gesagt, jedes denkende Wesen, das den Begriff ‚ich‘ verwenden kann, die erste Gebrauchsbedingung der Substanzkategorie erfüllt. Darüber hinaus lässt sich die Erfüllung der ersten Bedingung auch damit begründen, dass jeder Gedanke ein logisches Subjekt bzw. ein logisches Ich voraussetzt. Dies möchte ich einen transzendentalen Gesichtspunkt nennen. Denn ein solches Ich bezeichnet Kant auch als „ein transzendentales Subjekt“ (A 340/ B 404). Während die Verwendung des Worts ‚ich‘ von dem Standpunkt der ersten Person aus die Rolle herausstellt, die das Ich als der absolute Subjektbegriff spielt, ist das Ich als ein gemeinschaftliches Subjekt eine formale Bedingung, die Gedanken erfüllen müssen. Wie Kant selber sagt, muss dieses Ich „alles Denken begleite[n]“ (A 398) und es bezeichnet daher „die logische Einheit eines jeden Gedanken“ (A 398). Mit anderen Worten: Auch wenn der semantische Gebrauch des Begriffs ‚ich‘ in einem Ausdruck nicht auftaucht, erfordert der Gedanke, der durch diesen Ausdruck ausgesagt wird, ein gemeinschaftliches Subjekt, dem die Vorstellungen, die diesen Gedanken ausmachen, zukommen. Das heißt, verschiedene Vorstellungen können nur dann einen Gedanken bilden, wenn sie zu einem Subjekt gehören und mithin in diesem Subjekt als einem logischen Ich verknüpft werden können. Hingegen können die verschiedenen Vorstellungen, die unter ver590 591 592
593 594
Vgl. Rosefeldt 2017, S. 225-228. In Kants Texten nennt er manchmal „ich“ als einen Begriff (vgl. A 400, A 401, AA XXVIII 225). Damit ist aber nicht gemeint, dass er ein Prädikatbegriff ist. Vgl. A 346/ B 404, A 348/ B 406. Die Überlegung, dass das Wort „ich“, weil es kein Prädikatbegriff ist, kein Objekt bezeichnet, wird unter allen Interpreten besonders von Strawson vertreten. Er liefert in seinem Aufsatz „Kant’s Paralogisms“ eine ausführliche Erläuterung und geht davon aus, dass das Ich eine „nondesignative or non-denotative“ (Strawson 1997, S. 257) Rolle spielt. Prolegomena, AA IV 334 Anm. Vgl. „Das Ich, das allgemeine Correlat der Apperception und selbst blos ein Gedanke, bezeichnet als ein bloßes Vorwort ein Ding von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subject aller Prädicate, ohne irgend eine Bedingung, die diese Vorstellung des Subjects von dem eines Etwas überhaupt unterschiede [...].“ (MAN, AA IV 542)
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261
schiedenen Subjekten verteilt sind, keinen Gedanken machen. Z. B. in dem Ausdruck „der Himmel ist blau“ kommt das Wort ‚ich‘ zwar nicht vor, aber er drückt deswegen einen Gedanken aus, weil verschiedene Vorstellungen wie Himmel und blau in einem logischen Subjekt verbunden sind. In Kants Worten: Das Ich muss „bei allem Denken immer wiederum“ (A 350) vorkommen. Dieser transzendentale Gesichtspunkt des Ich erklärt sich klarerweise durch Kants Kritik an der Substanzialität der Seele im ersten Paralogismus. Dort schreibt er: In allen Urtheilen bin ich nun immer das bestimmende Subject desjenigen Verhältnisses, welches das Urtheil ausmacht. Daß aber Ich, der ich denke, im Denken immer als Subject und als etwas, was nicht bloß wie Prädicat dem Denken anhängend betrachtet werden kann, gelten müsse, ist ein apodiktischer und selbst identischer Satz; aber er bedeutet nicht, daß ich als Object ein für mich selbst bestehendes Wesen oder Substanz sei. Das letztere geht sehr weit, erfordert daher auch Data, die im Denken gar nicht angetroffen werden, vielleicht (so fern ich bloß das denkende als ein solches betrachte) mehr, als ich überall (in ihm) jemals antreffen werde. (B 408)
