Ben Hur

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LEWIS WALLACE

BEN HUR ROMAN

IM BERTELSMANN LESERING Ungekürzte Ausgabe Deutsch von Alfred Günther Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering mit Genehmigung des Blüchert-Verlages, Stuttgart © Blüchert-Verlag, Stuttgart Ausstattung G. Ulrich Gesamtherstellung Mohn & Co GmbH, Gütersloh Printed in Germany • Buch Nr. 797

Als »Ben Hur« 1880 erstmals erschien, war einer der größten Bestseller der Weltliteratur geboren. Das abenteuerliche Leben des Judah Ben Hur – in Jerusalem von einem Freund denun­ ziert, zur Fronarbeit als Galeerensklave verurteilt, nach Rom entkommen, dort zu Ruhm und Ansehen gelangt und nach einer Begegnung mit Jesus zum Christentum bekehrt – begeisterte Generationen von Lesern. Der Historienschmöker über den Niedergang des alten Roms und die frühen Tage des Christen­ tums wurde in unzählige Sprachen übersetzt und 1959 mit Charlton Heston in der Hauptrolle in unvergeßlicher Weise verfilmt. Non-profit-ebook by tg/flo, 2002; kein Verkauf!

Erstes Buch In die Wüste Der Dschebel es Zubleh ist ein Gebirgszug von mehr als fünfzig Meilen Länge und so schmal, daß er auf der Landkarte wie eine Raupe aussieht, die von Süden nach Norden kriecht. Wenn man auf seinen rot-weißen Felsen steht und nach Osten hinunterschaut, dehnt sich die Wüste Arabiens zu Füßen, wo sich die Ostwinde, die den Weinbauern von Jericho so gefähr­ lich sind, seit Ewigkeiten tummeln. Der Fuß der Gebirgskette ist ganz von Sand bedeckt, der vom Euphrat herübergeweht ist und dort liegenblieb; denn der Dschebel ist ein Wall vor dem Weideland von Moab und Ammon im Westen, das früher ein Teil der Wüste war. Die Araber haben ihre Sprache allem aufgeprägt, was südlich und östlich von Judäa liegt; in ihrer Sprache ist der alte Dsche­ bel Vater zahlloser Wadis, der Wasserrinnen, welche die römische Straße durchschneiden. Heute gibt sie nur noch eine schwache Vorstellung von dem, was sie einst war, sie ist nur noch ein staubiger Weg für die syrischen Pilger nach und von Mekka. Durch ihre Rinnen, die sich immer tiefer gegraben haben, stürzen in der Regenzeit die Gießbäche in den Jordan und in ihr letztes Sammelbecken, das Tote Meer. Aus einem dieser Wadis – oder, genauer gesagt, aus dem, der am äußersten Ende des Dschebel herauskommt und von Osten nach Norden das Bett des Jabbok-Flusses bildet – kam ein Wanderer hervor auf dem Wege zur Hochebene der Wüste. Seiner Erscheinung nach mochte er etwa 45 Jahre alt sein, sein einst tiefschwarzer Bart, der breit auf seine Brust niederhing, zeigte schon weiße Fäden. Sein Gesicht war braun wie ge­ 2



brannter Kaffee und fast ganz von einem roten Kufiyeh be­ deckt – wie das Kopftuch damals von den Söhnen der Wüste genannt wurde –, so daß es nur zu einem Teil sichtbar war. Dann und wann hob er die Augen, sie waren groß und dunkel. Er trug das weite faltige Gewand des Orients; man konnte es nicht genauer beschreiben, da er unter einem kleinen Zelt auf dem Rücken eines großen weißen Dromedars saß. Die Farbe und Größe des Tiers, die Breite seiner Füße, sein von Muskeln strotzender Körper, der lange, schwanengleich gebogene schlanke Hals, der zwischen den Augen ganz weiße Kopf, der spitz zum Maul lief und vom Armreif einer Dame hätte umspannt werden können, seine Bewegungen, sein langer und elastischer, sicherer und lautloser Gang – das alles kenn­ zeichnete sein syrisches Blut, dessen Ahnenreihe bis in die Tage des Cyrus reichte; es war ein ganz unschätzbares Tier. Es war wie üblich aufgezäumt mit roten Fransen auf der Stirn, einem Gehänge ineinander verbundener Ketten am Hals, die an jedem Ende ein klingendes silbernes Glöckchen trugen, aber ohne Zügel für den Reiter, ohne Riemen für den Treiber. Die Ausrüstung bestand aus zwei hölzernen Kästen, knapp vier Fuß lang, einer an jeder Seite des Dromedars, um die Last auszu­ gleichen. Der eine war weich gepolstert und mit Teppichen belegt und so eingerichtet, daß der Reiter sitzen oder halb zurückgelehnt liegen konnte. Darüber war eine grüne Zeltplane gespannt. Breite Rücken- und Brustriemen und Gurte, mit unzähligen Knoten und Schleifen befestigt, hielten das Ganze an seinem Platz. So hatten die einfachen Söhne von Cush verstanden, sich die sonnenglühenden Wege der Wüste, auf denen sie ihren Geschäften wie ihren Vergnügungen nachgin­ gen, bequem zu machen. Als das Dromedar aus dem letzten Einschnitt des Wadi her­ vorkam, hatte der Wanderer die Grenze von El Belka, dem alten Ammon, überschritten. Es war am frühen Morgen. Vor ihm stand die Sonne, halb vom flockigen Nebel verhüllt; vor 3



ihm dehnte sich die Wüste, nicht das Gebiet des treibenden Sandes, das lag weiter entfernt, sondern die Region, in der das Gras zu sprießen beginnt, wo die Fläche mit Granitblöcken bestreut ist, mit grauen und braunen Steinen, untermischt mit verschmachtenden Akazien und Bündeln von Kamelgras. Eiche, Dornbusch und Erdbeerbaum lagen dahinter, als wären sie bis zu einer Linie gekommen, von der sie in die wasserlose Wüste schauten und sich ängstlich duckten. Und nun waren Weg und Straße zu Ende. Das Dromedar schien noch rascher als bisher angetrieben zu werden, seine Schritte wurden länger und schneller, sein Kopf streckte sich fast waagerecht dem Horizont entgegen, durch seine weiten Nüstern trank es den Wind in großen Zügen ein. Das Zelt schwankte, es hob und senkte sich wie ein Boot auf dem Meer. Gelegentlich raschelten dürre Blätter unter den Füßen. Manchmal lag ein süßer Duft wie von Absinth in der Luft. Lerchen, Schmätzer und Mauerschwalben flogen auf, und weiße Rebhühner liefen pfeifend und gluckend über den Weg. Seltener beschleunigte ein Fuchs oder eine Hyäne den Lauf und beobachtete die Eindringlinge aus sicherer Entfernung. Zur Rechten erhoben sich die Hügel des Dschebel; ein perlgrauer Schleier lag darüber, der sich plötzlich in ein Purpurrot ver­ wandelte, das die Sonne etwas später unvergleichlich verdichtete. Über den höchsten Spitzen der Felsen zog ein Geier auf breiten Flügeln weite Kreise. Aber von allen diesen Dingen sah der Reiter unter seinem grünen Zelt nichts; oder er zeigte wenigstens nicht, daß er es sah. Seine Augen blickten starr und traumverloren. Es war, als ob der Mann und sein Tier unter einer unsichtbaren Führung dahineilten. Zwei Stunden trabte das Dromedar dahin, sein Schritt blieb gleichmäßig und seine Richtung nach Osten fest. Die ganze Zeit über änderte der Reiter seine Haltung nicht, er blickte weder links noch rechts. In der Wüste kann man die Entfer­ nung nicht nach Meilen messen, sondern nur durch die Saat, 4



die Stunde, und die Mazil, die Rast: drei und eine halbe Meile geben eine Stunde, fünfundzwanzig eine Rast, aber das ist die Entfernung, die ein gewöhnliches Kamel zurücklegt. Ein Dromedar echt syrischen Bluts kann leicht das Dreifache machen, in vollem Lauf ist es schneller als der Wind. Während dieses rasenden Rittes veränderte sich das Gesicht der Land­ schaft. Der Dschebel zog sich am westlichen Horizont wie ein blaßblauer Streifen hin. Ein Teil, ein Erdhügel aus Lehm und verhärtetem Sand, erhob sich hier und dort, dann und wann zeigten Basaltsteine ihre runden Köpfe, Vorposten des Gebir­ ges gegen die Mächte der Ebene; überall sonst war nur Sand, manchmal so eben wie ein flacher Strand oder rund wie ein Wellenrücken, bald wie kurze Wellen, bald wie schwerer Seegang. So wechselte auch die Atmosphäre. Die Sonne, die nun hoch stand, hatte den Tau und Nebel aufgetrunken und den Wind erwärmt, der den Wanderer unter dem Zeltdach umweh­ te; nah und fern schimmerte die Erde in einem matten milchweißen Schein, und der Himmel füllte sich mit Glanz. Wieder waren zwei Stunden ohne Rast vergangen, die Rich­ tung blieb die gleiche. Die Vegetation hatte gänzlich aufgehört. Hier regierte unbestritten der Sand, der an seiner Oberfläche so verkrustet war, daß er unter jedem Tritt in knirschenden Stük­ ken auseinanderbrach. Der Dschebel war außer Sicht gekommen, und nirgends war eine Wegmarke zu sehen. Der Schatten, der dem Reiter bis jetzt gefolgt war, hatte sich nach Norden verschoben und lief um die Wette mit den Gegenstän­ den, die ihn warfen. Genau zur Mittagsstunde blieb das Dromedar von selbst stehen und stieß einen Schrei aus, ein seltsames, mitleiderre­ gendes Stöhnen, wie es ein Tier tut, wenn es sich gegen eine zu große Last wehrt oder wenn es um Beachtung oder eine Ruhe­ pause fleht. Nun regte sich der Reiter und schien aus dem Schlaf zu erwachen. Er zog die Vorhänge der Houdah auf, schaute zur Sonne, betrachtete das Land nach allen Seiten 5



sorgfältig, als suche er einen bestimmten Platz. Seine Beobach­ tung schien ihn befriedigt zu haben, er atmete aus tiefer Brust: »Endlich, endlich!« Er nickte es mehr, als daß er es aussprach. Einen Augenblick später kreuzte er die Hände über seine Brust, beugte den Kopf und betete schweigend. Nachdem er seine fromme Pflicht erfüllt hatte, machte er sich bereit, von seinem Dromedar herunterzusteigen. Den Ton, den er ausstieß, das »Ikh, ikh!«, hatten gewiß schon die Lieblingstiere Hiobs gehört. Es war das Signal für das Dromedar, niederzuknien. Das Tier gehorchte, langsam und ächzend. Der Reiter stellte seinen Fuß auf den schlanken Hals und sprang in den Sand.

Zusammenkunft der Weisen Der Mann zeigte sich nun in seiner ganzen wohlgebauten Gestalt. Er war nicht sehr groß, aber kräftig. Nachdem er die silberne Schnur von seinem Kufiyeh gelöst und das Kopftuch von seinem Kopf genommen hatte, so daß man sein Gesicht erkennen konnte, sah man seine charaktervollen, fast schwar­ zen Züge, die niedrige, breite Stirn, die Adlernase, den schrägen Schnitt seiner Augen, das volle, glatte, starke, metal­ lisch glänzende Haar, das in langen Strähnen bis auf seine Schultern fiel – alles Zeichen seiner unmißverständlichen Abstammung. So sahen die Pharaonen aus und die letzten Ptolemäer, so Mizraim, der Ahnherr der Ägypter. Er trug das Kamis, ein baumwollenes, ärmelloses weißes Hemd, das vorn offen war. Vom Kragen bis zum Gürtel war es bestickt. Dar­ über hatte er einen braunen wollenen Rock, die Aba, und darüber ein langes Kleid mit kurzen Ärmeln, aus Wolle und Seide gemischt, rings mit einem Saum aus dunklem Gelb. An den Füßen trug er Sandalen, die von weichen Lederriemen gehalten wurden. Eine Schärpe umgürtete das Kamis. Überra­ 6



schend war, daß der Mann keine Waffen trug, obwohl die Wüste das Jagdgebiet der Leoparden und Löwen und ebenso der wilden Bewohner war. Nicht einmal den gekrümmten Stock hatte er bei sich, mit dem gewöhnlich die Kamele gelei­ tet wurden. Man mußte ihn für einen friedlichen Wanderer halten, der ungewöhnlich kühn war oder unter besonderem Schutz stand. Seine Glieder waren von dem langen, ermüdenden Ritt steif geworden; er rieb seine Hände und stampfte mit den Füßen, dabei umkreiste er sein schönes Tier, dessen glänzende Augen sich beim Wiederkäuen zufrieden schlossen. Oft hielt der Fremde in seiner Wanderung inne, stand still, hielt die Hände vor die Augen, um bis an den Rand der Wüste zu spähen; und immer, wenn er seine Ausschau beendet hatte, spiegelte sich eine leichte Enttäuschung in seinem Gesicht, als erwarte er jemanden, vielleicht sogar eine verabredete Begegnung, ob­ wohl man sich kaum vorstellen konnte, welcher Art eine Begegnung an diesem einsamen Platz, so weit entfernt von aller Zivilisation, sein mochte. Trotz seiner Enttäuschung schien der Fremde doch sicher, daß er nicht vergeblich wartete. Jetzt ging er jedenfalls zu seiner Kiste an der Seite des Dromedars, öffnete sie und entnahm ihr einen Schwamm und eine kleine Wasserflasche. Er wusch Augen, Gesicht und Nüstern des Dromedars, dann nahm er aus dem gleichen Behälter ein großes rundes, rot und weiß gestreiftes Tuch, ein Bündel langer Ruten und ein dickes Rohr. Mit Hilfe von Scharnieren verband er das Rohr mit den Stäben, breitete das Tuch darüber und war buchstäblich in seinem Hause, einem Haus, das zwar kleiner war als das der Emirs und Scheiks, aber doch ähnlich. Er holte noch einen viereckigen Teppich herbei und breitete ihn im Zelt nach der Sonnenseite zu aus. Danach hielt er noch einmal, noch sorgfäl­ tiger und mit noch lebhafteren Blicken Umschau nach allen Seiten. Bis auf einen Schakal, der in einiger Entfernung vor­ 7



überlief, und einen Adler, der in der Richtung des Golfs von Akaba flog, waren Wüste und Himmel leblos. Er wandte sich dem Dromedar zu und sagte leise in einer Sprache, die in der Wüste unbekannt war: »Wir sind weit von zu Hause, mein windschneller Renner, wir sind weit von zu Hause, aber Gott ist mit uns. Wir müssen uns gedulden.« Dann nahm er aus einer Tasche des Sattels ein paar Bohnen und hängte sie in einem Sack vor das Maul des Dromedars, und nachdem er gesehen, mit welchem Wohlbehagen der treue Diener sein Futter nahm, wandte er sich wieder seiner Aus­ schau in dieser Welt von Sand zu, die in der Glut der senkrecht stehenden Sonne lag. »Sie werden kommen«, sagte er ruhig. »Er, der mich geleitet hat, wird auch sie leiten. Ich will mich vorbereiten.« Aus den Taschen, mit denen sein Koffer angefüllt war, und aus einem Weidenkorb holte er alles für ein Mahl: Schüsseln aus dichtgewebten Palmfasern, Wein in kleinen Lederflaschen, getrocknetes und geräuchertes Hammelfleisch, steinlose Shami, syrische Granatäpfel, köstliche große Datteln aus El Shebeli, den Nakhil, den Palmengärten Zentralarabiens, Käse, ähnlich wie Davids »Milchschnitten«, und Hefebrot aus der Stadtbäckerei – das alles breitete er auf dem Teppich unter dem Zelt aus. Dazu legte er drei seidene Tücher, wie sie die Leute im Osten beim Essen benützen, womit er anzeigte, daß er zwei Gäste erwartete. Alles war nun fertig. Er richtete sich auf – und siehe da! Im Osten zeigte sich ein dunkler Fleck in der Wüste. Seine Augen weiteten sich, ein Schauer ging durch seinen Körper, als habe ihn etwas Übernatürliches berührt. Der Fleck wuchs, er wurde so groß wie eine Hand. Schließlich nahm er bestimmte Formen an, und etwas später wurde ein Doppelgänger seines eigenen Dromedars deutlich, das eine Houdah trug, das Reisezelt der Leute aus Hindustan. Da kreuzte der Ägypter die Hände vor der Brust und blickte zum Himmel auf. 8



»Gott allein ist groß!« rief er mit Tränen in den Augen, die Seele von Ehrfurcht erfüllt. Der Fremde kam näher, schließlich blieb sein Tier stehen. Auch er schien nun zu erwachen. Er erblickte das kniende Dromedar, das Zelt und den betenden Mann davor. Er kreuzte seine Hände, neigte den Kopf und betete schweigend. Danach sprang er vom Hals seines Tieres in den Sand und ging dem Ägypter entgegen, der sich ihm näher­ te. Einen Augenblick schauten sie einander in die Augen, dann umarmten sie sich, indem sie den rechten Arm auf die Schulter des anderen, den linken um den Leib legten und das Kinn erst links, dann rechts auf des anderen Brust drückten. »Friede sei mit dir, o Diener des wahren Gottes!« sagte der Fremde. »Und mit dir, o Bruder des wahren Glaubens! – Friede und Willkommen!« erwiderte der Ägypter inbrünstig. Der Ankömmling war groß und hager, sein Gesicht war ma­ ger, mit tiefliegenden Augen und von einer Farbe zwischen Zimt und Bronze. Haar und Bart waren weiß. Auch er war unbewaffnet. Er trug das Kleid der Hindustaner, sein Kopf war von einem Tuch vielfältig umwunden, es bildete einen Turban, sein Gewand ähnelte dem des Ägypters, nur die Aba war kürzer und ließ die weiten, an den Knöcheln festgebundenen Hosen sehen. Statt der Sandalen trug er Halbschuhe aus rotem Leder, die spitz zuliefen. Mit Ausnahme der Schuhe war er von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Die Erscheinung des Mannes wirkte vornehm, majestätisch und ernst. Visamitra, der größte der asketischen Helden der Iliade des Ostens, schien in ihm wiederverkörpert. Er mochte ein Leben lang mit der Weisheit Brahmas genährt worden sein – der menschgewordenen Liebe. In seinen tränenerfüllten Augen war, als er sich aus der Umar­ mung löste, ein Ausdruck tiefer Menschenliebe. »Gott allein ist groß!« rief er aus. »Und gesegnet alle, die ihm dienen«, antwortete der Ägypter und staunte über sein eigenes Wort. »Aber laß uns warten«, 9



fügte er hinzu, »laß uns warten, denn siehe, in der Ferne kommt der andere!« Sie schauten nach Norden, und dort kam tatsächlich ein drit­ tes Dromedar, ebenso weiß wie die beiden anderen, schwankend wie ein Schiff. Sie warteten, dicht beieinander, bis der neue Ankömmling abgestiegen war und ihnen entgegen­ kam. »Friede sei mit dir, o mein Bruder!« sagte er, als er den Hindu umarmte. Und der antwortete: »Gottes Wille geschehe!« Der Zuletztgekommene war ganz verschieden von seinen Freunden. Seine Gestalt war zarter, seine Gesichtsfarbe weiß, langes blondes Haar krönte seinen schmalen schönen Kopf, die Wärme seiner dunkelblauen Augen deutete auf ein weiches Gemüt und auf eine aufrichtige, rechtschaffene Natur. Sein Kopf war unbedeckt, auch er war unbewaffnet. Unter den Falten seines syrischen Überwurfs, den er mit unbewußter Grazie trug, erschien eine kurzärmelige, weitausgeschnittene Tunika, die bis zu den Knien reichte und mit einer Schnur gegürtet war. Arme, Hals und Füße waren bloß. Er trug Sanda­ len. Er mochte fünfzig Jahre alt sein oder älter, aber die Jahre hatten ihm nur Ernst und Charakter und seinen Worten Überle­ gung verliehen, die körperliche Konstitution und die seelische Klarheit waren davon unberührt. Jedermann erkannte sofort, woher er kam; wenn nicht er selbst, so stammten seine Vorfahren aus den Hainen von Athen. Als er seine Arme von dem Ägypter gelöst hatte, sprach dieser mit bebender Stimme: »Der Geist hat mich zuerst hierher geführt, daraus erkenne ich, daß ich zum Diener meiner Brüder auserwählt bin. Das Zelt ist aufgeschlagen, und das Brot ist bereit, gebrochen zu werden. Laßt mich meines Amtes walten!« Er nahm beide an der Hand, führte sie in das Zelt, löste ihre Sandalen und wusch ihre Füße, goß Wasser über ihre Hände und trocknete sie mit Tüchern. Nachdem er seine eigenen 10

Hände gewaschen hatte, sprach er: »Laßt uns nun dafür sorgen, Brüder, daß wir unsere Aufgabe erfüllen können, und essen, damit wir Kräfte sammeln. Während wir essen, wollen wir erfahren, wer die anderen sind, woher sie kommen und wie sie berufen wurden.« Dann bat er sie zum Mahl und setzte sie so, daß jeder den anderen ansehen konnte. Sie beugten gleichzeitig ihre Köpfe, kreuzten die Hände über der Brust und sprachen miteinander laut ihr einfaches Gebet: »Gott, unser aller Vater, was wir hier haben, kommt von dir, empfange unseren Dank und segne uns, damit wir fortfahren können, deinen Willen zu tun.« Während der letzten Worte hoben sie die Augen und sahen einander voller Verwunderung an. Jeder hatte in seiner Sprache gesprochen, welche die anderen nie gehört hatten, und doch hatte jeder vollkommen verstanden, was der andere gesagt hatte. Ihre Seelen waren von göttlicher Ehrfurcht durchschau­ ert, denn sie erkannten in diesem Wunder die Gegenwart Gottes.

Der Athener spricht – Glaube Diese Zusammenkunft fand nach der damaligen Zeitrech­ nung im 747. Jahre der Gründung Roms statt, im Monat Dezember. Rings um das Mittelmeer war Winter. Ein solcher Ritt in die Wüste zu dieser Jahreszeit pflegte Appetit zu ma­ chen, und die Gesellschaft unter dem kleinen Zelt machte davon keine Ausnahme. Sie waren alle hungrig und langten herzhaft zu. Nach dem Wein begannen sie zu erzählen. »Für einen Reisenden in einem fremden Land«, begann der Ägypter, »ist nichts so köstlich, als seinen Namen aus dem Munde eines Freundes zu hören. Vor uns liegen viele Tage der Gemeinschaft. Es ist Zeit, daß wir uns kennenlernen. So soll, 11

wenn es euch recht ist, der Zuletztgekommene als erster spre­ chen.« So begann, zuerst langsam, der Grieche zu reden, mit der ihm angeborenen Selbstbeobachtung. »Was ich zu erzählen habe, meine Brüder, ist so seltsam, daß ich kaum weiß, wo ich beginnen und wie ich es angemessen schildern soll. Ich verste­ he mich selber noch nicht, aber ganz gewiß bin ich, daß ich einen Höheren Willen vollziehe und daß dieser Dienst ein fortwährendes Entzücken ist. Wenn ich an die Aufgabe denke, die ich zu erfüllen habe, so erfüllt mich eine so unaussprechli­ che Freude, daß ich überzeugt bin, es ist der Wille Gottes.« Als der Mann schwieg, unfähig fortzufahren, senkten die anderen aus Mitgefühl ihre Blicke. »Weit von hier, im Westen«, begann er wieder, »liegt ein Land, das niemals vergessen werden wird, und sei es nur, weil die Welt ihm soviel schuldet, und zwar für Dinge, die der Menschheit die reinsten Freuden bringen. Ich will nichts von den Künsten, nichts von der Philosophie, der Beredsamkeit, der Dichtung, dem Kriegsruhm sagen – o meine Brüder, der Ruhm dieses Landes wird sein, daß es einst in seiner Sprache Ihn allen auf der Erde verkünden wird, den wir zu suchen ausgezo­ gen sind. Das Land, von dem ich spreche, ist Griechenland. Ich bin Kaspar, der Sohn des Cleanthes aus Athen. Mein Volk hat sich ganz dem Denken gewidmet, und ich habe diese Leiden­ schaft geerbt. Zwar unsere Philosophen lehren uns, der größte unter ihnen, daß der Mensch eine Seele besitzt und daß sie unsterblich ist, der andre, daß es nur einen Gott gibt, einen unendlichen, gerechten Gott. Aus der Unzahl von Themen, über die unsre Schulen disputieren, wählte ich mir die beiden aus, die mir allein einer Lösung würdig schienen. Denn ich erkannte, daß es eine Beziehung zwischen Gott und der Seele geben müsse, die bis jetzt noch nicht ergründet ist. Denkt der Geist über diese Beziehung nach, so erreicht er einen toten Punkt, eine unübersteigbare Mauer, und wenn man dort ange­ 12

kommen ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als laut um Hilfe zu rufen. So habe ich’s getan, aber über die Mauer kam mir keine Antwort. In meiner Verzweiflung floh ich die Städte und die Schulen.« Bei diesen Worten ging ein befriedigtes Lächeln über die hageren Züge des Hindu. »Im Norden meines Landes, in Thessalien«, fuhr der Grieche fort, »liegt ein Berg, der als Wohnsitz der Götter gilt, wo auch Zeus, den meine Landsleute für den höchsten Gott halten, seinen Sitz hat. Er heißt Olymp. Dorthin ging ich. Ich fand in einem Hügel, dort wo der Berg sich vom Westen nach Süd­ osten wendet, eine Höhle. Dort hauste ich, ganz der Meditation ergeben – nein, ich gab mich ganz auf, jeder Atemzug war ein Gebet um Offenbarung. Ich glaubte an Gott, den unsichtbaren, höchsten Gott, und ich hielt es auch für möglich, daß er mit meinem Flehen Erbarmen haben würde und sich mir offenba­ ren werde.« »Und er tat es – er tat es!« rief der Hindu aus und hob seine Hände von dem seidenen Tuch auf seinem Schoß. »Hört mich, Brüder«, sagte der Grieche und zwang sich zur Ruhe. »Der Eingang zu meiner Einsiedelei schaut über einen Meeresarm, den Thermäischen Busen. Eines Tages sah ich einen Mann aus einem vorüberfahrenden Segelschiff über Bord stürzen. Er schwamm ans Ufer, ich nahm ihn auf und pflegte ihn. Er war ein Jude, wohlbewandert in der Geschichte und den Gesetzen seines Volkes, und von ihm erfuhr ich, daß es den Gott meiner Gebete wirklich gibt und daß er seit Ewigkeit der Gesetzgeber, Herrscher und König der Juden ist. Was war das anders als die Offenbarung, nach der ich mich gesehnt hatte! Mein Glaube war nicht vergeblich gewesen, Gott hatte mir geantwortet!« »Wie er es allen tut, die ihn mit solchem Glauben rufen«, sagte der Hindu. »Aber, o weh«, warf der Ägypter ein, »wie wenige sind hier 13

weise genug, zu erkennen, daß er ihnen antwortet!« »Das war nicht alles«, fuhr der Grieche fort. »Der Mann, der mir gesandt wurde, sagte mir noch mehr. Die Propheten, sagte er, die vorzeiten nach der ersten Offenbarung mit Gott geredet hatten, erklärten, daß er wiederkommen werde. Er nannte mir die Namen der Propheten und führte mir ihre eigenen Worte aus den heiligen Büchern an. Und weiter sagte er mir, daß die zweite Ankunft Gottes auf Erden nahe sei und jetzt in Jerusa­ lem erwartet werde.« Der Grieche schwieg, und die Klarheit auf seinem Gesicht schwand. »Es ist wahr«, begann er wieder nach einer Weile, »es ist wahr, sagte mir der Mann, daß Gott und die Offenbarung, von der er gesprochen hatte, nur den Juden vorbehalten sei, und so wäre es auch jetzt. Er, der kommen soll, werde König der Juden sein. ›Wird Er nichts für die übrige Welt tun?‹ fragte ich. ›Nein‹, war die Antwort, die mit stolzer Stimme gegeben wurde, ›Nein, wir sind das auserwählte Volk.‹ Die Antwort vernichtete meine Hoffnung nicht. Warum sollte ein Gott seine Liebe und Wohltat einem Land und sogar nur einer Familie vorbehalten? Ich mußte Gewißheit haben. Schließlich über­ wand ich den Stolz des Mannes und erfuhr, daß seine Väter nur auserwählte Werkzeuge waren, um die Wahrheit lebendig zu erhalten, damit die ganze Welt sie schließlich erkenne und gerettet werde. – Als der Jude gegangen und ich wieder allein war, beruhigte ich meine Seele mit einem neuen Gebet, daß es mir erlaubt sein möge, den König zu sehen, wenn Er gekom­ men ist, und Ihn anzubeten. Eines Nachts saß ich vor dem Eingang meiner Höhle und quälte mich, den Geheimnissen meines Daseins näherzukommen und zu erkennen, was Gott ist. Plötzlich sah ich auf dem Meer unter mir – oder mehr in der Dunkelheit, die über dem Wasser war – einen Stern aufleuch­ ten. Langsam stieg er empor, kam näher und blieb über dem Hügel und über meiner Tür stehen, so daß sein Licht voll auf 14

mich fiel. Ich stürzte nieder und schlief ein. Und in meinem Traum hörte ich eine Stimme, die sagte: ›O Kaspar! Dein Glaube hat gesiegt! Du bist gesegnet! Mit zwei andern, die aus den fernsten Teilen der Erde herkommen, wirst du Ihn sehen, der verheißen ist, und Zeugnis für Ihn ablegen. Erhebe dich am Morgen, eile ihnen entgegen und vertraue dem Geist, der dich führen wird.‹ – Am Morgen wachte ich auf, und der Geist erleuchtete mich heller als die Sonne. Ich zog meine Einsied­ lerkutte aus und kleidete mich wie früher. Aus einem Versteck nahm ich mein Geld, das ich aus der Stadt mitgebracht hatte. Ich rief ein Schiff an, das vorüberfuhr, wurde an Bord genom­ men und landete in Antiochia. Dort kaufte ich dieses Dromedar und seine Ausrüstung. Durch die Obstgärten am Ufer des Orontes reiste ich über Emesa, Damaskus, Bostra und Phil­ adelphia bis hierher. Und das, o Brüder, ist meine Geschichte. Laßt mich nun die eure hören!«

Erzählung des Hindu – Liebe Der Ägypter und der Hindu schauten sich an, der erste winkte dem andern zu, und der Hindu begann: »Unser Bruder hat wohl gesprochen, mögen meine Worte ebenso weise sein!« Er brach ab und fuhr nach einer Weile fort: »Ich heiße Melchior, meine Brüder. Ich rede in einer Spra­ che, die, wenn nicht die älteste der Welt, doch die erste ist, die sich der Schriftzeichen bediente – ich meine das Sanskrit Indiens. Ich bin von Geburt Hindu. Mein Volk war das erste, das die Felder bestellte. Was immer auch hernach geschah, die vier Vedas mußten erhalten werden, denn sie sind die frühesten Quellen der Religion und des Wissens. Von ihnen stammten die Upa-Vedas ab, die, wie von Brahma überliefert wurde, 15

Medizin, Bogenschießen, Baukunst, Musik und die vierund­ sechzig mechanischen Künste lehrten; die Ved-Angas widmeten sich der Astronomie, der Grammatik, der Silbenmes­ sung der Verse, der Aussprache, der Zauberei, der Beschwörung, den religiösen Riten und Zeremonien, alles war ihnen von inspirierten Heiligen enthüllt worden. Die UpAngas, die von dem weisen Vyasa geschrieben worden sind, befassen sich mit der Kosmogonie, der Chronologie und Geographie; darin sind auch das Ramayäna und das Mahabhä­ rata, Heldendichtungen, die der Verewigung unserer Götter und Halbgötter gewidmet sind. Das, o Brüder, sind die großen Shastras oder die Bücher der heiligen Gesetze. Für mich sind sie nun tot, doch sie werden für alle Zeit den blühenden Genius meines Volkes darstellen. Sie waren Versprechen zu rascher Vervollkommnung. Fragt ihr, warum die Versprechungen fehlschlugen? Leider verschlossen die Bücher selbst alle Tore des Fortschritts. Unter dem Vorwand der Sorge für das Ge­ schöpf stellten ihre Verfasser das bedenkliche Prinzip auf, daß der Mensch sich nicht selbst der Entdeckung oder Erfindung widmen dürfe, da der Himmel ihm schon alles Nötige gegeben habe. Als diese Bedingung geheiligtes Gesetz wurde, versank die Lampe des Hindu-Genius in einem Brunnen, wo sie nur noch enge Mauern und bittere Wasser beleuchten konnte. Diese Andeutungen, Brüder, kommen nicht aus Stolz. Ihr werdet es verstehen, wenn ich auch sage, daß die Shastras einen höchsten Gott lehren, den Brahma, und daß uns die Puränas oder die heiligen Gedichte der Up-Angas von Tugend, guten Werken und von der Seele sprechen. So, wenn mein Bruder mir erlaubt – der Sprecher verneigte sich ehrerbietig gegen den Griechen –, hatten in den Sagenzeiten, ehe die Griechen bekannt waren, die großen Ideen von Gott und der Seele schon alle Kräfte des Hindu-Geistes erschöpft. Laß mich noch sagen, daß Brahma in denselben heiligen Büchern als eine Dreiheit dargestellt wird: Brahma, Vishnu und Shiva. Brahma 16

soll der Stammvater unseres Volkes sein, das er im Verlauf der Schöpfung in vier Kasten teilte. Zuerst bevölkerte er die Welt hienieden und die Himmel darüber, dann bereitete er die Erde für irdische Geister, dann ließ der Brahma aus seinem Munde die höchsten und edelsten, einzigen Lehrer der Vedas hervor­ gehen, die ihm am ähnlichsten waren; sie sprangen von seinen Lippen in vollkommenem Zustand, vollkommen ausgebildet in allen nützlichen Kenntnissen. Dann entsprangen aus seinen Armen die Kshatriya oder Krieger, aus seiner Brust, dem Sitz des Lebens, kamen die Vaisya oder Erzeuger, Schäfer, Bauern, Kaufleute, aus seinen Füßen, als Zeichen der Erniedrigung, sprang der Sudra oder Sklave, dazu verurteilt, den anderen Klassen als Leibeigener, Diener, Arbeiter und Handwerker zu dienen. Bedenkt ferner, daß das Gesetz, das mit ihnen geboren war, dem Mann einer Kaste versagte, Mitglied einer anderen zu werden. Brahma konnte keine schlechtere Ordnung schaffen: wenn ein Mann die Gesetze seiner Kaste übertrat, wurde er ausgestoßen und durfte nur mit anderen Ausgestoßenen leben.« An dieser Stelle rief der Grieche aus: »In einem solchen Staat, o Brüder, ist ein liebender Gott notwendig!« »Ja«, fügte der Ägypter hinzu, »ein liebender Gott wie der unsre!« Die Brauen des Hindu zogen sich schmerzvoll zusammen. Als er seine Erregung überwunden hatte, fuhr er mit sanfter Stimme fort: »Ich bin als Brahmane geboren. Mein Leben war bis in seine letzte Handlung, bis in die letzte Stunde vorgeschrieben. Mein erster Tropfen Nahrung, die Verleihung meines zusätzlichen Namens, mein erster Schritt in die Sonne, meine Einkleidung mit dem dreifach gewebten Tuch, wodurch ich einer von den Zweimal-Geborenen wurde, meine Einweisung in die erste Ordnung – das alles wurde mit heiligen Texten und strengen Zeremonien festlich begangen. Ich konnte nicht gehen, essen, trinken oder schlafen ohne Angst, eine Regel zu übertreten. 17

Und die Strafe, o Brüder, die Strafe wurde meiner Seele aufer­ legt! Je nach dem Grade meiner Unterlassung ging meine Seele in einen der Himmel – Indras Himmel ist der tiefste, der Brahmas der höchste –, oder sie wurde zurückgetrieben und mußte das Leben eines Wurms, einer Fliege, eines Fisches oder eines Viehs führen. Die Belohnung für vollkommene Befol­ gung der Regeln war Glückseligkeit oder Eingehen in Brahma. Das war nicht mehr Existenz, sondern vollkommene Ruhe.« Nach kurzem Nachdenken fuhr der Hindu fort: »Der Teil im Leben eines Brahmanen, den man die erste Ordnung nennt, ist seinem Studium gewidmet. Als ich soweit war, in die zweite Ordnung einzutreten – das heißt, als ich heiraten durfte und Hausherr wurde –, stellte ich alles in Frage, selbst Brahma, ich war ein Heide. Aus der Tiefe des Brunnens hatte ich oben ein Licht entdeckt und sehnte mich danach, hinaufzusteigen und zu sehen, was es alles beschien. Zuletzt – oh, nach wieviel Jahren der Plage! – stand ich im vollen Licht und erblickte den Ur­ grund des Lebens und der Religion, das Glied zwischen der Seele und Gott: die Liebe!« Das eingefallene Gesicht des Erzählers erhellte sich sichtbar, und er faltete seine Hände. Es entstand ein Schweigen, die anderen schauten auf ihn, der Grieche mit Tränen in den Augen. Endlich begann der Hindu wieder: »Die Seligkeit der Liebe besteht in Taten, seine Probe liegt in dem, was man für andre zu tun bereit ist. Ich konnte nicht ruhen. Brahma hatte die Welt mit so viel Unglück erfüllt. Der Sudra wandte sich an mich, ebenso die zahllosen Frommen und Benachteiligten. Die Insel von Ganga Lagor liegt dort, wo die heiligen Wasser des Ganges in den Indischen Ozean strö­ men. Dorthin begab ich mich. Ich hoffte dort, im Tempel, der dem weisen Kapila erbaut ist, in der Gebetsgemeinschaft mit den Jüngern, die dort in dem Gedenken an den heiligen Mann leben, Ruhe zu finden. Aber zweimal im Jahr kamen Pilgerzü­ ge von Hindus, um die Reinigung im Wasser zu suchen. Ihr Elend stärkte meine Liebe. Um nicht zu sprechen, biß ich 18

meine Zähne zusammen. Ein Wort gegen Brahma oder die Dreiheit oder die Shastras hätte mich verdammt, ein freundli­ cher Akt gegen die ausgestoßenen Brahmanen, die sich dann und wann in den glühenden Sand schleppten, um dort zu sterben – ein erteilter Segen, ein Krug Wasser –, und ich wäre einer von ihnen geworden, hätte die Familie, das Land, die Vorrechte der Kaste verloren. Die Liebe siegte! Ich sprach zu den Jüngern im Tempel, sie trieben mich hinaus. Ich sprach zu den Pilgern, sie steinigten mich von der Insel. Auf den Land­ straßen versuchte ich zu predigen, meine Zuhörer flohen mich oder wollten mir ans Leben. Schließlich war für mich in ganz Indien kein Platz, nicht einmal unter den Ausgestoßenen, denn sie glaubten, obwohl sie gefallen waren, noch an Brahma. In meiner äußersten Not suchte ich nach einer Einöde, wo ich mich vor allem, außer vor Gott, verbergen konnte. Ich folgte dem Ganges bis zu seiner Quelle, weit oben im Himalaja. Als ich den Paß von Hurdwar betrat, wo der Fluß in fleckenloser Reinheit in das schlammige Tiefland hinunterstürzt, betete ich für mein Volk und glaubte, daß ich ihm für immer verloren sei. Durch Schluchten, über Felsen und Gletscher, über Gipfel, die sternenhoch erschienen, machte ich meinen Weg zum Lang Tso, einem See von wunderbarer Schönheit, der am Fuße des Tise Gangri, des Gurla und des Kailas Parbot liegt, der Riesen, die ihre Eiskronen ewig zur Sonne emporrecken. Dort, in der Mitte der Erde, wo Indus, Ganges und Brahmaputra entsprin­ gen und sich ihre verschiedenen Wege bahnen, dort, wo der erste Sitz der Menschheit war und sie sich teilte, um die Welt zu bevölkern, Balk, die Mutter der Städte, verließ, um die große Tat zu bezeugen – dorthin ging ich, um mit Gott allein zu wohnen, betend, fastend, auf den Tod wartend, in einer Natur, die zu ihrem ersten Ursprung zurückgekehrt ist und in ihre Unendlichkeiten einlädt und Sicherheit dem einen, Ein­ samkeit dem anderen verspricht. Eines Nachts wanderte ich am Ufer des Sees und sprach zu der lauschenden Stille. – Wann 19

wird Gott kommen und sein Eigentum zurückfordern? Wird es keine Erlösung geben? – Plötzlich begann ein Licht auf dem Wasser zu zittern, bald erhob sich ein Stern, wanderte her zu mir und blieb über mir stehen. Die Helligkeit betäubte mich. Als ich auf dem Boden lag, hörte ich eine Stimme von unendli­ cher Lieblichkeit: ›Deine Liebe hat gesiegt. Sei gesegnet, o du Sohn Indiens! Die Erlösung ist nahe. Mit zwei anderen aus den fernen Teilen der Erde sollst du den Erlöser sehen und Zeugnis für sein Kommen ablegen. Erhebe dich am Morgen und eile den anderen entgegen. Setz all dein Vertrauen in den Geist, der dich führen wird.‹ Und von dieser Zeit an ist das Licht bei mir geblieben, so wußte ich, daß der Geist sichtbar und gegenwär­ tig war. Am Morgen ging ich in die Welt zurück, auf dem Wege, den ich gekommen war. In einer Spalte des Gebirges fand ich einen Stein von ungeheurem Wert, den ich in Hurdwar verkaufte. Über Lahore, Kabul und Yezd kam ich nach Isaphan. Dort kaufte ich das Dromedar, und dann reiste ich nach Bagdad, ohne auf die Karawanen zu warten. Ganz allein reiste ich, furchtlos, denn der Geist war mit mir und ist noch jetzt mit mir. Was für ein Ruhm ist uns verliehen, o Brüder! Wir sollen den Erlöser sehen, zu ihm reden – ihn anbeten! Ich bin am Ende.«

