Asphalt Tribe  GERMAN

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Morton Rhue

KINDER DER STRASSE Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz Mit einem Nachwort von Markus Seidel

Ravensburger Buchverlag

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. RAVENSBURGER JUNGE REIHE

© 2003 by Todd Strasser Published by arrangement with Todd Strasser © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. Umschlag – Dirk Lieb unter Verwendung von Fotos von Sibylle Krebs Lektorat – Petra Deistler Printed in Germany ISBN 3-473-35246-2 www.ravensburger.de

»Ein Glück, dass Morton Rhue mit diesem Buch dazu beiträgt, die Existenz von Straßenkindern in der ›Ersten Welt‹ ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.« Doris Schröder-Köpf Sie sind zu acht und nennen sich »Asphalt Tribe« – ein Stamm, der auf der Straße zu überleben versucht. Rainbow, die an der Nadel hängt, und der Anarchist Maggot, 2Moro und Jewel, die sich auf dem Strich den Rausch der Clubbing-Nächte verdienen, OG und sein Hund Pest, die kleine Tears und Maybe, die Berichterstatterin. Maybe erzählt von Kälte und Hunger, von Sozialarbeitern und Zuhältern, von durchtanzten Nächten und verschlafenen Tagen, von Stolz und Erniedrigung. Doch der Preis der Freiheit ist hoch und fordert tödlichen Tribut. »Asphalt Tribe ist Realität pur. Nie zuvor wurde eindrücklicher beschrieben, wie sehr sich Straßenkinder in den wohlhabenden Ländern trotz greifbarer Perspektiven selbst blockieren. Dieses Buch ist ein präventiver Meilenstein.« Markus Seidel, Initiator der Straßenkinder-Hilfsorganisation Off-Road-Kids

Grußwort

Nein, nicht jeder bunthaarige Punk lebt auf der Straße. Ganz im Gegenteil. Aber dennoch gibt es sie: Straßenkinder in wohlhabenden Ländern – auch in Deutschland. Doch viele bleiben von der Öffentlichkeit unbemerkt, da sie es durchaus verstehen, sich eben gerade nicht mit bunten Haaren zu erkennen zu geben. Wann immer ich mit Straßenkindern in verschiedenen deutschen Hilfeeinrichtungen gesprochen habe, war ich erstaunt, wie vielen es gelingt, wie ganz normale Jugendliche auszusehen – abgesehen vom traurigen Blick in ihren Augen. Diese Jugendlichen haben die Straße nicht selten als letzten Ausweg aus einer unerträglichen Situation gewählt. Von völliger Vernachlässigung bis hin zu schlimmen Misshandlungen reichen die »Familienerlebnisse« dieser jungen Menschen. Doch die Hoffnung, auf der Straße werde sich das Leben zum Guten wenden, wird jäh enttäuscht. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Frustration ist dann häufig der Nährboden für Drogenkarrieren. Ein Glück, dass es auch in Deutschland Hilfsorganisationen wie beispielsweise Off-Road-Kids e.V. gibt, die sich bemühen, für diese Jugendlichen neue Perspektiven zu erarbeiten. Ein Glück, dass Morton Rhue mit diesem Buch dazu beiträgt, die Existenz von Straßenkindern in der »Ersten Welt« ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Doris Schröder-Köpf

»Hier ist, wo du bist. Da ist, wo du hinwillst. Aber du kommst nicht von hier nach da.« Harrison Blanchard alias OG

EINS Silvester

Maggot sagte, wir sollten zum Times Square gehen und dort auf zwölf Uhr warten, da könnten wir bestimmt ein paar Leute beklauen, aber so weit sind wir gar nicht erst gekommen. Wir, also Maggot, Rainbow, 2Moro und ich, wir hingen bloß wie immer vor dem Good Life rum. Kalter Nebel wehte aus dem Park rüber, die Tröpfchen funkelten unter den Straßenlaternen. Maggot und ich saßen unter der Markise des Zeitungsstands an der Ecke. Die feuchte Luft verklebte unsere Haare. Auf der Straße glänzten schwarze Pfützen und aus den Gullideckeln stiegen Dampfwolken auf wie Gespenster. Rainbow hockte an der Mauer, ihr Kopf hing ihr fast im Schoß. 2Moro lehnte an der Laterne, sie hielt die Arme gegen die Kälte vor der Brust verschränkt, sprach aber keinen an, sondern wartete nur darauf, dass irgendjemand sie ansprach. Es war eine dieser Nächte mit nur wenig Verkehr auf den Straßen von New York. Die meisten Leute waren nach ihren tollen Neujahrspartys längst wieder in die winzigen Zellen zurückgekehrt, die sie Wohnungen nannten. Gefangene des Systems, so nannte Maggot die. Um diese Zeit fuhren hier draußen in der feuchten Kälte nur die Wagen der Zeitungsauslieferer und ein paar vereinzelte Taxis vorbei. Ihre Reifen machten ratschende Geräusche auf dem nassen Asphalt. Hier draußen in der Kälte, wo wir nicht in Zellen lebten, waren wir frei. Wir konnten überall hingehen, ganz egal wohin wir wollten.

»Schätze, die Cops haben diese Nacht frei«, sagte Maggot. Der Nebel verfilzte seine braunen Dreadlocks noch mehr. Sein Atem war eine kleine Dunstwolke. »Der Rest der Welt auch«, brummte 2Moro. Sie trug eine kurze orangerote Patchworkjacke, dazu einen engen schwarzen Rock und hohe schwarze Stiefel. Ihre hellrot gefärbten kurzen Haare klebten ihr an der Stirn wie eine Mütze. Ihre Piercings schimmerten im Licht der Laterne. Um ihren Hals hatte sie einen Ring aus Stacheldraht tätowiert. Ich schlürfte kalten Kaffee aus einem Pappbecher. Nachts trank ich Kaffee, um wach zu bleiben. Es war sicherer, tagsüber zu schlafen. Ein Mann und eine Frau bogen um die Ecke, sie trugen Regenmäntel und einen roten Schirm. Als sie uns sahen, wurden sie langsamer. Die Frau hakte sich bei dem Mann unter und sagte etwas. Wahrscheinlich wollte sie, dass sie kehrtmachten und einen anderen Weg nahmen. Aber der Mann schüttelte den Kopf. Und mit steifen Schritten gingen sie durch den Nebel weiter auf uns zu. Als sie fast bei uns waren, rümpfte die Frau die Nase, als ob sie etwas Schlimmes riechen würde. » Schönen Abend gehabt?«, fragte Maggot, und es klang irgendwie drohend. Das Paar blieb stehen. »Ja, allerdings«, antwortete der Mann. »Morgen keine Arbeit, ja?«, sagte Maggot. »Könnt ausschlafen.« »Stimmt genau.« »Und danach dann wieder der alte Alltagstrott«, sagte Maggot. »So könnte man sagen«, antwortete der Mann. »Frohes neues Jahr«, brummte 2Moro in wenig freundlichem Ton.

»Euch auch«, sagte der Mann. Er und die Frau eilten weiter. Sie sah immer wieder über die Schulter zurück, bis sie die nächste Ecke erreicht hatten. »Roboter«, sagte Maggot. »Halten sich immer an die Regeln. Arbeiten, bis sie sterben. Dann werden sie von neuen Robotern ersetzt.« »Seht mal.« 2Moro drehte den Kopf und sah die Straße hinunter. Ein Mann schwankte mit schlurfenden Schritten auf uns zu. Sein Anzug war an der Schulter durchnässt, sein weißer Hemdkragen stand offen, ein blau-roter Schlips hing schlaff vorne raus wie ein Galgenstrick. Er war glatt rasiert und die nassen Haare klebten ihm in der Stirn. Wir sahen schweigend zu, wie er in unsere Richtung torkelte; noch hatte er uns nicht bemerkt. Als er unter einer Laterne vorbeiging, blinkte an seinem Handgelenk etwas Goldenes auf, und das Licht spiegelte sich in seinen polierten Lederschuhen. »Na komm schon«, flüsterte Maggot und ließ seine Knöchel knacken. Rainbow, die immer noch an der Mauer saß, hob ihren blonden Kopf. »Mensch, Maggot. Du hast sie echt nicht alle. Du hast doch noch nie einen Betrunkenen ausgeraubt.« »So was passiert andauernd. Kann ja wohl nicht so schwer sein.« »Er ist groß«, sagte ich. »Je größer sie sind, desto tiefer fallen sie auch.« Maggot stand auf. »Der kriegt doch gar nicht mit, was mit ihm geschieht.« »Okay, tun wir’s«, sagte 2Moro. Sie ging über den Gehweg und stellte sich zu Maggot in den Schatten des Zeitungsstands. Rainbow drückte ihre Hände auf den Boden und versuchte sich hochzustemmen. »Komm, Maybe. Wir hauen ab.« Sie konnte sich nicht halten und rutschte wieder zurück.

»Versuch’s noch mal.« Ich packte sie unter den Armen an der Lederjacke und half ihr hoch. Aus den Augenwinkeln sah ich den Betrunkenen auf dem dunklen, nassen Gehweg, noch zehn Meter entfernt. Er blickte auf, bemerkte uns und blieb stehen. Ich drehte Rainbow an den Schultern herum und führte sie weg. Wir waren schon ein Stück die Straße runter, als die Schlägerei losging. Maggot und 2Moro versuchten den Betrunkenen auf den Boden zu pressen. Maggot zerrte von vorne an seiner Jacke. 2Moro schlug von hinten auf ihn ein. Aber der Mann schien gar nicht zu kapieren, was das sollte. 2Moro und Maggot reichten ihm kaum bis an die Schultern. Er schwang die Arme und Maggot segelte auf den nassen Gehweg. Dann griff er hinter sich und bekam 2Moro zu fassen, stieß sie weg, und sie verschwand zwischen zwei geparkten Autos. Der Typ wollte schon weitergehen, stolperte aber über Maggot und landete auf Händen und Knien. Maggot stand auf und sprang ihm auf den Rücken. 2Moro kam zwischen den Autos hervor und trat dem Mann in die Seite. Der Typ riss Maggot zu Boden und setzte sich rittlings auf ihn. 2Moro trat und prügelte immer noch auf ihn ein, aber das schien er kaum mitzukriegen. Er rammte Maggot eine Faust ins Gesicht. Rainbow und ich waren schon einen Block weiter, aber wir hörten das krachende Geräusch selbst aus dieser Entfernung. Der Betrunkene packte 2Moro am Unterarm. Sie versuchte ihn abzuschütteln, aber er ließ nicht los. Er kam taumelnd hoch und holte aus, als ob er sie schlagen wollte. »Nein!«, schrie ich. Ich ließ Rainbow stehen und rannte zu den anderen zurück. Ich kann da nicht zusehen, wenn Kids geschlagen werden. Bin selbst zu oft verprügelt worden. Und nicht nur mit Fäusten.

Der Mann hielt 2Moro immer noch am Arm, drehte sich aber nach mir um. Drei Meter vor ihm blieb ich stehen. »Bitte, tun Sie ihr nicht weh, Mister. Bitte!« Er sah mich entgeistert an. »Die haben mich überfallen,« schrie er. »Das sind doch noch Kids. Das war nur Spaß.« »Nur Spaß? Bist du verrückt? Die wollten mich zusammenschlagen. Die wollten mich ausrauben.« Maggot setzte sich auf dem Bürgersteig auf und hielt sich die Hände vor Mund und Nase; dunkelrotes Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Der Mann hielt 2Moro immer noch am Arm. Sie versuchte ihn zu schlagen, schaffte es aber nicht. »Lass mich los!«, kreischte sie. »Sie können sie loslassen«, sagte ich. »Sie ist doch nur ein Mädchen. Bitte!« »Willst du mich verarschen? Die ist zweimal so schlimm wie der da.« Er zeigte auf Maggot. »Bitte, lassen Sie sie los«, sagte ich. »Ich versprech’s Ihnen, sie wird Ihnen nichts tun.« »Ich bring das Schwein um!«, schrie 2Moro, die noch immer um sich schlug wie ein wildes Tier. Der Typ drehte ihr den Arm auf den Rücken. »Au!«, kreischte 2Moro. »Hör jetzt verdammt noch mal auf«, sagte ich zu ihr. »Sonst tut er dir noch richtig weh.« 2Moro gab endlich auf. »Ich lass dich nur los, wenn du sofort verschwindest«, sagte der Betrunkene. »Leck mich«, fauchte 2Moro. Er riss ihr den Arm hinterm Rücken hoch. 2Moro schrie auf und sackte schlaff zusammen. »Okay, okay, loslassen«, winselte sie. Der Mann ließ los. 2Moro stolperte davon und hielt sich das Handgelenk. Das Ganze musste den Typ

ziemlich nüchtern gemacht haben, denn er stand jetzt ganz gerade und rückte sich sogar den blau-roten Schlips zurecht. Er blickte an seinem Anzug hinunter. Die Hose war am Knie eingerissen. »Jetzt guckt euch bloß mal an, was ihr angerichtet habt.« »Entschuldigung«, sagte ich. »Entschuldigung?«, wiederholte er. »Deine Freunde überfallen mich und du sagst Entschuldigung?« »Die wollten bloß ‘n bisschen Geld.« »Dann hätten sie fragen sollen«, sagte der Mann. Er sah sich um. Maggot saß immer noch auf dem Bürgersteig und starrte das Blut an seinen Händen an. Weiter hinten hockte Rainbow an einer Hauswand, Kopf und Schultern waren wieder weit nach vorn gesunken, 2Moro hatte sich zu ihr gesetzt. »Ich glaub’s nicht – ein Haufen obdachlose Punks, die am Silvesterabend ein paar Betrunkene ausrauben wollen«, brummte der Mann angewidert. »So ist das wohl«, murmelte Maggot. »Tja, da seid ihr an den Falschen geraten.« Der Mann ging los. Dann griff er in die Hosentasche und warf eine Hand voll Kleingeld auf den nebligen Bürgersteig. Die Münzen klimperten noch, als er sagte: »Na dann, frohes neues Jahr.«

ZWEI

Alexander Mittelson alias Country Club. Geboren in Shaker Heights, Ohio. Vater Anwalt, Mutter Juraprofessorin an der Case Western Law School. Geschieden, als Alexander fünf Jahre alt war. Zwei Schwestern; eine verheiratet in Cleveland, die andere in Los Angeles. Mit acht Jahren wurde bei Alexander ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom festgestellt. Trotz Medikamenten und fachärztlicher Betreuung ließen seine schulischen Leistungen nach. Mit vierzehn kam eine Depression hinzu. Reizbar, emotional labil, Suchttendenz. In der Schule häufiges Zuspätkommen oder Fehlen. Missbrauch von Medikamenten und Alkohol. Ab dem sechzehnten Lebensjahr kein weiterer Schulbesuch. Mit siebzehn von zu Hause fortgelaufen. Obdachlos. Zahlreiche Festnahmen wegen Ruhestörung, kleineren Diebstählen, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit. Letzter bekannter Wohnsitz: New York City. Gestorben mit 22. Todesursache: Leberversagen infolge chronischer Alkoholvergiftung.

Country Club lag in der Pissgasse neben einem Weihnachtsbaum, den jemand aus dem Fenster geworfen hatte. Der Weihnachtsbaum lag auf der Seite; Country Club lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geöffnet. Glasig und leblos. Als ob er in den Himmel starren würde. An sonnigen Tagen waren Country Clubs Augen manchmal grün gewesen. Aber an diesem kalten trüben Tag waren sie so grau wie die Wolken am Himmel.

Seine Haut unter der Schmutzschicht war grünlich gelb. Er hatte einen hellbraunen Bart, so dünn, dass Kinn und Kieferpartie deutlich darunter zu sehen waren. An der linken Wange hatte er eine längliche verschorfte Wunde. Auf die rechte Wange war ein kleines schwarzes Spinnennetz tätowiert. Seine langen zerzausten Haare waren zwischen Zeitungsfetzen, Bonbonpapierchen und Strohhalmen auf dem Pflaster ausgebreitet. In seinem Bart hingen Papierschnipsel und Krümel und ein silberner Lamettafaden. Die Arme hatte er von sich gestreckt. Eine Hand nach oben, die andere nach unten. Die Hüfte leicht eingedreht, die Beine angewinkelt, als würde er laufen. Aber er ging nirgendwo mehr hin. In der Pissgasse stank es nach Pisse, weil die Restaurants und Geschäfte uns nicht erlaubten, ihre Toiletten zu benutzen. OG kniete schluchzend neben Country Club. Die Tränen hinterließen helle Streifen auf seinen schmutzigen Wangen. Wenn Straßenleute weinen, sind ihre Tränen dunkel vor Schmutz. OG hatte lange graublonde Dreadlocks und einen buschigen blonden Bart. Ein Ohrläppchen war sehr weit gedehnt und mit einem durchsichtigen runden Plug geschmückt. Er trug auch Barbeils oder Ringe in Augenbrauen, Nase und Lippen. OG und Country Club waren Partner. Sie waren immer zusammen gereist. OG hustete in rasselnden Stößen. Stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und hustete und hustete. Dann spuckte er grünen Schleim aus. Maggot, Tears und ich standen daneben und sahen zu. Mein Magen knurrte und schmerzte vor Hunger. »Er muss in der Nacht gestorben sein«, sagte Maggot. Seine Nase und die linke Mundseite waren von den Schlägen des

Betrunkenen rot und blau geschwollen. Auf seinem Sweatshirt war ein großer rötlich brauner Fleck, getrocknetes Blut. »Wie?«, fragte Tears. Sie war erst vor ein paar Wochen aufgetaucht und das neueste und jüngste Mitglied unseres Stamms. »Keine Ahnung«, sagte Maggot. »Glaube nicht, dass er ermordet wurde. Kein Blut zu sehen.« Maggot redete anders als wir. Wir hätten wahrscheinlich »abgemurkst« gesagt. Aber Maggot sagte »ermordet«. Tears sah mich aus großen runden braunen Augen an, die fast ganz unter ihren schwarzen Ponyfransen verschwanden. »Hast du schon mal einen Toten gesehen?«, fragte sie. Ich wusste es nicht. Manchmal war es echt schwer, sich zu erinnern. »Ja«, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war. »Schon mal einen Toten angefasst?«, fragte Maggot. Das sollte wohl eine Mutprobe werden. »Du?«, fragte ich zurück. Maggot trat näher an die Leiche heran. Ging in die Hocke und legte eine Hand auf Country Clubs schmutzige Stirn. Ließ sie dort kurz liegen, stand auf und kam wieder zu uns zurück. »Wie hat sich das angefühlt?«, keuchte Tears. Auf den ersten Blick sah sie ungefähr so alt aus wie ich. Sie hatte schon eine richtige Figur. Aber sie benahm sich noch ziemlich kindlich, und wenn man genauer hinsah, merkte man, dass sie noch nicht ausgewachsen war. Ihre Augen waren irgendwie zu groß für ihr rundes Gesicht. Deshalb hatte sie immer so einen verschreckten Ausdruck. Als ob alles, was sie sah, ‘ne Riesenüberraschung wäre. »Es war unheimlich«, antwortete Maggot. »Ich meine, seine Haut fühlt sich so kalt an. Aber das ist nicht das Einzige. Na los. Probier es selbst mal aus.«

Tears sah mich mit diesen großen dunklen Kinderaugen an. Als wollte sie wissen, ob sie es tun sollte. Oder ob ich es tun würde. Ich ging rüber und hockte mich hin, so wie Maggot gerade eben. Inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass ich noch nie einen Toten gesehen hatte. Sogar noch nie auf einer Beerdigung gewesen war. Sie sagen, wenn man stirbt, kommt man entweder in den Himmel oder in die Hölle. Vielleicht gibt es wirklich eine Hölle, denn ich habe mal im Fernsehen was über Vulkane gesehen, da wurde gesagt, dass tief unten in der Erde alles aus glühend heißen geschmolzenen Felsen besteht. Aber wo ist der Himmel? Die Leute sagen, der Himmel ist oben in den Wolken. Aber was ist an wolkenlosen Tagen? Wo ist der Himmel dann? Ich hockte neben Country Clubs Leiche und sah in den Himmel hinauf. Der war aber nur ein Streifen grauer Wolken zwischen den Dächern. Dann guckte ich mir Country Club an. Seine leeren glasigen Augen starrten senkrecht nach oben. »Du suchst auch danach, Country Club, was? Sag mir Bescheid, wenn du den Himmel gefunden hast, okay?« Ich streckte die Hand aus und legte ihm zwei Finger auf die Stirn. Maggot hatte Recht. Das fühlte sich echt unheimlich an. Die Haut war kalt und wie aus Gummi. Ich bewegte sie ein wenig mit einem Finger. Als ich losließ, kehrte sie nicht ganz an die alte Stelle zurück. Im Fernsehen hatte ich mal gesehen, wie ein Mann seine Hand auf die Augen eines Toten legte und sie zumachte. Ich hielt einen Finger an eins von Country Clubs Augenlidern und drückte es zu. »Hey! Was machst du da?« OGs Geschrei überraschte mich. OG schrie nur selten, aber wenn er es tat, kamen seine Zahnlücken zum Vorschein, und dann sah er ziemlich gruselig aus, wie ein Hexer oder so was. Er hob eine leere Bierdose auf

und warf sie nach mir. Sie streifte mich an der Stirn, aber das tat kaum weh; sie war ja leer. »Lass ihn in Ruhe, du dumme Kuh!«, kreischte OG, als ich zu Maggot und Tears zurücklief. »Mensch, Maybe, hast du denn keinen Respekt vor den Toten?«, lachte Maggot. OG hob noch eine leere Bierdose auf und warf sie über unsere Köpfe. Er schrie: »Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!« Tears, Maggot und ich gingen die Pissgasse zur Straße hinunter. Wir kamen an dem Einkaufswagen vorbei, den Country Club immer vor sich her geschoben hatte. Er war voller Lumpen und leerer Flaschen. Obendrauf stand ein kleiner schwarzer Fernseher mit dunkelgrünem Bildschirm. Er war kaputt, aber in der spiegelnden Fläche konnte ich die Gasse und OG sehen, der neben Country Club hockte. Es war die letzte Folge der Serie OG und Country Club. Aber vielleicht würde es so was wie eine Fortsetzung geben. Die Rückkehr von OG und Country Club. Oder auch Country Club im Himmel. »Wie hat sich das angefühlt?«, fragte Tears. »Was?«, fragte ich. Ich sah noch immer das Ende von OG und Country Club. »Ihn anzufassen.« »Ich weiß nicht. Wie ein Toter.« »War er der beste Freund von OG?«, fragte Tears. »Die beiden waren ziemlich eng befreundet«, sagte Maggot. »Ich glaube, sie sind sehr lange zusammen gewesen.« Wir traten aus der Gasse auf den Bürgersteig. Die Leute hier trugen Mantel und Hut, sie hatten Aktentaschen dabei und telefonierten mit Handys, gingen ihren Geschäften nach wie an jedem anderen Tag und nicht, als ob da nur zehn Meter weiter ein Toter liegen würde. Tears schob die Hände in die Taschen

ihres grauen Sweatshirts. Bis auf die Fransen, die ihr fast in die Augen fielen, war ihr schwarzes Haar ganz kurz geschnitten. »Passiert so was oft?«, fragte sie. »Dass OG mit Bierdosen um sich schmeißt?« »Nein, dass jemand so stirbt.« »Andauernd«, sagte Maggot; dabei war es das erste Mal, dass ich so was erlebt hatte, zumindest so weit ich mich erinnern konnte. Und ich war schon seit letztem Sommer in der Stadt. Länger als Maggot, der erst gekommen war, als die Blätter an den Bäumen sich zu verfärben begannen. »Macht dir das keine Angst?«, fragte Tears. »Nein, Country Club war ja schon alt«, sagte Maggot. »Wie alt?« »Keine Ahnung. Eben alt. Über zwanzig«, sagte Maggot. »Er hat noch Glück gehabt. Vor tausend Jahren, im finsteren Mittelalter, konnte man von Glück reden, wenn man so alt wurde. Heutzutage denken alle, sie wären unsterblich.« Eine Frau in blauen Tights und roter Daunenweste joggte auf uns zu. Maggot hielt ihr seine schmutzige Hand entgegen. Die Fingernägel hatte er schwarz lackiert. »Bisschen Kleingeld für uns übrig, Madam?« »Tut mir Leid, habe mein Portmonee nicht dabei«, antwortete die Joggerin. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie das ist, älter als achtzehn zu werden«, sagte ich. Maggot grinste. »Wer will das schon?« Ein Streifenwagen bog um die Ecke. Tears verdrückte sich. Das Auto hielt am Bordstein und die Polizistin auf dem Beifahrersitz kurbelte das Fenster runter. Sie hatte Strähnchen in ihren blonden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Ich hatte sie noch nie gesehen, nur ihren Partner kannte ich, den Cop, der am Steuer saß. Er hieß Officer Johnson und war ziemlich übel drauf. Er beugte sich zum

Beifahrerfenster rüber. »Hey, Maggot, womit dealst du denn heute? Oregano oder Babypuder?« »Weder noch, Officer Johnson, ich bettle nur ein bisschen«, antwortete Maggot. »Lohnt sich nicht, mich deswegen zu verhaften. So wie unser Rechtssystem arbeitet, bin ich wieder auf der Straße, ehe Sie Bagatelldelikt sagen können.« »Du hältst dich für ganz schön schlau, was, Maggot?«, sagte Officer Johnson mit blödem Grinsen. Die Polizistin mit den Strähnchen sah uns nur an. Auf dem schwärzen Namensschild über ihrer Dienstmarke stand »Ryan«. »Man hat uns hier in der Gegend eine Leiche gemeldet«, sagte Johnson. »Wisst ihr was davon?« Maggot sah mich an, dann wandte er den Blick zum Eingang der Pissgasse. Mehr war nicht nötig. Officer Ryan stieg aus dem Streifenwagen und setzte den dunkelblauen Polizeihut auf, sodass der Pferdeschwanz hinten raushing. Der Hut sah viel zu groß aus für ihren Kopf. Sie war ungefähr so groß wie ich und nicht besonders fett, aber der dicke schwarze Gürtel mit Funkgerät und Pistole und Schlagstock machte ihre Hüften viel breiter, als sie eigentlich waren. Sie spähte in die Pissgasse, zog das schwarze Funkgerät vom Gürtel und sprach hinein. Dann ging sie wieder zum Streifenwagen und sagte etwas zu Johnson, der noch am Steuer saß. Sie lief nach hinten, nahm einen orangeroten Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum und rannte in die Gasse zurück. Irgendwie spürte man, dass sie noch neu war. Vielleicht war Country Club auch für sie der erste Tote. Oder vielleicht war sie sich nicht sicher, ob er wirklich tot war. Officer Johnson schaltete die Blinklichter ein und setzte das Auto zurück, sodass es den Eingang zur Gasse versperrte. Sie waren gerade mit dem Aufspannen des gelben Absperrbands fertig, als mit jaulender Sirene und flackerndem Blinklicht der Krankenwagen kam. Aus der Pissgasse hörten

wir OGs rasselnden Husten. Zwei Sanitäter in weißen Hemden und dunklen Hosen stiegen aus dem Wagen, duckten sich unter dem Absperrband durch und gingen zu Officer Ryan. Keiner von ihnen rührte Country Club an. Auf dem Gehweg hinter dem Absperrband sammelten sich die Gaffer. Eine grüne Limousine fuhr vor. Drinnen auf dem Armaturenbrett stand ein Blinklicht. Zwei Männer in dunklen Anzügen stiegen aus und krochen unter der Absperrung durch. »Detectives«, sagte Maggot. Einer der Detectives sprach mit Officer Ryan. Der andere sagte zu OG, dass er aus der Gasse verschwinden soll. OG stand langsam auf und trottete davon, die zerfransten Enden seiner Jeans schleiften über den Boden. Er war so dünn, dass ihm die Hose dauernd von den Hüften rutschte. Ohne was zu sagen ging er an uns vorbei und weiter die Straße runter. Der Detective, der mit Officer Ryan gesprochen hatte, zog weiße Latexhandschuhe an und begann Country Clubs Leiche abzutasten. Der andere Detective ging in der Gasse herum, suchte den Boden ab und schob mit der Fußspitze den Müll beiseite. Die zwei Sanitäter und Officer Ryan kamen hinter der Absperrung hervor. Die Sanitäter gingen zum Krankenwagen und holten eine Rollbahre und einen großen schwarzen Gummisack mit Reißverschluss. »Kann ich mal kurz mit euch reden?«, fragte Officer Ryan Maggot und mich und klappte einen Notizblock auf. »Das ist ein freies Land für die, die es sich leisten können«, antwortete Maggot. »Noch neu in diesem Job?« Officer Ryan sah auf und blinzelte. »Wie hast du das erraten?« »Glückssache«, sagte Maggot achselzuckend. »Kennt einer von euch seinen richtigen Namen?« Officer Ryan zeigte mit dem Bleistift auf Country Club.

Wir schüttelten den Kopf. »Wo kommt er her?« Wir zuckten mit den Achseln. Officer Johnson kam dazu. Er war sehr groß, hatte ein längliches Gesicht und einen schwarzen Schnurrbart. »Was machen Sie da?«, fragte er Officer Ryan. »Ich versuche, Informationen zu sammeln«, antwortete sie. »Von denen?« Johnson schüttelte den Kopf. »Das ist reine Zeitverschwendung.« Officer Ryan klappte ihren Notizblock zu und folgte Johnson zum Streifenwagen zurück. »Hey«, rief Maggot ihnen nach. »Woran ist er gestorben?« »Unterkühlung«, sagte Officer Johnson, drehte sich kurz um, blieb aber nicht stehen. »Was?«, fragte ich. »An Kälte«, sagte Johnson und machte die Autotür auf. »An Drogen, Alkohol, Krankheit und Hunger. Also am Leben auf der Straße. Wenn ihr noch nicht ganz verblödet seid, würdet ihr nach Hause gehen.« »Und wenn man kein Zuhause hat?«, entgegnete Maggot patzig. Officer Ryan wollte gerade in den Wagen steigen. Aber sie drehte sich noch mal zu uns um. »Ihr habt keine Eltern, keine Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, keine Verwandten?« »Meinen Sie, ich würde so leben, wenn ich welche hätte?«, sagte Maggot. »Du könntest in ein Heim gehen.« »Bloß nicht«, sagte Maggot. »Als ich das letzte Mal in einem Heim übernachtet habe, haben sie mir alles geklaut, was ich hatte. Da versuche ich mein Glück lieber hier draußen.« »Solange du hier draußen bist«, sagte Officer Johnson, »kannst du das mit dem Glück vergessen.«

DREI

Rainbow, Tears, 2Moro und ich hingen spätnachts vor dem Good Life herum. Es war das einzige Lokal, das noch geöffnet hatte. Natürlich ließ man uns nicht rein; wir hatten ja kein Geld. Mein Bauch tat weh und etwas zu essen hätte mir sicher geholfen, aber was wir wirklich brauchten, war das Licht, das aus dem Laden kam. Bei Licht würde uns nämlich keiner ausrauben oder abstechen. Die richtig üblen Typen, die Junkies und die Irren, die einem ohne mit der Wimper zu zucken die Kehle aufschneiden, die hatten was gegen Licht. 2Moro lehnte an der Wand und rauchte eine Zigarette; sie trug schwarze Netzstrümpfe, ein kurzes Kleid und ihre orangerote Patchworkjacke. Als sie zu uns gestoßen war, hatte ihre Haut einen olivbraunen Farbton gehabt, aber jetzt war sie eher gelb. Manchmal vergaß sie, in die Klinik zu gehen und ihre HIV-Medikamente abzuholen. An den meisten Tagen gab sie mehr Geld für Zigaretten aus als fürs Essen. Rainbow saß mit geschlossenen Augen an der Hauswand, den Kragen ihrer schwarzen Lederjacke hatte sie hochgeschlagen. Sie döste erschöpft vor sich hin, weit nach vorn gesunken, die wirren blonden Haare hingen ihr in den Schoß. »Warum kann sie nicht mal richtig schlafen?«, fragte Tears. Der Atem kam ihr in Wölkchen aus dem Mund. Wir trugen Mäntel, die wir am Zaun vor der St. Mark’s Kirche gefunden hatten, aber Mützen und Handschuhe hatten wir nicht. »Sie ist nicht müde«, antwortete ich. »Aber sie kann ja kaum die Augen offen halten.« Nicht zu fassen, wie naiv Tears war. »Sag mal ehrlich: Wie alt bist du?«, fragte 2Moro.

»Sechzehn.« »Und warum rennst du dann jedes Mal weg, wenn die Cops auftauchen?« »Keine Ahnung.« Tears hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Unter dem Schmutz sah ihre bleiche Haut glatt und weich aus. »Hör mal, Mädchen«, sagte 2Moro, »ich bin fünfzehn, und du bist garantiert nicht älter als ich. Rück endlich mit der Wahrheit raus. Wovor hast du Angst?« »Okay, ich bin vierzehn«, sagte Tears. »So so, und in welchem Jahr bist du dann geboren?« »Äh…« »Wenn du lügen willst, muss deine Antwort schneller kommen«, sagte Rainbow, ohne den Kopf zu heben. So was machte sie ständig. Tat so, als ob sie völlig daneben wäre, dabei hörte sie ganz genau zu. »Du bist zwölf. Stimmt’s?« »Im März werd ich dreizehn.« »Wo kommst du her?«, fragte 2Moro. Tears starrte sie mit ihren großen runden Augen an. »Ich dachte, so was darf man nicht sagen.« »Wer sagt das?«, fragte Rainbow. »Ich dachte, das ist die Regel.« »Wir haben keine Regeln«, sagte Rainbow. »Ich komme aus North Miami Beach in Florida. Maybe, erzähl ihr, wo du herkommst.« »Äh, keine Ahnung«, sagte ich. »Wie kannst du nicht wissen, wo du herkommst?«, fragte Tears. »Da gibt es keinen bestimmten Ort. Eher so überall.« »Maybes Mutter war beim Zirkus«, erklärte Rainbow. »Immer auf Achse. Was genau hat deine Mutter noch mal gemacht, Maybe?«

»Alles Mögliche«, sagte ich. »Hat sich um die Tiere gekümmert. Manchmal ist sie als Clown aufgetreten. Hat die Zelte auf- und abgebaut. Eintrittskarten für die Monstershow verkauft…« »Diese ganze Stadt ist eine Monstershow«, sagte 2Moro. Rainbow drehte sich zu Tears herum. »Also, wo kommst du her?« »Aus Hundred.« »Hundred wie Hundert?« »Ja, so heißt das Kaff«, sagte Tears. »Hundred, in West Virginia.« »Und warum heißt das so?«, fragte ich. »Da erzählt einem jeder was anderes«, sagte Tears. »Manche Leute sagen, das ist das Tempolimit bei uns, oder so weit muss man mit geschlossenen Augen zählen, wenn man von dem ganzen Kaff nichts sehen will. Andere sagen, das ist der Durchschnitts-IQ bei uns.« »Und was ist passiert?«, fragte Rainbow. »Warum bist du jetzt hier?« »Weil Brent eingezogen ist.« »Ach ja? Lass mich mal raten«, sagte Rainbow. »Der neue Freund von deiner Mom? Oder sogar dein neuer Stiefvater?« Tears machte große Augen. »Stiefvater. Woher weißt du das?« »Ist doch ‘ne alte Geschichte. Und was hat er getan? Dich geschlagen?« Tears schüttelte den Kopf. »Er hat mich angefasst. Immer wenn Mom zur Arbeit war, hat er mir seine Hände in die Kleider geschoben. Hat gesagt, wenn ich ihr das erzähle, würde er sagen, dass ich es so gewollt hätte.« »Und da bist du abgehauen?« Tears’ Augen wurden nass. »Als er einmal nicht da war, hab ich erzählt, was er mit mir macht. Sie hat mir nicht geglaubt.

Hat gesagt, wenn das stimmt, muss ich gewollt haben, dass er das tut. Und dann hat sie mich beschimpft.« »Und da bist du abgehauen?« Wieder schüttelte Tears den Kopf. Die Tränen machten helle Streifen in den Schmutz. »Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte, also bin ich geblieben. Und dann wurde es noch schlimmer. Wahrscheinlich hat Brent erfahren, dass ich bei Mom gepetzt habe und dass sie mir nicht geglaubt hat. Also dachte er sich, da kann er ja alles mit mir machen, was er will. Und da bin ich abgehaun.« »Hast du keine Tanten oder Onkel?«, fragte Rainbow. »Nur Großeltern.« »Wo?« »Auch in Hundred. Aber mein Opa ist irgendwie krank. Ich glaub, die Krankheit heißt Harkinson oder so. Er zittert die ganze Zeit. So stark, dass er nicht mal selber essen oder sich anziehen kann. Meine Oma muss sich um ihn kümmern. Ich hab meine Mom gefragt, ob ich bei ihnen wohnen kann, aber sie hat Nein gesagt, die hätten auch ohne mich schon genug Probleme.« Ein weißer Lieferwagen hielt am Straßenrand. Auf die Seite war ein Fisch gemalt. Der Fahrer stieg aus. Er war schlank und trug eine rote Baseballmütze, ein blau kariertes Hemd, Jeans und abgewetzte braune Cowboystiefel. »Bisschen Kleingeld übrig?«, fragte ich, als er an uns vorbei zum Good Life ging. Er blieb stehen und starrte mich an. Die Leute glotzten immer, wenn sie mich das erste Mal sahen. »Wofür? Damit du dir Drogen kaufen kannst?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Kaffee und Donuts.« Er zog eine Augenbraue hoch und ging in das Lokal.

»Mir frieren gleich die Ohren ab. Können wir nicht irgendwo reingehen?« Tears legte die Hände auf die Ohren, um sie zu wärmen. »Wo denn?«, fragte ich. »Keine Ahnung. Vielleicht finden wir ein Auto, das nicht abgeschlossen ist.« »Nichts da«, sagte ich. »Wenn Leute dich in ihrem Auto finden, schlagen sie dich grün und blau.« »Und wie wär’s mit…« »Psch«, sagte ich. Ich spürte etwas. »Was ist denn?« »Da kommt jemand«, sagte ich. Tears sah den Gehweg hinunter. Da war kein Mensch, nur die Straßenlaternen in der Dunkelheit. »Wo?« Wenn man lange genug auf der Straße gelebt hat, spürt man Dinge in der Nacht, bevor man sie sieht. Ich hatte mich nicht geirrt. Gleich darauf erschien weiter hinten ein Mann und kam langsam auf uns zu. Die Ledersohlen seiner Schuhe knirschten leise auf dem Pflaster. Er trug einen langen dunklen Mantel. Seine Hose war messerscharf gebügelt, seine schwarzen Haare ordentlich nach hinten gekämmt. Er konnte ein ganz harmloser Typ sein, der nachts spazieren geht. Aber das war er nicht. Das spürte man, wenn sie nach etwas suchten. Er blieb vor uns stehen und richtete den Blick auf 2Moro. Sie stieß sich von der Hauswand ab und trat ihre Zigarette aus. Der Mann drehte sich um und ging los, und sie folgte ihm in die Dunkelheit, ohne sich von uns zu verabschieden. »Das werd ich niemals machen«, sagte Tears. »Ganz egal, wie kalt mir ist oder wie hungrig ich bin.« Irgendwo hörte man eine Sirene jaulen. In einem Haus auf der anderen Straßenseite ging ein Licht an. Im Fenster sah ich einen Mann mit Glatze und blauem Morgenmantel einen Kühlschrank aufmachen und hineinsehen.

»Und was ist mit dir?«, fragte mich Tears. »Wie bist du hierher gekommen?« »Meine Mom hat mich fortgeschickt.« »Warum?« »Sie hat das ganze Essensgeld versoffen. Ich war die Älteste, und sie hat gesagt, sie kann es sich nicht mehr leisten, mich bei sich zu behalten. Ich war nun mal die Größte und deshalb musste ich gehen.« In Wirklichkeit war es schlimmer gewesen. Viel schlimmer. Aber ich sprach nicht gern darüber, weil ich mich dann immer wieder daran erinnern musste. »Warum ist deine Haut so komisch?«, fragte Tears. Meine Haut sah aus wie ein Flickenteppich, hell und dunkel gefleckt, wie ein Hund mit braunen und weißen Flecken. Ein Arzt hatte meiner Mom erzählt, dass es keine Krankheit ist, sondern »Veranlagung«. Die Farbe, die man in der Haut hat, heißt Pigment und ist hellbraun. Aber ich habe auch große Stellen, wo überhaupt kein Pigment ist, und da ist die Haut dann eben weißlich rosa. »So bin ich schon auf die Welt gekommen«, sagte ich. »Hast du viel Ärger gehabt?«, fragte Tears. »Wo?« »Mit deiner Mom.« »Na ja. Ich hab versucht alles richtig zu machen, aber sie war trotzdem immer wütend auf mich. Hat dauernd gesagt, ich hätte dies vergessen oder das nicht tun sollen. Und sie wollte, dass ich mich um die Kleinen kümmere. Sie füttern und sauber machen und so was alles.« »Bist du nicht zur Schule gegangen?« »Hätte ich tun sollen, aber meistens waren wir viel zu beschäftigt, von einem Ort zum nächsten zu ziehen, und außerdem musste ich ja immer auf die Kleinen aufpassen. Hast du das schon mal gemacht?« Tears schüttelte den Kopf.