Auf den ersten Blick scheinen Kants Ausführungen in dieser Passage unserem Argumentationsziel zu widersprechen, indem er explizit sagt, dass „das bestimmende Subjekt“ bzw. das urteilende Ich nicht als „ein für mich selbst bestehendes Wesen oder Substanz“ bezeichnet werden darf. Allerdings ist bemerkenswert, dass Kant hier doch davon ausgeht, dass alles Urteil, das einen Gedanken ausdrückt, ein logisches Ich erfordert, das das Verhältnis der Vorstellungen in diesem Urteil möglich macht. Dies besagt, dass ein solches Ich die oben genannte erste Bedingung erfüllt. Was Kant in der zitierten Passage bestreitet oder zurückgewiesen hat, ist das rationalistische Verfahren, das bloß denkende Ich, das nur als eine logische Bedingung aller Gedanken fungiert, als ein „reale[s] Subjekt der Inhärenz“ (A 350) zu betrachten. Wie Kant sich an anderer Stelle ausdrückt, besteht der Grundfehler dieses Verfahrens darin, dass „die subjektive Bedingung des Denkens vor die Erkenntnis des Objekts gehalten wird“ (A 396). Dazu sind wir laut Kant deswegen nicht berechtigt, weil es beim bloß denkenden Ich noch an Data fehlt, die das Denken nicht bieten kann. Es ist daher auffällig, dass Kant im letzten Satz des obigen Zitats angedeutet hat, das Ich möge eine Substanz sein, wenn es von diesem Ich auch die im Denken nicht angetroffenen Data gebe. Damit sind offenbar die nur in der Anschauung empirisch gegebenen Data gemeint. Also kann man schließlich sagen, dass die erste Bedingung allein nicht dafür hinreichend ist, ein denkendes Ich (res cogitans) als Substanz in der Erscheinung zu bezeichnen, wie Kant selbst sagt: „Denkende Wesen kann ich mir nur als substantzen vorstellen, weil ich ihnen mein Ich leihe.“ 595 Wenden wir uns nun der zweiten Bedingung des Gebrauchs der Substanzkategorie zu. Ob ein empirisches Ich, das diese Bedingung – die Beharrlichkeit – erfüllen kann, wirklich in Kants Philosophie zulässig ist, ist in der Literatur sehr umstritten. Denn das logische Ich, das als ein und dasselbe Subjekt bei allem Denken vorkommt, ist nicht im inneren Sinn gegeben und befindet sich auch nicht in der Zeit. Was aber im inneren Sinn angeschaut wird, ist wandelbar und fließend. Dennoch will Kant meiner Ansicht nach nicht bestreiten, dass das Ich, sofern es zugleich ein Gegenstand des äußeren Sinnes bzw. ein Mensch ist, als eine Substanz in der Erscheinung bezeichnet werden kann. Denn unser organischer Körper liefert das Be595
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harrliche. Und von einem sogenannten denkenden Ich kann nur in Verbindung mit einem solchen organischen Körper sinnvollerweise die Rede sein. Um dies zu verdeutlichen, sehen wir uns zuerst einmal eine Passage an, wo Kant auf positive Weise explizit behauptet, dass res cogitans als ein empirisches Subjekt eine Substanz in der Erscheinung ist. Diese Passage findet sich im vierten Paralogismus von 1781: Frägt man nun, ob denn diesem zu Folge der Dualism allein in der Seelenlehre statt finde, so ist die Antwort: Allerdings! aber nur im empirischen Verstande; d.i. in dem Zusammenhange der Erfahrung ist wirklich Materie als Substanz in der Erscheinung dem äußeren Sinne, so wie das denkende Ich, gleichfalls als Substanz in der Erscheinung, vor dem inneren Sinne gegeben; und nach den Regeln, welche diese Kategorie in den Zusammenhang unserer äußeren sowohl als inneren Wahrnehmungen zu einer Erfahrung hineinbringt, müssen auch beiderseits Erscheinungen unter sich verknüpft werden. (A 379)