Die Geschichte des Ägypters – Gute Werke Der lebhafte Grieche erging sich in Freudenbezeugungen und Glückwünschen, worauf der Ägypter in seiner ernsten Art begann: »Ich grüße dich, mein Bruder. Du hast viel gelitten, und ich freue mich über deinen Sieg. Wenn es euch beiden recht ist, will ich euch jetzt erzählen, wer ich bin und wie es geschah, daß ich berufen wurde. Wartet einen Augenblick.« Er ging 20

hinaus, um die Dromedare zu versorgen, dann nahm er seinen Platz wieder ein. »Eure Worte, Brüder, kamen aus dem Geiste, und der Geist half mir, sie zu verstehen. Jeder von euch sprach hauptsächlich von seinem Land, das ist von großer Wichtigkeit. Ich werde es erklären, aber um meine Deutung vollständig zu machen, laßt mich zuerst von mir und meinem Volk sprechen. Ich bin Balthasar, der Ägypter. Mit uns begann Geschichte. Wir waren die ersten, welche die Ereignisse aufzeichneten, um sie zu verewigen. Infolgedessen haben wir keine Überlieferung, und statt der Dichtung geben wir euch Tatsachen. An die Paläste und Tempel, an Obelisken, an die Innenwände der Gräber schrieben wir die Namen und Taten unsrer Könige. Und dem köstlichen Papyrus vertrauten wir die Weisheit unsrer Philosophen und die Geheimnisse unsrer Religion an – alle Geheimnisse, bis auf eins, worüber ich später sprechen will. Älter als die Vedas des Para-Brahma oder die Up-Vagas des Vyasa, o Melchior, älter als die Gesän­ ge Homers oder die Metaphysik Platos, o mein Kaspar, älter als die heiligen Bücher und Könige der Chinesen oder des Sid­ dartha, des Sohnes der schönen Maya, älter als die Genesis des Hebräers Moses – die ältesten Niederschriften der Menschen sind die Schriften des Menes, unsres ersten Königs.« Er wandte seine großen Augen freundlich zu dem Griechen: »Im Anfang von Hellas, wo, o Kaspar, waren die Lehrer eurer Lehrer?« Der Grieche verneigte sich lächelnd. »Aus diesen Schriften«, fuhr Balthasar fort, »wissen wir, daß die Väter aus dem Fernen Osten kamen, aus den Quellgebieten der drei heiligen Flüsse, vom Mittelpunkt der Erde, dem alten Iran, von dem du sprachst, o Melchior. Und von dort brachten sie die Geschichte der Erde vor der Sintflut mit, von der Sint­ flut selbst, wie sie den Ariern von den Söhnen Noahs übermittelt worden war. Und sie lehrten Gott, den Schöpfer und den Anfang, und die Seele, die unsterblich ist wie er. 21

Wenn unsre Aufgabe glücklich erfüllt sein wird, bitte ich euch, mit mir zu kommen, ich will euch die heiligen Bücher unsrer Priester zeigen, unter ihnen das Buch vom Tode, in dem das Ritual steht, das die Seele nach dem Tod befolgen muß, wenn sie auf dem Wege zum Gericht geht. Die Ideen von Gott und der unsterblichen Seele waren von Mizraim in der Wüste geschaffen und von ihm an die Ufer des Nils gebracht worden. Sie waren ganz rein und leichtverständlich, so wie Gott selber ist, es war der erste Gottesdienst – ein Gesang und ein Gebet, so wie es einer freudigen und hoffnungsvollen Seele entspricht, die ihren Schöpfer liebt.« Hier hob der Grieche seine Hände und rief: »Oh, das Licht wächst in mir!« »Und in mir!« sagte der Hindu mit der gleichen Inbrunst. Der Ägypter schaute voll Güte auf sie und fuhr fort: »Religion ist nur das Gesetz, das die Menschen mit dem Schöpfer verbindet. In seiner Reinheit enthält es nur diese Elemente: Gott, die Seele und die gegenseitige Anerkennung. Daraus entsteht Anbetung, Liebe, Lohn. Dieses Gesetz war, wie alle andern Gesetze, göttlichen Ursprungs – so jenes, das die Erde an die Sonne bindet – und von Anfang an von seinem Verfasser vollendet worden. Es war, meine Brüder, die Religion der ersten Familie, die unsres Ahnen Mizraim, der nicht blind sein konnte vor der Formel der Schöpfung, die nirgends so sichtbar ist wie im frühesten Glauben und der frühesten Anbetung. Gott ist Vollkommenheit. Einfachheit ist Vollkommenheit. Der Lauf der Dinge bringt es mit sich, daß die Menschen diese Wahrhei­ ten nicht in Frieden lassen. Viele Völker haben die Wasser des Nils geliebt, die Äthiopier, die Pali-Putra, die Hebräer, die Assyrer, Perser, Mazedonier, die Römer – mit Ausnahme der Hebräer haben sie alle zu irgendeiner Zeit dort geherrscht. Dieses Kommen und Gehen der Völker hat das alte Gesetz Mizraims verfälscht. Das Tal der Palmen wurde ein Tal der Götter. Der Höchste wurde in acht Teile geteilt, von denen 22

jeder ein Schöpfungsprinzip verkörperte, mit Ammon-Re an der Spitze. Dann kamen Isis und Osiris und ihr Kreis, die das Wasser, das Feuer, die Luft und andere Kräfte versinnbildli­ chen. Die Teilung ging noch weiter, bis wir eine andre Ordnung hatten, die der Stärke, des Wissens, der Liebe und ähnliches.« »In denen der alte Wahnsinn saß«, rief der Grieche tempera­ mentvoll. »Nur die Dinge, die wir nicht erreichen können, bleiben in uns.« »Die Aufzeichnungen«, fuhr der Ägypter fort, »zeigen, daß Mizraim den Nil unter der Herrschaft der Äthiopier fand, die aus der afrikanischen Wüste gekommen waren, ein Volk von reicher, phantasievoller Begabung, gänzlich der Anbetung der Natur hingegeben. Die persische Dichtung verherrlicht die Sonne als das vollkommenste Ebenbild des Gottes Ormudz, die Kinder des Fernen Ostens bildeten ihre Götter in Holz und Elfenbein, aber die Äthiopier, die nicht schreiben konnten und keine Bücher besaßen, keinerlei medianische Fähigkeiten hatten, befreiten ihre Seele in der Anbetung der Tiere, Vögel und Insekten. Die Katze war dem Re heilig, der Stier der Isis, der Käfer dem Pthah. Ein langer Kampf gegen ihren primitiven Glauben endete damit, daß er als Religion vom neuen Reich angenommen wurde. Nun erhoben sich die gewaltigen Bau­ werke an den Ufern des Stroms und in der Wüste: Obelisk, Labyrinth, Pyramide und Königsgrab, gemischt mit Krokodil­ gräbern. In eine solche tiefe Entwürdigung, o Brüder, stürzten die Söhne des Ariers!« Hier verließ den Ägypter zum erstenmal seine Ruhe, dann aber sprach er weiter: »Verachtet mein Volk nicht zu sehr. Nicht alle vergaßen Gott. Ich habe euch von den Geheimnissen unsrer Religion gesprochen, die alle in den Papyri aufgezeichnet sind – bis auf eins. Davon will ich jetzt reden. Wir hatten einst als König einen mit Namen Pharao, der allem Wechsel und jeder Neue­ 23

rung zugeneigt war. Um das neue System zu festigen, wollte er das alte restlos aus unserem Geist vertreiben. Damals lebten die Hebräer als Sklaven bei uns. Sie hielten an ihrem Gott fest, und als ihre Qualen unerträglich geworden waren, wurden sie auf eine Weise befreit, die nie vergessen werden kann. Ich spreche jetzt von den Urkunden. Moses, der selbst Hebräer war, kam in den Palast und flehte um die Erlaubnis, daß die Sklaven, viele Millionen, das Land verlassen dürften. Seine Forderung ge­ schah im Namen des Gottes von Israel. Pharao weigerte sich. Hört, was geschah! Zuerst verwandelte sich alles Wasser in den Seen, Flüssen, Brunnen und Gefäßen in Blut. Doch der König weigerte sich. Dann kamen Frösche und bedeckten das ganze Land. Doch Pharao blieb hart. Dann streute Moses Asche in die Luft, und eine Seuche kam über die Ägypter. Weiter wurde alles Vieh mit Ausnahme des hebräischen, geschlagen. Heu­ schrecken verwüsteten alles Grünende im Land. Am Mittag brach eine Finsternis aus, die so tief war, daß keine Lampen sie erhellen konnten. Schließlich starb die ganze Erstgeburt der Ägypter, auch im Hause Pharaos. Jetzt bewilligte er die Forde­ rung des Moses. Aber als die Hebräer gegangen waren, folgte er ihnen mit seinem Heer. Im letzten Augenblick teilte sich das Meer, so daß die Flüchtenden trockenen Fußes hindurchgehen konnten. Als das Heer ihnen folgte, kamen die Wasser zurück und ertränkten alle, Pferde, Männer, Waffen und auch den König. – Du sprichst von Offenbarung, mein Kaspar…« Die blauen Augen des Griechen leuchteten. »Ich hörte diese Geschichte von dem Juden!« rief er. »Du bestätigst sie, o Balthasar!« »Ja, aber durch mich spricht Ägypten, nicht Moses. Ich erklä­ re die Inschriften auf Marmor. Die Priester haben damals aufgezeichnet, was sie erlebten, und die Überlieferung hat sich erhalten. Nun komme ich zu dem einen nicht aufgezeichneten Geheimnis. Wir hatten, Brüder, von den unglückseligen Zeiten des Pharao an immer zwei Religionen – eine private und eine 24

öffentliche, die eine der vielen Götter, an die das Volk glaubte, und die andre von dem einen Gott, die von der Priesterschaft hochgehalten wurde. Freut euch mit mir, Brüder! Wie ein Samen unter der Erde auf seine Stunde wartet, so hat die kostbare Wahrheit alles überlebt. Und nun ist ihr Tag gekom­ men!« Der Ägypter nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche und fuhr fort: »Ich bin in Alexandria geboren, ein Fürst und Priester, und erhielt die übliche Erziehung meines Standes. Doch ich wurde schon sehr früh unzufrieden. Zu unserem Glauben gehörte die Vorstellung, daß die Seele nach dem Tode, nach der Auflösung des Körpers, ihre neue Entwicklung beginnt, von der niedrig­ sten bis zur menschlichen und höchsten Existenz, ohne Beziehung zu der Lebensführung in der Sterblichkeit. Als ich vom persischen Reich des Lichts hörte, von seinem Paradies jenseits der Brücke Chinevat, über die nur der gute Mensch schreiten kann, quälte mich dieser Gedanke unaussprechlich; um so mehr, als ich Tag und Nacht über die beiden Ideen grübelte: die Idee der Seelenwanderung und die des ewigen Lebens im Himmel. Wenn Gott gerecht war, wie mein Lehrer sagte, warum gab es einen Unterschied zwischen Gut und Böse? Es wurde mir schließlich klar, ja es wurde mir zur Gewißheit, zu einer Schlußfolgerung aus dem Gesetz, auf das ich die reine Religion zurückführte, daß der Tod nur der Augenblick der Trennung war, in dem der Sünder verloren und verlassen war und der Gläubige zu einem höheren Leben aufsteigt, nicht ins Nirwana Buddhas, auch nicht in die passive Ruhe Brahmas, o Melchior, noch in die Bedingung der Hölle, die allen im Himmel erlaubt ist nach dem Glauben des Olymps, o Kaspar, sondern Leben – tätiges Leben, freudvolles, ewiges Leben mit Gott! Diese Entdeckung führte zu einer anderen Frage. Warum sollte diese Wahrheit noch länger Geheimnis und selbstsüchtiger Trost der Priesterschaft bleiben? Der Grund 25

für seine Unterdrückung war nicht mehr vorhanden. Die Philosophie hat uns schließlich zur Toleranz geführt. In Ägyp­ ten regierte Rom statt Ramses. Eines Tages stand ich im Brucheiam, dem vornehmsten und am meisten bevölkerten Viertel Alexandrias, und predigte. Aus dem Osten und Westen kamen meine Zuhörer, Studenten, die in die Bibliothek gingen, Priester vom Serapeion, Museumsbummler, Rennbahnbesu­ cher, Landleute aus Rhacotis – eine Riesenmenge blieb stehen und hörte mir zu. Ich predigte über Gott und die Seele, über Recht und Unrecht, über den Himmel und die Belohnung eines tugendhaften Lebens. Du, Melchior, wurdest gesteinigt. Meine Zuhörer waren zuerst verwundert, dann lachten sie. Ich ver­ suchte es wieder, aber sie spotteten über mich, verhöhnten meinen Gott und machten meinen Himmel lächerlich. Um es nicht nutzlos hinzuziehen, ließ ich sie.« Der Hindu seufzte tief und sagte: »Der Feind des Menschen ist der Mensch, mein Bruder.« Nach einem Schweigen fuhr Balthasar fort: »Ich grübelte lange, um die Ursache meines Versagens zu finden. Schließlich gelang es mir. Jenseits des Flusses, eine Tagesreise von der Stadt, liegt ein Dorf von Hirten und Gärt­ nern. Ich nahm ein Boot und fuhr dorthin. Am Abend rief ich die Leute zusammen, Männer und Frauen, die Ärmsten der Armen. Ich predigte ihnen genauso, wie ich im Brucheiam gepredigt hatte. Sie lachten nicht. Am nächsten Abend sprach ich wieder zu ihnen, und sie glaubten mir, freuten sich und verbreiteten, was sie gehört hatten. Am dritten Abend fand sich eine Gemeinde zum Gebet ein. Dann ging ich zurück in die Stadt. Als ich über den Fluß fuhr, unter den Sternen, die mir noch nie so leuchteten und nahe erschienen waren, wurde mir klar, was ich falsch gemacht hatte: Wenn du eine Reform beginnen willst, gehe nicht zu den Großen und Reichen, gehe zu denen, deren Glückskrug leer ist – zu den Armen und Niedrigen. Und dann faßte ich einen Plan und widmete ihm 26

mein Leben. Zuerst sicherte ich mein großes Vermögen, damit es bereit war zur Unterstützung der Notleidenden. Von diesem Tag an, o Brüder, wanderte ich am Nil auf und ab, von Dorf zu Dorf, von Herde zu Herde und predigte von dem Einen Gott, vom rechtschaffenen Leben und dem Leben im Himmel. Ich habe viel Gutes getan, es steht mir nicht an, zu sagen wieviel. Und nun weiß ich, daß wir den Platz der Welt finden werden, der reif ist für Sein Kommen. Nach Jahren, die ich so verbracht hatte, o meine Brüder, quälte mich der Gedanke, was aus dem Glauben, den ich gepflanzt habe, werde, wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe oft von einer Organisation geträumt, die mein Werk krönen sollte. Um euch nichts zu verbergen, sage ich, daß ich es versucht habe, aber daß es mir mißlungen ist. Die Welt ist heute so, daß der Reformer des alten MizraimGlaubens mehr als menschliche Kräfte besitzen muß. Er darf nicht nur in Gottes Namen kommen, er muß für seine Worte Beweise geben, er muß sein, was er sagt. Und das kann nur Gott selbst. Die Vorstellungen des Menschen sind so voll von Mythen und Systemen, so voll von falschen Göttern ist alles – Erde, Luft, Himmel –, so sehr haben sie sich festgesetzt, daß die Rückkehr zum ersten Glauben nur auf blutigen Wegen möglich ist, über Verfolgungen, das heißt, daß die Bekehrten bereit sein müssen, eher zu sterben, als zu widerrufen. Und wer könnte in dieser Zeit den Glauben des Menschen bis dahin bringen, wenn nicht Gott selbst? Um die Menschheit zu erlösen – ich meine nicht, zu zerstören –, muß er sich noch einmal offenbaren: ER MUSS SELBST KOMMEN.« Alle drei waren tief erschüttert. »Sind wir nicht auf dem Wege, ihn zu finden?« rief der Grie­ che. »Ihr versteht, warum ich versagte, als ich organisieren woll­ te«, fuhr der Ägypter fort. »Mir fehlte die Bestätigung. Als ich das erkannt hatte, war ich ganz verzweifelt. Ich versank ins Gebet, um meine Bitten rein und stark zu machen, wie ihr, 27

meine Brüder. Ich verließ die gewohnten Wege und ging dorthin, wo nie Menschen gewesen waren, wo nur Gott war. Ich ging zum fünften Katarakt, nach Semar, wo die Flüsse zusammenkommen, zum Bahr el Abiad, in das unbekannte innere Afrika. Dorthin, wo am Morgen der Berg, der so blau wie der Himmel ist, seinen kühlen Schatten weit über die westliche Wüste wirft und mit seinen Wasserfällen aus ge­ schmolzenem Schnee einen kleinen See nährt, der östlich an seinem Fuß liegt. Der See ist die Mutter des großen Stroms. Länger als ein Jahr lebte ich auf dem Berg. Die Frucht des Palmbaums nährte meinen Körper, das Gebet meine Seele. Eines Nachts wanderte ich in dem Wäldchen am kleinen See und betete: ›Die Welt stirbt! Wann wirst du kommen? Warum soll ich die Erlösung nicht erleben, o Gott?‹ Das klare Wasser war voller Sterne. Einer schien seinen Platz zu verlassen und an die Oberfläche zu steigen, ein feuriger Glanz blendete meine Augen. Dann kam der Stern auf mich zu und blieb über mei­ nem Haupt stehen. Mir war, als könnte ich ihn mit der Hand fassen. Ich fiel nieder und verdeckte mein Gesicht. Da sagte eine Stimme, die nicht irdisch war: ›Deine guten Werke haben gesiegt. Du bist gesegnet, Sohn des Mizraim! Die Erlösung kommt. Mit zwei anderen aus den fernsten Teilen der Erde sollst du den Erlöser sehen und für Ihn zeugen. Erhebe dich am Morgen und mache dich auf den Weg zu ihnen. Und wenn ihr beisammen seid, geht in die heilige Stadt Jerusalem und fragt das Volk: Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben Seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, Ihn anzubeten. – Vertraue dem Geist, er wird dich führen.‹ – Und der Stern erleuchtete mich innerlich und blieb bei mir, ein Herr und Führer. Ich ging den Fluß hinunter nach Memphis, wo ich mich für die Wüste vorbereitete. Ich kaufte mein Dromedar und kam hierher über Suez und Kufileh, durch die Länder Moab und Ammon. Gott ist mit uns, o meine Brüder!« Er schwieg, und darauf erhoben sich alle drei wie auf einen Befehl 28

und schauten sich in die Augen. »Ich sagte, es lag ein Sinn in der Ausführlichkeit, mit der wir alle unser Volk und seine Geschichte beschrieben haben«, fuhr der Ägypter fort. »Der, den wir suchen, ist ›König der Juden‹ genannt worden, unter diesem Namen sollen wir nach Ihm fragen. Aber nun wir alle voneinander gehört haben, müssen wir glauben, daß Er der Erlöser ist, nicht für die Juden allein, sondern für alle Völker der Erde. Der Patriarch, der die Sintflut überlebt hat, hatte drei Söhne, und von ihren Familien wurde die Welt bevölkert. Sie zogen aus von der alten Aryana-Vaejo, dem Land der Freude im Herzen Asiens. Indien und den Fernen Osten erreichten die Kinder zuerst. Die Nachkommen des jüngsten Sohnes gingen nach Norden, nach Europa, die des zweiten überfluteten die Wüsten am Roten Meer und gingen nach Afrika, und obwohl die meisten jetzt noch in Zelten wohnen, waren sie doch die Erbauer des Landes am Nil.« Alle drei gaben sich die Hände. »Konnte etwas göttlicher geordnet sein?« fuhr Balthasar fort. »Wenn wir den Herrn gefunden haben, werden alle Völker niederknien und Ihm mit uns huldigen. Und wenn wir uns wieder trennen und jeder seinen Weg geht, wird die Welt eine neue Wahrheit gelernt haben: der Himmel wird nicht gewon­ nen durch das Schwert oder durch menschliches Wissen, sondern durch Glauben, Liebe und gute Werke.« Die Stille, die folgte, wurde nur von Seufzern unterbrochen, aller Augen waren von Tränen naß. In ihnen war eine unaus­ sprechliche Freude der Seele. Sie traten aus dem Zelt. Die Wüste und der Himmel lagen still vor ihnen. Die Sonne ging rasch unter. Die Dromedare schliefen. Das Zelt wurde abgebrochen, auch alles andere wieder in der Kiste untergebracht. Die drei bestiegen ihre Tiere und ritten unter Führung des Ägypters hintereinander nach Westen zu in die sinkende Nacht. Die Dromedare setzten sich in Trab, eins folgte dem andern, so genau, daß sie nur eine 29

Spur hinterließen. Keiner der Reiter sprach. Nach und nach stieg der Mond herauf. Und wie die drei weißen Gestalten lautlos dahineilten durch das opaleszierende Licht, sahen sie wie Geister aus, die vor bösen Schatten flohen. Plötzlich erschien vor ihnen, nicht höher als auf der Spitze eines niedri­ gen Hügels, eine züngelnde Flamme, und als sie hinschauten, verwandelte sie sich in ein Licht von ungeheurem Glanz: Ihre Herzen schlugen höher, ein heiliger Schauer ging durch ihre Seelen, und sie riefen wie aus einem Munde: »Der Stern! Der Stern! Gott ist mit uns!«

Das Joppa-Tor in Jerusalem In einer Öffnung an der Westseite der Mauer von Jerusalem hingen die »eichenen Flügel«, die man das Bethlehem- oder Joppa-Tor nannte. Der Platz an der Außenseite war die belebte­ ste Stelle in der Umgebung der Stadt. Lange ehe es David nach Zion gelüstete, erhob sich hier eine Zitadelle. Als der Sohn Jesses schließlich die Jebusiten vertrieb und die Stadt zu bauen begann, wurde die Zitadelle zur Nordwestecke der neuen Mauer. Sie erhielt einen Turm, der größer war als der alte. Schon in den Tagen Salomons war der Platz vor dem Tor ein großer Markt, der von den Händlern aus Ägypten ebenso beschickt wurde wie von denen aus Tyrus und Sidon. Auch heute, nach fast 3000 Jahren, wird dort Markt gehalten. Wer eine Nadel oder eine Pistole, eine Gurke oder ein Kamel, ein Haus oder Pferd kaufen will, eine Dattel oder einen Mann, eine Melone oder eine Taube, wer ein Darlehn aufnehmen will oder einen Dolmetscher braucht, der muß am Joppa-Tor danach fragen. Zu Zeiten des Herodes, des Erbauers, war der alte Markt ungeheuer belebt. Die drei Weisen hatten sich in der Wüste am Nachmittag des 30

25. Tages im 3. Monat des Jahres – nach der hebräischen Zeitrechnung – getroffen, das heißt nach der neuen Rechnung am 25. Dezember. Das Jahr war das 2. der 193. Olympiade oder das 747. nach der Gründung Roms, das 67. nach Herodes dem Großen, das 35. seiner Regierung, das 4. vor Beginn unserer heutigen Zeitrechnung. Die Stunden des Tages werden nach judäischem Brauch nach der Sonne gerechnet; 4 Uhr morgens nach unserer Rechnung ist die erste Stunde nach Sonnenaufgang. Zu dieser Stunde ist der Markt am Joppa-Tor schon in vollem Gang. Die schweren Türflügel sind seit Mor­ gengrauen weit geöffnet. Das Leben flutet durch das gewölbte Tor und durch die eine schmale Gasse in die Stadt. Von den Zinnen und Türmchen der großen Gebäude flattern die Tau­ benschwärme. Platz und Straße sind mit unförmigen großen Steinplatten belegt, von denen jeder Laut verstärkt widerhallt, auch die Rufe eines Händlers, der neben seinem halb schlafen­ den Esel steht, der mit Körben voll von Linsen, Bohnen, Zwiebeln und Gurken beladen ist, die frisch aus den Gärten und Terrassen von Galiläa gekommen sind. Der Händler ist höchst einfach gekleidet. Er trägt eine Art Decke aus un­ gebleichter, ungefärbter Wolle, die über einer Schulter befestigt und gegürtet ist, an den Füßen Sandalen. Neben ihm ein anderes imposantes Bild: ein kniendes Kamel, grobkno­ chig, grau mit langen zottigen Büscheln fuchsroter Haare an der Kehle, am Hals und Körper. Es ist mit einem Haufen Kästen und Kisten beladen, die sonderbar auf seinem riesigen Sattel aufgebaut sind. Sein Herr ist ein kleiner, geschmeidiger Ägypter, der vom Staub der Straßen und vom Sand der Wüste mitgenommen ist. Er trägt einen verschossenen Tarbooshe, einen losen ärmellosen Kittel ohne Gürtel, der von den Schul­ tern bis zu den Knien reicht. Seine Füße sind bloß. Das Kamel liegt unruhig unter seiner Last und bleckt die Zähne. Der Mann kümmert sich nicht darum und ruft seine frischen Früchte aus den Gärten des Kedron aus, Weintrauben, Datteln, Äpfel, 31

Feigen und Granatäpfel. An der Ecke der Gasse, dort, wo sie sich zu dem Hof öffnet, kauern Frauen mit dem Rücken an den grauen Steinen der Mauer. Sie tragen die gewohnte Kleidung der armen Klasse, einen Leinenkittel, der lose gegürtet ist, und einen Schleier oder ein Kopftuch, das den Kopf verhüllt und bis auf die Schultern fällt. Ihre Ware steckt in den irdenen Krügen, wie sie zum Wasserholen benutzt werden, und in ein paar Lederfla­ schen. Sie bieten Honig und Wein an. Dazwischen tummelt sich auf den Steinen ein halbes Dutzend halbnackter Kinder. Ihre braunen Körper, kohlschwarzen Augen und ihr dickes schwarzes Haar zeigen, daß sie aus dem Blut Israels stammen. Auf und ab gehen braune Burschen, die Beine nackt, in schmutziger Tunika, mit langen Bärten, und rufen ihren Sirup, ihre Tauben aus Engadi aus, die sie in Flaschen auf dem Rücken tragen. Weniger lärmend führen sich die Vogelhändler auf mit ihren Tauben, Enten und ihren persischen Singvögeln, den Nachtigallen. Die Käufer machen sich wohl keine Vorstel­ lung, wie gefährlich oft ihr Vogelfang in den Felsen und Klippen ist. Stolz in Blau und Scharlach und ihren weißen Turbanen betragen sich die Juwelenhändler, als hätten sie etwas vom Wert ihrer Hals- und Armketten, ihrer Finger- und Nasenringe angenommen. Hier gibt es Haushaltsgegenstände, Kleider, dort Salben, und weiter hin ist der Tiermarkt für Esel, Pferde, Kälber, Schafe, Kamele, für jede Art Tiere mit Aus­ nahme des Schweins. Alle diese Händler mischen sich durcheinander, es ist ein Rufen und Kreischen, Streiten und Lachen. Der ganze Markt ist immer in Bewegung, und die bunte Menge der Käufer flutet auf und nieder.

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Typen am Joppa-Tor Aus dem Tor kommen zwei römische Soldaten. »Ihr Götter, wie kalt ist es!« ruft der eine. Er trägt Helm, Brustpanzer und Panzerhemd. »Erinnerst du dich, mein Cajus, an das Gewölbe im Comitium, dem Versammlungsraum der Bürger, zu Hause in Rom, von dem die Priester sagen, es sei der Eingang in die Unterwelt? Bei Pluto! Dort möchte ich heute so lange stehn, bis ich wieder warm werde!« Der andere nimmt seine Kappe ab und antwortet mit einem ironischen Lächeln: »Die Helme der Legionen, die Markus Antonius besiegten, waren voll von Schnee aus Gallicum; aber du, mein armer Freund, du kommst gerade aus Ägypten und bringst den Sommer in deinem Blut mit.« Aus der Menge kommt ein Jude, hager und mit krummem Rücken. Er trägt einen groben braunen Rock. Über Augen und Gesicht bis auf die Schultern hängt ihm das ungekämmte Haar. Er geht allein. Die Vorübergehenden lachen über ihn, wenn sie nichts Schlimmeres tun; denn er ist ein Nazarener, einer aus der verachteten Sekte, welche die Bücher Mosis nicht aner­ kennt und sich abscheulichen Gelübden ergibt. Sie dürfen ihr Haar nicht schneiden, solange das Gelübde gilt. Plötzlich entsteht eine Bewegung in der Menge, und scharfe und ent­ schlossene Rufe werden laut. Ein Mann erscheint, ein Hebräer nach Aussehen und Kleidung. Ein Mantel aus schneeweißem Leinen, der am Kopf mit gelbseidener Schnur gehalten wird, fließt frei über seine Schultern nieder. Sein Kleid ist reich bestickt und von einer roten Schärpe mit goldenen Fransen mehrfach umwunden. Er ist ruhig, er lächelt über die, die ihm mit solcher Hast aus dem Wege gehen. Ein Aussätziger? Nein, es ist nur ein Samaritaner. Die scheue Menge nennt ihn einen Bastard, einen Assyrer, den zu berühren Befleckung bedeutet. Kein sterbender Israelit würde von ihm das Leben annehmen. Als David seinen Thron auf dem Berg Zion errichtete und nur 33

mit dem Stamm Juda um sich, gingen die zehn Stämme nach Sechen, in eine Stadt, die viel älter und damals unendlich reicher an heiliger Überlieferung war. Die schließliche Verei­ nigung der Stämme beendete nicht den Streit, der begonnen hatte. Die Samaritaner hielten fest an ihrem Heiligtum auf Gerizim, bezeichneten es als das höhere und lachten über die zornigen Gelehrten in Jerusalem. Die Zeit milderte den Haß nicht. Unter Herodes war aller Welt der Übertritt zum Glauben offen, mit Ausnahme der Samaritaner. Sie allein waren völlig und für immer aus der Gemeinschaft der Juden ausgeschlossen. Als der Samaritaner durch den Bogen des Tores ging, kamen drei Männer heraus, die sich höchlichst von allen anderen unterschieden. Es waren riesige, muskelstrotzende Kerle mit blauen Augen, kurzem hellem Haar und so weißer Haut, daß die blauen Adern hindurchschienen. Ihre Köpfe waren klein und rund, aber ihre Nacken stark wie Bäume. Sie trugen ärmellose, wollene gegürtete Tuniken, die an der Brust offen waren. Arme und Beine waren nackt und so kraftvoll, daß man an die Arena denken mußte und sich nicht wunderte, daß die Leute ihnen auswichen und nachschauten, als sie so sorglos, dreist und anmaßend dahinschritten. Es waren Gladiatorenrin­ ger, Läufer, Boxer, Fechter, Berufskämpfer, wie sie vor der römischen Zeit in Judäa unbekannt waren. Wenn sie nicht im Training waren, spazierten diese Burschen in den Königlichen Gärten umher oder saßen bei den Wächtern vor den Palastto­ ren; sie konnten auch Besucher aus Caesarea, Sebaste oder Jericho sein, wo Herodes, der mehr Grieche als Jude war, mit der Leidenschaft der Römer Spiele und blutige Vorführungen liebte, riesige Theater gebaut hatte und Schulen für die Kämp­ fer unterhielt, die aus den gallischen Provinzen oder von den slawischen Stämmen an der Donau kamen. »Beim Bacchus!« sagt einer von ihnen. »Ihre Schädel sind nicht dicker als Eierschalen.« Nebenan ist ein Fruchtstand. Der 34

Eigentümer ist kahlköpfig, sein Gesicht ist lang, seine Nase krumm wie ein Vogelschnabel. Er sitzt auf einem staubbedeck­ ten Teppich an der Mauer, über ihm hängt ein dürftiger Vorhang, und um ihn herum stehen in Reichweite auf kleinen Hockern geflochtene Körbe voll von Mandeln, Trauben, Feigen und Granatäpfeln. An seinen Stand tritt ein schöner Mensch, ein Grieche. Um seine Schläfen liegt ein Myrten­ zweig, an dem noch die hellen Blüten und halbreifen Beeren sitzen. Der Zweig hält seine lockigen Haare. Seine rote goldge­ stickte Tunika besteht aus dem feinsten Wollstoff, sein Gürtel aus weichem Leder wird von einer goldenen Schnalle mit einer phantasievollen Zeichnung gehalten; um seinen Hals ist ein weiß-gelber wollener Schal geschlungen und hängt auf den Rücken nieder. Seine Arme und Beine sind makellos, weiß wie aus Elfenbein, man sieht, daß sie in Bädern mit Öl und Bürsten sorgfältig gepflegt werden. Der Händler erhebt sich von seinem Sitz, verneigt sich und grüßt mit erhobenen Händen, die Handflächen nach unten, mit gespreizten Fingern. »Was gibt es heute bei dir, o Sohn aus Paphos?« fragt der junge Grieche und schaut in die Körbe des Mannes aus Cypern. »Ich bin hungrig. Was gibt’s zum Früh­ stück?« »Echte Früchte aus Pedius, wie sie die Sänger in Antiochia am Morgen essen, um ihre Stimmen wieder frisch zu machen«, antwortet der Händler mit klagendem, nasalem Tonfall. »Eine Feige, aber nicht von deinen besten, für die Sänger in Antiochia!« sagt der Grieche. »Du bist ein Verehrer der Aphrodite wie ich, wie die Myrte zeigt, die ich trage. Darum sage ich dir, daß die Stimmen der Sänger von Antiochia so kalt sind wie der Wind vom Kaspischen Meer. Siehst du diesen Gürtel? Ein Geschenk der mächtigen Salome!« »Der Schwester des Königs?« rief der Händler mit einem neuen mohammedanischen Gruß. »Und von königlichem Geschmack und göttlichem Urteil. 35

Und wieso nicht? Sie ist mehr Griechin als der König. – Aber mein Frühstück! Hier ist Geld, rote Kupferstücke aus Cyprus. Gib mir Trauben und…« »Willst du nicht auch Datteln nehmen?« »Nein, ich bin kein Araber.« »Oder Feigen?« »Sie könnten mich zu einem Juden machen. Nein, nur Trau­ ben. Kein Wasser mischt sich so gut wie das Blut des Griechen und das Blut der Trauben.« Dem griechischen Sänger mit der ganzen Atmosphäre des Hofes folgt eine andere seltsame Gestalt. Ein Mann kommt langsam daher, den Blick zu Boden gesenkt, jeden Augenblick bleibt er stehen, kreuzt die Hände über der Brust, streckt sich, hebt die Augen zum Himmel, als ob er beten wolle. Nur in Jerusalem kann man eine solche Erscheinung finden. Auf dem Stirnband, das seinen Mantel hält, ist ein kleines ledernes Kästchen befestigt. Ein ähnliches Kästchen trägt er an einem Riemen am linken Arm. Die Kanten seiner Kleidung sind mit breiten Krausen geschmückt, und alle diese Zeichen – die Gebetsriemen, die breiten Kleiderborten und das Getue von Heiligkeit, das um den ganzen Mann ist – lassen ihn als einen Pharisäer erkennen, einen aus jener Organisation (religiös eine Sekte, politisch eine Partei), deren Bigotterie und Macht die Welt in großen Kummer stürzen wird. Das dichteste Gedränge vor dem Tor ist auf der Straße nach Joppa. Unter der Menge ist ein Mann von sehr vornehmem Aussehen, mit leuchtenden dunklen Augen, langem lockigem, gesalbtem Bart, in kostbarer, der Jahreszeit angepaßter Klei­ dung. Er trägt einen Stab und an einer Schnur um den Hals ein großes goldenes Siegel. Mehrere Diener begleiten ihn, einige mit kurzen Schwertern im Gürtel, wenn sie sich an ihn wenden, geschieht es mit der tiefsten Ehrerbietung. Bei diesem Herrn sind zwei Araber, echte Wüstensöhne, hagere, sehnige, hohl­ wangige Gestalten, tiefgebräunt, mit hellen Augen. Auf ihrem 36

Kopf tragen sie den roten Fes über ihren Abas. Über die linke Schulter geworfen, so daß der rechte Arm frei bleibt, tragen sie braune wollene Decken, die sie Haicks nennen. Es sind Pferde­ händler, die dem vornehmen Herrn mit lautem Geschrei ihrer schrillen Stimmen eines ihrer Tiere verschachern möchten. Der Herr läßt das Gespräch durch die Diener führen und wirft nur ab und zu ein Wort ein. Als er den Cyprioten erblickt, bleibt er stehen und kauft ein paar Feigen. Der Händler kennt ihn. Es ist einer der jüdischen Prinzen aus der Stadt, der auf seinen Reisen den Unterschied zwischen den gewöhnlichen Trauben aus Syrien und denen aus Cypern kennengelernt hat, die unver­ gleichlich köstlicher sind mit dem Tau des Meers. Jerusalem, so reich an heiliger Geschichte und heiligen Pro­ phezeiungen, das Jerusalem Salomos, in dem Silber nicht mehr als ein Stein galt und Zedern wie Feigenbäume, war zu einer Kopie Roms geworden, ein Zentrum unheiligen Lebens, ein Sitz heidnischer Mächte. Ein jüdischer König hatte eines Tages ein Priestergewand angelegt und war ins Allerheiligste des Tempels gegangen, um Weihrauch zu opfern, und kam als Aussätziger heraus. Aber in der gegenwärtigen Epoche hatte Pompejus den Tempel des Herodes betreten und dasselbe Allerheiligste, und er war herausgekommen, ohne daß ihm etwas Böses geschehen war. Er hatte nur einen leeren Raum gefunden und kein Zeichen von Gott.