»Das ist verdammt anstrengend. Die tun nie, was man ihnen sagt. Meine Mom hat gesagt, wenn ich das mit den Kleinen nicht schaffen würde, müsste sie jemand anderes suchen, der auf sie aufpasst. Sie könnte es sich nicht leisten, für mich zu sorgen, wenn ich nicht mithalf. Und irgendwann hat sie dann gesagt, dass es das Beste wäre, wenn ich einfach verschwinden würde.« »Wie viele Kinder wart ihr?«, fragte Tears. »Außer mir hatte sie noch vier. Alle jünger als ich.« »Vermisst du sie?« »Ein oder zwei. Aber wahrscheinlich bin ich eh mit keinem von ihnen verwandt.« »Aber wenn sie alle von deiner Mom sind…« »Ja, na ja, ich bin jedenfalls die Einzige, bei der alle Farben zusammengemischt sind.« Und die Einzige mit einer Narbe auf dem Rücken, die von einem heißen Bügeleisen stammt. Die Tür zum Good Life schwang auf und der Typ mit der roten Baseballmütze kam heraus. Er trug ein Papptablett mit vier Kaffeebechern und eine Tüte mit Donuts, die oben ordentlich eingefaltet war. »Wo ist eure Freundin?«, fragte er, nachdem er Rainbow, Tears und mich durchgezählt hatte. »Die musste mal weg«, antwortete ich. »Na, bedient euch.« Er gab mir das Tablett und die Tüte und wandte sich zu seinem Wagen. »Das war’s?«, fragte ich. »Sie wollen nichts dafür haben?« Er blieb stehen. »Würdet ihr auf mich hören, wenn ich sage, ihr sollt keine Drogen mehr nehmen und nach Hause zu euren Eltern gehen?« Tears und ich sagten nichts. Der Mann tippte an seine Mütze. »Wenn ich das nächste Mal hier vorbeikomme, sehe ich nach euch. Das heißt, falls ihr dann überhaupt noch hier seid.«

VIER

Die Fensterhöhlen des Hauses waren mit Blechplatten gesichert, eine schwarze Eisentür mit einer Kette davor versperrte den Eingang. An der Fassade stand ein Gerüst und am Straßenrand stand ein großer blauer Container. Tagsüber waren hier Leute mit Renovierungsarbeiten beschäftigt. Aber nachts war das Gebäude leer. Wir warteten im Regen hinterm Haus, bis OG die Blechplatte von einem Fenster entfernt hatte. Drinnen war es stockfinster. In einem großen Zimmer im ersten Stock machten wir Kerzen an. Die Luft war feucht und eisig, aber wenigstens saßen wir im Trockenen, während der Regen draußen auf den Asphalt trommelte. Aus anderen Zimmern schleppten wir eine Matratze an, ein paar kaputte Stühle und einen Eimer, auf den man sich setzen konnte. Hier und da klebten noch gelbe Tapetenreste, und Maggot packte eine Spraydose aus und sprühte das Anarchistenzeichen an die Wände: einen schwarzen Kreis mit einem großen A darin. Dazu sein Tag: KLASSENKAMPF, in großen schwarzen Buchstaben. Rainbow lag auf der Matratze, sie hatte sich in eine zerrissene rosa Babydecke gewickelt, die sie im Müll gefunden hatte. Es war eine mit Häschen bedruckte Steppdecke, aus deren Rissen die weiße Füllung quoll. Rainbow hatte die Augen geschlossen. Ich saß auf der Ecke der Matratze und beobachtete den flackernden Schatten einer Kerze auf ihrer weichen blassen Haut. Eine blonde Haarsträhne war ihr über die Augen gefallen. Rainbow war die Einzige, die ich kannte, die echte blonde Haare hatte. Für mich war sie der schönste Mensch, den ich je gesehen hatte.

In einer anderen Ecke knieten 2Moro und Jewel vor einer großen Spiegelscherbe, die an der Wand lehnte. Kleine Kerzen auf dem Fußboden sorgten für Licht. Irgendwie sah das fromm aus. Wie in einer Kirche. Zusammen machten die Kerzen so viel Licht, dass sie riesige Schatten von 2Moro und Jewel an die gegenüberliegende Wand warfen. Unter ihrer Patchworkjacke trug 2Moro ein enges lilafarbenes Tank-Top, einen kurzen schwarzen Lederrock, Netzstrümpfe und Lederstiefel. Ihr hellrotes Haar stand ihr wie Stacheln vom Kopf. Neben ihr tupfte Jewel Rouge auf seine dunklen Wangen. Er hatte seine Haare neonlila gefärbt und die Spitzen glühten im Licht der Kerzen. Er trug einen langen schwarzen Ledermantel und darunter schwarze Hosen und ein weißes Hemd. »Bist du mit dem Eyeliner fertig?«, fragte er 2Moro. »Gleich«, antwortete sie. »Übertreib’s nicht, Süße.« 2Moro seufzte. »Nimm doch schon mal den Lippenstift«. »Erst will ich warten, wie der Eyeliner aussieht.« »Dann wartest du eben.« »Hast du deine Pillen genommen?«, fragte Jewel. 2Moro musste jeden Tag acht Pillen nehmen. »Lass mich in Ruhe.« »Der Arzt im Krankenhaus hat gesagt, wenn du die Pillen nicht nimmst, kriegst du Aids.« 2Moro verdrehte bloß die Augen und antwortete nicht. Jewels Handy piepte. Er griff in seine kleine schwarze Lederhandtasche und nahm es heraus. »Hallo?«, säuselte er. »Oh, hi, Suzy. Ich bin zu Hause, mach mich für heute Abend fertig. Was? Sie ist jetzt im Fernsehen? Oh Gott, das würde ich zu gerne sehen, aber da sitzt schon mein kleiner Bruder, und mit dem ist nicht zu spaßen. Einen anderen Fernseher? Ja, klar, aber da müsste ich erst nach ganz oben gehen, dieses Haus ist

einfach zu groß. Erzähl mir lieber nachher im Club davon, okay? Fantastisch. Klar, hab ich deine Nummer gespeichert. Du hast sogar ‘ne eigene Melodie. Crazy in Love. Bis später. Ciao, Bella!« Jewel klappte das Handy zu. Er hatte keinen Fernseher. Einen kleinen Bruder hatte er auch nicht. Und schon gar kein Haus. Keine Ahnung, wo er das Handy herhatte. Vielleicht von irgendeinem reichen Clubber, der sich nicht die Mühe machte, es als gestohlen zu melden. Jewels Gesäusel hatte Rainbow geweckt. Sie stützte den Kopf auf die Hand und blinzelte verschlafen in die Runde. Der zerfetzte Ärmel ihrer Lederjacke rutschte ihr bis zum Ellbogen hoch. Ihr Unterarm war mit langen dünnen Narben übersät, wo sie sich geschnitten hatte. »Ah, seht mal, wer aus der Trance erwacht ist«, sagte Jewel. »Das eben war übrigens Suzy Herman, meine neue Geliebte.« »Wie viele Fernseher hat sie denn?«, fragte Rainbow. »Nicht bloß Fernseher, meine Liebe. Häuser, Ländereien, was ihr wollt. Sie ist so reich, dass ihre Eltern einen Familiensitz in Greenwich haben, ein Strandhaus in East Hampton und eine Eigentumswohnung in Sunbird, wenn sie mal Ski laufen wollen.« »Das heißt Snowbird, du Blödmann«, brummte Maggot. »Ist doch egal«, erwiderte Jewel eingeschnappt. »Ich soll das ja keinem erzählen, aber ihrem Vater gehört Vaseline.« Alle verstummten. Schließlich sagte Rainbow: »Tube oder Glas?« »Die Firma, Dummerchen«, sagte Jewel. »Denk mal an all die Vaseline in der Welt und er ist der Besitzer.« »Da muss er ja ein ziemlich schmieriger Geschäftsmann sein«, kicherte Maggot. »Mensch, bist du ein Idiot, Maggot«, sagte Jewel. »Lieber ein Idiot als eine Hure«, gab Maggot zurück.

»Und so was von primitiv«, sagte Jewel. »Jedenfalls hat Suzy von ihrem Vater eine Wohnung und einen Mercedes bekommen. Und, zu eurer Information, bald werden wir heiraten und dann bin ich auch ein reicher Mann.« »Ja, genau, weiße Hochzeit. Mit Kutsche und so weiter. Und alle Reichen und Berühmten werden eingeladen«, knurrte OG aus der Ecke, wo er auf einem kaputten Stuhl hockte und sich eine Zigarette drehte. Ich war überrascht, seine Stimme zu hören. Es war das erste Mal seit Country Clubs Tod, dass er etwas sagte. »Was weißt du denn schon?« Jewel reckte die Nase in die Luft. OG hustete keuchend. »Sieh dich doch hier mal um, Mann. Sieh dir an, mit wem du hier zusammen bist. Da kommst du niemals raus.« »Du vielleicht nicht, weil du ein stinkiger Penner bist«, sagte Jewel. »Ich aber kann überall hingehen, ganz egal, wohin ich will, und alles werden, was ich will.« Er nahm einen kurzen blauen Rock, hielt ihn vor sich hin und wackelte mit den Hüften. »Ich habe Stil. Betten haben wir zwar keine, aber immer was Schickes anzuziehen. Ich könnte glatt Covergirl bei Revlon werden.« »Glaubst du echt, Suzy würde ein Mädchen heiraten?«, fragte Tears. »Natürlich nicht, Baby«, antwortete Jewel. »Für sie werde ich ein Junge sein.« »Und für Revlon ein Covergirl«, prustete Maggot. Plötzlich hörten wir Stimmen. Stimmen von Erwachsenen. Wir wurden leise und wachsam wie Kaninchen, die die Ohren aufstellen, wie Vögel, die lauschend den Kopf heben. »Blast die Kerzen aus«, flüsterte OG. Jewel und 2Moro machten die Kerzen aus. Es wurde dunkel im Zimmer. Der Regen hatte nachgelassen und wir konnten

jetzt die Geräusche der Stadt hören, Autohupen und das Quietschen der bremsenden Busse. Wir lauschten. Nachts liefen üble Gestalten herum. Fiese Typen, denen es Spaß machte, Kindern wehzutun. Verrückte, die Betrunkene anzündeten und zusahen, wie sie verbrannten. Durchgeknallte, die wussten, dass kaum einer es mitbekommen und erst recht keiner sich etwas draus machen würde, wenn sie ein Straßenkind abschlachteten. Die Stimmen, die wir in dieser Nacht hörten, klangen aber eher offiziell, wie die von Lehrern oder Polizisten. Durch die Tür sahen wir den runden Fleck des Lichtstrahls einer Taschenlampe über die Wand des Treppenabsatzes streifen. Die Stimmen waren jetzt deutlicher. Ein Mann und eine Frau. »Riechst du die Kerzen?« »Und Sprayfarbe. Ganz frisch. Da oben ist jemand.« »Wahrscheinlich mehrere.« Ein zweiter Lichtstrahl erschien neben dem ersten. Als sie auf unserer Höhe angelangt waren, schwenkten die Lichtstrahlen in das Zimmer, wo wir im Dunkeln kauerten. Ich erkannte zwei schwarze Silhouetten in der Tür. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, nur dass sie beide ungefähr gleich groß waren. Die Lichtstrahlen bewegten sich langsam über Maggot und Rainbow und Jewel und 2Moro hinweg. Tears versteckte sich wahrscheinlich irgendwo im Schatten oder in einem der anderen Zimmer. OG musste seinen Hustenreiz lange unterdrückt haben, denn in dem Moment, als klar war, dass sie uns entdeckt hatten, bekam er einen schlimmen Anfall. Als der Strahl der Taschenlampe auf mich fiel, blieb er dort länger als bei den anderen, als müsste der, der die Lampe hielt, länger hinsehen, um etwas zu erkennen. Ich hielt mir eine Hand vor die Augen. »Was wollen Sie?«, fragte Maggot.

»Wir wollen euch eine warme Mahlzeit und einen sicheren Ort zum Übernachten geben«, sagte die Frau. »Und was wollen Sie dafür?«, fragte Maggot. Der Mann richtete die Taschenlampe auf ihn. »Wie? Wofür?« »Dass Sie uns was zu essen und einen Platz zum Schlafen geben.« »Nichts«, antwortete der Mann. »Wir sind von der Jugendhilfe«, fügte die Frau hinzu. »Dann kann ich also nicht mitkommen?«, fragte OG. »Wie alt bist du?«, wollte der Mann wissen. »Zweiundzwanzig«, antwortete OG. »Wir sind nur für Jugendliche bis achtzehn Jahre zuständig«, sagte die Frau. »Aber wir können dich zu einem Heim bringen, wo du ärztlich versorgt wirst.« Ein Streichholz flammte auf und 2Moros plötzlich helles Gesicht mit einer Zigarette zwischen den Lippen beugte sich über die Flamme. Sie inhalierte tief, sodass die Glut rot aufleuchtete, dann blies sie das Streichholz mit dem ausgeatmeten Rauch aus. »Darf ich da rauchen?« »Wenn du unbedingt musst, kannst du vor dem Haus rauchen«, antwortete die Frau. »Vielleicht will ich ja«, sagte 2Moro. »Auch wenn es dich umbringt?«, fragte die Frau. »Ich bin HIV-positiv«, erwiderte 2Moro. »Vor den Zigaretten wird mich noch manches andere umbringen.« »Und wie halten Sie es mit Alkohol«, fragte Maggot. »Drogen und Alkohol sind nicht gestattet«, sagte der Mann. Seine Stimme klang jetzt strenger. Wahrscheinlich dachte er, dass Maggot ihn mit seiner geschraubten Sprache auf den Arm nehmen wollte. Doch der machte einfach weiter. »Sehen Sie, Sie wollen also doch etwas. Sie wollen uns was zu essen und ein Bett geben, aber nur, wenn wir uns an Ihre Vorschriften halten.«

»Das ist nur fair«, sagte die Frau. »Was soll denn daran fair sein?«, fragte 2Moro. »Wie kommen Sie dazu, uns Vorschriften zu machen, wie wir leben sollen?« »Zigaretten und Alkohol sind schlecht für euch«, sagte die Frau. »Hört mal, es ist mir völlig egal, ob ihr rauchen oder trinken wollt«, erklärte der Mann. »Aber wenn wir das in unserem Haus zulassen, nimmt der Staat uns die finanzielle Unterstützung weg.« »Aha! Jetzt verstehe ich. Wir sollen also nach staatlichen Vorschriften leben?«, feixte Maggot. »Jawohl! Heil Hitler! Wir lieben dich, Saddam. Die roten Fahnen hoch, Genossen! Es lebe der Staat!« Die Frau ließ sich von Maggots Sprüchen nicht aus der Ruhe bringen. »Uns geht es um eure Sicherheit und euer Wohlergehen. Je länger ihr auf der Straße lebt, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihr keine dreißig Jahre alt werdet.« »Dreißig?«, lachte Maggot. »Ich bitte Sie. Ich werde nicht mal achtzehn werden.« »Wisst ihr, dass Tag für Tag vierzehn Kinder in namenlosen Gräbern begraben werden, weil niemand weiß, wer sie sind?«, fragte die Frau. »Wollt ihr etwa auch so enden? Ihr könntet sterben, ohne dass irgendjemand was davon mitkriegt. Nicht einmal eure Eltern würden davon erfahren. Wollt ihr das wirklich?« »Hört sich doch gut an«, sagte 2Moro. »Ganz deiner Meinung«, stimmte Maggot zu. »Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass unsere Eltern sich für uns interessieren könnten?« »Natürlich tun sie das«, entgegnete die Frau.

»Und warum haben meine Eltern mich dann aus dem Haus gejagt und gesagt, ich soll mich nie mehr blicken lassen?«, fragte Jewel. »Meine Alte will mich garantiert nicht wiederhaben«, sagte Rainbow. »Außer wenn ich ihr Geld für Drogen besorgen kann.« »Es hilft euch überhaupt nicht, wenn ihr euren Eltern die Schuld an eurem beschissenen Leben gebt«, sagte der Mann. »Ihr müsst euch schon selber helfen. Wir unterstützen euch dabei den ersten Schritt zu tun. Wir holen euch von der Straße.« »Und was dann?«, fragte OG. »Dann gibt’s den üblichen Alltagstrott«, sagte Maggot. »Arbeiten von neun bis fünf. Das ganze Programm. Gott, Mom, Apfelkuchen und die gute alte amerikanische kapitalistische patriarchalische Gesellschaft.« »Ihr wollt also lieber hier bleiben?«, fragte die Frau. Sie klang irgendwie enttäuscht. »Warum nicht«, antwortete Rainbow. »Wenn das der Preis dafür ist, frei zu sein, tun zu können, was wir wollen, und kommen und gehen zu können, wie es uns Spaß macht, ohne dass irgendwelche braven Spießer uns Vorschriften machen, was wir zu tun und zu lassen haben.« Darauf sagte niemand etwas. Die Geräusche der Stadt krochen ins Zimmer zurück. Die beiden Erwachsenen ließen ihre Taschenlampen sinken, sodass die Lichtstrahlen auf den Fußboden fielen. Eine zerquetschte Bierdose hier. Eine leere Nudelpackung da. 2Moro zog an ihrer Zigarette und die Glut leuchtete hell in der Dunkelheit auf. »Danke für den Besuch.« OG winkte, als erwartete er, dass die beiden nun endlich aufgeben und verschwinden würden.

»Heute Nacht wird die Temperatur unter null sinken und Ende der Woche soll es noch viel kälter werden«, sagte der Mann. »Da werdet ihr’s ganz schön kalt hier drin haben.« »Besten Dank für die Wettervorhersage«, feixte Maggot. »Hey, kennen Sie den alten Song von Janis Joplin, in dem sie singt, dass Freiheit nur ein anderes Wort dafür ist, nichts mehr zu verlieren zu haben?«, krächzte OG und bekam den nächsten Hustenanfall. Der Mann achtete nicht auf ihn. »Ist euch klar, dass nächstes Jahr um diese Zeit einige von euch vielleicht nicht mehr am Leben sind?«, fragte er. »Ist das ein Versprechen?«, fragte Maggot zurück. Der Mann drehte sich mit einem lauten Seufzer zu der Frau um und sagte: »Gehen wir.« Die Frau musste noch etwas loswerden. »Ich weiß, es fällt euch schwer, mit uns zu reden, wenn eure Freunde dabei sind, aber ihr könnt jederzeit allein zu uns kommen. Die anderen werden nichts davon erfahren. Also merkt euch: Haus der Jugendhilfe am St. Marks Place.« Die Taschenlampen schwenkten um und wanderten die Treppe hinunter. Im Zimmer war es wieder ganz dunkel. Dann leuchteten kleine Flammen auf, als 2Moro die Kerzen wieder anzündete. »Eines Tages werde ich in einem Penthouse leben«, sagte Jewel. »Und dann gehe ich zu den beiden und lade sie zu einem Drink bei mir ein.«

FÜNF

Es wurde kälter. Ich sah, wie eine Frau auf dem spiegelglatten Gehweg stürzte. Kaffee fror zu Eis, wenn man ihn über Nacht in einem Becher stehen ließ. Ich hatte Bauchschmerzen. In der Apotheke gab es Zeug, das mir helfen würde, aber das kostete Geld. Ich fand ein Stück Pappe im Müll und einen Bleistift auf der Straße. Ich machte mir ein Schild: GELT VÜR EIER UN BUNSTIFTE Damit stellte ich mich vor den Eingang eines Lebensmittelladens und hielt es den Leuten hin, die mit vollen Einkaufstüten herauskamen, aber die starrten mir alle ins Gesicht, dann auf das Schild, runzelten die Stirn und gingen weiter. Dann tauchte Jewel auf. Er trug eine kurze schwarze Jacke, einen engen schwarzen Rock und Stiefel. »Was soll denn das heißen, Maybe?«, fragte er. »Geld für Eier und Buntstifte.« Jewel lachte. »Du liebe Zeit, du bist wirklich unglaublich! Hast du was zum Schreiben?« Ich hatte noch den Bleistift. Jewel nahm ihn und kritzelte auf meinem Schild herum. »So. Hat man dir in der Schule keine Rechtschreibung beigebracht?« »Von was für einer Schule redest du?«, fragte ich. »Bist du nie zur Schule gegangen?« »Doch, hier und da, aber nie lange.« Ein Mann mit vollen Plastiktüten in beiden Händen kam aus dem Laden. Er sah mich und mein Schild an. »Eier, ja?« Er

stellte die Tüten ab und nahm vier Eier heraus. Ein paar Minuten später kam eine Frau und gab mir auch noch welche. Jetzt fehlten mir noch die Buntstifte. Ich strich die Eier auf meinem Schild durch und stellte mich vor einen Laden, in dem Zeitungen und Süßigkeiten und Postkarten verkauft wurden. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern kam heraus. Sie hatte glatte blonde Haare und trug einen langen blauen Mantel, der am Kragen und an den Ärmeln mit braunem Pelz gesäumt war. Die Kinder waren auch blond und hatten rosa Spangen in den Haaren. Sie hatten Jeansjacken und weiße Pullover an. Eins der Kinder zeigte auf mich. »Mommy, sieh mal.« Die Frau legte ihnen die Hände auf die Schultern und versuchte sie weiterzuschieben. »Kommt schon, wir gehen.« Aber die Kinder wollten nicht gehen. »Was hat sie da im Gesicht?«, fragte eins. »Was will sie?«, fragte das andere. »Nichts«, sagte die Frau. »Kommt jetzt endlich.« Aber die Kinder glotzten mich weiter an. »Was steht da auf dem Schild?« »Ich brauche Buntstifte«, sagte ich. Die Kleinen waren echt süß. Sie rissen staunend die Münder auf und riefen: »Wir haben doch Buntstifte, Mommy!« »Kommt jetzt endlich«, sagte die Frau genervt. »Ihr sollt mit dieser Person nicht reden.« »Warum?«, fragte eins der Kinder. »Darum!« Die Frau packte die Kinder an den Händen und zerrte sie weg. Ich blieb vor dem Laden, bis ein Mann herauskam. Er trug ein weißes Hemd und eine braune Krawatte, aber keine Jacke. »Verschwinde«, sagte er. »Der Bürgersteig ist nicht Ihr Privateigentum«, entgegnete ich. Das sagte Maggot auch immer, wenn man ihm sagte, dass er verschwinden soll.

»Du schadest meinem Geschäft«, blaffte er. »Wenn du hier stehst, kommen keine Kunden zu mir rein.« Ich zuckte mit den Schultern. War mir doch egal. Der Mann ging wieder in den Laden und kam mit einer Schachtel Buntstifte zurück. »Jetzt verzieh dich.« Und das tat ich. Man muss die Eier sorgfältig färben. Buntstifte werden hart, wenn es so kalt ist, und wenn man zu fest drückt, brechen die Schalen. Es wurde schon dunkel, als ich damit fertig war. Ich ging zu einem Kino in der Nähe vom Central Park. Abends in New York stehen die Leute dort Schlange, um reinzukommen. Sie warten bei Regen und Schnee und Kälte. Unterhalten sich mit ihren Freunden und trinken Kaffee. Ich stellte mich neben die Schlange und fing an, mit den Eiern zu jonglieren. Das Jonglieren hatte mir ein Freund meiner Mutter beigebracht, als ich noch klein war. An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern. Er sagte, für mein Alter könnte ich gut jonglieren, weil ich es schon mit vier Bällen schaffte. Die Leute, denen der Zirkus gehörte, bekamen das mit, und von da an durfte ich mich manchmal als Clown verkleiden und im Zirkus jonglieren. Die Leute klatschten und lachten. Ein kleines Kind jonglieren zu sehen, das hat ihnen gefallen. Meiner Mom gefiel es auch, weil sie dann zusätzlich Geld bekam. Damals hat sie mich lieb gehabt. Aber als ich älter wurde und nicht mehr gut genug war, durfte ich nicht mehr jonglieren. Mom sagte, Leute, die in den Zirkus kommen, würden von einem zwölfjährigen Kind bessere Kunststücke erwarten als das, was ich zu bieten hätte. Aber hier draußen vor dem Kino war das anders. Da musste ich nicht besonders gut sein. Hauptsache, die Leute sahen mir zu. »Ich wette, Sie fragen sich, welches von diesen Eiern als Erstes kaputtgehen wird«, sagte ich, als ich die ersten

Zuschauer hatte. »Das rote? Das blaue? Vielleicht das gelbe? Oder das orange?« »Oder auch gar keins«, rief einer aus der Schlange. »Und wenn ich Kunststücke dabei mache?«, fragte ich und warf eins der Eier hoch und fing es hinter meinem Rücken wieder auf, während ich vorne mit den drei anderen weiter jonglierte. »Eins geht bestimmt kaputt«, sagte jemand. »Wollen Sie wetten, welches?«, fragte ich. »Klar, wenn wir auf eins wetten, lässt du genau das fallen«, sagte jemand. »Nein, nicht, wenn Sie nicht mit mir wetten«, sagte ich. »Sie wetten untereinander. Ich bekomme nur einen von den Einsätzen. Der Gewinner bekommt die beiden anderen.« »Dann müssen also vier Leute wetten«, stellte einer von ihnen fest. »Für jede Farbe einer.« »Ich setze einen Dollar auf Gelb«, sagte ein Mann, der eine Zigarre rauchte. »Ich setze auf Rot«, sagte eine Frau in einer knallroten Skijacke. »Ein Dollar ist nicht viel«, warf ich dazwischen. »Wie wär’s mit zwei?« »Wie sollen wir wissen, dass das nicht ein abgekartetes Spiel ist?«, fragte der Mann mit der Zigarre. »Wie sollen wir wissen, dass du nicht mit einem von uns unter einer Decke steckst und ihr euch den Gewinn teilt?« »Ja, sicher, Sie alle hier verkehren mit dreckigen Straßengören, wie ich eine bin«, sagte ich. Das Wort Straßengöre hatte Maggot mir beigebracht. Was auch immer es bedeutete, es brachte die Leute jedenfalls zum Lachen. »Ich weiß, woran wir erkennen können, dass die Sache sauber ist«, sagte der Mann mit der Zigarre. »Nur Leute, die eine Kinokarte gekauft haben, dürfen mitmachen. Niemand

zahlt zehn Dollar für eine Eintrittskarte, bloß um bei einer Wette vier Dollar zu gewinnen. Richtig?« »Ja, genau«, sagte die Frau in der roten Skijacke. Sie und der Mann mit der Zigarre hielten ihre Karten hoch. Zwei andere machten auch gleich mit. Ich legte mit schwierigeren Kunststücken los, hinterm Rücken, unter den Beinen durch. Schließlich ging das rote Ei kaputt. Die Frau mit der Skijacke hatte gewonnen. Sie bekam das Geld von den beiden anderen. Und ich bekam meins von dem Mann mit der Zigarre. »Noch mal«, sagte er. »Diesmal um fünf Dollar.« Außer ihm kamen drei neue Wetter dazu. Ich nahm das zweite rote Ei und fing wieder an zu jonglieren. Ich brachte immer zwei von jeder Farbe mit. Diesmal ging das gelbe kaputt. Der Mann mit der Zigarre gewann. Zwei andere gaben ihm jeder fünf Dollar, aber der dritte, der mir fünf geben sollte, weigerte sich. »Ich finde das verdächtig«, sagte er zu dem Mann mit der Zigarre. »Das ist kein Zufall, dass Sie erst vorschlagen, um fünf Dollar zu wetten, und plötzlich gewinnen Sie.« »Glauben Sie wirklich, ich stecke mit diesem Kid unter einer Decke?« Der Mann mit der Zigarre zeigte auf mich. »Keine Ahnung. Aber ich zahle nicht«, sagte der andere. Die Schlange geriet in Bewegung. Die Leute drängten ins Kino hinein. Der Typ, der mir das Geld schuldete, schloss sich ihnen an. »Würden Sie mir die Hälfte von Ihrem Gewinn abgeben?«, fragte ich den Mann mit der Zigarre. »Tut mir Leid für dich«, antwortete er. »Du hast gesagt, ich bekomme zwei Einsätze. Und die hab ich bekommen. Fair ist fair.« Und dann verschwand auch er im Kino. Da ich noch genug Eier für mindestens eine Wette hatte, wartete ich, bis sich die nächste Schlange gebildet hatte. Wieder schlossen ein paar Leute eine Wette ab. Ich ließ das

letzte rote Ei fallen und damit hatte ich an diesem Abend insgesamt vier Dollar eingenommen. Ich fuhr mit der U-Bahn zum St. Marks Place zurück und fragte mich, ob das Geld für die Magentabletten reichen würde. Leute mit Hüten und dicken Mänteln kamen mir entgegen. Manche trugen sogar einen Schal. Weiter vorne hockten ein paar Kids unter einer Laterne in einem Hauseingang, rauchten und unterhielten sich. Die meisten hatten schwarze Sachen an und waren tätowiert und gepierct. Manche von ihnen hatte ich schon mal gesehen und wusste, dass sie übel drauf waren. Ich wollte gerade auf die andere Straßenseite wechseln, da rief jemand: »Hey, Maybe!« Es war Rainbow. Sie saß auch bei diesen Kids. »Komm mal her, okay?« Die anderen grinsten mich blöd an, egal, ich ging trotzdem rüber. Ein Junge mit orangefarbener Mohawk-Frisur murmelte etwas, was ich nicht verstand. Die anderen Kids lachten. »Wo warst du?«, fragte Rainbow, als ich näher kam. Sie kaute Kaugummi. »Kino.« »Ach ja. Und was hast du gesehen?«, fragte der Junge mit dem orangefarbenen Mohawk. »Gar nichts. Ich hab jongliert.« »Maybe hat da so ‘ne Nummer mit bunten Eiern.« Rainbow erzählte den anderen, wie ich mit meinen Wetten zu Geld kam. »Und wie viel hast du heute gekriegt?« »Nur vier Dollar.« »Was willst du damit machen?«, fragte Rainbow. »Magentabletten kaufen«, sagte ich. »Weißt du, was meine Mom gemacht hat, wenn ich Bauchschmerzen hatte?«, sagte Rainbow. »Hat mir Ginger Ale gegeben. Das hat mir immer geholfen. Hat dir deine Mom mal Ginger Ale gegen Bauchschmerzen gegeben?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich jemals Bauchschmerzen gehabt hatte, als ich noch bei meiner Mutter war. Vielleicht ja doch. Aber ich konnte mich nicht erinnern. »Probier’s mal aus«, sagte Rainbow. »Kannst du nicht zwei Dollar für das Ginger Ale behalten und den Rest mir geben?« »Brauchst du Geld?«, fragte ich. Rainbow zuckte mit den Schultern. »Du kennst mich doch. Ich brauche immer Geld.« Ich wusste, eine Flasche Ginger Ale kostete höchstens zwei Dollar. Wenn Rainbow Geld brauchte, würde ich ihr den Rest natürlich geben.

SECHS

Das Ginger Ale half ein bisschen, aber dann fingen die Bauchschmerzen wieder an. Ich verbrachte die Nacht mit Tears, Maggot und OG in dem leeren Gebäude. Jewel und 2Moro zogen durch die Clubs und Rainbow ließ sich die ganze Nacht nicht blicken. Maggot hatte einen Spielzeughund mit flauschigem weißem Fell, den er in einem Kaufhaus geklaut hatte. Der Hund konnte kläffen und Rückwärtssaltos machen. Maggot nannte ihn Killer und tat so, als würde er ihm Kunststücke beibringen. »Okay, Killer, jetzt sollst du einmal bellen und einen Rückwärtssalto machen.« Er drückte auf den Schalter an Killers Bauch, und der Spielzeughund tat genau das, was er tun sollte. »Braver Hund!«, rief Maggot. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob du das noch einmal machen kannst.« Der Hund machte es noch einmal. Maggot nahm ihn in die Arme. »Braver kleiner Hund. Lass dich umarmen.« Tears und ich lachten uns kaputt; ich vergaß sogar meine Bauchschmerzen. OG hockte in einer Ecke und trank aus der Flasche, aber auch er zeigte ein paarmal grinsend seine Zahnlücken. Das Komische an Maggot war, dass wir eigentlich nur wegen ihm alle zusammen waren, und er wusste es noch nicht einmal. Das war damals im Herbst, an einem stürmischen Abend, als das Laub raschelnd durch die Straßen fegte. OG und Country Club saßen an der Hauswand vor dem Good Life und tranken aus einer Flasche in einer braunen Papiertüte. Ein paar Meter weiter döste Rainbow an derselben Wand. Ich hatte genug Kleingeld zusammengebettelt, um mir Kaffee zu

kaufen, und setzte mich neben sie. Damals kannten Rainbow und ich uns noch kaum. Wir hatten uns einen Tag vorher kennen gelernt, als ein Mann aus einem Restaurant mir eine Tüte mit altem Brot gab und Rainbow mich fragte, ob sie was davon abhaben könnte. OG und Country Club hatten wir schon öfter gesehen, aber noch nie mit ihnen gesprochen. Sie waren älter und ganz verdreckt und blieben immer unter sich. Jedenfalls saß ich neben Rainbow und schlürfte meinen Kaffee, als plötzlich Maggot aus der Dunkelheit auftauchte; er hatte einen grünen Army-Rucksack dabei. In der Mitte ungefähr zwischen OG, Country Club, Rainbow und mir blieb er stehen. »Habt ihr für heute schon was zum Übernachten?« Er drehte seinen Kopf von Rainbow und mir zu OG und Country Club. Wahrscheinlich dachte er, dass wir alle zusammengehören. »Du stehst genau davor«, sagte OG. »Was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?«, fragte Maggot. »Mach nur«, sagte Country Club. Also setzte sich Maggot zwischen Rainbow und mich und OG und Country Club. Dann fing er an, uns Fragen zu stellen, wo wir herkommen und wie lange wir schon auf der Straße leben. Von da an hingen wir eigentlich meistens zusammen rum. Ein paar Wochen später lernte Rainbow in der Klinik 2Moro und Jewel kennen und die blieben dann auch bei uns. Und jetzt war Winter und wir waren so was Ähnliches wie eine Familie geworden. Hatten sogar einen Namen. Wir nannten uns Asphalt Tribe. Ein Stamm, der auf der Suche nach Nahrung und Obdach durch die Straßen streifte. Wir passten gegenseitig auf uns auf und kümmerten uns umeinander. Country Club war nicht mehr da, aber wir anderen blieben zusammen.

Am nächsten Tag kam die Sonne heraus. Die Leute liefen in Pullovern oder offenen Jacken herum. »Geradezu ein perfekter Tag, um ein bisschen Ecstasy zu verkaufen«, erklärte Maggot. »Will einer mitkommen?« »Können wir von dem Geld dann Magentabletten kaufen?«, fragte ich. Ich hatte wieder Bauchschmerzen. »Klar, Maybe, wir kaufen dir alles, was du willst.« Maggot, Tears und ich gingen rüber in den Tomkins Square Park. Die Sonne stand tief im Westen und die kahlen Bäume warfen lange Schatten, also war es wahrscheinlich schon spät am Nachmittag. Der Park war von einem schwarzen Eisenzaun umgeben, der mir bis ans Kinn reichte. Um Mitternacht wurde er von der Polizei zugemacht, aber rüberklettern konnte man immer. Jetzt standen die Eisentore offen. Da es ein sonniger, für den Winter ziemlich warmer Tag war, saßen viele Leute auf den Bänken und genossen das schöne Wetter. Alte Damen mit Kopftüchern saßen neben Grufties mit schwarzem Lippenstift und dickem Lidschatten. Ein alter Mann mit einem grauen Hut fütterte Tauben mit Brotstückchen. Andere Männer saßen an kleinen Betontischen und spielten Schach. Junge Paare schoben Kinderwagen vor sich her oder führten Hunde spazieren. Ein Künstler malte mit Kreidestücken ein trampolingroßes Bild auf den Asphalt des Spielplatzes. Ein Polizist fuhr auf einem Fahrrad vorbei. Tears und ich setzten uns auf eine Bank, während Maggot loszog, um was zu verkaufen. »Was ist Ecstasy?«, fragte Tears. Ich gab mir Mühe, sie nicht entgeistert anzustarren. Manchmal konnte ich es echt kaum fassen, wie naiv sie war. Was Ecstasy war, wusste doch jeder! »Wie hieß noch mal das Kaff, wo du herkommst?«, fragte ich. »Hundred«, antwortete sie.

»Nicht Million? Bist du sicher?«, zog ich sie auf. »Eine Million Meilen hinterm Mond?« Tears guckte beleidigt. Ich rieb meine Schulter an ihrer. »Hey, ich mach doch nur Spaß. Ecstasy ist eine Partydroge. Davon werden die Leute glücklich.« »Ist das gegen das Gesetz?« »Ja.« »Kriegt Maggot nicht Schwierigkeiten, wenn die Polizei ihn erwischt?« »Er verkauft ja kein echtes Ecstasy«, sagte ich. Tears machte ein finsteres Gesicht, fragte aber nicht weiter. Wir hörten ein Rascheln. »Da oben.« Tears zeigte auf einen Baum. Ein kleines graues Eichhörnchen rannte den Stamm hinauf. Als es die obersten Zweige erreicht hatte, stieß es einen langen klagenden Schrei aus und rannte wieder hinunter. »Ich glaub, es sucht nach seiner Mommy«, sagte Tears. Das kleine Eichhörnchen sprang auf die Erde und lief den nächsten Baum hinauf. Tears und ich sahen zu, wie es oben ankam und wieder seinen Klageruf ausstieß. Tiere haben ja ganz verschiedene Stimmen, aber man erkennt immer, wenn sie weinen. »Das ist traurig«, sagte Tears. Die Sonne sank tiefer. Die Gebäudeschatten legten sich über uns wie eine kalte graue Decke. Ich begann zu zittern. Tears zog sich den viel zu großen braunen Mantel am Hals zusammen. »Warum braucht Maggot so lange?«, fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern. Drüben lief das Eichhörnchen den nächsten Baum hinauf. »Auf dem Baum war es doch schon«, sagte Tears. Die Kleine wollte echt die Welt verstehen. »Vielleicht weiß es nicht, was es sonst noch tun soll«, sagte ich.

Endlich kam Maggot angetrabt. Er strahlte. »Kommt, wir verziehen uns besser.« Wir standen auf und folgten ihm aus dem Park. Unterwegs erzählte uns Maggot, dass er irgendwelchen Touristen für sechzig Dollar Aspirin verkauft hatte. »Die glauben, sie haben Ecstasy gekauft«, prustete er. »Heute Abend wollen sie tanzen gehen. Immerhin brauchen sie sich keine Sorgen zu machen, dass sie Kopfschmerzen kriegen.« Er hörte auf zu reden und ging langsamer. Vor uns an der Ecke hingen ein paar Kids auf dem Gehweg rum. Einige davon hatte ich am Abend zuvor mit Rainbow zusammen gesehen. Vielleicht war sie ja wieder dabei. »Hey, seht mal, da ist Lost«, sagte Maggot. »Der hat immer Roofies zu verkaufen.« Maggot ging zu dem, den er Lost genannt hatte, und sprach mit ihm. Es war der orangefarbene Mohawk, der sich über mich lustig gemacht hatte. Ich hielt nach Rainbow Ausschau. »Suchst du deine Freundin?«, fragte mich einer der anderen Jungs. »Kann sein«, sagte ich. »Hast du wieder Geld für sie?« Er hielt mir die Hand hin. Lange Fingernägel, schwarz vor Dreck. »Das kannst du mir geben. Ich seh sie nachher, dann geb ich’s ihr.« Ich wich zurück. Maggot und Lost hatten die Hände in den Hosentaschen. Maggot zog ein Bündel Geldscheine hervor und gab sie Lost, der ihm dafür eine kleine Plastiktüte mit Pillen gab. »Oh-oh«, sagte der Junge mit den schmutzigen Fingernägeln. »Jetzt wo Maggot die Roofies hat, wird deine Freundin ihn lieber haben als dich.« Ich wollte ihm eigentlich widersprechen, traute mich aber nicht. Endlich schob Maggot sich die Tüte in die Hosentasche und kam zu Tears und mir zurück. »Kommt, wir gehen.«

Maggot war in Hochstimmung. »Eins muss ich dem Kapitalismus lassen«, sagte er. »Das System ist großartig, wenn man damit umzugehen weiß. Man fängt an mit Aspirin im Wert von fünfundzwanzig Cent, verkauft das . als Ecstasy für sechzig Dollar, und dafür kriegt man Roofies, die ich heute Abend im Cradle für hundertachtzig weiterverkaufen kann.« »Ins Cradle kommst du nicht rein«, sagte Tears. »Das ist der angesagteste Club der Welt.« Maggot klopfte auf seine Tasche. »Damit komme ich überall rein.« »Und was ist mit meinen Magentabletten?«, fragte ich. »Verdammt.« Maggot ließ die Schultern sinken. »Hab ich total vergessen. Tut mir Leid, Maybe. Jetzt hab ich bloß noch diese Roofies. Aber die verkaufe ich heute Abend und morgen habe ich jede Menge Geld, okay? Dann kriegst du deine Tabletten.« Meine Bauchschmerzen waren ziemlich schlimm. Ich musste an das kleine Eichhörnchen denken, das winselnd und schreiend einen Baum nach dem anderen hinaufgelaufen war. Dem ging’s bestimmt genauso beschissen.