In dem Absatz, von dem dieses Zitat stammt, geht es um Kants Überlegung über Dualismus. Im obigen Zitat ist es leicht zu sehen, dass Kant den empirischen Dualismus bzw. den Dualismus „im empirischen Verstand“ einräumt. Das heißt, dass es laut Kant sowohl „Materie als Substanz in der Erscheinung“ als auch „das denkende Ich […] als Substanz in der Erscheinung“ gibt. Sie sind jeweils dem äußeren Sinn und dem inneren Sinn gegeben. Also vertritt Kant hier die Ansicht, das Ich als Erscheinung sei substantia phaenomenon. Allerdings liefert Kant hier keine weiteren Ausführungen. Denn Kants Ziel im genannten Absatz besteht nur darin, den transzendentalen Dualismus zu widerlegen. Dies kann ich hier nicht weiter verfolgen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Kant an dieser Stelle schon eine Anspielung darauf gibt, wie sich das empirische Ich als Substanz verstehen lässt, indem er sagt, dass innere Wahrnehmungen und äußere Wahrnehmungen einerseits sowie innere Erscheinungen und äußere Erscheinungen andererseits in „einer Erfahrung“ verbunden werden. Dies impliziert, dass das empirische Ich, das „durch den innern Sinn in der Zeit vorgestellt“ (A 379) wird, nur dann als Substanz in der Erscheinungen betrachtet werden kann, wenn es Gegenstände des äußeren Sinnes gibt, die das Beharrliche möglich machen. Diese Anspielung kann man nur anhand Kants Überlegungen in der transzendentalen Analytik entwickeln. In der ersten Analogie „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz“ (A 182 ff./ B 224 ff.) hat Kant den folgenden Hauptgedanken dargestellt: Alle Zeitbestimmungen sind nur in Bezug auf das Beharrliche möglich. Dieses Beharrliche lässt sich daher als ein Substratum verstehen, das Kant auch „die Substanz in der Erscheinung“ (B 225) nennt. Somit ist die Beharrlichkeit eine notwendige Bedingung, unter der die Substanzkategorie auf Erscheinungen angewandt werden kann. Später vertritt Kant in der „Widerlegung des Idealismus“ (B 274 ff.) die Ansicht, dass innere Erfahrung nur durch äußere Erfahrung möglich ist. Genauer gesagt: Das empirische Bewusstsein meiner zeitlich bestimmten Existenz setzt das Bewusstsein der Existenz der Gegenstände im Raum voraus, weil nur an den Gegenstände im Raum das Beharrliche, das die Zeitbestimmungen ermöglicht, anzutreffen ist. Wie wir bereits in Abschnitt 6.2 ausgeführt haben, geht aus dieser Kantischen Konzeption hervor, dass wir nur dann unsere in der Zeit bestimmte Existenz erkennen, wenn wir organische Körper haben und mithin uns von den Gegenständen im Raum unterscheiden. Ich kann hier auf Kants ganzen Gedankengang nicht eingehen. Für meinen Zweck reicht es nun, darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung unserer zeitlichen Existenz nur im Zusammenhang mit der physikalischen Welt, in der wir uns befinden, möglich ist. Das heißt, dass wir nur dann eine innere Erfahrung haben können, wenn wir
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zugleich eine äußere Erfahrung haben. Wie Kant sich im Zitat aus A 379 ausdrückt, müssen innere und äußere Wahrnehmungen einerseits sowie innere und äußere Erscheinungen andererseits nach Regeln (z. B. „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz“) in einem Zusammenhang stehen, um „eine Erfahrung“ bzw. „eine einzige Erfahrung“ auszumachen, die „nicht einmal innerlich stattfinden würde, wenn sie nicht (zum Teil) zugleich äußerlich wäre“ (B XXXIX Anm.). Was folgt daraus für die Kantische Behauptung der Anwendung der Substanzkategorie? Erstens ist es naheliegend, dass sich Substanzkategorie auf Gegenstände im Raum berechtigterweise anwenden lässt, wie Kant sagt: „Die Körper sind phaenomena substantiata […].