Joseph und Maria gehen nach Bethlehem Um die dritte Stunde des Tages, viele Käufer hatten den Markt schon verlassen, aber das Gedränge war das gleiche geblieben, sah man unter den neu Ankommenden einen Mann und eine Frau auf einem Esel. Der Mann ging neben dem Kopf 37

des Esels her. Er hielt ihn an einem Riemen und lehnte sich auf einen Stock, den er sowohl zum Antreiben wie als Stütze benutzte. Seine Kleidung unterschied sich in nichts von der der Juden ringsum; sie sah nur noch sehr neu aus. Den Mantel, der von seinem Kopf herunterhing, und den Rock, der ihm bis auf die Fersen reichte, trug er vermutlich zum Sabbat, wenn er in die Synagoge ging. Sein Gesicht war unbedeckt, man konnte von ihm ablesen, daß der Mann etwa fünfzig Jahre alt war. Sein ehedem schwarzer Bart war ergraut. Er schaute um sich mit der halb neugierigen, halb müßigen Art eines Fremden aus der Provinz. Der Esel kaute an einem kleinen Bündel grünen Grases, ihn schien die Frau nicht zu kümmern, die auf seinem Rücken auf einem Sattelkissen saß. Sie trug ein Kleid aus dunklem Wollstoff, das sie vollständig einhüllte. Ein weißer Schleier kam darunter hervor, der Kopf und Hals bedeckte. Manchmal zog sie den Schleier beiseite, um dahin und dorthin einen Blick zu werfen, aber nur einen Spalt, so daß ihr Gesicht verhüllt blieb. Ein Mann war an die Gruppe herangetreten: »Bist du nicht Joseph von Nazareth?« fragte er. »Ich werde so genannt«, antwortete der Angeredete und wandte sich ernst herum. »Und du – o Friede sei mit dir, mein Freund, Rabbi Samuel!« »Auch mit dir, Joseph!« Der Rabbi schaute auf die Frau. »Friede mit dir, deinem Hause und allen den Deinen!« Bei diesem letzten Wort legte er eine Hand auf die Brust und neigte sein Haupt vor der Frau. Sie lüftete ihren Schleier ein wenig, und man konnte sehen, daß sie fast noch ein Mädchen war. Die beiden Bekannten gaben sich die rechte Hand und hoben sie, als ob sie sie an ihre Lippen führen wollten. Im letzten Augenblick lösten sie die Hände und küßten ihre eigene Hand. Dann legten sie die Hand an die Stirn. »Auf euern Kleidern ist so wenig Staub«, sagte der Rabbi 38

vertraulich, »daß ich annehme, ihr habt die Nacht in der Stadt unsrer Väter verbracht.« »Nein«, antwortete Joseph, »da wir am Abend nur bis Betha­ nien gekommen waren, blieben wir dort in der Karawanserei und sind heute morgen zeitig aufgebrochen.« »Die Reise, die vor euch liegt, ist lang; nicht nach Joppa, hoffe ich.« »Nur bis Bethlehem.« Die Haltung des Rabbi, die bis jetzt offen und freundlich gewesen war, verfinsterte sich plötzlich. »Jaja – ich verstehe«, sagte er. »Du bist in Bethlehem geboren und gehst nun mit deiner Tochter dahin, um dich nach kaiserlichem Befehl einschreiben zu lassen. Die Kinder Jakobs sind noch immer Sklaven, wie sie es in Ägypten waren, nur haben sie keinen Moses und keinen Josua mehr.« Joseph antwortete, ohne seine Haltung zu ändern: »Die Frau ist nicht meine Tochter.« Der Rabbi schien diese Mitteilung überhört zu haben: »Was treiben die Zeloten da unten in Galiläa?« »Ich bin Zimmermann, und Nazareth ist ein Dorf«, sagte Joseph abwehrend. »Die Straße, an der meine Werkstatt steht, führt nicht zu einer Stadt. Meine Arbeit läßt mir keine Zeit, am Streit der Parteien teilzunehmen.« »Aber du bist ein Jude«, sagte der Rabbi ernst. »Du bist ein Jude und aus dem Stamm Davids. Ich kann mir nicht denken, daß es dir Vergnügen macht, irgendeine Steuer zu zahlen, es sei denn den Schebel nach altem Brauch an Jehova.« Joseph schwieg. »Ich beklage mich nicht«, fuhr sein Freund fort, »über die Höhe der Steuer – ein Denar ist eine Kleinigkeit. O nein! Die Steuer ist eine Beleidigung. Und außerdem, was ist dieses Zahlen anders als die Unterwerfung unter die Tyrannei? Sag mir, ist es wahr, daß Judas behauptet, der Messias zu sein? Du lebst inmitten seiner Anhänger.« 39

»Ich habe gehört, daß ihn seine Anhänger für den Messias halten«, antwortete Joseph. In diesem Augenblick zog die Frau ihren Schleier beiseite und enthüllte ihr ganzes Gesicht. Der Rabbi schaute zu ihr hin und konnte die seltene Schönheit dieses Gesichts erkennen, in dem sich ein Zug von wachem Interesse zeigte. Dann stieg eine leichte Röte über Stirn und Wange, und der Schleier wurde wieder geschlossen. Der Politiker vergaß sein Thema: »Deine Tochter ist anmutig«, sagte er leise. »Sie ist nicht meine Tochter«, wiederholte Joseph. Die Neu­ gier des Rabbi war geweckt. Als Joseph das sah, fuhr er rasch fort: »Sie ist das Kind von Joachim und Anna aus Bethlehem, von denen du gewiß gehört hast, denn sie standen in hohem Ruf.« »Ja«, bemerkte der Rabbi ehrerbietig. »Ich kenne sie. Es sind direkte Nachkommen Davids. Ich kenne sie gut.« »Sie sind gestorben, sie starben in Nazareth. Joachim war nicht reich, doch er hinterließ Haus und Garten, die unter seine Töchter Marian und Maria geteilt wurden. Um ihr den Anteil an dem Erbe zu sichern, verlangte das Gesetz, daß sie ihren nächsten Verwandten heiraten mußte. Sie ist jetzt meine Frau.« »Und du bist?« »Ihr Onkel.« »Ich verstehe! Und da ihr beide in Bethlehem geboren seid, verlangt der Römer, daß du sie mit dir nimmst, damit auch sie sich einschreiben läßt.« Der Rabbi faltete die Hände und blickte zum Himmel: »Der Gott Israels lebt noch! Die Rache ist sein!« Damit wandte er sich und ging rasch davon. Ein Fremder in der Nähe, der Josephs Erstaunen sah, sagte sanft: »Rabbi Samuel ist ein Eiferer. Judas ist kein schlimmerer.« Joseph, der mit dem Mann nicht reden wollte, tat, als hörte er nicht, und sammelte das Gras auf, das der Esel um sich gestreut hatte. Dann ergriff er seinen Stab, führte das Tier, auf dem 40

seine Frau saß, durchs Tor und schlug die Straße nach Bethle­ hem ein. Der Abstieg ins Tal von Hinnom war zerklüftet. Hier und da standen wilde Olivenbäume. Vorsichtig schritt der Nazarener an der Seite seiner Frau, und voller Sorgfalt leitete er den Esel am Zügel. Zu ihrer Linken blieb die Stadtmauer um den Berg Zion und zur Rechten der steile Abhang, der das Tal im Westen begrenzt. Langsam wanderten sie am Unteren Teich von Gihon vorbei, aus dem die Sonne die zögernden Schatten des Königsberges vertrieb. Langsam kamen sie vorwärts, hielten sich parallel zum Aquädukt des Salomon-Sees bis nahe an das Landhaus und begannen dann zur Ebene von Rephaim hochzusteigen. Die Sonne glühte herab auf die steinige Landschaft, und Maria, die Tochter Joachims, lüftete ihren Schleier ganz, so daß ihr Kopf unbedeckt war. Joseph erzählte gerade die Geschichte von den Philistern, als sie von David in ihrem Lager überrascht wurden. Er war etwas weitschweifig in seiner Erzählung und sprach mit der feierli­ chen und trockenen Art eines schwerfälligen Menschen. Sie hörte ihm nicht immer zu. Sie war nicht älter als fünfzehn Jahre. Ihre ganze Erscheinung, ihre Stimme, ihre Haltung zeigten, daß ihre Mädchenschaft nicht weit hinter ihr lag. Ihr Gesicht war vollkommen oval, seine Farbe eher blaß als hell. Ihre Nase war fehlerlos, ihre Lippen voll und reif. Sie gaben dem Mund Wärme, Empfindlichkeit und Zutrauen. Ihre Augen waren blau und groß und von hängenden Lidern und langen Wimpern beschattet, und die Flut goldenen Haares, wie sie den jüdischen Bräuten erlaubt ist, fiel los über ihren Rücken bis zu den Kissen, auf denen sie saß. Hals und Nacken waren von flaumiger Zartheit. Zu diesen körperlichen Reizen kamen noch andere, schwerer bestimmbare – ein Ausdruck von Reinheit, wie ihn nur die Seele hervorrufen kann und der kaum faßbar ist. Oft erhob sie mit zitternden Lippen die Augen zum Him­ mel, der selber nicht tiefer blau war; oft kreuzte sie die Hände 41

über der Brust wie in Anbetung oder Gebet; oft hob sie ihren Kopf, als lausche sie voll Spannung auf eine Stimme, die sie rief. Dann und wann, mitten in ihrem langsamen Marsch, wandte sich Joseph und schaute nach ihr, sah, wie ihr kindli­ ches Gesicht aufblühte, vergaß seine Geschichte und wanderte weiter mit gesenktem Kopf. So zogen sie durch die weite Ebene und erreichten schließ­ lich die Anhöhe Mär Elias, wo vor ihnen, jenseits des Tales, Bethlehem lag, das alte, alte »Haus des Brotes« mit seinen weißen Mauern, die einen Bergrücken krönten und über brau­ nen stillen Gärten leuchteten. Hier ruhten sie sich aus, während Joseph die heiligen und berühmten Plätze betrachtete. Dann stiegen sie hinunter ins Tal zu der Quelle, wo der Schauplatz einer der größten Heldentaten von Davids starken Männern war. Der enge Raum war von Menschen und Tieren überfüllt. Joseph überkam eine Angst, ob nicht die Stadt schon zu voll war und es keinen Platz mehr für Maria gab. Ohne Zögern eilte er weiter, vorbei an dem Steinpfeiler, der Rachels Grab be­ zeichnete, den gartenartig bestellten Hügel hinan, grüßte keinen, den er auf dem Weg traf, bis er vor dem Tor der Kara­ wanserei angekommen war, die an einer Straßenkreuzung außerhalb des Dorfes stand.

Die Höhle in Bethlehem Diese Karawansereien, nach einem persischen Wort »Khans« genannt, waren Einfriedigungen in der primitivsten Form ohne Gebäude oder Dach, oft ohne Tor. Der Platz dafür wurde nach drei Bedingungen gewählt: Schatten, Sicherheit und Wasser. Einen solchen Platz suchte Jakob auf, als er auszog, um eine Frau in Padan-Aram zu finden. Andre Karawansereien, beson­ ders die an den Straßen zwischen den großen Städten wie 42

Jerusalem und Alexandrien, waren dagegen fürstliche Einrich­ tungen. Im allgemeinen aber waren sie nichts weiter als Häuser oder Besitzungen eines Scheiks, eine Art Hauptquartier für die Zusammenkünfte seines Stammes. Zur Beherbergung von Reisenden waren sie keineswegs gedacht; sie dienten als Märkte, Lager, wohl auch als Forts, als Treffpunkt für Kaufleu­ te und Handwerker und schließlich auch als Schutz für verspätete Wanderer. In ihren Mauern spielten sich das ganze Jahr über die vielfältigen Geschäfte und Ereignisse einer Stadt ab. In diesen Khans gab es keinen Wirt, keinen Bediensteten, keinen Koch, nur am Eingang fand sich ein Türhüter. Aber jeder, der kam, konnte nach Belieben bleiben, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Notwendigerweise mußten also alle ihr Essen mitbringen oder es bei den dortigen Händlern kaufen. Ebenso mußten sie für ihr Nachtlager und die Unterkunft ihrer Tiere sorgen. Wasser, Ruhe und Schutz war alles, was ihnen geboten wurde, und das alles ohne Bezahlung. Der Friede der Synagogen wurde manchmal durch Streitsüchtige gebrochen, der Friede in den Khans jedoch niemals. Die Karawanserei, vor der Joseph und seine Frau hielten, war nicht ganz so primitiv, aber auch keineswegs fürstlich. Sie besaß ein Gebäude, einen viereckigen, einstöckigen Block aus groben Steinen, nach außen ohne Fenster, mit einem flachen Dach, an der Ostseite lag der Eingang. Die Straße führte so dicht daran vorbei, daß die Schwelle von dem kreidigen Staub bedeckt war. Eine Ecke das Hofes war von einer niedrigen Mauer umschlossen, es war die Unterkunft für die Tiere. Ein Ort wie Bethlehem, der nur einen Scheik besitzt, besaß auch nur einen Khan. Und obwohl Joseph hier geboren war, hatte er doch infolge seiner langen Abwesenheit keine Bekann­ ten mehr, deren Gastfreundschaft er hätte in Anspruch nehmen können. Außerdem hätte er sie nicht für Wochen oder Monate beanspruchen können, und so lange mochte die Einschreibung 43

bei der sprichwörtlichen Langsamkeit der römischen Behörden in den Provinzen wohl dauern. Er war also auf die Herberge angewiesen, deshalb war er erschrocken, als er die Menge von Männern, Knaben und Tieren sah, die Straße und Hof überfüll­ ten. »Wir können nicht durch das Tor«, sagte er. »Laß uns hier warten und sehen, was vor sich geht.« Maria hob ihren Schleier und sah voller Neugierde dem Treiben zu, das ihr neu war. Als ein Mann sich aus der Menge herauswand und bei dem Esel stehenblieb, sprach ihn Joseph an: »Guter Freund, wenn du bist, was ich bin, ein Sohn Judas, sag mir doch, was diese Menge bedeutet?« Der Mann wandte sich wütend um, als er aber Josephs ernstes Gesicht sah, antwortete er ihm: »Friede sei mit dir, Rabbi! Ich bin ein Sohn Judas und wohne in BethDagon, dem Lande des Stammes Dan.« »Auf der Straße von Modin nach Joppa?« fragte Joseph. »Oh, du bist in Beth-Dagon gewesen? Was sind wir doch für Wanderer! Ich bin auf dem Weg zur Einschreibung.« »Auch ich und meine Frau.« Der Fremde schaute auf Maria und schwieg. Die Sonne ver­ klärte ihr Gesicht, und ihre Schönheit schien ganz unirdisch. »Wovon sprach ich?« stotterte der Fremde, den dieser An­ blick ganz verzaubert hatte. »Ach, ich erinnere mich. Ja, als der Befehl kam, habe ich an alles in der Heimat gedacht. Ich war viele Jahre fort, ich sah die Gärten und Felder, die seit den Zeiten von Boas und Ruth unverändert waren, sah die Berge Gedor hier, Gibeah drüben, Mär Elias dort, die in meiner Kinderzeit die Mauern der Welt für mich waren. Und war ich erst wütend über den Befehl, so verzieh ich jetzt dem Tyrannen und ging mit meiner Frau Rachel und meinen Kindern Deborah und Michal.« Der Fremde schaute nun wieder auf Maria, die ihn ansah und ihm zuhörte, dann sagte er: »Willst du nicht deine Frau zu der meinigen bringen, Rabbi? Sie ist dort unter dem Olivenbaum mit den Kindern. Ich sage dir, der Khan ist 44

voll. Es ist unnötig, am Tor zu fragen.« Joseph zögerte lange, ehe er antwortete: »Ich danke dir für dein Anerbieten. Wenn kein Raum für uns in der Herberge ist, wollen wir zu den Deinen gehen. Aber ich will den Torhüter selber fragen. Ich komme gleich zurück.« Er gab dem Fremden das Leitseil des Esels in die Hand und drängte sich durch die Menge. Der Torhüter saß auf einem großen Zedernblock außen vor dem Eingang. Ein Speer lehnte an der Mauer, ein Hund saß daneben. »Der Friede Jehovas sei mit dir!« sagte Joseph. »Was du gibst, sollst auch du finden, und wenn du es gefun­ den hast, soll es sich für dich und die Deinen vervielfältigen«, antwortete der Torhüter. »Ich bin aus Bethlehem. Gibt es keinen Platz mehr?« »Keinen!« »Du magst von mir gehört haben, ich bin Joseph von Naza­ reth. Dort ist das Haus meines Vaters. Ich bin aus dem Geschlecht Davids.« In diesem Wort lag Josephs Hoffnung; denn aus dem Ge­ schlecht Davids zu stammen war die höchste Ehre für einen Sohn Judas. Und dieses Wort war auch nicht ohne Wirkung. Der Torhüter erhob sich, strich seinen Bart und sagte voller Achtung: »Rabbi, ich weiß nicht, wann sich dieses Tor zum erstenmal vor einem Wanderer geöffnet hat. Es muß mehr als tausend Jahre her sein. In all dieser Zeit wurde kein guter Mensch abgewiesen, es sei denn, es war kein Platz mehr für ihn. Wenn das einem Fremden geschah, wieviel schwerer muß es einem Torhüter fallen, einem Sohn Davids nein zu sagen! Ich grüße dich noch einmal, wenn du mit mir gehen willst, werde ich dir zeigen, daß nirgends mehr ein Platz ist oder eine Kammer, nirgends, nicht einmal auf dem Dach. Darf ich fragen, wann du gekommen bist?« »Eben jetzt.« Der Torhüter lächelte: »Den Fremden, der zu dir kommt, 45

sollst du wie einen eigenen Sohn aufnehmen, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Lautet nicht so das Gesetz, Rabbi?« Joseph schwieg. »Wenn so das Gesetz lautet, kann ich dann zu einem sagen, der schon lange hier ist: ›Geh deiner Wege, ein andrer ist hier, der deinen Platz braucht‹?« Joseph schwieg noch immer. »Und wenn ich so sagen würde, wem soll der Platz gehören? Sieh nur die vielen, die schon seit Mittag warten!« »Wer sind denn diese Leute?« fragte Joseph nun. »Und was tun sie hier zu dieser Zeit?« »Alle sind hier aus dem gleichen Grund, der dich hergeführt hat: der Befehl des Kaisers. Und gestern kam auch noch die Karawane aus Damaskus, die nach Arabien und Unterägypten zieht. Die hier gehören dazu, Menschen und Kamele.« Joseph erwiderte: »Der Hof ist groß!« »Ja, aber er ist voll von Frachten, Ballen von Seide, Kästen voller Gewürz und Waren aller Art.« Josephs Ausdruck veränderte sich. Er verlor seine Schwerfäl­ ligkeit, in seine matten Augen kam ein Glanz, und er sagte mit bewegter Stimme: »Ich sorge mich nicht um mich. Aber ich habe meine Frau bei mir, und die Nächte sind hier auf diesen Höhen kälter als in Nazareth. Sie darf nicht draußen bleiben. Gibt es keinen Raum in der Stadt?« »Alle diese Leute waren in der Stadt«, antwortete der Torhü­ ter mit einer Bewegung seiner Hand, »und alle haben berichtet, daß jedes Haus besetzt ist.« »Sie ist so jung«, sprach Joseph für sich, »wenn sie auf dem Hügel schlafen soll, wird die Kälte sie töten.« Dann wandte er sich wieder an den andern. »Vielleicht kanntest du ihre Eltern Joachim und Anna, beide waren aus Bethlehem und wie ich vom Geschlecht Davids.« Dabei senkte der Torhüter die Augen nachdenklich, dann hob er seinen Kopf: 46

»Ich kann dir keinen Platz schaffen«, sagte er, »ich kann dich nicht abweisen. Rabbi, ich will tun, was ich für dich tun kann. Wieviel seid ihr?« Joseph überlegte: »Meine Frau und ein Freund mit seiner Familie aus Beth-Dagon, in allem sechs.« »Gut! du sollst nicht auf der bloßen Erde liegen. Bring deine Leute her, beeilt euch! Denn wenn die Sonne hinter dem Berg untergeht, wird es schnell Nacht, und es ist bald soweit.« »Ich segne dich im Namen aller unbehausten Wanderer!« Damit ging Joseph froh zu Maria und dem Mann aus BethDagon zurück. Der holte seine Familie; die ältere Frau auf einem Esel; die Töchter, Ebenbilder der Mutter in ihrer Jugend. Der Torhüter erkannte, daß sie zu der ärmeren Klasse gehörten. »Das ist meine Frau, von der ich sprach«, sagte Joseph zu dem Torhüter, »und das sind unsre Freunde.« Maria hatte den Schleier abgenommen. »Blaue Augen und goldnes Haar«, murmelte der Torhüter für sich und starrte sie an. »So sah der junge König aus, als er vor Saul sang.« Dann nahm er das Seil aus Josephs Hand und sagte zu Maria: »Friede sei mit dir, o Tochter Davids!« und zu den andern: »Friede euch allen!« Schließlich sagte er zu Joseph: »Folge mir, Rabbi!« Er führte die Gesellschaft durch den menschenerfüllten Ein­ gang in den Hof und geleitete sie durch die Gruppen und Ballen, an den Kamelen, Pferden und Eseln vorbei auf einen Weg, der zu einem grauen Kalkfelsen führte, der den Khan im Westen überragte. »Wir gehen zu der Höhle«, sagte Joseph trocken. Der Führer wartete, bis Maria an seiner Seite war: »Die Höh­ le, zu der wir gehen, beherbergte einst euern Vorfahr David. Von dem Feld unter uns und von der Quelle pflegte er seine Herden ins Tal zu treiben. Später, als er König war, kam er hierher zurück, um auszuruhen, und brachte viele Tiere mit. Die Futterkrippen sind noch jetzt da. Besser ein Ruhelager auf 47

dem Boden, wo er einst schlief, als eins im Hof oder auf der Straße. Hier ist die Hütte vor der Höhle!« Für die Juden aus Bethlehem war eine Höhle nichts Fremdes oder Ungenügendes. Auch störte es sie nicht, daß es ein Stall gewesen war oder noch war. Sie stammten aus einem Volk von Hirten, die mit ihren Herden wanderten. Und so waren sie ihrem Führer dankbar und bewegt von dem, was er von David erzählt hatte. Die Hütte war niedrig und eng, sie lehnte sich rückwärts an den Felsen und hatte keine Fenster. Vorn war eine Tür, die in riesigen Angeln hing und dick mit ockerfarbenem Staub bedeckt war. Als der hölzerne Riegel zurückgeschoben war, wurde die Frau von ihren Kissen gehoben. Und als er die Tür öffnete, rief der Torhüter: »Tretet ein!« Die Gäste traten ein und sahen um sich. Nun sah man, daß die Hütte gerade nur die Öffnung der natürlichen Höhle oder Grotte verdeckte. Sie war etwa vierzig Fuß lang, neun oder zehn hoch und zwölf oder fünfzehn tief. Das Licht kam durch die Tür und fiel auf Haufen von Getreideähren und Viehfutter, auf Töpfe und andre Haushaltungsgegenstände. An den Seiten zogen sich steinerne Krippen hin, die niedrig genug für die Schafe waren. Abgeteilte Stände wie in Ställen gab es nicht. Alles war von Staub bedeckt, und Spinnweben hingen überall, aber der Raum war sauber und ebenso bewohnbar wie irgend­ ein andrer Raum in der Herberge. »Kommt herein!« sagte der Führer. »Dieses Stroh und das Futter ist von Wanderern, wie ihr es seid, zurückgelassen worden. Nehmt davon, was ihr braucht.« Und zu Maria ge­ wandt, fragte er: »Kannst du hier ruhen?« »Der Ort ist heilig«, antwortete sie. »So verlasse ich euch denn. Friede sei mit euch!« Als er gegangen war, machten sie sich daran, die Höhle wohnlich zu machen. 48

Das Licht am Himmel Zu einer bestimmten Stunde am Abend schwiegen Lärm und Gewoge in der Herberge. Jeder Jude erhob sich, wandte sein Gesicht nach Jerusalem, kreuzte die Hände über der Brust und betete, denn es war die heilige neunte Stunde, in der im Tempel auf Moriah geopfert wurde und Gott gegenwärtig war. Danach begann die Unruhe von neuem, jeder nahm seine Mahlzeit ein und bereitete sein Lager. Dann aber wurden die Lichter ausge­ löscht, und es wurde still. Alles schlief. Um Mitternacht rief einer auf dem Dach: »Was ist das für ein Licht am Himmel? Wacht auf, Brüder, wacht auf und seht!« Halb noch im Schlaf richteten sie sich auf und schauten empor, dann wurden sie ganz wach, als hätte sie ein Wunder berührt. Durch jeden Raum, durch den ganzen Hof ging diese Bewe­ gung, und schließlich starrten alle zum Himmel empor. Und das war es, was sie sahen: Ein Lichtstrahl kam aus un­ meßbarer Höhe, dicht bei den nächsten Sternen, und fiel schräg auf die Erde nieder. Der Strahl verbreiterte sich nach unten immer mehr, sein Kern leuchtete und sprühte in goldenem Glanz durch die Dunkelheit. Er schien auf dem benachbarten Berg südöstlich der Stadt zu ruhen und ließ die Konturen aufleuchten. Die ganze Herberge war in Licht getaucht, es war so hell, daß die auf dem Dach jedes Gesicht unter ihnen erken­ nen konnten. Jedes schien vom Wunder berührt. Minutenlang verweilte der Strahl und erfüllte alle mit Angst und Entsetzen. »Saht ihr je etwas Ähnliches?« flüsterte einer. »Es scheint gerade über diesem Berg zu sein. Ich kann nicht sagen, was es ist, ich habe nie so etwas gesehen«, antwortete der andre. »Kann ein Stern zerspringen und herunterstürzen?« fragte einer stammelnd. »Wenn ein Stern fällt, verlischt sein Licht.« »Ich hab’s«, rief einer. »Die Schäfer haben einen Löwen gesehen und Feuer angezündet, um ihn von ihren Herden zu 49

vertreiben.« Der Mann neben ihm atmete tief und sagte: »Ja, das ist es. Die Herden grasten heute im Tal.« »Nein, nein! Wenn man alles Holz aus allen Tälern Judas zusammensuchte und entzündete, würde die Flamme niemals ein solches hohes und strahlendes Licht geben!« Wieder war Stille. Aber dann sagte ein Jude von würdigem Aussehen: »Brüder! Was wir sehen, ist die Leiter, die unser Vater Jakob im Traum sah. Gepriesen sei der Herr, der Gott unsrer Väter!«

Christus ist geboren Anderthalb oder auch zwei Meilen südöstlich von Bethlehem liegt eine Ebene, von der Stadt durch einen Gebirgszug ge­ trennt, der sie gegen den Nordwind schützt. Hier wachsen Sykomoren, Zwergeichen und Fichten, in den Schluchten und Hohlwegen bilden Oliven- und Maulbeerbäume ein Dickicht. Auf dieser Ebene wurden in der ganzen Jahreszeit die Herden geweidet, Schafe, Ziegen und andres Vieh. An der von der Stadt am weitesten entfernten Stelle, dicht unter einem Felsen, war eine uralte geräumige Schafhürde, eine Mârâh. Seit undenklichen Zeiten war die Hütte ohne Dach und ziemlich verfallen. Die Einfriedung dagegen war unzerstört. Das war für die Hirten, die ihre Herden dorthin trieben, wichti­ ger als die Hütte. Die steinerne Mauer um das Land war mannshoch, aber doch nicht hoch genug, daß nicht manchmal Panther oder Löwen, die in der Wüste hungerten, hereinsprin­ gen konnten. Die innere Seite der Mauer war deshalb mit einer dornigen Hecke bepflanzt worden, die einen doppelten Schutz gegen solche Gefahren bildete, so daß kaum noch ein Sperling durch die überragenden Zweige schlüpfen konnte, so dicht 50

waren sie mit Dornen besetzt, scharf wie Eisenspitzen. Auch an diesem Tag waren Hirten dorthin gekommen, die frische Weideplätze für ihre Herden suchten, und vom frühen Morgen an hörte man Rufe und Axtschläge, das Blöken der Schafe und Ziegen, das Läuten der Glöckchen und Hundege­ bell. Als die Sonne unterging, wurden die Tiere in die Mârâh getrieben, dann wurde am Tor ein Feuer angezündet, die Hirten nahmen ihr bescheidenes Mahl ein, unterhielten sich und ließen einen Wache halten. Außer dem Wächter waren es sechs, und sie lagen oder saßen beim Feuer. Da sie gewöhnlich barhäuptig waren, stand ihr Haar in dicken Büscheln um ihren Kopf, und der Bart fiel ihnen bis auf die Brust nieder. Sie trugen Mäntel aus Kalbs- oder Lammleder mit dem Fell nach außen, die ihnen bis zu den Füßen reichten, die Arme bloß ließen und von breiten Gürteln gehalten wurden. Ihre Sandalen waren grob gearbeitet. Von der rechten Schulter hingen Taschen für ihre Nahrung und für die Steine zu ihren Schleudern, die ihnen als Waffe dienten. Neben ihnen lagen Krummstäbe, die Zeichen ihres Berufs, und zugleich noch eine Waffe. Diese Hirten von Judäa sahen rauh und wild aus wie die Hunde, die sie bei sich hatten, aber sie waren einfachen Sinns und gutherzig. Ihr Leben kreiste um ihre Herde, sie mußten wachsam sein und immer bereit, einem Tier zu helfen. Von den großen Dingen der Welt hörten sie wohl, aber es berührte sie kaum. Daß die Römer im Land waren, sahen sie, wenn ein Trupp Soldaten oder auch einmal eine Legion an ihnen vor­ übermarschierte, und eine Weile dachten sie wohl nach über die goldnen Adler, die diese trugen, und über das fremdartige Leben, das die gepanzerten Truppen führten. Doch sie besaßen auch ein bestimmtes Wissen und Klugheit. An den Samstagen läuterten sie sich und gingen in die Synagogen und saßen in den hintersten Bänken, weit von der Bundeslade weg. Wenn die Thora herumgetragen wurde, küßte sie keiner mit größerer Inbrunst wie sie, und keiner lauschte dem Vorleser aufmerk­ 51

samer. In einem Vers der Shema fanden sie ihr ganzes Wissen und das Gesetz ihres einfachen Lebens – ihr Gott war der Eine Gott, und sie mußten ihn lieben mit ihrer ganzen Seele. Und sie liebten ihn wahrhaft, und das war ihre Weisheit, die denen der Könige überlegen war. Während sie miteinander sprachen, war einer um den andern eingeschlafen dort, wo er gerade lag. Die Nacht war, wie die meisten Winternächte, klar, frisch und voller Sterne. Kein Lüftchen regte sich, und es war, als ob es nie so still gewesen wäre. Am Tor schritt der Wächter auf und ab, dicht in seinen Man­ tel gehüllt. Manchmal blieb er stehen und lauschte einer Bewegung der schlafenden Herde oder dem Schrei eines Schakals auf der Bergseite. Die Zeit bis Mitternacht verging ihm zu langsam. Endlich war die Ablösung nahe, und er freute sich auf den Schlaf. Er ging zum Feuer, blieb aber wieder stehen. Um ihn war ein sanfter und weicher Schein, als wäre der Mond hinter Wolken hervorgekommen. Er wartete atemlos. Das Licht wurde stärker. Was er vorher nicht hatte sehen können, lag plötzlich deutlich vor ihm. Er sah die ganze Hürde taghell erleuchtet. Ein Schauer ging durch ihn. Er schaute auf. Die Sterne waren verschwunden, das Licht schien aus einem Fenster des Himmels zu kommen. Als er dorthin schaute, wuchs der Glanz. Plötzlich packte ihn der Schrecken, und er schrie: »Wacht auf, wacht auf!« Die Hunde sprangen bellend auf und liefen davon. Die Herde drückte sich erschreckt aneinander. Die Männer sprangen auf die Füße und griffen zu ihren Waffen. »Was ist?« fragten sie aus einem Munde. »Seht! Der Himmel steht im Feuer!« Plötzlich war das Licht unerträglich hell. Sie bedeckten ihre Augen und fielen auf die Knie, und da ihre Seelen von Schreck ergriffen waren, warfen sie sich auf die Erde, blind und ohn­ 52

mächtig, und wären gestorben, hätte nicht eine Stimme gespro­ chen: »Fürchtet euch nicht!« Sie lauschten. »Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!« In der Stimme war mehr Wohllaut als in einer Menschen­ stimme. Sie war tief und klar, sie durchdrang ihr ganzes Wesen und erfüllte die Hirten mit Zuversicht. Sie hoben sich auf ihre Knie und blickten ehrfurchtsvoll umher. Und da sahen sie in einem Glorienschein die Gestalt eines Menschen, angetan mit einem strahlendweißen Gewand. Über seinen Schultern er­ schienen die Spitzen heller gefalteter Flügel, auf seiner Stirn glänzte ein Stern, leuchtend wie Hesperus, seine Hände waren segnend zu ihnen ausgestreckt, sein Gesicht war heiter und von himmlischer Schönheit. Sie hatten oft von Engeln gehört und in ihrer einfältigen Wei­ se darüber gesprochen. Und nun zweifelten sie nicht, sondern sagten in ihrem Herzen: Die Herrlichkeit Gottes ist über uns. Und das ist der, der einst zu den Propheten über den Fluß Ulai gekommen war. Und der Engel fuhr fort: »Denn euch ist heute der Heiland geboren in der Stadt Da­ vids, der da Christus ist, der Herr!« Dann war er wieder still, und seine Worte sanken in ihre Herzen. »Und das ist das Zeichen für euch! Ihr werdet finden das Kindlein, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen!« Der Bote sprach nicht mehr, er hatte seine frohe Botschaft verkündet. Doch er blieb noch. Plötzlich begann das Licht, dessen Mitte er war, zu glänzen und zu beben, und so weit man sehen konnte, war ein Aufblitzen weißer Flügel, und mit einemmal waren da Heerscharen von Engeln, und Stimmen, die sangen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den 53

Menschen ein Wohlgefallen!« Nicht einmal, viele Male wie­ derholten sie ihren Lobgesang. Dann hob der Bote seine Augen, als suche er die Billigung eines, der da oben war. Er breitete seine Schwingen majestä­ tisch, oben waren sie weiß wie Schnee, im Schatten vielfarbig wie Perlmutter. Als er sie ganz entfaltet hatte, erhob er sich leicht, flog ohne Mühe empor und nahm das Licht mit sich hinauf. Lange nachdem er gegangen war, erklang es vom Himmel nieder: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Men­ schen ein Wohlgefallen!« Nachdem sich die Hirten wiedergefunden hatten schauten sie sich sprachlos an, bis endlich einer sagte: »Es war Gabriel, Gottes Bote an die Menschen.« Keiner antwortete. »Christus, der Herr, ist geboren! Sagte er nicht so?« Nachdem ein anderer seine Stimme wiedergefunden hatte, antwortete er: »Das hat er gesagt.« »Und sagte er nicht auch: die Stadt Davids? Das ist unser Bethlehem drüben. Und daß wir Ihn als Kind in Windeln finden würden?« »Und in einer Krippe liegen!« Der erste Sprecher blickte nachdenklich in das Feuer, dann sagte er in einem plötzlichen Entschluß: »Es gibt nur einen Ort in Bethlehem, wo man Krippen findet, das ist in der Höhle bei dem alten Khan. Brüder, laßt uns gehen und sehen, was sich ereignet hat. Die Priester und Gelehrten haben schon lange auf den Christus gewartet. Nun ist Er geboren, und Gott hat uns ein Zeichen gegeben, an dem wir Ihn erkennen. Lasset uns gehen und Ihn anbeten!« »Aber die Herden!« »Gott wird auf sie achtgeben. Laßt uns eilen!« Dann machten sie sich auf und verließen die Hürde. Sie gingen um den Berg und durch die Stadt und kamen zum 54

Tor der Herberge, wo ein Wächter stand. »Was wollt ihr?« fragte er. »Wir haben heute nacht große Dinge gesehen und gehört«, antworteten sie. »Auch wir haben große Dinge gesehen, aber nichts gehört. Was hörtet ihr?« »Laßt uns zu der Höhle in der Einfriedung gehen, auf daß wir sicher sind. Dann werden wir dir alles sagen. Komm mit uns und sieh selber!« »Das ist ein vergeblicher Gang.«

»Nein, Christus ist geboren.«

»Christus? Woher wißt ihr das?«

»Laßt uns gehen und zuerst sehen!«

Der Mann lachte spöttisch:

»Wirklich der Christus? Woher wollt ihr das wissen?«

»Er ist heute nacht geboren und liegt nun in einer Krippe, so

wurde es uns gesagt. Und es gibt in Bethlehem nur einen Ort mit Krippen.« »Die Höhle?« »Ja! Komm mit uns!« Sie gingen durch den Hof der Herberge, ohne beachtet zu werden, obwohl einige Leute noch wach waren und über das wunderbare Licht sprachen. Die Tür zur Höhle war offen. Eine Laterne brannte darin, und sie traten ohne weiteres ein. »Friede sei mit euch«, sagte der Wächter zu Joseph und dem Mann aus Beth-Dagon. »Hier sind Leute, die ein neugeborenes Kind sehen wollen, das in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen soll.« Das Gesicht des schwerfälligen Nazareners war für einen Augenblick tief bewegt, dann wandte er sich um und sagte: »Das Kind ist hier!« Sie wurden zu einer der Krippen geführt, und da lag das Kind. Die Laterne wurde gebracht, und die Hirten standen stumm. Das Kleine gab kein Zeichen, es war wie andre Neuge­ 55

borene. »Wo ist die Mutter?« fragte der Wächter. Eine der Frauen nahm das Kind, ging zu Maria und legte es ihr in die Arme. Alle traten zu ihr. »Es ist der Christus!« sagte endlich ein Schäfer. »Der Christus!« wiederholten alle und fielen anbetend auf die Knie. Einer wiederholte immer wieder: »Es ist der Herr, und Seine Herrlichkeit ist über Erde und Himmel.« Und der einfache Mann, der nicht mehr zweifelte, küßte den Saum von Marias Kleid und ging, strahlend vor Freude. In der Herberge erzählten sie allen, die sich um sie sammelten, ihre Geschichte. Und als sie durch die Stadt gingen und zurück zu ihrer Hürde, sangen sie gemeinsam den Gesang der Engel: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Men­ schen ein Wohlgefallen!« Die Erzählung verbreitete sich, und das Licht, das so viele gesehen hatten, schien sie zu bestätigen. Am nächsten und dem folgenden Tag wurde die Höhle von einer Menge Neugieriger aufgesucht; einige von ihnen glaubten, aber die meisten lachten und spotteten.