SIEBEN

»Ich sehe furchtbar aus! Ekelhaft! Ich halt das nicht mehr aus!« Rainbow lachte wie verrückt, als sie mich die Straße runter hinter sich herzog. »Ich find dich schön«, sagte ich. »Ach, Maybe, was weißt du schon? Du bist ja sogar noch dreckiger als ich. Und wie du stinkst!« »Echt?« Rainbow hatte Recht. Trotzdem mochte ich nicht, wenn sie das sagte. Ich wollte nicht, dass sie so von mir dachte. »Oje, jetzt hab ich dich verletzt.« Rainbow schob schmollend die Unterlippe vor. »Tut mir Leid, Maybe. Ich bin doch auch schmutzig und stinke. Wir sind die schmutzigen stinkigen Zwillinge!« Sie hakte sich bei mir ein und fing an zu hüpfen. Ich versuchte mit ihr Schritt zu halten. Es machte mich glücklich, wenn sie mit mir zusammen sein wollte. Plötzlich ließ sie mich los und schlug ein Rad, mitten auf dem Gehweg. Die anderen Leute sahen sie an, als sei sie verrückt geworden. »Hä?«, schrie sie die Leute an und klopfte sich den Staub von den Händen. »Habt ihr noch nie gesehen, wie einer ein Rad schlägt?« Die Leute machten einen weiten Bogen um sie herum und sagten nichts. »Wichser«, murmelte Rainbow. »Wo warst du heute Morgen?«, fragte ich. Normalerweise stand Rainbow erst am Nachmittag auf, aber an diesem Tag war sie schon früh verschwunden. »2Moro und ich waren im Krankenhaus unsere Medikamente abholen«, sagte sie mit singender Stimme. »Für mich gab’s

Ritalin und Welbutrin. Ich bin hyperaktiv und manischdepressiv und zwangsneurotisch. Und weißt du, was passiert, wenn ich das Zeug alles auf einmal schlucke? Dann hebe ich total ab!« Sie lief zu einem Laternenpfahl, umklammerte ihn und schwang sich herum. Dann kam sie keuchend zurück. »Komm, Maybe, wir gehen uns waschen.« »Wo denn?« »Da.« Rainbow zeigte auf ein niedriges Gebäude. Die rötlich braunen Backsteine waren mit einem grauen Schmutzfilm überzogen, aber die großen Fenster waren ordentlich geputzt. Drinnen saßen Leute an Computern. Dahinter waren jede Menge Bücherregale zu sehen. »Eine Bücherei«, sagte ich. »Du bist wirklich klug, Maybe.« Rainbow stieg schon die Stufen zum Eingang hinauf. »Meinst du, wir dürfen da rein?«, fragte ich. »Das ist ein öffentliches Gebäude. Genau wie ein Busbahnhof.« »Braucht man da keinen Ausweis?« »Nur wenn man Bücher ausleihen will«, sagte sie und stieß die Tür auf. Wir gingen rein und mussten durch eine Art Metalldetektor. Ein paar Männer und Frauen standen hinter einem langen Tisch mit Computern und Stapeln von Büchern. Sie trugen Namensschildchen mit Foto und sahen uns unfreundlich an. Eine Frau in einem langen, blauen Kleid rümpfte die Nase und fächelte sich mit einer Hand das Gesicht. Wir gingen an den Tischen mit den Computern vorbei. Dort saßen alle möglichen Leute. Alte Männer, Mütter mit Babys auf dem Schoß, Kinder. Ein großer dünner Mann mit Namensschildchen und rötlichen Haaren ging hinter den Computern hin und her und sprach mit jedem, der Hilfe brauchte. Ich blieb stehen und starrte ihn an. Er hatte eine breite, platte Nase und genauso eine fleckige Haut wie ich. Nur

waren bei ihm die pigmentierten Stellen heller und voller Sommersprossen. Wie bei mir waren die Stellen ohne Pigment einfach nur milchig weiß. Er trug eine ordentlich gebügelte Hose und ein blaues Hemd. »Komm, ich glaub, wir müssen da lang.« Rainbow zog mich am Ärmel und führte mich an den Bücherregalen vorbei nach hinten; dort gab es eine Herrentoilette und eine Damentoilette. Wir gingen in die für Damen. »Hier rein.« Rainbow hielt mir die Tür zu der großen Behindertentoilette ganz am Ende des Raums auf. Ich ging hinein, und Rainbow schob den Riegel vor. Sie zog ihre Lederjacke aus und hängte sie an den Haken an der Tür. Dann zog sie ihre anderen Sachen aus und legte sie auf den Toilettendeckel. Auf ihren Armen und Beinen waren überall diese langen dünnen Narben. Manche Wunden waren noch ganz frisch. Ich wusste, dass sie sich da selber ritzte, hatte sie aber noch nie dabei beobachtet. Sie merkte, dass ich sie ansah. »Entschuldige«, sagte ich und schaute weg. Rainbow blickte an sich hinunter, zuckte mit den Schultern und sah mich an. »Worauf wartest du?« Ich fing an, mich auszuziehen und legte meine Sachen auf den Klodeckel zu denen von Rainbow. Es war kalt in dem Raum und ich bekam eine Gänsehaut. Irgendwie machte mir das ein bisschen Angst, in so einem öffentlichen Gebäude nackt zu sein. Aber zusammen mit Rainbow war’s auch aufregend. Jetzt war Rainbow an der Reihe, mich anzustarren. »Wow, so was wie dich hab ich echt noch nie gesehen.« Verlegen sah ich an mir hinunter. Mein ganzer Körper bestand nur aus hellen und dunklen Flecken. »Ich bin hässlich.«

Rainbow spitzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Nein. Nur anders.« Sie ging zur Tür und zog den Riegel auf. »Kann’s losgehen?« »M-mh.« Wir rannten zu den Waschbecken und Spiegeln, zogen Papierhandtücher aus dem Spender und hielten sie unter das warme Wasser. Dann drückten wir die rosa Flüssigseife darauf und liefen in die Toilette zurück. Rainbow schob den Riegel vor, und wir seiften uns ein. Die warmen, schaumigen Papiertücher fühlten sich gut an auf meiner Haut, nur nicht an den Wunden, in denen die Seife brannte. Als ich mir die Arme wusch, stellte ich entsetzt fest, wie viel heller meine Haut plötzlich wurde. »Überrascht?«, fragte Rainbow. »Ich wusste gar nicht, wie dreckig ich bin«, sagte ich. Sie lachte. Das braune Wasser tropfte von unseren Ellbogen und lief uns an den Beinen hinunter. Bald war der ganze Fußboden mit durchweichten, dreckigen Papierhandtüchern bedeckt. Wir gingen wieder in den Vorraum und Rainbow wusch sich mit der Flüssigseife die Haare unter einem Wasserhahn. Ich drückte die Warm- und Kaltwasserknöpfe für sie. Braunes Wasser verschwand im Abfluss. Dann war ich dran. Waschbecken und Fußboden wurden immer glitschiger und unsere nassen eingeseiften Füße rutschten nur so auf den glatten Fliesen. »Sollen wir uns nicht besser wieder in der Toilette einschließen?«, fragte ich, als ich mit Haarewaschen fertig war. Es fühlte sich gut an, wie das warme Wasser mir auf Schultern und Arme tropfte. »Da ist es zu glitschig«, sagte Rainbow. »Wir bleiben lieber hier. Wäschst du mir den Rücken?«

Sie drehte sich um und ich seifte ihr mit einem Papiertuch den Rücken ein. Ich fragte sie nicht, woher die grünen, braunen und gelben Flecken überall an ihrem Körper kamen. »Und jetzt ich«, sagte ich, als ich mit ihrem Rücken fertig war. Ich beugte mich über ein Waschbecken, stützte mich mit den Ellbogen ab und wartete, dass sie mit den warmen Tüchern loslegte. Aber es passierte nichts. Ich drehte mich um. Rainbow starrte meinen Rücken an. »Ein Bügeleisen?«, fragte sie leise. Ich nickte. »Shit«, murmelte sie. Gleich darauf spürte ich warmes Wasser an mir runterlaufen. Das Wasser kitzelte an den Innenseiten meiner nackten Beine. Es war ein schönes Gefühl, von jemandem gewaschen zu werden. Die Tür quietschte. Rainbow und ich blickten auf. Eine Frau kam herein, ein kleines Mädchen an der Hand, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Die Kleine hatte Zöpfe und trug ein rosa Sweatshirt, auf das in glitzernden silbernen Buchstaben »Prinzessin« gestickt war. Dazu Jeans und weiße Tennisschuhe mit rosa Schnürbändern. Perfekt rausgeputzt. Sie war so sauber und ihre Kleider so ordentlich und neu. Selbst als ich noch bei meiner Mutter gewohnt hatte, war ich nie so ordentlich und sauber gewesen. Die Frau schnappte nach Luft und die Kleine glotzte uns mit großen Augen an. Ohne ein Wort zu sagen, zerrte die Frau sie aus dem Waschraum. »Wir gehen jetzt besser.« Rainbows Stimme war plötzlich ernst und drängend. Wir beugten uns über die Waschbecken und spülten uns die Seife vom Körper. Überall spritzte Wasser herum. Dann trockneten wir uns ab. Die rauen Papierhandtücher scheuerten auf der Haut. An Rainbows Armen und Beinen löste sich der Schorf, und es begann an manchen Stellen ein bisschen zu bluten, aber das störte sie

nicht. Ich sah mich in dem voll gespritzten Spiegel an. Ein Mädchen mit nassen braunen Locken. Ein Mädchen, dessen Haut an manchen Stellen hellrosa war und an anderen schmutzig braun. So dünn, dass Rippen und Schlüsselbein deutlich zu sehen waren. Schultern und Arme knochig und hager. »Ich hasse es, diese dreckigen Sachen wieder anzuziehen«, brummte Rainbow und rieb sich mit Papiertüchern die Beine trocken. »Wir können sie ja hier lassen«, sagte ich, »und nackt durch die Bücherei gehen.« »Oder so.« Rainbow drückte sich Papiertücher so auf die Brüste, dass sie kleben blieben. Ich kicherte bei der Vorstellung, wie wir so an den Leuten mit den Namensschildchen vorbeigehen würden. Dann ging die Tür wieder auf. Und zwei Männer kamen herein.

ACHT

Der kleine Dicke hatte wellige schwarze Haare und trug eine Uniform. Der andere war groß und breitschultrig, hatte kurze braune Haare und eine Zigarette hinters Ohr geklemmt. Er trug Jeans und ein graues Hemd, auf das in roten Buchstaben »Bobby« gestickt war. »Was ist denn hier los?«, knurrte Bobby. »Wer soll diese Schweinerei hier wieder wegmachen?« Rainbow und ich wichen an die hintere Wand zurück und versuchten unsere nackten Körper mit den Händen zu bedecken. »Schließ die Tür ab«, sagte Bobby zu dem dicken Wachmann. »Bist du sicher?«, fragte der Wachmann nervös. »Ja, sehr sicher sogar«, fauchte Bobby. »Willst du etwa diese Schweinerei wegmachen? Ich jedenfalls nicht. Und so, wie es jetzt hier aussieht, kann der Raum von keinem benutzt werden.« Ich hörte es klicken, als der Wachmann die Tür abschloss. Bobby nahm einen Schlüsselring von seinem Gürtel und öffnete eine andere Tür, die zu einem Putzschrank gehörte. Er holte einen Eimer heraus, in dem ein Mopp mit einem langen Holzstiel steckte, dann setzte er einen Fuß auf den Rand des Eimers und trat dagegen, sodass er über den Boden auf Rainbow und mich zuschlitterte. Wir sprangen aus dem Weg und der Eimer knallte an die Wand. »An die Arbeit«, knurrte Bobby. Dann griff er noch einmal in den Schrank und schmiss eine Rolle Plastikmüllsäcke nach

uns. Rainbow und ich saßen in der Falle. Zitternd bewegten wir uns auf die Behindertentoilette zu. »Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Bobby. »Unsere Sachen holen«, antwortete Rainbow. Bobby grinste hämisch. »Nichts da, das macht ja keinen Spaß. Ihr arbeitet gefälligst so, wie ihr seid.« Wir bewegten uns weiter langsam zur Tür hin. »Hey!«, schrie Bobby und stapfte auf uns zu. Aber er rutschte mit seinen Arbeitsstiefeln auf den glitschigen Papiertüchern aus, geriet aus dem Gleichgewicht und musste heftig mit den Armen rudern, um nicht hinzufallen. Rainbow und ich grinsten. Rumms! Bobby hatte das Gleichgewicht wieder gefunden und knallte die Klotür zu. Wir zuckten zusammen. »Das fandet ihr wohl witzig, was?«, schrie er und kam näher. »Komm her, du Miststück.« Er packte mich an den Haaren und riss mir den Kopf nach unten. Ich landete mit Knien und Ellbogen auf dem harten nassen Fliesenboden. Verdammt, tat das weh. »Und jetzt an die Arbeit!«, sagte er und zeigte auf Rainbow. »Du auch!« »Hey, Bobby, lass doch«, sagte der Wachmann. »Nichts da, von wegen«, schrie Bobby zurück. »Oder willst du diesen Schweinestall sauber machen?« »Nein, das sollen die mal machen«, sagte der Wachmann. »Ich versteh bloß nicht, warum du ihnen wehtun musst.« »Denen muss man eine Lektion erteilen, sonst kommen sie wieder und machen das noch einmal«, sagte Bobby. »Das sind doch bloß Straßenkinder.« »Wenn’s dir nicht gefällt, geh doch!«, fauchte Bobby. »Häng das Schild an die Tür: Vorübergehend außer Betrieb.« Der Wachmann ging, ohne noch etwas zu sagen. Bobby folgte ihm zur Tür und schloss hinter ihm ab. Dann drehte er sich wieder zu uns um. »Was glotzt ihr so? Ihr sollt arbeiten.«

Rainbow und ich rutschten auf Händen und Knien über den Fußboden, schoben die schmutzigen nassen Papiertücher zusammen und stopften sie in einen dieser Plastiksäcke. Wir waren immer noch nackt. »Dauernd kommen hier Punks wie ihr rein und machen alles dreckig«, schimpfte Bobby. Er stand über uns. Ich hatte Angst, ihn anzusehen, ich wollte nicht, dass er wieder anfing zu schreien. Aber während ich die Papiertücher aufsammelte, behielt ich seine abgewetzten Stiefel im Auge, damit ich sofort zurückweichen konnte, wenn sie sich in meine Richtung bewegten. »Schweine. Miese Schlampen«, murmelte Bobby. Rainbow und ich arbeiteten schweigend. Wir hatten viel zu große Angst etwas zu sagen oder zu tun, was Bobby noch wütender machen konnte. Schließlich hatten wir die ganzen nassen Tücher vom Boden aufgesammelt. »Da drinnen auch«, befahl Bobby und zeigte in die Behindertentoilette. Wir zögerten. Auf Händen und Knien im Waschraum herumzukriechen, war eine Sache; eine ganz andere war es, dasselbe in der Toilette zu tun. »Wird’s bald!«, schrie Bobby. »Können wir nicht einen Besen oder so was benutzen?«, fragte ich. Als Antwort spürte ich die gerillte Sohle von Bobbys Arbeitsstiefel auf meinem nackten Hinterteil und dann schickte mich ein harter Stoß vor die Klotür. Die Hände rutschten unter mir weg und ich schlitterte auf Kinn und Brust über den nassen Boden. »Euch Schlampen werde ich lehren, hier so eine Schweinerei zu veranstalten«, knurrte Bobby. Er ging in die Toilette und fegte mit seinem Stiefel unsere Sachen vom Klodeckel runter. Ich stützte mich in dem seifigen Schmutzwasser wieder auf Hände und Knie. Der Fußboden in der Behindertentoilette

stank wie die Pissgasse. Kinn und Ellbogen taten mir weh, und ich zitterte wie früher, wenn ich kurz vorm Weinen war. Als ich klein war, blies dieses Gefühl durch mich durch wie ein Windstoß. Ich konnte einfach nichts dagegen machen. Es kam, und schon weinte ich, ob ich wollte oder nicht. Erst als ich älter wurde, lernte ich, dagegen anzukämpfen. Wenn meine Mom, ihre Freunde oder andere Kinder mich beschimpften oder mir wehtaten, war ich zwar nicht stark genug zurückzuschlagen, aber wenigstens konnte ich die Zähne zusammenbeißen und die Augen so fest zukneifen, dass mir keine Tränen kamen. So lange ich nicht weinte, hatte ich irgendwie gewonnen. Also kämpfte ich dagegen an, und früher oder später verzog sich das Gefühl wie eine dunkle Wolke, aus der kein Regen fällt. Und irgendwann habe ich dieses Gefühl dann ganz vergessen. Vielleicht ist es auch einfach nur weggegangen. Es war jedenfalls lange her, seit ich das letzte Mal geweint hatte. Und jetzt hier auf dem Fußboden vor dem Klo war es plötzlich wieder da. Ich spürte, wie es mich packte, und wartete nur noch auf die Tränen. Aber nichts geschah. Das Gefühl kam und ging, ohne die Stelle zu berühren, aus der die Tränen fließen. Und ich fragte mich, ob diese Stelle vielleicht für immer verschwunden war. Rainbow schleifte den Müllsack hinter sich her in die Toilette und begann die Papiertücher aufzulesen. »Du brauchst das nicht zu tun«, flüsterte ich. Sie antwortete nicht. Ihr Blick war leer und sie bewegte sich wie ein Zombie. Als ob sie gar nicht da wäre. Wir hoben die schleimigen Papiertücher auf, aber der Boden war immer noch mit schmutzigem Seifenwasser verschmiert. Und unsere Kleider lagen in einem Haufen mittendrin. »Okay, steht auf!«, bellte Bobby. Rainbow und ich standen auf und bedeckten uns wieder mit den Händen. Bobby zeigte auf mich. »Du wischst auf.« Dann

zeigte er auf Rainbow. »Du machst die Waschbecken und den Spiegel sauber.« Er ging zu dem Putzschrank, nahm einen großen Schwamm, ein paar Papiertücher und eine Flasche Glasreiniger heraus und stellte die Sachen für Rainbow aufs Waschbecken. Um zu tun, was er wollte, mussten wir aufstehen und unsere Hände gebrauchen. Das war noch viel schlimmer als auf dem Boden herumzukriechen. Da hatte Bobby nicht viel sehen können. Aber jetzt konnte er alles sehen. Ich spürte seine Augen – meistens starrte er Rainbows nackten Körper an, manchmal aber auch meinen. Das war mir egal. Sollte er doch glotzen. Ich wollte nur noch da raus. Ich schwenkte den Mopp auf dem Boden hin und her. Bald war er klitschnass und nahm keine Feuchtigkeit mehr auf. Ich sah Bobby ratlos an. »Wring ihn aus, Miststück«, schnaubte er. »Kannst du nicht mal mit einem Mopp umgehen?« Ich hielt den Mopp über den Eimer und quetschte ihn mit den Händen aus, wie ich es früher bei meiner Mom gesehen hatte. Kaltes braunes Wasser tröpfelte in den Eimer. »So doch nicht, du hässliches Ungeheuer.« Bobby riss mir den Mopp aus den Händen. Er stopfte ihn in ein Metallsieb am Eimer und legte einen kleinen Hebel am Stiel um. Braunes Wasser strömte durch das Sieb und klatschte in den Eimer. »Kapiert?« Ich nahm den Mopp. Was Bobby sagte, konnte mich nicht verletzen. Auch was er tat, konnte nicht lange wehtun. Ich kannte das alles. Mein Leben lang war ich verletzt worden. Zum Beispiel, als meine Mom zu mir sagte, dass ich eine Plage für sie bin, die sie nicht verdient hat. Sie hatte so viele Kinder und kein Geld, sie wurde immer dicker und die Männer kamen und gingen. Alle Männer verließen sie, und da sie ihnen nicht wehtun konnte, tat sie eben mir weh. Das ist typisch

Erwachsene. Wenn sie wütend sind, schnappen sie sich irgendein Kind, irgendjemanden, der kleiner ist als sie, und tun ihm weh. Was kann ein Kind schon machen? Nichts, nur weglaufen. Als Rainbow mit dem Putzen der Waschbecken und Spiegel fertig war, hatte ich den Fußboden aufgewischt. »Ah, verdammt, ich kann euch zwei nicht mehr sehen«, brummte Bobby. »Was für eine Schmiererei. Überall Streifen auf den Spiegeln. Und der Boden immer noch total verdreckt. Ich muss das Ganze noch mal selber machen. Nehmt eure Sachen und verpisst euch.« Rainbow und ich gingen in die Behindertentoilette zurück. Unsere Kleider lagen in einem feuchten Haufen auf dem Boden. Wer steigt schon gern in nasse schmutzige Sachen, die neben einem Klo gelegen haben? Aber wir hatten keine Wahl, also zogen wir uns langsam an. Die Sachen stanken entsetzlich. Als Letztes zog Rainbow ihre Lederjacke über das nasse, verdreckte Sweatshirt. »Raus jetzt.« Bobby stand an der Tür und schloss auf. Draußen stand der dicke Wachmann. Er starrte Rainbow und mich in unseren durchweichten fleckigen Kleidern an. Wir wollten nur noch weg. »Nein, hier geht’s lang«, zischte Bobby und schob uns nach rechts, an dem Wachmann vorbei zu einer Tür, auf der irgendetwas mit »NUR FÜR« stand. Die Tür führte in einen Flur. Eine Art Lagerraum mit Regalen voller Bücher und Videos. Am Ende des Flurs war wieder eine Tür mit einem großen roten Ausgangsschild darüber. Rainbow und ich stolperten ins Freie. Die eisige graue Luft traf uns wie ein Schlag. Anscheinend hatte ich da drin völlig vergessen, dass es Winter war. Jetzt schnitt die kalte Luft durch unsere nassen Sachen und brannte im Gesicht. Wir standen auf einem kleinen Parkplatz hinter der Bücherei.

Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken. Dann segelte ich nach vorn. Ich landete auf dem Asphalt und rutschte auf Händen und Knien weiter. Ich hörte, wie Rainbow einen Schrei ausstieß, dann blieb sie auf dem kalten rauen Parkplatz reglos neben mir liegen. »Ihr glaubt, das war schlimm?«, knurrte Bobby. »Wenn ihr zwei euch noch einmal hier blicken lasst, werdet ihr sehen, was wirklich schlimm ist.« Wir kamen langsam auf die Beine. Rainbow hatte eine große Schürfwunde auf ihrer linken Wange. Die kleinen Blutstropfen wurden größer und liefen zusammen. Mein Gesicht brannte wie Feuer. Ich sah die Kratzer auf meinen Handflächen und spürte unter der zerfetzten Jeans, dass ich mir die Knie aufgeschlagen hatte. Die kalte Luft kroch durch jedes Knopfloch, durch die Ärmel und die Risse und schob sich in meine nassen Sachen wie eine Schlange. Noch etwas, das uns wehtun wollte.

NEUN

Seitdem Country Club tot war, hatte OG einen kleinen braunen Hund mit langen Schlappohren, weißen Pfoten und einem weißen Streifen auf der Brust, der wie ein Blitz aussah. OG nannte ihn Pest. Pest wollte immer nur Tauziehen spielen. Er biss sich an unseren Hosenbeinen fest, oder an den Ärmeln unserer Sweatshirts und zerrte und knurrte wie verrückt. OG und ich saßen auf dem Gehweg vor der Bäckerei. Maggot war auch dabei, er bettelte mit einem Pappschild, auf dem stand: GELD FÜR MARYJUANA Grrrrrrrrrr! Pest hielt das Seil, das OG als Leine benutzte, zwischen den Zähnen. Er knurrte und warf den Kopf hin und her und zerrte, so fest er konnte. Es war lustig, einen kleinen Hund so wütend herumtoben zu sehen. »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«, fragte mich OG. Von meinem linken Auge bis zum Kinn runter war ein riesiger Bluterguss. »Jemand hat mich geschubst«, sagte ich. »Hast du zurückgeschubst?«, fragte Maggot. Ich antwortete nicht. Grrrrrrrrrr! Pest riss immer noch an der Leine. Dabei zerrte er jedes Mal auch an OGs Arm. OG bekam einen Hustenanfall; eine Hand hielt er sich vor den Mund, in der anderen hielt er die Leine. Er hustete so schlimm, dass sein ganzer Körper bebte.

»Okay, Pest, das reicht«, krächzte er und versuchte irgendwie Luft zu bekommen. Grrrrrrrrrr! Pest zerrte weiter. Er verstand nicht, was OG sagte. Wahrscheinlich dachte er, husten sei so was wie bellen bei Menschen. »Ich sagte, das reicht«, keuchte OG. Er hustete etwas Rotes in seine Hand und wischte es am Boden ab. Grrrrrrrrrr! OG zog so heftig an der Leine, dass Pest durch die Luft flog. Als er wieder auf dem Gehweg landete, quietschte er auf, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und blieb so hocken. »Ach, Hund.« OG tat es schon wieder Leid, dass er die Geduld verloren hatte. Er nahm den verängstigten kleinen Hund in die Arme und drückte ihn. Und gleich leckte Pest ihm das Gesicht ab. Hunde verzeihen schnell. Bei Menschen ist das anders. Ein Pärchen blieb vor uns stehen. Mit ihren langen Mänteln und Aktentaschen wirkten sie irgendwie sehr groß. Waren sicher reiche Geschäftsleute. »Ist das dein Ernst?«, fragte der Mann und zeigte auf Maggots »Geld für Maryjuana«-Schild. »Wieso? Wenn da stünde: ›Geld für Essen‹ – würden Sie das etwa glauben? Immerhin bin ich ehrlich.« »Du könntest es wenigstens richtig schreiben«, sagte die Frau. Maggot drehte das Schild um und sah es an. »Ich habe ›Geld‹ falsch geschrieben?« Der Mann lächelte. »Der Junge hat Humor.« »Nicht mehr lange, wenn ich nicht bald mein Dope bekomme«, erklärte Maggot. Die Frau machte ein Lehrerinnen-Gesicht. »Du bist klug. Warum führst du so ein Leben? Warum wäschst du dich nicht und verschwindest von der Straße?«

»Vielleicht will ich das nicht«, antwortete Maggot. »Vielleicht möchte ich lieber auf der Straße leben, als mir irgendeinen blöden Job besorgen.« »Aber dann hättest du wenigstens eine warme Wohnung und saubere Sachen«, entgegnete die Frau. »Wer sagt denn, dass jeder Mensch saubere Kleider haben muss?«, fragte Maggot. »Wer sagt denn, dass jeder eine warme Wohnung haben muss? Vielleicht will ich diesen ganzen Mist gar nicht. Vielleicht bin ich zufrieden damit, schmutzig und obdachlos und frei von Besitz und Pflichten zu sein. Wie zum Teufel kommen Sie dazu, mir zu sagen, wie ich leben soll?« Der Mann fasste die Frau am Ellbogen. »Ich denke, wir sollten gehen, Rachel.« Aber Rachel rührte sich nicht. »Du erinnerst mich an meinen Bruder.« »Ach ja? Ist der auch so ein Punk?«, fragte Maggot. »Nein, er geht aufs College.« OG lachte und musste gleich wieder husten. Rachel und ihr Freund starrten ihn wütend an, dann drehten sie sich wieder zu Maggot herum. »Was ich sagen will, ist, dass er so rebellisch ist wie du. Er stellt alles in Frage.« »Er meldet sich immer, bevor er was sagt«, witzelte OG. Rachel überhörte das und sagte zu Maggot: »Er würde dir gefallen.« Maggot lächelte zu ihr hinauf, aber ich wusste, dass er sie für verrückt hielt. Als ob wir Straßenkinder irgendwas mit einem vom College gemeinsam hätten. »Weiß er von der Revolution?«, fragte er. Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Von welcher Revolution?« »Von der Revolution, die ausbrechen wird, wenn die Menschen endlich aufwachen und erkennen, dass die Regierung die Gettos und Slums mit Drogen überschwemmt,

damit die Armen und Unterdrückten immer schön high und zufrieden sind und keinen Aufstand machen.« »Wenn du das glaubst, warum bettelst du dann um Geld für Drogen?«, fragte Rachel. »Weil ich auch meinen Spaß haben will, solange es noch geht.« Maggot grinste. »Wir sollten jetzt wirklich besser gehen, Rachel«, sagte der Mann. »Warte.« Rachel machte ihre Tasche auf und begann darin herumzuwühlen. »Das ist doch nicht dein Ernst«, stotterte ihr Freund. »Du weißt genau, dass er es für Drogen ausgeben wird.« »Das ist seine Entscheidung«, antwortete Rachel und zog ein schwarzes Portmonee hervor. Der Mann sah sich nervös um, als rechnete er damit, eine Bande obdachloser Kids würde gleich über sie beide herfallen. Rachel nahm einen Fünfdollarschein und hielt ihn so, dass Maggot gerade nicht drankam. »Ich möchte, dass du mir versprichst, über das nachzudenken, was ich dir eben gesagt habe. Du musst nicht so leben.« Maggot blickte zu ihr auf wie ein junger Hund. Es fiel ihm bestimmt nicht leicht, ihr den Schein nicht einfach aus der Hand zu reißen. »Versprochen?«, fragte Rachel. »Versprochen.« Maggot ließ sich das Geld in die Hand drücken. Rachel drehte sich zu ihrem Freund um, der sie kopfschüttelnd beobachtete. Dann gingen die beiden weiter. Maggot hielt den Fünfdollarschein ausgebreitet zwischen den Fingern. »Hat mal wieder fantastisch funktioniert. Das Schild wirkt wie ein Magnet. Aber wisst ihr, was die Pointe dabei ist? Dass Marihuana falsch geschrieben ist. Das weckt ihre bürgerlichen Schuldgefühle, weil die Armen so eine miese Schulausbildung kriegen.«

»Willst du dein Versprechen halten?«, flachste OG. »Ich verspreche…« Maggot stemmte sich vom Boden hoch, »auf der Stelle zu Lost zu gehen. Bis später, Compadres.« »Hey, bring uns auch was mit«, rief OG ihm nach und fing wieder an zu husten. »Klar«, rief Maggot lachend über die Schulter zurück. »Versprochen.«

ZEHN

Da das »Geld für Maryjuana«-Schild bei Maggot so gut funktionierte, probierte ich es auch einmal damit. Pest wand sich aus OGs Armen und wollte wieder Tauziehen spielen, und OG band das Seil an seinem Rucksack fest, damit Pest etwas hatte, woran er zerren konnte. Knurrend mühte er sich ab, bekam aber den Rucksack nicht von der Stelle. Dann tauchte Tears mit einer durchsichtigen Plastikmülltüte auf, halb gefüllt mit gelben und roten McDonald’s-Schachteln und Servietten und anderem Abfall. Wir rissen die Tüte auf und stürzten uns auf die Beute: matschige Pommes frites, angebissene Cheeseburger und große Pappbecher mit Getränkeresten. Überall roch es nach Essen. Tears hatte in jeder Hand einen Becher und trank abwechselnd mit dem Strohhalm daraus. »Eistee. Limo. Eistee. Limo. Kann mich nicht entscheiden, was mir besser schmeckt.« »Dann misch sie doch«, sagte ich. Sie machte die Plastikdeckel von den Bechern ab, schüttete die Getränke zusammen und nahm einen großen Schluck. »Astrein!« »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Gurken drauf lassen«, witzelte OG und zupfte mit seinen schmutzigen Fingern eine grüne Gurkenscheibe aus einem halb gegessenen Hamburger. Pest bellte und wedelte eifrig mit dem Schwanz. OG riss ein Stück von dem Hamburger ab und gab es ihm. Ich fand einen halben Big Mac und biss hinein. Weiße Soße tropfte mir über die Hände und auf die Hose. Sofort knurrte

mein Magen. War wahrscheinlich wütend, dass ich ihn in den letzten Tagen nicht gefüttert hatte. »Wem gehört dieser Hund?« Über uns stand eine Frau mit krausen roten Haaren. Sie trug ein graues Sweatshirt, auf dem PETA stand. »Der gehört mir.« OG griff nach Pest und zog ihn zu sich heran. »Ihr dürft ihn nicht mit Abfällen füttern«, sagte die Frau. »Das sind gute Abfälle«, sagte ich und zeigte ihr einen angebissenen Big Mac. Ein Stück Salat fiel auf den Gehweg. Bloß um die Frau zu schockieren, hob ich es auf und steckte es mir in den Mund. »Gut genug für Menschen.« Tears zeigte auf wie in der Schule. »Was heißt PETA?« »Das ist die Abkürzung für einen Tierschutzverein«, antwortete die Frau und wandte sich dann wieder OG zu. »Ist er geimpft?«, wollte sie wissen. OGs Antwort ging in einem Hustenanfall unter. »Und Sie?«, fragte Tears. Ich hatte noch nie erlebt, dass Tears zu einem Erwachsenen frech geworden war. Langsam lernte sie, wie man sich als Straßenkind behauptete. »Natürlich ist er nicht geimpft«, beantwortete die Frau ihre Frage selbst. »Ihr könnt nicht einmal für euch selber sorgen und schon gar nicht für ein Tier. Ist er kastriert?« »Hau ab«, krächzte OG hustend. »Es müsste verboten sein, dass ihr Tiere haltet«, sagte die Frau. »Ihr könnt doch nicht für sie sorgen.« »Der kann das besser als Sie«, sagte ich. Die Frau stemmte die Hände in die Hüften. »So ein Unsinn. Sieh doch, was er ihm zu fressen gibt.« »Er liebt ihn«, sagte ich. »Und Sie lieben gar nichts.« »Woher willst du das wissen?«, fragte die PETA-Frau. Sie sah mich genauer an.

»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich bin kastriert und geimpft bin ich auch.« Die Frau starrte mich wütend an und wandte sich wieder an OG. »Man müsste dir den Hund wegnehmen und ihn in gute Hände geben. Hier auf der Straße wird er bald sterben.« »Officer Johnson sagt, alles stirbt auf der Straße«, sagte ich. Die Tierschützerin achtete nicht auf mich. »Wenn du diesen Hund wirklich liebst, solltest du ihn mir geben. Ich kann dafür sorgen, dass er in gute Hände kommt.« »Ach, verpiss dich!« OG umklammerte Pest noch fester. Die Frau verzog das Gesicht. »Ihr seid alle krank.« Sie wartete, dass einer von uns was sagte, aber wir blieben stumm. Es hatte keinen Sinn. Leute wie sie hörten ja doch nicht zu. Sie hatten eine feste Meinung und die sagten sie einem und das war’s. Schließlich ging sie. Pest jaulte und versuchte freizukommen, aber OG hielt ihn fest an sich gedrückt. Anscheinend hatte er Angst, den Hund loszulassen, bevor die Frau ganz außer Sichtweite war. »Komisch, dass sie sich um einen Hund solche Sorgen macht«, sagte Tears. »Und was ist mit uns?« »Um uns macht sich keiner Sorgen«, sagte ich.

ELF

Rainbow war jetzt seit Tagen verschwunden und langsam wurde ich nervös. So lange blieb sie normalerweise nie weg. Ich wartete bis zum späten Abend, dann machte ich mich auf die Suche. Es war kalt und feucht, mein Atem machte große weiße Wolken. Ich wollte zu den Straßen in der Nähe des Lincoln Tunnels gehen. Dort fuhren Männer in Autos herum und hielten nach Mädchen und Jungen Ausschau, die sie mit zu sich nach Hause in die Vorstädte nahmen. Ich ging einen dunklen Gehweg entlang, als plötzlich ein schicker silberner Wagen am Straßenrand neben mir hielt. Das Fenster an der Beifahrerseite ging auf. »Hey«, sagte eine Männerstimme. Der Mann war alt, das konnte ich erkennen, obwohl es in dem Auto ganz dunkel war. Er hatte tiefe Falten um den Mund, und sein Haar war so dünn, dass es fast so aussah, als hätte er eine Glatze. Außerdem war er für einen Erwachsenen ziemlich klein. Nicht größer als ich. »Du siehst hungrig aus«, sagte er. Sein Lächeln war irgendwie gemein. Als ob er wüsste, dass er all das hatte, was ich brauchte, und dass er mich damit ködern konnte. Er trug eine hellbraune Jacke mit grünem Kordkragen. Sah schön warm aus. Ich hatte nur ein T-Shirt und ein dünnes Sweatshirt an. Meine Jacke hatte ich irgendwo liegen lassen, aber ich wusste nicht mehr wo. »Kann sein.« Ich zitterte und mein leerer Magen rumpelte. »Ein Bad könntest du auch mal gebrauchen.« »Kann sein.« Es war erst eine Woche her, seit Rainbow und ich uns in der Bücherei gewaschen hatten, aber ich war schon wieder total verdreckt. Meine Hände waren ganz schwarz.

Meine Arme und mein Gesicht sahen auch ziemlich schlimm aus. Ich konnte den Dreck schmecken, wenn ich mir die Lippen leckte. Meine Haare waren völlig verklebt. Wenn ich mich am Kopf kratzte, fühlte die Haut sich an, als ob sie voller Sand sei. »Willst du nicht mitkommen?«, fragte der Alte. »Ich gebe dir was zu essen. Und ein Bad.« »Und was wollen Sie dafür?«, fragte ich zurück. Ich sah ihn im Dunkeln grinsen. »Das wollen wir mal abwarten.« Ich hörte ein leises Klopfen. Dann noch eins und noch eins. Ein dicker Regentropfen landete auf meinem Kopf. Ein anderer traf mein Ohr. Ich fröstelte. Das Klopfen wurde immer schneller, als der Regen zunahm und auf mich und den Gehweg prasselte. Ich ging weiter. Das Auto fuhr langsam neben mir her. »Willst du wirklich heute Nacht im Regen draußen bleiben?«, fragte der Mann im Auto. »Du wirst dir eine Lungenentzündung holen.« »Kann sein.« Ich fror. Es lief mir kalt über Rücken und Arme und ich biss die Zähne zusammen, damit er sie nicht klappern hörte. »Kommst du nun mit oder nicht?« Ich antwortete nicht. Der Mann machte ein böses Gesicht. Der Regen schlug durch das offene Fenster zu ihm in den Wagen hinein. »Worauf wartest du noch?«, fragte er. »Geld? Vergiss es. Geld bekommst du von mir nicht. Ich geb dir was zu essen und du kannst dich bei mir waschen. Ich weiß doch, was du tust, wenn ich dir Geld gebe. Du gibst es eh nur für Drogen aus.« »Kann sein.« Seine Augen wurden ganz klein. »Du bleibst lieber hier draußen? Frierend und hungrig und schmutzig? Na schön. Hier

laufen Dutzende von Kids wie du herum. Wenn du nicht mit mir kommen willst, suche ich mir eine andere. Was soll’s? Ihr seid doch alle gleich.« »Kann sein.« »Kann sein… Kann sein…«, wiederholte er. »Kann sein, dass du heute Nacht hier draußen verhungerst oder erfrierst. Kann sein, dass man morgen Früh deine Leiche findet. Wer macht sich was aus einem obdachlosen Kind? Du bist ein Niemand. Kein Mensch wird sich an dich erinnern. Dich gibt es praktisch gar nicht.« Das Autofenster ging zu. Der Mann stellte die Scheibenwischer an und fuhr davon, die dunkle nasse Straße hinunter. Ich stand im Regen, der mir auf Kopf und Schultern prasselte. Von mir aus sollte der Mann ein anderes hungriges Straßenkind finden, das aus dem Regen ins Trockene wollte. Aber mich würde er nicht kriegen.