“596 Zweitens ist es nicht schwer zu sehen, dass Substanzkategorie nur dann auf das empirische Ich angewandt werden kann, wenn es zugleich als Gegenstand seines äußeren Sinnes in der Welt existiert. Denn die Bestimmung meiner eigenen Existenz in der Zeit ist vom Beharrlichen abhängig, das wiederum nur dann möglich ist, wenn ich räumliche Gegenstände anschaue. Dass ich von mir unterschiedene Gegenstände im Raum anschaue, erfordert freilich, dass ich selber auch einen organischen Körper haben muss. Dafür sprechen zwei Textpassagen aus einer Reflexion: Wir sind uns selbst vorher Gegenstand des äußeren Sinnes, denn sonst würden wir unseren Ort in der Welt nicht warnehmen und uns mit anderen Dingen im Verhältnis anschauen können. - Daher kann die Seele als Gegenstand des inneren Sinnes ihren Ort im Korper nicht warnehmen, sondern sie ist in dem Ort, worinn der Mensch ist. (R 6315, AA XVIII 619) Ich bin selbst ein Gegenstand meiner äußeren Anschauung im Raum und könnte ohne das meine Stelle in der Welt nicht wissen […]. (R 6315, AA XVIII 620)
Daraus ergibt sich, dass das Bewusstsein meiner körperlichen Existenz in der Welt dafür entscheidend ist, dass ich mir meiner selbst als eines denkenden Wesens bzw. eines empirischen Ich in einer bestimmten Zeit bewusst bin. Also kann man letztlich sagen, dass ich die zweite Bedingung der Anwendung des Gebrauchs der Substanzkategorie insofern erfüllt, als ich als Mensch in der Welt existiere. Um Kants Konzeption zum „res cogitans als substantia phaenomenon“ näher deutlich zu machen, möchte ich noch auf zwei Parallelstellen hinweisen. In den Prolegomena von 1783 findet sich eine Textstelle, an der Kant die Beharrlichkeit der Seele im Leben des Menschen für problemlos hält. Er schreibt: Wenn wir also aus dem Begriffe der Seele als Substanz auf Beharrlichkeit derselben schließen wollen, so kann dieses von ihr doch nur zum Behuf möglicher Erfahrung und nicht von ihr als einem Dinge an sich selbst und über alle mögliche Erfahrung hinaus gelten. Nun ist die subjective Bedingung aller unserer möglichen Erfahrung das Leben: folglich kann nur auf die Beharrlichkeit der Seele im Leben geschlossen werden, denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Erfahrung, was die Seele als einen Gegenstand derselben betrifft, wofern nicht das Gegentheil dargethan wird, als wovon eben die Frage ist. Also kann die Beharrlichkeit der Seele nur im Leben des Menschen (deren Beweis man uns wohl schenken wird), aber nicht nach dem Tode (als woran uns eigentlich gelegen ist) dargethan werden und zwar aus dem allgemeinen Grunde, weil der Begriff der Substanz, so fern er mit dem Begriff der Beharrlichkeit als nothwendig verbunden angesehen werden soll, dieses nur nach einem Grundsatze möglicher Erfahrung und also auch nur zum Behuf derselben sein kann. (AA IV 335)
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In dieser Passage geht Kant davon aus, dass der Schluss von der Substanz auf die Beharrlichkeit nur dann gültig ist, wenn wir uns auf mögliche Erfahrung beschränken. Da nun die subjektive Bedingung aller unserer Erfahrung das Leben ist, sind wir nur dazu berechtigt, von der Beharrlichkeit der Seele im Leben zu sprechen. Kant hat nicht näher erklärt, wie sich diese Beharrlichkeit der Seele im Leben des Menschen beweisen lässt, sondern nur gesagt, dass „man uns wohl [diesen Beweis] schenken wird“. Aber dieser Hinweis ist bereits für unseren Zweck ausreichend, denn wir wollten nur zeigen, dass für Kant die Beharrlichkeit eines empirischen Subjekts bzw. des Ich im Leben unbestreitbar ist. Was Kants Position über die Seele im Leben als Gegenstand des inneren Sinnes betrifft, schreibt Dina Emundts: „An dieser Stelle ist wieder beachtenswert, dass Kant von der Seele als Gegenstand des inneren Sinns spricht: sofern ich mich als empirisches Ich durch Prädikate bestimme, kann ich auch die Beharrlichkeit dieses Ich im Leben annehmen.