Die Weisen in Jerusalem Am elften Tage nach der Geburt des Kindes näherten sich die drei, Balthasar, Kaspar und Melchior, die sich in der Wüste zusammengefunden hatten, Jerusalem auf der Straße von Sichern. Als sie die Brücke über den Kidron hinter sich gelas­ sen, begegneten sie vielen Leuten, die stehenblieben und ihnen neugierig nachschauten. Judäa war zu dem internationalen Verbindungsweg zwischen der Wüste im Osten und dem Meer im Westen geworden, und auch die Handelsstraße von Osten nach dem Süden führte 56

durch die Provinz. Von dorther stammte ihr Wohlstand. Mit anderen Worten: Jerusalem schöpfte seinen Reichtum aus den Zöllen, die es von dem Durchgangshandel erhob. Notwendi­ gerweise kamen hier, ähnlich wie in Rom, die mannigfaltigsten Leute aus den verschiedensten Völkern zusammen. Ein Frem­ der war hier kein Fremder für die Einwohner. Dennoch erweckten die drei Männer die Verwunderung aller, als sie sich der Stadt näherten. Den Gräbern der Könige gegenüber saßen an der Straße ein paar Frauen. Ein Kind, das die Reiter sah, schlug die Hände zusammen und rief: »Seht, seht! Was für schöne Glöckchen! Was für große Kamele!« Aber weder die silbernen Glöckchen noch die weißen herrli­ chen Kamele noch die Fremdartigkeit und die Kostbarkeit in der Erscheinung der Männer erregte die Leute. Es war die Frage, die der Mann an der Spitze stellte: »Gute Leute«, fragte Balthasar, indem er sich von seinem Sitz niederbeugte, »sind wir nicht bald in Jerusalem?« »Ja«, antwortete die Frau, in deren Arme sich das Kind ver­ krochen hatte. »Wenn die Bäume auf der Höhe etwas niedriger wären, könntet ihr die Türme auf dem Marktplatz sehen.« »Und wo ist der neugeborene König der Juden?« Die Frauen schauten sich verwundert an und antworteten nicht. »Habt ihr nicht von Ihm gehört?« »Nein!« »Nun wohl, so sagt allen, daß wir Seinen Stern im Osten gesehen haben und gekommen sind, Ihn anzubeten.« Dann ritten die Freunde weiter. Sie stellten ihre Frage noch vielen andern, immer mit dem gleichen Ergebnis. Eine große Gesellschaft, die zu der Grotte des Jeremias ging, war so erstaunt über die Frage und die Erscheinung der Reisenden, daß sie ihnen in die Stadt folgte. Die drei waren von ihrer Mission so tief erfüllt, daß sie kein Auge hatten für die Pracht, die sich vor ihnen auftat, weder für 57

die drei großen weißen Bauwerke auf Phasaelus, Mariamne und Hippicus, weder für Zion, das mächtigste auf dem Hügel, noch für die schimmernden Terrassen des Tempels auf Moriah, der als eins der Wunderwerke auf Erden galt. Sie erreichten schließlich den großen Turm am DamaskusTor, wo die drei Straßen von Sichern, Jericho und Gibeon zusammenliefen. Dort stand eine römische Wache. Die Menge, die schon den Kamelreitern folgte, lockte noch mehr Neugieri­ ge an, und als die Reiter anhielten und Balthasar mit dem Wachtposten redete, bildete sich ein großer Kreis um sie. »Friede sei mit dir!« grüßte der Ägypter. Der Posten antwor­ tete nicht. »Wir kommen aus weiter Ferne und suchen den neugebore­ nen König der Juden. Kannst du uns sagen, wo Er zu finden ist?« Der Soldat öffnete das Visier seines Helms und rief etwas mit lauter Stimme, worauf ein Offizier aus dem Gebäude erschien: »Platz da!« Als ihm die Menge nicht gehorchen wollte, wir­ belte er seinen Speer nach allen Seiten und schaffte sich damit Raum. »Was wollt ihr?« fragte er Balthasar. »Wo ist der neugeborene König der Juden?« »Herodes?« fragte der Offizier erstaunt. »Herodes erhielt sein Königreich vom Kaiser. Herodes su­ chen wir nicht.« »Es gibt keinen anderen König der Juden.« »Aber wir haben Seinen Stern gesehen und sind gekommen, Ihn anzubeten.« Der Römer war bestürzt. »Geht weiter!« sagte er schließlich. »Geht weiter! Ich bin kein Jude. Fragt die Lehrer im Tempel oder Annas, den Ho­ henpriester, oder besser noch Herodes selbst. Wenn es noch einen König der Juden gibt, so wird er ihn zu finden wissen.« Dann machte er den Fremden Platz, und sie ritten durch das 58

Tor. Ehe sie in die enge Straße einbogen, sagte Balthasar zu seinen Freunden: »Nun sind wir genugsam angekündigt. Bis Mitternacht wird die ganze Stadt von uns und unsrer Mission gehört haben. Laßt uns zur Herberge gehen!«

Die Zeugnisse vor Herodes An diesem Abend waren vor Sonnenuntergang ein paar Frau­ en beim Wäschewaschen auf den Stufen der Treppe, die zum Teich Siloah hinunterführte. Sie knieten vor ihren breiten irdenen Schüsseln, und ein Mädchen sprang singend die Stufen hinunter und herauf und brachte ihnen Wasser. Während sie bei ihrer Arbeit waren, kamen zwei andere Frauen herzu mit leeren Krügen auf ihren Schultern. »Friede sei mit euch!« begrüßte eine von ihnen die Wäsche­ rinnen. Die sahen auf, schüttelten sich das Wasser von den Händen und erwiderten den Gruß. »Es ist bald Nacht, Zeit aufzuhören.«

»Die Arbeit hört nie auf.«

»Aber man muß auch ruhen und…«

»… hören, was in der Welt vorgeht.«

»Was gibt es Neues?«

»Ihr habt also nichts gehört?«

»Nein.«

»Man sagt, der Christus ist geboren«, sagte die Neuigkeits­

krämerin. Auf den Gesichtern der Wäscherinnen erschien sogleich ein Ausdruck von Neugier; die andern stellten ihre Krüge ab und setzten sich darauf. »Der Christus?« rief eine der Frauen.

»So sagen sie.«

»Wer?«

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»Jeder, alle sprechen davon.« »Glaubt es jemand?« »An diesem Nachmittag kamen drei Männer über die KidronBrücke auf riesigen Kamelen, wie man sie in Jerusalem noch nie gesehen hat.« Die Zuhörer sperrten Mund und Augen auf. »Wie groß und reich die Männer sein mochten, sah man an ihren seidenen Zelten, den goldenen Sattelschnallen und den silbernen Glöckchen. Niemand kannte sie. Sie sahen aus, als ob sie vom andern Ende der Welt kämen. Nur einer von ihnen sprach und fragte alle auf der Straße, sogar Frauen und Kinder: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Niemand konnte ihnen die Frage beantworten, niemand begriff, was sie meinten. Sie sagten noch: ›Wir haben Seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, Ihn anzubeten.‹ Auch den römischen Wächter am Tor fragten sie, aber er war nicht klüger als die einfachen Leute und schickte sie zu Herodes.« »Wo sind sie jetzt?« »In der Herberge. Hunderte sind schon dort gewesen, um sie zu sehen, und Hunderte gehen noch jetzt hin.« »Wer sind sie?« »Niemand weiß es. Es heißt, sie seien Perser, weise Männer, die mit den Sternen reden, vielleicht Propheten wie Elia und Jeremia.« »Was meinen sie mit dem König der Juden?« »Den Christus, der eben geboren worden ist.« Eine der Wäscherinnen lachte und nahm ihre Arbeit wieder auf: »Schön, wenn ich Ihn sehe, will ich an Ihn glauben.« Eine dritte sagte ruhig: »Man hat Ihn schon lange erwartet. Mir würde es genügen, wenn ich sehe, daß Er einen Aussätzi­ gen heilt.« Und alle redeten weiter, bis es Nacht war und die Kälte sie zwang, nach Hause zu gehen.

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Später am Abend, um die Zeit der ersten Nachtwache, ver­ sammelten sich etwa fünfzig Personen im Palast auf dem Berg Zion, die nur zusammenkamen, wenn Herodes es befahl und er von den tieferen Geheimnissen des jüdischen Gesetzes und der Geschichte das eine oder andre hören wollte. Es war eine Versammlung der Lehrer, der Hohenpriester und der bekannte­ sten Schriftgelehrten, der führenden Köpfe und Häupter der verschiedenen Sekten, sadduzäische Fürsten, die als Debattie­ rer berühmten Pharisäer und die stoischen Philosophen der Essäer. Es war eine Sitzung des Sanhedriums. Der Raum, in dem die Versammlung stattfand, gehörte zu einem der Innenhöfe des Palastes. Er war sehr groß und im Stil ganz römisch. Der Fußboden war mit Marmorplatten ausgelegt und die fensterlosen, in Felder geteilten Wände safrangelb bemalt. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger Diwan in der Form eines U, dessen Öffnung der Tür zugekehrt war; hellgelbe Kissen bedeckten ihn, in seiner Biegung stand ein mächtiger Dreifuß aus Bronze, mit Gold und Silber eingelegt, darüber hing an der Decke ein Leuchter mit sieben Armen, jeder Arm trug eine Lampe. Diwan und Lampen waren rein jüdisch im Stil. Die Gesellschaft saß auf dem Diwan. Ihre Kleidung unterschied sich nur in der Farbe. Die meisten Män­ ner waren schon älter und trugen lange Bärte. Mit ihren großen Nasen, dunklen Augen, die von dichten Brauen beschattet waren, wirkten alle ernst, würdig und patriarchalisch. Vor dem Dreifuß in der Mitte des Diwans saß der Vorsitzende des Rates, die übrigen Mitglieder hatten rechts und links Platz genommen. Sein weißes Gewand schien nur ein Gerippe zu bekleiden, so eingesunken und eingeschrumpft war seine Gestalt. Seine halb von den weiß und rot gestreiften seidenen Ärmeln bedeckten Hände lagen gefaltet auf seinen Knien. Wenn er sprach, zitterte der Zeigefinger der rechten Hand. Zu einer anderen Bewegung schien er unfähig. Aber sein Kopf war imponierend, Haar und Bart silberweiß, und trotz der glanzlosen Augen und der 61

eingefallenen Wangen erweckte dieser Greis Ehrfurcht. Es war Hillel, der Babylonier. Mit seinen 106 Jahren saß er noch immer dem Hohen Rate vor, einer der Propheten von göttlicher Inspiration. Auf dem Tisch vor ihm lag eine mit hebräischen Schriftzeichen bedeckte Pergamentrolle, hinter ihm stand wartend ein reichgekleideter Page. Ihn rief am Ende der langen Diskussion, und nachdem sich alle geeinigt hatten, der Greis: »Geh und melde dem König, daß wir bereit sind, ihm Antwort zu erteilen.« Der Knabe eilte davon. Nach einiger Zeit traten zwei Offiziere ein und stellten sich rechts und links von der Tür auf. Ihnen folgte langsam eine höchst auffallende Erscheinung: ein alter Mann in einem Purpurgewand, das mit Scharlach besetzt war. Sein Gürtel war aus goldenen Gliedern und so biegsam wie Leder. Die Schlie­ ßen seiner Schuhe waren mit kostbaren Steinen besetzt. Eine kleine filigrangehämmerte Krone umwand seinen Tarbusch aus weichem karmesinrotem Plüsch und fiel ihm bis auf Nacken und Schultern. Statt eines Siegels hing ein Dolch an seinem Gürtel. Er stützte sich schwer auf einen Stab und blieb oft stehen. Erst als er die Öffnung des Diwans erreicht hatte, hob er die Augen vom Boden, dann schaute er rundum, als bemerke er erst jetzt die Versammlung und wache auf. Sein Blick war so finster und durchbohrend, als suche er einen Feind. Es war Herodes der Große – ein von Krankheiten gebrochener Leib, ein von Verbrechen belastetes Gewissen, ein hervorragender Verstand, eine Seele, die würdig der Verbrüderung mit den Cäsaren war. Er war 67 Jahre alt und behütete seinen Thron mit so wacher Eifersucht, so despotischer Macht und Grausamkeit, wie sie unerbittlicher nicht denkbar waren. Bei seinem Eintritt ging eine allgemeine Bewegung durch die Versammlung. Die älteren Männer verneigten sich grüßend, andre erhoben sich, beugten das Knie und legten die Hand auf den Bart oder die Brust. 62

Nachdem er sie alle betrachtet hatte, ging Herodes zu dem Dreisitz vor dem Platz Hillels, der den kalten Blick mit einer Neigung des Kopfes erwiderte. »Die Antwort!« herrschte der König den Greis an. Er stieß seinen Stock vor ihm nieder und umfaßte ihn mit beiden Händen: »Die Antwort!« Hillel schaute dem König offen ins Auge und antwortete, während seine Genossen ihm mit höchster Aufmerksamkeit zuhörten. »Der Friede Gottes, Abrahams, Israels und Jakobs sei mit dir, o König!« Er sprach diese Worte wie ein Gebet. Dann fuhr er in anderem Ton fort: »Du hast uns gefragt, wo der Christus geboren werden soll­ te.« Der König nickte, aber seine bösen Blicke blieben auf den Weisen gerichtet. »Das ist die Frage!« »Dann, o König, sage ich dir und zugleich im Namen aller meiner Brüder hier, die mit mir übereinstimmen: in Bethlehem in Judäa.« Hillel blickte in das Pergament auf dem Dreifuß, zeigte mit zitterndem Finger auf eine Stelle und las: »Und du, Bethlehem im Lande Judäa, du bist nicht die geringste unter den Fürsten Judas, denn aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei!« Aus den Zügen des Herodes las man die Sorge. Er schaute nachdenklich auf das Pergament. Keiner wagte zu atmen, niemand sprach, auch der König nicht. Endlich wandte er sich um und verließ den Saal. »Wir sind entlassen, Brüder«, sagte Hillel. Die Versammelten erhoben sich, einige gingen davon. »Simeon«, rief Hillel. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren antwortete und trat zu ihm. »Nimm das heilige Pergament, mein Sohn, rolle es vorsichtig 63

zusammen!« Der Befehl wurde vollzogen. »Nun gib mir den Arm, ich will zur Sänfte.« Es geschah, und so verließ der berühmte Lehrer mit seinem Sohn Simeon, seinem Nachfolger in der Weisheit, Gelehrsam­ keit und im Amt, den Saal. Später am Abend lagen die drei Weisen, Balthasar, Kaspar und Melchior, in der Herberge noch wach. Die Steine, die ihnen als Kissen dienten, stützten ihren Kopf, so daß sie durch das offene Dach in die Tiefe des Himmels sehen konnten. Sie schauten zu den blinkenden Sternen empor und dachten über die nächste Offenbarung nach. Wie würde sie kommen, was würde sie sein? Nun waren sie in Jerusalem, sie hatten am Tor nach Ihm gefragt, an den sie immer dachten. Sie hatten Zeugnis von Seiner Geburt abgelegt. Nun blieb ihnen nur noch, Ihn zu finden. Aber sie verließen sich auf den Geist, der sie geführt hatte. Menschen, die auf Gottes Stimme lauschen und auf ein Zeichen vom Himmel warten, können nicht schlafen. Während sie so lagen, trat ein Mann herein: »Wacht auf! Ich bringe euch eine Nachricht, die keinen Auf­ schub duldet.« Die Männer setzten sich auf: »Von wem?« fragte der Ägypter. »Von König Herodes.« Jeden durchschauerte es. »Bist du nicht der Torhüter der Herberge?« fragte Balthasar dann. »Der bin ich.« »Was will der König von uns?« »Draußen ist sein Bote, er wird es euch sagen.« »Sage ihm, er möge warten. Wir kommen.« »Du hattest recht, mein Bruder!« sagte der Grieche, als der Wärter gegangen war. »Die Frage, die wir dem Volk auf der Straße am Tor gestellt haben, hat uns rasch bekannt gemacht. 64

Ich bin ungeduldig, laß uns rasch gehen.« Sie erhoben sich, legten ihre Sandalen an, gürteten ihre Män­ tel fest und gingen hinaus. Draußen stand der Bote: »Ich grüße euch in Frieden und bitte euch um Verzeihung. Aber mein Herr, der König, hat mich gesandt, euch in den Palast zu laden, wo er mit euch allein sprechen möchte.« In dem Licht einer Lampe, die im Eingang hing, schauten sie sich an und wußten, daß der Geist über ihnen war. Dann trat der Ägypter zu dem Wärter und flüsterte ihm zu, so daß die andern es nicht hörten: »Du weißt, wo unsere Güter im Hof untergebracht sind und wo unsere Kamele liegen. Bereite, während wir fort sind, alles vor für unsere Abreise, wenn sie nötig sein sollte.« »Geht ruhig, vertraut mir!« antwortete der Wärter. »Des Königs Wille ist unser Wille«, sagte Balthasar zu dem Boten. »Wir folgen dir.« Die Straßen in der heiligen Stadt waren eng; aber der große Baumeister hatte nicht nur für Schönheit, sondern auch für Sauberkeit und Annehmlichkeit gesorgt. Die Freunde folgten ihrem Führer wortlos. Durch das blasse Sternenlicht, das sich noch oft durch die hohen Mauern und unter den Brücken verdunkelte, stiegen sie hinauf auf den Hügel. Schließlich kamen sie an ein großes Tor. Im Schein der Feuer, die in zwei Pfannen flammten, erkannten sie den Umriß eines Gebäudes und sahen Wachen regungslos bei ihren Waffen liegen. Ohne aufgehalten zu werden, traten sie in das Gebäude. Sie kamen durch gewölbte Hallen, durch Höfe und Säulengänge, über weite Treppen, Kreuzgänge und Zimmer, bis sie in einen hohen Turm geleitet wurden. Hier blieb der Bote stehen, wies auf eine offene Tür und sagte: »Tretet ein! Hier ist der König.« Das Gemach, das sie betraten, duftete von Sandelholz, und alles darin zeugte von weichlicher Pracht. In der Mitte lag ein dicker Teppich, darauf stand der Thron. Die Besucher hatten 65

nicht Zeit, den Raum zu betrachten mit seinen geschwungenen Ottomanen und Diwanen, seinen Gefäßen und Fächern, Musik­ instrumenten und goldenen Leuchtern und den im wollüstigen Stil der griechischen Schule bemalten Wänden; denn Herodes saß auf seinem Thron zu ihrem Empfang in dem gleichen Gewand, das er in der Versammlung des Hohen Rats getragen hatte. Am Rande des Teppichs verneigten sie sich tief. Der König läutete, ein Diener erschien und stellte drei Stühle vor den Thron. »Setzt euch!« sagte der Fürst gnädig. »Ich bekam heute nachmittag vom Nordtor Nachricht, daß drei Fremde, die von weit her gekommen zu sein schienen, eingetroffen seien. Seid ihr es?« Der Ägypter erhielt ein Zeichen von dem Griechen und dem Hindu und antwortete mit der tiefsten Verbeugung: »Wären wir andre, als wir sind, so würde der mächtige Hero­ des, dessen Ruhm die ganze Welt durchdringt, nicht nach uns gesandt haben. Wir zweifeln nicht, daß wir diese Fremden sind.« Herodes dankte mit einer Handbewegung. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Jeder möge für sich selbst sprechen.« Einer nach dem andern gab ihm Auskunft und berichtete von der Stadt und dem Lande seiner Geburt, den Wegen, auf denen sie nach Jerusalem gekommen waren. Etwas enttäuscht stellte Herodes direkte Fragen. »Wie lautete die Frage, die ihr dem Offizier am Tor gestellt habt?« »Wir fragten ihn: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ « »Nun verstehe ich, warum das Volk so neugierig war. Ihr regt mich nicht weniger auf. Gibt es noch einen anderen König der Juden?« Der Ägypter erbleichte nicht: 66

»Einer ist neu geboren.«

Ein Ausdruck von Schmerz überflog das dunkle Gesicht des

Fürsten, als ob ihn etwas quälte. »Nicht mir!« rief er aus. »Mir ist kein Sohn geboren!« Vielleicht zogen vor ihm die Bilder seiner ermordeten Kinder vorüber. Aber dann ermannte er sich und fragte weiter: »Wo ist dieser neue König?« »Das, o König, wollten wir fragen.« »Ihr erzählt mir da eine Wundermär, ein Rätsel, schwieriger als die Salomos. Wie ihr seht, bin ich in einem Alter, da die Neugierde so rege ist wie bei Kindern. Es ist grausam, damit zu spielen. Erzählt mir mehr, und ich will jeden königlich beloh­ nen. Sagt mir alles, was ihr über den Neugeborenen wißt! Und ich will euch helfen, Ihn zu finden. Und wenn wir Ihn gefun­ den haben, will ich tun, was ihr wünscht. Ich will Ihn nach Jerusalem nehmen und Ihn zum König erziehen. Ich will meinen Einfluß bei dem Kaiser zu Seiner Förderung und zu Seinem Ruhm nützen. Keine Eifersucht soll zwischen uns treten, das schwöre ich. Aber erzählt mir erst, wie ihr, die ihr so weit getrennt durch Meere und Wüsten wart, alle von ihm gehört haben konntet?« »Ich will es dir wahrheitsgemäß sagen, o König.«

»Sprich!«

Balthasar erhob sich und sagte feierlich:

»Es gibt einen allmächtigen Gott.«

Herodes erschrak sichtlich.

»Er befahl uns, hierherzukommen. Er verhieß uns, wir wür­

den den Erlöser der Welt finden, Ihn sehen und anbeten und Zeugnis von Seinem Kommen ablegen. Und jeder von uns hat zum Zeichen einen Stern gesehen. Sein Geist war bei uns. O König, Sein Geist ist auch jetzt mit uns.« Ein gemeinsames Gefühl überwältigte die drei. Der Grieche konnte nur schwer einen Aufschrei unterdrücken. Herodes schaute rasch von einem zum andern, er schien noch mißtraui­ 67

scher und unbefriedigter als zuvor. »Ihr spottet meiner«, sagte er. »Wenn nicht, erzählt mir mehr! Was geschieht durch die Ankunft des neuen Königs?« »Die Erlösung der Menschen.« »Wovon?« »Von ihren Sünden.« »Wie?« »Durch die göttlichen Mächte – Glauben, Liebe und gute Werke.« »Dann« – Herodes schwieg, und niemand konnte sagen, mit welchen Empfindungen er fortfuhr –, »dann seid ihr die Vorbo­ ten des Christus. Ist das alles?« Balthasar verneigte sich: »Wir sind deine Diener, o König!« Der Monarch klingelte, und der Diener erschien: »Bring die Geschenke!« Als der Diener zurückkam, überreichte er kniend jedem Gast ein Obergewand von scharlachroter und blauer Farbe und einen Gürtel aus Gold. Sie bedankten sich nach orientalischer Sitte für die Ehre. »Noch ein Wort«, sagte Herodes, als die Zeremonie beendet war. »Dem Offizier am Tor spracht ihr, wie jetzt auch mir, von einem Stern, den ihr im Osten saht.« »Ja«, sagte Balthasar, »Seinen Stern, den Stern des Neugebo­ renen.« »Zu welcher Zeit erschien er?« »Als uns befohlen wurde, hierherzureisen.« Herodes erhob sich zum Zeichen, daß die Audienz beendet war. Er stieg vom Thron herunter und sagte sehr gnädig: »Wenn ihr, o erlauchte Männer, wie ich glaube, die Vorläufer des eben geborenen Christus seid, so wißt, daß ich heute abend die weisesten Juden befragt habe, und sie haben mir einstim­ mig bezeugt, daß Er in Bethlehem in Judäa geboren werden soll. Ich rate euch, geht dorthin, geht und forscht sorgfältig nach dem kleinen Kind. Und wenn ihr Es gefunden habt, gebt 68

mir Nachricht, damit ich komme und Es anbete. Eurer Reise soll kein Hindernis im Weg stehen. Friede sei mit euch!« Und er verließ das Gemach, sich in seinen Mantel hüllend. Sofort erschien der Führer und geleitete sie zur Straße und dann zur Herberge. Vor dem Tor rief der Grieche leidenschaftlich: »Laßt uns nach Bethlehem gehen, o Brüder, wie uns der König geraten hat!« »Ja!« rief der Hindu. »Der Geist glüht in mir.« »So sei es!« antwortete Balthasar. »Die Kamele sind bereit.« Sie beschenkten den Torhüter, stiegen in ihre Sättel, ließen sich den Weg zum Joppa-Tor zeigen und ritten davon. Die großen Torflügel waren nicht verriegelt; sie erreichten das offene Land und nahmen die gleiche Straße, auf der Joseph und Maria gereist waren. Als sie Hinnom hinter sich ließen und die Ebene von Rephaim erreichten, erschien ein Licht – zuerst weit entfernt und schwach. Ihre Herzen schlugen höher. Das Licht wuchs rasch, sie schlossen die Augen vor seinem feurigen Glanz. Als sie wieder aufzusehen wagten, siehe, da stand der Stern wie ein anderer im Himmel, aber ganz nahe, und er ging vor ihnen her. Sie falteten ihre Hände und riefen im Übermaß ihrer Freude: »Gott ist mit uns! Gott ist mit uns!« Sie riefen es immer und immer wieder, bis der Stern sich über das Tal bei Mär Elias erhob und über einem Hause auf dem Abhang des Hügels bei der Stadt stillstand.

Die Weisen finden das Kind Es war um die dritte Nachtwache, und in Bethlehem begann es im Osten über den Bergen hell zu werden, im Tal war es noch Nacht. 69

Der Wächter auf dem Dach der alten Herberge, der in der Morgenkühle schauerte, lauschte auf die ersten Zeichen des erwachenden Lebens, als ein Licht sich den Hügel hinauf dem Hause näherte. Er hielt es für eine Fackel, die jemand trug. Dann dachte er an einen Meteor. Der Glanz wuchs. Nun erkannte er den Stern. Er schrie erschrocken auf und holte die Leute, die wach waren, aufs Dach. Der Stern näherte sich, beleuchtete Felsen, Bäume, Wege und blendete die Augen. Die Ängstlichen fielen auf die Knie und beteten, die Hände vor dem Gesicht. Die Mutigeren bedeckten ihre Augen und warfen von Zeit zu Zeit zaghafte Blicke in das Glänzen. Unterdessen lag die ganze Herberge unter dem unerträglichen Schein. Die es wagten, sahen, daß der Stern über der Höhle stehenblieb. In diesem Augenblick langten die drei Weisen an. Am Tor stiegen sie von ihren Kamelen und riefen nach dem Torhüter. Als der sich vom Schrecken erholt hatte, kam er herbei, schob den Riegel zurück und öffnete ihnen. Die Kamele sahen in dem überirdischen Licht so geisterhaft aus und die Erscheinung der drei Männer so fremdartig, daß der Wächter vor Schrecken umfiel und nicht auf die Frage antworten konnte, die sie ihm stellten. »Ist das nicht Bethlehem in Judäa?« Andre gaben ihnen Auskunft: »Nein, das ist nur die Herberge, die Stadt liegt weiter weg.« »Ist hier nicht ein neugeborenes Kind?« Die Umstehenden starrten sich an, aber einige antworteten: »Jaja!« »Führt uns zu Ihm!« rief der Grieche ungeduldig. »Führt uns zu Ihm«, wiederholte Balthasar und ließ seine Würde fallen, »denn wir haben Seinen Stern gesehen, eben als er über dem Haus stehenblieb, und sind gekommen, den Heiland anzube­ ten.« Der Hindu schlug die Hände zusammen: »Wahrhaftig, Gott 70

lebt! Eilt, eilt! Der Heiland ist gefunden. Wir sind gesegnet unter den Menschen!« Die Leute vom Dach kamen herunter und folgten den Frem­ den, als man sie durch den Hof in die Umfriedung führte. Als sie aber den Stern über der Höhle sahen, so nahe vor ihnen, wandten sie sich erschrocken ab, aber die meisten gingen weiter. Als sich die Fremden der Hütte näherten, stieg der Stern höher, und als sie an der Tür waren, schien er über ihnen zu verschwinden. Als sie eintraten, verschwand er ganz. Und wer es mit angesehen, begriff, daß zwischen dem Stern und den Fremden ein Zusammenhang war und auch mit den Bewohnern der Höhle. Der Raum war von einer Laterne erhellt, so daß die Fremden die Mutter und das Kind in Windeln finden konnten. »Ist das Kind dein Kind?« fragte Balthasar Maria. Und sie, die alle Dinge, die das Kleine betrafen, in ihrem Herzen be­ wegte, hielt Es ins Licht und sagte: »Das ist mein Sohn!« Sie sahen, daß das Kind wie andre Kinder war: Um Sein Haupt war weder ein Heiligenschein noch eine Krone, Seine Lippen öffneten sich nicht für Worte, und als Es die Ausbrüche ihrer Freude hörte, ihre Gebete, ihre Anrufungen, gab Es keinerlei Zeichen; aber Es schaute, ein Kind wie andre Kinder, länger in das Licht der Laterne als auf sie. Nach einer Weile erhoben sie sich, kehrten zu ihren Kamelen zurück, brachten ihre Geschenke, Gold, Weihrauch und Myr­ rhen, und legten sie vor dem Kind nieder, das nichts von ihren anbetenden Worten verstand. Das war nun der Erlöser, den zu finden sie so weit herge­ kommen waren! Dennoch beteten sie Ihn an ohne einen Zweifel. Warum? Ihr Glaube ruhte auf den Zeichen, die ihnen von Ihm gesandt worden waren, den wir als den Vater erkannt haben. Sie waren von solcher Art, daß ihnen Seine Verheißungen genügten und sie nicht nach Seinen Wegen fragten. Nur wenige hatten die 71

Zeichen gesehen und die Verheißungen gehört: die Mutter und Joseph, die Hirten und diese drei – dennoch waren sie alle eines Glaubens. Das will heißen: In diesem Zeitpunkt des Erlösungsplans war Gott alles und das Kind nichts. Aber schau vorwärts, Leser! Es wird eine Zeit kommen, da alle Zeichen von dem Sohn ausgehen. Glücklich die, die dann an Ihn glau­ ben! Laßt uns darauf warten!

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Zweites Buch Jerusalem unter den Römern Einundzwanzig Jahre sind seit der Geburt des Kindes im Stall verflossen. Über Judäa herrscht Valerius Gratus, der vierte kaiserliche Statthalter. Seither hatte sich im Lande viel verän­ dert, am meisten im politischen Leben. Herodes der Große war ein Jahr nach der Geburt des Kindes auf so elende Weise gestorben, daß man seinen Tod als eine Strafe Gottes ansehen durfte. Wie alle großen Herrscher, hatte er nichts anderes getan, als die Macht zu festigen, die er sich geschaffen hatte. Er träumte davon, seinen Thron und seine Krone zu vererben, um so zum Gründer einer Dynastie zu werden. In dieser Absicht teilte er in seinem Testament sein Reich unter seine drei Söhne Antipas, Philipp und Archelaus, letzterer sollte seinen Titel tragen. Das Testament bedurfte der Bestätigung des Kaisers Augustus, der sie auch gewährte mit einer Ausnahme: Arche­ laus sollte erst dann den Königstitel tragen, wenn er seine Fähigkeiten und seine Loyalität bewiesen hatte. Als Ersatz ernannte der Kaiser ihn zum Ethnarch. Als solcher regierte er neun Jahre und wurde dann wegen schlechter Verwaltung und wegen der Unfähigkeit, der unruhigen Elemente, die sich erhoben hatten, Herr zu werden, abgesetzt und nach Gallien verbannt. Aber die Absetzung des Archelaus genügte dem Kaiser nicht. Er strafte das Volk von Jerusalem in einer Weise, die seinen Stolz verletzte und die die Ehre der hohen Herren des Tempels traf. Er machte Judäa zu einer römischen Provinz und gliederte es der Präfektur von Syrien an. An Stelle eines Königs, der in 73

dem Palast der Herodes auf dem Berg Zion regierte, fiel die Stadt in die Hände eines Offiziers zweiten Grades, eines Beamten, der Prokurator genannt wurde und mit Rom nur über den Legaten von Syrien verkehrte, der in Antiochia residierte. Um Jerusalem noch mehr zu erniedrigen, durfte der Prokurator sich nicht dort niederlassen, sondern Caesarea wurde zum Sitz der Regierung gemacht. Und was noch schlimmer war: Das verachtete Samaria wurde der Provinz Judäa eingegliedert! In all diesen Demütigungen hatten die Juden nur einen Trost: Der Hohenpriester bezog den Palast des Herodes auf dem Markt­ platz und hielt hier hof. Seine Autorität war gering. Entscheidungen über Leben und Tod waren dem Prokurator vorbehalten; Gerichtsverhandlungen wurden nach römischem Gesetz und im Namen Roms vollzogen. Selbst der Palast war zum großen Teil kaiserlichen Beamten eingeräumt und ihrem ganzen Stab von Gehilfen, Steuereinnehmern, Zöllnern, Regi­ stratoren, Spitzeln und Spionen. Dennoch lag für alle, die von einer künftigen Freiheit träumten, eine gewisse Genugtuung darin, daß der Herr im Palast ein Jude war. Seine tägliche Gegenwart erinnerte sie an die Verträge und Verheißungen der Propheten, an die Zeiten, in denen Jehova die Stämme durch die Söhne Aarons regierte. Es war für sie ein Zeichen, daß er sie nicht ganz verlassen hatte. Ihre Hoffnungen lebten noch und halfen ihnen, zornig darauf zu warten, daß der Sohn Judas einst Israel wieder regieren werde. Judäa war achtzig Jahre lang und länger eine römische Pro­ vinz gewesen, genügend Zeit, um den Kaiser über die Eigenarten der Juden zu unterrichten und ihn zu der Überzeu­ gung zu bringen, daß sie leicht zu regieren waren, wenn man nur ihre Religion achtete. Die Vorgänger des Gratus hatten nach dieser Anschauung gehandelt, er aber schlug einen andern Kurs ein. Seine erste Regierungshandlung bestand darin, daß er den Hohenpriester Annas absetzte und sein Amt an Ismael, den Sohn des Fabus, gab. Diese Unklugheit hatte böse Folgen. 74

In Judäa bestanden zwei Parteien, die der Vornehmen und die der Separatisten, die Volkspartei. Nach dem Tode des Herodes vereinigten sich beide im Kampf gegen Archelaus, den sie vom Tempel zum Palast von Jerusalem und bis nach Rom mit Intrigen und mit der Waffe führten. Mehr als einmal hallten die heiligen Bauten auf dem Hügel Moriah von Kriegslärm wider, und schließlich gelang es, Archelaus in die Verbannung zu treiben. Obwohl beide Parteien einig waren in diesem Kampf, hatte jede doch ihr eigenes Ziel. Die Vornehmen haßten den Hohenpriester Joazar; die Separatisten stürzten ihn. Mit Arche­ laus fiel auch Joazar. Die Vornehmen wählten Annas, den Sohn Seths, und dadurch spalteten sich die Parteien wieder. Die Vornehmen fanden es ratsam, sich in Rom eine Stütze zu suchen, und rieten dazu, Judäa in eine Provinz zu verwandeln. Für die Separatisten war das ein Ruf zum Kampf, und als Samaria der Provinz eingegliedert wurde, gerieten die Vor­ nehmen in die Minorität. Jetzt brauchten sie die Hilfe Roms noch mehr, um ihre Herrschaft im Tempel und im Palast weiter ausüben zu können. Fünfzehn Jahre, bis zum Regierungsantritt des Valerius Gratus, war es ihnen gelungen. Annas war ein treuer Diener Roms. Eine römische Garnison lag im Turm von Antonia. Römische Wachen standen vor den Toren des Palastes. Ein römischer Richter setzte das zivile Gericht ab. Römische Steuern wurden rücksichtslos eingetrie­ ben und drückten auf Stadt und Land. Täglich, stündlich wurde das Volk gepeinigt und wurde sich des Unterschieds zwischen Freiheit und Abhängigkeit bewußt. Annas hatte es verhältnis­ mäßig in Ruhe halten können. Als er sein Amt an Ismael übergeben mußte, ging er direkt aus dem Tempel zur Volkspar­ tei über und wurde ihr Führer. Der Prokurator sah, daß die gefährlichen Feuer, die allmäh­ lich verglommen waren, wieder aufflackern mußten. Er besuchte Ismael in Jerusalem. Als die Juden ihn an der Spitze einer ganzen Kohorte römischer Legionäre durch die Stadt 75

marschieren sahen, zischten und pfiffen sie ihn aus. Wenn der Prokurator es für notwendig erachtete, ein Exempel zu statuie­ ren, dann wehe dem ersten Missetäter!