ZWÖLF

Fast die ganze Nacht streifte ich auf der Suche nach Rainbow durch die Straßen in der Nähe des Lincoln Tunnels, dann schlief ich eine Weile im Vorraum einer Bank, wo die Leute rund um die Uhr Geld aus Automaten ziehen konnten. Noch vor dem Morgengrauen ging der Regen in Schnee über und am Straßenrand hielt ein brauner Geldtransporter. Der Fahrer kam rein und jagte mich ins Freie. Die dunklen, verschneiten Straßen waren noch menschenleer. An den Laternen hingen dünne weiße Eiszapfen. Ich ging Richtung Innenstadt. Die Kapuze meines Sweatshirts war steif gefroren und mit Schnee bedeckt. Mir war kalt, aber es gefiel mir da draußen. Langsam verwandelte sich die Dunkelheit in ein trübes Grau. Ausnahmsweise einmal war die Stadt schön und still. Kaum jemand war unterwegs. Die Straßen waren weiß und alle Schaufenster mit Metallgittern gesichert. Die einzigen Fußspuren auf dem Gehweg stammten von mir. Bald packte mich die Kälte. Mir klapperten die Zähne. Meine Füße waren gefühllos und jeder Schritt tat weh. Meine Finger wurden steif und pochten vor Schmerz. Vor mir tauchte dieses Backsteingebäude mit den großen Fenstern auf. Die Bücherei – ein warmer, trockener Ort, ein öffentliches Gebäude. Mit so einem brutalen Typ wie Bobby drin. Als ich an dem Haus vorbeiging, sah ich durch die Fenster hinein. Drinnen war es dunkel. Ich konnte die Tische mit den Computern sehen, die jeder benutzen durfte. Die Stühle waren leer, die Computer ausgeschaltet. Keine Spur von Bobby, aber das hieß ja nicht, dass er nicht doch irgendwo da drin war.

»Hallo.« Jemand in einem langen braunen Mantel und einer Wollmütze kam auf mich zu. Er war groß und hatte zwei Einkaufstüten dabei. Es war der Mann, der auch so eine fleckige Haut hatte wie ich. Wir starrten uns an. »Vitiligo«, sagte er. »Was?« Er drückte einen Finger auf eine blasse Stelle an seinem Kinn. »So nennt man das. Hast du das schon immer?« Ich nickte. »Ich auch«, sagte er. »Wolltest du in die Bücherei?« Ich antwortete nicht. Ich war durcheinander. Irgendwie dachte ich, er würde noch mehr von unserer Haut erzählen. Aber für ihn war das scheinbar keine große Sache. Wie wenn sich zwei Leute begegnen, die beide Linkshänder sind oder grüne Augen haben. Dann warf ich einen Blick in seine Einkaufstüten. Pappteller, Servietten und Plastikbecher. Ich roch Donuts. »Dafür ist es wohl leider noch zu früh. Wir machen erst in ein paar Stunden auf«, sagte er. Dann legte er den Kopf schief und sah mich genauer an. »Du zitterst ja.« »Kann sein.« »Wie heißt du?« »Maybe.« Er grinste. »Aha. Kann sein. Nun, Maybe, heute haben wir eine Feier zu Ehren von Martin Luther King. Ich bin früher gekommen, um alles vorzubereiten. Wenn du willst, kannst du mit reinkommen und dich ein wenig aufwärmen und was zu essen bekommst du auch.« »Und was ist mit Bobby?« Der Mann runzelte die Stirn. »Bobby? Woher kennst du den?« »Der hat mich und meine Freundin neulich ganz mies behandelt.«

»Das warst du? Tony hat mir erzählt, was Bobby getan hat.« »Wer?« »Tony ist unser Wachmann.« Er holte tief Luft. »Hör zu: Du kannst jederzeit hierher kommen, niemand wird dir etwas tun. Ich werde dafür sorgen, dass Bobby dich in Ruhe lässt. Natürlich wäre es besser, wenn du dich woanders waschen könntest. Vielleicht weiß ich da ja was für dich. Bobby kommt heute jedenfalls erst später. Also kein Grund zur Sorge. Du kannst jetzt mit reinkommen und dich aufwärmen und etwas essen.« Das klang ehrlich, er schien ein netter Typ zu sein. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht wollte er doch was von mir. Alle wollten was. Er ging an mir vorbei die verschneite Treppe hinauf, zog ein paar Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Dann drehte er sich zu mir um. »Willst du wirklich nicht?« Ich wollte. Und wie ich wollte. »Du kannst essen, dich aufwärmen und wieder gehen. Niemand wird dir etwas tun.« Ich folgte ihm durch die Eingangstür, blieb dann aber stehen. Die Luft war trocken und warm. Ich hielt mich nahe bei der Tür. Für alle Fälle. »Wenn du willst, kannst du hier warten«, sagte der Mann. Er stellte die Einkaufstüten auf einen Computertisch und ging nach hinten. Ich zitterte immer noch von der Kälte draußen und mein Magen knurrte hungrig bei dem Gedanken an das Essen – so greifbar nahe. Es kam mir lange vor, bis er endlich wieder auftauchte, aber so lang war das wahrscheinlich gar nicht. »Dein Sweatshirt ist ja ganz nass«, sagte er. »Wie wär’s, wenn du es ausziehst, ich leg’s dann zum Trocknen auf die Heizung.«

Ich zog mir das Sweatshirt über den Kopf. Es war völlig durchnässt. Der Mann nahm es mit spitzen Fingern. »Mehr hast du nicht?«, fragte er und musterte das zerrissene schwarze T-Shirt, das ich noch anhatte. Es war ebenfalls nass und klebte mir an den Schultern. »Wie dünn du bist. Warte. Bin gleich wieder da.« Wieder verschwand er, kam aber bald mit einem weißen T-Shirt und einem braunen Pullover zurück. Auf dem T-Shirt stand »New York is Book Country«. Er reichte mir die Sachen. »Probier’s doch mal an.« Ich sah mich um. »Du brauchst etwas, wo du dich umziehen kannst? Okay, komm mit.« Der Mann führte mich zwischen ein paar hohe Bücherregale. »Hier kannst du dich umziehen. Niemand wird dich sehen. Versprich mir, dass du das schwarze T-Shirt in den Müll wirfst.« Er ließ mich allein. Sicherheitshalber sah ich nach, ob er sich nicht doch irgendwo versteckt hatte und mich beobachtete. Dann zog ich das schwarze T-Shirt aus und das weiße an. Der Pullover gefiel mir nicht. Aber er war weich und warm, also streifte ich ihn über. Ich kam zwischen den Regalen hervor. Der Mann hatte mein Sweatshirt auf der Heizung ausgebreitet. »Komme gleich wieder«, sagte er. Wieder wartete ich und lauschte dabei dem Zischen der Dampfheizung und dem Knurren meines Magens. Der Mann kam zurück und trocknete sich die Hände mit Papierhandtüchern, als ob er sich gerade gewaschen hätte. »Okay, dann wollen wir dir mal den Tisch decken«, sagte er und stellte eine der Einkaufstüten auf einen kleinen runden Tisch. Er nahm einen roten Plastikteller und einen Plastikbecher heraus und goss mir Limonade ein. Auf den Teller legte er drei Donuts: mit Schokolade, Zucker und Zimt.

»Wenn du noch mehr essen und trinken willst, findest du mich bei den Kinderbüchern.« Er zeigte auf einen Teil der Bücherei mit kleineren Tischen und Stühlen und bunten Postern an der Wand. Dann nahm er die Einkaufstüten und ging. Ich aß die Donuts und trank die Limo in null Komma nichts, verlangte aber fürs Erste nicht mehr. Ich hatte Angst, dass er mich wegschicken würde. Vorher wollte ich mich richtig aufwärmen. Mit dem Essen im Bauch wurde mir schneller warm. Ich sah zu, wie der Mann rote Tischdecken auf die kleinen Kindertische legte und dann Teller und Becher darauf stellte. Ab und zu blickte er in meine Richtung und lächelte. Schließlich nahm ich meinen Teller und den Becher und ging zu ihm hin. Der Mann legte jetzt Bücher auf die Tische. Auf dem Umschlag der meisten war das Bild eines Schwarzen mit rundem Gesicht zu sehen. »Wer ist das?«, fragte ich. »Martin Luther King«, antwortete der Mann. »Ein sehr guter Mensch, der vielen Leuten sehr viel bedeutet hat.« Ich hielt ihm meinen leeren Teller und den Becher hin. »Das dachte ich mir, dass du noch Hunger hast.« Er goss mir noch einmal Limo ein und gab mir noch drei Donuts. Ich ging zu dem Tisch vorne in der Bücherei zurück und aß alles auf. Ich würde niemals irgendwem was bedeuten. Draußen fuhren die ersten Autos, Lastwagen und Busse durch die Straßen. Alle hatten die Scheibenwischer an. Es schneite immer noch in dicken weißen Klumpen, aber der Schnee auf den Straßen wurde allmählich zu grauem Matsch. Auch auf dem Gehweg, wo jetzt immer mehr Leute gingen. Ich saß an dem kleinen runden Tisch und schaute aus den großen Fenstern. Es war ein gutes Gefühl, an einem warmen Ort zu sein.

Nach einer Weile kam der Mann zu mir rüber. »Immer noch Hunger?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Ich will dir nur sagen, dass Bobby bald kommt. Wenn du bleiben willst, verspreche ich dir, dass er dir nichts tun wird. Du hast genauso ein Recht, diese Bücherei zu benutzen, wie jeder andere.« »Nein, ich geh jetzt lieber. Danke für die Donuts.« Ich stand auf und fing an, mir den braunen Pullover auszuziehen. »Lass nur, den kannst du behalten«, sagte er. »Okay, danke.« Ich nahm mein Sweatshirt von der Heizung. Die Ärmel waren ausgefranst, und es war voller Löcher, aber es war jetzt nur noch feucht, und selbst die Feuchtigkeit fühlte sich warm an. Ich zog es mir über den Kopf. Der Mann sah aus dem Fenster in den fallenden Schnee. Die Falten auf seiner fleckigen Stirn wurden ein wenig tiefer. »Hast du was, wo du hingehen kannst?« »Ja, klar«, sagte ich und ging zur Tür. Er kam mit. Ich zog die Tür auf. Die Luft roch kalt und frisch. »Warte«, sagte er. »Ich heiße Anthony. Du kannst jederzeit hierher kommen. Wenn du mich nicht an den Computertischen siehst, geh zum Empfang und frag nach mir. Die holen mich dann, okay?« »Okay.« Ich ging.

DREIZEHN

Bis ich das leer stehende Haus erreicht hatte, war ich schon wieder nass und durchgefroren. Pest bellte, als ich die Treppe raufkam, aber alle anderen schliefen auf der Matratze oder auf dem Fußboden, eingehüllt in Decken, weggeworfene Kleider und Lumpen. Ich sah mich nach Rainbow um, aber sie war nicht da. Ich suchte mir ein paar Klamotten zusammen – Hosen, Hemden, Sweatshirts –, machte mir ein Nest auf der Matratze und kroch hinein. Ich hatte fast die ganze Nacht lang nach Rainbow gesucht und machte mir ziemlich Sorgen um sie. Aber mit den Donuts im Bauch konnte ich trotzdem gut einschlafen. »Maybe, wach auf.« Jemand berührte mich an der Schulter. Ich öffnete die Augen. Mein Atem war eine weiße Wolke in dem dunklen Zimmer. Es war eiskalt. Ich konnte nicht aufhören zu zittern und musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten. Tears beugte sich über mich. »2Moro hat uns für heute Abend Freikarten fürs Cradle besorgt.« »Wie?« Ich gähnte. Tears sah zu 2Moro hinüber, die vor dem kaputten Spiegel kniete und Jewel schminkte, der eine rosa Perücke trug. »Wie bist du denn da rangekommen?« »Der Barkeeper mag mich«, sagte 2Moro. Ich setzte mich auf. Mir war schwindlig. Meine Fußknöchel juckten wie verrückt und ich musste mich kratzen. Das kam von den Wanzen. Nicht mal diese Eiseskälte konnte die aufhalten. »Hab keine Lust, in einen Club zu gehen«, sagte ich.

Maggot las Zeitung. »Vielleicht überlegst du dir’s noch mal, wenn du das hier hörst. Hier steht, dass für kommende Nacht ein Kälterekord erwartet wird. Mindestens zehn Grad unter null.« »Bist du sicher, dass das die Zeitung von heute ist?«, fragte OG. Maggot sah auf der Titelseite nach. »Ja. Und glaubt mir, bei diesem Wind kommt es einem noch kälter vor, als es wirklich ist.« Ich kratzte mich an den Knöcheln, bis die Haut aufriss und meine Finger ganz blutig waren. Aber der Schmerz machte wenigstens dieses entsetzliche Jucken erträglicher. Ich stand auf und merkte, wie mir schwindlig wurde. Die dünnen Lichtstrahlen, die durch die Fensterritzen kamen, schnitten wie Säbel in das Zimmer. Staub schwebte schimmernd darin. Jedes dieser winzigen Flöckchen fing das Licht der Sonne ein und wurde weiß wie Schnee. Wenn ich ausatmete, wirbelte die Dampfwolke meines Atems dazwischen und brachte sie zum Tanzen. »Gehst du mit?«, fragte mich Tears. Ich guckte zu Maggot rüber. »Gehst du?« »Ja, klar.« Er grinste teuflisch. »Ich hab dort die ganzen Roofies verkauft. Jetzt glaubt man, dass ich gutes Zeug besorgen kann. Und heute drehe ich ihnen ein paar Tütchen Backpulver für hundert Dollar an.« »Kann ich mitkommen?«, fragte Tears. OG fütterte Pest mit Nudelresten. »Klar doch, ja. Je jünger desto besser. Darauf stehen die Typen.« Tears biss sich nervös in die Lippe. »Keine Sorge, Schätzchen«, sagte Jewel. »Wir schminken dich auf einundzwanzig.« »Aber was sollen wir anziehen?«, fragte ich. Ich hatte nur mein zerrissenes Sweatshirt und das weiße T-Shirt und den

braunen Pullover von Anthony. Tears trug ein flauschiges schwarz-orangefarbenes Sweatshirt, in dem sie aussah wie eine dieser Raupen, die man manchmal auf der Straße sieht. »Klamotten kann ich euch auch besorgen«, sagte 2Moro.

Alle kamen mit, nur OG nicht. Er war zu alt und zu verdreckt. Mit diesem Bart und diesen Haaren und den Zahnlücken kam er in keinen Club mehr rein, egal, wen 2Moro da kannte. Es war dunkel, als wir das Haus verließen. Schnee und Matsch auf der Straße waren hart gefroren. Ich rutschte dauernd aus. Jewel kam auf seinen Plateauschuhen kaum voran, und 2Moro und ich mussten ihn stützen, damit er nicht hinfiel. 2Moro ging vor uns her zu einem Backsteingebäude an der Avenue A. Es war fünf Stockwerke hoch. Eine rostige Feuertreppe lief im Zickzack über die Fassade. Die Eingangstür war offen, die Briefkästen im Flur verbeult und aufgebrochen. Eine nackte Glühbirne hing an einem Kabel von der Decke und spendete Licht. »Mensch, was für ein Luxusschuppen«, sagte Jewel. 2Moro führte uns die Treppe hinauf. Im zweiten Stock kam uns eine Gruppe Gruftis entgegen. Typen mit schwarz gefärbten Haaren, schwarz geschminkten Augen und Lippen und schwarz lackierten Fingernägeln. Fast alle hatten lange schwarze Ledermäntel und hohe schwarze Schnürstiefel an. »Die Kälte treibt den Abschaum von der Straße ins Warme«, kommentierte der Obergrufti, als er uns sah. An seinem linken Ohr hing ein kleines Holzkreuz. »Ah, die Spießer von außerhalb«, gab Maggot zurück. »Wie lebt es sich so in der Vorstadt, Leute? Wo habt ihr eure normalen Klamotten versteckt? In einem Schließfach in Central Station?«

»Halt’s Maul«, knurrte der Grufti. »Jeder kann einen auf Penner machen. Das beweist gar nichts.« Ich dachte, gleich gibt’s eine Schlägerei, aber Maggot hielt die Klappe und wir gingen ohne ein weiteres Wort aneinander vorbei. Von oben kamen Stimmen und donnernde Musik. Süßliche Rauchschwaden hingen in der Luft. »Ist das der Club?«, fragte Tears. »Oh nein, Kleine«, antwortete Jewel. »Das hier ist nur zum Aufwärmen.« 2Moro führte uns in die verräucherte Wohnung. Dort waren jede Menge Kids. Die meisten hatten schicke saubere Sachen an. Im Wohnzimmer hingen sie auf Sofas und Sesseln oder saßen auf dem Fußboden und guckten Herr der Ringe auf DVD. Die Luft war so voller Rauch, dass man kaum atmen konnte. Ein Kid, dem weißer Puder an den Nasenlöchern hing, taumelte auf Maggot zu. »Hey, hast du was mitgebracht?« »Nicht für dich«, sagte Maggot und wandte sich ab. Tears reckte sich hoch und flüsterte 2Moro ins Ohr: »Ich dachte, er wollte hier Backpulver verkaufen.« »Hier doch nicht«, flüsterte 2Moro zurück. »Hier kann man zu leicht erwischt werden.« 2Moro nahm Tears und mich bei der Hand. »Kommt mit, mal sehen, was wir für euch zum Anziehen finden.« Sie führte uns durch einen schmalen Flur. Alle Zimmer waren voller Leute. »Was machen die alle hier?«, fragte Tears. »Warten«, sagte 2Moro. »Es ist nicht cool, vor Mitternacht in den Club zu gehen.« Wir gingen in eins der Schlafzimmer; dort saßen ein paar Kids rum, tranken Bier und rauchten. Einer lag schlafend im Bett, mit Ohrstöpseln und einer schwarzen Augenmaske. Einer von den anderen hob einen Finger an die Lippen: Seid leise, sollte das wohl heißen.

»Hier«, flüsterte 2Moro und zog eine Schranktür auf. Der Schrank war voll gestopft mit Seidenhemden, Tank Tops und schwarzen Hosen. Unten standen jede Menge Schuhe. »Wem gehören die Sachen?«, fragte ich 2Moro. »Diesem Barkeeper, von dem ich dir erzählt habe«, flüsterte sie. »Seine Freundin arbeitet in einem Klamottenladen.« »Er hat eine Freundin?«, fragte Tears. »Ich dachte, er mag dich.« 2Moro zuckte mit den Schultern. »Also los, sucht euch was aus.« Tears und ich hatten schnell ein paar passende Sachen gefunden. An einigen hingen noch die Preisschilder. Im Bad war es gerammelt voll, aber wir schafften es, reinzukommen und uns Hände und Gesicht zu waschen. Dann konnte 2Moro uns schminken. »Au!«, schrie ich, als sie versuchte, mir eine Bürste durchs Haar zu ziehen. »Hör auf! Das tut weh!« »Aber so kannst du nicht in den Club«, sagte 2Moro. »Deine Haare sehen grässlich aus. Irgendwas müssen wir damit machen.« »Aber nicht das«, sagte ich. »Okay, lass mich mal was versuchen«, sagte sie. Diesmal machte sie es vorsichtiger und schließlich hatte sie genug Haare freigekämmt, um die total verfilzten Stellen damit zu bedecken. Dann nahm sie Gel, um der Frisur Halt zu geben. »Für heute Abend wird es reichen, aber falls du diese Zotteln wirklich mal loswerden willst, werden dir alle Haarkuren der Welt nichts nützen. Das ist ein hoffnungsloser Fall. Du musst dir alles abschneiden und noch mal von vorn anfangen.« »Kann sein«, sagte ich. Dann beschäftigte 2Moro sich mit Tears. Ihre Haare waren kurz und längst nicht so verfilzt wie meine.

Ich sah mich im Spiegel an, mein gewaschenes Gesicht und die gebürsteten Haare und die neuen Kleider, und plötzlich freute ich mich irgendwie darauf, ins Cradle zu gehen. Als wir aus dem Badezimmer kamen, standen Maggot und Jewel schon an der Wohnungstür. Die meisten hatten ihre Mäntel im Flur gelassen. Maggot suchte einen heraus und gab ihn mir. »Der könnte passen.« »Aber der gehört mir nicht«, sagte ich. Maggot grinste. »Keine Sorge. Das hier sind alles reiche Kids. Wenn die eine Jacke verlieren, kaufen ihre Eltern ihnen eine neue.« Wir verließen die Wohnung und gingen zurück auf die Straße. Die Kälte tat mir in den Ohren weh. Ich hüllte mich fest in meinen neuen Mantel und ärgerte mich, dass ich mir keine Mütze und Handschuhe mitgenommen hatte. Der Atem kam uns in weißen Nebelfahnen aus dem Mund. Das Cradle war ziemlich in der Nähe. Eine lange Warteschlange stand draußen in der bitteren Kälte. Alle waren geschminkt. Perücken und Federschmuck und Fingernägel in allen Farben. Schuhe und Stiefel mit irre hohen Absätzen. Es war ein gutes Gefühl, mit solchen Leuten zusammen zu sein. Kaum einer glotzte mich an. 2Moro wollte uns an den Anfang der Schlange führen, aber wir mussten dauernd stehen bleiben, weil Maggot immer wieder angesprochen wurde. »Hey, Mag, hast du Roofies zu verkaufen?« »Was hast du heute dabei, Mag?« »Hey, Mann, hast du Roofies?« »Drinnen«, antwortete Maggot jedes Mal. »Drinnen.« Endlich waren wir am Anfang der Schlange. Ein großer Typ in einem riesigen braunen Pelzmantel und schwarzem Hut versperrte den Eingang. Er hob eine Hand, die so groß war wie eine Bärentatze. »Stopp.«

2Moro griff in ihre kleine schwarze Handtasche und nahm ein paar orangefarbene Papierstreifen heraus. Der pelzige Bär untersuchte sie und nickte schließlich. »Okay, ihr fünf könnt rein.« Er zog die Tür auf und ein Schwall von Musik, flackerndem Licht und warmer verräucherter Luft schlug uns entgegen. Wir waren drin und die Tür knallte hinter uns zu. Zuerst fand ich die Musik zu laut, das grelle Licht blendete und der Rauch war noch dicker als in der Wohnung. Aber dann gewöhnte ich mich daran. Um Maggot drängten sich Leute, die ihn fragten, was er zu verkaufen hatte und wie viel er dafür haben wollte. Jewel und 2Moro verschwanden auf der Tanzfläche. Jemand packte mich fest an der Hand. Es war Tears. »Schon mal in einem Club gewesen?«, fragte ich sie. Tears schüttelte den Kopf. »Wenn Jewel und 2Moro mal für ein paar Tage verschwunden sind«, sagte ich, »dann sind sie hier.« »Wie essen und schlafen sie?«, fragte Tears. »Andere Leute haben Geld. Manchmal sehr viel. Die bezahlen acht Dollar für eine Dose Bier und fünfundzwanzig Dollar für eine kleine Pizza.« »Und wo schlafen sie?« »Manchmal gar nicht«, sagte ich. »Manchmal im Club. Oder bei Leuten, die sie in ihre Wohnung lassen.« »Umsonst?« »Manchmal.« Ich war mir nicht sicher, ob Tears meine Antwort gehört hatte. Sie bewegte sich zur Musik. »Willst du tanzen?« »Okay.« Wir schoben uns in die Menge und tanzten. Tears hielt sich dicht bei mir und starrte wie ein kleines Kind im Zoo die Leute um uns herum an. Ein Mann fing an mit uns zu tanzen. Er war vielleicht 40 oder so und trug ein glänzendes schwarzes Hemd

und eine Goldkette. Sein Hemd war offen und man konnte seine dicht behaarte Brust sehen. An einem Handgelenk hatte er eine goldene Uhr, am anderen ein goldenes Armband, und er trug drei goldene Ringe. »Euch zwei habe ich hier noch nie gesehen«, schrie er gegen die Musik an. Tears und ich tanzten weiter. »Ganz schön heiß hier drin«, sagte er. »Wollt ihr was trinken?« Ich hatte wahnsinnigen Durst, mein Hals war von dem Rauch ganz ausgetrocknet. Der Typ winkte uns. »Kommt, ich geb euch einen aus.« Ich dachte, so lange Tears und ich zusammenbleiben, kann uns nichts passieren. Wir folgten ihm von der Tanzfläche zu einer langen Theke. Dort war es, abgesehen von der Glut der Zigaretten und dem gespenstisch leuchtenden weißen Hemd des Barkeepers, fast vollkommen dunkel. »Ich heiße Jack«, sagte der Mann und setzte sich auf einen Barhocker. »Seid ihr zum ersten Mal hier?« Wir nickten. »Was wollt ihr trinken?« Wir bestellten beide eine Cola. Jack nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und hielt sie uns hin. Lieber nicht, dachte ich, und schüttelte den Kopf. »Das ist ein guter Laden«, sagte Jack. »Hier wird man nicht belästigt. Man hört sich an, was die Leute einem anzubieten haben. Und wenn man nicht will, geht man einfach weiter. Versteht ihr, was ich meine?« Ich nickte. Tears nicht. Der Barkeeper stellte uns zwei Gläser mit einer braunen Flüssigkeit hin. Jack zog ein dickes Bündel Geldscheine aus der Tasche und bezahlte. In jedem Glas war ein dünner roter Strohhalm. Ich nahm einen Schluck. Es

schmeckte komisch, aber nicht schlecht, jedenfalls war es kalt und erfrischend. Tears schien das Zeug auch zu schmecken. »Wow«, sagte Jack. »Ihr zwei habt aber wirklich Durst.« Er bestellte uns noch mal zwei. Der Barkeeper schob uns die Gläser über die Theke hin, und Tears und ich nuckelten gleich an den Strohhalmen weiter. Aus den Augenwinkeln entdeckte ich in der tanzenden Menge einen vertrauten blonden Kopf. Rainbow? »Hey, wo gehst du hin?«, fragte Jack. »Bin gleich zurück«, sagte ich und warf Tears einen Rührdich-nicht-von-der-Stelle-Blick zu. Sie zwinkerte mir zu und nippte an ihrem Drink. Schon nach dem ersten Schritt wurde mir klar, dass das, was ich gerade getrunken hatte, keine normale Cola war. Ich stolperte und verlor beinahe das Gleichgewicht. Aber das Gefühl war nicht schlecht. Machte mich irgendwie mutiger. Ich steuerte auf die Tanzfläche zu und drängte mich zwischen die warmen, verschwitzten Körper. Einige Leute stieß ich an, aber das schien niemanden zu stören. Manche wollten sogar mit mir tanzen. Plötzlich hatte ich total Lust, dazubleiben und mitzutanzen. Keine Ahnung, was in dem Drink gewesen war, aber irgendwie fühlte ich mich viel leichter, bewegte mich wie von selbst. Und von Rainbow war sowieso nichts mehr zu sehen. Lag wahrscheinlich an dem Drink und der Dunkelheit, an den herumwirbelnden Leuten und dem flackernden Licht, dass ich sie mir nur eingebildet hatte. Ich begann zu tanzen. Andere Tänzer lächelten mir zu. Ich hatte das Gefühl, die mögen mich. Niemand glotzte mich blöd an. Zuvor mit Tears hatte ich geglaubt, nur mit ihr allein zu tanzen. Jetzt aber war es, als würde ich mit allen tanzen. Ein gutes Gefühl. Die Musik. Die Bewegung. Hier konnte man alles vergessen. Vergessen, dass einem die Fußknöchel

juckten, dass man Bauchschmerzen hatte, dass man krank war. Oder hungrig oder einsam war. Als ich dann Rainbow entdeckte, dachte ich erst wieder, ich hätte mir das nur eingebildet. Aber ich sah genauer hin und da war ich mir sicher. Sie tanzte mit einem Mann, obwohl man das nicht direkt tanzen nennen konnte. Sie hatte ihr Gesicht an seine Schulter geschmiegt und die Arme um seinen Hals geschlungen, umklammerte ihn, als würde sie sofort zusammenbrechen, wenn sie ihn jetzt losließe. Am rechten Handgelenk hatte sie zwei Plastikbändchen. Ein weißes und ein blaues. Der Mann, mit dem sie tanzte, drehte sie herum. Jetzt konnte ich ihn sehen. Er war alt. Älter als Jack. Er hatte fast keine Haare mehr, nur noch einen grauen Haarkranz. Sein Gesicht war voller Falten. Mein Herz schlug schneller, ich freute mich so, sie zu sehen, und drängte mich durch die Menge zu den beiden. »Rainbow!« Sie hob den Kopf und legte ihr Kinn an die Schulter des Mannes. In ihrem Gesicht waren rosa Flecken, wo die Kruste von den Schürfwunden abgefallen war. Sie machte langsam die Augen auf. Ich stand ziemlich dicht neben ihr, aber sie brauchte lange, bis sie mich erkannt hatte. »Hi.« Sie lächelte freundlich, aber ihre Stimme klang seltsam gedehnt. »Alles klar?«, fragte ich. Bevor Rainbow antworten konnte, drehte der Mann sich um. Dunkle Bartstoppeln bedeckten seine Wangen. Er hatte einen dünnen Schnurrbart und kleine schwarze Augen. »Was willst du?« »Sie ist meine Freundin«, sagte ich. »Hab sie lange nicht mehr gesehen.« »Jetzt nicht«, sagte der Mann. »Ich wollte nur mal Hi sagen.« »Ein andermal.«

»Sie brauchen nicht so unfreundlich zu sein.« Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Vielleicht lag es an den Drinks, die Jack mir gegeben hatte. Aber vielleicht gefiel es mir auch einfach nicht, dass dieser Mann Rainbow so fest an sich drückte. »Verzieh dich«, sagte der Mann. »Leck mich doch.« Eine Hand schloss sich um meinen Arm und zog so kräftig, dass ich vom Boden abhob. Ein stahlharter Griff, den ich nicht abschütteln konnte. Ich wurde durch die Menge gezerrt, konnte aber nicht sehen, von wem. Ich sah nur eine große Hand mit schwarzen Haaren und einem dicken goldenen Doppelring um Mittel- und Ringfinger. Als wir den Rand der Tanzfläche erreicht hatten, drehte die Hand mich um und stieß mich mit einem heftigen Ruck von sich fort. Ich krachte mit den Rippen gegen die harte Kante der Theke und bekam keine Luft mehr. Wieder packte die Hand meinen Arm so fest, dass es wehtat. Und jetzt konnte ich sehen, wer das war. Ein kleiner Mann mit breiten Schultern. Er trug ein weißes T-Shirt und hatte dicke Muskeln an den Armen und am Hals. Der Kopf über dem eckigen Gesicht war kahl rasiert, in beiden Ohren hatte er Diamantstecker. »Loslassen.« Ich versuchte mich zu befreien. Eine andere Hand kam aus dem Nichts und schlug mich hart ins Gesicht. Das brannte teuflisch und mir wurde schwindlig. Als ich die Augen aufmachte, sah ich einen Barkeeper in einem weißen Hemd, der am Ende der Theke stand und uns beobachtete. »Was willst du?«, fragte der kleine Mann mit dem rasierten Schädel. Er hatte einen merkwürdigen Akzent. »Ich möchte mit meiner Freundin sprechen.« »Das ist nicht deine Freundin«, sagte der Mann. »Doch, ist sie.«

»Sie gehört mir«, sagte der Mann. »Sie tut, was ich ihr sage. Und sie redet nur mit dir, wenn ich es ihr sage.« »Wer sind Sie?«, fragte ich. »Geht dich nichts an.« Der Typ quetschte immer noch meinen Arm. Ich versuchte mich nicht zu wehren. Ich wollte nicht, dass er mich noch einmal schlug. »Lassen Sie mich, bitte.« »Die Kleine gehört mir.« Er drückte meinen Arm noch fester. »Okay, okay. Sie können loslassen.« Endlich lockerte er seinen Griff. Ich sah zur Tanzfläche rüber. Rainbow hing immer noch am Hals dieses alten Mannes. Ihr Gesicht lag wieder an seiner Schulter. Ich ging zu der Stelle, wo ich Tears und Jack hatte stehen lassen, aber sie waren nicht mehr da. Ich suchte Maggot und 2Moro, vielleicht wussten die, wo sie hingegangen waren. Ich sah aber nur Jewel tanzen. Rainbow klammerte sich immer noch an den alten Mann. Plötzlich war ich irrsinnig müde. Ich fand eine Treppe, die auf eine Galerie führte. Dort gab es Sessel und Tische. Es war sehr dunkel. Ich konnte Leute flüstern und kichern hören. Ich fand eine freie Nische und legte mich hin. »Hey, aufstehen!« Etwas Kratziges streifte mich am Arm. Ich machte die Augen auf. Das Licht war so hell, dass ich blinzeln musste. Ein großer dünner Mann stand mit einem Besen neben mir. »Zeit zu gehen«, sagte er. Es war der Barkeeper, der zugesehen hatte, wie der Mann mit dem rasierten Schädel mir wehgetan hatte. »Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll«, sagte ich und gähnte. »Da kann ich dir auch nicht helfen«, sagte er. »Wir schließen jetzt jedenfalls.« Ich setzte mich auf. Mir war schwindlig. In meinem Kopf drehte sich alles. »Okay, eine Minute noch.«

Der Barkeeper fing an, den Boden zu fegen. Ich saß auf der Bank und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl aufhörte. Nach einer Weile sah er zu mir rüber, und ich wusste, jetzt musste ich wirklich gehen. Ich stand auf, aber wieder drehte sich alles. Mir war so schlecht. Ich setzte mich hin, wartete ein paar Sekunden und versuchte es dann noch einmal. Diesmal ging es ein bisschen besser. Ich ging die Treppe hinunter. In dem hellen Licht sah der Club ziemlich kaputt aus. Die Sessel waren mit schwarzem Klebeband geflickt. Über der Tanzfläche hingen Scheinwerfer an schwarzen Metallgerüsten. Von der Decke darüber blätterte die Farbe ab. Das Ganze sah aus, als hätte man es an einem Nachmittag zusammengeschustert. Von unten kamen Stimmen. Die letzten Gäste gingen in die kalte Dunkelheit hinaus. Einer von ihnen trug eine rosa Perücke. Es war Jewel. »Hey«, rief ich. Jewel drehte sich um. »Maybe? Komm, wir gehen zu Stanley’s.« Ich hatte keine Ahnung, was Stanley’s war, und es war mir auch egal. Hauptsache ich konnte mich irgendwo wieder hinlegen und weiterschlafen.

VIERZEHN

Draußen war es so kalt, dass ich sofort wieder anfing zu zittern. Wir schlitterten über die vereiste Straße. Ich hörte, wie jemand sagte, dass das Stanley’s bis zum Morgen geöffnet hat. Wir gingen um eine Ecke und ein paar Stufen hinunter und Jewel hämmerte an eine rote Eisentür. Ein Schlitz in der Tür glitt auf und zwei Augen starrten uns an. »Das Stanley’s ist echt cool«, sagte Jewel zu den Augen. Das muss ein Passwort gewesen sein, denn jetzt hörte ich das metallische Klirren von Riegeln, die zurückgezogen wurden, und dann machte ein dicker Mann in einem schwarzen Hemd die Tür auf. Hinter ihm war ein dunkler Keller mit ein paar Sofas und einer kleinen Theke. Dumpfe Musik dröhnte aus den Boxen. »Zwanzig Dollar«, sagte der Mann. Einige von denen, die mit uns vom Cradle hierher gekommen waren, gaben ihm das Geld und gingen rein. Schließlich standen nur noch Jewel und ich vor der Tür. »Ich hab keine zwanzig Dollar«, sagte Jewel. Der Dicke zeigte nach hinten in den Keller. »Siehst du den Typ mit den kurzen braunen Haaren da auf der Couch? Ich glaube, der wird dich mögen. Vielleicht bringst du ihn dazu, dir ein paar Drinks zu spendieren.« »Aber gern«, sagte Jewel und ging hinein. Dann glotzte der Dicke mich an. »Und du hast auch kein Geld, oder?« Ich schüttelte den Kopf. Der Mann wollte mir die Tür vor der Nase zumachen.

»Warten Sie«, sagte ich und trat einen Schritt vor. »Es ist so kalt und ich bin total müde.« »Das ist hier kein Heim für Obdachlose.« »Bitte?« Der Mann schnaubte genervt. »Hör mal, Mädchen, ich will dich nicht beleidigen, aber wenn du in einen Laden wie den hier rein willst, musst du schon was zu bieten haben. Gutes Aussehen, Drogen, irgendwas.« »Ich könnte arbeiten.« Der Mann presste die Lippen zusammen und kratzte sich am Kopf. »Kannst du Geschirr abwaschen?« Ich nickte. »Meine Spülmaschine ist kaputt. Geh nach hinten in die Küche und wasch das Geschirr ab, das da rumsteht. Und dann such dir was zum Schlafen.« In die Küche gelangte man durch eine Tür hinter dem Keller. Sie war winzig klein, eine nackte Glühbirne hing von der Decke. Überall war schmutziges Geschirr gestapelt, lauter wacklige Türme, die schon fast umkippten, so hoch waren sie. Vom Abwaschen wurde ich für eine Weile wieder wach. Der Dicke trampelte zweimal zu mir herein. Das erste Mal, um nachzusehen, ob ich auch arbeitete. Das zweite Mal, um in der Mikrowelle Hotdogs zu machen. Zigarettenrauch hing in der Luft und aus dem Raum nebenan hörte ich Lachen und Stimmen. Irgendwann konnte ich die Augen nicht mehr offen halten und rollte mir ein muffiges Küchenhandtuch zu einem Kopfkissen zusammen und legte mich zum Schlafen unter den Tisch. Als ich aufwachte, erblickte ich vor mir zwei nackte Füße in grünen Gummilatschen. Sie gehörten dem Dicken. Er stand an der Spüle. Ich kroch unter dem Tisch hervor. In der Küche war es warm und dunstig. Ein großer Topf Spagetti kochte auf dem Herd.

»Wo ist das Bad?« »Hinter der Tür da«, sagte er. Ich ging aufs Klo und kam wieder zurück. »Du hast gut gearbeitet, Mädchen. Mach jetzt erst mal den Abwasch fertig«, sagte der Dicke. »Dann machst du die Küche und das Badezimmer sauber. Wenn du was brauchst, nimm’s dir aus dem Kühlschrank. Du kannst so lange bleiben, wie du willst.« Als die Spagetti fertig waren, ging er. Ich sah in den Kühlschrank. Er war fast leer, aber ein angebrochener Becher Jogurt war noch da. Ich kratzte das grüne Zeug von der Oberfläche, der Jogurt darunter schmeckte ganz gut. Dann fand ich ein Stück altes Brot und toastete es mir. Im Gefrierfach war sogar noch ein Rest Schokoladeneis. Nachdem ich alles aufgegessen hatte, machte ich die Küche sauber, dann ging ich ins Bad. Die Badewanne war quadratisch, halb so groß wie eine normale Wanne. Ich hätte gern ein Bad genommen, aber in der Wanne war ein dicker, klebriger brauner Schmutzrand. Also kniete ich mich hin und schrubbte sie mit Scheuerpulver, als plötzlich die Tür aufging. Ein Mädchen mit massenhaft Piercings und orange gefärbten Haaren kam herein und setzte sich auf die Toilette. Sie rauchte eine Zigarette und murmelte vor sich hin. Ich glaube, die hat mich nicht mal bemerkt. Als ich die Wanne sauber hatte, nahm ich ein Bad. Auch wenn ich nur darin sitzen konnte, war es ein gutes Gefühl, das warme Wasser an Beinen und Bauch zu spüren. Ich schöpfte etwas mit den Händen und schüttete es mir auf den Kopf, sodass es mir über Rücken und Arme rann. Ich schloss die Augen und dachte daran, wie ich als kleines Kind in der alten Eisenwanne in der Wohnwagenküche gebadet hatte. Meine Mom goss mir warmes Wasser aus einem Krug über die Schultern und rieb mir mit einem Waschlappen den Rücken ab.