“ 597 Darüber hinaus spricht Kant im Paralogismus-Kapitel von 1787 noch einmal davon, dass die Beharrlichkeit der Seele im Leben unbestreitbar ist. Die bekannte Passage lautet: 598 Also bleibt die Beharrlichkeit der Seele, als bloß Gegenstandes des inneren Sinnes, unbewiesen und selbst unerweislich, obgleich ihre Beharrlichkeit im Leben, da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich klar ist, womit aber dem rationalen Psychologen gar nicht Gnüge geschieht, der die absolute Beharrlichkeit derselben selbst über das Leben hinaus aus bloßen Begriffen zu beweisen unternimmt. (B 415)
In diesem Zitat weist Kant zunächst auf seine konsequente Position hin, die Beharrlichkeit der Seele sei insofern unbeweisbar, als die Seele als ein bloß denkendes Wesen, das erfahrungsunabhängig existiert, verstanden wird. Ein solches Wesen ist die Seele, mit der sich die rationale Psychologie beschäftigt. Es ist schon klar geworden, dass Kant durchaus die Beharrlichkeit eines solchen Wesens leugnet. Nun ist bemerkenswert, dass in Kants Augen die Beharrlichkeit der Seele im Leben „für sich klar“ ist. Sein Argument ist, das denkende Wesen (als Mensch) bzw. der Körper des Menschen sei zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne. Das heißt nichts anderes, als dass der Körper, auf dem das menschliche Leben beruht, möglich macht, dass jedes denkendes Wesen sich selbst als ein im Leben beharrliches Objekt betrachten kann, wobei sein Körper einen Beweis dafür liefert. Also ist die Beharrlichkeit der Seele als eines empirischen Subjekts eine empirische Tatsache, die jeder zugesteht, so Kant, „für sich klar“. Allerdings hat Kant an dieser Stelle wie früher die Beharrlichkeit des empirischen Ich nicht weiter thematisiert, denn er hat, wie wir sehen werden, die Auseinandersetzung mit diesem Ich einer empirischen Wissenschaft zugeordnet. Aus der obigen Analyse ergibt sich, dass das denkende Ich, insofern es als Mensch im Leben existiert, die genannten zwei Bedingungen für die Anwendung der Substanzkategorie erfüllt. 599 Somit ist das Ich (res cogitans) als Mensch substantia phaenomenon. Von diesem 597 598 599
Emundts 2012, S. 206. Eine andere Parallelstelle vgl. A 672/ B 700. Um die Anwendbarkeit der Substanzkategorie auf den Gegenstand des inneren Sinnes zu erklären, hat Klemme anhand Kants Ausführungen im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ einen Vorschlag gemacht. Er geht davon aus, dass die Idee des absoluten Subjekts bzw. die Seele als ein Schema fungieren kann, auf das sich die Substanzkategorie bezieht. Mit anderen Worten: Das absolute Subjekt als ein kontinuierliches Schema kann die fehlende Beharrlichkeit ersetzen. Somit kann auch diese Konzeption der empirischen Psychologie zugrunde liegen. Dazu schreibt er: „Diese Theorie [die Theorie des regulativen Gebrauchs der Ver-