Ben Hur und Messala An einem heißen Julinachmittag saßen in den Gärten des Palastes auf dem Berg Zion zwei Jünglinge von siebzehn oder neunzehn Jahren in ernstem Gespräch. Die Gärten waren rings von Gebäuden umgeben. Bis zum zweiten Stock zogen sich Veranden hin, die den Türen und Fenstern Schatten gaben. Vor den oberen Geschossen erhoben sich Galerien und Balustraden. Auf den von gepflegten Wegen durchkreuzten Rasenflächen standen Bäume und Sträucher, wenige große Bäume, seltene Palmen, Johannisbrot-, Apriko­ sen- und Walnußbäume. Ein Springbrunnen in der Mitte ergoß sein Wasser in ein tiefes Marmorbecken. Die beiden Jünglinge saßen in der Nähe des Springbrunnens an einem kleinen Tisch, der ein Gebüsch von Rohr und Olean­ der bewässerte. Die beiden waren wohlgestaltet, und man hätte sie beim ersten Blick für Brüder halten können. Beide hatten schwarzes Haar, dunkle Augen und waren dunkelbraun. Der ältere war ohne Kopfbedeckung. Eine lose Tunika aus feinem grauem Wollstoff mit rotem Besatz, die mit einer silbernen Schnur gegürtet war, erwies ihn als Römer. Er saß auf seinem hellblauen Mantel, Arme und Beine waren bloß und so dunkel­ braun wie sein Gesicht. Wenn er in seinen Gesprächen manchmal seinen Gefährten etwas überlegen anredete, so muß man das entschuldigen. Sein Vater, auf den er sehr stolz war, residierte im Palast neben dem Hohenpriester als hoher Beam­ ter, und die Messalas waren in Rom schon seit Generationen hoch angesehen; einer war ein Freund des Brutus gewesen, ein 76

andrer hatte Octavianus unterstützt, und als dieser Kaiser Augustus geworden war, waren die Verdienste Messalas belohnt worden. Messalas Gefährte war schmächtig. Er trug ein Gewand aus feinem weißem Leinen, wie es in Jerusalem Mode war. Ein Tuch, das von einer gelben Schnur gehalten wurde, bedeckte seinen Kopf und fiel ihm bis über den Nacken. Nicht nur das Gewand, auch sein Gesicht erwies ihn als Juden. Die Stirn des Römers war hoch und schmal, seine Nase scharf und gebogen, seine Lippen waren schmal und gerade, seine Augen kalt und unter den Brauen verborgen. Die Stirn des andern war niedrig und breit, seine Nase lang, mit starken Flügeln, seine Lippen voll und geschwungen. Mit seinem runden Kinn und den schmalen leichtgeröteten Wangen besaß er die Schönheit, Sanftheit, aber auch die Kraft seiner Rasse. Des Römers Erscheinung wirkte edel und streng, die des Juden sinnlich und gefällig. »Sagtest du nicht, daß der neue Prokurator morgen erwartet wird?« fragte der Jude seinen Freund; er sprach Griechisch, das merkwürdigerweise die Umgangssprache in den vornehmen Kreisen Judäas war, da ihre Söhne sie in den Palästen, Lagern und Schulen gelernt hatten, sogar im Tempel sprach man Griechisch. »Ja, morgen«, antwortete Messala. »Wer hat es dir gesagt?« »Ich hörte es, als es Ismael, der neue Palastgouverneur, den ihr den Hohenpriester nennt, gestern abend meinem Vater sagte. Freilich stammte die Nachricht von einem Ägypter, dem Angehörigen eines Volkes, das vergessen hat, was Wahrheit ist, ja von einem des Volkes der Idumenäer, die es nie gewußt haben. Aber heute morgen sprach ich einen Hauptmann vom Turm, und der berichtete mir, daß schon alle Vorbereitungen für den Empfang im Gang sind, daß die Soldaten schon ihre Helme und Schilde putzen und die Adler neu vergolden und daß alle Räume für die neue Garnison schon gesäubert wer­ 77

den.« Die zynische Bemerkung über die Ägypter und Idumenäer, die dem in Rom erzogenen Messala geläufig war, hatte die Röte in das Gesicht des Juden getrieben, aber er schwieg und schaute in den Teich. »In diesem Garten haben wir Abschied genommen«, fuhr der Römer fort. »Deine letzten Worte waren: ›Friede sei mit dir!‹ und meine letzten: ›Mögen die Götter dich beschützen!‹ Erin­ nerst du dich noch? Wie lange mag das her sein?« »Fünf Jahre«, antwortete der Jude, noch immer den Blick auf dem Wasser. »Jedenfalls hast du Grund, dankbar zu sein – soll ich sagen den Göttern? Einerlei! Du bist prächtig herangewachsen, die Griechen würden dich schön nennen. Wenn Jupiter mit einem Ganymed zufrieden ist, was wärst du für ein Mundschenk für den Kaiser! – Aber sag mir, Judah, warum interessiert dich die Ankunft des Prokurators so sehr?« Judah hob seine dunklen Augen zu Messala und hielt seinen Blick fest: »Ja, fünf Jahre. Ich erinnere mich wohl unseres Abschieds. Du gingst nach Rom, ich sah dich abreisen und weinte, denn ich liebte dich. Die Jahre sind dahingegangen, und du bist zu mir zurückgekommen, gebildet und fürstlich – ich spotte nicht. Ich wünsche, du wärst noch der Messala von damals!« »Nein, nein, kein Ganymed, eher ein Rätsel, mein Judah. Ein paar Stunden bei meinem Lehrer für Rhetorik im Forum, ein wenig Erfahrung in der Kunst der Mysterien – und Delphi würde dich als einen Apoll empfangen. Beim Ton deiner feierlichen Stimme würde Pythia mit ihrer Krone zu dir herun­ tersteigen. Im Ernst, mein Freund, wieso bin ich nicht mehr der Messala, der dich verließ? Ich habe die größten Logiker der Welt gehört. Einer sagte in einer Disputation: ›Lerne deinen Gegner verstehen, ehe du ihm antwortest!‹ Gib dich mir zu erkennen!« 78

Judah errötete wieder unter dem spöttischen Blick des an­ dern, aber er antwortete fest: »Du hast von deinen Möglichkeiten guten Gebrauch gemacht und von deinen Lehrern viel Wissen und viel Anstand gelernt. Du sprichst wie ein Meister, aber deine Rede ist bitter. Mein Messala von einst hatte kein Gift in sich, nicht um die Welt hätte er die Gefühle seines Freundes verletzt.« Der Römer lächelte, als sei ihm geschmeichelt worden, und hob seinen stolzen Kopf noch höher: »O mein feierlicher Judah, wir sind nicht in Dodona oder Pytho. Laß die Orakel­ sprüche und sprich deutlich! Womit hab’ ich dir weh getan?« Judah atmete tief und antwortete, indem er seinen Gürtel lockerte: »Auch ich habe in den fünf Jahren manches gelernt. Hillel mag nicht mit den Logikern zu vergleichen sein, die du gehört hast, und Simeon und Schammai sind ohne Zweifel geringer neben den Meistern des Forums. Aber ihre Lehren führen nicht auf verbotene Wege, und wer zu ihren Füßen sitzt, erhebt sich bereichert mit der Erkenntnis Gottes, des Gesetzes und Israels. Und die Frucht dieser Erkenntnis ist Liebe und Ehrfurcht vor allem, was zu ihnen gehört. Der Besuch des großen Kollegiums und meine Studien haben mich gelehrt, daß Judäa nicht mehr das ist, was es einst war. Ich kenne den Unterschied zwischen einem unabhängigen Königreich und der unbedeutenden Provinz, die es heute ist. Und ich wäre armseli­ ger als ein Samaritaner, wenn ich die Entwürdigung meines Landes nicht empfände. Ismael ist kein rechtmäßiger Hohen­ priester und kann es nicht sein, solange der edle Annas lebt. Doch er ist ein Levit, einer von den Tausenden Getreuer, die Gott dem Herrn nach unserm Glauben und unsrer Anbetung gedient haben. Sein…« Messala unterbrach ihn mit schneidendem Lachen. »Oh, jetzt verstehe ich dich. Ismael, sagst du, ist ein Thron­ räuber, aber einem Idumenäer mehr zu glauben als Ismael ist dasselbe, als ob man von einer Natter gestochen würde. Beim 79

trunkenen Sohn der Semele, was sind die Juden für Leute! Menschen und Dinge, selbst Himmel und Erde ändern sich – ein Jude niemals! Für ihn gibt es kein Rückwärts, kein Vor­ wärts. Er bleibt, was seine Vorfahren von Anbeginn waren. – Ich ziehe hier im Sand einen Kreis! Und nun sage mir, was das Leben der Juden anderes ist! Abraham hier, Isaak und Jakob dort, Gott in der Mitte. Und der Kreis, beim Herrn aller Don­ ner, der Kreis ist zu groß. Ich ziehe ihn noch einmal…« Er unterbrach sich, bohrte den Daumen in den Sand und zog mit den Fingern einen Kreis: »Sieh, der Abdruck des Daumens ist der Tempel, die Fingerspur Judäa. Gibt es außerhalb des kleinen Kreises nichts Wertvolles mehr? Die Künste! Herodes war ein Baumeister, dafür ist er verflucht. Malerei, Skulptur – ihre Werke sind Sünde. Dichtkunst ist an eure Altäre gebun­ den. Mit Ausnahme in der Synagoge, wer wagt sonst Redekunst zu treiben? Was ihr im Kriege in sechs Tagen erobert habt, verliert ihr am siebenten. Das ist euer Leben und seine Begrenzung. Wer kann es mir verdenken, daß ich darüber lache! Was ist euer Gott, der sich mit der Anbetung eines solchen Volkes zufriedengibt, gegen unsern römischen Jupiter, der uns seine Adler leiht, daß wir die Welt mit unsern Waffen erobern! Hillel, Simeon, Schammai, Abtalion – was sind sie gegen jene, die uns alles lehren, was wissenswert ist?« Judah erhob sich. Sein Gesicht glühte. »Nein, nein, bleib auf deinem Platz, mein Judah, behalte deinen Platz!« rief Messala und streckte seine Hand aus. »Du spottest über mich.« »Hör mich noch weiter an!«, der Römer lächelte spöttisch. »Mögen Jupiter und seine ganze Familie, Griechen und Latei­ ner über mich kommen, wie sie es gewohnt sind, und unserm ernsthaften Gespräch ein Ende machen! Ich bin dir dankbar für die Freundlichkeit, daß du aus dem alten Haus deines Vaters hierhergekommen bist, um mich willkommen zu heißen, um die Liebe unsrer Kindheit – wenn möglich – zu erneuern. 80

›Geht‹, sagte mein Lehrer in der letzten Stunde, ›geht und werdet groß, erinnert euch, daß Mars regiert und Eros nicht mehr blind ist.‹ Er meinte, Liebe ist nichts, Krieg alles. In Rom ist es wirklich so. Heirat ist der erste Schritt zur Scheidung. Tugend ist eine Handelsware. Kleopatra hat uns sterbend ihre Künste hinterlassen und ist gerächt. In jedem römischen Haus hat sie einen Nachfolger. Die übrige Welt geht den gleichen Weg: Nieder mit Eros, hoch Mars! ich werde Soldat sein, und du, mein Judah, ich bedaure dich, was kannst du sein?« Judah wandte sich noch mehr dem Teich zu. Messela fuhr eitel fort: »Ja, ich bedaure dich, mein feiner Judah. Von der Schule zur Synagoge, von dort zum Tempel und dann – als Krönung des Ruhms – ein Sitz im Sanhedrium. Ein Leben ohne jede Aus­ sicht, die Götter mögen dir beistehen! Aber ich…« Judah sah ihn an und konnte den Stolz erkennen, den Messa­ las Gesicht ausdrückte: »Ich! Oh, die Welt ist noch nicht vollständig erobert. Das Meer hat noch unbekannte Inseln. Im Norden gibt es noch fremde Völker. Einer kann noch den Ruhm erringen, Alexan­ ders Marsch nach dem Fernen Osten zu vollenden. Sieh, was für Möglichkeiten einem Römer offenstehen! Ein Feldzug nach Afrika, ein anderer nach Skythien. Und dann eine Legion! Hier enden die meisten ihre Laufbahn, aber nicht ich. Beim Jupiter, was für eine Idee! Ich werde meine Legion für eine Präfektur hergeben. Denke dir ein Leben in Rom mit Geld, viel Geld, Wein, Weiber, Spiele, Dichter bei den Gelagen, Intrigen am Hofe, Würfelspiel das ganze Jahr! Ein solches Leben kann es geben – eine fette Präfektur, und es ist mein! Oh, mein Judah, hier ist Syrien! Judäa ist reich, Antiochia eine Hauptstadt für Götter. Ich will des Cyrenius Nachfolger werden, und du – du sollst mein Glück mit mir teilen.« Für den jungen Juden waren diese Gedanken neu und völlig verschieden von dem ernsten, feierlichen Stil der Gespräche, 81

die ihm vertraut waren. Er gehörte schließlich zu einem Volke, dessen Gesetze und Gebräuche Satire und Humor verboten. Und es war nur natürlich, daß er seinem Freund mit den unter­ schiedlichsten Empfindungen zuhörte. Die überlegene Art Messalas war ihm zuerst beleidigend erschienen, bald begann sie ihn empfindlich zu quälen, und zuletzt wurde es zu einem stechenden Schmerz. Es war eine Qual für ihn, Messala anzu­ hören, zumal auch ein solcher Patriotismus für einen Juden der damaligen Epoche unverständlich war. »Es gibt wohl ein paar Menschen«, sagte Judah mit einem gequälten Lächeln, »die mit ihrer Zukunft scherzen. Ich, mein Messala, gehöre nicht dazu.« Der Römer sah ihn an und antwortete: »Warum soll man die Wahrheit nicht in einen Scherz oder eine Parabel kleiden? Die große Fulvia ging eines Tages fischen. Sie fing mehr Fische als die ganze übrige Gesellschaft und gab als Grund an, daß der Haken ihrer Angel vergoldet war.« »So hast du also nicht im Scherz geredet?« »Ich sehe, mein Judah, daß ich dir nicht genug geboten ha­ be«, antwortete der Römer rasch und mit sprühendem Blick. »Wenn ich Präfekt sein werde in dem Judäa, das mich reich machen wird, dann mache ich dich zum Hohenpriester.« Judah stand zornig auf . »Geh nicht!« bat Messala. Judah blieb unentschlossen stehen. »Ihr Götter, wie heiß ist es! Laß uns in den Schatten gehen, Judah!« »Es wäre besser, wir trennten uns. Ich wünschte, ich wäre nicht gekommen. Ich glaubte einen Freund zu finden und finde einen…« »Römer!« fiel ihm Messala ins Wort. Judahs Hände ballten sich, aber er beherrschte sich und ging. Messala erhob sich, nahm seinen Mantel von der Bank, warf ihn über die Schulter und folgte ihm. Als er ihn erreicht hatte, 82

legte er ihm die Hand auf die Schulter und ging an seiner Seite mit ihm. »So pflegten wir, meine Hand auf dir, zu gehen, als wir Kin­ der waren. Laß uns so bleiben bis zum Tor.« Messala versuchte ernst und freundlich zu sein, obgleich er den spöttischen Zug in seinem Gesicht nicht bannen konnte. Judah ließ sich die Vertraulichkeit gefallen. »Du bist ein Knabe, ich bin ein Mann; laß mich als Mann zu dir reden! – Glaubst du an die Parzen? Oh, ich vergaß, daß du ein Sadduzäer bist; die Essener sind klug, sie glauben an die Schwestern. Ich auch. Wie oft sind einem die drei im Wege, wenn wir tun wollen, was uns gefällt! Gerade, wenn ich meine Hand ausstreckte, um die Welt zu ergreifen, höre ich hinter mir das Schleifen ihrer Schere. Aber, mein Judah, warum zürnst du mir, als ich davon sprach, ich wollte dem alten Cyrenius folgen? Du dachtest wohl, ich will mich bereichern, indem ich Judäa ausplündere. Nimm es an! Viele Römer tun das. Warum nicht ich?« Judah ging langsamer: »Es waren vor den Römern fremde Herrscher in Judäa«, sagte er und hob die Hand. »Wo sind sie hingekommen, Mes­ sala? Judäa hat alle überlebt. Was einmal war, kann wieder sein.« »Die Parzen haben außer den Essenern noch Gläubige. Bra­ vo, Judah, willkommen in diesem Glauben!« »Nein, Messala, rechne mich nicht dazu! Mein Glaube ruht auf dem Felsen, der vom Glauben meiner Väter gesetzt wurde seit Abraham. Er ruht auf den Bündnissen mit Gott dem Herrn von Israel.« »Zu viel Leidenschaft, mein Judah. Wie wäre mein Lehrer ergrimmt gewesen, wenn ich je in seiner Gegenwart so viel Hitze gezeigt hätte! Ich hätte dir noch andre Dinge zu sagen, aber nun fürchte ich mich.« Nach ein paar Schritten fuhr er fort: »Ich denke, du kannst mich nun anhören, besonders da 83

das, was ich zu sagen habe, dich selbst angeht. Ich möchte dir helfen, o schöner Ganymed. Ich möchte mit wirklich gutem Willen helfen. Ich liebe dich – soviel ich kann. Ich sagte dir, ich würde Soldat werden. Warum nicht auch du? Warum sollst du aus dem engen Kreis, den ich dir gezeigt habe, nicht heraus­ treten? Soll das dein ganzes Leben sein, das dir dein Gesetz, deine Gebräuche vorschreiben?« Judah antwortete nicht. »Wo sind die Weisen unsrer Tage? Ich meine nicht die, die das ganze Jahr über tote Dinge streiten, über die Baals, Jupiters und Jehovas, über Philosophen und Religionen. Nenne mir einen großen Namen, Judah, gleichgültig, wo du ihn findest, in Rom, Ägypten, im Osten oder hier in Jerusalem! Pluto soll mich holen, wenn es nicht ein Mann ist, der seinen Ruhm aus dem Stoff geschmiedet hat, den ihm die Gegenwart lieferte, der nur das heilig hielt, was seinem Zweck diente, und das verach­ tete, was ihm nichts nutzte. Wie war es mit Herodes? Wie mit den Makkabäern? Wie mit den ersten und zweiten Kaisern? Folge ihnen! Beginne jetzt! Und du wirst sehen – Rom wird dir helfen, wie es dem Idumenäer Antipater geholfen hat.« Judah zitterte vor Wut, und da das Parktor in der Nähe war, beeilte er seine Schritte, nur begierig, Messala zu entkommen: »O Rom, Rom!« murmelte er. »Sei klug!« fuhr Messala unbekümmert fort. »Verzichte auf die Narrheiten des Moses und der Überlieferungen, sieh die Lage, wie sie ist! Wage es, den Parzen ins Angesicht zu schau­ en, und sie werden dir sagen: Rom ist die Welt. Frage sie nach Judäa, und sie werden dir antworten: Judäa ist, was Rom will.« Sie standen vor der Pforte. Judah blieb stehen und nahm sanft Messalas Hand von seiner Schulter, Tränen in den Augen. »Ich verstehe dich, du bist ein Römer, aber du kannst mich nicht verstehen – ich bin ein Israelit. Du hast mir heute weh getan, indem du mich überzeugtest, daß wir nie mehr die Freunde sein können, die wir gewesen sind! Hier trennen wir uns. Der Friede 84

des Gottes meiner Väter sei mit dir!« Messala streckte ihm die Hand hin, Judah ging durch die Pforte. Als er verschwunden war, stand der Römer einen Augenblick schweigend, dann verließ auch er den Park, warf seinen Kopf zurück und sagte zu sich: So sei es! Eros ist tot, Mars regiert!

Ein jüdisches Haus Nicht lange danach, nachdem sich Judah vor dem Palast am Marktplatz von Messala getrennt hatte, stand er vor einem Haus in der Straße, die heute Via Dolorosa heißt und vom Stephanus-Tor, an der Nordfront des Turms von Antonia entlang, bis zum Tor des Gerichts, bald rechts, bald links abbiegend, schließlich südwärts verläuft. Das aus großen, ungeglätteten Steinblöcken gefügte strenge Gebäude war ein Eckhaus. Seine beiden Fronten von etwa hundert Fuß Länge lagen nach Westen und Norden. Es war zwei Stock hoch und vollkommen viereckig. Das Ganze machte einen festungsarti­ gen Eindruck, nur die Fenster und Türen waren in sehr ungewöhnlichem Stil reich verziert. An der Westseite waren vier, an der Nordseite zwei Fenster im zweiten Stock nach der Straße zu. Das Erdgeschoß war ohne Fenster. Die Türen waren so dicht mit eisernen Stäben gesichert, als müßten sie Mauer­ brechern standhalten. Die Türverkleidung bestand aus Marmor. Die Zeichen, mit denen sie geschmückt waren, deuteten auf einen reichen Besitzer, einen Sadduzäer. Judah klopfte, das Pförtchen in der großen Tür öffnete sich, und er trat so rasch ein, daß er den tiefen Gruß des Torhüters übersah. Er ging durch einen engen Gang mit getäfelten Wän­ den und Decken, an dessen beiden Seiten Steinbänke standen, die vom langen Gebrauch geglättet und gedunkelt waren. 85

Zwölf oder fünfzehn Stufen führten in einen Hof hinab, der an drei Seiten von zweistöckigen Gebäuden umgeben war. Im Erdgeschoß waren die Ställe untergebracht, um die oberen Stockwerke zogen sich Terrassen mit starken Balustraden. Überall sah man Diener. Man hörte das Reiben von Mühlstei­ nen. An ausgespannten Leinen flatterten Kleider. Hühner und Tauben flogen umher, in den Ställen standen Ziegen, Kühe, Esel und Pferde. Ein großes Wasserbecken zeigte, daß der Hof zu den Wirtschaftsräumen des Besitzers gehörte. An der Ostseite zog sich eine Mauer mit einer Tür hin. Durch diese Tür betrat Judah einen zweiten, geräumigen und viereckigen Hof, mit Sträuchern und Weinstöcken bepflanzt, die durch das Wasser eines Beckens frischgehalten wurden. Offene, hohe und luftige Vorhallen, die mit rot und weiß gestreiften Vorhän­ gen beschattet waren, zogen sich um das Erdgeschoß der Gebäude. Ihre Bögen ruhten auf Bündelsäulen. Zu den mit großen Planen vor der Sonne geschützten Terrassen des Ober­ geschosses führte eine Treppe, eine andre von dort zum Dach. Das Dach war an allen Seiten von einer Brüstung aus sechsek­ kigen hellroten Ziegeln mit plastischem Gesims umgeben. Das alles war so peinlich saubergehalten und gepflegt, wie es nur in reichen und vornehmen Häusern geschieht. Judah nahm seinen Weg zwischen den blühenden Sträuchern die Treppe zur Terrasse hinauf, über die großen weißbraunen und vom Alter abgenützten Fliesen, und betrat einen mit weißblauen Ziegeln belegten Raum, der hinter dem Türvorhang im Dunkel lag. Er warf sich der Länge nach auf einen Diwan, das Gesicht in den gekreuzten Armen. Als es fast Nacht war, betrat eine Frau das Zimmer. Sie rief ihn an, und er antwortete. »Das Abendessen ist vorbei, und es ist Nacht. Ist mein Sohn nicht hungrig?« »Nein«, antwortete er. »Bist du krank?« 86

»Ich bin müde.« »Deine Mutter hat nach dir gefragt.« »Wo ist sie?« »Im Gartenhaus auf dem Dach.« Judah erhob sich: »Gut, bring mir etwas zu essen.« »Was willst du haben?« »Was du willst, Amrah. Ich bin nicht krank, aber ich fühle mich nicht wohl. Das Leben kommt mir nicht mehr so ange­ nehm vor wie heute morgen. Das ist eine neue Krankheit, meine Amrah; und du, die mich so gut kennt und mir immer geholfen hat, wirst etwas für meinen Hunger finden, das auch Arznei für mich ist. Ich überlasse es dir.« Amrahs Fragen und der Ton, in dem sie gestellt wurden, zeugten von dem innigen Verhältnis zwischen beiden. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und ging dann befriedigt: »Ich werde sehen.« Nach einer Weile kam sie zurück und brachte auf einer hölzernen Platte eine Schale Milch, ein paar dünne Scheiben weißes Brot, einen Brei aus zerstoßenem Weizen, ein Brat­ huhn, Honig und Salz. Auf der Platte standen noch ein Silberbecher mit Wein und eine bronzene Handlampe. Der nun erhellte Raum erwies sich als Schlafzimmer. Die glatten Wände waren gemalt, an der Decke zogen sich große braune Eichenbalken hin. Ein paar Stühle mit Löwenfüßen und der mit blauem Tuch bespannte Diwan, der etwas erhöht stand und auf dem eine große gestreifte Wolldecke lag, war die ganze Einrichtung. Amrah schob einen Stuhl von Judahs Diwan und stellte die Platte darauf, dann kniete sie nieder und bediente ihn. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, dunkel, mit brau­ nen Augen, und ihr Gesicht hatte im Ausdruck etwas Mütterliches. Sie trug einen weißen Turban, der die Ohrläpp­ chen frei ließ und die von einem dicken Pfriemen gebohrten Löcher erkennen ließ: Sie war eine Sklavin ägyptischer Ab­ stammung, der auch das heilige fünfzigste Jahr keine Freiheit gebracht hatte. Sie würde sie auch gar nicht angenommen 87

haben, denn der Jüngling, den sie bediente, war ihr lieb wie ein eigener Sohn. Sie hatte ihn genährt, zum Kind erzogen und konnte diesen Dienst nicht entbehren. Für sie würde er nie ein Mann werden. Während er aß, fragte er sie: »Erinnerst du dich, o meine Amrah, noch an Messala, der mich früher oft tagelang besuchte?« »Ich erinnere mich.« »Er ist vor Jahren nach Rom gegangen und ist nun zurückge­ kehrt. Ich habe ihn heute besucht.« Judah wurde von einem Widerwillen geschüttelt. »Ich wußte, daß etwas vorgefallen war«, antwortete Amrah. »Messala gefiel mir nie. Sage mir alles!« Aber Judah verfiel wieder in Grübeleien und antwortete nur kurz: »Er hat sich sehr verändert, und ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.« Als Amrah die Platte forttrug, ging auch er hinaus und von der Terrasse aufs Dach hinauf. Auf dem Dach verbringen die Bewohner Syriens im Sommer einen großen Teil des Abends und der Nacht. Am Tag treibt sie die Sonne in die schattigen Räume und Vorhallen. Sobald die Schatten über die Berge fallen, wird das Dach Erholungsstätte, Schlafzimmer, Damenzimmer, Versammlungsplatz für die ganze Familie, wo es Musik, Tanz und Unterhaltung gibt, wo aber auch Raum ist zur Träumerei und zum Gebet. Die schon von Moses angeordnete Brüstung war von den Töpfern reich entwickelt worden. Später baute man Türme auf das Dach; die Könige und Fürsten schmückten es mit Sommer­ häusern aus Marmor und Gold. Und die Dachgärten der Babylonier vollendeten den Luxus. Judah betrat einen Turm in der Nordwestecke des Daches und durch einen halbgeöffneten Vorhang ein dunkles Zimmer, das an allen vier Seiten türähnliche Öffnungen hatte, durch die man den Himmel und die Sterne sehen konnte. In einer dieser Öffnungen ruhte in den Kissen eines Diwans eine Frau in 88

weiten weißen Gewändern. Als sie die nahenden Schritte vernahm, ließ sie den juwelengeschmückten Fächer in ihrer Hand sinken und richtete sich auf: »Judah, mein Sohn.« »Ich bin es, Mutter.« Judah trat zu ihr, kniete nieder, sie legte die Arme um ihn und küßte ihn.

Die sonderbaren Fragen Ben Hurs Die Mutter legte sich wieder in ihre Kissen zurück, und Ju­ dah setzte sich neben sie und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Beide schauten über die niedrigen Dächer der Nachbarhäuser in das blaue Dunkel des Westens, wo sich das Gebirge hinzog, und in den sternbesäten Himmel. Die Stadt war still. Nur das Wehen des Windes war zu hören. »Amrah erzählte mir, daß dir etwas zugestoßen sei«, begann die Mutter und streichelte Judahs Wange. »Als mein Judah noch ein Kind war, konnte ich ihm erlauben, sich an Kleinig­ keiten zu beunruhigen, aber jetzt ist er ein Mann. Er darf nicht vergessen, daß er eines Tages mein Held sein muß.« Sie bediente sich einer Sprache, die im Lande beinahe fremd geworden war; sie wurde nur noch von wenigen alten und vornehmen Familien gesprochen, es war die Sprache, in der einst Rebekka und Rahel Benjamin vorsangen. Die Worte der Mutter hatten Judah wieder nachdenklich gestimmt. Er nahm ihre Hand, mit der sie ihm Kühlung zugefä­ chelt hatte, und sagte: »Heute, meine Mutter, mußte ich über vieles nachdenken, was mir bis jetzt nie in den Sinn gekommen war. Sag mir zuerst, was soll ich werden?« »Hab’ ich dir’s nicht gesagt? Du sollst mein Held werden.« Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch er wußte, daß sie 89

im Scherz sprach. Er wurde ernster. »Du bist so gut und lieb, o meine Mutter. Niemand wird mich je so lieben wie du.« Er küßte ihre Hand immer wieder. »Ich kann mir denken, warum du meine Frage so abfertigst. Mein ganzes Leben hat dir gehört. Wie mild, wie gütig hast du mich geleitet! Ich wünschte, es könnte immer so bleiben. Aber das kann nicht sein. Es ist der Wille des Herrn, daß ich eines Tages ich selbst werde. Ein Tag der Trennung muß kommen – ein schmerzlicher Tag für dich. Wir wollen tapfer und ernst sein. Ich will dein Held sein, aber du mußt mich auf meinen Weg treiben. Du kennst das Gesetz: Jeder Sohn Israels muß seinen Beruf haben. Ich bin davon nicht ausgenommen. Deshalb frage ich jetzt: Soll ich die Herde hüten? Oder den Boden bestellen? Oder die Sägemühle treiben? Oder ein Schreiber oder Rechts­ kundiger werden? Liebe, gute Mutter, hilf mir zu einer Antwort!« »Gamaliel hielt heute eine Vorlesung«, sagte sie nachdenk­ lich. »Ich hörte ihn nicht.« »Dann bist du wohl mit Simeon gegangen? Man sagt, er habe die Begabung seiner Familie geerbt.« »Nein, ich sah ihn nicht. Ich war auf dem Marktplatz, nicht im Tempel. Ich habe den jungen Messala besucht.« Eine gewisse Veränderung im Ton seiner Stimme ließ die Mutter aufhorchen. Eine Ahnung ließ ihr Herz rascher schla­ gen, der Fächer lag wieder regungslos in ihrer Hand: »Messala! Was konnte er sagen, was dich so erregt?« »Er hat sich sehr verändert.« »Du meinst, er ist als Römer zurückgekommen?« »Ja!« »Römer«, fuhr sie halb für sich fort, »für die ganze Welt bedeutet das Wort ›Herrscher‹. Wie lange war er fort?« »Fünf Jahre.« Sie hob ihren Kopf und sah in die Nacht hinaus. 90

»Der Geist der Via sacra lebt wohl in den Straßen Ägyptens und Babylons, aber in Jerusalem, unserem Jerusalem, gilt der Bund.« »Was Messala sagte, meine Mutter, war scharf genug, aber in dem Ton, in dem er es sagte, war es unerträglich.« »Ich weiß, was du meinst. Die Dichter, Redner, Senatoren und Hofleute Roms sind vernarrt in die Satire.« Judah erwiderte: »Ich glaube, alle großen Völker sind stolz, aber der Stolz der Römer ist anders als der andrer Völker. In der letzten Zeit ist er so gewachsen, daß selbst die Götter vor ihm kaum noch bestehen.« »Die Götter bestehen«, antwortete die Mutter rasch. »Mehr als ein Römer hat Anbetung als sein göttliches Recht gefor­ dert.« »Gut, Messala besaß schon immer etwas von dieser unange­ nehmen Eigenschaft. Ich habe gesehen, daß er als Kind Fremde verspottete, denen selbst Herodes Ehre erwies; aber Judäa hat er stets verschont. Heute aber begann er sein Gespräch mit mir, indem er Gott und unsre Sitten angriff. Wie du es nicht anders erwartet hättest, habe ich mich endgültig von ihm getrennt. Und nun, Mutter, möchte ich genauer wissen, ob es einen Grund für die Verachtung des Römers gibt. Warum bin ich geringer? Ist mein Volk niedriger? Weshalb sollte ich mich, selbst in Gegenwart des Kaisers, als Sklave fühlen? Sage mir vor allem, warum ich, wenn ich den Wunsch dazu habe, nicht auf allen Gebieten nach den Ehren der ganzen Welt streben darf? Warum darf ich nicht das Schwert nehmen und mich dem Krieg widmen? Warum, wenn ich ein Dichter wäre, nicht jeden Gegenstand besingen? Ich kann ein Handwerker, ein Hüter der Herden, ein Kaufmann sein, warum nicht ein Künstler wie die Griechen? Sag es mir, meine Mutter – und das ist meine Verwirrung –, warum kann ein Sohn Israels nicht all das tun, was ein Römer tun kann?« Die Mutter begriff sofort, daß alle diese Fragen in Judah 91

durch das Gespräch mit Messala aufgewühlt worden waren, und sie antwortete so lebhaft, wie er gesprochen hatte: »Ich verstehe, ich verstehe. Während eurer Knabenfreundschaft war Messala beinahe wie ein Jude; wenn er hiergeblieben wäre, hätte er sich vielleicht zu unserm Glauben bekehrt, so stark sind die Einflüsse der Umgebung auf unser Leben. Aber die Jahre in Rom waren zu stark für ihn. Ich wundere mich nicht über seine Veränderung, doch«, sie senkte ihre Stimme, »er hätte mit dir schließlich zärtlicher umgehen können. Nur harte und grausame Naturen können in der Jugend ihre ersten Lieben vergessen.« Sie legte ihm die Hand auf die Stirn und streichelte sein Haar zärtlich, während sie zu den höchsten Sternen emporschaute. Ihr Stolz war nicht geringer als der seine. Sie wollte ihm antworten, aber um alles in der Welt durfte die Antwort nicht unbefriedigend ausfallen. Sie zögerte voller Befürchtungen über ihre eigenen Kräfte. »Was du wissen willst, o mein Judah, ist für eine Frau sehr schwer zu beantworten. Laß es mich bis morgen verschieben, ich will den weisen Simeon fragen.« »Schicke mich nicht zu dem Lehrer!« warf er ein. »Ich will ihn hierherkommen lassen.« . »Nein, Mutter, ich brauche mehr als eine Unterweisung. Die könnte er mir wohl besser geben als du; aber du kannst mir geben, was er nicht geben kann: den Entschluß, der die Seele einer männlichen Seele ist.« Sie sandte einen flehenden Blick zum Himmel und versuchte den Sinn seiner Fragen zu erkennen: »Wenn wir Gerechtigkeit für uns beanspruchen, ist es nicht klug, gegen andre ungerecht zu sein. Wenn wir einen besiegten Feind herabsetzen, verklei­ nern wir unsern Sieg.« Das hatte sie mehr zu sich selber gesagt, dann fuhr sie fort: »Verliere den Mut nicht, mein Sohn! Messala ist von vor­ nehmer Abkunft, seine Familie ist seit vielen Generationen 92

berühmt. Schon in den Zeiten des republikanischen Rom waren die Messalas groß, einige als Soldaten, andre als Beamte. Ich kenne zwar nur einen Konsul dieses Namens, aber sie hatten alle den Rang von Senatoren, und ihr Patronat wurde immer gesucht, weil sie reich waren. Aber wenn sich dein Freund heute mit seinen Vorfahren gerühmt hätte, so könntest du ihn leicht beschämen. Denn nur wenig Römer können sich rühmen, von den Gründern Roms abzustammen. Messala jedenfalls kann es nicht. Laß sehen, ob wir besser dastehen! Dein Vater, mein Judah, ruht schon bei seinen Vätern. Aber ich erinnere mich, als ob es heute wäre, des Tages, an dem wir dich dem Herrn im Tempel darstellten. Wir opferten die Tau­ ben, und ich nannte dem Priester deinen Namen. Er schrieb ihn in meiner Gegenwart: Judah, Sohn des Ithamar aus dem Hause Hur. Und dieser Name wurde in die Register der frommen Familie eingetragen. Ich weiß nicht, wann diese Register begonnen wurden, aber es geschah schon vor der Flucht aus Ägypten. Ich habe Hillel sagen hören, Abraham selbst habe sie mit seinem eigenen Namen begonnen. Nur einmal wurden sie abgebrochen. Aber als das Volk aus der Gefangenschaft zurückkehrte, stellte Zorobabel die Register wieder her und konnte die Familien in ununterbrochener Reihenfolge durch zwei Jahrtausende zurückverfolgen. Was bedeuten die Prahle­ reien der Römer gegen diese Geschlechterfolge! Danach, Judah, sind die Hirten, die dort auf Rephaim die Herden hüten, adliger als der adligste der Marcii.« »Und ich, Mutter, wer bin ich nach diesen Büchern?« »Aus ihnen haben wir bis zurück zur Gefangenschaft, zur Gründung des ersten Tempels, zum Auszug aus Ägypten die absolute Gewißheit, daß du in gerader Linie von Hur, dem Gefährten Josuas abstammst. Und genügt dir das noch nicht, so schlage die Thora auf, und du wirst im Buche Numeri unter den zweiundsiebzig Geschlechtern nach Adam den ältesten Stammvater unsers Hauses finden.« 93

In das Schweigen hinein, das nach diesem stolzen Bericht der Mutter folgte, sagte Judah: »Ich danke dir, Mutter, ich danke dir von ganzem Herzen. Ich hatte recht, wenn ich bat, nicht den guten Lehrer zu rufen. Er hätte mich nicht besser zufriedenstellen können. Aber genügt das Alter allein, um den Adel einer Familie zu beweisen?« »Oh, du vergißt, daß unser Anspruch nicht allein auf der Zeit beruht; die Auserwählung durch den Herrn ist unser höchster Ruhm.« »Du sprichst vom Volk, und ich, Mutter, spreche von der Familie, von unsrer Familie. Worin hat sie sich seit Vater Abrahams Zeiten ausgezeichnet? Was hat sie getan? Durch welche Taten hat sie sich über die andern erhoben?« Die Mutter zögerte mit ihrer Antwort. Hatte sie ihren Sohn mißverstanden? Die Fragen, die er stellte, konnten einen tieferen Grund haben als verletzte Eitelkeit. War für ihn der gefährliche Augenblick gekommen, in dem der männliche Geist in ihm erwachte und er die Hand nach Schatten aus­ streckte, halb noch blind vor dem Leben und ganz ohne Erfahrung? Sie wußte, daß jedes Wort, das sie sprach, eine Gefahr heraufbeschwören konnte. »Ich fürchte, daß alles, was ich gesagt habe, mein Judah, mit einem ganz wirklichen Gegner und keinem nur eingebildeten zu tun hat. Ist Messala dieser Feind, so laß mich nicht gegen ihn im Dunkeln kämpfen. Sag mir alles, was ihr gesprochen habt!«

Rom und Israel Judah erzählte ihr alles und besonders das, was Messala über die Juden, ihre Gebräuche und ihr engumgrenztes Leben gesagt hatte. 94

Die Mutter hörte ihm schweigend zu. Judah war in den Palast gegangen voll von Liebe zu seinem Spielgefährten und hatte erwartet, denselben Messala vorzufinden, von dem er sich vor Jahren getrennt hatte. Aber er fand einen Mann, der nicht lachend von den Spielen der Vergangenheit sprach, sondern, erfüllt von Zukunftsplänen, über Ruhm und Reichtum und Macht. Nun war er mit verletztem Stolz und erregtem Ehrgeiz heimgekommen. Sie ahnte nicht, welche Wirkung das haben konnte. War es denkbar, daß ihn dieses Erlebnis vom Glauben der Väter abwandte? Nichts wäre schrecklicher. In ihr erwachte die Jüdin, und sie sprach mit fast männlicher Strenge: »Es gibt kein Volk, das sich nicht den andern Völkern glei­ chachtet, und keine große Nation, die sich nicht für die größte hält. Wenn der Römer auf Israel herabsieht und es verlacht, so wiederholt er nur die Torheit der Ägypter, Assyrier und Maze­ donier. Und da dieses Gelächter gegen Gott gerichtet ist, so muß das Ergebnis das gleiche sein. – Es gibt kein Gesetz, das die Rangordnung der Völker bestimmt. Daher ist auch der Anspruch auf Überlegenheit eitel und jeder Streit darüber vergeblich. Ein Volk steigt empor, geht seinen Schicksalsweg und stirbt aus sich selber oder von der Hand eines andern, das seine Macht erbt, sich an seine Stelle setzt und auf seine Denkmäler neue Namen schreibt. Das heißt Geschichte. Sollte ich Gott und die Menschen in der einfachsten Form darstellen, so würde ich eine Linie und einen Kreis zeichnen. Von der Linie würde ich sagen: ›Das ist Gott, denn er allein bewegt sich ewig vorwärts‹; und vom Kreis: ›Das ist der Mensch und sein Fortschritt.‹ Ich sage nicht, daß es im Fortschritt zwischen den einzelnen Nationen keinen Unterschied gibt, nicht zwei glei­ chen sich. Der Unterschied liegt nicht in der Größe des Kreises, sondern in der Bewegung, die höchste ist Gott am nächsten. Dafür gibt es gewisse Zeichen. Vergleichen wir die Hebräer mit den Römern! Das einfachste Zeichen findet sich im täglichen Leben des Volkes. Dazu will 95

ich sagen: Israel hat in manchen Zeiten Gott vergessen; aber die Römer haben ihn nie gekannt. Ein Vergleich ist darum nicht möglich. Dein Freund – oder dein ehemaliger Freund – hat behauptet, daß wir keine Dichter, Künstler oder Krieger gehabt haben; damit meinte er, daß wir überhaupt keine großen Männer besaßen, das nächste deutliche Zeichen für ein Volk. Ein großer Mann, mein Knabe, ist der, dessen Leben beweist, daß er von Gott anerkannt, wenn nicht berufen wurde. Ein Perser war das Werkzeug der Strafe für unsre Vorfahren. Er führte sie in Gefangenschaft. Ein andrer Perser war auserwählt, die Kinder Israels ins Heilige Land zurückzuführen. Größer als beide war der Mazedonier, der die Verwüstung Judäas und des Tempels rächte. Alle diese Männer waren vom Herrn für einen göttlichen Auftrag auserwählt; daß sie Heiden waren, schmälert ihren Ruhm nicht. Viele halten den Krieg für den edelsten Beruf des Mannes und sehen auf den Schlachtfeldern seine erhabenste Größe emporwachsen. Wenn auch die Welt dieser Meinung ist, laß dich nicht täuschen! Daß wir etwas verehren müssen, ist ein Gesetz, das so lange gilt, solange wir es nicht verstehen. Das Gebet des Barbaren ist ein Angstschrei, den er zu der Kraft emporsendet; denn sie ist für ihn die einzige göttliche Macht, an die er glaubt, daher seine Heldenverehrung. Was ist Jupiter anderes als ein römischer Held? Die Griechen haben ihren großen Ruhm darin, daß sie den Verstand über die Kraft stellten. In Athen wird der Redner und Philosoph mehr geach­ tet als der Krieger. Die Wagenlenker und die schnellen Läufer sind nur Idole der Arena, die Unsterblichkeit ist nur dem Dichter vorbehalten. Sieben Städte beanspruchen es, der Geburtsort eines Dichters zu sein. Waren aber die Hellenen die ersten, die den Glauben der Barbaren nicht anerkannten? Nein! Dieser Ruhm gehört uns, mein Sohn. Gegen die brutale Kraft stellten unsre Väter Gott, in unsrer Anbetung wich der Angst­ schrei dem Hosianna und den Psalmen. So haben die Hebräer 96

und die Griechen die Menschheit vorwärts und aufwärts geführt. Die Griechen erreichten eine solche Vollkommenheit, daß sich die Römer herablassen mußten – mit Ausnahme des Kriegshandwerks –, alles von ihnen zu übernehmen. Ein Grieche ist das Vorbild für einen Redner im Forum. In jedem römischen Gedicht schwingt griechischer Rhythmus. Wenn ein Römer den Mund zu weisen Morallehren öffnet, zu irgendwel­ chen Gedanken, oder wenn er über die Geheimnisse der Natur spricht, so ist er ein Plagiator oder ein Anhänger der griechi­ schen Schule. In nichts außer dem Krieg hat Rom Anspruch auf Originalität. Selbst die Spiele und Aufführungen der Römer sind von den Griechen entlehnt, durch Blut und Grausamkeit ihrem Pöbel angepaßt. Ihre Religion, wenn man das Religion nennen kann, ist zusammengesetzt aus dem Glauben andrer Völker; ihre am höchsten verehrten Götter, selbst Mars, stam­ men aus dem Olymp, und deshalb preisen sie ihren Jupiter so sehr. O mein Sohn, darum kann unser Israel in der ganzen Welt nur mit den Griechen um die Palme des schöpferischen Genies ringen. Der Römer ist durch seine Selbstsucht blind vor den Vorzü­ gen andrer Völker und mit einem Brustpanzer gewappnet. Diese ruchlosen Räuber! Unter ihren Schritten bebt die Erde wie eine Tenne unter den Dreschflegeln. Und – es ist schlimm, daß ich das sagen muß, mein Sohn – mit andern Völkern sind auch wir unter ihre Herrschaft gekommen. Sie haben unsre höchsten und heiligsten Plätze inne, und niemand weiß, wie das enden soll. Aber das weiß ich: Mögen sie Judäa wie eine Mandel mit Hämmern zerschlagen und Jerusalem, das Öl und die Süßigkeit des Landes zerstören – der Ruhm der Männer Israels wird wie ein Licht leuchten, ihnen unerreichbar fern, denn ihre Geschichte ist die Geschichte Gottes, die er mit eigener Hand schrieb. Er sprach durch ihren Mund und war selbst in all dem Guten und Geringen, das sie taten. Er lebte mit ihnen, ein Gesetzgeber vom Sinai, ein Führer durch die 97