Ihre leise, beruhigende Stimme. Der Parfümgeruch der Seife. Das Spielzeugboot und der kleine schwarz-weiße Schwertwal, den man aufziehen konnte und der dann mit dem Schwanz schlug und mit der Nase an die Wand der Wanne stupste… Ein paarmal habe ich Mom nach meinem Dad gefragt, aber sie hat immer gesagt, das sei bloß ein Bekannter von ihr, das sei nicht wichtig, Hauptsache, wir zwei hätten uns, und mehr brauchten wir nicht. Aber dann kam ein neuer Mann in ihr Leben und ich hatte nicht mehr viel von Mom. Und dann bekam ich eine kleine Schwester. Und so ging es weiter. Eine Zeit lang war irgendein Mann da und dann kam ein neues Baby. Mit dem Baden in der Wanne war es aus. Wir lebten nur noch in Wohnwagen, die manchmal eine Duschkabine hatten. Und immer gab es haufenweise Wäsche zu waschen. Berge von Babysachen und Laken und Handtüchern und Decken, die die Kleinen voll gepinkelt hatten. Und jede Menge Geschirr und Babyflaschen zu spülen. Wenn Mom spätabends in den Wohnwagen getorkelt kam, stank sie nach Zigarettenrauch und lallte vor sich hin, dass ich dumm und hässlich und zu nichts zu gebrauchen bin, und dass es viel besser wäre, wenn sie mich nie gekriegt hätte. Und dann schlug sie mir mit einem Ledergürtel auf die Beine oder kniff mich so fest, dass es blutete, und einmal bekam ich ein heißes Bügeleisen auf den Rücken. Trotzdem bin ich geblieben, genau wie Tears. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Aber etwa eine Woche nach der Sache mit dem Bügeleisen schlug sie mir eine Lampe an den Kopf. Ich hatte eine Platzwunde, und im Krankenhaus erzählte Mom der Schwester, dass ich hingefallen bin. Die Schwester nahm mich aber mit in ein anderes Zimmer und fragte mich, ob das stimmt, und ich sagte Nein. Ich erzählte ihr, was wirklich passiert war, und nachdem sie mir den Kopf genäht hatten,

steckten sie mich in ein Heim, und als ich meine Mom das nächste Mal sah, sagte sie, dass sie mich hasst und mich niemals wieder sehen will. Und jetzt saß ich in dieser Wanne, schöpfte Wasser mit den Händen und ließ es mir über den Kopf laufen. Aber das Wasser war nur lauwarm und mir wurde gleich wieder kalt. Ich stieg aus der Wanne und stellte fest, dass es kein Handtuch gab. Also blieb ich einfach stehen und zitterte. Als ich nur noch ein bisschen feucht war, zog ich meine neuen Partysachen wieder an und ging in die Küche zurück. Ich saß am Tisch, als der Dicke hereinkam. »Immer noch hier?« Er war echt überrascht. Kann sein, dass er mich längst vergessen hatte. Er sah ins Badezimmer. »Hey, gut gemacht, danke. Möchtest du nächste Woche vielleicht wiederkommen?« »Kann ich nicht bleiben?«, fragte ich. »Machst du Witze?«, sagte er. »Schlimm genug, dass ich meinen Club bis morgens aufhalte. Wenn die Cops hier auftauchen und eine Minderjährige finden, lande ich im Knast.« »Aber Sie haben doch gesagt, wenn ich sauber mache, kann ich so lange bleiben, wie ich will.« »Das musst du falsch verstanden haben, Mädchen. Ich habe gesagt, du kannst so lange bleiben, wie du arbeitest. Komm in einer Woche wieder. Dann kannst du wieder was für mich tun.« Lügner. Wieder so ein Erwachsener, der Kinder nur ausnutzte. Aber ich konnte nichts dagegen tun, also ging ich. Draußen war es hell. Morgen. Menschen hasteten mit Kaffeebechern und Zeitungen zur Arbeit. Sie hatten die Mäntel aufgeknöpft, die Schals offen um den Hals gehängt, die Handschuhe in den Taschen. Es war etwas wärmer geworden.

Manchmal machte mir das Gehen richtig Spaß. Auch wenn ich kein Ziel hatte. Wenn ich an eine Kreuzung kam, ging ich einfach in die Richtung, die mir am besten gefiel. Oder wenn ich schon mal an dieser Kreuzung gewesen war, ging ich in die andere Richtung. Die Leute sahen mich seltsam an. Man fällt auf in New York, wenn man ziellos umhergeht. Bleibt man stehen, heißt das entweder, man hat kein Ziel, oder man hat eins und will da nicht hin. Vielleicht ging es anderen auch so und sie wollten es nur nicht zugeben. Jedenfalls machten alle den Eindruck, als ob sie ein Ziel hätten. Aber warum mussten eigentlich immer alle ein Ziel haben? Warum mussten sie tun, was alle anderen taten? Warum war man ihnen unheimlich, wenn man was anderes tat? Maggot nannte sie Roboter, weil sie alle am Morgen aufstehen und dieselben Dinge zum Frühstück essen, dann aus dem Haus gehen und Tag für Tag dieselbe Arbeit machen, dann nach Hause kommen und dieselben Dinge zu Abend essen und sich schlafen legen. Warum machte das denen nichts aus? Oder vielleicht war die Frage auch: Warum machte es uns was aus? Als ich so herumging, sah ich auf einmal an einem Fenstertisch in einem Coffeeshop Jewel sitzen, das Kinn in die Hand gestützt. Er trug einen zu großen olivgrünen Mantel und hatte die Haare zu eng anliegenden kleinen Zöpfen geflochten. Er starrte mit traurigen Augen auf den kleinen Tisch, so als hätte er für alle Zeiten genug von Partys. Ich klopfte an das Fenster. Er hob mühsam den Kopf und sah mich an. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert leer. Er legte beide Hände auf den Tisch und schob sich langsam hoch, als brauchte er seine ganze Kraft, um aufzustehen. Er kam aus dem Coffeeshop, die rosa Perücke und ein paar Klamotten hatte er in eine zerknitterte braune Einkaufstüte von Macy’s gestopft. Seine Augen waren noch geschminkt, aber rot unterlaufen. Seine Haut war leicht grünlich, an den Wangen

mit dunklen Bartstoppeln bedeckt. Er sah aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen. »Alles klar?«, fragte ich. »Was soll schon klar sein?«, sagte er. »Ich geh jetzt zurück«, sagte ich. »Willst du mitkommen?« Er zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« Wir gingen zu einer Bushaltestelle. Dort warteten viele Leute, die mit dem Bus zur Arbeit wollten. Sie trugen saubere Sachen und hatten frisch gewaschene Gesichter und ordentliche Frisuren. Die meisten hatten Aktentaschen dabei. Ein Bus kam. Jewel und ich stiegen hinten ein, wo man normalerweise aussteigt. Drinnen spähte ich nach vorn. Der Fahrer beobachtete uns genau im Rückspiegel. Dann brummte der Motor auf und der Bus fuhr los. Die Sitze waren alle besetzt, also mussten Jewel und ich stehen und uns an einer Stange festhalten. Die Leute im Bus starrten uns an. Jewel und ich tauschten Blicke aus, als wollten wir einander sagen, dass sie die Seltsamen waren, nicht wir. Aber dann erblickte ich im Busfenster unser Spiegelbild. Zwei dürre verlumpte Kids und eine zerknitterte braune Tüte, aus der eine rosa Perücke hing. Wer waren hier wirklich die Seltsamen? Der Bus hielt und ein paar Leute standen auf. Jewel und ich setzten uns. Ich hörte ein Schluchzen. Jewel hielt sich die Hände vors Gesicht. Die Leute guckten ihn neugierig an. »Was hast du?«, flüsterte ich. Jewel schluchzte weiter. Er würgte und stöhnte ein bisschen, hustete und schniefte, dann schluchzte er wieder auf. Das war kein körperlicher Schmerz. Es war ein anderer Schmerz. Der Schmerz dieses verdammten, frierenden, hungrigen, schmutzigen Lebens, bei dem kein Mensch sich dafür interessierte, ob man tot oder lebendig war. Bei dem man nicht einmal einen Namen hatte. Nicht einmal eine Nummer. Nur

etwas Fleisch, das an irgendwelchen Knochen hing. Das darauf wartete, gefüttert oder nicht gefüttert zu werden. Zu schlafen oder nicht zu schlafen. Zu leben oder nicht mehr zu leben. »Was hast du, Jewel?«, fragte ich noch einmal. »Die wollen mich nicht mehr«, schluchzte Jewel. »Wer?« Er hob den Kopf von den Händen. Seine Augen waren gerötet, seine Wangen mit Make-up und Tränen verschmiert. »Die, die alles bezahlen. Sagen, ich bin zu alt. Sobald man anfängt, sich zu rasieren, sobald man ein paar Haare auf der Brust hat, wollen sie einen nicht mehr. Was soll ich jetzt bloß machen?« »Nach Hause gehen.« Jewel sah mich blinzelnd an und neue Tränen strömten ihm über die Wangen. »Echt, nach Hause? Das kann ich nicht. Mein Vater hasst mich. Meine Mutter sagt, sie liebt mich, aber sie sagt auch, ich bin krank, ich brauche Hilfe. Ich brauche keine Hilfe. Ich brauche nur einen, der mich liebt und für mich sorgt.« Jewel war ein Träumer. »Wo ist 2Moro?«, fragte ich. »Keine Ahnung. Sie ist ein hübsches Mädchen. Es gibt immer Männer, die sie haben wollen.« Jewel wischte sich mit dem Mantelärmel die Augen aus und verschmierte dabei die restliche Schminke. Der Bus hielt abrupt an. Wir stiegen aus und gingen am Good Life und an der Pissgasse vorbei zu dem leer stehenden Haus. Die schwarze Eisentür stand offen und auf dem Gerüst liefen einige Bauarbeiter mit gelben Schutzhelmen herum. Zwei Arbeiter kamen mit der verwanzten Matratze aus der Haustür und warfen sie in den Container. Im ersten Stock trat eine Frau mit einem blauen Schutzhelm ans Fenster und kippte einen

Plastikeimer auf eine Holzrutsche. Kerzen und Make-up und Kleider landeten im Container. Wir wohnten dort nicht mehr. Wir gingen in den Park. Die Bäume waren schwarz und kahl. Die grauen Eichhörnchen trugen dickes Winterfell, Maggot saß an einem der Betontische und spielte Schach mit einem alten Mann mit weißem Bart. Er und der alte Mann waren in Mäntel gehüllt und sie trugen Mützen und Handschuhe. »Maggot?«, sagte ich. Er blickte kurz auf, dann beugte er sich wieder über die Schachfiguren. Wir warteten. Maggot bewegte eine Figur. Der alte Mann runzelte die Stirn und fluchte leise. Maggot grinste und wandte sich an Jewel und mich. »Was gibt’s?« »Wo sind die anderen?«, fragte Jewel. »Unter der Brücke.« Jewel und ich verließen den Park. In der Ferne sahen wir die Brooklyn Bridge, die sich über die Straßen erhob. Graue Eiszapfen hingen an der Unterseite, und die Brücke wurde immer größer, bis sie so hoch war wie ein riesiges Haus. Wir hörten den Lärm der Autos, die da oben fuhren. Es stank nach Abgasen. Ein paar Straßen weiter, unten am Ufer, wo die Brücke sich über den Fluss schwang, war an der Brückenmauer eine blaue Plastikplane befestigt. Wir gingen weiter, bis wir an einen Maschendrahtzaun gelangten. Die blaue Plastikplane war auf der anderen Seite. Jewel entdeckte ein Loch im Zaun und wir krochen durch. Ein Hund bellte und OG bog eine Ecke der Plane zurück. »Reizendes Hotel, OG«, sagte Jewel. OG sagte nichts und ließ die Plane wieder los. Ich bückte mich und kroch hinein. Es war wie in einem Zelt. OG hatte irgendwo einen kleinen Kochherd gefunden. Er hatte ein paar mit Wasser gefüllte Milchkartons, ein paar

Päckchen Nudeln und ein paar Kerzen. Pest lag auf dem Bauch und nagte an einem alten Knochen. Jemand lag zusammengerollt in einem schmutzigen, orangefarbenen Schlaf sack. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich blonde Strähnen auf dem Kragen einer schwarzen Lederjacke. Rainbow! Jewel kam herein und sah sich bedrückt um. »Na ja, immerhin ist man hier vor Regen und Schnee geschützt«, sagte er. Ich setzte mich neben Rainbow und wartete, dass sie aufwachte. Oben bretterten die Autos lang. Ich lauschte dem endlosen Krach der Motoren und Hupen, manchmal kam noch das Quietschen von Reifen dazu. Der Gestank der Abgase hing schwer in der Luft. Die Plane war an der Seite zum Fluss hin offen, dicht über dem grünlichen Wasser segelten Möwen. Weiße Wellen brachen sich am Bug eines Schleppers mit rotem Schornstein, der langsam einen Lastkahn zog. Rainbow rührte sich. Sie machte die Augen auf und sah mich an. »Hey.« Sie gähnte. »Hey.« Ich lächelte. Ich war so froh, sie zu sehen. Sie reckte sich. Die bunten Plastikbändchen hatte sie immer noch am Armgelenk. »Wo bist du gewesen?« »Irgendwo draußen«, sagte ich. »Und du?« Sie zuckte mit den Schultern. »Was war mit diesem Typ im Club?«, fragte ich. »Mit welchem?« »Der mit dem rasierten Kopf, der gesagt hat, du gehörst ihm.« Rainbow schüttelte langsam den Kopf. »Der wollte mich bloß verkaufen. Das hab ich nicht nötig. Wenn mich jemand verkauft, dann nur ich mich selber.« »Er hat dich gehen lassen?«

»Ich bin gegangen. Was hätte er schon tun können? Mir sagen, dass ich nicht gehen darf?« »Zum Beispiel.« »Ich hab gewartet, bis er eingeschlafen war. Und dann tschüss. Glaub kaum, dass er mich finden wird.«

FÜNFZEHN

Angel Perez alias 2Moro, geboren in West New York, New Jersey. Mutter an AIDS gestorben, als Angel vier Jahre alt war. Vater unbekannt. Hat bei ihrer Großmutter gelebt, später bei einer Tante. Chronischer sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlung durch den Lebensgefährten der Tante. Mit acht Jahren Diagnose: HIV-positiv. Häufige Abwesenheit von der Schule. Mit elf Jahren als psychisch gestört eingestuft. In eine Pflegefamilie gegeben. Nach einem Jahr: Einweisung in eine Erziehungsanstalt. Entlassung mit zwölf. Im Alter von dreizehn/vierzehn mehrmals festgenommen: Stadtstreicherei, Prostitution, Besitz von Rauschmitteln, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Letzter bekannter Wohnsitz: New York City. Gestorben mit 15. Todesursache: Erdrosselung.

In dieser Nacht riss der eisige Wind die Plane herunter. OG machte sie wieder fest, aber wenige Minuten später war sie schon wieder lose. Wir rückten enger zusammen und zogen die Plane über uns wie eine Bettdecke. Wir lagen auf Pappe in Nestern aus Lumpen, Zeitungen und Plastiktüten. Ich verbarg das Gesicht in der Dunkelheit meines Kokons, um dem bitterkalten Wind zu entgehen, der Staub und Zeitungen um uns herumwirbelte. Unsere Gesichter, unsere Hände und Haare waren völlig verklebt vor Dreck. Am Morgen nahm der Wind etwas ab. Ich steckte den Kopf aus der Decke. Irgendwann in der Nacht war Maggot aufgetaucht und jetzt teilte er sich mit Rainbow den

orangefarbenen Schlafsack. Sie lagen Rücken an Rücken nebeneinander. Er las in einer Zeitung. Jewel kuschelte sich in einen großen Haufen aus Plastiktüten und Lumpen. Ich hielt Pest in den Armen, sodass nur sein Kopf herausguckte. Der kleine Hund fühlte sich warm an, und da sein Kopf so dicht vor meinem war, hatte ich seinen Hundegeruch in der Nase. Das Knurren in meinem Magen erinnerte mich daran, dass ich nichts gegessen hatte, aber es war zu kalt, um aufzustehen und zu St. Mark’s zu gehen, um sich was zu essen zu holen, oder um um Geld zu betteln. Pest bellte. Ich drehte mich um und sah OG durch eine Lücke im Verkehr über die Straße laufen. Er trug einen schmutzigen grünen Plastikeimer, aus dem ein Scheibenwischer ragte. Pest wand sich aus meinen Armen und wollte ihm entgegenrennen. OG hatte Pest ein Seil um den Hals gebunden, damit er nicht auf die Straße lief und überfahren wurde, aber Pest war zu jung und zu dumm, um das zu verstehen. Er rannte, bis das Seil sich straffte und ihn zurückriss. Dann zerrte er daran, jaulte und bellte. OG stellte den Eimer ab. Der kippte um, der Scheibenwischer fiel heraus, gefolgt von einem kleinen Schwall von braunem Schmutzwasser. »Hey, Pest.« Er hob seinen Hund auf und nahm ihn in die Arme. Pest leckte glücklich OGs schmutziges Gesicht und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Maggot blickte von der Zeitung auf. »Geld eingenommen?« OG schüttelte den Kopf. »Das Wasser ist eingefroren.« »Jemand was von 2Moro gehört?«, fragte Jewel. »Hängt wahrscheinlich bei einem alten Knacker rum«, sagte Rainbow und gähnte. »Habe gehört, ein Haufen Kids ist zum Mardi Gras«, sagte OG. »Vielleicht ist sie da ja mitgefahren.« Jewel schüttelte den Kopf. »Das hätte sie mir erzählt.« Er setzte sich in seinem Wirrwarr aus Lumpen und Plastiktüten

auf. Sein Kinn und seine Wangen waren mit dunklen Bartstoppeln bedeckt, die Zöpfchen aufgegangen, nur noch verfilzte braune Haarbüschel. Er schaukelte vor und zurück und starrte auf den grünlich braunen Fluss. Wir anderen blieben in unseren Nestern. Uns warm zu halten, war so ziemlich das Einzige, was wir tun konnten. Maggot strich die zerknäulten Zeitungsblätter glatt, die wir als Bettzeug benutzten, und las sie alle durch. Einmal riss er ein Stück von einer Zeitung ab und gab es Rainbow. Sie las es. Ich hörte Maggot flüstern. »Das ist sie.« »Was steht da?«, fragte ich leise. Maggot und Rainbow tauschten einen Blick aus. Maggot zuckte mit den Schultern. Rainbow winkte mich zu sich rüber. Sie hielt mir ihre Lippen direkt ans Ohr und las flüsternd: »Mädchenleiche im Park gefunden. Gestern wurde in einem Waldgebiet in der Nähe des FDR Drive die Leiche eines nicht identifizierten weiblichen Teenagers gefunden. Ein Jogger meldete den Fund der Polizei, deren Sprecher erklärte, die Leiche sei von der Hüfte abwärts nackt und nur mit einer orangeroten Patchworkjacke bekleidet gewesen.« Ich drehte den Kopf herum, bis ich Rainbow in die Augen sehen konnte. Sie legte einen Finger auf ihre rissigen Lippen und zeigte auf Jewel, der schaukelnd neben uns saß. Dann las sie weiter vor: »Die Todesursache konnte nicht festgestellt werden; die Polizei teilte jedoch mit, sie sei offensichtlich erwürgt worden. Die Leiche wurde zur gerichtsmedizinischen Untersuchung gebracht. Das Opfer soll lateinamerikanischer Herkunft und zwischen 14 und 18 Jahre alt sein. Sie ist mittelgroß, schlank, und hat kurzes, rot gefärbtes Haar und ein schwarzes Tattoo um den Hals.« 2Moro. Die Jacke, die Frisur, das Tattoo.

Rainbow nickte traurig. Wahrscheinlich dachte sie das Gleiche wie ich. Maggot las immer noch in seinen Zeitungen. Jewel murmelte irgendwas vor sich hin. Er wirkte völlig abwesend. »Sag nichts«, flüsterte Rainbow mir ins Ohr. »Es ist sowieso zu spät.« Der Wind wehte mir ein Sandkorn ins Auge, und ich verkroch mich in die Dunkelheit meines Nests und blinzelte, um es loszuwerden. Ich hatte schreckliche Bauchschmerzen. Ich dachte an den Tompkins Square Park und das kleine Eichhörnchen, das immer wieder die Bäume hinauflief und so klagende Schreie ausstieß. Ich musste irgendetwas tun, um mich von den Bauchschmerzen abzulenken, und begann den Zeitungsartikel über 2Moro in kleine Stücke zu zerreißen. Riss immer nur ein winziges Stückchen ab und legte es auf einen Haufen. Dann kam der Wind und wehte die Schnipsel weg. 2Moro wurde vom Wind fortgetragen. Minuten vergingen. Oder vielleicht auch Stunden. Maggot rauchte den Stummel einer Zigarette, die jemand aus einem Auto geworfen hatte. Rainbow stand auf und ging weg, dann kam sie wieder zurück. Die Schnipsel von 2Moros Zeitungsartikel flogen überall herum. Einige fielen in den Fluss, dessen schlammig grünes Wasser vom Wind aufgewühlt wurde. Jewel stemmte sich hoch. »Ich habe Hunger. Mir ist kalt. Das ist entsetzlich hier. Die absolute Hölle. Wie könnt ihr es hier bloß aushalten?« Niemand antwortete. Er hatte Recht. So schlecht hatten wir es noch nie gehabt. Das hier war schlimmer als das leer stehende Haus. Schlimmer als der Park. Schlimmer als der harte Küchenfußboden. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, woanders zu sein. Ich schwebte in der Luft wie ein Staubteilchen, unsichtbar und unbemerkt. Außer wenn ich

durch einen hellen Lichtstrahl kam. Dann leuchtete ich auf, um gleich wieder zu verschwinden. »Habt ihr keinen Hunger?«, fragte Jewel. Natürlich hatten wir alle Hunger. Aber das war nur ein beschissenes Gefühl von vielen. Wie das Zittern. Und die Benommenheit. Und das Jucken. Und das Wissen, ein Nichts zu sein. »Und keiner von euch hat Geld?«, fragte Jewel. Es klang richtig empört. »Du vielleicht?«, fragte Maggot. »Nein, aber ich weiß, wo ich welches herkriegen kann.« Jewel beugte den Kopf nach vorn und zupfte seine Zöpfchen auseinander. Dann schüttelte er die braunen Haare aus. Sie waren wirr und zerzaust. »Rainbow, schminkst du mich bitte, damit ich zur Arbeit gehen kann?« Rainbow kroch aus dem Schlafsack und begann Jewel zu schminken. Aber ihre Hände zitterten so sehr vor Kälte, dass sie das Make-up gar nicht richtig auftragen konnte. Wimperntusche, Lidschatten, Rouge, Lippenstift – sie verschmierte alles nur. Aber da sie keinen Spiegel hatten, konnte Jewel das nicht sehen. Er durchwühlte seine zerknitterte Einkaufstüte, zerrte ein paar Sachen heraus und zog sie an: Kniestrümpfe, einen kurzen roten Rock und ein Paar Damenschuhe mit Riemchen. Zwischen Strümpfen und Rock sah man seine dünnen Beine. Die Schuhe hatten dicke Absätze, und er ging schwerfällig darin herum wie ein Pferd, das einen Karren zieht. Er zog eine kurze braunweiße Jacke an, ein Patchwork aus unechtem Leder und unechtem Pelz, schob seine schlanken Hände in den Nacken und strich sich die Haare nach hinten. Dann drehte er sich einmal um sich selbst. »Wie sehe ich aus, Maybe?« Das Make-up war verschmiert, seine Kleider waren zerknittert und ausgefranst. Manchmal sah Jewel tatsächlich

wie ein Mädchen aus. Aber heute sah er bloß kaputt aus – ein kaputter Junge, der wie ein Mädchen aussehen wollte. Oder noch schlimmer: Er sah aus wie ein trauriger Clown. »Sehr hübsch«, log ich. Jewel lächelte. Er hatte roten Lippenstift an den Zähnen. Aber das war jetzt auch schon egal. »Ich bin auf dem Weg in ein besseres Leben. Ciao, meine Lieben!« Er schwenkte fröhlich mit seinem schwarzen Täschchen, überquerte die Straße und verschwand. »Keine Chance«, murmelte OG. Rainbow kroch zu Maggot in den Schlafsack zurück. OG hustete und spuckte roten Schleim aus. Über dem schmutzig grünen Fluss kreisten unermüdlich die Möwen. Oben auf der Brücke jaulte eine Sirene. Irgendwann fragte Maggot: »Habt ihr Hunger?« »Ja.« Rainbow stand auf. Ich auch. OG rührte sich nicht. Maggot, Rainbow und ich gingen über die Straße auf den Gehweg gegenüber. »Haben Sie ein bisschen Kleingeld für uns?«, fragte Maggot einen Mann, der den Kragen seines grauen Wollmantels hochgeschlagen hatte. Der Mann beachtete ihn nicht. »Bisschen Kleingeld?«, versuchte Maggot sein Glück bei einem bärtigen Mann, der eine dicke hellblaue Daunenjacke trug. »Wir haben Hunger und uns ist kalt.« Wieder nichts. Maggot stellte sich einer Frau mit einem langen roten Mantel in den Weg. »Bisschen Kleingeld?« Sie hastete an uns vorbei. »Das können wir vergessen«, sagte Maggot. »Gehen wir lieber die Hare-Krishna-Leute suchen.« Die Hare-Krishna-Leute zogen manchmal durch die Stadt und verteilten Plastikschalen mit Bohnensuppe, aber heute war es ihnen anscheinend zu kalt. Der Kirchenstand, an dem es sonst immer kostenlos Hotdogs gab, war auch nicht da. »Dann also die Mülltonnentour«, sagte Maggot.

In einer Gasse hinter einer Pizzeria kletterte Maggot in einen dunkelgrünen Müllcontainer. Ich hörte ein lautes Miauen, und zwei dürre Katzen sprangen aus dem Container und rannten weg. Maggot kletterte wieder heraus. Er hielt ein paar gefrorene Pizzas in den Händen. »Cool«, sagte er. »Gefrorene Pizza.« Die Pizzas waren steinhart, aber wir brachen Stücke davon ab, steckten sie in den Mund und warteten, bis sie weich wurden. Wenn man eine Pizza auf diese Weise aß, wurde einem noch kälter, und bald fror ich von innen genauso schlimm wie von außen. »Was für ein Festmahl!«, schwärmte Maggot, als wir fertig waren. »Wie wär’s mit Kaffee und Dessert im Good Life?« Ich wäre überall hingegangen, Hauptsache es war dort warm. Unterwegs trafen wir Lost, den Jungen mit dem orangefarbenen Mohawk. Er trug eine dicke graue Decke um die Schultern und sagte etwas zu Rainbow, das ich nicht verstand. »Wir sehen uns später«, sagte Rainbow und ging mit ihm fort. Das tat mir sehr weh. »Sie ist alles, was du hast, oder?« Maggots Stimme erschreckte mich. Er sah mich mit großen, traurigen Augen an. Seine Stimme war nicht böse. Nur voller Mitleid, und das machte es vielleicht noch schlimmer. Ich blickte starr geradeaus und ging los. Maggot holte mich ein. »Hey, Maybe, tut mir Leid.« »Schon gut.« »Ich…«, fing er an, unterbrach sich und fing noch einmal an. »Ich kann bloß kaum glauben, dass das dein ganzes Leben sein soll.« »Es ist auch dein Leben«, erinnerte ich ihn. »Ja… schon möglich.«

Wir bettelten vor dem Good Life, bis uns jemand einen Kaffee spendierte. Später kam Rainbow dazu. Ihr Gang war schleppend, ihre Augen leer wie bei einem Zombie. Sie lehnte sich an die Hauswand, sackte auf dem Gehweg zusammen und blieb dort sitzen, den Kopf nach vorn gebeugt, die blonden Haare zwischen den Knien.

SECHZEHN

Es war schon dunkel, als der Polizeiwagen um die Ecke bog. Ich saß neben Rainbow an der Mauer. Den großen Wagen nahmen die Cops nur, wenn sie eine Razzia machten. Meistens liefen wir weg. Aber heute lief Rainbow nirgendwo mehr hin. Der Wagen hielt am Bordstein und Officer Ryan stieg aus. Sie trug weiße Latexhandschuhe. Ich stand auf dem Gehweg und wusste nicht, ob ich weglaufen sollte oder nicht. Officer Ryan ging zu Rainbow. »Hey«, sagte sie. Rainbow reagierte nicht. Sie blieb reglos sitzen, den Kopf nach vorn gebeugt, die Haare zwischen den Knien. »Kannst du aufstehen?«, fragte Officer Ryan. Rainbow antwortete nicht. Officer Ryan trat näher an sie heran, aber nicht zu nahe. Sie zog den langen schwarzen Schlagstock aus ihrem Gürtel. Ich erschrak. »Bitte, tun Sie ihr nichts.« »Keine Sorge«, sagte Officer Ryan. Sie tippte Rainbow mit der Spitze des Schlagstocks ans Bein. Rainbows Kopf ruckte hoch, aber die Haare blieben ihr vorm Gesicht hängen wie bei einem zotteligen Hund. »Kannst du aufstehen?«, fragte Officer Ryan noch einmal. Rainbow schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, nur ein Wust blonder Haare, die hin und her schwankten. »Du kommst mit«, sagte Officer Ryan. »Entweder stehst du alleine auf oder ich muss dir dabei helfen.« »Ich helfe ihr«, sagte ich. Ich wollte nicht, dass Officer Ryan Rainbow anfasste. »Dich muss ich auch mitnehmen«, sagte Officer Ryan. »Ist mir egal.«

Officer Ryan trat einen Schritt zurück. »Also dann.« Ich ging vor Rainbow in die Knie und roch den Gestank, den sie ausdünstete. Scharf und bitter. »Ich geh mit und pass auf, dass dir nichts passiert.« Rainbow hob den Kopf. »Meine Heldin.« Ich packte sie unter den Armen und musste meine ganze Kraft zusammennehmen, um ihr hochzuhelfen. Schließlich kam sie zitternd und wacklig auf die Beine. Ich ließ sie nicht los, weil ich Angst hatte, sie könnte zusammenklappen. Die Haare klebten an ihrem Gesicht wie ein Mopp und ihr Gestank brannte wie Säure in meiner Nase. Ihre Arme fühlten sich unter der Kleidung dünn und knochig an, die Muskeln ganz schlaff. Ich führte sie langsam zu dem Wagen. Die Heckfenster waren mit einem Drahtgitter gesichert. Officer Ryan zog die Tür auf. Unter einer Plastiklampe sah ich fünf andere Gestalten, die da drin auf zwei Bänken saßen. Alle waren älter als ich. Nur Frauen oder als Frauen verkleidete Männer. Manche trugen blonde oder rote Perücken und ihre Gesichter waren bemalt wie Totempfähle. »Du musst da rein«, sagte ich zu Rainbow. Sie rührte sich nicht. »Na los«, sagte ich. »Steig ein.« Sie hob langsam einen Fuß, geriet aber aus dem Gleichgewicht und kippte um. Ich versuchte sie festzuhalten, aber dabei fiel ich selbst fast um. Zwei kräftige Hände packten mich an den Schultern. Officer Ryan. »Ich halte sie«, sagte sie. »Und du ziehst sie rein.« Ich kletterte in den Wagen und Officer Ryan half Rainbow hoch. Als Rainbow und ich auf der Bank saßen, fiel Rainbows Kopf nach hinten und schlug an die Wand. Ihre Augen blieben die ganze Zeit geschlossen. Officer Ryan schlug die Tür zu.

Der Wagen fuhr schlingernd los. Ein süßlicher und bitterer Geruch hing in der Luft. Parfüm und Urin. Die anderen starrten Rainbow und mich an. »Der Kindergarten hat Ausgang«, kicherte eine Frau mit einer zu großen blonden Perücke. »Halt’s Maul«, knurrte eine andere. »Du warst genauso jung, als du angefangen hast.« »Nicht so jung«, zischte die Blonde. »Und ich hab nie so gut ausgesehen.« »Da hast du verdammt Recht«, stimmte eine langbeinige Frau mit roter Perücke zu. Die anderen lachten. Die Blonde beugte sich zu Rainbow vor. »Lass mich mal was sehen.« Ich setzte mich zwischen sie und Rainbow. »Aha, sie hat eine Beschützerin. Was hast du, Schätzchen? Angst, dass ich deiner Freundin was tun könnte?« »Kann sein.« Sie streckte einen langen, gebogenen, roten Fingernagel aus. Eine Kralle. »Ich tu ihr doch nichts. Ich möchte sie nur mal anfassen. Ob sie echt ist.« Ich blieb sitzen. Sie durfte Rainbow nicht anfassen. Ich würde alles tun, um sie daran zu hindern. »Lass sie in Ruhe«, sagte die mit der roten Perücke. Der Wagen hielt. Die Tür ging auf und eine Frau mit kurzen, schwarzen Haaren stieg ein. Sie musterte Rainbow und mich und spottete: »Ist das hier der Schulbus?« Vor der Polizeiwache standen Officer Ryan und ein Polizist mit rotem Schnurrbart neben der Wagentür und sahen zu, wie wir nacheinander ausstiegen. »Du kommst mit mir.« Der Polizist zeigte auf die langbeinige Frau mit der roten Perücke. »Gehen wir irgendwohin?«, fragte die Frau und zwinkerte anzüglich.

»Ja, rüber zu den Männern.« Officer Ryan führte uns andere in eine große Zelle. Rainbow hielt sich jetzt ein wenig besser auf den Beinen. Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Stirn starrte vor Schmutz und sie hatte dunkle Ringe unter den tief eingesunkenen Augen. In einer Ecke der Zelle gab es eine Toilette. Die Toilette hatte keinen Sitz, aber jedes Mal, wenn ich hinsah, saß jemand drauf. Rainbow sank in einer Ecke zusammen und ließ den Kopf nach vorn hängen. Ich setzte mich neben sie und lehnte mich an die kalte Betonmauer. Officer Ryan und eine andere Polizistin mit schwarzen Haaren holten die Frauen eine nach der anderen aus der Zelle. Als ich an der Reihe war, sagte Officer Ryan: »Komm, ich möchte, dass du mit jemandem redest.« Sie führte mich durch einen schmalen Flur in einen großen Raum, in dem viele Schreibtische standen. Die meisten waren leer, aber an einem saß ein dicker grauhaariger Mann vor einem Computer. »Das ist Detective Charles«, sagte Officer Ryan. »Er leitet unser Jugendprogramm. Ich muss mich noch um die anderen kümmern, aber er würde gern mit dir sprechen.« Officer Ryan ging. Detective Charles zeigte auf einen zerschrammten Stuhl neben seinem Schreibtisch. »Nimm Platz.« Ich setzte mich. »Wie alt bist du?«, fragte er. »Hab ich vergessen.« Er grinste. »Wie heißt du?« »Hab ich vergessen.« »Wie nennt man dich auf der Straße?« »Hab ich vergessen.« »Einen Ausweis hast du natürlich auch nicht dabei.«

Da das keine Frage war, brauchte ich nicht zu antworten. Detective Charles beugte sich vor und tippte etwas in den Computer. Ich sah mir die gerahmten Bilder auf seinem Schreibtisch an. Fotos, auf denen er mit einer blonden Frau zu sehen war. Er, umrahmt von zwei großen dünnen Jungen mit dunklen Haaren und seinen Augen. Seine Söhne. Eine glückliche Familie. Detective Charles hörte auf zu tippen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Also, wie alt bist du? Vierzehn? Fünfzehn?« »Hab ich vergessen.« »Also, Fräulein Hab-ich-vergessen, ich denke, du bist vielleicht noch jung genug, um von der Straße runterzukommen. Aber die Zeit läuft dir davon. Bald gibt es kein Zurück mehr.« Er wartete, ob ich etwas dazu sagen würde. Aber ich schwieg. »Ich rede nicht davon, dass du nach Hause zurückgehen sollst«, fuhr er fort. »Ich rede davon, dass du in die Gesellschaft zurückkehren sollst. Du könntest wieder in einem richtigen Bett schlafen, statt auf dem Bürgersteig, und mit Messer und Gabel von einem Teller essen, statt mit den Fingern aus der Mülltonne. Du könntest wieder Kleider aus einem Geschäft tragen, statt die gebrauchten Lumpen, die man dir an den Zaun vor der Kirche hängt. Ich an deiner Stelle würde einmal darüber nachdenken, Hab-ich-vergessen. Du bist nämlich schon ziemlich nah an dem Punkt, wo du sehr viel mehr als deinen Namen vergessen wirst. Du wirst vergessen, wie man sich als Mensch benimmt. Und dann gibt es nur noch drei Orte für dich. Das Gefängnis. Die Straße. Und das Grab.« Er wartete wieder. Als ich immer noch nichts sagte, fuhr er fort: »Oder vielleicht ist es doch schon zu spät. Vielleicht weißt du das alles längst, und ich bin bloß ein blöder alter Knacker, der deine und seine eigene Zeit verschwendet.«

Ich hörte ihm gar nicht zu. Ich dachte an Rainbow, die allein in der Zelle mit diesen fremden Frauen saß. »Hey, Hab-ich-vergessen«, sagte Detective Charles. »Hör mir noch eine Sekunde zu, okay?« Ich sah ihn an. Sein Gesicht glänzte, als sei es mit einer dünnen Ölschicht überzogen. Seine dicke Nase war rot und picklig wie eine Erdbeere. »Du könntest wieder richtig leben. Verstehst du, was ich meine?«, sagte er. »Du bist noch jung genug, um wieder zur Schule zu gehen, einen Beruf zu erlernen und so weiter. Du könntest ein Zimmer haben. Ein Bett. Einen Fernseher. Einen Kühlschrank. Eines Tages könntest du ein Auto haben. Du könntest von der Straße runter und in der Welt herumkommen. Ich will dich was fragen, Hab-ich-vergessen. Hast du schon mal das Meer gesehen?« Ich nickte. Er machte ein finsteres Gesicht. »Wo?« »Im Fernsehen.« »Ja, richtig. Aber das war nicht das wirkliche Meer, okay? Das war nur ein Bild. Das ist nicht echt. Genau wie ein Bild von einem Feuer sich nicht heiß anfühlt. Das muss man mit eigenen Augen sehen. Man muss es fühlen und riechen. Es interessiert mich nicht, was du im Fernsehen oder im Kino gesehen hast. Das Meer hast du erst gesehen, wenn du mit den Füßen im Sand gestanden hast und die Wellen dir um die Knie geschwappt sind. Man sagt, das Leben ist im Meer entstanden, und das glaube ich. Wenn du da draußen am Strand bist und das Wasser über deinen Körper strömen fühlst und die salzige Luft einatmest, kommst du dir vor wie am Anfang der Zeit. Du siehst die Wellen, den Himmel, die Wolken, die Sonne und all dieses Wasser. Unendliche Wassermassen. Und du hast das Gefühl, du könntest dich darin waschen. Alles Schlechte einfach wegwaschen. Alles Unrecht, das du jemals erlebt hast:

einfach weg. Dann könntest du noch einmal von vorne anfangen. Ein ganz neuer Anfang, genau wie an dem Tag, als du geboren wurdest. Du könntest es tun, Hab-ich-vergessen. Noch einmal anfangen. Du denkst, diese elende, schmutzige, hungrige Straßenwelt da draußen ist das einzige Leben für dich, aber das stimmt nicht. Es gibt auch ein anderes Leben. Viele andere Leben. Du kannst hier raus und irgendwo anders hingehen. Wohin du willst, Hab-ich-vergessen.« Ich hörte ihm zu. Ich war da, am Rand des Meeres, das ich noch nie gesehen hatte. Meine nackten Füße versanken in dem Sand, in dem sie nie gestanden hatten, und ich spürte das Meerwasser, das ich noch nie gespürt hatte. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, okay?«, sagte Detective Charles. »Ich möchte, dass du darüber nachdenkst, und wenn du meinst, dass du das Meer sehen willst, kommst du wieder her und sagst es mir, okay?« Er beugte sich vor, griff in seine Jackentasche und zog eine alte braune Lederbrieftasche heraus, aus der er eine weiße Karte mit seinem Namen nahm. Die gab er mir. »Nicht vergessen, Hab-ich-vergessen«, sagte er. »Das hier ist nicht das einzige Leben. Es gibt noch viele andere. Und alle sind sehr viel besser als dieses.« Er brachte mich in die Zelle zurück. Die anderen waren nicht gerade begeistert, mich zu sehen. »Sieh dir an, was deine Freundin gemacht hat«, sagte die Blonde. Rainbow lag auf dem Boden, ihr Gesicht am Rand einer stinkenden gelblichen Pfütze aus Erbrochenem. Ich ging hin und half ihr, sich aufzusetzen. Sie machte kurz die Augen auf, dann wieder zu. Ich wischte ihr mit dem Ärmel meines Sweatshirts die Schweinerei vom Gesicht und vom Kragen ihrer Lederjacke. Es stank so entsetzlich, dass ich am liebsten auch gekotzt hätte.

Die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren kam rüber. »Gut, dass sie auf der Seite gelegen hat. Wenn so was passiert und sie liegt auf dem Rücken, kriegt sie das Zeug in die Lunge und erstickt daran.« »Und was ist damit?«, fragte die Blonde und zeigte auf die gelbe Pfütze. Ich zog mein Sweatshirt aus und breitete es über die Pfütze. Dann setzte ich mich an die Wand, nahm Rainbows Kopf in den Schoß und wartete, was als Nächstes passieren würde.