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Ich haben wir, so schreibt Strawson, „[t]he empirical concept of a subject of experience“ 600. Wir können uns deshalb erkennen, wie wir uns erscheinen, weil wir mit Hilfe des inneren und des äußeren Sinnes unsere Existenz in der Zeit bestimmen können, indem wir etwa festlegen können, dass wir waren, wir sind und wir sein werden. In diesem Sinne kann man sagen, dass wir uns als Objekte erkennen. Also haben wir empirische Selbsterkenntnis, wie Kant selbst schreibt: Das Erkentnis meiner selbst als in der Zeit bestimmten Wesens. Dies ist das empirische Erkentnis. - Daß das letztere nur [als] das [Dase] meiner selbst als in einer Welt existirenden Wesens seyn könne und zwar um des empirischen Bewustseyns und seiner Moglichkeit willen, so fern [es] ich mich als object erkennen soll, wird auf folgende Art bewiesen. (R 6313, AA XVIII 615)
Abschließend möchte ich nur noch darauf hinweisen, dass diese Schlussfolgerung in Kants Erkenntnistheorie von großer Bedeutung ist. Denn man könnte Bedenken haben: Ist das nicht trivial, dass wir uns als Menschen erkennen? Ist das nicht nur ein Vorwand, dem Leib-SeeleProblem auszuweichen? Meine Antwort wird sein: Nein. Die Schlussfolgerung hat mindestens zwei Vorteile. Erstens dient sie zu einer kritischen Warnung. Laut Kant sind wir dazu nicht berechtigt, Erkenntnisanspruch auf so etwas wie eine Seele an sich zu erheben. Eine solche Seele, die unabhängig von unseren menschlichen Körpern existiert, gibt es nicht. Die Seele, die in der rationalen Psychologie zum Gegenstand gemacht wird, ist nichts anderes als ein „Blendwerk“, das dadurch entsteht, dass man das denkende Ich, das bloß als logische Bedingung in allen Gedanken existiert, „hypostasiert“ (vgl. A 384; A 395). Somit sind die Fragen, die sich mit der Gemeinschaft von Körper und Seele vor der Geburt und nach dem Tod beschäftigen, nur falsch gestellte Fragen. Folglich sagt Kant: „Es gibt also keine rationale Psychologie als Doktrin, die uns einen Zusatz zu unserer Selbsterkenntnis verschaffe, sondern nur als Disziplin, welche der spekulativen Vernunft in diesem Felde unüberschreitbare Grenzen setzt.“ (B 421) Im Gegensatz dazu sind wir laut Kant ausschließlich berechtigt, „unsere Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studieren“ (A 382). Denn der menschliche Körper ist, schreibt Kant, eine „restringierende Bedingung [des Denkens]“ (A 779/ B 807). Eine solche Wissenschaft, die die menschliche Seele auf empirische Weise zum Forschungsgegenstand macht, nennt Kant „eine Art der Physiologie des inneren Sinnes“ (B 406) bzw. empirische Psychologie. 601 Zweitens haben wir zwar von dem empirischen Ich bzw. der „Seele nach der empirischen Psychologie“ 602 die empirische Selbsterkenntnis, nämlich die empirische Erkenntnis, die „wir im Leben, mithin in der Verbindung der Seele mit dem Körper, erwerben können“ 603. Zum Beispiel wissen wir, dass wir als Menschen in einer bestimmten Zeit existieren. Aber die sogenannte empirische Psychologie, die aus dem System der empirischen Selbsterkenntnis be-
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nunftideen] ist dem Projekt einer empirischen Psychologie nach Kant insofern dienlich, als sie die Rede von einer Substanz im inneren Sinn ermöglicht, die unter der Modalität des ‚als ob‘ steht.“ (Klemme 1996, S. 229) Das ist ein bemerkenswerter Weg, das Problem der Anwendung der Kategorie aufzulösen. Da die Idee des absoluten Subjekts schon über Erfahrung ausgegangen ist, werde ich diese Konzeption nicht thematisieren. Strawson 1966, S. 163. Vgl. „Psychologia empirica ist die Erkenntniß von den Gegenständen des innern Sinnes, so fern sie aus der Erfahrung geschöpft ist.“ (Metaphysik L1, AA XXVIII 222) Prolegomena, AA IV 337. Preisschrift, AA XX 286.