Wüste, ein Feldherr im Krieg, ein König des Volkes. Er war es, der selbst den Vorhang vor dem Allerheiligsten beiseite zog, seinem Wohnsitz, der wie ein Mensch zu Menschen sprach und ihnen das Recht, den Weg zur Glückseligkeit zeigte. Kann es denn sein, mein Sohn, daß sie, mit denen er lebte, nichts von ihm gewonnen hätten, daß sich selbst in ihre menschlichen Eigenschaften nicht etwas von seiner Göttlichkeit eingeprägt hätte und ihr Genius nach allen Fehlern in der Zeit nicht ein wenig vom Himmel haben sollte? Es ist wahr, Israel hat keine Bildwerke und keine Gemälde, es hat keine Künstler.« Die Mutter sagte es bedauernd, denn sie war eine Sadduzäe­ rin, deren Glaube es ihr, im Gegensatz zu den Pharisäern, erlaubte, die Schönheit in jeder Form zu lieben. »Aber wenn man gerecht sein will, darf man nicht vergessen, daß unsre Hände gebunden waren durch das Verbot: Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen, ein Verbot, das die Sopherim willkürlich über seinen Sinn hinaus ausgedehnt hatten. Es darf auch nicht vergessen werden, daß lange bevor Daedalus in Attika erschien und durch seine Statuen aus Holz die Skulptur so umformte, daß die Schulen von Corinth und Aegina möglich und ihr letzter Triumph, Poecile und Capitoli­ um, erreicht wurde, zwei Israeliten, Bezaleel und Aholiab, die erste Bundeslade schufen. Und sie soll ein Meisterwerk gewe­ sen sein mit ihrem Cherubim auf dem Gnadenstuhl. Diese Statuen waren aus Gold gehämmert, nicht gemeißelt, und es hieß, sie breiteten ihre Flügel und sahen einander an. Wer will sagen, sie wären nicht schön und nicht die ersten Statuen gewesen?« »Ich sehe nun, warum uns die Griechen übertroffen haben«, warf Judah ein; »und die Babylonier, die unsre erste Bundesla­ de zerstört haben, seien verflucht!« »Nein, Judah, glaube mir, sie wurde nicht zerstört, sie ging nur verloren und wurde in einer Höhle im Gebirge versteckt. 98

Hillel und Schammai meinen, sie werde eines Tages, wenn Gott es will, wiedergefunden und wiederaufgestellt werden, und Israel wird vor ihr tanzen und singen wie in alten Zeiten. Und alle, die dann die Cherubim sehen werden – und hätten sie auch die elfenbeinerne Minerva gesehen –, werden des Juden Hände küssen vor Bewunderung seines Genius, der die ganzen tausend Jahre geschlafen hat.« – Die Mutter hatte sich so ereifert, daß sie einen Augenblick Ruhe brauchte. »Du bist so gut, Mutter«, sagte Judah dankbar. »Hillel und Schammai könnten mich nicht besser überzeugen. Ich werde nie wieder so reden. Und ich bin wieder ein treuer Sohn Isra­ els.« »Schmeichler, du weißt nicht, daß ich nur wiederhole, was ich von Hillel hörte, als er eines Tages mit einem Sophisten aus Rom stritt.« »Aber dein Herz ist in deinen Worten.« »Wo war ich stehengeblieben?« fuhr die Mutter ernst fort. »O ja, ich beanspruchte für unsre hebräischen Vorfahren die ersten Statuen. Aber die Kunst des Bildners ist nicht die einzi­ ge Kunst, und in der Kunst liegt nicht alle Größe. Ich sehe alle großen Männer durch die Jahrhunderte in Gruppen und Abtei­ lungen nach ihrer Abstammung wandeln, hier die Inder, dort die Ägypter, da die Assyrier, die Trompeten schmettern, und die Banner wehen. Und zu beiden Seiten ziehen die zahllosen Generationen dahin. Ich höre die Griechen: ›Siehe, der Hellene führt euch!‹ Dann spricht der Römer: ›Ruhe! Was euer Platz war, ist nun der unsre, wir haben euch hinter uns gelassen wie Staub, der vergeht.‹ Aber von weit hinten und in die Zukunft hinein strahlt ein Licht, von dem alle diese Streiter nichts wissen, das Licht der Offenbarung! Und wer trägt es? Oh, das alte jüdische Blut. Wie es bei dem Gedanken aufwallt! Dreimal selig unsre Väter, die Diener Gottes und Erfüller des Bundes! Sie sind die Führer der Menschheit, der Lebendigen und der Toten. Sie gehen voran, und wenn jeder Römer ein Cäsar wäre, 99

er kann sie uns nicht rauben!« »Fahre fort, ich bitte dich«, rief Judah. »In diesen Worten höre ich die Zimbeln. Ich warte auf Miriam und die Frauen, die hinter ihnen tanzen und singen.« »Gut, mein Sohn, wenn du die Zimbeln der Prophetin hörst, so kannst du tun, was ich von dir fordern wollte. Steh mit mir an dem Weg, auf dem die Auserwählten, Israel an der Spitze des Zuges, vorbeiziehen! Zuerst die Patriarchen, dann die Väter der Stämme. Ich höre die Glöckchen ihrer Kamele und das Brüllen ihrer Herden. Und wer geht da allein und abgesondert? Ein alter Mann, aber sein Auge ist nicht trübe, seine Kraft nicht gebrochen. Er hat den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen, ein Krieger, Dichter, Redner, Gesetzgeber, Prophet. Seine Größe verdunkelt jedes andre Licht, wie die Morgenson­ ne selbst das des größten Kaisers. Hinter ihm die Richter. Und dann die Könige – der Sohn Jesses, ein Held im Kriege, ein Sänger ewiger Gesänge wie das Meer, und sein Sohn, reicher und weiser als alle Könige, der die Wüste bewohnbar gemacht hat und in ihrer Weite Städte erbaute. Vergiß Jerusalem nicht, das der Herr zu seinem Wohnsitz auf Erden gemacht hat. Neige dich tiefer, mein Sohn! Die jetzt kommen, sind die ersten und letzten ihrer Art. Ihr Angesicht ist zum Himmel erhoben, als ob sie einer Stimme von oben lauschten. Ihr Leben war voll Kummer. Ihre Gewänder duften nach Gräbern und Höhlen. Höre eine Frau unter ihnen: »Singe dem Herrn, denn er hat glorreich triumphiert!« Sie waren die Zungen Gottes, seine Diener, die durch die Himmel sehen konnten und die Zukunft sahen und die aufschrieben, was sie sahen, und uns ihre Schrif­ ten ließen, damit die Zeit sie bestätigte. Könige erbleichten, wenn sie sich ihnen näherten, und Völker zitterten bei ihrer Stimme. Die Elemente waren ihnen Untertan. In ihren Händen hielten sie jeden Segen und jeden Fluch. Sieh den Thesbiter und seinen Diener Elisäus, sieh den beklagenswerten Hilkiah und den Seher am Fluß Chebar! Und die drei Kinder Judahs im 100

Feuerofen. Und dort – o mein Sohn, fall in den Staub vor ihm, es ist der Sohn des Amos, welcher der Welt die Verheißung gab, daß der Messias kommen wird! – Bist du müde, mein Kind?« »Nein«, antwortete Judah, »ich lausche einem neuen Hohen­ lied Israels.« »Ich habe dir, so gut ich es konnte, unsre großen Männer gezeigt: die Patriarchen, Gesetzgeber, Krieger, Sänger und Propheten. Wenden wir uns zu den Besten Roms! Stelle unsern Moses einem Kaiser, David einem Tarquinius, einen der Makkabäer Sulla gegenüber, unsern Richtern die besten Kon­ suln, Salomo dem Augustus – da endet jeder Vergleich. Und dann denke an die Propheten, den Größten unter den Großen.« Sie lachte verächtlich. »Vergib mir! Ich mußte an die Wahrsager denken, die Julius Cäsar vor den Iden des März warnten, und stellte mir vor, wie er die Eingeweide eines Huhns nach bösen Anzeichen durch­ forschte. Wende dich von diesem Bild zu Elias, wie er auf dem Hügel an der Straße nach Samaria sitzt, mitten unter den rauchenden Leibern der Feldherrn und ihrer fünfzig, und den Sohn Ababs vor dem Zorn Gottes warnt. Wie sollten wir, mein Sohn, Jehova und Jupiter anders beurteilen als durch die Taten, die ihre Diener in ihrem Namen vollbrachten! Und was dein Tun betrifft« – sie sprach die Worte langsam und mit zitternder Stimme –, »was deine Zukunft betrifft, mein Judah, diene dem Herrn, dem Gott Israels, und nicht Rom! Für ein Kind Abra­ hams gibt es keinen andern Ruhm als auf den Wegen des Herrn – das ist ein großer Ruhm.« »Kann ich also Soldat werden?« fragte Judah. »Warum nicht? Nannte Moses Gott nicht einen Herrn der Heerscharen?« Nach einem langen Schweigen fuhr sie schließlich fort: »Du hast meine Erlaubnis, wenn du nur dem Herrn dienst statt dem Cäsar.« 101

Er war mit dieser Bedingung einverstanden, und da sie schwiegen, fiel er allmählich in Schlaf. Die Mutter erhob sich, schob ihm ein Kissen unter den Kopf und deckte ihn zu. Sie küßte ihn zärtlich und ging hinaus.

Der Unfall des Gratus Als Judah erwachte, stand die Sonne schon hoch über den Bergen. Die Taubenschwärme erfüllten die Luft mit dem Schimmer ihrer weißen Flügel, und gegen Südosten tauchte das goldene Gebilde des Tempels im Himmelsblau auf. Aber diesen vertrauten Dingen schenkte Judah keinen Blick. Er hörte einem Mädchen von etwa fünfzehn Jahren zu, die bei ihm auf einer Ecke des Diwans saß und zur Begleitung einer Harfe, die sie auf den Knien hielt, ein Schlaflied sang. Als sie geendet, stellte sie die Harfe nieder, legte ihre Hände in den Schoß und wartete, daß Judah sprechen würde. Die Gunst des Herodes hatte viele Persönlichkeiten, die ihn überlebten, mit Reichtümern überschüttet. Kam dieser Reich­ tum in die Hände eines direkten Nachkommen eines der berühmten Stämme, besonders des Stammes Juda, so wurde der glückliche Besitzer als Fürst von Jerusalem bezeichnet, eine Auszeichnung, die ihm die Ehrerbietung der weniger begünstigten Landsleute und die Achtung, wenn nicht mehr, auch der Heiden eintrug, mit denen er geschäftlich und gesell­ schaftlich in Berührung kam. Unter diesen Personen hatte keiner privat und öffentlich höheres Ansehen genossen als der Vater Judahs. Mit der Anhänglichkeit an sein Volk, die ihn nie verließ, hatte er auch dem König treu in der Heimat und außer­ halb gedient. Mehrfach hatten ihn Aufträge des Königs nach Rom geführt; er hatte dort die Aufmerksamkeit des Kaisers Augustus gefunden, der ihn achten lernte und seine Freund­ 102

schaft suchte. In seinem Hause bewahrte er infolgedessen viele Geschenke, die er der Freigebigkeit der Könige verdankte: purpurne Togen, elfenbeinerne Sessel, goldne Trinkschalen, deren größerer Wert darin bestand, daß sie aus der kaiserlichen Hand stammten. Ein solcher Mann mußte reich werden, doch sein Reichtum kam ihm nicht nur aus der Gunst seiner königli­ chen Herren. Das Gesetz, das ihm seine Tätigkeit erlaubte, war ihm hoch willkommen, und er widmete sich vielerlei Beschäf­ tigungen. Er besaß zahllose Herden, die auf den Ebenen und Hügeln bis zum alten Libanon von seinen Hirten gehütet wurden. In den Städten am Meer und innerhalb des Landes hatte er Handelshäuser gegründet. Seine Schiffe brachten ihm Silber aus Spanien, dessen Bergwerke als die reichsten galten, und seine Karawanen kamen zweimal im Jahr, mit Seiden und Gewürz beladen, aus dem Osten. Er war ein Jude, der die Gesetze und alle Riten achtete und oft in die Synagoge und den Tempel ging. Er war ein Schriftgelehrter; er brachte gern seine Zeit in der Gesellschaft der Lehrer zu und verehrte Hillel tief. Doch er war in keinem Sinne Separatist. Er war gastfreundlich zu allen Ausländern, und die krittelnden Pharisäer beschuldig­ ten ihn, daß er mehr als einmal an seinem Tisch Samaritaner zu Gast hatte. Wäre er ein Heide gewesen, würde die Welt wohl von ihm als einem Rivalen des Herodes Atticus gesprochen haben. Vor etwa zehn Jahren war er auf dem Meere umge­ kommen. Das Mädchen, das bei Judah saß, war seine Schwester Tir­ zah. Die Geschwister waren sich sehr ähnlich. Auch das Mädchen hatte regelmäßige Züge und war von demselben jüdischen Typ; auch sie besaß den Reiz kindlicher Unschuld. Ihr lose fallendes Kleid war auf der rechten Schulter geknöpft und ließ die Arme frei. Ein Gürtel raffte die Falten zusammen. Auf dem Kopf trug sie eine einfache silberne lyrische Haube mit einer Quaste, darüber einen gestreiften, sehr schön bestickten Schal aus dem 103

gleichen Stoff. Er war so eng um den Kopf geschlungen, daß er seine schöne Form erkennen ließ. Sie trug goldne Ringe an den Ohren und Fingern, und Armreifen, auch um den Hals eine goldene Gliederkette mit Perlen. Die Ecken ihrer Augenlider und die Spitzen der Finger waren gefärbt. Ihr Haar fiel in zwei langen Zöpfen über den Rücken; auf beiden Wangen lag gerade vor den Ohren eine Locke. Man konnte Tirzahs Grazie, Anmut und Schönheit nicht übersehen. »Sehr schön, meine Tirzah, sehr schön!« »Das Lied?« »Das Lied – und die Sängerin auch. Es hat griechische An­ klänge. Wo hast du es her?« »Erinnerst du dich an den Sänger, der letzten Monat im Thea­ ter sang? Die Leute sagen, er sei Sänger am Hof des Herodes und seiner Schwester Salome. Er trat nach einem Ringkampf auf, als das Haus noch voller Lärm war. Aber schon beim ersten Ton wurde es so still, daß ich jedes Wort verstand. Von ihm habe ich das Lied.« »Aber er sang es griechisch?« »Und ich hebräisch.« »Ich bin stolz auf meine kleine Schwester. Hast du noch ein Lied, das so schön ist?« »Noch viele. Aber lassen wir das jetzt. Amrah läßt dir sagen, daß sie dir das Frühstück heraufbringt. Du brauchst nicht hinunterzugehen. Sie sollte schon hier sein. – Sie meint, du seist krank, weil du gestern etwas Schreckliches erlebt hast. Was war es? Erzähl mir, damit ich Amrah helfen kann, dich gesund zu machen. Sie kennt alle Kuren der Ägypter, die alle dumm sind; aber ich habe viele arabische Rezepte, die…« »Die noch dümmer als die ägyptischen sind«, fiel ihr Judah ins Wort und schüttelte den Kopf. »Meinst du? Nun gut«, sie griff an ihr linkes Ohr, »lassen wir sie also. Ich habe etwas, was viel sicherer und besser ist: das Amulett, das einigen unsrer Leute vor langer Zeit von einem 104

persischen Zauberer gegeben worden war. Sieh, die Inschrift ist fast verwischt.« Sie reichte ihm den Ohrring. Er nahm ihn, beschaute ihn und gab ihn ihr lachend zurück. »Und wenn ich im Sterben läge, würde ich den Zauber nicht benutzen. Es ist ein Überrest der Götzendienerei, jedem gläu­ bigen Sohn und jeder Tochter Abrahams verboten. Nimm ihn, aber brauche ihn nie wieder!« »Verboten? Nein!« antwortete sie. »Unsres Vaters Mutter trug ihn, ich weiß nicht, an wie vielen Sabbattagen ihres Lebens. Ich habe damit wer weiß wie viele Leute geheilt, jedenfalls mehr als drei. Das Amulett ist auch anerkannt – hier ist das Zeichen des Rabbi.« »Ich glaube nicht an Amulette.« Sie hob erstaunt die Augen. »Was würde Amrah sagen?« »Amrahs Eltern pflanzten Sakiyeh in einem Garten am Nil.« »Aber Gamaliel!« »Er nennt sie gottlose Gebräuche der Ungläubigen.« Tirzah beschaute zweifelnd den Ring. »Was soll ich damit tun?« »Trag ihn, kleine Schwester. Er steht dir, macht dich schön; doch du brauchst ihn nicht dazu.« Zufrieden hängte sie den Ring wieder in ihr Ohr, gerade als Amrah mit einer Waschschüssel mit Wasser und Handtüchern auf einer Platte eintrat. Da Judah kein Pharisäer war, war die Waschung kurz. Die Dienerin verließ das Zimmer, und Tirzah begann Judahs Haar zu kämmen. Wenn sie eine Locke zu ihrer Zufriedenheit gelegt hatte, hielt sie ihm den kleinen Metallspiegel vor, den sie am Gürtel trug. Unterdessen sprachen sie weiter: »Was sagst du dazu, Tirzah – ich gehe fort.« Sie ließ erschreckt die Hände sinken. »Fort? Wann? Wohin? Warum?« 105

Er lachte: »Drei Fragen in einem Atemzug! Was bist du für ein Kind!« Aber dann wurde er ernst. »Du weißt, daß mich das Gesetz verpflichtet, mir eine Tätigkeit zu suchen. Unser guter Vater gab mir ein Beispiel. Selbst du würdest mich verachten, wenn ich die Früchte seines Wirkens im Müßiggang verzehrte. Ich fahre nach Rom.« »Oh, ich will mit dir gehn!« »Du mußt bei der Mutter bleiben. Wenn wir beide sie verlie­ ßen, würde sie sterben.« Sie wurde blaß. »Jaja. Aber mußt du gehen? Hier in Jerusa­ lem kannst du alles lernen, was ein Kaufmann wissen muß – wenn es das ist, woran du denkst.« »Daran denke ich nicht. Das Gesetz verpflichtet den Sohn nicht, den Beruf des Vaters zu wählen.« »Was kannst du sonst noch werden?« »Soldat«, sagte er mit einem gewissen Stolz. Tirzah kamen die Tränen: »Du wirst getötet werden!« Sie umarmte ihn, als wolle sie ihn zurückhalten. »Wenn es Gottes Wille ist. Aber nicht alle Soldaten werden getötet, Tirzah!« »Wir sind so glücklich. Bleib zu Hause, mein Bruder!« »Die Heimat kann nicht immer bleiben, was sie ist. Du selber wirst ja auch einmal fortgehen.« »Niemals!« »Einmal wird ein Fürst von Juda oder einer von einem an­ dern Stamm kommen und meine Tirzah mit sich nehmen, um sie zum Licht seines Hauses zu machen. Was wird dann aus mir?« Ein Schluchzen war die Antwort. »Krieg ist ein Gewerbe«, fuhr er gelassen fort. »Um es rich­ tig zu lernen, muß man zur Schule gehen. Es gibt keine bessere als ein römisches Lager.« »Du wirst nicht für Rom kämpfen.« »Und du – auch du hassest Rom? Die ganze Welt haßt es. Ja, 106

ich will für Rom kämpfen, und Rom wird mich lehren, eines Tages gegen Rom zu kämpfen.« »Wann willst du gehen?« Sie hörten Amrahs Schritte: »Still«, sagte er, »sie darf davon nichts wissen!« Die treue Sklavin brachte das Frühstück und stellte es auf einen Stuhl vor Judah nieder. Dann wollte sie ihn bedienen, ein weißes Handtuch über ihrem Arm. Sie tauchten ihre Finger in eine Wasserschale. Plötzlich ließ sie ein Geräusch von draußen aufhorchen. Marschmusik klang von der Straße auf der Nord­ seite des Hauses herauf. »Soldaten aus dem Prätorium! Ich muß sie sehen!« rief Ju­ dah, sprang vom Diwan auf lief hinaus. Einen Augenblick später lehnte er sich über die Ziegelbrü­ stung des Daches am äußersten Nordostende. Er war so versunken, daß er nicht merkte, wie Tirzah neben ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Sie konnten von hier aus, über die Dächer im Osten bis zum Turm von Antonia, die Zitadelle für die Garnison und das militärische Hauptquartier des Gouverneurs sehen. Über die Straße, die nicht breiter als zehn Fuß war, spannten sich da und dort Brücken, auf denen sich, wie auf den Dächern, Männer, Frauen und Kinder einge­ funden hatten, von der Musik angelockt. Es war keine richtige Musik, sondern nur Trompetengeschmetter und die schrillen Hörner, die der Soldat so liebte. Nach einer Weile kam das Militär in Sicht. Zuerst die leichtbewaffnete Avantgarde, meist Schleuderer und Bogenschützen, die in weiten Abständen marschierten, dann eine Abteilung schwerbewaffneter Fuß­ truppen mit großen Schilden und langen Speeren. Dann kam die Musik und ein einzelner Offizier. Ihm folgte dicht eine Leibwache zu Pferde. Danach kamen schließlich wieder schwerbewaffnete Fußtruppen, die kein Ende zu nehmen schienen und die Straße von Mauer zu Mauer vollständig ausfüllten. 107

Die braungebrannten Körper, die rhythmische Bewegung ihrer Schilde von links nach rechts, der Glanz auf den polierten Spangen, Schuppen, Brustpanzern und Helmen, die nickenden Federbüsche, die Legionszeichen und die Speere mit den Eisenspitzen, dazu der feste, gleichmäßige Marschtritt, die ganze ernste und wachsame Haltung, die Einheit der sich bewegenden Masse – das alles machte auf Judah einen Ein­ druck, den er mehr fühlte, als er ihn sah. Zwei Dinge fesselten besonders seine Aufmerksamkeit: einmal der flügelschlagende Adler der Ersten Legion – ein vergoldetes Bild an der Spitze eines langen Schafts. Er wußte, daß man dem Bild göttliche Ehren erwies, wenn es aus dem Turm geholt wurde. Das zweite war der Offizier, der allein in der Kolonne ritt. Er trug keinen Helm, aber er war in voller Rüstung. An seiner Linken trug er ein kurzes Schwert. In seiner Hand hielt er einen Feldherrnstab, der wie eine Rolle weißen Papiers aussah. Statt eines Sattels saß er auf einer Purpurdecke, die wie der Zaum mit Gold bestickt und mit gelbseidenen Borten besetzt war. Noch als der Reiter weit entfernt war, bemerkte Judah, daß sein Erscheinen bei der Menge zornige Erregung auslöste. Man lehnte sich über die Brüstungen oder stand unverschämt drau­ ßen und ballte die Fäuste gegen ihn; man folgte ihm mit lauten Rufen und spuckte auf ihn, wenn er unter den Brücken hin­ durchritt. Die Frauen warfen ihre Sandalen nach ihm, manchmal so geschickt, daß sie ihn trafen. Als er näher kam, verstand man das Geschrei: »Räuber! Tyrann, Hund von einem Römer. Fort mit Ismael! Gib uns unsern Annas zurück!« Als er ganz nahe kam, konnte Judah erkennen, daß er die von den Soldaten so stolz zur Schau getragene Gleichgültigkeit nicht teilte. Sein Gesicht war finster, und die Blicke, die er auf seine Beleidiger warf, waren drohend. Die Furchtsamen schreckten davor zurück. Der Reiter trug, wie die Oberkommandierenden seit dem ersten Cäsar, um seinen Rang zu kennzeichnen, in der Öffent­ 108

lichkeit nur einen Lorbeerzweig um den Kopf. Daran erkannte Judah den Offizier: Es war Valerius Gratus, der neue Prokura­ tor von Judäa! Judah fühlte bei dem herausfordernden Sturm um den Römer Sympathie für ihn. Und als der Prokurator die Ecke des Hauses erreicht hatte, lehnte sich Judah weit über die Brüstung, um ihn vorbeireiten zu sehen. Dabei stützte er sich auf einen Ziegel, der schon vor längerer Zeit zersprungen war, ohne daß man es bemerkt hatte. Der Druck war stark genug, um das äußere Stück abzubrechen, der Ziegel rutschte. Ein jäher Schreck fuhr durch Judah. Er streckte die Hand aus, um den fallenden Ziegel zu erhaschen. Es sah genauso aus, als wolle er etwas schleu­ dern. Es gelang ihm nicht, den Ziegel zu halten, im Gegenteil – er stieß ihn ganz über die Mauer. Er schrie aus Leibeskräften. Die Soldaten der Leibwache schauten herauf, auch der Proku­ rator. In diesem Augenblick traf ihn der Ziegel. Er stürzte wie tot vom Pferd. Die Kohorte hielt. Die Wache sprang von den Pferden und eilte, ihren Herrn mit den Schilden zu decken. Die Menge aber, die das alles mit angesehen hatte und glauben mußte, daß der Wurf absichtlich geschehen sei, jubelte dem Jüngling zu, als er sich vor aller Augen weit über die Brüstung beugte. Judah war wie gelähmt, als er sah, was er angerichtet hatte, und vor ihm standen alle Folgen seiner Handlung. Ein böser Geist schien jäh das Volk von Dach zu Dach zu überkommen. Sie rissen die Ziegel und anderes von den Brüstungen und begannen damit in blinder Wut die Legionäre zu bewerfen. Ein wildes Handge­ menge entstand, in dem natürlich die Soldaten Sieger blieben. Judah aber erhob sich von der Brüstung schreckensbleich: »O Tirzah, Tirzah! Was soll aus uns werden!« Sie hatte die Ursache der Schreie nicht begriffen und beo­ bachtete die Volksszenen unter ihr. Irgend etwas Schreckliches war geschehen, aber sie wußte nicht, was es war, auch nicht, daß irgend jemand, der ihr teuer war, in Gefahr schwebte. 109

»Was ist geschehen?« fragte sie in plötzlicher Angst. »Was bedeutet das alles?« »Ich habe den römischen Prokurator getötet. Der Ziegel hat ihn getroffen.« Ihr Gesicht wurde aschfahl und weiß. Sie umarmte den Bru­ der und sah ihm wehmütig, aber ohne ein Wort in die Augen. Seine Angst war auf sie übergegangen, und das gab ihm Mut. »Ich habe es nicht absichtlich getan, Tirzah, es war ein Zu­ fall«, sagte er ruhiger. »Was werden sie tun?« Judah sah auf den wachsenden Tumult auf den Straßen und Dächern, und er dachte an die drohende Haltung des Gratus. Wenn er nicht tot war, wo würde seine Rache anhalten? Und wenn er tot war, zu welchen Wutausbrüchen würde nicht der Angriff der Menge die Legionäre treiben? Um einer Antwort auszuweichen, beugte er sich wieder über die Brüstung und sah gerade, wie die Leibwache dem Prokurator half, wieder sein Pferd zu besteigen. »Er lebt, er lebt, Tirzah! Gesegnet sei der Herr, der Gott uns­ rer Väter!« Mit diesem Ruf faßte er wieder Mut, wandte sich um und beantwortete die Frage: »Fürchte dich nicht, Tirzah. Ich werde es erklären, wie es gekommen ist. Sie werden sich unseres Vaters und seiner Dienste erinnern und uns nichts tun.« Er führte sie ins Sommerhaus. Da erzitterte das Dach unter ihren Füßen, und das Krachen von Balken, die zerschlagen wurden, drang plötzlich aus dem Hof herauf, gefolgt von Schreckensschreien und Todesstille. Er blieb stehen und lauschte. Der Schrei wiederholte sich, dann hörte man das Geräusch vieler Füße und dann das Gekreisch von Frauen in tödlicher Angst. Die Soldaten hatten das Nordtor eingeschlagen und waren in das Haus eingedrungen. Judah begriff, daß man ihn suchte. Seine erste Regung war, zu fliehen. Aber wohin? 110

Nur Flügel hätten ihm helfen können. Tirzah packte in wilder Angst seinen Arm: »O Judah, was bedeutet das?« Die Dienstboten wurden niedergemetzelt – und die Mutter? War ihre Stimme nicht unter den anderen? Mit aller Willens­ kraft, die ihm geblieben war, rief er: »Bleib hier, Tirzah, und warte auf mich. Ich will sehen, was es gibt, und komme dann zurück.« Seine Stimme war nicht so sicher, wie er wollte. Sie umschlang ihn fester. Deutlich jetzt und schriller – es war keine Täuschung mehr – hörte er den Schrei seiner Mutter. Er zögerte nicht länger. »Komm, wir müssen hinunter!« Die Terrasse am Fuße der Treppen war voll von Soldaten. Andre liefen mit gezogenen Schwertern von einem Raum zum andern. Auf einem Fleck knieten ein paar Frauen, umklammer­ ten einander und baten um Gnade. Eine Frau in zerrissenen Kleidern und mit herunterhängendem Haar versuchte sich von einem Soldaten loszureißen, der alle Kraft anwenden mußte, um sie zu halten. Ihre Schreie übertönten alle anderen. Zu ihr hinunter sprang Judah mit weiten Sätzen: »Mutter! Mutter!« Sie streckte ihre Hände nach ihm aus, aber als sie ihn fast erreicht hatte, wurde sie weggerissen und beiseite gebracht. Dann hörte er, wie jemand laut sagte: »Das ist er!« Judah schaute auf und sah – Messala. »Was, das ist der Mörder?« fragte ein großer, prächtig ge­ wappneter Legionär. »Wie? Das ist ja ein Knabe!« »Ihr Götter!« erwiderte Messala. »Eine neue Philosophie! Was würde Seneca zu der Ansicht sagen, daß ein Mann alt sein müsse, ehe er genug hassen kann, um zu töten. Ihr habt ihn. Das ist seine Mutter, dort seine Schwester. Ihr habt die ganze Familie.« Um der Liebe zu den Seinen vergaß Judah seinen Streit: »Hilf ihnen, mein Messala. Erinnere dich an unsre Knabenzeit und hilf ihnen! Ich, Judah, bitte dich!« 111

Messala tat, als höre er nicht: »Ich kann euch nichts mehr nützen«, sagte er zu dem Offi­ zier. »In den Straßen ist mehr zu tun. Nieder mit Eros, hoch Mars!« Mit diesen letzten Worten entfernte er sich. Judah verstand ihn, und in der Bitterkeit seiner Seele flehte er zum Himmel: »In der Stunde deiner Rache, o Herr, übergib ihn meiner Hand!« Mit großer Mühe bahnte er sich den Weg zu dem Offizier. »Herr, die Frau ist meine Mutter. Verschont sie, verschont dort meine Schwester! Gott ist gerecht, er will Barmherzigkeit für Barmherzigkeit geben.« Der Mann schien bewegt. »In den Turm mit den Frauen!« rief er. »Aber tut ihnen nichts zuleide! Ihr müßt für sie einstehen!« Dann wandte er sich an die Soldaten, die Judah hielten: »Stricke her! Bindet ihm die Hände! Dann auf die Straße mit ihm! Seiner Strafe entgeht er nicht.« Die Mutter wurde weggebracht. Die kleine Tirzah in ihrem Hauskleid, unfähig vor Angst, einen Gedanken zu fassen, ging mit den Soldaten. Judah warf beiden einen letzten Blick zu, dann bedeckte er sein Gesicht mit den Händen, als ob er sich die Szene unvertilgbar einprägen wollte. Niemand sah, ob er Tränen vergoß. In ihm geschah, was man das Wunder des Lebens nennen mag. Bisher hatten die Umstände die härteren Seiten seines „Wesens, wenn er sie besaß, noch nicht aufgeru­ fen. Er kannte nur die Liebe zur Mutter und zur Schwester. Er hatte wohl manchmal Spuren von Ehrgeiz in sich gefühlt, aber das waren mehr gestaltlose Träume gewesen. Aber jetzt, als er alles, was er verehrte, von seinen Altären gestürzt sah und die Trümmer seiner kleinen Welt der Liebe rings um sich liegen fand, war in dem jungen Ben Hur etwas aufgebrochen, was ihn verwandelte. Als er seinen Kopf hob und seine Arme aus­ streckte, damit sie in Fesseln gelegt wurden, war der schöne 112

Schwung seiner Lippen verschwunden. In diesem Augenblick hatte er seine Kindheit hinter sich gelassen und war zum Mann geworden. Eine Trompete erklang im Hof. Die Soldaten verließen die Terrasse. Viele warfen die Dinge fort, die sie geplündert hatten, bis der Boden mit kostbaren Dingen bedeckt war. Als Judah hinabgestiegen, waren die Formationen wieder angetreten. Die Mutter, die Tochter, der ganze Hausstand wurde aus dem Nordtor hinausgeführt, dessen Ruinen den Durchlaß versperr­ ten. Die Schreie der Diener, von denen manche in diesem Haus geboren waren, waren herzzerreißend. Als auch die Pferde und alles Vieh fortgetrieben wurden, begann Judah den Umfang der Rache des Prokurators zu begreifen. Das ganze Haus war ihr verfallen. Soweit der Befehl ausgeführt werden konnte, sollte nichts Lebendes in seinen Mauern zurückbleiben. Wenn in Judäa noch Leute sein sollten, die dem römischen Gouverneur ans Leben wollten, so sollte das Schicksal der fürstlichen Familie Hur eine Warnung für sie sein, und die Zerstörung des Hauses sollte die ganze Geschichte lebendig halten. Der Offizier wartete draußen, während einige Soldaten damit beschäftigt waren, das Haustor wiederherzustellen. In den Straßen hatten die Kämpfe fast aufgehört. Nur hier und da sah man noch Staubwolken zum Zeichen, daß noch nicht alles vorbei war. Die Kohorte stand in Ruhe, von ihrem Glanz hatte sie nichts verloren. Judah sorgte sich nicht um sich, aber er suchte unter den Gefangenen nach der Mutter und Tirzah. Er konnte sie nirgends erblicken. Plötzlich erhob sich von der Erde, auf der sie gelegen hatte, eine Frau und lief rasch zurück zum Tor. Einige Soldaten wollten sie fassen, aber sie entkam ihnen und rannte zu Judah und umklammerte seine Knie. »O Amrah, gute Amrah!« rief er. »Gott helfe dir! Ich kann es nicht.« Sie konnte nicht sprechen. 113

Er beugte sich nieder und flüsterte: »Lebe, Amrah, für Tirzah und meine Mutter! Sie werden zurückkommen und…« Ein Soldat zog sie fort, aber sie sprang auf und lief zum Tor und huschte in den Hof. »Laß sie laufen!« rief der Offizier. »Wir verriegeln das Haus, und sie wird verhungern.« Die Soldaten verrammelten das zerstörte Nordtor und ebenso das Westtor. Der Palast der Hurs stand nun verödet. Die Kohorte marschierte zum Turm zurück, wo sich der Prokurator von seinen Verletzungen erholte. Er gab seine Bestimmungen über die Gefangenen. Am zehnten Tag zeigte er sich auf dem Marktplatz.