SIEBZEHN

Ich streichelte Rainbows Haare. Sie waren verfilzt und schmutzig. Ich zupfte ein paar von den größeren Dreckklumpen heraus und versuchte die Knoten ein wenig zu entwirren, ohne ihr dabei wehzutun. Rainbows Lippen waren aufgesprungen und voller Schorf. Speichel tropfte ihr aus dem Mundwinkel, und ich wischte ihn mit dem unteren Rand meines T-Shirts ab. Die Frauen in der Zelle unterhielten sich, kaum jemand schlief. »Wenn ich hier rauskomm, verlass ich die Stadt. Das ist die letzte Nacht, die ich in diesem verdammten Knast verbringe.« »Dieser Stümper nimmt mir jeden Penny ab, den ich verdiene.« »Sobald ich von diesem Scheiß-Heroin weg bin, hab ich dieses Leben hinter mir.« »Weiß jemand, wie spät es ist?«, fragte die kleine Frau mit den kurzen schwarzen Haaren. Die Blondine kicherte. »Wieso, hast du ‘ne Verabredung?« Mir war längst egal, wie spät es war. Jedenfalls dachte ich nicht mehr in Stunden, Minuten oder Sekunden. Für mich war die Zeit nur noch in Schlafen und Wachsein eingeteilt. Oder in Betteln und Essen und Trinken. Oder in Tag und Nacht. Zeit, in der ich Angst hatte, und Zeit, in der ich Bauchschmerzen hatte. Zeit, in der mir kalt oder schlecht war, und Zeit, in der ich mich gut fühlte. »Hat jemand von euch schon mal Sex and the City gesehen?«, fragte eine Frau. Die anderen johlten und lachten. Klar, das kannten sie alle. Oft gesehen. Jeden Abend. Ich wusste, sie

meinten etwas anderes als das, wonach die Frau gefragt hatte. Ich hatte von der Serie gehört, sie aber noch nie gesehen. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was so im Fernsehen lief. Die Simpsons wahrscheinlich und MTV. Manchmal, wenn Maggot von den Armen und der Revolution erzählte, fiel mir wieder ein, dass es auch eine andere Welt gab. Die Welt, die sich nicht auf der Straße abspielte. Was war gestern passiert? Gab es irgendwo Krieg? Hatten Terroristen mal wieder eine Bombe gelegt? Hatte man Leben auf einem anderen Planeten entdeckt? Ich dachte nie lange an so was, denn meistens hatte ich Hunger und musste irgendwie an was zu essen rankommen. Oder ich fror. Oder brauchte Geld. Das ist wohl auch der Grund, warum obdachlose Kids nicht zur Schule gehen. Sie haben viel zu viel damit zu tun, einfach nur am Leben zu bleiben. Die Zellentür ging auf und Officer Ryan und die Polizistin mit den schwarzen Haaren kamen rein, die Taschenlampen und Schlagstöcke baumelten an ihren Gürteln. Sie gingen auf uns zu. Ich hielt den Atem an. Sie wollten bestimmt Rainbow holen. Ich legte meine Arme um sie. Die Polizistin baute sich über uns auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Kann sie aufstehen?«, fragte Officer Ryan. »Ich glaub nicht.« »Sag ihr doch, du hast Heroin für sie«, mischte sich diese blonde Schlampe ein. »Dann ist sie sicher ganz schnell wieder auf den Beinen.« »Zurück«, sagte Officer Ryan. Sie kniete sich vor uns hin und streckte die Hand nach Rainbows Gesicht aus. »Mal sehen, ob wir sie wecken können.« »Nicht anfassen«, sagte ich. »Wir müssen feststellen, ob ihr was fehlt.« »Ihr fehlt nichts.«

»Könnte sein, dass sie eine Überdosis genommen hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht, das wär mir aufgefallen.« »Wir müssen sie mitnehmen«, sagte Officer Ryan. »Siehst du diese Plastikbänder an ihrem Arm? Das bedeutet, dass sie im Krankenhaus war und ohne Erlaubnis gegangen ist. Das müssen wir überprüfen.« Ich klammerte mich an Rainbow. Sie war alles, was ich auf der Welt noch hatte. Wenn man sie mir jetzt wegnahm, würde ich sie vielleicht nie wieder sehen. Die Polizistin mit den schwarzen Haaren sah ungeduldig zu mir herunter. »Ich sag das nur noch einmal. Lass sie los… auf der Stelle.« Aber ich hielt Rainbow fest, fühlte, wie ihre Brust sich beim Atmen hob und senkte. Ich wusste, dass sie keine Überdosis genommen hatte und dass sie nirgendwo hingebracht werden musste. »Du hast es nicht anders gewollt.« Die schwarzhaarige Polizistin machte eine Bewegung, als wollte sie mir Rainbow aus den Armen reißen. Officer Ryan hielt sie zurück. »Nein.« »Herrgott, Jane«, schimpfte die andere genervt. Officer Ryan kniete immer noch vor uns. Sie sagte leise: »Wir müssen deine Freundin mitnehmen. Sie muss in ärztliche Behandlung. Lass sie los, bitte. Vertrau mir. Wir wollen ihr nur helfen.« Das klang überzeugend. Aber das können Erwachsene eben: so reden, dass es sich gut anhört. So reden, dass es sich anhört, als würden sie es ehrlich meinen. Aber dann überlegen sie es sich plötzlich anders. Oder aber sie lügen von Anfang an, damit man tut, was sie wollen. Und so lernt man, ihnen kein Wort zu glauben. Man lernt zu nehmen, was sie einem geben, wenn sie mal nett sind. Und immer damit zu rechnen, dass sie

was von einem wollen. Denn in 99 % der Fälle ist es so und nicht anders. Die schwarzhaarige Polizistin mischte sich ein. »Hör zu«, knurrte sie mich an, »wenn du sie nicht auf der Stelle loslässt, werde ich ungemütlich. Sie kommt mit uns, so oder so. Es geht nur noch darum, ob wir dir dabei wehtun müssen oder nicht.« Von mir aus sollten sie mir doch wehtun. Das war ich gewohnt. Aber Rainbow gehen zu lassen, das wäre wirklich schlimm. Ich nahm sie noch fester in die Arme. »Ihr fehlt nichts, Officer.« »Ich hab keine Lust, noch länger meine Zeit zu verschwenden«, schimpfte dieses Biest von Polizistin. »Lass sie sofort los, sonst kannst du was erleben.« »Na komm, Kleine, sei lieb und lass sie los.« Officer Ryan streckte die Hand nach Rainbow aus. »Ich verspreche dir, wir werden gut für sie sorgen. Willst du denn nicht, dass deine Freundin wieder gesund wird?« Sie legte ihre Hände auf meine. Sie hatte immer noch diese Latexhandschuhe an. »Ich werd sie nie wieder sehen«, winselte ich. Officer Ryan lächelte mitfühlend. »Du magst sie wirklich sehr, ja?« Ich nickte. »Sie ist eine von uns. Sie gehört zum Asphalt Tribe.« »So nennt ihr euch also? Der Backpulver-Dealer, der Typ mit dem Hund und ihr beide?« »Ja, genau.« Officer Ryan sah mir in die Augen. Das war ein anderer Blick als vorher. Ich kann es nicht erklären, aber ich spürte es irgendwie ganz deutlich. »Weißt du, es tut mir Leid, dass ich das tun muss, aber das ist mein Job. Ich verspreche dir, ich sage dir, wo sie hinkommt, damit ihr zwei euch wieder finden könnt. Okay?« »Schwören Sie’s?«, fragte ich.

»Großes Ehrenwort.« Officer Ryan schloss ihre Hände um meine und zog sie sanft und langsam von Rainbow fort. Dann half sie Rainbow vorsichtig auf die Beine. Dabei rutschte Rainbow ein Ärmel hoch. »Verdammt!« Officer Ryan hielt die Luft an, als sie die vielen Schnittwunden und Narben auf Rainbows Armen sah. »Das tun sie sich selbst an«, sagte die schwarzhaarige Polizistin. »Mich erschreckt es auch jedes Mal. Aber das machen viele. Besonders die Mädchen.« Die beiden hielten Rainbow an den Armen fest und führten sie weg. Rainbow folgte halb freiwillig, halb ließ sie sich ziehen, machte ab und zu einen Schritt, dann ließ sie die Füße einfach wieder über den Boden schleifen. Die Blonde kam zu mir rüber. Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich so, dass sie über die Schulter auf mich herabsah. »Ist dir eigentlich klar, wie übel die dich grade reingelegt haben, Baby? Das war der älteste Bullentrick der Welt. Guter Cop, böser Cop. Eine macht einen auf brutal und gemein, damit du Schiss vor ihr kriegst, und die andere ist lieb und freundlich, damit du sie umso netter findest. Und schon willst du der Netten einen Gefallen tun, bloß um der Bösen zu zeigen, auf wessen Seite du bist. Glaubst du wirklich, die erzählen dir, wohin sie deine Freundin bringen? Schätzchen, du und deine Freundin, ihr seid denen scheißegal. Junkies dürfen im Knast nicht sterben, das ist alles. Das ist ganz schlecht fürs Image, kapierst du? Diese Polizistin wird dir gar nichts erzählen. Die macht nur ihren Job. Wenn sie das nächste Mal ihre Show abziehen, kann es genauso gut sein, dass die Schwarzhaarige die Freundliche spielt und die Blonde die Brutale. Die machen das nur, um zu kriegen, was sie wollen.« Mit stiegen Tränen in die Augen und meine Unterlippe zitterte. Ich wollte nicht glauben, was sie da sagte, wusste aber, dass es sehr wahrscheinlich stimmte.

Die kleine Frau mit den kurzen schwarzen Haaren kam auch zu mir rüber. »Wozu musst du ihr das erzählen?«, fragte sie die Blonde. »Dir war doch klar, dass sie die kleine Fixerin auf jeden Fall mitnehmen würden. Warum versuchst du jetzt, der Kleinen hier Angst zu machen? Was soll das?« »Ich sag ihr bloß, wie das hier läuft.« »Ja, klar. Und du weißt natürlich ganz genau, dass diese Polizistin ihr nicht sagen wird, wo sie die kleine Fixerin hingebracht haben.« »Du glaubst doch nicht etwa wirklich, dass sie das tun wird?« »Ich hab schon Seltsameres erlebt. Und selbst wenn sie’s nicht tut – warum musst du es schon vorher rumposaunen?« Inzwischen war mir egal, was die beiden da sagten. Nur dass Rainbow nicht mehr da war, das war mir nicht egal. Ich fühlte mich einsam und verlassen in einer kalten Zelle voller Fremder, in einer kalten Stadt, in einer kalten Welt. Ich griff in meine Tasche und fühlte die Karte, die Detective Charles mir gegeben hatte. Ich nahm sie heraus und zerriss sie in kleine Stücke.

ACHTZEHN

Ich schlief ein. Als ich aufwachte, war von den Frauen, die nachts mit mir in der Zelle gewesen waren, fast keine mehr da, dafür aber jede Menge andere. Die Blonde und die kleine Schwarzhaarige waren weg. Rainbow war weg. Ich musste ganz dringend auf die Toilette, aber vor allen diesen Frauen wollte ich nicht, also blieb ich in meiner Ecke liegen und wartete. Ich hatte salziges Zeug in den Augenwinkeln und fragte mich, ob ich im Schlaf geweint hatte. Nach einer Weile kam eine Polizistin herein. Sie hatte rote Haare und war so dünn, dass selbst dieser breite Gürtel sie nicht stark aussehen ließ. Sie zeigte auf mich. »Du. Steh auf, komm mit.« Ich stand auf und folgte ihr aus der Zelle in den Flur. »Wie heißt du?«, fragte sie. »Maybe.« »Wie?« »Man nennt mich Maybe. So heiße ich.« »Und wie heißt du richtig?« »Das ist mein richtiger Name.« »Okay, Maybe, du weißt, wo wir hingehen?« Ich gähnte. »Zur Toilette, hoffe ich.« Sie blieb stehen. »Warum hast du das nicht in der Zelle getan? Du wolltest nicht vor den anderen Frauen da?« »Also kann ich jetzt?« »Sicher, Maybe, aber ich muss dich begleiten. Damit du mir keine Dummheiten machst.« Wir gingen in die Toilette und ich trat in eine Kabine. »Ist Officer Ryan da?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete die Polizistin. »Die hat Feierabend.« Ich spürte einen Stich. Officer Ryan war also gegangen, ohne mir zu sagen, wo man Rainbow hingebracht hatte. Diese blonde Schlampe hatte Recht gehabt. Man hatte mich reingelegt. Wieder draußen auf dem Flur, sagte die rothaarige Polizistin: »Zurück zu meiner Frage. Du weißt, wo wir hingehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Willst du es wissen?« Ich zuckte mit den Schultern. War doch eh alles egal. Am Ende des Flurs stieß sie eine Tür auf und ich folgte ihr in einen großen Raum mit vielen Stühlen und Bänken. Auf einer der Bänke saß eine Frau. Als sie uns sah, stand sie auf. »Hi, ich heiße Laura. Ich bin von der Jugendhilfe. Wie heißt du?« Ich erkannte ihre Stimme. Das war die Frau, die damals nachts zu uns in das leere Haus gekommen war. Ich sagte ihr, dass ich Maybe heiße. »Du kommst mir bekannt vor«, sagte Laura. »Hab ich dich schon mal gesehen?« »Kann sein.« Sie lächelte. »Ich wette, so antwortest du auf viele Fragen.« Ich hätte auch darauf mit ›kann sein‹ antworten können, aber ich ließ es sein. Wir gingen durch eine Tür ins Freie. Da ich gerade erst aufgewacht war, dachte ich, es sei Morgen, aber so wie die Sonne hinter den Häusern stand, musste es schon Nachmittag sein. Es war kalt. Ich hatte nur das weiße T-Shirt an. Keine Ahnung, wo ich den Pullover von Anthony hatte liegen lassen. Mir lief ein Schauer über die Arme und ich begann zu zittern. »Mehr hast du nicht anzuziehen?«, fragte Laura, als wir neben einem verbeulten blauen Kleinbus stehen blieben, auf dem JUGENDHILFE NEW YORK CITY stand. Sie machte die

Hecktür auf und nahm eine Decke heraus. »Leg dir das um die Schultern. Damit du wenigstens nicht frierst, bis wir da sind.« Die Decke war dünner, als ich gedacht hatte, trotzdem war ich froh, sie zu haben. Wir stiegen ein. Es roch nach Kaffee. Auf dem Boden zwischen den Vordersitzen lagen ein paar leere weiße Styroportassen. Laura fuhr los. »Weißt du irgendetwas über die Jugendhilfe?« »Da werden einem nur Vorschriften gemacht.« Laura runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?« »Das haben Sie mir selbst gesagt.« Die Falten zwischen ihren Augen wurden noch tiefer. »War das in der Regennacht vor ein paar Wochen, in diesem leer stehenden Haus?« »Genau.« »Mit welchen von unseren Vorschriften hättest du denn Probleme?«, fragte Laura. »Keine Ahnung. Mit allen.« »So viele haben wir doch gar nicht. Nur was der Staat verlangt, sonst bekommen wir keine Unterstützung. Meinst du nicht, es lohnt sich, ein paar Vorschriften zu befolgen und dafür ein sauberes Bett und Kleider und ein Dach überm Kopf zu bekommen?« »Kann sein.« »Versuch’s doch einfach mal, okay? Bei uns bekommst du ein Bad und eine Mahlzeit und ein bequemes Bett. Was kann denn daran so schlimm sein?« »Keine Ahnung.«

NEUNZEHN

Die Jugendhilfe befand sich in einem vierstöckigen Backsteingebäude an der Avenue B. Ich konnte mich waschen und mir saubere Sachen anziehen. Die anderen Kids sagten Hallo und blieben vor dem Fernseher sitzen. Sie glotzten meine Haut nicht so an, wie die meisten Fremden es tun. Vielleicht waren sie an Kids gewöhnt, die anders aussahen. Beim Abendessen saßen wir zu fünft an einem runden Tisch und aßen Spagetti mit Fleischklößchen. Das Mädchen neben mir hatte schwarz gefärbte Haare mit blonden Wurzeln und lila Strähnchen, jede Menge Piercings in Augenbrauen, Nase, Lippen, Ohren und Zunge und Tattoos auf allen Fingern. Die Buchstaben auf ihrer rechten Hand ergaben das Wort LOVE, die auf ihrer linken das Wort HATE. Sie hieß Spyder, und als sie mich fragte, wo ich herkomme, sagte ich: »Von irgendwo und nirgends.« Sie nickte und sagte: »Genau«, als ob das Sinn machen würde. Nach dem Essen sahen wir wieder fern und schließlich wurde uns gesagt, es sei Zeit zum Schlafengehen. Ich war schrecklich müde. Wir gingen nach oben in ein Zimmer mit drei Etagenbetten. Ich sollte unter Spyder schlafen. Die anderen Mädchen zogen Pyjamas oder weite T-Shirts an, aber ich hatte nichts, worin ich schlafen konnte. »Hier.« Spyder warf mir ein Megadeath-T-Shirt zu. »Danke.« Ich zog mich aus, streifte das Teil über und stieg ins Bett. Es war das erste Mal, dass ich in einem richtigen Bett lag, seit ich von zu Hause weggelaufen war. Als ich mir die Decke ans Kinn zog und mein Kopf auf das weiche Kissen

sank, wurde ich plötzlich ganz ruhig. Nicht nur, weil das Bett so bequem war. Dazu kam auch das Gefühl, für diese Nacht in Sicherheit zu sein – ich hatte längst vergessen, wie sich das anfühlt. Ich hörte noch ein bisschen zu, wie Spyder und die anderen Mädchen sich unterhielten, doch dann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder aufmachte, schien schon die Sonne ins Zimmer und Laura stand in der Tür und sagte, wir sollten jetzt aufstehen. Ich wollte aber noch weiterschlafen und zog mir das Kissen über den Kopf. Eine Hand berührte mich an der Schulter. »Du musst jetzt aufstehen«, sagte Laura. »Ich bin müde.« »Es gibt jetzt Frühstück. Hast du denn gar keinen Hunger?« Mein Magen war völlig leer, und obwohl ich gern noch geschlafen hätte, stand ich auf und ging nach unten. Ich setzte mich neben Spyder an den runden Tisch und bekam Haferflocken und Saft zum Frühstück. Danach sollten wir uns in einen Kreis setzen und von unserem Leben erzählen. Laura sagte, ich müsste nichts sagen, wenn ich nicht wollte, drängte mich aber, mich wenigstens dazuzusetzen. Ich konnte aber nur an das weiche Kopfkissen und das schöne warme Bettzeug denken. »Ich möchte wieder nach oben gehen«, sagte ich. »Das ist nicht erlaubt«, sagte Laura. »Wenn du müde bist, kannst du hier unten schlafen.« Ein paar Kinder setzten sich zum Reden in einen Kreis. Die meisten sahen einige Jahre älter aus als ich. Wie Spyder hatten sie alle Tattoos, Piercings und gefärbte Haare. Alle Stühle und die Couch waren besetzt, also legte ich mich auf den Fußboden und schloss die Augen. Es war nicht leicht, einzuschlafen, wenn die anderen redeten, und es war längst nicht so gemütlich wie das Bett oben. Dann machten sie den Fernseher an und guckten bis zum Mittagessen. Aber ich hatte keinen Hunger.

»Du musst dich trotzdem zu den anderen an den Tisch setzen«, sagte Laura. Nach dem Essen sollten wir aus Federn und Schnüren und Draht etwas basteln. Laura sagte wieder, ich müsste nicht mitmachen, also saß ich bloß daneben. Spyder lächelte, aber für die anderen Kids war ich wie Luft. Inzwischen hatte ich wieder Hunger und wollte etwas essen, aber Laura erklärte mir, ich müsste bis zum Abendessen warten. Ich wartete, bis sie aus dem Zimmer gegangen war. Dann schnappte ich mir eine schwarze Skijacke aus dem Schrank und ging.

Es wurde schon dunkel, als ich zur Brücke kam. OG hatte wieder die Plane aufgehängt, und Pest, Maggot und Jewel hockten dahinter. Jewel schaukelte vor sich hin und starrte ins Leere. In dem orangefarbenen Schlafsack lag noch jemand. Mein Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass es Rainbow sein könnte. Ich sah genauer hin. Es war Tears. »Hey«, sagte ich. »Hey.« Ihre Stimme war so hohl wie ihre Augen. »Wo bist du gewesen?«, fragte ich. »Nirgendwo.« »An dem Abend im Cradle«, sagte ich, »bin ich zurückgekommen und hab nach dir gesucht, aber du warst verschwunden.« Tears drehte sich von mir weg und zog sich den Schlafsack über den Kopf. »Wo hast du gesteckt?«, fragte mich Maggot. »Die Cops haben Rainbow abgeholt und ich bin mit ihr gegangen«, sagte ich. »Habt ihr sie gesehen?« Keiner antwortete.

»Dann haben sie mich in so ‘ne Jugendwohngruppe geschickt«, erzählte ich weiter. Jewel grinste spöttisch. »Und, hat dir das Hotel zur glücklichen Jugend gefallen?« »Es war schön, mal wieder in einem richtigen Bett zu schlafen.« »Und warum bist du dann abgehauen?«, fragte Maggot. »Zu viele Vorschriften, wann man schlafen und essen darf.« »Also geht’s doch nicht bloß um die staatlichen Zuschüsse?« Ich schüttelte den Kopf. »Wüsste nicht, warum es den Staat interessieren sollte, wann ich essen oder schlafen will.« »Es geht doch immer bloß um Äußerlichkeiten«, sagte Jewel. »Der schöne Schein, die guten Manieren…« »Die haben bloß Angst vor Leuten, die anders sind«, sagte OG. Maggot nickte. »Genau. Die wollen dir bloß eine Gehirnwäsche verpassen, damit du dich ins System einfügst.« Es wurde dunkel und die Temperatur fiel mindestens um zehn Grad. Wie Tiere vergruben wir uns in unseren Nestern aus Decken, Zeitungen und Plastiktüten und drängten uns eng aneinander, um uns gegenseitig warm zu halten. Aber ich konnte nicht schlafen. Maggot hustete andauernd. Jewel nieste und murmelte vor sich hin. Tears weinte. OG musste sich übergeben. Oben dröhnten die Autos. Im Mondlicht trieben zerklüftete schneebedeckte Eisschollen den Fluss hinunter wie kleine Eisberge. Irgendwann ging die Sonne auf und die Spitzen der Hochhäuser begannen zu leuchten. Die rote Morgensonne spiegelte sich grell in den Fenstern, der trübe grünbraune Fluss wurde ein wenig heller. Maggot setzte sich auf. »Ich muss mir was gegen den Husten besorgen. Hat einer von euch Geld?« »Jede Menge«, sagte Jewel, der immer noch schaukelte und ins Leere starrte. »So viel, wie du brauchst. Meine Familie ist

königlicher Herkunft. Wir haben unser Kapital allerdings im Ausland angelegt.« Maggot verdrehte die Augen. »Hat sonst noch jemand Geld?« »Bloß noch den Scheibenwischer«, sagte OG und hustete so schlimm, dass er sich mit den Händen am Boden abstützen musste. Abwechselnd versuchten wir Autofahrer dazu zu bringen, uns etwas Geld dafür zu geben, dass wir ihnen die Windschutzscheibe säuberten. Wenn man da oben an der Straße stand, blies einem der eisige Wind bis in die Knochen. Der Asphalt war spiegelglatt, und man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte und überfahren wurde. Als ich an der Reihe war, wartete ich an der Kreuzung, bis die Ampel rot wurde, dann nahm ich den Eimer und ging zwischen den Autos herum. Niemand wollte seine Windschutzscheibe waschen lassen. Ab und zu gab mir ein Fahrer trotzdem etwas Kleingeld. Einer in einem teuer aussehenden Auto kurbelte sein Fenster auf und drückte mir einen Dollar in die Hand. »Wasch mir bloß nicht die Scheibe, okay?«, flehte er. Die Ampel sprang auf Grün und ich lief den Autos ausweichend an den Straßenrand zurück. Zeitungsfetzen wirbelten durch die Luft und die Ampeln schwankten an ihren Drähten wie Obst an einem Baum. Die Kälte stach mir in Nase und Ohren. Die Autofahrer nahmen mich gar nicht wahr. Ich war ein Nichts. Ein Wesen ohne Namen, um das sich niemand kümmerte. Einer von den Pechvögeln, die zurückbleiben, wenn der große Bus voller glücklicher Familien an der Haltestelle abfährt. Für mich gab es nicht mal Platz in dem großen Bus für die unglücklichen Familien. Es gab für mich keinen Platz. Nirgendwo. Das schmutzige Wasser im Eimer gefror zu einem bräunlichen Klumpen. Ich ging wieder zur Brücke, kroch in mein Nest und blieb dort zitternd liegen. Nach einer Weile

kam OG mit einer Mülltonne aus Eisen zurück, die er vor einem Haus in der Nähe geklaut hatte. Er versuchte ein Feuer darin anzumachen, aber die Zeitungen verbrannten so schnell, dass schon alle aufgebraucht waren, bevor uns davon warm werden konnte. »Wir müssen Holz besorgen«, sagte Maggot mit klappernden Zähnen. »Ich glaube, ich habe was auf der Baustelle am Park gesehen.« OG und er zogen los. Tears und ich blieben mit Pest zurück, der sich zu mir ins Nest legte. Die Möwen über dem Fluss schwangen sich hoch hinauf und glitten kreisend wieder herunter. Tears lag schluchzend in ihrem Nest neben mir. »Hey, Tears«, sagte ich. »Was hast du?« »Ich hab in den Schlafsack gepinkelt. Ich friere.« »Komm rüber zu Pest und mir. Da hast du’s wärmer.« »Aber ich bin nass.« »Na und?« Sie kroch aus dem Schlafsack und legte sich zu mir in mein Nest aus Decken und Zeitungen. Pest lag zwischen uns. Ich musste an Rainbow denken. Wo hatten Officer Ryan und diese andere Polizistin sie bloß hingebracht? Tears zitterte so heftig, dass die Zeitungen um uns raschelten. Ihre Zähne klapperten. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. »Ich will nach Hause.« »Du kannst in diese Jugendwohngruppe gehen«, sagte ich. »Die Frau da, Laura, wird dir helfen, deine Mom zu finden« »Ich kann nicht. Nicht, solange er da ist.« »Dein Stiefvater? Vielleicht ist er ja gar nicht mehr da. Wann hast du denn das letzte Mal mit deiner Mom gesprochen?« »Ich weiß nicht. Ist lange her.« »Ruf sie doch mal an.« »Wie denn? Ich hab doch kein Geld.« »R-Gespräch.«

»Als ich das das letzte Mal gemacht habe, ist sie wütend geworden und hat gesagt, ich soll das nie wieder tun. Ich will sie nicht wütend machen, weil sie mich dann nie wiederhaben will.« Ich wusste, wenn wir zur Jugendhilfe gingen, würde Laura ihr bestimmt erlauben, das Telefon zu benutzen. Ich wusste aber auch, dass Laura versuchen würde, Tears von der Straße wegzuholen. Wenn du fünfzehn oder sechzehn bist, okay. Da bist du schon halb erwachsen, und wenn du auf der Straße lebst, wissen sie, dass sie dich nicht davon abhalten können. Aber wenn du erst zwölf bist, ist das was anderes. Da halten sie dich noch für ein Kind. Ich hatte eine andere Idee. »Ich weiß, wo du vielleicht telefonieren kannst«, sagte ich. »Ich muss mich aber erst noch ein bisschen aufwärmen, okay?« Ich machte die schwarze Skijacke auf und zog sie, so gut es ging, um Tears herum. Das schien zu helfen. Als sie nicht mehr mit den Zähnen klapperte, standen wir auf und gingen zur Bücherei. Draußen vor dem Gebäude stand Bobby. Mit einem Plastikbecher schöpfte er Salz aus einem Eimer und streute es auf die überfrorenen Treppenstufen vor dem Eingang. Ich blieb stehen. »Gehen wir nicht rein?«, fragte Tears und umschlang sich mit den Armen, um sich warm zu halten. »Wir warten besser noch«, sagte ich. Tears sah Bobby an. »Das ist er, stimmt’s?« Ich nickte traurig. Tears war inzwischen ein richtiges Straßenkind. Sie bekam auch schon dieses Gefühl dafür, wer ihr gefährlich werden konnte und wer nicht. In Gedanken hörte ich, was dieser Detective gesagt hatte: Die Zeit läuft dir davon. Bald gibt es kein Zurück mehr. Wie nah war dieses Bald? War

es für uns schon zu spät? Wir standen in der Kälte und warteten. Bobby sah nicht in unsere Richtung. Nach einer Weile ging er in die Bücherei zurück. »Können wir jetzt rein?«, fragte Tears. »Ich muss erst noch was nachgucken.« Ich trat an die großen Fenster und spähte hinein. An den Computern saßen überall Leute. Anthony stand hinter einem Mann mit weißen Haaren, der ratlos einen Computerbildschirm anstarrte. Anthony sagte etwas zu ihm. Immer noch unsicher, tippte der Mann auf der Tastatur herum. Und dann musste er es plötzlich begriffen haben, denn auf einmal machte der Mann ein glückliches Gesicht. Anthony lächelte und ging zum nächsten Tisch weiter, dabei sah er auf und entdeckte mich. Er winkte mir zu, aber ich schüttelte den Kopf. Dann hob er einen Finger, das sollte wohl heißen: Warte einen Moment. Ich ging zu Tears zurück. Die zitterte immer noch wie verrückt. »Ich friere«, sagte sie. »Können wir jetzt endlich reingehen?« »Gleich. Hoffentlich.« Wenig später kam Anthony heraus. Er trug einen grünen Mantel, den er nicht zugeknöpft hatte, sondern nur mit den Händen geschlossen hielt. »Was gibt’s?« »Meine Freundin muss mal ganz dringend telefonieren«, sagte ich. Anthony antwortete nicht sofort. Wahrscheinlich überlegte er, ob er Tears erlauben konnte, das Telefon zu benutzen. »Okay, kommt rein.« »Was ist mit Bobby?«, fragte ich. »Um den mach dir mal keine Sorgen.« Anthony hielt uns die Tür auf. Drinnen war es warm. Irgendwo gluckerte eine Heizung. Ich sah mich nach Bobby um, aber der war verschwunden. Anthony führte uns an den Tischen, hinter denen lauter finster blickende Leute mit

Namensschildchen standen, vorbei zu einer Tür. Dahinter war ein Flur, von dem noch mehr Türen abgingen. Anthony stieß eine auf, und wir kamen in ein kleines Büro mit Regalen voller Bücher und einem Schreibtisch, auf dem zwischen Bergen von Papieren ein Computer stand. Daneben eine Glasschale mit bunten Gummibärchen. »Haltet eure Hände auf«, sagte Anthony. Er nahm die Schale und schüttete uns ein paar Gummibärchen in die Hände. Während Tears und ich sie verschlangen, drückte Anthony ein paar Tasten auf dem Telefon und wartete. Auf dem Schreibtisch standen Fotos von zwei Mädchen. Eins ungefähr in Tears’ Alter, das andere vielleicht acht Jahre alt. Auf einigen Bildern waren sie mit einem Mann und einer Frau zu sehen. Die Frau hatte rote Haare und Sommersprossen wie Anthony, aber nicht solche Flecken, wie Anthony und ich sie hatten. Anthony gab Tears das Telefon. »Hier. Du braucht nur noch deine Nummer zu wählen.« Tears wählte und hielt sich den Hörer ans Ohr. »Mom? Hier ist Nikki. Hey, ja, mir geht’s gut. In New York. Ja, es ist sehr kalt. Nein, ich hab’s schön warm. Oh ja, manchmal. Nein, überhaupt nicht. Ja, ich will nach Hause. Wohnt er noch da? Ich hab dir gesagt warum. Nein, Mom. Doch, das hat er. Es ist mir egal, was er sagt. Nein, ich hab mir das nicht ausgedacht. Dann lügt er eben. Nein, ich komm nicht nach Hause, solange er da ist. Bestimmt nicht. Okay, wie du willst. Tschüss.« Sie legte auf. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. Dann drehte sie sich zu Anthony herum. »Danke, dass ich telefonieren durfte.« »Kein Problem.« Anthony zog ein feuchtes Tuch aus einem Plastikbehälter und wischte den Hörer ab, bevor er ihn wieder auflegte. »Aber geholfen hat’s dir ja wohl leider nicht.« Tears fuhr sich mit den Händen über die Augen und verschmierte sich das ganze Gesicht.

Ich versuchte ein Lächeln. »Aber trotzdem vielen Dank, dass Sie es ihr erlaubt haben.« »Gern geschehen«, sagte Anthony. »Aber jetzt muss ich wieder zu den Computertischen zurück.« Ich sah nervös nach der Tür und fragte mich, ob draußen vielleicht Bobby wartete. Anthony bemerkte meinen Blick. »Ich bringe euch hinaus.« Er hielt die Tür auf und führte uns durch den Flur. »Ihr braucht nicht zu gehen. Ihr könnt gerne den ganzen Tag hier bleiben. Wir haben Bücher und Zeitschriften, ihr könnt euch aufs Sofa setzen und lesen.« Er machte die Flurtür auf und wir kamen wieder in den großen Raum mit den vielen Bücherregalen. »Das gibt’s doch nicht!« Bobby kam zwischen zwei Regalen hervor. Ich fuhr zurück und stieß mit Tears zusammen, die laut aufschrie. Anthony trat sofort zwischen Bobby und uns. »Gibt’s hier ein Problem?« »Was haben die hier zu suchen?«, keifte Bobby. »Diese Bücherei ist ein öffentliches Gebäude, Bob.« »Aber die sind…« Bobby sprach den Satz nicht zu Ende. »Sind was?«, fragte Anthony. »Na ja«, stotterte Bobby. »Tun Sie doch nicht so, Anthony. Die machen nur wieder alles dreckig.« Anthony wandte sich an Tears und mich. »Werdet ihr hier irgendwas dreckig machen?« Wir schüttelten den Kopf. »Ja ja, natürlich«, knurrte Bobby. »Hab nichts anderes erwartet.« »Ich glaube den beiden«, sagte Anthony. Bobby funkelte Tears und mich böse an. »Ich lasse euch nicht aus den Augen.« Er drehte sich um und verschwand. Anthony führte uns nach vorne. »Wenn ihr wollt, könnt ihr euch neben die Computertische setzen. Dann bin ich immer in eurer Nähe.«

Tears und ich sahen uns an. Wir wollten nicht wieder in die Kälte zurück, aber Bobby machte uns Angst. »Wir müssen noch mal weg«, sagte ich. Anthony zog die Mundwinkel nach unten, brachte uns aber zum Ausgang. »Wartet hier«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.« Er ging noch einmal zu seinem Büro zurück. »Was hat er vor?«, fragte Tears. »Keine Ahnung. Aber lass uns lieber draußen warten.« Wir traten in die Kälte hinaus. Die Leute trugen alle dicke Mäntel, warme Handschuhe und Mützen, viele hatten einen Schal um den Hals. Tears und ich verschränkten die Arme vor der Brust und warteten. Nach einer Weile kam Anthony mit einer Schachtel Donuts zu uns hinaus. »Wir hatten heute Mittag eine kleine Party und die sind übrig geblieben.« »Danke«, sagte ich. Ein Windstoß ließ unsere Kleider flattern. Tears und ich stellten uns mit dem Rücken dagegen. »Ihr könnt wirklich bleiben«, sagte Anthony. »Ich verspreche euch, dass Bobby euch in Ruhe lässt.« »Danke«, sagte ich. »Vielleicht ein andermal.« Anthony lächelte traurig. »Okay, ihr seid jederzeit willkommen. Alle beide.« Tears und ich machten uns im Gehen über die Donuts her. »Glaubst du, er ist so nett zu dir, weil du auch so eine Haut hast wie er?«, fragte Tears. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube, er ist einfach nur nett.«

ZWANZIG

Unter der Brücke, dort wo die Plane war, stieg Rauch auf. Tears und ich sahen ihn schon von weitem. Zuerst erschrak ich, aber dann fiel mir ein, dass OG und Maggot ja losgezogen waren, um Holz für ein Feuer zu besorgen. Schwarze Holzstücke ragten aus der Tonne, rote Flammen schlugen empor. OG und Maggot standen dicht daneben und wärmten sich hustend die Hände. »Hey, Feuer! Wärme!«, rief Maggot, als er uns sah. Pest bellte. Tears und ich stellten uns zu ihnen an die Mülltonne und hielten unsere Hände über die Flamme. Der Wind warf den Rauch hin und her und wir mussten ihm ständig ausweichen. »Wo ist das Schwein? Wir brauchen ein Schwein. Wir wollen Schweinebraten!«, rief Maggot. »Wir töten das Schwein.« Er zog einen brennenden Stock aus dem Feuer und hielt ihn wie einen Speer. Dann fing er an zu singen: »Tötet das Schwein! Schlitzt es auf! Vergießt sein Blut!« »Welches Schwein?«, fragte ich. Maggot warf den Stock wieder in die Mülltonne. Gelbrote Funken wirbelten hoch. »Herr der Fliegen.« »Was ist das?«, fragte Tears. Maggot wandte sich an OG. »Du weißt doch, was das ist?« OG runzelte die Stirn. »Lief das nicht mal im Fernsehen oder so?« »Mensch, was seid ihr doch alle blöd«, sagte Maggot angewidert. »Das ist eins der berühmtesten Bücher aller Zeiten. Es handelt von ein paar Kids, die auf einer einsamen Insel stranden. Einige von ihnen werden am Ende zu Wilden.«

»Wie wir«, sagte ich. »So ähnlich.« »Die haben sich gegenseitig umgebracht. Wirklich unglaublich primitiv.« Jewel saß an der Mauer, hatte die Knie an die Brust gezogen und schaukelte vor und zurück. »Aber das waren ja auch alles Jungs: typisch.« »Du hast es gelesen, Jewel?«, fragte Maggot. »Aber sicher. In der Schule. Alle mussten das lesen. Pflichtlektüre. Ich bin schließlich in Exeter zur Schule gegangen. Da gingen nur die besten Kinder hin.« »Nur die besten Kinder«, wiederholte OG. »Alle hatten ein dickes Konto. Und wo wir immer im Urlaub waren! Vineyard. St. Barts. Capri. 2Moro und ich hatten vor, mit der Jacht meines Vaters durchzubrennen. Aber 2Moro ist tot. Wirklich traurig. Warum hat mir nur keiner was davon erzählt?« Wir schwiegen lange. Dann sagte Maggot: »Vielleicht weil wir dachten, dass das jetzt auch nichts mehr ändern würde.« »Für mich ändert es eine ganze Menge«, sagte Jewel und schniefte. »Sie war meine Zwillingsschwester. Meint ihr nicht, wir sollten es unseren Eltern sagen? Die werden verzweifelt sein. Vollkommen verzweifelt. Aber das Leben geht weiter und sie haben ja noch mich und Piper und Christoff. Habe ich euch eigentlich schon erzählt, dass wir dieses Jahr über Weihnachten nach St. Moritz fahren? Und dann zu Silvester nach Mykonos.« »Großartig, Jewel«, sagte Maggot. »Nur schade, dass Silvester erst vor drei Wochen war.«

EINUNDZWANZIG

Mary Ellen Holding alias Rainbow, geboren in North Miami Beach, Florida. Scheidung der Eltern, als sie acht Jahre alt war. Vater wieder verheiratet. Mutter chronische Alkoholikerin und drogensüchtig. Mit elf Jahren wurde Mary Ellen ihrer Mutter weggenommen, weil die sie gegen Drogen verkuppelt hatte. Lebte in einer Pflegefamilie, während die Mutter in der Rehabilitation war. Mit zwölf zur Mutter zurück. Drei Monate später erlitt die Mutter einen Rückfall und verkuppelte Mary Ellen wieder gegen Drogen. Erneut in eine Pflegefamilie. Ärztlicher Befund mit vierzehn: Zwangsneurose und Depression. Medikamentös behandelt. Häufige Verhaltensauffälligkeiten in der Schule. Ständiges unerlaubtes Fehlen. Festnahmen wegen Ruhestörung und Drogenbesitz. Mit fünfzehn für sechs Monate in einer Erziehungsanstalt. Mit sechzehn als vermisst gemeldet. Letzter bekannter Wohnsitz: New York City. Gestorben mit 16. Todesursache: Selbstmord.