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steht, ist keine eigentliche Wissenschaft. Dies begründet Kant in der Vorrede zum Werk Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft damit, dass er zeigt, dass „in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ 604. Zur eigentlichen Wissenschaft gehört die empirische Psychologie deshalb nicht, weil „Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist“ 605. Somit fährt Kant fort: „Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und als solche, so viel möglich, systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden […].“ 606 Schließlich weist Kant im Architektonik-Kapitel der Kritik ausdrücklich darauf hin, dass die empirische Psychologie nicht zur Metaphysik gehört und sie als ein „Fremdling“ (A 849/ B 877) der Sache nach in die Anthropologie versetzt werden soll. 607
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MAN, AA IV 470. MAN, AA IV 471. MAN, AA IV 471. Vgl. „In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten, und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen wollen.“ (A 550/ B 578)
Schluss Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage, was das Selbstbewusstsein bei Kant ist. Die Untersuchung zu den drei in Kants Begriff des Selbstbewusstseins implizierten Aspekten ist ein Versuch, diese Frage systematisch zu beantworten. Rufen wir uns den zurückgelegten Weg noch einmal in Erinnerung. Bewusstsein ist Kant zufolge in Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein eingeteilt. Das reine Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein vom logischen Ich. Dieses Ich muss als ein gemeinschaftliches Subjekt, dem verschiedene Vorstellungen zukommen, vorausgesetzt werden, um Gedanken auszumachen. Wo es Gedanken gibt, da existiert das logische Ich. Das reine Selbstbewusstsein liegt allem empirischen Bewusstsein und allen Erkenntnissen von Gegenständen zugrunde. (Kap. 1) Der innere Sinn ist nicht ohne den äußeren Sinn möglich. Der innere Sinn kann nämlich genau dann seine Funktion realisieren, wenn der Verstand die gegebenen Vorstellungen durch die Synthesis der Einbildungskraft gemäß der Form des inneren Sinnes verbindet, wobei der innere Sinn durch diese Operation des Gemüts affiziert wird. Der innere Sinn muss als Vereinigung von Rezeptivität und Spontaneität angesehen werden, so dass er die Vorstellungen äußerer Gegenstände bewusst machen kann. Der innere Sinn ist auch ein Vermögen des empirischen Selbstbewusstseins. (Kap. 2) Ich bin mir meiner selbst als ein und dasselben Subjekt in verschiedenen Vorstellungen bewusst, indem ich mir sie zuschreibe und sie als meine Vorstellungen bezeichne. Dieses Bewusstsein der Identität des Ich setzt aber voraus, dass das Gemüt auf bestimmte Art und Weise die gegebenen Vorstellungen synthetisiert. Diese Synthesis der Vorstellungen erweist sich letztlich als kategoriale Synthesis. (Kap. 3) Dass verschiedene Vorstellungen einen Gedanken bilden können, setzt voraus, dass ein denkendes Subjekt, dem diese Vorstellungen inhärieren, unteilbar ist. Damit ist dieses Subjekt sich bewusst, dass in ihm verschiedene Vorstellungen auf synthetische Weise – Apprehension, Reproduktion und Rekognition – verbunden sind. Diese synthetische Einheit des Selbstbewusstseins ist aber nur dann objektiv, wenn unsere Vorstellungen durch Kategorienanwendung Bezug auf empirische Gegenstände haben. Somit kommt die Einheit des Selbstbewusstseins unter der Voraussetzung zustande, dass wir empirische Gegenstände erkennen. (Kap. 4) Das Bewusstsein der Identität des logischen Ich ist nur eine notwendige Bedingung für personale Identität. Das logische Ich für sich genommen darf noch nicht als eine Person bezeichnet werden. Die personale Identität ist nur dann möglich, wenn ich zugleich als ein Objekt der äußeren Anschauung in verschiedenen Zeiten kontinuierlich existiere und ein Bewusstsein davon habe. Also verfügen wir als Menschen personale Identität. (Kap. 5) Ich bin mir meiner Existenz als ein logisches Subjekt, dem meine Vorstellungen zukommen, insofern bewusst, als ich diese Vorstellungen verbinde und sie zum Gedanken mache. Ich bin mir aber nur dann meiner Existenz als in der Zeit empirisch bestimmt bewusst, wenn ich mir der Existenz der von mir unterschiedenen räumlichen Gegenstände bewusst bin. Demnach muss ich auch zugleich als ein körperliches Wesen im Raum eine Stelle einnehmen. Aus diesem Grund kann ich mich nur als Erscheinung erkennen, also als einen Menschen, der in der physikalischen Welt existiert. (Kap. 6)