Ein Galeerensklave Am nächsten Tag erschien eine Abteilung Legionäre im Pa­ last Hur, schloß die Tür fest, versiegelte sie mit Wachs und nagelte eine Inschrift an, die in Latein besagte: »Dies ist das Eigentum des Kaisers.« Nach der Meinung der Römer genügte das, um seinen Zweck zu erfüllen. Am Tage danach näherte sich gegen Mittag ein Hauptmann mit zehn Reitern Nazareth vom Süden her, aus der Richtung von Jerusalem. Der Ort war ein unansehnliches Dorf, an einem Hügel gelegen und so unbedeutend, daß die erste Straße nichts anderes war als ein von den Herden getrampelter Pfad. Die Ebene von Esdraelon lag nahe davon im Süden, und von der Höhe im Westen konnte man die Küsten des Mittelmeers erblicken, die Gegend jenseits des Jordans und am Berge Hermon. Im Tal und auf der Ebene lagen Gärten, Weinberge, Obstgärten und Weiden. Olivenhaine bestimmten den Charak­ ter der Landschaft. Die unregelmäßig gelagerten Häuser waren ärmlich, viereckig, einstöckig mit flachen Dächern und ganz 114

mit Weinranken bewachsen. Die Trockenheit, welche die Hügel von Judäa zu brauner lebloser Dürre verbrannt hatte, endete an der Grenzlinie von Galiläa. Als sich die Reiterschar dem Dorfe näherte, ertönte ein Trompetenstoß und wirkte wie ein Zauber auf die Einwohner. Alles lief zu den Toren, um das ungewohnte Schauspiel zu bestaunen. Nazareth lag nicht nur weit abseits einer großen Straße, sondern innerhalb der Machtsphäre des Judas von Gamala, so daß es nicht schwer war, sich vorzustellen, mit welchen Gefühlen die Legionäre dort empfangen wurden. Aber im Augenblick verdrängte die Neugier den Haß, und die Leute verschlossen Tür und Tor und liefen hinter dem Zug her. Die Neugier richtete sich vor allem auf einen Gefangenen, den die Reiter mit sich führten. Er ging zu Fuß, war barhäuptig und halbnackt. Das Ende des Riemens, der seine Hände fessel­ te, war um den Hals eines Pferdes geschlungen. In der Staubwolke, die von der Reiterschar aufstieg, konnten die Einwohner erkennen, daß der Gefangene noch jung war. An der Quelle ließ der Hauptmann halten und stieg mit den meisten seiner Leute ab. Der Gefangene sank in den Staub, betäubt und ohne ein Verlangen. Er schien im letzten Zustand der Erschöpfung zu sein. Als die Dorfleute sahen, daß er fast noch ein Knabe war, hätten sie ihm gern geholfen, wenn sie es gedurft hätten. Während sie zögernd herumstanden und bei den Soldaten der Wasserkrug von Hand zu Hand ging, kam ein Mann auf der Straße von Sepphoris herunter. Eine Frau rief bei seinem Anblick: »Seht, dort kommt der Zimmermann. Nun werden wir etwas erfahren.« Der Mann sah ehrwürdig aus. Dünne weiße Locken kamen unter seinem Turban hervor, und ein langer weißer Bart hing ihm bis auf die Brust über seinem gewöhnlichen grauen Rock. Er kam langsam und trug ein paar Werkzeuge – eine Axt, eine Säge und ein Schneidemesser, alles sehr grob und schwer. Er hatte augenscheinlich eine tüchtige Strecke zurückgelegt. 115

Er blieb stehen und betrachtete die Ansammlung. »O Rabbi, guter Rabbi Joseph«, rief eine Frau und kam zu ihm gelaufen. »Hier ist ein Gefangener, frage doch die Solda­ ten, wer es ist, was er getan hat und was sie mit ihm tun werden!« Der Rabbi schaute auf den Gefangenen, dann trat er zu dem Hauptmann. »Der Friede des Herrn sei mit dir«, sagte er mit freundlicher Würde. »Und der Friede der Götter mit dir«, antwortete der Offizier. »Kommt ihr aus Jerusalem?« »Ja.« »Euer Gefangener ist jung.« »An Jahren, ja.« »Darf ich fragen, was er getan hat?« »Er ist ein Mörder.« Das Volk wiederholte voll Staunen dieses Wort, aber Rabbi Joseph setzte seine Fragen fort. »Ist es ein Sohn Israels?« »Er ist ein Jude«, sagte der Römer trocken. Das Mitleid der Umstehenden wurde wieder rege. »Ich weiß nichts von euern Stämmen, aber ich kann über seine Familie Auskunft geben«, fuhr der Offizier fort. »Ihr mögt von einem Fürsten Hur von Jerusalem gehört haben – Ben Hur nennen sie ihn. Er lebte in den Tagen des Herodes.« »Ich kannte ihn«, sagte Joseph.

»Schön, und das ist sein Sohn.«

Von allen Seiten kamen Ausrufe, so daß der Hauptmann

Ruhe gebot. »In den Straßen von Jerusalem hat er vorgestern beinahe den edlen Gratus getötet, indem er einen Ziegel vom Dach des Palastes seines Vater nach ihm warf.« Die Nazarener bestaunten den jungen Ben Hur wie ein wildes Tier. 116

»Hat er ihn getötet?« fragte der Rabbi. »Nein.« »Ist er verurteilt?« »Ja, auf Lebenszeit zu den Galeeren.« »Der Herr steh’ ihm bei!« sagte Joseph. Unterdessen legte ein Jüngling, der mit Joseph gekommen war, aber unbemerkt bei ihm stand, eine Axt, die er getragen hatte, beiseite, ging zu einem großen Stein, der am Brunnen lag, und holte einen Wasserkrug. Und ehe die Wache ihn daran hindern konnte, wenn sie es gewollt hätte, trat er zu dem Gefangenen und bot ihm zu trinken. Eine Hand, die sanft auf seine Schultern gelegt wurde, hatte den unglückseligen Judah aufgeweckt, und als er aufschaute, sah er in ein Gesicht, das er nie wieder vergaß. Es war das Gesicht eines Jünglings seines Alters, von goldbraunem Haar umrahmt. Mit seinen dunkel­ blauen Augen sah er Judah so voll Liebe und heiligem Ernst an, daß sie unwiderstehlich waren. Unter dem Blick dieses Fremden schmolzen die Tag und Nacht gehegten bitteren Träume von Rache hinweg, und in seinem Leiden wurde er zu einem Kind. Er setzte den Krug an die Lippen und trank in tiefen Zügen. Kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt. Als der Krug leer war, wurde die Hand, die auf seiner Schul­ ter gelegen, ihm auf den Kopf gelegt und blieb dort in den staubigen Locken lange genug, um einen Segen zu spenden. Dann stellte der Fremde den Krug auf den Stein zurück, nahm seine Axt wieder auf und trat neben Rabbi Joseph. Alle Augen waren ihm gefolgt, die des Hauptmanns ebenso wie die der Dörfler. Als alle Soldaten und ihre Pferde getrunken hatten, ritt der Trupp weiter. Aber die Stimmung des Hauptmanns war nicht mehr die gleiche, wie sie vor dieser Szene gewesen war. Er selber hob den Gefangenen aus dem Staub auf und half ihm auf ein Pferd hinter einem Soldaten. Die Nazarener gingen in ihre Häuser zurück – unter ihnen Rabbi Joseph und sein Lehrling. 117

Das war die erste Begegnung Judahs mit dem Sohn Marias.

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Drittes Buch Quintus Arrius geht an Bord Nach der Stadt Misenum ist das Vorgebirge genannt, ein paar Meilen südwestlich von Neapel. Es war im Jahre 24 einer der bedeutendsten Orte an der Westküste Italiens. Im Hafen lag ein Teil der Flotte, teils vor Anker, teils bei Übungen. Aus der Stadt führte durch ein offenes Tor in der Mauer eine Straße zum Meer hinunter. Eine breite Mole erstreckte sich weit in die See hinaus. An einem kühlen Septembermorgen beobachtete der Tor­ wächter eine Gruppe von zwanzig oder dreißig Personen, die in lautem Gespräch aus der Stadt kam. Die meisten waren Skla­ ven, die schwach brennende, qualmende Fackeln trugen. Sie verbreiteten einen starken Nardengeruch. Ihre Herren gingen Arm in Arm voraus. Einer von ihnen, etwa fünfzig Jahre alt, trug in seinem dünnen Haar einen Lorbeerkranz. Er schien der Mittelpunkt der Gesellschaft und Gegenstand irgendeiner Feier zu sein. Alle waren in weite Togen aus purpurgesäumtem weißem Wollstoff gekleidet, und der Wächter erkannte, daß es Herren von hohem Rang waren, die einen Freund nach einer festlichen Nacht zum Schiff begleiteten. »Nein, mein Quintus«, redete einer den Mann mit dem Lor­ beerkranz an, »es ist unrecht von Fortuna, daß sie uns dich schon wieder so rasch fortholt. Erst gestern bist du von den Säulen des Herkules zurückgekehrt. Du hast dich noch nicht einmal wieder ans Land gewöhnen können.« »Bei Castor!« rief ein anderer, dessen Stimme noch die Ze­ cherei verriet, »wenn ein Mann einen Fraueneid schwören darf, laßt das Klagen! Unser Quintus will nur zurückerobern, was er 119

heute nacht verloren hat. Würfel auf dem Schiff sind nicht Würfel auf dem Land, nicht wahr, Quintus?« »Lästre Fortuna nicht!« rief ein dritter. »Sie ist weder blind noch unbeständig. In Antium, wo sie unser Arrius befragt hat, hat sie ihm zugenickt, und auf der See führt sie sein Steuer. Sie nimmt uns ihn fort, aber gibt sie ihn uns nicht immer wieder mit einem neuen Sieg zurück?« »Die Griechen nehmen ihn uns«, warf ein anderer ein. »Sie sollen wir schmähen, nicht die Götter.« Mit diesen Worten durchschritt die Gesellschaft das Tor und betrat die Mole, die im Morgenlicht vor ihnen lag. Für den alten Seemann war das Rauschen der Wogen wie ein Gruß. Er zog die Seeluft in vollen Zügen ein, für ihn duftete sie herrli­ cher als die Narde. Er hob seine Hand: »Seht, der Wind kommt von Westen! Dank, Fortuna, meine Mutter!« sagte er ernst. Die Freunde wiederholten seinen Ausruf, und die Sklaven schwangen die Fackeln. »Dort kommt sie!« Er wies auf eine Galeere weit draußen an der Mole. »Braucht ein Seemann noch eine andre Herrin? Ist deine Lucrezia anmutiger, mein Cajus?« Er schaute voll Stolz auf das nahende Schiff. Am niedrigen Mast blähte sich ein weißes Segel; die Ruder hoben und senk­ ten sich, waren für einen Augenblick sichtbar und tauchten dann wieder wie im Schwung und im genauesten Takt in das Wasser. »Ja, schonet die Götter«, fuhr er fort, den Blick immer auf seinem Schiff. »Sie schaffen uns die Gelegenheiten. Unsre Schuld ist es, wenn wir versagen. Und was die Griechen betrifft, mein Lentulus, so vergiß du, daß die Piraten, die ich bekämpfen will, Griechen sind. Ein Sieg über sie zählt mehr als hundert Siege über die Afrikaner.« »Führt dich dein Weg zur Ägäis?« Das Auge des Seemanns ruhte noch immer auf seinem 120

Schiff: »Welche Anmut! Welche Freiheit! Ein Vogel kann nicht freier über die Wogen ziehen! Seht doch! – Verzeih, mein Lentulus! Ja, ich gehe ins Ägäische Meer. Und da meine Abreise so rasch erfolgt, will ich auch die Umstände berichten. Aber behaltet sie für euch! Ich möchte nicht, daß ihr dem Duumvir Vorwürfe macht, wenn ihr ihn seht. Er ist mein Freund. Der Handel zwischen Griechenland ist ja, wie ihr wißt, fast ebenso bedeutend wie der zwischen Alexandria und Rom. Das Volk dort aber vergaß die Zerealien zu feiern, und dafür strafte sie Triptolemus mit einer schlechten Ernte. Jedenfalls ist der Handel so angewachsen, daß er keinen Tag unterbrochen werden darf. Vielleicht habt ihr von den chersonesischen Seeräubern gehört, die oben im Euxenischen Meerbusen kreuzen; es gibt keine Verwegeneren, beim Bacchus! Gestern kam die Nachricht nach Rom, daß sie mit einer Flotte in den Bosporus ruderten, die Galeeren bei Byzanz und Chalzedon in den Grund bohrten und, immer noch beutegierig, ins Ägäische Meer einbrachen. Die Kornhändler, deren Schiffe im östlichen Mittelmeer kreuzen, bekamen Angst. Sie hatten eine Audienz beim Kaiser. Und heute geht von Ravenna eine Flotte von hundert Galeeren ab und von Misenum« – er machte eine Pause, um die Neugier seiner Freunde zu spannen, und endete mit einem stolzen – »eine!« »Glücklicher Quintus! Wir gratulieren dir!« »Diese Auszeichnung geht der Beförderung voran. Wir be­ grüßen dich als Duumvir!« »Quintus Arrius, der Duumvir, klingt besser als Quintus Arrius, der Tribun.« Sie überschütteten ihn mit Glückwünschen. »Ich freue mich mit den anderen«, sagte der weinselige Freund, »aber Duumvir, man muß praktisch denken. Und ehe ich nicht weiß, ob die Beförderung dich im Würfelspiel ver­ vollkommnet, kann ich mir keine Meinung darüber bilden, ob dir die Götter bei diesem Geschäft wohl oder übel wollen.« 121

»Dank, herzlichen Dank!« wandte sich Arrius an alle. »Hättet ihr Laternen, ich würde euch Auguren nennen. Seht her, ich will euch zeigen, was für Meisterpropheten ihr seid. Lest!« Er zog eine Schriftrolle aus seiner Toga: »Das bekam ich gestern nacht, als ich an der Tafel saß, von – Sejanus.« Dieser Name war damals noch groß in der römischen Welt. »Sejanus!« riefen alle zugleich und schauten in das Schrei­ ben, das der große Mann geschickt hatte: Sejanus an C. Cäcilius Rufus, Duumvir Rom, am 19. der Kalenden des September Der Kaiser erhielt einen guten Bericht über den Tribun Quintus Arrius. Insbesondere hörte er von seiner Tapferkeit in den westlichen Gewässern und befiehlt infolgedessen, daß der besagte Quintus sofort nach dem Osten gesandt werde. Es ist ferner des Kaisers Wille, daß du unverzüglich einhundert Dreiruderer der ersten Klasse in vollständiger Ausrüstung ins Ägäische Meer sendest und daß Quintus den Befehl über diese Flotte übernimmt. Einzelheiten sind dir, Cäcilius, überlassen. Der Fall ist drin­ gend, wie du aus den Berichten ersehen wirst, die zu deiner und des Quintus Kenntnis beigelegt sind. Sejanus Arrius schenkte der Vorlesung des Schreibens wenig Auf­ merksamkeit. Das sich nähernde Schiff nahm ihn ganz in Anspruch. Er betrachtete es mit wahrer Leidenschaft. Nun schwang er einen Zipfel seiner Toga. Als Antwort wurde auf dem Schiff eine purpurne Fahne gehißt, während die Seeleute in das Takelwerk stiegen und das Segel einzogen. Der Schiffs­ schnabel drehte sich, die Ruder beschleunigten ihr Tempo. Mit voller Geschwindigkeit schoß das Schiff dem Ufer zu, wo Quintus stand. 122

»Bei den Nymphen!« rief einer der Freunde, indem er den Brief zurückgab. »Wir dürfen unserm Freunde nicht künftige Größe prophezeien, er ist schon groß. Unsre Liebe kann sich nun von großen Dingen nähren. Hast du noch mehr Neuigkei­ ten für uns?« »Nichts mehr«, antwortete Arrius. »Aber die Neuigkeit ist jetzt schon in Rom veraltet, wenigstens zwischen Palast und Forum. Der Duumvir ist vorsichtig. Meine Anweisungen, wo ich meine Flotte finden werde, finde ich in einem versiegelten Paket auf meinem Schiff. Wollt ihr jedoch den Göttern ein Opfer darbringen, so tut es für einen Freund, der irgendwo in der Richtung auf Sizilien segelt. Aber da ist das Schiff! Ich muß erfahren, wer es führt. Mit ihnen muß ich segeln und kämpfen. Es ist nicht leicht für ein Schiff, an einer Küste wie dieser anzulegen. Wir wollen sehen, ob sie genug Gewandtheit besitzen.« »Wie? Ist es neu für dich?« »Ich habe es noch nie gesehen, und ich weiß nicht, ob ich einen einzigen Bekannten darauf finde.« »Ist das vernünftig?« »Es liegt wenig daran. Auf der See wird man rasch miteinan­ der bekannt. Liebe und Haß entstehen in der Stunde der Gefahr.« Die Galeere, die zur Klasse der Naves liburnicae gehörte, war lang, schmal und für schnelle Manöver berechnet. Ihr Bug war herrlich. Er teilte das Wasser, daß es zu beiden Seiten bis zum Deck emporsprang und in anmutigem Fall niederfiel. Zwei muschelblasende Tritonen schmückten die Spitze. Am Bug sprang der am Kiel befestigte Rostrum oder Schnabel unter der Wasseroberfläche vor. Er bestand aus hartem, eisenbeschlage­ nem Holz und diente sowohl als Schutz wie zum Angriff. Rings um das Deck zog sich ein starkes Gesims und begrenzte die schöngezackte Brustwehr. Im Schiffsrumpf waren in drei Reihen die Öffnungen für die Ruder angebracht, jede mit 123

einem Schutzleder aus Ochsenhaut verdeckt. Es waren sechzig Ruder an jeder Seite. Auf dem hohen Bug des Schiffes war eine Reihe von Stäben angebracht, sogenannte Caduci. Zwei starke Ankertaue spannten sich über das Vorderdeck. Die einfache Anlage des oberen Verdecks zeigte, daß die Ruder die wichtigsten Einrichtungen waren. In der Mitte, gegen den Bug zu, erhob sich der eine Mast, der an einer Querstange ein großes viereckiges Segel trug. Mit Ausnahme der Seeleute in der Takelage sah man auf dem Deck nur einen Mann am Bug, in Helm und Schild. Die hundertzwanzig Ruder, die vom Gebrauch und dem häufigen Säubern mit Bimsstein glänzend weiß gescheuert waren, hoben und senkten sich, als ob sie von einer Hand geführt würden. Die Galeere schoß in so großer Geschwindigkeit heran, daß die mit der Schiffahrt nicht vertrauten Freunde des Tribuns ihr ängstlich entgegenschauten. Da hob plötzlich der Mann am Bug die Hand in einer eigentümlichen Bewegung: Alle Ruder hoben sich, schwebten einen Augenblick in der Luft und fielen dann senkrecht nieder. Das Wasser schäumte und zischte auf, das Schiff erzitterte in allen Fugen und stand wie erschreckt re­ gungslos. Wieder ein Wink der Hand, nochmals hoben sich die Ruder, schwebten und senkten sich, aber diesmal ruderten sie auf der rechten Seite vorwärts, auf der linken rückwärts. Dreimal wiederholte sich die Bewegung, dann schwang sich das Schiff um seine eigene Achse nach rechts, fing Wind und legte vorsichtig seitwärts an der Mole an. Jetzt wurde auch das Heck sichtbar; es war, ebenso wie der Bug, mit Tritonen geschmückt und trug den Namen des Schiffs in großen erhabe­ nen Buchstaben: »Asträa«. Vor aller Augen lagen nun die Reihen der Ruder, die erhöhte Plattform, auf welcher der Bewaffnete saß, die Hand am Ruderseil, und über ihm wie ein großes gezähntes Blatt das hohe vergoldete und geschnitzte Aplustre. Ein Trompetensignal – und die ganze Mannschaft erschien 124

auf dem Verdeck, alle in ihren prächtigen Panzern mit Bronze­ helmen, glänzenden Schilden und Speeren. Während sich die Truppen in Kampfordnung aufstellten, erklommen die Schiffs­ leute den Mast und setzten sich auf die Segelstange. Die Offiziere und die Musikanten nahmen ihren Platz ein. Alles spielte sich ohne Geschrei und Lärm ab. Als die Ruder die Mole berührten, wurde eine Brücke vom Steuermannsdeck zum Ufer gelegt. Nun wandte sich der Tribun zu seinen Freunden und sagte mit einem Ernst, den er bisher nicht gezeigt hatte: »Nun die Pflicht, meine Freunde!« Er nahm seinen Lorbeerkranz ab und reichte ihn dem einen: »Trag du den Lorbeer, Günstling der Würfel! Wenn ich zu­ rückkehre, will ich meine Sesterzien zurückgewinnen. Wenn ich nicht Sieger bin, will ich nicht zurückkehren. Hänge den Kranz in dein Atrium.« Dann umarmte er einen nach dem andern. »Die Götter seien mit dir, o Quintus!« riefen sie. »Lebt wohl!« antwortete er ihnen. Die Sklaven, die ihre Fackeln schwangen, grüßte er mit einer Handbewegung. Dann wandte er sich dem Schiff zu, das ihn mit seinem ganzen Glanz empfing. Als er über die Brücke schritt, schmetterten die Trompeten, und über dem Aplustre stieg das vexillum purpureum empor, der Kommandantenwim­ pel.

Am Ruder Der Tribun stand auf dem Steuermannsdeck, den Befehl des Duumvir offen in seiner Hand, und sprach mit dem Hortator, dem Aufseher der Ruderer. »Wie stark ist deine Mannschaft?« 125

»Zweihundertzweiundfünfzig Ruderer und zehn Ersatzmän­ ner.« »Wie oft läßt du ablösen?« »Alle zwei Stunden.« »Die Einteilung ist hart, ich werde sie abändern. Aber nicht jetzt, die Ruder dürfen Tag und Nacht nicht ruhen.« Zum Segelmeister gewandt: »Der Wind ist günstig! Laß das Segel den Rudern helfen!« Als die beiden gegangen waren, trat er zum Hauptsteuer­ mann, dem Rector: »Wie lange dienst du?« »Zweiunddreißig Jahre.« »Hauptsächlich in welchen Meeren?« »Zwischen unserm Rom und dem Osten.« »Du bist der Mann, den ich mir wünschte.« Der Tribun schaute wieder in seine Befehle: »Am Kap von Camponella vorüber geht der Kurs nach Mes­ sina. Folge der Krümmung der kalabrischen Küste, bis Melito zu deiner Linken erscheint, dann – kennst du die Sterne, die das Ionische Meer regieren?« »Ich kenne sie.« »Dann ostwärts von Melito nach Cythera. Wenn es den Göt­ tern gefällt, will ich bis zur Bucht von Antemona nicht ankern. Die Aufgabe drängt. Ich verlasse mich auf dich.« Arrius war ein umsichtiger Mann, klug und vorsichtig. Er gehörte zu jener Art von Männern, die auf den Altären zu Präneste und Atrium reiche Opfer brachten, aber nie vergaßen, daß die Gunst der blinden Göttin mehr von der Sorgfalt und der Urteilskraft des Anbeters abhängt als von Gaben und Gelüb­ den. Die ganze Nacht hatte er als der Herr des Festes beim Wein und Spiel zugebracht, aber der Duft des Meeres verwan­ delte ihn wieder zum Seemann, und er würde nicht ruhen, bis er sein Schiff kannte. Kenntnis läßt keinen Raum für Zufall. Nachdem er mit dem Aufseher der Ruderer, dem Segelmeister, 126

dem Steuermann und den übrigen Offizieren begonnen hatte, ging der Kommandant zum Lagerverwalter, dem Maschinen­ meister, dem Küchenmeister, durch jedes Quartier. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Als er seinen Rundgang beendet hatte, kannte er seine ganze Mannschaft in den engen Räumen genau und wußte, mit welchem Material er auf der Reise und bei möglichen Zwischenfällen rechnen konnte. Jetzt mußte er sich nur noch persönlich über jeden einzelnen unter­ richten. Das war die empfindlichste und schwierigste Aufgabe, die viel Zeit beanspruchte. Er ging dabei seinen eigenen Weg. Gegen Mittag dieses Tages befand sich die Galeere in der Gegend von Paestum. Der Wind kam noch vom Westen und füllte die Segel zur Zufriedenheit des Segelmeisters. Die Wachen waren verteilt. Auf dem Vorderdeck war der Altar errichtet, mit Salz und Gerste bestreut worden, und der Tribun hatte feierlich seine Gebete an Jupiter, Neptun und alle Mee­ resgötter verrichtet und zu den Gelübden Wein vergossen und Weihrauch entzündet. Und nun saß er, eine sehr kriegerische Gestalt, in der großen Kajüte. Diese Kajüte lag im Zentrum der Galeere. Sie maß fünfundsechzig mal dreißig Fuß und erhielt ihr Licht durch drei große Luken. Sie war vollkommen über­ dacht. Das Dach wurde von Reihen von Pfosten getragen. In der Mitte stand der Mast, von Äxten, Speeren und Wurfspießen starrend. Zu jeder Luke führten Treppen hinab; am Ende war eine Falltür, die jetzt hochgezogen war und den Raum zu einer tageshellen Halle machte. Hier war das Herz des Schiffes, die Wohnung für alle: Spei­ se-, Schlaf-, Übungs- und Erholungsraum. Das Gesetz der eisernen Disziplin beherrschte hier das ganze bis ins kleinste geordnete Leben. Am hinteren Ende der großen Kajüte war eine Plattform, die man auf mehreren Stufen erreichte. Dort saß der Aufseher der Ruderer vor einem Schalltisch, auf dem er mit einem hölzernen Hammer den Takt für die Ruderer schlug. Zu seiner Rechten stand eine Wasseruhr, eine Clepsydra, von der 127

er die Zeit für Ablösungen und Wachen ablas. Über ihm, auf einer höheren Plattform, die von einem vergoldeten Geländer umgeben war, hatte der Tribun sein Quartier. Von hier aus konnte er alles überblicken. Es war mit einem Diwan, einem Tisch, einer Cathedra und einem mit Kissen belegten Armstuhl mit Rückenlehne ausgestattet. Alles war dank der kaiserlichen Freigebigkeit sehr kostbar. Von diesem Platz aus, zurückgelehnt in den Sessel, von den Bewegungen des Schiffes getragen, den Soldatenmantel über die Tunika geworfen, das Schwert im Gürtel, beobachtete Arrius seine ganze Mannschaft und wurde auch von ihr selbst gesehen. Sein Blick umfaßte jede Einzelheit, am längsten verweilte er bei den Ruderern. An den inneren Schiffswänden schienen auf jeder Seite drei Reihen von Bänken befestigt. In Wirklichkeit waren es nur Reihen von Stufen, die zweite war hinter und über der ersten, die dritte hinter und über der zwei­ ten. Die sechzig Ruderer auf jeder Seite waren auf neunzehn solcher Stufen im Abstand von einem Meter untergebracht und einer zwanzigsten, deren oberster Sitz genau unter dem unter­ sten der ersten Bank lag. Durch diese Einrichtung hatten die Ruderer genügend Raum für ihre Arbeit, und der verfügbare Raum wurde aufs beste ausgenutzt. Auf den ersten und zweiten Stufen saßen die Ruderer, auf der dritten standen sie, ihre Ruder waren länger. Die Handgriffe der Ruder waren mit Blei ausgefüllt. Sie hingen in geschmeidigen Riemen, die eine schwebende Bewegung erlaubten, was aber auch viel Ge­ schicklichkeit verlangte, damit ein unachtsamer Ruderer nicht von einer plötzlichen Woge mit fortgerissen und ins Meer geschleudert wurde. Durch die Ruderöffnungen kam frische Luft in den Raum, Licht fiel durch ein Gitterwerk im Deck. In gewissem Sinne konnte die Lage der Ruderer schlimmer sein. Aber man darf daraus nicht schließen, daß sie etwa angenehm war. Sie durften nicht miteinander reden. Tag für Tag nahmen sie wortlos ihre Plätze ein; einer konnte dem andern nicht ins 128

Gesicht sehen. Die kurzen Pausen waren dem Schlaf und dem Essen vorbehalten. Sie lachten nie, und keiner sang. Was nützt dem Menschen die Zunge, wenn sie nichts anderes ausdrücken kann als Seufzen und Stöhnen! Allmählich versinkt ein solcher Mensch ins Schweigen. Das Leben dieser Geplagten floß wie auf einem unirdischen Strom langsam, aber unaufhaltsam einem unbekannten Ausgang zu. Für die Gefangenen gab es entweder schwere Arbeit an den Mauern und in den Straßen und Bergwerken oder auf den Kriegs- und Handelsschiffen. Als Druilius den ersten Seesieg für sein Land gewann, hatten die Ruderer den gleichen Anteil daran wie die Seeleute. Die Bänke der Ruderer waren das Zeichen sowohl für Roms Politik wie für seine Tapferkeit. Hier saßen Söhne aus fast allen Ländern, meist Kriegsgefangene, die nach ihrer Kraft und Ausdauer ausgesucht waren. Auf einer Bank ein Brite, vor ihm ein Libyer, dahinter ein Skythe, ein Gallier, ein Thebaner. Römische Sträflinge saßen zusammen mit Goten, Langobar­ den, Juden, Äthiopiern und Barbaren von den Küsten Maeotis’. Hier ein Athener, dort ein rothaariger Wilder von Hibernia neben blauäugigen Riesen aus Cimbrien. Die Arbeit an den Rudern genügte nicht, um den Verstand zu beschäftigen, selbst wenn es sich um stumpfe und einfältige Menschen handelte. Die Bewegungen mußten automatisch werden. Auch die Aufmerksamkeit, die sie den Wogen zuwenden mußten, war nur instinktiv wach. So wurden diese Elenden mit der Zeit stumpfsinnig, Geschöpfe mit gewaltigen Muskeln und leerem Hirn. Selbst ihr Elend wurde ihnen zur Gewohnheit. Der Tribun in seinem Sessel war mit allem möglichen be­ schäftigt, nur nicht mit dem Elend der Sklaven auf den Ruderbänken. Die immer gleichmäßigen Bewegungen auf beiden Seiten des Schiffes wurden nach einiger Zeit monoton, und er begann jeden einzelnen Ruderer zu betrachten. Er machte seine Beobachtungen und dachte, daß er bei den See­ räubern, wenn alles gut ging, noch bessere Männer für diese 129

Arbeit finden könnte. Die Ruderer wurden nicht mit ihren Namen, sondern mit Ziffern bezeichnet, die an die Bänke gemalt waren. Mit seinen scharfen Augen ging er eine Bank nach der andern durch und blieb schließlich bei Nummer 60 haften, der auf der ersten Bank saß, ganz nahe vor ihm. Der Ruderer war nackt wie alle, bis auf sein Lendentuch. Er war noch sehr jung, nicht älter als zwanzig. Arrius liebte nicht nur das Würfelspiel, er war auch ein Kenner des menschlichen Körpers, wie er ihn in den Gymnasien bei den berühmten Athleten bewundern konnte. Die Lehrer in diesen Schulen hatten ihm den Blick für die Qualität eines Körpers geschärft, die nicht die Muskelmasse, sondern die Persönlichkeit ausmachte. Solche Erscheinungen waren sehr selten. Kraft und Klugheit erkannte Arrius sofort in dem jungen Ruderer. Sein Körper war von vollkommener Harmonie und erweckte die Neugier und das allgemeine Interesse in dem Tribun. Auch der Kopf des Mannes war bemerkenswert. – Bei Gott, der Bursche gefällt mir! Er ver­ spricht etwas. Ich muß mehr über ihn erfahren. Der Ruderer wandte ihm jetzt das Gesicht zu: Ein Jude! Und ein Knabe! Der Ruderer bemerkte den Blick des Arrius und errötete. Er zögerte einen Augenblick mit dem Ruder, da fiel der Hammer des Aufsehers auf den Tisch, und sein Ruder fiel im Takt mit den anderen nieder. Als er dann zurück auf den Tribun schaute, war er im höchsten Maße erstaunt – er begegnete einem freundlichen Lächeln. Währenddessen hatte die Galeere die Straße von Messina erreicht, schoß ostwärts an der Stadt vorbei und ließ die Rauchwolke über dem Ätna hinter sich. Sooft Arrius auf seinen Sitz zurückkehrte, suchte sein Blick den jungen Ruderer. – Der Bursche hat Geist. Ein Jude ist kein Barbar. Ich will mehr von ihm wissen.

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Arrius und Ben Hur auf Deck Am vierten Tag hatte die Galeere »Asträa« das Ionische Meer erreicht. Der Himmel war klar und der Wind so günstig, als wären alle Götter ihr wohlgesinnt. Arrius, der etwas ungeduldig war, hoffte seine Flotte schon zu erreichen, – ehe sie an der Ostküste der Insel Cythera gelandet war. Er verbrachte deshalb die meiste Zeit auf Deck. Mit seinem Schiff, das er nun schon genau kannte, war er vollkommen zufrieden. Wenn er auf seinem Stuhl in der Kajüte saß, gingen seine Gedanken immer wieder zu dem Ruderer Nummer 60. »Kennst du den Mann, der eben von seiner Bank aufgestanden ist?« fragte er schließlich den Aufseher. Als die Ablösung beendet war, antwortete ihm der andre: »Nummer 60?« »Ja.« »Wie du weißt, ist das Schiff kaum vor einem Monat von der Schiffsbauerei gekommen, und die Leute sind mir so neu wie das Schiff selbst.« »Er ist ein Jude«, sagte Arrius nachdenklich. »Der edle Quintus hat einen scharfen Blick.« »Er ist sehr jung.« »Aber unser bester Ruderer. Oft sah ich sein Ruder in seinen Armen fast brechen.« »Wie beträgt er sich?« »Er ist gehorsam, weiter weiß ich nichts. Einmal bat er mich um etwas.« »Um was?« »Er wollte abwechselnd auf der rechten und linken Seite beschäftigt werden.« »Gab er einen Grund dafür an?« »Er hatte beobachtet, daß die Männer, die immer auf einer Seite arbeiteten, schief wurden. Eines Tages, bei einem Sturm oder in einer Schlacht, so meinte er, müsse vielleicht gewech­ 131

selt werden, und dann wäre er nicht voll arbeitsfähig.« »Sieh da! Der Gedanke ist neu. Was hast du sonst noch an ihm bemerkt?« »Er ist reinlicher als seine Genossen.« »Darin ist er ein Römer. Weißt du nichts über seine Ge­ schichte?« »Kein Wort.« Der Tribun dachte eine Weile nach: »Sollte ich bei der näch­ sten Ablösung auf Deck sein, schick ihn mir. Er soll allein kommen.« Zwei Stunden später stand Arrius unter der Flagge. Ein Mann, der einem wichtigen Ereignis entgegenfährt und nichts tun kann als warten, muß vollkommene Ruhe bewahren. Der Steuermann saß an seinem Platz. Im Schatten des Segels schliefen einige von der Schiffsmannschaft; auf der Segelstan­ ge saß ein Posten. Als Arrius den Blick vom Solarium, der Sonnenuhr, hob, sah er den jungen Ruderer auf sich zukom­ men: »Der Aufseher nannte dich den edlen Arrius und sagte mir, es sei dein Wille, daß ich dich aufsuche. Hier bin ich.« Arrius betrachtete mit Bewunderung die schlanke, muskulöse Gestalt, die vor ihm stand, und dachte dabei an die Arena. Aber die Erscheinung war es nicht allein, die diese Wirkung auf ihn hatte. Es war die Stimme, die bewies, daß dieser junge Mensch unter edlen Einflüssen gestanden hatte. Sein Blick war klar und offen und eher neugierig als trotzig. Unter der Musterung des Tribuns verlor er nicht seine jugendliche Anmut. Er zeigte keine Neigung, sich zu beklagen. Weder Trotz noch Drohung war in ihm, nur tiefer Kummer war darin eingeprägt. Unter diesem Eindruck sprach der Römer zu ihm wie ein Älterer zum Jüngeren, nicht wie ein Herr zum Sklaven. »Der Aufseher sagt mir, du seist sein bester Ruderer.« »Der Aufseher ist sehr freundlich.« »Dienst du schon lange?« 132

»Länger als drei Jahre.«

»Am Ruder?«

»Ich habe es nicht einen Tag verlassen.«

»Die Arbeit ist hart. Wenig Männer ertragen sie länger als ein

Jahr, und du – du bist noch ein Knabe.« »Der edle Arrius bedenkt nicht, daß der Wille die Ausdauer stählt. Mit seiner Hilfe erträgt der Schwächere oft mehr als der Starke.« »Nach deiner Sprache bist du ein Jude.«

»Meine Vorfahren reichen weiter zurück als der erste Römer

– sie waren Hebräer.« »Der unbeugsame Stolz deiner Rasse ist dir nicht verlorenge­ gangen«, sagte Arrius, als er sah, daß der Ruderer errötete. »Stolz ist nie so stark wie in Ketten.« »Welchen Grund hast du, stolz zu sein?« »Ich bin ein Jude.« Arrius lächelte. »Ich war noch nicht in Jerusalem, aber ich habe von seinen Fürsten gehört. Ich kenne einen. Er war ein Kaufmann und fuhr zur See. Er hätte ein König sein können. Welchen Rang hast du?« »Ich muß dir von der Ruderbank aus antworten. Ich bin ein Sklave. Mein Vater war ein Fürst von Jerusalem und ein Kaufmann. Er fuhr zur See. Der große Augustus kannte und ehrte ihn.« »Sein Name?«

»Ithamar aus dem Hause Hur.«

Der Tribun hob erstaunt die Hand:

»Du bist ein Sohn Hurs?« Nach einer Weile fragte er: »Was

hat dich hierhergebracht?« Judah senkte den Kopf, seine Brust wogte. Als er seine Emp­ findungen gemeistert hatte, schaute er dem Tribun ins Auge und antwortete: »Ich wurde des versuchten Mordes an dem Prokurator Vale­ 133

rius Gratus angeklagt.« »Du?« rief Arrius erregt und trat einen Schritt zurück. »Du bist ein Mörder? Ganz Rom war über diese Geschichte erregt. Ich hörte sie auf meinem Schiff auf dem Fluß bei Lodinum.« Beide standen schweigend voreinander. »Ich dachte, die Familie Hur sei von der Erde vertilgt«, nahm Arrius als erster das Wort. Eine Flut von zärtlichen Erinnerungen spülte Judahs Stolz hinweg, und Tränen schossen ihm in die Augen: »Mutter, Mutter! Und meine kleine Tirzah! Wo sind sie? O edler Tribun, wenn du etwas von ihnen weißt« – er faltete bittend seine Hände –, »sag mir alles! Sag mir, ob sie leben, und wenn sie leben, wo sie sind! Und in welchem Zustand! Oh, ich bitte dich, sag es mir!« Er trat näher zu Arrius, so nahe, daß er seinen Mantel berühr­ te: »Der furchtbare Tag liegt drei Jahre zurück, drei Jahre. O Tribun! Und jede Stunde war ein ganzes Leben voll Elend, ein Leben in einem bodenlosen Abgrund ohne jede andre Hilfe als Arbeit. Und in dieser ganzen Zeit nicht ein Wort von irgend jemand, nicht ein Flüstern. Könnte man nur selbst vergessen, wenn man vergessen ist! Könnte ich nur jene Szene vergessen: meine Schwester von mir weggerissen, meiner Mutter letzten Blick! Ich habe den Atem der Pest gespürt und die Erschütte­ rung des Schiffes im Krieg, ich habe den Sturm heulen hören – und lachte, während andre beteten: Der Tod wäre mir Erlösung gewesen. Pack die Ruder! Ja, mit jedem Schlag hoffte ich diese Szene zu vergessen. Denke, wie wenig mir helfen kann! Sag mir, daß sie tot sind, wenn nicht mehr; denn glücklich können sie nicht sein, da ich verloren bin. Ich habe sie in der Nacht rufen hören, ich sah sie über das Wasser wandeln. Nichts ist so treu wie Mutterliebe. Und Tirzah, sie war eine weiße Lilie, der jüngste Zweig der Palme, so jung, so zart, so anmutig, so schön! Sie war die Sonne meines Lebens. Ihr Gang war Musik. Und meine Hand war es, die sie niederschlug! Ich…« 134