Man konnte der Kälte nicht mehr entkommen. Wir zitterten Tag und Nacht. Das braune Eis in dem Autowascheimer war steinhart. Schneebedeckte Eisschollen verstopften den Fluss. Jemand sagte, dass an der Kirche Suppe und Butterbrote ausgeteilt würden. Ich ging hin, aber die Schlange draußen war zu lang, und es war zu kalt, um da herumzustehen. Ich ging immer weiter und kam schließlich nicht weit von der Bleecker Street an einem Laden vorbei, in dem Fernseher verkauft wurden. Ein Fernseher war nur ein paar Zentimeter

dick, aber er füllte ein ganzes Schaufenster aus. Die Farben auf dem Bildschirm waren so bunt, dass sie fast unecht wirkten. Im Schaufenster sah ich, dass hinter mir ein Streifenwagen am Bordstein hielt. Officer Ryan setzte ihren Polizeihut auf und stieg aus. »Ich habe nach dir gesucht.« Der Atem kam ihr als Wolke aus dem Mund. »Ist dir nicht kalt?« »Kann sein.« »Hast du Hunger?« »Kann sein.« Sie zeigte auf einen Imbiss ein paar Häuser neben dem Fernsehgeschäft. »Wenn du was essen willst, können wir da reingehen.« Ich rührte mich nicht. »Sie haben versprochen, mir zu sagen, wo Rainbow hinkommt«, sagte ich. Officer Ryan nickte. »Ich weiß. Das erzähl ich dir, wenn wir da drin sind.« Ein Windstoß ließ die Straßenschilder wackeln. Der Himmel war dunkelgrau und die Luft roch nach Schnee. Officer Ryan sah mich an, und plötzlich wurde ihr wohl klar, dass es etwas gab, das mir wichtiger war als Wärme und was zu essen: die Wahrheit. »Warum wollen Sie mir was zu essen kaufen?«, fragte ich. »Weil du so hungrig aussiehst.« »Und das ist alles? Ich krieg was zu essen, und dann kann ich gehen? Keine Spielchen?« »Keine Spielchen.« Die Fenster des Lokals waren mit Eisblumen überzogen. Wir gingen hinein und setzten uns an einen Tisch. Ein paar Leute, die am Fenster saßen, hatten noch Hut und Mantel an, also war es wahrscheinlich nicht so warm da drin, aber mir kam es im Vergleich zu draußen richtig heiß vor. Eine Kellnerin brachte

uns die Speisekarten. Sie schnüffelte um mich herum und rümpfte die Nase. Doch dann wurde ihr Blick sanft und traurig. »Nur Kaffee«, sagte Officer Ryan, ohne die Speisekarte aufzuklappen. Zu mir sagte sie: »Bestell dir alles, was du haben willst.« Vorne auf der Speisekarte war ein Foto: ein Stapel Pfannkuchen mit Sirup und Speckstreifen und daneben Gläser mit Orangensaft und Milch. »Das nehme ich.« Ich zeigte auf das Bild. »Okay.« »Möchtest du dich vor dem Essen vielleicht waschen?«, schlug Officer Ryan vor. »Klar.« Ich zog die schwarze Skijacke aus und ging in den Toilettenraum. Aus dem Spiegel sah mir ein Mädchen mit wirren verfilzten Haaren entgegen. Ein flaches, fleckiges, schmutziges Gesicht. Kleider, die praktisch nur noch Lumpen waren. Ich ließ das Wasser laufen. Es war nicht heiß, brannte aber auf meinen kalten steifen Fingern. Bis ich die einzelnen Finger bewegen konnte, musste ich eine Weile warten. Dann drückte ich mir die Flüssigseife in die Handflächen und wusch mir das Gesicht. Das Wasser, das mir von den Händen lief, war braun wie Schlamm. Ich trocknete mir die Hände unter dem Föhn, dann schob ich ihn hoch und ließ mir die heiße Luft ins Gesicht blasen. Das fühlte sich gut an, und ich blieb noch eine Weile, auch als die Haut längst trocken war. Die Sachen standen schon auf dem Tisch, als ich zurückkam: der Teller mit Pfannkuchen und Speck und die Gläser mit Orangensaft und Milch. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass du weglaufen könntest«, sagte Officer Ryan, als ich mich setzte. »Das trauen Sie mir zu?«

»Kann sein«, sagte sie. »Du hättest ja zu dem Schluss kommen können, dass ich hier nur ein Spielchen mit dir treibe.« Ich lächelte. »Was ist daran so komisch?«, fragte Officer Ryan. »Sie haben ›kann sein‹ gesagt. Ist mein Lieblingssatz. Deswegen nennen mich auch alle Maybe. Kann sein.« »Na schön, Maybe.« »Warum fragen Sie mich nicht nach meinem richtigen Namen?« »Würdest du ihn mir denn verraten?« »Kann sein.« Ihre Mundwinkel gingen ein wenig nach oben, aber das war kein glückliches Lächeln. »Fang an, iss was, bevor es kalt wird.« Ich goss mir Sirup über die Pfannkuchen und nahm einen Bissen. Süß und köstlich. Ich trank etwas Orangensaft und nahm den nächsten Bissen. Officer Ryan schlürfte ihren Kaffee. Ich hatte kaum die Hälfte der Pfannkuchen geschafft, da war ich schon so satt, dass ich nicht weiteressen konnte. »Das war’s?«, fragte Officer Ryan. Ich nickte. »Kein Platz mehr in deinem Bauch, was?«, sagte sie. Ich trank noch ein bisschen Milch und wischte mir die Lippen am Ärmel ab. Ich fühlte mich gut: satt und warm und müde. Draußen fing es an, zu schneien. Nur ein paar winzige weiße Flocken. »Wie geht’s dem Asphalt Tribe?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz gut.« »Wie viele seid ihr eigentlich?«

»OG, das ist der mit dem Hund. Jewel. Weiß nicht, ob Sie den kennen. Maggot.« Von Tears sagte ich nichts, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie das besser nicht hörte. »Wann hast du Rainbow das letzte Mal gesehen?«, fragte Officer Ryan. »In der Nacht, als Sie uns ins Gefängnis gebracht haben.« »Das Haus der Jugendhilfe hat dir nicht gefallen?« Ich schüttelte den Kopf. »Zu viele Vorschriften?« »Ja.« Officer Ryan holte tief Luft. »Ich habe schlechte Neuigkeiten für dich. Rainbow ist tot.« Die kleinen Schneeflocken schwebten aus dem grauen Himmel herunter. Ich stellte mir vor, ein weißer Schneeschmetterling zu sein, der zwischen all den Flocken mit seinen schneeweißen Flügeln flatterte. »Man hat sie in eine Entzugsklinik gebracht, aber da ist sie nach einer Nacht weggelaufen. Gestern dann hat man ihre Leiche aus dem Fluss gezogen. Sie hatte keine äußeren Verletzungen, also hat man sie in die Gerichtsmedizin gebracht und untersucht.« Ich rieb ein Loch in die Eisblumen am Fenster und sah in den fallenden Schnee hinaus. Wenn ich Rainbow in dieser Nacht doch nur nicht allein gelassen hätte… Wenn ich sie doch nur nicht hätte gehen lassen… »Ihre Lederjacke hat man auf einem Kai in der Nähe gefunden«, sagte Officer Ryan. »Wahrscheinlich war es Selbstmord.« Ich flog langsam aufwärts. Flatterte zwischen den zarten leichten Schneeflocken umher. Immer höher, an den Fenstern der Häuser vorbei. An den Dächern vorbei. An der Spitze des Empire State Buildings vorbei. Bis in die Wolken. Irgendwo in

den Wolken war eine helle Stelle. Eine Lücke im Grau, durch die ein Sonnenstrahl fiel. Dort musste Rainbow sein. Das schwarze Funkgerät an Officer Ryans Gürtel piepte. Sie hielt es sich ans Ohr. »Ryan. Ja. Okay. Bin gleich da.« Sie schaltete das Gerät aus. »Tut mir Leid, Maybe. Aber ich musste dir das sagen.« Kleine weiße Schneeflocken schwebten durch das Grau. Ich flog zu der hellen Stelle im Himmel hinauf, wo Rainbow auf mich wartete. Aber der Weg war weit, sehr weit, und Schnee sammelte sich auf meinen Flügeln und machte sie schwer. Das Fliegen wurde immer anstrengender. » Maybe?« Ich sah Officer Ryan über den Tisch hinweg an. Sie hatte ein kleines dunkles Muttermal zwischen den Augen, dort wo die Augenbrauen dünn wurden und sich trafen. »Wenn du mal Hilfe brauchst. Wenn ich dir irgendwann einmal helfen soll, nach Hause zurückzugehen, sagst du’s mir einfach, okay? Du findest mich entweder im Streifenwagen oder auf der Wache. Ich werde dir helfen.« Mein Zuhause war bei Rainbow, oben auf der hellen Lichtung in den Wolken. Officer Ryan nahm ihren Hut. »Ich muss gehen. Pass gut auf dich auf, okay?« »Kann sein.« Ich blieb noch lange sitzen. Der Schnee draußen fiel immer dichter. Er drückte mir die Flügel runter und kam mir in die Augen. Manchmal war der Himmel so voller Schneeflocken, dass ich die helle Stelle in den Wolken nicht mehr sehen konnte. Der Schnee klebte an meinen dünnen schwarzen Fühlern und Beinen. Die weißen Flügel wurden so schwer, dass ich sie nicht mehr bewegen konnte. Ich breitete sie aus, so wie die Möwen es taten, und begann in langsamen Kreisen abwärts zu gleiten. Unmöglich, von hier nach da zu kommen.

Die Stadt unter mir war ganz weiß. Die Dächer der Busse und der Häuser, die Gehwege und Straßen. Ich landete im Schnee und verschwand. »Hallo?« Die Kellnerin, die mir die Pfannkuchen gebracht hatte, beugte sich über mich. »Tut mir Leid, aber ich brauche den Tisch jetzt. Es ist Abend und hier wollen auch noch andere Leute essen.« Ich stand auf und zog die schwarze Skijacke an. »Hier, das kannst du mitnehmen.« Sie reichte mir eine weiße Plastiktüte. »Etwas Brot und Käse.« »Danke.« Ich nahm die Tüte und trat in das Schneegestöber hinaus. Leichte, weiche Flocken, die an Kopf und Schultern haften blieben. Die man wegpusten konnte. Ich fand es schön, durch den Schnee zu gehen, bis mir wieder kalt wurde und ich zu zittern anfing. Ich ging zur Brücke und dachte an Rainbow. Sie hatte diese Lederjacke geliebt und wäre nirgends ohne sie hingegangen. Ein großes silbernes Auto kam mir auf der Straße entgegen. Es war mit einer dünnen Schneedecke überzogen, nur dort, wo die Scheibenwischer hin- und hergingen, waren zwei dunkelgrüne Halbkreise. Es bremste ab und wendete. Ich ging weiter. Das Auto fuhr langsam neben mir her, und ich wartete, dass das Fenster aufging und ein Mann mich fragte, ob ich Hunger habe und vielleicht mal baden will. Das Fenster ging auf. Eine Frau mit glatten blonden Haaren schaute mich an. »Entschuldige bitte.« Ich ging weiter. »Entschuldige bitte«, sagte sie noch einmal. Ich sah nicht hin. Sie sagte etwas zu der Person, die neben ihr saß. Eine Männerstimme antwortete. Sie wandte sich wieder zu mir. »Ich gebe dir einen Dollar, wenn du dir ein Foto von jemandem ansiehst, nach dem wir suchen.«

Ich blieb stehen. Das Auto auch. Die Frau hielt mir ein Stück Pappe und einen Dollar hin. Die Pappe war groß, ein halbes Dutzend Fotos klebte darauf. Sie bekam das Ding kaum durchs Fenster. Es schneite immer noch und die weißen Flocken fielen der Frau auf Arme und Haare. Ich nahm den Dollar und stopfte ihn in meine Tasche. Dann sah ich mir die Fotos an. Ein Junge mit kurzen Haaren. Er trug ein weißes Hemd und weiße Shorts und hatte einen Tennisschläger in der Hand. Auf einem anderen Bild stand er in Kakihose und blauem Sweatshirt auf einem Bootssteg, hinter ihm war ein Segelboot zu sehen. Und dann war da ein Gruppenbild mit einem anderen Jungen und einem Mädchen mit langen blonden Haaren und einem Mann und einer Frau, die beide lächelten. Ich sah die Frau im Auto an. Die Frau auf dem Bild, das war sie. Ihr Blick war erwartungsvoll und flehend. »Kennst du ihn?«, fragte sie. »Hast du ihn gesehen?« Ich nickte.

ZWEIUNDZWANZIG

»Du brauchst nicht nach Hause zu kommen«, sagte der Mann in dem hellbraunen Mantel. »Wir möchten nur wissen, dass es dir gut geht.« Der Mann hatte silberweißes Haar. Sein Mantel war am Kragen und an den Ärmeln mit weißem Pelz besetzt. Die blonde Frau an seiner Seite trug einen dunkelblauen Mantel mit einem undefinierbaren Muster. Beide waren braun gebrannt. Das silberne Auto hatte das grün-weiße Kennzeichen von Colorado. Maggots Eltern. OG hockte verkrümmt hinter der blauen Plane und hustete. Pest in seinen Armen bellte. Tears hatte sich den schmutzigen orangefarbenen Schlafsack um die Schultern gehängt. Jewel stand neben dem silbernen Auto und zeichnete mit den Fingern ein Muster in die Schneeschicht auf dem Wagendach. Der Mann beobachtete ihn nervös aus den Augenwinkeln. Wahrscheinlich hatte er Angst, Jewel könnte dem Auto irgendeinen Schaden zufügen. Maggot drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. Er inhalierte tief und atmete aus. »Ich will eure Hilfe nicht«, sagte er. »Das verstehen wir, Stuart«, sagte die Frau. »Ich heiße nicht Stuart. Ich heiße Maggot.« »Na schön.« »Sag’s«, sagte Maggot. »Maggot.« Die Frau schien an dem Namen zu ersticken. »Ein Mercedes?«, fragte Jewel. »Oh nein, ein Lexus«, antwortete der Mann. »Ah ja, natürlich«, sagte Jewel. »Meine Eltern hatten zwei davon in Blau. Und einen Rolls. Und natürlich den Ferrari.«

Der Mann und die Frau sahen ihn böse an. Die Frau wandte sich wieder an Maggot. »Wir wollen nur dafür sorgen, dass du nicht krank wirst oder dir etwas zustößt. Wenn du in New York bleiben willst, bitte sehr. Wir können dir helfen, eine Wohnung zu finden.« »Mir geht’s prima hier«, sagte Maggot. Seine Eltern betrachteten den schneebedeckten Müll, der um unser kleines Lager verstreut war. Die leeren Flaschen, das verkohlte, halb verbrannte Holz in der verrußten Mülltonne. OG krümmte sich unter einem schlimmen Hustenanfall. Die Frau zuckte zusammen. »Gestatte uns wenigstens, dass wir dich zu einem Arzt bringen und untersuchen lassen.« Ihre Stimme klang brüchig und sie hatte Tränen in den Augen. »Wir könnten dich und deine Freunde zum Essen einladen«, sagte der Mann. »Damit ihr mal was Anständiges in den Bauch kriegt.« »Hey, toll«, sagte Jewel. »Wir könnten ins Four Seasons gehen. Mein Lieblingsrestaurant. Ich lade euch alle ein. Ich habe da einen eigenen Tisch, müsst ihr wissen. Gleich neben dem von John F. Kennedy junior.« »John F. Kennedy ist tot, du Idiot«, fauchte Maggot gereizt. »Wir sind alle tot.« OG zeigte um sich. »Wo ist der Unterschied zwischen dem hier und tot sein?« Maggots Mutter nahm ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und tupfte sich die Augen. Sein Vater räusperte sich. »Gibt’s hier in der Nähe was, wo wir essen können?« Maggot zog an seiner Zigarette. Er ließ den Blick über OG, Jewel, Tears und mich wandern. Dann stand er auf. »Ich geh mit euch essen«, sagte er. »Den anderen bringen wir nachher was vorbei.« »Für mich bitte Weinbergschnecken«, sagte Jewel.

DREIUNDZWANZIG

Es wurde dunkel und noch kälter. Maggot kam und kam nicht wieder. OG verkroch sich mit Pest hinter der Plane. Jewel schaukelte vor und zurück und sprach mit sich selbst. Ich dachte an Rainbow, die ihre Jacke auf dem Kai liegen gelassen hatte. »Waren das echt Maggots Eltern?«, fragte Tears. »Ich glaub schon«, sagte ich. OG hatte einen Hustenanfall. Wenn ein Windstoß kam, raschelten die Zeitungen und Plastiktüten, in die er sich gehüllt hatte, wie trockenes Laub. »Hat er nicht erzählt, seine Eltern sind tot?«, fragte Tears. OG hustete und spuckte einen roten Klumpen aus. »Bloß ein Postkarten-Punk.« »Was ist das?«, fragte Tears. »Leute, die nur so tun als ob«, sagte ich. »Als ob sie kein Zuhause haben, aber das stimmt gar nicht. Schicken Postkarten nach Hause, damit die Eltern wissen, dass es ihnen gut geht.« »Ich hab nie gesehen, dass Maggot eine Postkarte geschrieben hat«, entgegnete Tears. »Es geht doch bloß ums Prinzip«, sagte OG. »Vielleicht hat er sie ab und zu per R-Gespräch angerufen. Jedenfalls hat er seinen Eltern genug erzählt, dass sie von Colorado hierher fahren und ihn finden können.« Jewel seufzte. »Aspen ist ja so heruntergekommen. Nur noch Yuppies und alte Filmstars. Heutzutage fährt man nach Whistler, zum Helicopter-Skiing. Jungfräulicher Pulverschnee und eine Wahnsinnspiste.« »Was ist jungfräuliches Pulver?«, fragte Tears.

»Damit bestreuen sie dich, dann bist du wieder Jungfrau«, sagte Jewel. »So wollen die Männer dich nämlich haben. Wenn du’s nicht mehr bist, bist du nur noch Kleenex für sie. Benutzen dich einmal und schmeißen dich weg. Es gibt auch andere Möglichkeiten, Männer zu befriedigen. Gib nicht das Kostbarste weg, das du hast, meine Liebe.« Tears runzelte die Stirn. Ich schüttelte den Kopf, um ihr zu zeigen, dass sie Jewel nicht so ernst nehmen sollte. Tears stand auf. »Wo willst du hin?«, fragte ich. »Mir was Warmes für die Nacht suchen. Das hier halte ich nicht mehr aus.« »Bist du dir sicher?«, fragte ich. »Wenn du willst, komm ich mit.« Tears blieb stehen und starrte die vorbeifahrenden Autos an. »Wie wär’s mit der Jugendwohngruppe?«, fragte ich. Tears antwortete nicht. Sie ging einfach los und verschwand in der Dunkelheit. OG hustete die ganze Nacht. Ich dachte an Rainbow, wie sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Fluss trieb, ihre blonden Haare zwischen den Eisschollen auf dem schmutzig grünen Wasser. Ich dachte an 2Moro, halb nackt und erwürgt im Park, und ich dachte an Country Club, dessen stumpfe graue Augen in die Wolken gestarrt hatten. Officer Johnson hatte Recht. Auf der Straße überlebte niemand lange. Es war weder lustig noch cool, schmutzig und krank zu sein und immer zu frieren. Und es war auch nicht besonders spannend, immer zu betteln und zu hungern und im Müll schlafen zu müssen. Ich dachte an die glatten sauberen Laken und das weiche warme Kopfkissen im Haus der Jugendhilfe. Maggot hatte immer gesagt, zum Leben auf der Straße würde man sich freiwillig entscheiden.

Aber das stimmte nicht. Man entschied sich dazu, wenn man nichts anderes mehr hatte.

VIERUNDZWANZIG

Am Morgen war es etwas wärmer. Das braune Eis am Boden des Putzeimers schwamm in einer Pfütze aus schmutzigem Wasser. Ich stand ziemlich lange vor dem Fenster der Bücherei, bis Anthony mich bemerkte. Er kam zur Eingangstür. »Hi, wie geht’s?« »Ganz gut.« »Du hast die Kältewelle überlebt«, sagte er. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Die nächsten Tage soll es keinen Frost mehr geben. Das ist schon mal viel besser.« »Ich hab mich noch nicht für den Pullover bedankt.« »Schon gut.« »Ich hab ihn verloren.« »Ah, na ja. Der war sowieso schon alt. Wo ist Nikki?« »Wer?« »Deine Freundin, die neulich hier telefoniert hat.« »Ach so, Tears. Irgendwo hier in der Gegend.« Anthony sah mich komisch an. »Deswegen bin ich hier«, sagte ich. »Stimmt was nicht?« »Keine Ahnung. Doch, ich glaub schon.« »Hat sie Schwierigkeiten?« »Noch nicht, aber bald«, sagte ich. »Und du willst ihr helfen, bevor es zu spät ist?« Ich nickte. »Gehen wir in mein Büro«, sagte Anthony und hielt mir die Tür auf. »Und mach dir keine Sorgen wegen Bobby.«

Ich folgte ihm durch die Bücherei und durch den Flur zu seinem Büro. Anthony setzte sich an seinen Schreibtisch. »Willst du ein paar Gummibärchen?« Ich streckte die Hände aus und er schüttete mir welche hinein. Sie schmeckten wie bunte Farben in meinem Mund. »Wie kann man ihr helfen?«, fragte Anthony. »Sie muss hier raus, zurück nach Hause, aber sie denkt, ihre Mom will sie nicht.« »Warum?« Ich erzählte ihm, dass ihre Mutter nicht glauben wollte, dass Tears von ihrem Stiefvater missbraucht worden war. »Sie hat zwar Großeltern, bei denen sie wohnen könnte, aber sie meint, sie würde ihnen lästig sein, weil ihr Großvater krank ist und ihre Großmutter sich um ihn kümmern muss.« »Weißt du, was für eine Krankheit er hat?« »Er zittert die ganze Zeit.« »Parkinson«, sagte Anthony. »Dafür gibt es neuerdings Medikamente, die das lindern können. Es kommt natürlich drauf an, wie schwer die Erkrankung ist. Wie alt ist Nikki denn?« »Zwölf oder dreizehn.« Anthony zuckte zusammen. »Okay, sagen wir, sie ist zwölf, und nehmen wir an, ihre Mutter ist Mitte bis Ende dreißig. Dann dürften die Großeltern so um die sechzig sein, also noch relativ jung. Bestimmt interessiert es sie doch zumindest, wo Nikki ist. Willst du mir helfen, ihre Großeltern zu finden?« »Ja. Vielleicht geht das mit dem Computer.« »Weißt du, wo sie herkommt?« »Aus einem Ort, der Hundred heißt.« »Hundred?«, fragte Anthony. »Jedenfalls so ähnlich.« »In welchem Bundesstaat soll das sein?«

Ich versuchte mich zu erinnern. Ich wusste, dass Tears es mir gesagt hatte. »Ich glaube, es ist ziemlich weit weg.« Anthony schrieb etwas auf einen Notizblock. »Gut, mal sehen, was ich tun kann. Wenn ich was herausfinde – wie kann ich mit dir Kontakt aufnehmen?« »Ich komme wieder«, sagte ich.

FÜNFUNDZWANZIG

Lightning, alias Pest. Aus der Zucht eines Hundezüchters in Danbury, Connecticut. Gekauft in einer Tierhandlung als Weihnachtsgeschenk. Ein paar Monate lang heiß geliebt, dann aber nicht ganz stubenrein, zerbiss Schuhe. In einem Park bei Greenwich, Connecticut, »verloren gegangen«. Später in New York City aufgetaucht. Von einem Straßenkind namens OG adoptiert. Gestorben mit 14 Monaten. Todesursache: Unterernährung.

Ich ging zur Brücke zurück, um mit Tears zu sprechen. Die blaue Plane lag zwischen Zeitungen, Lumpen, Bierdosen und Schnapsflaschen. Daneben, vom Feuer geschwärzt, jetzt kalt und leer, die Mülltonne. Jewel saß auf der Erde, schaukelte mit geschlossenen Augen und summte vor sich hin. Ein Rascheln kam aus einem Haufen von Zeitungen, Plastiktüten und Lumpen, der sich, wie vom Wind zusammengefegt, an der Brückenmauer türmte. Der Müllhaufen bewegte sich und ich glaubte ein Stöhnen zu hören. Ich trat näher. Ein ekliger Geruch stieg mir in die Nase. Zuerst nur schwach. Dann immer stärker. Mir kam ein schrecklicher Gedanke: Was wenn? Es war ein Gedanke, auf den man die Antwort lieber nicht wissen will, aber wenn man ihn erst mal gedacht hat, weiß man, er verfolgt einen, bis man die Antwort erfahren hat. Ich hielt die Luft an, trat näher und begann den Müll beiseite zu schieben. Manches hatte sich in langen hellbraunen Haaren verfangen. Je mehr Müll ich wegschob, desto stärker wurde

der Geruch. Es war kein Körpergeruch, es stank nicht nach verfaultem Essen oder Pisse. Es roch anders. Schlimmer. Und da war es. Eine Seite eines Gesichts, verkrustet mit Dreck und Schorf. Ein gedehntes Ohrläppchen mit einem runden Plug darin, innen ganz rot und entzündet. Ein geschlossenes Auge, verklebt mit Schmutz und getrocknetem Schleim. Eine Nase und aufgesprungene Lippen. OG. Ich streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. Die Haut war kühl, aber nicht kalt. Mit der Fingerspitze konnte ich den Puls an seinem Hals fühlen. »OG?«, sagte ich. Er antwortete nicht, wahrscheinlich hörte er mich nicht. Ich drehte mich zu Jewel um, der immer noch mit geschlossenen Augen vor und zurück schaukelte. »Wach auf, Jewel. OG ist schwer krank. Wir müssen Hilfe holen.« »Die Hilfe ist unten im Haus«, antwortete Jewel. »Du kannst nach ihr klingeln.« Er schaukelte weiter. Ich schob noch etwas Müll von OGs Mund und Nase weg, damit er besser atmen konnte. Der Gestank wurde immer schlimmer. Ich zog vorsichtig eine Zeitung neben seinem Kopf weg. Darunter kam ein Zipfel braunen Fells zum Vorschein – ein Ohr von Pest. Ich ging über die Straße und bat einen Mann, der ein Handy hatte, die Polizei zu holen. Wenig später kamen sie mit einem Krankenwagen. Die Sanitäter transportierten OG auf einer Trage und Pest in einem Plastiksack ab. Die Polizisten brachten Jewel in ihr Auto. Er erzählte ihnen, dass er schnellstens zum Flughafen müsste, um den Flieger nach Rio de Janeiro zu kriegen. »Keiner mehr da, Maybe.« Ich drehte mich um. Es war Officer Ryan. Sie trug ihren dicken blauen Mantel, der Reißverschluss war offen.

Tears war noch da, dachte ich. Oder doch nicht? Sie war verschwunden. Und wenn man dorthin ging, wohin sie gegangen war, kam man manchmal nicht mehr zurück. »Willst du ganz allein hier bleiben?« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte, aber hier bleiben wollte ich nicht. »Ich mach dir einen Vorschlag. Meine Schicht ist in drei Stunden zu Ende. Dann komme ich wieder hierher. Wenn du noch hier bist, erlaubst du mir vielleicht, dich irgendwo hinzubringen, wo du die Nacht verbringen kannst?« »Kann sein.«

SECHSUNDZWANZIG

Ich ging in den Park und suchte nach Tears. Sie war nicht da, nur Lost und seine Freunde. »Hast du Maggot gesehen?«, fragte Lost, als er mich sah. »Ich glaub, der ist nach Hause gegangen«, sagte ich. »Nach Hause?« Lost verzog das Gesicht. »Was soll denn das heißen?« »Nach Hause eben. Wo er hergekommen ist.« »Wie das denn?« »Seine Eltern haben ihn mit dem Auto abgeholt.« Fast hätte ich ihm von Rainbow erzählt. Aber ich ließ es sein. »Hast du Tears gesehen?«, fragte ich. »Wen?« »Meine Freundin, die mit den kurzen schwarzen Haaren.« »Die hab ich gestern Nacht gesehen«, sagte der Typ mit den hellbraunen Dreadlocks. »Hat sich am Tunnel rumgetrieben.« Also ging ich zum Lincoln Tunnel. Die meisten Kids, die dort »arbeiteten«, warteten, bis es dunkel wurde. Aber einige – die echt Verzweifelten – versuchten es auch tagsüber. Vielleicht war Tears ja da. Ich hatte keine Ahnung, wie verzweifelt sie war. Ich suchte die meisten Straßen in der Nähe des Tunnels ab. Keine Spur von Tears. Dann bekam ich Hunger und beschloss, mir bei St. Marks etwas zu essen zu besorgen. Aber die Schlange vor der Kirche war wieder einmal endlos lang. Ich könnte zur Jugendhilfe gehen. Da würde ich sicher etwas zu essen bekommen, aber dann gab es dort auch die Vorschrift, dass man nach dem Essen das Haus nicht verlassen durfte. Und

das bedeutete, dass ich nicht gleich wieder gehen und nach Tears suchen konnte. Also stellte ich mich zu den Obdachlosen in die Schlange vor der Kirche. Die meisten waren Männer und viel älter als ich. Sehr viel älter. Runzlig, grauhaarig, stinkend. Meine Freunde und ich waren schmutzig und auch wir rochen ziemlich übel. Aber das war etwas anderes. Für uns war das vorübergehend. Irgendetwas musste sich ändern. Wir würden nicht alt und stinkig und runzlig werden wie diese Penner. Warum? Weil vorher noch irgendetwas Unerwartetes geschehen würde, hatte ich früher gedacht. Jewel würde »entdeckt« und reich werden und wir würden alle zusammen in seiner Villa wohnen. Oder irgendein reicher Mann würde sich in Rainbow verlieben und mit uns allen an einen schönen Ort ziehen. Oder wir würden irgendwie immer weiter auf der Straße leben und niemals alt oder krank werden. Inzwischen wusste ich die Antwort darauf, warum wir nicht als runzlige, stinkige Penner enden würden. Die Wahrheit war, dass wir alle lange vorher sterben würden. Country Club, 2Moro und Rainbow waren tot. OG war so gut wie tot. Und auch Jewel war praktisch schon tot. Vielleicht kann man wirklich nicht auf der Straße leben. Man kann dort nur sterben. Ich stand in der Schlange und wartete. Zu essen gab es ein Sandwich mit Schinken und Käse, einen Pappbecher mit Hühnernudelsuppe und einen Apfel. Ich schlang schnell alles runter und zog wieder los, um Tears zu suchen. Als es dunkel wurde, hatte ich sie immer noch nicht gefunden. Dann wurde ich müde und legte mich in einem Hauseingang schlafen.

Am Morgen ging ich zur Bücherei. Anthony hielt mir die Tür auf. Er musste mich schon durchs Fenster gesehen haben. »Ich habe Nikkis Großeltern gefunden«, sagte er aufgeregt. »Es gibt nur einen Ort, der Hundred heißt, und der liegt in West Virginia. Ich habe dort in der Bücherei angerufen und mit einer Angestellten gesprochen. Ich habe ihr erzählt, dass ich nach einem Ehepaar suche, ungefähr sechzig Jahre alt. Der Mann habe Parkinson, und sie hätten eine Enkelin, die Nikki heiße und von zu Hause weggelaufen sei. Zwei Tage später rief die Frau von der Bücherei mich zurück und sagte, sie habe die Großeltern gefunden. Sie heißen Frimer mit Nachnamen und sind ganz außer sich vor Sorge. Die Frau von der Bücherei sagt, sie rufen ständig an, um zu erfahren, ob sie noch mehr von Nikki gehört habe.« Also gab es Menschen, die Tears liebten. Menschen, die sich Sorgen um sie machten. »Weißt du, wo sie ist?«, fragte Anthony. Ich schüttelte den Kopf. »Hab überall gesucht.« »Ich werde dir helfen.« »Warum?« Anthony zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Weil sie nach Hause gehen sollte. Sie darf doch nicht auf der Straße bleiben.« »Warum tun Sie das?«, fragte ich noch mal. »Weil… einfach so. Ihr seid alle so jung. Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt. Wenn ihr mal älter seid, wünscht ihr euch nur noch, ihr hättet mehr Zeit. Zeit ist das Kostbarste, was es gibt, und ich finde es schrecklich, wenn Menschen die einfach wegwerfen.« Er klang ehrlich. Auch wenn ich Leute wie ihn eigentlich nicht verstehen konnte. Das heißt Anthony vielleicht schon. Weil wir uns irgendwie ähnlich waren. Wir sahen anders aus als die anderen und das verband uns. Es setzte uns von den

anderen ab. Ob er auch einsam war? Half es ihm selbst, Tears und mir zu helfen? Anthony fing meinen fragenden Blick auf. »Was hältst du davon: Ich nehme mir den Nachmittag frei und wir suchen gemeinsam nach Nikki.« Ich überlegte kurz. »Wir sollten noch etwas warten.« »Okay, die Bücherei hat heute Abend länger auf«, sagte Anthony. »Bis neun Uhr bin ich hier. Was willst du bis dahin machen?« »Weitersuchen«, sagte ich. »Ich komme dann später wieder her.«

SIEBENUNDZWANZIG

Ich suchte noch einmal im Park nach Tears. Es war dunkel, und man konnte kaum erkennen, wer da unter Decken oder in Schlafsäcken auf dem Gras lag. Alle sahen irgendwie wie Erdklumpen aus. Ich kletterte über den Eisenzaun und ging über den Rasen. Einige der Klumpen waren zu groß, das konnte Tears nicht sein, und ob Tears einer der kleineren Klumpen war, konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen. Schließlich kletterte ich über den Zaun zurück und sah vor dem Good Life und der Bäckerei nach. Nichts. Keine Spur. Ich ging zum Tunnel. Irgendwo musste sie doch sein. »Hey«, sagte eine Stimme. Ein Streifenwagen hielt neben mir. Officer Johnson beugte sich aus dem Fenster. »Was treibst du dich denn schon wieder hier herum?« »Ich suche nur meine Freundin.« »Aber natürlich, sicher.« Johnson grinste verächtlich. »Eine Freundin.« »Ja«, sagte ich. »Sie ist ziemlich klein, hat kurze schwarze Haare und große Augen.« Officer Johnson sagte etwas zu dem Cop am Steuer und drehte sich wieder zu mir um. »Vor ein paar Stunden ist ein Kind von einem Lastwagen überfahren worden. Der Fahrer sagt, sie ist einfach auf die Straße gelaufen. Er hat noch gebremst, aber es war schon zu spät.« Mir blieb das Herz stehen. »Und… was ist mit ihr?« Johnson schüttelte den Kopf. »Sieht nicht gut aus.« Ich rannte los.

»Ihr wollt ja nicht auf mich hören«, schrie Officer Johnson hinter mir her. »Ich hab’s euch hundert Mal gesagt. Kommt von der verfluchten Straße runter. Aber ihr wollt ja nicht hören.« Ich rannte durch die Dunkelheit zur Bibliothek. Ich musste sofort mit Anthony reden. Ich sprang die Treppe hoch, stieß die Tür auf und ging durch den Metalldetektor. Eine von den Frauen mit Namensschildchen rief: »Hey!« Ich hörte nicht auf sie und lief zu den Computertischen. An fast jedem Computer saß jemand, aber Anthony war nicht da. Wo steckte er bloß? Er hatte doch gesagt, er würde heute Abend noch arbeiten. »Hey, du!« Das war Bobby. Verdammt – wahrscheinlich hatte ihn die Frau gerufen. »Was willst du?« Die Leute an den Computern beobachteten neugierig, wie Bobby und ich um den Tisch kreisten. »Anthony hat gesagt, das ist eine öffentliche Bücherei, und jeder darf sie benutzen«, sagte ich. »Ja, benutzen«, knurrte Bobby. »Aber nicht herumrennen und alles kaputtmachen.« »Ich will nichts kaputtmachen. Ich will zu Anthony.« »Der ist nicht da.« »Doch, ist er.« Plötzlich stand Anthony vor mir. Er sah sofort die Panik in meinem Gesicht. »Was ist passiert?«, fragte er. »Tears ist von einem Lastwagen überfahren worden.« »Warte hier. Ich bin sofort wieder da.« Anthony lief zu seinem Büro zurück. Bobby behielt mich im Auge. Wie ein wildes Tier, das aus einem Käfig ausgebrochen war. Gleich darauf kam Anthony zurück. Er warf seinen braunen Mantel über und band sich einen Schal um den Hals. »Gehen wir.« Wir liefen nach draußen. »In welchem Krankenhaus ist sie?« »Das weiß ich nicht.«

»Das haben sie dir nicht gesagt?« »Ich weiß nur, was Officer Johnson gesagt hat. Sie ist von einem Lastwagen überfahren worden und es sieht nicht gut aus.« Anthony blieb stehen und beobachtete die Scheinwerfer der Autos. »Wir gehen zur Polizeiwache. Da wissen sie Bescheid.« Anthony ging mit großen Schritten voraus, und ich musste fast rennen, um mit ihm mitzukommen. Wir bogen um eine Ecke und bald sahen wir die Wache vor uns: ein nicht sehr hohes Backsteingebäude mit Fahnenstangen aus dem ersten Stock. Der Gehweg davor war hell erleuchtet und auf der Straße parkten Streifenwagen in einer langen Reihe. Anthony stieß eine Glastür auf und ich folgte ihm in die Vorhalle. Dort gab es Holzbänke und mehrere Türen. Auf den Bänken saßen Leute. Frauen mit Babys, die an Schnullern lutschten. Stille alte Männer. Eine Gruppe Studenten mit Rucksäcken, die dicht gedrängt zusammensaßen und miteinander sprachen. Anthony ging zu einem verschrammten Plexiglasfenster mit kleinen runden Löchern drin. Dahinter saß ein Polizist und schrieb etwas auf einen Notizblock. »Entschuldigen Sie«, sagte Anthony. »Wir möchten etwas über eine junge Frau erfahren, die vor ein paar Stunden von einem Lastwagen überfahren wurde.« »Was wollen Sie wissen?«, fragte der Polizist. »Geht es ihr gut? Wo ist sie?« »Wer sind Sie?« »Freunde von ihr«, sagte Anthony. Der Polizist zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. Er sah erst mich an, dann wieder Anthony. »Warten Sie hier«, sagte er und verschwand durch eine Tür. Nach einer Weile ging die Tür wieder auf und ein dünner Mann in einem braunen Anzug kam heraus. Er sah Anthony scharf an. »Sie fragen nach dem Mädchen, das von einem Lastwagen überfahren wurde?«

Anthony nickte und der Mann im braunen Anzug winkte ihn zu sich. Ich wollte mitgehen, aber Anthony legte mir eine Hand auf die Schulter. »Warte hier«, sagte er. Anthony ging zu der Tür. Der Mann im braunen Anzug sprach leise mit ihm. Anthony hörte zu und sagte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Der Mann nahm einen Notizblock und schrieb sich etwas auf. Dann schüttelte er Anthony die Hand und verschwand wieder. Anthony kam langsam auf mich zu. Er ließ die Schultern hängen und starrte den Fußboden an. »Setzen wir uns«, sagte er. »Nein.« Ich wusste schon, was er sagen würde. Aber das durfte nicht wahr sein. Es durfte einfach nicht. Nicht nach Country Club und 2Moro und Rainbow. Anthony ließ den Kopf hängen. »Sie hatte keinen Ausweis dabei, nichts. Die wussten nicht, wer sie ist. Ich habe ihnen gesagt, wie sie heißt und wo sie herkommt. Der Arzt wird ihre Mutter anrufen. Jemand aus ihrer Familie muss hierher kommen und sie identifizieren.« Das war’s dann also. Alle meine Freunde waren weg. Unseren Stamm Asphalt Tribe gab’s nicht mehr. Die einzigen Leute auf der Welt, die mir nicht egal waren, und die einzigen Leute, denen ich nicht egal war. Vor einem Monat waren wir noch alle zusammen. Jetzt war keiner mehr übrig. Nur ich. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich kam gar nicht auf die Idee, dagegen anzukämpfen. Ich stand einfach da und weinte. Jemand nahm mich in die Arme. Ich fühlte Anthonys weichen braunen Mantel an meinem Gesicht. Ja, er war einer von den Netten. Aber früher oder später würde er mich auch allein lassen. Alle ließen mich allein. »Na komm, Maybe, gehen wir.« Ich ließ mich von ihm aus der Polizeiwache und in die kalte Dunkelheit führen. »Hunger?«, fragte Anthony.