Hiermit ist die Antwort auf die Ausgangsfrage gegeben: Wessen ich mir bewusst bin, ist zunächst ein und dasselbe Ich, dessen Identität durch die Selbstzuschreibung der verschiedenen Vorstellungen zum Ausdruck kommt. Aber die Identität des reinen Selbstbewusstseins impliziert noch keine personale Identität. Wessen ich mir bewusst bin, ist dann ein spontanes Ich, das zwischen den gegebenen Vorstellungen durch Synthesis eine Einheit herstellt, so dass sich diese Vorstellungen auf ein Objekt beziehen können. Damit ist die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins eine objektive Einheit. Wessen ich mir bewusst bin, ist schließlich ein inhaltsloses Ich, dessen Existenz weder als Erscheinung noch als Ding an sich selbst anzusehen ist, sondern nur als eine logische Bedingung der Möglichkeit der Gedanken fungiert. Das
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 X. Luo, Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04837-0_8
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Schluss
Bewusstsein dieser logischen Existenz des Ich ist daher als ein intellektuelles Bewusstsein zu bezeichnen. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Selbstbewusstsein bei Kant nichts anderes als den Sachverhalt bedeutet, ich sei mir meiner selbst als ein identisches, spontanes und logisches Subjekt bewusst. Das Bewusstsein der Identität des Ich, das Bewusstsein der Aktivität des Ich und das Bewusstsein der logischen Existenz des Ich sind also drei in Kants Begriff des Selbstbewusstseins implizierte Aspekte. Das Selbstbewusstsein entsteht laut Kant nur dadurch, dass ich unter Berufung auf Kategorienanwendung die von mir unterschiedenen Gegenstände erkenne. Das Gegenstandsbewusstsein, im Sinne von der Erkenntnis der Gegenstände verstanden, ist daher eine Bedingung dafür, dass das Selbstbewusstsein vorliegt. Was ich in dieser Arbeit darzustellen versucht habe, ist eine systematische Rekonstruktion von Kants Antwort auf die Frage, was das Selbstbewusstsein ist. Ich hoffe es plausibel gemacht zu haben, dass Kants reines Selbstbewusstsein durch Beschäftigung mit den von mir vorgeschlagenen drei Aspekten besser erklärt werden kann.
Literaturverzeichnis Abkürzungen AA Anthropologie De mundi Preisschrift GMS Jäsche-Logik Kritik KU MAN MS Op Prolegomena R
Akademie-Ausgabe von Kants gesammelten Schriften Anthropologie in pragmatischer Hinsicht De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Die Metaphysik der Sitten Opus postumum Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können Reflexionen aus dem Handschriftlichen Nachlass
Primärliteratur Kant, Immanuel (1900 ff.): Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin; New York: de Gruyter. ––––– (1998): Kritik der reinen Vernunft, Jens Timmermann (Hg.), Hamburg: Felix Meiner Verlag. Baumgarten, Alexander Gottlieb (2011): Metaphysica/Metaphysik, Stuttgart: frommannholzboog. Berkeley, George (1998): A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, Jonathan Dancy (Hg.), Oxford; New York: Oxford University Press. Frege, Gottlob (1990): „Der Gedanke“ (1918), in: Kleine Schriften, Ignacio Angelelli (Hg.), Hildesheim: Georg Olms Verlag, S. 342-362. Hume, David (2000): A Treatise of Human Nature, David Fate Norton; Mary J. Norton (Hg.), Oxford: Oxford University Press. James, William (1890): The Principles of Psychology, New York: Henry Holt. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996): Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Locke, John (1975): An Essay Concerning Human Understanding, Oxford: Oxford University Press.
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