Ich schüttelte den Kopf und schmeckte die schmutzigen Tränen, die mir in die Mundwinkel rannen. »Ja, das habe ich mir schon gedacht«, sagte Anthony. »Entschuldige, das war eine dumme Frage.« »Schon gut«, sagte ich und schniefte. Wir gingen los. Wahrscheinlich wussten wir beide nicht, wo wir eigentlich hingehen sollten. »Sieh es am besten vielleicht so: Du hast Glück gehabt«, sagte Anthony. »Aus irgendeinem Grund bist du verschont geblieben. Du allein hast noch einmal eine Chance bekommen. Man könnte fast meinen, jemand beschützt dich, Maybe.« Beschützt mich? Ich sah nach oben. Es war dunkel, aber die Lichter der Stadt beleuchteten die tief hängenden Wolken. Konnte das sein? Es war schwer zu glauben. Vielleicht ja doch, man kann nie wissen. Wir gingen weiter. Anthony sagte nichts mehr. Wir bogen um eine Ecke. »Was ist das?«, fragte Anthony. Auf dem Gehweg auf der anderen Straßenseite stand eine lange Warteschlange. Die Leute waren alle herausgeputzt, rauchten und unterhielten sich. »Die warten, um in den Club reinzukommen.« »Wo ist der denn?« Anthony sah die Straße hinunter. »Hinter der nächsten Ecke. Der Club heiß Cradle.« »Der muss ja riesig sein, wenn da so viele Leute reingehen.« »Geht so. Die Hälfte von denen kommt gar nicht rein.« Anthony und ich gingen auf der anderen Straßenseite an den Wartenden vorbei. »Ich gebe mir große Mühe, nichts von dem zu sagen, was du von einem Bibliothekar in meinem Alter erwarten könntest«, sagte Anthony, ohne den Blick von den kostümierten und geschminkten Leuten abzuwenden. »Ich werde dich nicht fragen, wer von diesen Gestalten männlich oder weiblich ist. Ich werde nicht fragen, wie sie es schaffen, um Mitternacht

auszugehen und morgens rechtzeitig zur Arbeit aufzustehen. Ich werde nicht fragen, warum manche von ihnen so jung aussehen und warum…« Den Rest hörte ich nicht mehr, weil ich ein Gespenst gesehen hatte.

ACHTUNDZWANZIG

»Tears?« Ich konnte nicht glauben, was ich da sah, aber sie war es, ganz sicher. Ich rannte über die Straße auf sie zu. Tears blickte in meine Richtung und starrte mich mit großen Augen an. Sie trug eine schwarze Lederjacke, einen engen schwarzen Rock und hohe schwarze Stiefel. Jemand hatte ihr diesen Look verpasst, damit sie wie einundzwanzig aussah und nicht wie zwölf. »Du lebst! Ich kann’s nicht fassen!«, platzte ich heraus. »Wir dachten, du bist von einem Lastwagen überfahren worden!« Aber anstatt zu lächeln oder zu lachen, runzelte sie nur die Stirn. Ich wurde langsamer, blieb vor ihr stehen und senkte die Stimme. »Was ist? Stimmt was nicht?« »Geh«, flüsterte sie. »Warum?« »Wenn er zurückkommt und dich sieht, wird er stinksauer.« »Wer? Jack?«, fragte ich. »Wer ist Jack?« »Der Typ, den wir hier letztes Mal gesehen haben.« »Der doch nicht. Ein anderer.« Ich betrachtete sie genauer. Ihre Haare glänzten frisch gewaschen und ihr Make-up war kein bisschen verschmiert. Die Jacke war so neu, dass man das Leder noch riechen konnte. »Und ich heiße auch nicht mehr Tears«, sagte sie. »Ich heiße jetzt Lacey.« Eine Hand packte mich am Arm und schleuderte mich herum. Es war der kleine stämmige Mann mit dem rasierten Schädel und den Diamantsteckern in den Ohren. Der mich, als ich das

letzte Mal im Cradle gewesen war, an die Theke gestoßen hatte. Sein langer Ledermantel stand offen, darunter trug er ein schwarzes T-Shirt. »Was willst du?« »Ich bin ihre Freundin«, sagte ich. »Sie hat keine Freundinnen, außer wenn ich es sage.« Sein Griff um meinen Arm verstärkte sich, genau wie beim letzten Mal. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er soll sich mal was Neues ausdenken. »Nikki!«, rief jemand. »Nikki!« Es war Anthony. Er stürzte auf Tears zu und umarmte sie. »Ach, Kleines, was bin ich froh, dass ich dich gefunden habe! Was machst du denn hier? Deine Mom und ich haben uns solche Sorgen gemacht. Wir dachten schon, wir würden dich nie mehr wieder sehen.« Der stämmige Mann mit den Diamanten im Ohr ließ meinen Arm los. »Hey, hey! Wer sind Sie denn?« »Ich bin ihr Vater«, sagte Anthony. »Und wer sind Sie?« Der Stämmige war total verwirrt. »Sie können nicht ihr Vater sein.« »Ach nein?«, fragte Anthony laut. »Sie sind wohl Rassist oder was?« Die anderen Leute in der Schlange begannen sich nach uns umzudrehen. »Immer mit der Ruhe«, sagte der Typ. »Sie heißt Nikki Frimer, sie kommt aus West Virginia, und ich bin ihr Vater.« Anthony nahm Tears noch einmal in die Arme. Er spielte seine Rolle wirklich verdammt gut, das musste man ihm lassen. Vielleicht hätte er Schauspieler werden sollen, nicht Bibliothekar. »Nikki, Kleines, ich weiß, wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, aber deine Mom und ich haben solche Angst bekommen, als du weggelaufen bist. Ich verspreche dir, von jetzt an wird alles besser werden. Wenn irgendetwas nicht stimmt, sag es uns einfach. Wir werden dir

zuhören. Du brauchst auch nicht bei uns zu wohnen, wenn du nicht willst. Ich habe mit deiner Großmutter gesprochen. Sie sagt, es wäre kein Problem, wenn du bei ihnen wohnen willst.« Tears’ Augen wurden so groß wie nur was. Sie sah mich an und ich flüsterte: »Das stimmt.« »Vielleicht will sie gar nicht nach West Virginia zurück«, sagte der Mann mit dem rasierten Schädel. »Vielleicht will sie hier bleiben.« »Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber meine Tochter ist zufällig erst dreizehn Jahre alt«, sagte Anthony wütend. »Wissen Sie, was man mit Männern macht, die kleine Mädchen ausnutzen?« Er griff in seine Tasche und zog ein Handy hervor. »Vielleicht möchten Sie sich das mal von der Polizei erklären lassen.« Der Mann hob hastig die Hände. »Moment. Moment. Okay, ich sehe, wo Sie herkommen.« »Und ich sehe, wo Sie hingehen.« Anthony zeigte mit dem Handy die Straße hinunter. »Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich sehr schnell gehen.«

NEUNUNDZWANZIG

Diese Nacht blieben wir in Anthonys Wohnung. Im Wohnzimmer stand ein Fernseher in einem schwarzen Schrank, davor ein blaues Sofa und ein Couchtisch. Zwischen den Bücherregalen hingen gerahmte Bilder an den Wänden. Und es gab auch Vorhänge vor den Fenstern. Ich konnte mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Zimmer mit Vorhängen gewesen war. Alles war sehr sauber und ordentlich. »Wartet hier«, sagte Anthony und verschwand im Flur. Wir warteten. Tears sah sich etwas in einem der Bücherregale an. Eine kleine blaue Schildkröte mit funkelnden roten Augen. So wie die roten Augensteine glänzten, waren sie bestimmt wertvoll, dachte ich. Tears nahm die Schildkröte in die Hand und betrachtete sie genauer. Sie sah mich fragend an. »Nein«, sagte ich. »Warum?« »Weil er nett zu uns ist.« »Bis jetzt«, sagte Tears. »Wart’s nur ab.« »Nein, ich glaube, er ist wirklich anders als die anderen.« Sie stellte die Schildkröte wieder hin, gerade als Anthony mit zwei flauschigen Handtüchern wiederkam. »Hier. Damit könnt ihr euch nach dem Duschen abtrocknen.« Tears sah mich unsicher an. Ich hatte nicht gerade Lust, jetzt zu duschen, nahm aber an, dass Anthony großen Wert darauf legte. Immerhin war er ja ein ziemlicher Sauberkeitsfanatiker, der sich dauernd die Hände wusch und sogar das Telefon abgewischt hatte, nachdem Tears es benutzt hatte. Tears machte sich wahrscheinlich Sorgen, dass eine von uns mit Anthony allein wäre, wenn wir nacheinander duschen gingen.

»Komm«, sagte ich. »Wir gehen zusammen duschen.« Wir gingen ins Bad und schlossen die Tür ab. Das Bad war klein und mit grünen Fliesen ausgelegt. Es war so eng, dass wir uns beim Ausziehen mit den Ellenbogen anstießen. Ich griff über die Wanne und drehte den Duschhahn auf. Warmer Dampf füllte das Badezimmer. »Komm«, sagte ich. Wir stiegen in die Wanne. Das Wasser tat gut und wir seiften uns ein und wuschen uns gegenseitig die Haare. Meine waren immer noch ziemlich verfilzt, aber immerhin wurden sie sauber. Ich spülte mir den ganzen Schmutz von der Haut, und Tears wusch sich die Schminke aus dem Gesicht, und dann waren wir keine Straßenkinder mehr. Das heißt, wir sahen jedenfalls nicht mehr wie welche aus. Das warme Wasser tat so gut, dass wir weiterduschten, bis unsere Finger ganz schrumplig waren. Als wir endlich genug hatten, trockneten wir uns mit den flauschigen Handtüchern ab. »Und jetzt?«, fragte Tears. »Pass auf.« Ich wickelte das Handtuch um mich herum und steckte es fest. Dann gingen wir zurück ins Wohnzimmer. Anthony hatte den Couchtisch zur Seite geschoben und das Sofa zum Bett aufgeklappt. »Sollen wir hier schlafen?«, fragte ich. »Nein«, antwortete er. »Hier werde ich schlafen. Ihr zwei nehmt das Schlafzimmer. Das Bett ist größer und weicher als das hier.« Tears und ich gingen durch den Flur zum Schlafzimmer. Die Bettdecke war schon aufgeschlagen. Anthony hatte zwei sorgfältig gefaltete weiße T-Shirts darauf gelegt. Tears nahm eins. »Was soll das?« »Wahrscheinlich sollen wir die zum Schlafen anziehen«, sagte ich. Tears zog sich das T-Shirt über den Kopf und schloss dann die Tür ab. Ich hatte nichts dagegen. Selbst bei einem Mann

wie Anthony konnte man sich nicht hundertprozentig sicher sein. So war das einfach mit Erwachsenen. Man konnte sich nie sicher sein. Ich kroch ins Bett und Tears legte sich neben mich. Mein Kopf sank aufs Kissen, mein Körper schmiegte sich in die Matratze. Das Laken war weich und glatt. Neben Tears brannte eine kleine Lampe auf dem Nachttisch. »Gute Nacht, Maybe.« Sie gähnte und streckte die Hand nach der Lampe aus. »Nicht«, sagte ich. »Hast du Angst?« »Angst, dass ich einschlafe«, sagte ich. Das Bett fühlte sich so gut an, so warm und gemütlich. Das war das zweite Mal in zwei Wochen, dass ich in einem richtigen Bett lag. In meinem Kopf hörte ich Maggot nörgeln, dass ein weiches, warmes Bett ihm einfach zu spießig sei. Sehr witzig. Als ich an seine gut gekleideten Eltern und das teure Auto dachte, wurde ich ein bisschen wütend. Er war der größte Spießer von allen. Bloß ein Postkarten-Punk, der mit seinem aufgesetzten Gerede von Klassenkampf und Revolution mal einen draufmachen will. Na, im Augenblick war mir das jedenfalls völlig egal. Ich genoss es einfach nur, in diesem wunderbaren Bett zu liegen.

DREISSIG

Am nächsten Morgen weckte uns Anthony und wir gingen zum Frühstücken in einen Coffeeshop in der Nähe seiner Wohnung. Als wir bestellt hatten, sagte er, dass er noch schnell was erledigen müsste, und ließ uns allein. Nach einer Weile fragte ich mich, ob er überhaupt noch zurückkommen würde, aber dann fuhr er draußen mit einem Mietwagen vor. Die Fahrt nach Hundred in West Virginia dauerte acht Stunden und wir hörten die ganze Zeit Radio. Tears und ich saßen hinten und sagten Anthony, wann er den Sender wechseln sollte. Ich glaube, wir haben keinen einzigen Song gehört, der Anthony gefallen hat. Er stand mehr auf Opern und so was würden wir uns natürlich keine Sekunde freiwillig anhören. Der Mietwagen war mit einem Navigationssystem ausgestattet, das uns direkt zu dem Wohnwagenplatz brachte, wo Nikkis Großeltern lebten. So große Wohnwagen, wie dort standen, hatte ich noch nie gesehen. Manche waren groß wie Häuser und hatten betonierte Zufahrten und Swimmingpools. Vor anderen standen Vogelhäuschen und Basketballkörbe, und obwohl es erst Mitte Januar war, konnte man sehen, wo die Gärten und Blumenbeete waren. Auf einigen Rasen standen sogar noch Plastikrentiere und Weihnachtskrippen. Anthony parkte das Auto neben einem weißen Wohnwagen mit grünen Zierstreifen und einer roten Tür. Aus einem Vogelhäuschen, das auf einem Pfahl neben der Einfahrt stand, flatterten Vögel auf. Ein paar kleine Büsche im Garten waren mit Säcken zugedeckt und neben der Tür bimmelte ein Glockenspiel leise im Wind.

Die Tür ging auf und eine kleine Frau mit roten Wangen und grauen Haaren kam heraus. »Nikki!«, rief sie. Wir saßen noch im Auto. Tears sah mich mit diesen großen runden Augen an, die sie immer machte, wenn sie überrascht war oder Angst hatte. Auf der Fahrt hatten wir viel Spaß gehabt, aber jetzt wirkte sie plötzlich sehr nervös. »Geh schon«, sagte ich leise. Tears nahm einen Finger in den Mund und kaute auf dem Nagel herum. »Das ist deine Oma«, sagte ich. »Die beißt nicht.« Tears schob langsam die Tür auf. Und gleich darauf wurde sie von ihrer Großmutter in die Arme genommen. »Ach Nikki, Nikki«, rief sie. »Wir dachten, du bist tot. Ein Polizist aus New York hat angerufen und gesagt, du wärst von einem Lastwagen überfahren worden.« Anthony drehte sich vom Steuer zu mir um. »Wir sollten den beiden etwas Zeit lassen.« Ich nickte. Draußen strömten der alten Frau die Tränen übers Gesicht und sie wollte ihre Enkelin gar nicht mehr aus ihren Armen lassen. Ein wenig später stiegen wir aus und Tears stellte uns ihrer Oma vor, sie hieß Emma, und während sie sich die Tränen aus den Augen wischte, dankte sie uns immer wieder, dass wir ihre Enkelin nach Hause gebracht hatten. Ich glaube, sie meinte es wirklich ernst. Dann bat sie uns hinein. Sie versuchte Tears’ Mutter anzurufen, um ihr zu sagen, dass es Tears gut ging, aber da meldete sich niemand. Wir saßen in der Küche des Wohnwagens. Am Fenster hingen weiße Vorhänge und dazwischen standen kleine Blumentöpfe. Nikkis Opa schlurfte an seinem Stock herein. Er war groß und ging gebeugt und hatte eine Hakennase. Emma stellte uns Kekse, Tee und Milch hin. Sie erzählte von den Gurken, Zucchini und grünen Bohnen, die sie im vorigen

Sommer in ihrem Garten gezogen hatte, und von der Auszeichnung, die sie auf der Landwirtschaftsmesse für ihren Erdbeer-Rhabarberkuchen bekommen hatte. Sie erzählte von den neuen Arzneien, die ihrem Mann sehr helfen würden und dafür sorgten, dass er nicht mehr so stark zitterte. Sie wirkte sehr glücklich, aber auch nervös. Tears sagte kein Wort. Emma fragte sie nicht nach New York. Sie sprach auch nicht von Tears’ Mutter und Stiefvater, und sie fragte nicht, was Tears tun wollte, jetzt wo sie wieder zu Hause war. Sie gab sich große Mühe, dass Tears sich wohl fühlte, aber sie redete einfach zu viel. Anthony trank seinen Tee aus und auch ich war mit meiner Milch und den Keksen fertig. Fast ein ganzer Tag war vergangen und ich hatte nicht ein einziges Mal Bauchschmerzen gehabt. Trotzdem wollte ich jetzt gehen. In dem Wohnwagen war es viel enger, als es von außen aussah, und irgendwie wurde ich immer unruhiger und fühlte mich wie eingesperrt. Tears zog die Stirn in Falten und biss auf ihrer Unterlippe rum. Es war klar, dass sie eine Riesenangst hatte, mit ihren Großeltern allein gelassen zu werden. »Wollen Sie wirklich nicht über Nacht bleiben und morgen gut ausgeschlafen losfahren?«, fragte Emma Anthony. »Platz genug haben wir.« Ich glaube, sie hatte Angst, dass Tears es sich wieder anders überlegen könnte und mit uns zurückfahren wollte. Aber vielleicht auch ein bisschen Angst, dass Tears bleiben würde. Anthony sah Tears fragend an. Wahrscheinlich wusste er nicht, was er sagen sollte. »Schon gut, Oma«, sagte Tears. »Sie haben einen weiten Weg. Es ist besser, wenn sie jetzt fahren.« »Meinst du wirklich?«, sagte ich. »Wir könnten auch noch bleiben.«

»Nein.« Tears schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass ich da jetzt durchmuss.« Ich sah sie erstaunt an. Ich glaube, bis dahin war mir nie klar gewesen, wie tapfer sie war. Sie und Emma begleiteten uns zum Auto hinaus. »Sehen wir uns mal wieder?«, fragte Tears. Ich musste schlucken. Wahrscheinlich war das nicht, das wusste ich irgendwie. Ich würde nach New York zurückgehen und sie würde hier bleiben. Die Entfernung wäre viel zu groß. Ich spürte einen Stich in der Brust. Das war also das Ende. Tears und ich waren allein übrig geblieben. Unser Stamm Asphalt Tribe hatte nicht überlebt. Ich konnte immer noch kaum glauben, was aus uns allen geworden war. Nur dass ich dabei gewesen war, das wusste ich. Ich hatte alles miterlebt. Und überlebt. Aber warum hatte ich überlebt und 2Moro nicht? Oder Rainbow? Vielleicht gab es darauf gar keine Antwort. Vielleicht war das Leben nur Glückssache und sonst gar nichts. Tears wartete. »Ich ruf dich an«, sagte ich. Wir umarmten uns, dann nahm Emma mich in die Arme und sagte mit Tränen in den Augen: »Ich kann dir gar nicht genug danken, dass du Nikki nach Hause gebracht hast.« Anthony und ich stiegen ins Auto und fuhren rückwärts aus der Einfahrt. Ich kurbelte das Fenster runter und winkte, bis Tears nicht mehr zu sehen war. Dann drehte ich mich nach vorne um und starrte auf die Straße. Sie waren weg. Tears, Rainbow, Maggot, Jewel, 2Moro, OG, Pest und Country Club. Einfach verschwunden. Zwei nach Hause zu Menschen, die sie liebten, zwei ins Krankenhaus oder Irrenhaus und vier in namenlose Gräber, wo kein Mensch sie jemals wieder finden würde. »Freust du dich für Tears?«, fragte Anthony.

»Kann sein.« »Bist du traurig?« »Es ist schön, Leute zu haben, die einen gern haben.« Anthony fuhr eine Zeit lang weiter, ohne etwas zu sagen. Wir kamen an vielen Bauernhöfen vorbei. An kahlen braunen Äckern und riesigen blauen Silos und Farmhäusern mit grauen Satellitenschüsseln in den Fenstern. »Maybe«, sagte er schließlich. »Zurzeit hast du niemanden, der dich so gern hat wie Emma deine Freundin Nikki. Vielleicht kann einem so etwas nur die eigene Familie geben, und wenn man keine Familie hat, muss man wohl darauf verzichten. Aber das heißt ja nicht, dass du dich nicht gern hast. Du hast in deinem Leben schon einige schlimme Sachen durchgemacht. Aber du kannst es immer noch schaffen.« Ich war mir nicht sicher, ob ich das hören wollte. Jedenfalls hatte ich etwas anderes im Kopf. »Kann ich das Radio anmachen?« Anthony seufzte. Wahrscheinlich graute ihm davor, weitere acht Stunden meine Musik zu hören. »Klar. Mach nur.« Ich drückte auf den Knöpfen herum, bis ich einen Song gefunden hatte. Als der Song vorbei war, fand ich einen anderen. Die Musik war wie Nahrung für meine Ohren. Wenn mir ein Song nicht gefiel, suchte ich mir einen anderen Sender. Es war so einfach und es machte solchen Spaß. Nach einer Weile sah ich zu Anthony hinüber. Er grinste. »Was ist denn so komisch?«, fragte ich. »Du kannst nicht genug davon kriegen, was?«, sagte er. »Das ist ein so simples Vergnügen, aber du kommst nicht davon los.« »Normalerweise kann ich mir meine Musik nicht aussuchen«, sagte ich. »Maybe, pass mal auf.« Anthony wurde ernst. »Wenn du irgendwo wohnen würdest – ich meine, irgendetwas mit einem

Dach über dem Kopf – könntest du so viel Musik haben, wie du willst. Du brauchst nur ein Radio. Gab’s in der Jugendwohngruppe keine Musik?« »Doch, ich glaub schon.« »Wenn du dort wohnen würdest, könntest du immer Musik hören.« Ich suchte mir einen anderen Song. Dort zu wohnen, das bedeutete, sich an diese blöden Regeln halten zu müssen, wann man isst und wann man schläft. Andererseits hätte ich dort immerhin ein Bett. Und ich müsste nicht mehr den ganzen Tag herumlaufen, um was zu essen zu besorgen. Die würden es mir einfach hinstellen. Es wurde allmählich dunkel. Anthony hielt das Steuer mit einer Hand. Die andere nahm er vor den Mund, als er gähnen musste. »Hunger?« »Mhm.« »Ich glaube nicht, dass wir die ganze Strecke bis New York heute Abend noch schaffen«, sagte er. »Vielleicht sollten wir in der Gegend von Lancaster Halt machen, was essen und uns ein Motel suchen. Und morgen weiterfahren.« »Okay.« Durch das Autofenster sah ich die Wolken rosa werden, dann lila und schließlich verschwanden sie in der Dunkelheit. Anthony gähnte noch einmal. »Maybe?« »Ja?« »Du hast mir nie gesagt, wie du richtig heißt.« »Jesse.« Anthony lächelte. »Das ist ein schöner Name. Also, Jesse, was wirst du machen, wenn wir wieder nach New York kommen?« Ich antwortete nicht. Ich weiß, er wollte nur freundlich sein. Aber was hätte ich schon sagen sollen? Ich wusste es einfach nicht. Draußen war es jetzt richtig dunkel. Ganz anders als in

der Stadt. Wir sahen nur noch die Scheinwerfer der Autos und die Schilder am Straßenrand. »Die Welt ist groß, Jesse«, sagte Anthony schließlich. »Es gibt viele Orte, an denen man leben kann, und viele Möglichkeiten, wie man leben kann. Du musst den Ort finden, der für dich richtig ist.« Auf einem hellgrünen Schild hoch über den Bäumen am Straßenrand stand irgendwas von Lancaster. Anthony lenkte den Wagen auf die Abfahrt und fuhr langsamer weiter. »Können wir ans Meer?«, fragte ich. »Was?«, fragte Anthony, als hätte er mich nicht richtig verstanden. »Ans Meer. Können wir da hinfahren?« »Wann?« »Morgen?« Anthony presste die Lippen zusammen. »Meinst du das ernst?« »Mhm.« »Na ja, auf der Rückfahrt müssen wir ja noch durch New Jersey. Warum möchtest du da hin?« »Einfach so.« »Es ist Winter, Jesse. Da wird es sehr kalt sein.« »Na und? Ich leb auf der Straße. Schon vergessen? Daran bin ich gewöhnt.« Wir schliefen in einem Motel. Anthony nahm ein Zimmer für sich und eins für mich. Am Vormittag fuhren wir nach Belmar in New Jersey. Es war ein kalter grauer Tag und Anthony fuhr durch den leeren Ort zu einem leeren Parkplatz. Neben dem Parkplatz war ein langer Gehsteig aus Holz, auf dem ein paar Bänke standen, und dahinter war der Strand, und dann waren da nur noch Wellen und so viel Wasser, wie ich noch nie gesehen hatte. »Und was jetzt?«, fragte Anthony und grinste verwirrt.

»Können Sie bis ans Meer ranfahren?«, fragte ich. »Warum fragst du?« »Keine Ahnung. Ich dachte, das wär vielleicht nicht erlaubt oder so. Kann ich hingehen?« Anthony starrte durch die Windschutzscheibe. Der Himmel war grau in grau, der Ozean etwas dunkler. Die riesigen Wellen zerschlugen am Strand zu schmutzig weißem Schaum. »Ja, geh nur.« Ich stieg aus. Ein eiskalter feuchter Wind kam vom Meer und fuhr mir direkt durch die Kleider. Es roch salzig und irgendwie nach Fisch. Ich biss die Zähne zusammen und ging über den Gehsteig zum Strand. Die Wellen krachten und schleuderten mir Schaum ins Gesicht. Meine Schuhe versanken im Sand, also zog ich sie aus und ließ sie an einer trockenen Stelle stehen. Ich ging bis dahin, wo der Sand vom Meerwasser ganz dunkel war und sich eisig um meine nackten Füße legte, aber das störte mich nicht. Wie der Detective gesagt hatte. Das war was anderes, als es im Fernsehen zu sehen. Hier war mehr dabei: fühlen und riechen, hören und schmecken. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Es war anders als alles, was ich je gesehen hatte. Eine große Welle krachte auf den Strand und ihre Ausläufer umspülten meine Knöchel. Das Wasser war eisig kalt und meine Füße versanken noch tiefer im feuchten Sand. Meine Zähne klapperten, aber ich wollte nicht weg. Ich fühlte etwas, was ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Vielleicht hatte Anthony Recht. Vielleicht gab es viele Orte, an denen man leben konnte. Und auch viele Möglichkeiten, wie man leben konnte. Vielleicht sollte ich das eine oder andere mal ausprobieren. Aber eins wusste ich jetzt schon ganz genau – alles war besser, als auf der Straße zu leben. »Jesse?«

Ich drehte mich um. Anthony stand am Strand, die Hände tief in den Taschen vergraben. »Komm«, sagte er. »Bevor du noch krank wirst.« »Okay.« Ich ging den Strand hinauf. Meine Füße waren gefühllos und ich hörte gar nicht mehr auf zu zittern. Aber das Komische war, ich spürte, dass ich nicht krank werden würde. Im Gegenteil, es würde mir besser gehen.

NACHWORT Und in Deutschland?

Schockiert? Traurig? Oder eher wütend? Wer »Asphalt Tribe« von Morton Rhue liest, kann nicht teilnahmslos bleiben. Dieser Roman fordert seine Leserschaft, Ein Roman, eine Fiktion, eine erfundene Geschichte – gewiss, aber dennoch grausame Realität. Morton Rhue hat den Überlebenskampf einer Gruppe Jugendlicher in seiner tatsächlichen Brutalität wiedergegeben – ohne Übertretung und ohne Schönfärberei. Er beschreibt eindrücklich, wie sehr sich Straßenkinder in wohlhabenden Ländern trotz greifbarer Perspektiven selbst blockieren. Unweigerlich drängt sich dem Leser hier die Frage nach dem Warum auf. Wie erklärt sich diese Verschlossenheit der Jugendlichen gegenüber einer Verbesserung ihrer Lebensumstände und Zukunftsperspektiven? Warum quälen sich diese Straßenkinder so? Wer immer sich ernsthaft und intensiv mit obdachlosen Jugendlichen in den Metropolen der wohlhabenden Staaten beschäftigt, wird zwangsläufig mit genau diesem Phänomen – der Blockade in den Köpfen der Jugendlichen – konfrontiert, gleichermaßen in New York, London, Paris oder Berlin. Gewiss, auch Jugendliche, die sich hier zu Lande schon mehr als einige Wochen im Hauptstadtmilieu durchschlagen, haben meist gute Gründe, weswegen sie abgehauen sind: Misshandlungen, Missbrauch, emotionale Vereinsamung und völlig zerbrochene Familienverhältnisse sind in unterschiedlicher Kombination die »üblichen« Auslöser fürs

Weglaufen – was ja an und für sich ein recht mutiger Schritt ist und eine gewisse Entschlossenheit voraussetzt. Immerhin nehmen sich diese Jugendlichen in ihrer völlig verzweifelten Lage nicht das Leben oder finden sich damit ab, ihr Schicksal einfach zu ertragen. Nein, sie verzichten stattdessen auf jedes Minimum an Lebensstandard – wie Heizung, Bett, Toilette und regelmäßiges Essen – und nehmen ihre Lebensplanung selbst in die Hand. Das traut sich mancher Erwachsene nicht. Und die Erwachsenen, von denen sie enttäuscht wurden, hätten ihnen diese Konsequenz wohl kaum zugetraut. Sie haben es ihnen »gezeigt«. Mit diesem Hochgefühl des Triumphes machen sie sich auf in eine ungewisse Zukunft. Es hat sich gezeigt, dass in den Großstädten vor allem Jugendliche aus mittelständischen bis wohlhabenden Verhältnissen eintreffen, weniger aber aus sozial schwachen Haushalten. In Deutschland ist soziale Verarmung nur selten der Auslöser für die Flucht auf die Straße. Viele der Jugendlichen, die von zu Hause abhauen, haben bereits häufiger verreisen dürfen und scheuen sich weniger davor, weite Distanzen auf eigene Faust zu überwinden. Noch immer diesen Triumph im Kopf, treffen die Jugendlichen dann beispielsweise in Berlin ein. Und dort geht es erst einmal zum Bahnhof Zoo. Das hat sich seit »Christiane F.« nicht geändert. Breitscheidplatz und Alexanderplatz folgen. Irgendwo werden sich schon Gleichgesinnte finden. Und die warten bereits, die vielen guten Freunde mit all ihrem Verständnis, Und keinem geht es schlecht – schließlich gibt es ja immer noch jemanden, dem es bedeutend schlechter geht. Selbstverständlich ist auch niemand drogensüchtig, Klar wird dann und wann eine Pille eingeworfen oder auch mal Blech geraucht (Heroin auf Alufolie verdampft), aber abhängig – nein, das ist niemand. Alles im Griff. Dann schon lieber Bier

und Schnaps – damit vergnügt sich ja auch der Rest der Welt, Party, Freiheit, Vergnügen: Wenn es nur so wäre. Auch das Straßenleben gibt es nicht gratis. Ganz im Gegenteil. Die Hoffnung auf Zusammenhalt und Sozialromantik zerplatzt schon nach kurzer Zeit wie eine Seifenblase. Denn keiner der neuen Freunde hat wirklich darauf gewartet, ohne Gegenleistung andere durchzufüttern. Der väterliche Altpunker vom Bauwagenplatz beispielsweise der sich seit Tagen so herzlich um die Vierzehnjährige kümmert: Einen seiner Welpen hat er ihr geschenkt, damit sie nicht so einsam ist. Und in den Arm nimmt er sie auch, wenn sie mal wieder ganz traurig ist. Ihren Hund würde das Mädchen niemals wieder freiwillig hergeben. Zu sehr hat sie sich mit dem Tier angefreundet. Endlich jemand, dem sie ihren Kummer anvertrauen kann, jemand der sie versteht, jemand der auch alleine auf der Welt ist. Reingefallen. Das ist der Trick. Mit Hund wird die Kleine fast keine Chance haben beispielsweise in der Jugendhilfe unterzukommen. Sie muss also – des Hundes wegen – ihr Schicksal ganz wörtlich in die Hände des Altpunkers legen. Und der hat das, was er wolltet das Frischfleisch im Bett. Die Vierzehnjährige wird sich ihren Irrtum nicht eingestehen. Schließlich liebt sie den Altpunker ja. So alt ist er ja auch gar nicht – nur 25. Sie kann nicht ahnen, dass er sich ein Jahr später noch nicht einmal an ihren Namen erinnern wird. Und selbst dann wird sie ihn noch glorifizieren. Nicht anders ergeht es dem Fünfzehnjährigen, der in Hamburg eintrifft und keinesfalls wie ein »Penner« leben möchte. Das Punkerdasein kommt für ihn nicht in Frage. Er hatte ja auch Glück. Gleich am Hauptbahnhof hat er den netten 32-jährigen Mann kennen gelernt, bei dem er jetzt übernachten darf. Essen und Trinken gratis, Fernseher und Computerspiele, alles da. Zu dumm, dass es nur ein Bett gibt. Aber wenn man sich eng aneinander kuschelt, haben da auch zwei Platz.

Nach und nach geraten die Jugendlichen auf der Straße in einen tiefen Sumpf aus Abhängigkeiten und selbst erfundenen Wahrheiten. Nur wenige begreifen die Aussichtslosigkeit ihres Straßendaseins in den ersten Wochen. Und selbst, wenn das anfängliche Triumphgefühl längst verpufft ist, ist die Kehrtwende nicht selbstverständlich. Schon ein Anruf bei den Eltern wird immer unwahrscheinlicher: In den ersten Tagen erscheint es nur gerecht, wenn sich die Eltern sorgen; danach könnte man ja mal anrufen, aber irgendwie gibt es anderes zu tun. Allmählich wird es peinlich und das schlechte Gewissen wird zu groß. Wer hat schon Lust auf lange Diskussionen mit Eltern, denen man ohnehin nicht vertrauen kann? Also wird die angeblich so große Freiheit genossen. Freiheit! Mit ihrer Freiheit meinen Straßenkinder, dass sie zu jeder Zeit tun und lassen können, was sie wollen. Wie wahr: Sie können frei darüber entscheiden, ob sie heute an dem einen oder dem anderen Platz betteln gehen oder mit welchem Freier sie ins Bett steigen möchten – sofern der Bettelplatz noch nicht besetzt ist und noch genügend Freier anwesend sind. Sie tun sich unwahrscheinlich schwer damit, zu begreifen, dass ein gewisses Maß an tatsächlichen Freiheiten mit dem Erwachsenwerden eben nicht mehr vom Himmel fällt, sondern erarbeitet sein will. Sie verdrängen, dass sich ihre Startposition in unsere Leistungsgesellschaft mit jedem Tag auf der Straße ganz massiv verschlechtert. Anfangs stören Schulversäumnisse, dann kleinere Delikte wegen Schwarzfahrens oder Ladendiebstahls, dann häufig Alkoholprobleme und später Drogenabhängigkeit, Gefährliche Geschlechtskrankheiten, Aids und Hepatitis C werden zu unkalkulierbaren Stolpersteinen auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Alles zusammen nimmt nicht selten den letzten Funken Motivation.

Zunächst mag es ja mutig gewesen sein, sein Schicksal als Jugendlicher selbst in die Hand zu nehmen, aber viel schwieriger erscheint es, sich dann auch einzugestehen, den falschen Weg gewählt zu haben. Dabei darf den Jugendlichen kaum der Vorwurf gemacht werden, sie hätten ja einen anderen, klügeren Weg wählen können. Zu sehr fehlt es in Deutschland an Information für Jugendliche, wohin sie sich wenden können, wenn sie in schwierige familiäre Situationen geraten« Welcher Jugendliche ahnt schon, dass er sich auch anonym beim Jugendamt beraten lassen kann – und sogar noch eine Person seines Vertrauens mitbringen darf? Welcher Jugendliche weiß, wo sich das für ihn zuständige Jugendamt befindet? Schon deshalb haben Off-Road-Kids (www.offroadkids.de) und die Vodafone Stiftung Deutschland die Unterrichtsmaterialien »Das Buddy-Projekt« (www.buddyprojekt.de) entwickelt. Schüler sollen wissen, wo sie Hilfe finden und wie sie Mitschülern in Not helfen können. Wieso nur dürfen sich diese Kinder und Jugendlichen einfach so auf der Straße aufhalten, mag man sich beim Lesen des Romans von Morton Rhue fragen. Werden sie nicht gesucht? In den USA mag das ja noch vorstellbar sein, aber in Deutschland? Sind sie nicht wie andere Kinder auch schulpflichtig? Sind die Jugendämter nicht zur Fürsorge verpflichtet? Allerdings, aber meist ist das jeweils zuständige Jugendamt (am Wohnort der Eltern) viel zu weit entfernt von der Großstadt, in der sich der Jugendliche aufhält. Dann gibt es da noch das Prinzip der Freiwilligkeit. Jugendliche – und das ist grundsätzlich auch nicht falsch – sollen sich freiwillig für eine Jugendhilfemaßnahme, also beispielsweise die Aufnahme in eine betreute Jugendwohngruppe, entscheiden dürfen. Doch greift dieses Prinzip der Freiwilligkeit bei manchen Straßenkindern nicht. Sie drücken sich davor, Zukunftsentscheidungen zu treffen, oder sie sind gar nicht in

der Lage dazu. Wer wird denn von einem dreizehnjährigen heroinsüchtigen Mädchen ernsthaft erwarten, dass sie selbst die Motivation aufbringt, freiwillig ihren Lebenswandel zu ändern? Das Hoffen auf Freiwilligkeit kommt stattdessen der Sterbehilfe gleich. Zumindest in diesem Bereich wird die professionelle Jugendhilfe umdenken müssen. Es ist eindeutig sinnvoller, einen unwilligen Jugendlichen in einer geschlossenen Klinik zu entgiften und zu therapieren, als darauf zu warten, dass er sich auf der Straße – unter dem Vorwand des Freiwilligkeitsanspruchs – mit lebensbedrohlichen Krankheiten infiziert und allmählich dahinstirbt. Alles chancenlos? Nein. Die Dimension in Deutschland ist überschaubar: Jährlich gibt es hier zu Lande zwischen eineinhalb- und zweieinhalbtausend Minderjährige, die länger als zwei Wochen »abgängig« sind – manche von ihnen aber auch wesentlich länger. Es sind übrigens gleichermaßen Mädchen wie Jungen; die meisten sind 16 Jahre und älter. Auf die Frage, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, antworten nahezu alle, dass sie einen Schulabschluss wollen, einten festen Beruf und eine Wohnung haben möchten. Alles in allem sehr bürgerliche Vorstellungen also – auch wenn das so auf der Straße kaum ein Straßenkind zugeben würde. Doch Wunschdenken und an der eigenen Zukunft mitzuarbeiten, sind zweierlei Paar Stiefel. Träumen ist schön, arbeiten ist anstrengend. Und weshalb sollte sich ein Jugendlicher anstrengen, wenn er niemanden kennt, der stolz auf ihn wäre? Alles Jammern hilft den Jugendlichen nicht weiter, Angesichts leerer Sozialkassen wird es nicht mehr lange dauern, bis junge Erwachsene keine Sozialhilfe mehr erhalten. Zudem verschärft sich der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zusehends. Für Jugendliche, deren turbulenter Lebenslauf keine Empfehlung ist – und dazu gehören Straßenkinder

allemal – bleibt nur ein ernsthafter Weg, den Sprung in ein einigermaßen geregeltes Leben zu schaffen: Sie müssen in kurzer Zeit mehr Leistung bringen als ihre Altersgenossen. Sie müssen potenziellen Ausbildern mit guten Abschlusszeugnissen und Berufspraktika beweisen, dass sie leistungsbereit sind. Das schaffen die nie? Aber sicher schaffen die das! Wenn Off-Road-Kids seit 1993 etwas bewiesen hat, dann dies: Monat um Monat hilft das von der Vodafone-Stiftung und der Deutschen Bahn AG finanzierte Off-Road-KidsStreetworkteam in Berlin gestrandeten Jugendlichen aus ganz Deutschland dabei, neue Perspektiven zu erarbeiten. Häufig begleiten die Streetworker Jugendliche auch über weite Entfernungen per Bahn zu deren Eltern und Jugendämtern und klären dort die Situation. Auch anschließend können Jugendliche, Eltern und Betreuer den Kontakt zu den Straßensozialarbeitern von Off-Road-Kids aufrechterhalten – was sich in Krisensituationen schon häufig sehr bewährt hat. Motivierte Jugendliche, die in ihrem Heimatgebiet keine Perspektive finden, können in der intensiv betreuten, leistungsbetonten Off-Road-KidsJugendwohngruppe in Bad Dürrheim im Schwarzwald Schulabschlüsse nachholen – oft mit großem Erfolg. Inzwischen halt sich die Anzahl der erreichten Hauptschulabschlüsse mit der Zahl der Realschulabschlüsse und anderer höherer Schulabschlüsse die Waage, Straßenkinder sind also doch nicht grundsätzlich »jugendhilferesistent« und »unbeschulbar«. Allerdings bedarf es nicht selten immens großer Überzeugungsarbeit, bis Straßenkinder ihre Situation realistisch einzuschätzen lernen und sich motivieren lassen, die eigene Zukunft tatsächlich vorteilhaft zu gestalten. Vor allem müssen sie zügig lernen,

sich mit Schwierigkeiten direkt auseinander zu setzen, anstatt davor zu fliehen. Von Markus Seidel, Autor des Buches »Straßenkinder in Deutschland« (Ullstein, 2002) und Vorsitzender der in Deutschland tätigen StraßenkinderHilfsorganisation Off-Road-Kids (www.offroadkids.de)