»Gestehst du deine Schuld?« fragte Arrius streng. Die Verwandlung, die mit Ben Hur geschah, erschien wun­ derbar, so plötzlich und stark geschah sie. Seine Stimme wurde schärfer, seine Hände ballten sich, jede Fiber zitterte, seine Augen flammten: »Du hast vom Gott unsrer Väter gehört, vom ewigen Jehova. Bei seiner Liebe und Allmacht und bei der Liebe, die er von Anfang an Israel erwiesen hat, schwöre ich, daß ich unschuldig bin.« Der Tribun war tief bewegt. »O edler Römer, schenk mir ein wenig Glauben! Sende ein Licht in meine Finsternis, die jeden Tag tiefer wird!« Arrius wandte sich ab und ging über das Deck. »Hattest du keinen Prozeß?« fragte er und blieb stehen. »Nein!« Der Römer hob erstaunt den Kopf. »Keinen Prozeß – keine Zeugen? Wer sprach das Urteil über dich?« »Sie banden mich mit Stricken und warfen mich in ein Ver­ lies des Turms. Ich sah niemanden. Niemand sprach mit mir. Am nächsten Tag brachten mich Soldaten an die Küste. Seit­ dem bin ich Galeerensklave.« »Wie könntest du deine Unschuld beweisen?« »Ich war ein Knabe, ich war zu jung, um ein Verschwörer zu sein. Gratus war mir fremd. Wenn ich ihn hätte töten wollen, so war dort weder der Ort noch die Zeit. Er ritt inmitten einer Legion, und es war heller Tag. Ich hätte nicht entkommen können. Ich gehörte zu einer den Römern wohlgesinnten Klasse. Mein Vater hatte sich im Dienst des Kaisers ausge­ zeichnet. Wir hatten ein großes Vermögen zu verlieren. Mein Untergang wie der meiner Mutter und meiner Schwester war sicher. Ich hatte keinen Grund zum Haß, im Gegenteil, und wäre die Gelegenheit noch so verlockend gewesen, so mußte meine Hand von jeder Rücksicht auf die Meinen, auf mein Leben, auf Vermögen, Gewissen und Gesetz – die Lebensluft 135

für einen Sohn Israels – zurückgehalten werden. Ich hatte den Verstand nicht verloren. Der Tod war der Schande vorzuzie­ hen. Glaube mir, so ist es noch immer!« »Wer war bei dir, als der Wurf geschah?« »Ich war auf dem Dach meines Vaterhauses. Tirzah war bei mir, neben mir, diese Seele an Güte. Wir lehnten über der Brüstung, um die Legion vorbeiziehen zu sehen. Ein Ziegel löste sich unter meiner Hand und fiel auf Gratus. Ich dachte, ich hätte ihn getötet. Was für ein Entsetzen!« »Wo war deine Mutter?« »In ihrem Zimmer unten.« »Was ist aus ihr geworden?« Ben Hur faltete seine Hände und atmete keuchend. »Ich weiß nicht. Ich sah, wie sie weggeführt wurde – das ist alles. Sie trieben jedes lebende Wesen aus dem Haus, selbst das Vieh, und versiegelten die Tore. Sie wollten, daß niemand wiederkehrte. Wüßte ich nur ein Wort von ihnen! Meine Mutter und meine Schwester sind ganz und gar unschuldig. Ich kann verzeihen – doch verzeih, edler Tribun –, ein Sklave sollte nicht von Verzeihung reden; ich bin zeitlebens ans Ruder gekettet.« Arrius hatte aufmerksam zugehört. Er nahm alle Erfahrungen mit Sklaven zu Hilfe. Wenn dieser Mensch geheuchelt hatte, dann hatte er es in vollkommener Weise getan. Wenn aber alles echt gewesen, dann war an der Unschuld des Juden kein Zweifel. Und war er unschuldig – wie blindwütig hatte das Schicksal gehandelt! Eine ganze Familie ausgerottet, um einen Unfall zu bestrafen! Der Gedanke erschütterte ihn. Der Tribun konnte unerbittlich sein, obwohl es nicht zu der Ursache für dieses Gespräch gepaßt hätte; er konnte auch gerecht sein und, wenn sein Sinn geweckt war, etwas Falsches zurechtbiegen. Das Schiffsvolk nannte ihn, wenn es eine Zeitlang unter ihm gedient hatte, den »guten Tribun«. In diesem Sinne sprach mancherlei in ihm zugunsten des 136

jungen Mannes, manches gegen ihn. Vielleicht kannte Arrius den Valerius Gratus, ohne daß er ihn liebte. Vielleicht hatte er Judahs Vater gekannt. Die Frage war in dem Gespräch berührt worden, aber Arrius hatte sie nicht beantwortet. Jedenfalls war er zunächst unschlüssig und zögerte. Er besaß große Voll­ macht; auf dem Schiff war er Alleinherrscher. Seine Eindrücke waren der Milde günstig: Er glaubte Ben Hur. – Doch, sagte er sich, es hat keine Eile, oder vielmehr, er hatte Eile nach Cythe­ ra zu kommen. Er durfte seinen besten Ruderer nicht verlieren, er wollte warten, wollte mehr erfahren. Er wollte vor allem sicher sein, daß dies der Fürst Ben Hur und daß er ein aufrich­ tiger Mensch war. Sklaven sind meist Lügner. »Es ist gut«, sagte er laut. »Geh auf deinen Platz zurück.« Ben Hur verbeugte sich, blickte nochmals in das Gesicht seines Gebieters, sah aber dort nichts, was ihn zu Hoffnungen berechtigte. Er wandte sich langsam, schaute zurück und sagte: »Wenn du dich meiner noch erinnerst, o Tribun, so gedenke, daß ich dich nur um eine Nachricht über die Meinigen gebeten habe – über meine Mutter und Schwester.« Er ging. Arrius folgte ihm mit bewundernden Blicken: Welch ein Mann für die Arena! Was für ein Läufer! Ihr Götter, was für ein Arm für das Schwert oder den Ringkampf! – »Halt!« rief er laut. Ben Hur blieb stehen, und Arrius trat vor ihn hin. »Wenn du frei wärst, was würdest du tun?« »Der edle Arrius spottet über mich«, sagte Judah mit zittern­ den Lippen. »Nein, bei den Göttern, nein!« »Dann will ich gern antworten. Ich würde mich zum ersten­ mal in meinem Leben einer Aufgabe widmen: Ich weiß keine andere. Ich würde nicht ruhen, bis ich meine Mutter und Tirzah wieder in unser Haus geführt hätte. Jeden Tag und jede Stunde würde ich nur ihrem Glück dienen. Ich würde ihnen dienen, 137

wie nie ein Sklave treuer gedient hat. Sie haben viel verloren, aber bei dem Gott meiner Väter – ich würde ihnen mehr erobern!« Die Antwort war für den Römer unerwartet. Einen Augenblick war er unschlüssig: »Ich fragte nach deinen Plänen. Wenn deine Mutter und dei­ ne Schwester tot wären oder nicht mehr gefunden würden, was würdest du dann tun?« Tödliche Blässe bedeckte Ben Hurs Gesicht, und er schaute auf das Meer. Nachdem er seiner Erregung Herr geworden war, wandte er sich zu dem Tribun: »Welcher Beschäftigung ich mich widmen würde?« »Ja.« »Tribun, ich will dir die Wahrheit sagen. Gerade in der Nacht vor dem Tage des Schreckens erhielt ich die Erlaubnis, Soldat zu werden. Das will ich noch. Und da es in der ganzen Welt nur eine Schule des Kampfes gibt, würde ich dorthin gehen.« »In die Palästra?« »Nein, in ein römisches Lager.« »Aber du mußt zuerst das Waffenhandwerk erlernen.« Mit einem Sklaven soll sich der Herr nicht zu sehr einlassen. Arrius sah seinen Fehler und änderte Stimme und Haltung: »Geh jetzt! Und baue nicht auf das, was zwischen uns geredet worden ist. Vielleicht treibe ich mein Spiel mit dir. Aber«, er blickte nachdenklich abseits, »wenn du mit gewisser Hoffnung daran denkst, wähle zwischen dem Ruhm eines Gladiators und dem Dienst eines Soldaten. Das eine kann dir die Gunst des Kaisers verschaffen, im andern Fall hast du keine Helfer. Du bist kein Römer. Geh!« Ben Hur saß wieder auf seiner Ruderbank. Wenn einem Manne das Herz leicht ist, ist ihm die schwerste Pflicht leicht. Ein Ruder zu führen, war für Judah nicht zu mühselig. In ihm war eine Hoffnung wie ein singender Vogel aufgestiegen. Die Warnung des Tribuns – »Vielleicht treibe ich nur mein Spiel 138

mit dir« – schlug er sich aus dem Sinn, sooft sie wiederkam. Daß der mächtige Mann ihn hatte kommen lassen und ihn nach seiner Geschichte befragt hatte, war Brot für seinen hungrigen Geist. Über seiner Bank war ein klares und helles Licht voller Verheißungen, und er betete: »Mein Gott! Ich bin ein treuer Sohn Israels, das du so geliebt hast. Hilf mir, ich bitte dich!«

Nummer 60 In der Bucht von Antemone, östlich der Insel Cythera, waren die hundert Galeeren vor Anker gegangen. Einen Tag lang inspizierte der Tribun die Flotte, dann segelte er nach Naxos, der größten Cykladeninsel, die halbwegs zwischen der griechi­ schen und asiatischen Küste wie ein großer Fels aus dem Meer ragte. Von der Höhe konnte Arrius alles übersehen, was vor sich ging. Zugleich konnte er von hier aus sofort hinter den Piraten her, ob sie nun im Ägäischen oder im Mittelländischen Meer erscheinen würden. Als die Flotte in guter Ordnung der Felsenküste der Insel zuruderte, erschien eine Galeere aus dem Norden. Arrius fuhr ihr entgegen. Sie kam gerade von Byzanz, und von ihrem Kommandanten konnte Arrius alle Einzelheiten erfahren, die er wissen mußte. Die Seeräuber stammten alle von den entlegenen Küsten des Euxenius, einige sogar aus Tanais, an der Mündung des Flus­ ses, der den Sumpf von Palus Maeotis gespeist haben soll. Ihre Vorbereitungen hatten sie mit der größten Heimlichkeit getrof­ fen. Das erste, was man von ihnen erfuhr, war ihr Erscheinen am Eingang des thrazischen Bosporus und die folgende Ver­ nichtung der dort stationierten Flotte. Von dort bis zum Ausgang des Hellespont war ihnen alles auf dem Wasser zur 139

Beute gefallen. Ihr Geschwader bestand aus fast sechzig Galeeren, alle gut bewaffnet und ausgerüstet. Ein paar waren Zwei-, die meisten Dreiruderer. Ihr Kommandant war ein Grieche. Auch die Steuerleute, von denen es hieß, daß sie die östlichen Gewässer gut kannten, waren Griechen. Sie hatten unermeßliche Beute gemacht, so daß der Schrecken nicht nur auf der See herrschte. Auch die Städte schlossen ihre Tore, und die Bevölkerung stand nachts auf den Mauern. Der Handel lag völlig darnieder. Wo waren sie jetzt? Das war die Frage, die Arrius am mei­ sten interessierte. Nachdem sie Hephästos und die Insel Lemnos erobert hatten, waren sie gegen die thessalische Inselgruppe vorgestoßen und nach den letzten Nachrichten in den Buchten zwischen Euböa und Hellas verschwunden. So lautete der Bericht. Die Einwohner der Insel waren durch das seltene Schauspiel einer Flotte von hundert Schiffen angelockt worden und konn­ ten mit anschauen, wie die eine Division sich plötzlich nach Norden wandte und die andern ihr wie geschlossene Kavallerie-Kohorten folgten. Sie hatten von den Seeräubern gehört, und der Anblick der weißen Segel beruhigte sie. Was Rom mit starker Hand begann, führte es auch zu Ende, und für ihre Steuern gab ihnen Rom Sicherheit. Der Tribun war mit den Bewegungen des Feindes sehr zu­ frieden und war Fortuna dankbar, nicht nur für die zuverlässigen Nachrichten, sondern auch dafür, daß sie den Feind in ein Gewässer gelockt hatte, wo sein Untergang sicher schien. Er wußte, welchen Schaden eine einzige Galeere im weiten Raum des Mittelmeers anrichten konnte und wie schwer sie aufzuspüren war. Wenn es ihm gelang, mit einem Schlage die ganze Flotte der Piraten zu vernichten, so würde das seinen Ruhm mehren. Die Insel Euböa dehnt sich an der klassischen Küste wie ein Wall gegen Asien aus; zwischen ihr und dem Kontinent zieht 140

sich dadurch ein Kanal von hundertundzwanzig Meilen Länge und kaum einer Achtelmeile Breite hin. In der Bucht am Eingang hatte die Flotte des Xerxes gelegen, und nun lag dort die der Seeräuber von Euxenius. Die Städte an den Küsten waren reich und ihre Beute verlockend. Arrius rechnete damit, die Piraten in der Nähe der Thermopylen zu finden, und be­ schloß, sie im Norden und Süden einzuschließen. Er durfte keine Stunde verlieren. Man mußte die Früchte, den Wein und die Frauen von Naxos zurücklassen. So segelte er ohne Auf­ enthalt los und sah kurz vor Einbruch der Nacht den Berg Ocha sich gegen den Himmel abheben. Der Steuermann meldete ihm die Küste von Euböa. Auf ein Signal hielten die Ruder inne. Arrius teilte seine Flotte in zwei gleiche Teile. Die eine führte er in den Kanal hinein, die andre sollte um die Seeseite der Insel herumfahren und so rasch als möglich den Kanal auf der andern Seite abriegeln. Beide Teile waren zwar schwächer als die Piraten­ flotte, aber sie waren ihr an Disziplin überlegen. Außerdem rechnete Arrius, daß für den Fall, eine Abteilung könnte geschlagen werden, die andre den Feind angreifen und schla­ gen könnte. Ben Hur saß auf seiner Ruderbank und wurde alle sechs Stunden abgelöst. Die Ruhepause in der Bucht von Antemona hatte ihn erfrischt, so daß ihm das Ruder nicht zitterte und der Aufseher nichts zu klagen hatte. Blindlings auf ein unbekann­ tes Ziel loszufahren, ist nicht erfreulich. In Ben Hur war dieses Gefühl durch die Gewohnheit teilweise abgestumpft, aber es verließ ihn doch nicht ganz, wenn er sich Tage und Nächte rasch dahingleiten fühlte und nie wußte, wo er war und wohin es ihn trug. Seit dem Gespräch mit dem Tribun beseelte ihn neues Leben. Er schien jede Einzelheit im Schiff wahrzuneh­ men, und er lauschte auf jede, als könne sie ihm etwas sagen. Mehr als einmal fühlte er den Drang, mit dem Aufseher auf der Plattform zu sprechen, aber das hätte diesen wohl mehr er­ 141

staunt als irgendein Umstand in der Schlacht. In der langen Dienstzeit hatte er gelernt, nach den Sonnen­ strahlen, die spärlich hereinfielen, die Fahrtrichtung zu bestimmen. Heute war ein heller Tag, wie ihn das Glück dem Tribunen schenkte. Diese Erfahrung hatte ihm auch geholfen, als sie von Cythera abfuhren. Schon glaubte er, ihr Kurs wende sich dem jüdischen Lande zu, und ein Stich war ihm ins Herz gegangen, als er die plötzliche Wendung nach Norden bemerk­ te. Die Ursache kannte er nicht, sowenig wie er oder die übrigen Ruderer je etwas davon erfuhren, wo sie sich befanden oder wohin die Fahrt ging. Sein Platz war weder am Anker noch unter dem Segel, er war am Ruder. Dort war er unerbitt­ lich festgehalten. Nur einmal, als ihn der Tribun kommen ließ, war er an Deck gewesen. Er wußte nicht, daß eine ganze Flotte in beispielloser Ordnung seinem Schiff folgte. Noch als die Sonne sank, hielt die Galeere nach Norden. Die Nacht kam. Ben Hur konnte keine Veränderung feststellen. Dann aber kam ein Duft von Weihrauch herein. – Der Tribun ist am Altar, dachte er. Wäre es möglich, daß wir einer Schlacht entgegenfahren? Nun wurde er aufmerksam. Er hatte viele Schlachten mitgemacht, ohne je eine gesehen zu haben; aber er hatte von seiner Bank aus alles gehört, was sich über ihm und neben ihm abgespielt hatte. Alle Laute waren ihm vertraut. So kannte er auch alle Vorbereitungen dazu und wußte, daß die Römer und Griechen vorher ihren Göttern opferten. Es waren die gleichen Riten wie vor dem Beginn jeder Fahrt, und sie waren ihm immer eine Warnung gewesen. Für den Ruderer bedeutete eine Schlacht etwas anderes als für die Mannschaft. Nicht wegen der Gefahr, aber für den Fall einer Niederlage. Überlebte er, konnte das zu einer großen Veränderung des Lebens führen – womöglich zur Freiheit – oder wenigstens zu einem neuen Herrn, der besser sein konnte als der alte. 142

Zur bestimmten Zeit wurden die Laternen angezündet und an den Treppen aufgehängt. Der Tribun kam vom Deck herunter. Auf seinen Befehl legte die Mannschaft die Waffen an. Ein neuer Befehl, und die Wurfmaschinen wurden vorbereitet, Speere, Wurfspieße und Pfeile aufs Deck gebracht, dazu Krüge mit brennbarem öl und Körbe voll lose gewickelter Wollballen. Und dann sah Ben Hur den Tribun auf seine Plattform steigen, seine Rüstung anlegen, den Helm festbinden und den Schild ergreifen. Er konnte nicht mehr zweifeln, daß die Schlacht unmittelbar bevorstand. Und er machte sich bereit für die letzte Schande seines Dienstes. An jeder Ruderbank war eine Kette mit schweren Fußringen befestigt. Der Aufseher ging von Bank zu Bank, von Nummer zu Nummer, um jedem Ruderer diese Fußfessel anzulegen. Sie konnten nur stumm gehorchen. Im Falle eines Unglücks gab es für sie keine Rettung. Im Raum wurde es totenstill. Man hörte nur die Ruder in ihren Riemen. Jeder fühlte die Schmach, Ben Hur tiefer als seine Genossen. Er wünschte, ihr um jeden Preis zu entgehen. Aber das Klirren der Ketten zeigte ihm, daß der Aufseher sich näherte. Bald war die Reihe an ihm. Oder würde der Tribun ihn ausnehmen? Er glaubte es, und es würde sich zeigen, wie er über ihn dachte. Erinnerte sich der Tribun jetzt an ihn, unmit­ telbar vor der Schlacht, so wäre das der Beweis seines Wohlwollens und daß er hoffen durfte. Ben Hur wartete unge­ duldig – eine Ewigkeit verging. Bei jedem Schlag des Ruders schaute er auf den Tribun, der auf seinem Diwan lag und sich ausruhte, während Nummer 60 sich schalt, grimmig lachte und sich entschloß, nicht mehr hinzuschauen. Der Hortator näherte sich. Jetzt war er bei Nummer l; das Rasseln der Kette klang schauerlich. Zuletzt Nummer 60. Mit der Ruhe der Verzweiflung hielt Ben Hur sein Ruder an und streckte seinen Fuß dem Aufseher hin. In diesem Augenblick richtete sich der Tribun auf und winkte dem Hortator. Durch 143

Judah ging ein Schlag. Der Tribun schaute vom Aufseher zu ihm hin. Und als er sein Ruder senkte, schien ihm das Schiff wie verklärt. Er hörte nichts von dem, was gesagt wurde. Es war genug, daß die Kette unbenutzt an ihrem Platz hing und daß der Aufseher zu seinem Schalltisch zurückging und seinen Hammer fallen ließ. Nie vorher hatten ihm die Schläge des Hammers wie Musik geklungen. Mit der Brust drückte er gegen das Ruder, das sich unter seiner Kraft bog, als wolle es zerspringen. Der Hortator ging zum Tribun und deutete lä­ chelnd auf Nummer 60. »Welche Kraft!« sagte er. »Und welcher Mut!« antwortete der Tribun. »Er ist besser ohne die Eisen. Leg sie ihm nie wieder an!« Mit diesen Worten streckte er sich wieder auf sein Lager. Das Schiff flog unter den Rudern Stunde um Stunde dahin; das Meer war kaum vom Wind gekräuselt. Die Besatzung, die nicht beschäftigt war, schlief; Arrius auf seinem Platz, die Mannschaft auf dem Boden. Einmal, zweimal wurde Ben Hur abgelöst, aber er konnte nicht schlafen. Drei Jahre Nacht – und endlich ein Sonnenstrahl in der Dunkelheit! Wie vom Schiffbruch umhergeworfen – und nun an Land! So lange tot – und nun der Schauer der Auferste­ hung! In solch einer Stunde flieht der Schlaf. Die Hoffnung formt schon die Zukunft. Aller Kummer war gestillt, die Heimat und Besitz wiederhergestellt, Mutter und Schwester in seinen Armen – das waren seine Gedanken, und sie machten ihn glücklicher, als er je gewesen. Daß er wie auf Flügeln in eine schreckliche Seeschlacht rauschte, war Nebensache. Diese Hoffnungen waren ohne Zweifel, sie waren Tatsachen. In seiner Freude war kein Raum für Rache. Messala, Gratus, Rom und alle die bitteren Erinnerungen waren überstandene Krank­ heiten, Ansteckungsstoffe der Erde, über die er frei und sicher dahinflog, dem Gesang der Sterne lauschend. Die tiefere Dunkelheit vor der Dämmerung lag über dem Wasser, und alles ging gut auf der »Asträa«, als ein Mann vom 144

Deck herunterkam, rasch zu der Plattform ging, wo der Tribun schlief, und ihn weckte. Arrius erhob sich, nahm Helm, Schwert und Schild und ging zum Kommandanten der Seeleu­ te. »Die Piraten sind nahe. Auf und fertig!« befahl er und ging so ruhig und sicher zu den Treppen, daß mancher gedacht haben mag: Glücklicher Mann! Apicius bereitet ihm ein Fest.

Die Seeschlacht Alle Mann an Bord waren auf ihrem Posten, alle Waffen waren bereit. Bottiche wurden mit Wasser gefüllt, noch mehr Laternen angezündet. Die abgelösten Ruderer standen vor ihrem Aufseher, dank der Vorsehung war Ben Hur unter ihnen. Bald verklangen die letzten Geräusche der Vorbereitungen auf Deck, und es herrschte die Stille der unbestimmten Furcht und Erwartung. – Ein Befehl wurde vom Deck gegeben und dem Aufseher der Ruderer überbracht. Alle Ruderer hielten inne. Was bedeutete das? Die hundertundzwanzig Sklaven in Ketten stellten keine Fragen. Vaterlandsliebe, Ehrgefühl, Pflichtbewußtsein kannten sie nicht. In ihnen war das Gefühl, hilflos einer unabwendbaren Gefahr entgegenzugehen. Womöglich dachte auch der Stumpf­ este unter ihnen an das, was sich ereignen konnte, aber er versprach sich nichts davon. Denn ein Sieg würde nur ihre Fesseln fester schließen; ihr Schicksal war mit dem des Schiffs unzertrennlich verbunden, ob es sank oder verbrannte, sie würden sein Los teilen. Über die Lage draußen konnten sie niemanden fragen. Und wer war der Feind? Vielleicht Freunde, Brüder, Landsleute? Hatte man sie aus diesen Gründen an ihre Sitze gefesselt? Für solche Gedanken war jetzt nicht Zeit. Ben Hur glaubte vom Bug des Schiffes ein Geräusch wie von einer daherrauschenden Galeere zu vernehmen. Die »Asträa« 145

schwankte wie im Sturm. Ihm kam der Gedanke an eine zum Angriff rüstende Flotte. Bei dieser Vorstellung erregte sich sein Blut. Ein neuer Befehl kam vom Deck. Die Ruder senkten sich, die Galeere setzte sich kaum merkbar in Bewegung. Kein Laut außen, keiner von innen. Das ganze Schiff schien den Atem anzuhalten und sich wie ein Tiger zum Sprung vorzubereiten. Ben Hur hatte kein Gefühl für die Zeit oder die Distanz, die sie zurückgelegt hatten. Plötzlich ein Trompetensignal an Deck, laut, klar und lang. Der Aufseher schlug den Takt auf seinem Tisch, daß es widerhallte. Die Ruderer warfen sich mit aller Kraft in die Riemen; in allen Fugen krachend, sprang die Galeere an. Andere Trompeten erschallten, alle von rückwärts, keine von vorn, von dort hörte man nur Stimmengewirr. Plötzlich gab es einen gewaltigen Stoß; die Ruderer dicht vor dem Aufseher taumelten, einige stürzten. Das Schiri schoß rückwärts, erholte sich und drang noch unwiderstehlicher voran. Schreckensschreie von Menschen übertönten den Klang der Trompeten, das Mahlen und Krachen eines Zusammensto­ ßes. Dann brach etwas unter seinen Füßen, unter dem Kiel. Es splitterte, etwas wurde zerstampft. Ben Hur war es, als ob er über etwas hinwegrollte. Ein Triumphgeschrei vom Deck – das römische Schiff hatte gesiegt. Aber wen hatte die See ver­ schlungen? Welchem Volk, welchem Land gehörten sie an? Keine Pause, kein Halt! Die »Asträa« rauschte vorwärts. Oben tauchten die Seeleute die Baumwollballen ins öl und zündeten sie an; zu den andern Schrecken des Kampfes kam noch das Feuer hinzu. Da senkte sich mit einemmal die Galeere nach vorn, so daß sich die Ruderer nur noch mit Mühe auf ihren Plätzen behaupten konnten. Neues Triumphgeschrei der Römer und Verzweiflungsschreie der Feinde. Der große Enterhaken am Vorderteil der römischen Galeere hatte ein feindliches Schiff erfaßt, in die Luft geschleudert und in den Abgrund fallen lassen. Das Geschrei nahm zu. Auf allen Seiten 146

wuchs der Lärm. Wieder ein Krachen. Wieder war ein Schiff in den Grund gebohrt, und seine Mannschaft rang mit den Wel­ len. Der Kampf war noch unentschieden. Von Zeit zu Zeit wurde ein Mann der Besatzung blutend und sterbend herunterge­ bracht. Manchmal drang der widerliche Geruch von verbranntem Fleisch herein, und Rauchwolken verdüsterten den Laternenschein. Nach Luft ringend, wußte Ben Hur, daß sie an einem brennenden Schiff vorüberfuhren, in dem die Ruderer an ihren Bänken verbrannten. Die »Asträa« war die ganze Zeit in Bewegung. Plötzlich stoppte sie. Der Stoß war so stark, daß den Sklaven die Ruder entfielen und sie von den Bänken stürzten. Auf dem Deck wüstes Gepolter und dann der Zusammenprall zweier Schiffe! Zum erstenmal verstummte der Hammer. Männer sanken vor Furcht zu Boden oder suchten ein Versteck. Mitten in der Panik fiel ein halbnackter Körper durch die Luke nahe bei Ben Hur, eine Masse Haar verdunkelte sein Gesicht. Er hielt einen Schild aus Ochsenhaut und Weidengeflecht, ein Barbar, einer von dem weißhäutigen Volk im Norden, dem der Tod Beute und Rache geraubt hatte. Wie kam er hierher? War er mit eiserner Hand von einem feindlichen Schiff gerissen worden? Nein, der Feind war auf der »Asträa«. Kämpften die Römer auf ihrem eigenen Schiff? Ein Schreck traf Judah: Arrius war hart bedrängt, er kämpfte vielleicht um das eigene Leben! Wenn er erschlagen würde! Gott Abrahams, verhüte es! Sollten alle neuerweckten Träume und Hoffnungen Träume und Hoffnun­ gen bleiben? Mutter und Schwester, Haus, Heimat, das Heilige Land – sollte er sie nicht mehr wiedersehen? Der Tumult donnerte über ihm, er schaute um sich. In der Kajüte herrschte Verwirrung – die Ruderer auf ihren Bänken waren wie ge­ lähmt, die Leute rannten blindlings hierhin und dorthin. Nur der Aufseher saß unerschüttert auf seinem Platz. Vergeblich schlug sein Hammer auf den Tisch, und indem er den Befehl 147

des Tribunen erwartete, bezeugte er in dem roten Dunst die unvergleichliche Disziplin, welche die Welt erobert hatte. An diesem Beispiel gewann Ben Hur neue Kraft. Er be­ herrschte sich so weit, daß er wieder überlegen konnte. Ehre und Pflicht hielten den Römer an seinem Platz fest. Aber was hatte er damit zu tun? Die Ruderbank konnte ihn nicht halten. Und wenn er als Sklave sterben sollte, wer von beiden brachte das größere Opfer? Für jenen war das Leben Pflicht, wenn nicht Ehre. Sein eigenes Leben aber gehörte seinem Volk. Es stand vor ihm, kaum noch wirklich, er sah es. Es streckte ihm die Arme entgegen, es flehte ihn um Hilfe an. Er wollte zu ihm. Er sprang auf – und zögerte. Aber ach, ein römisches Urteil hielt ihn in Ketten. Und solange es bestand, war Flucht nutzlos. In der weiten, weiten Welt gab es keinen Ort, wo er vor der kaiserlichen Hand sicher war, keinen auf dem Land, keinen auf der See. Wollte er seine Freiheit nach den Buchstaben des Gesetzes fordern, konnte er es nur in Judäa tun und den kindli­ chen Vorsatz ausführen: In einem andern Lande wollte er nicht leben. Guter Gott! Wie hatte er auf eine solche Befreiung gehofft und um sie gefleht! Und wie war sie hinausgeschoben worden! Schließlich hatte er sie in dem Versprechen des Tribunen gesehen. Was sonst war des großen Mannes Absicht? Und wenn nun sein Wohltäter erschlagen würde? Der Tote kehrte nicht zurück, um die Versprechen des Lebenden zu erfüllen. Es durfte nicht sein – Arrius durfte nicht sterben! Besser mit ihm zugrunde zu gehen, als noch länger als Galee­ rensklave zu leben! Diese Gedanken waren durch seinen Kopf gejagt, während er um sich sah. Auf dem Verdeck wütete der Kampf weiter. Zu beiden Seiten bedrängten die feindlichen Schiffe die »Asträa«. Die Ruderer zerrten vergeblich an ihren Ketten und heulten wie die Wahnsinnigen. Die Posten hatten ihre Plätze verlassen, von Disziplin war keine Rede mehr, die Panik griff um sich. Nein, 148

der Aufseher saß an seinem Platz, so ruhig wie immer – der Hammer war seine einzige Waffe. Aber sein Schlag übertönte vergeblich den Lärm. Ben Hur warf ihm einen letzten Blick zu, dann stürzte er davon – nicht um zu fliehen, sondern um dem Tribun zu Hilfe zu eilen. Mit einem Sprung war er auf den Treppen. Dort oben warf er einen Blick auf den vom Feuer blutroten Himmel, auf die Galeeren längsseits, auf das von Schiffen und Wracks bedeckte Meer, auf die zahlreichen Angreifer und die wenigen Verteidi­ ger, auf den Kampf um die Steuermannskabine – als er plötzlich seinen Halt verlor und rückwärts stürzte. Der Boden, auf den er fiel, schien sich zu heben und in Stücke zu brechen. Im nächsten Augenblick klaffte der ganze hintere Schiffsrumpf auseinander, und als hätte die See die ganze Zeit nur darauf gewartet, stürzte sie zischend und schäumend herein. Um Ben Hur war nichts als Dunkel und Wasser. Das einströmende Wasser warf ihn wie einen Klotz wieder in die Kajüte zurück. Dort wäre er ertrunken, wenn er nicht von einer zurückflutenden Welle mitgerissen worden wäre. Er bekam irgendeinen Gegenstand zu fassen und klammerte sich daran. Es kam ihm so vor, als wäre er eine Ewigkeit unter Wasser gewesen. Endlich trieb es ihn nach oben, und er konnte seine Lunge wieder mit frischer Luft füllen. Er schüttelte sich das Wasser aus Haar und Augen, kroch vollends auf die Schiffsplanke, an die er sich geklammert hatte, und schaute sich um. Der Tod, dem er eben unter Wasser entronnen war, lauerte noch in vielfacher Gestalt auf ihn. Die Schlacht war noch in vollem Gang. Wer siegen würde, konnte er noch nicht erkennen. Rings um ihn brannten Schiffe. Als die »Asträa« unterging, stürzten die Römer wie ihre Geg­ ner, die auf dem Verdeck gekämpft hatten, ins Meer. Viele kamen wieder an die Oberfläche und setzten auf den Planken mit Schwert und Speer den Kampf fort. Sie wühlten das Meer auf, das hier schwarz, dort rot war vom 149

Widerschein des Feuers. Mit ihren Kämpfen hatte er nichts zu tun, für ihn waren es alles Feinde. Aber keiner sollte ihn auf seiner Planke töten. Er beeilte sich, hinwegzukommen. Da vernahm er schnelle Ruderschläge und sah eine Galeere auf sich zusteuern. Der Bug schien doppelt groß, und der rote Feuerschein spielte auf seinem vergoldeten und geschnitzten Schnabel, wodurch er etwas Schlangenähnliches bekam. Unter seinem Kiel schäumte das Wasser hoch. Er schwamm, stieß die große und schwer bewegliche Planke vor sich her. Sekunden waren kostbar, eine halbe konnte ihn retten oder vernichten. Da sah er dicht vor sich einen schim­ mernden Helm aus dem Wasser auftauchen. Danach kamen zwei Hände mit ausgestreckten Fingern, große und starke Hände, die, was sie halten, nicht so leicht loslassen. Ben Hur wich ihnen entsetzt aus. Der Helm und der Kopf, den er um­ schloß, tauchten auf, dann zwei Arme, die das Wasser wild zu schlagen begannen. Der Kopf fiel zurück, und das Gesicht lag vor ihm. Der Mund klaffte weit, die Augen standen offen, aber sie waren blicklos, und das Gesicht des Ertrinkenden war von geisterhafter Blässe überzogen – ein grausiger Anblick. Doch Judah schrie vor Freude auf, und als das Gesicht wieder im Wasser verschwand, packte er die Helmkette am Kinn und zog die Gestalt auf seine Planke. Der Mann war Arrius, der Tribun. Eine Zeitlang schäumte und zischte das Wasser um Ben Hur, so daß er alle Kraft brauchte, um sich auf der Planke und zugleich den Kopf des Römers über Wasser zu halten. Die Galeere war vorübergerauscht. Ihre Ruder hatten die beiden nicht erreicht, aber sie war mitten durch behelmte und helmlose Köpfe gejagt. In ihrem Kielwasser blieb nichts als die im Feuer schim­ mernde See. Ein dumpfer Krach, von lauten Aufschreien begleitet, ließ den Befreiten von seiner Last aufblicken. Eine 150

wilde Freude erfüllte sein Herz – die »Asträa« war gerächt. Der Kampf dauerte noch; doch der Widerstand schien in Flucht umzuschlagen. Aber wer waren die Sieger? Davon hing Ben Hurs Leben und das des Tribunen ab. Er konnte die Planke unter den Körper des Arrius schieben und wandte all seine Kraft auf, ihn dort festzuhalten. Die Dämmerung kam langsam. Ben Hur begrüßte sie mit zwiespältigen Gefühlen, halb mit Hoffnung, halb mit Furcht. Würde sie die Römer oder die Piraten bringen? Endlich wurde es Morgen, es wehte kein Lüftchen. Zur Linken erblickte er Land; aber es war viel zu weit, um es schwimmend zu erreichen. Da und dort trieben Schiffbrüchige im Wasser gleich ihm und geschwärzte, noch rauchende Trümmer. In der Ferne lag eine entmastete, ruderlo­ se Galeere. Und noch weiter konnte er Punkte erkennen, die sich bewegten. Es mochten Schiffe auf der Flucht oder in der Verfolgung sein oder weiße fliegende Vögel. So verging eine Stunde. Seine Besorgnis wuchs. Wenn nicht rasch Hilfe kam, würde Arrius sterben. Manchmal schien er schon wie tot, er lag regungslos. Er nahm ihm den Helm ab und dann mit großer Mühe den Brustharnisch. Das Herz des Tribunen schlug unruhig. Ben Hur schöpfte Hoffnung, aber er konnte nichts anderes tun als warten und beten.

Arrius adoptiert Ben Hur Zur Freude Ben Hurs erholte sich Arrius allmählich und fand auch die Sprache wieder. Nach seinen ersten tastenden Fragen, wo er sei, wer ihn gerettet habe und wie es geglückt sei, galten seine nächsten der Schlacht. Seine Zweifel an ihrem Ausgang erregten ihn derart, daß er sein volles Bewußtsein wiederer­ langte. Nicht wenig half auch die lange Ruhe dazu, soweit man auf ihrer gebrechlichen Unterlage davon reden konnte. Nach 151

einer Weile wurde er gesprächig. »Unsere Rettung hängt vom Ausgang der Schlacht ab. Ich weiß jetzt, was du für mich getan hast. Du hast mich mit eigener Lebensgefahr gerettet. Dir gehört mein Dank, was auch kommen mag. Ist uns das Glück günstig und werden wir aus der Gefahr gerettet, will ich dich mit solcher Gunst überhäufen, wie es einem Römer geziemt, der die Macht und Gelegenheit hat, seine Dankbarkeit zu erweisen. Es muß sich aber erst noch herausstellen, ob du mir trotz deiner besten Absicht wirklich eine Wohltat erwiesen hast.« Er zögerte: »Da ich von deiner guten Absicht rede, mußt du mir das Versprechen ablegen, daß du mir unter gewissen Umständen die größte Wohltat erweist, die ein Mensch dem andern tun kann – darauf gib mir dein Wort!« »Wenn es nichts Unerlaubtes ist, will ich es tun«, antwortete Ben Hur. Arrius sammelte neue Kraft: »Bist du wirklich der Sohn Hurs, des Juden?« war seine nächste Frage. »Es ist, wie ich dir sagte.« »Ich kannte deinen Vater…« Judah zog sich näher zum Tribun heran, da dessen Stimme schwach war und lauschte gespannt, ob er etwas von zu Hause hören würde. »Ich kannte und liebte ihn«, fuhr Arrius fort. Er machte wie­ der eine Pause, während sich ihm andere Gedanken aufzudrängen schienen: »Als sein Sohn mußt du von Cato und Brutus gehört haben. Es waren große Männer und am größten im Tode. Als sie starben, hinterließen sie das Gesetz, daß ein Römer sein Glück nicht überleben darf. Hörst du?« »Ich höre.« »Die Edlen Roms pflegen einen Ring zu tragen. Auch ich trage einen. Nimm ihn jetzt!« Er hielt Judah die Hand hin, und 152

der nahm den Ring. »Nun stecke ihn an deine Hand!« Judah tat es. »Das Kleinod hat seinen besonderen Zweck. Ich besitze Län­ dereien und Vermögen. Ich gelte sogar in Rom als reich. Ich habe keine Familie. Zeige den Ring meinem Verwalter, der in meiner Abwesenheit die Aufsicht führt. Erzähle ihm, wie du ihn erhieltest, und verlange von ihm, was du willst, oder auch alles, was er hat. Er wird dir nichts abschlagen. Bleibe ich am Leben, so will ich noch mehr für dich tun. Ich werde dir die Freiheit verschaffen und dich deiner Heimat und deinem Volk wiedergeben; oder du sollst dir einen Lebensweg wählen, wie er dir gefällt. Hörst du mich?« »Ich habe alles gehört.«

»Dann schwöre mir. Bei den Göttern…«

»Nein, guter Tribun, ich bin ein Jude.«

»Bei deinem Gott also oder bei dem, was deinem Glauben

am heiligsten ist – schwöre mir, zu tun, was ich dir nun sagen werde, und es so zu tun, wie ich es will. Ich warte. Gib mir das Versprechen!« »Edler Arrius, ich fürchte, du verlangst etwas Ungewöhnli­ ches von mir. Sage mir zuerst, was es ist!« »Willst du mir dann dein Versprechen geben?« »Das hieße, das Versprechen geben und… Gesegnet sei der Gott meiner Väter! Dort kommt ein Schiff!« »Aus welcher Richtung?« »Von Norden.« »Erkennst du seine Nationalität?« »Nein. Mein Dienst war an den Rudern.« »Hat es eine Fahne?« »Ich kann keine sehen.« »Kommt es in dieser Richtung?« »Genau hierher.« »Siehst du noch keine Flagge?« 153

»Es hat keine.« »Oder ein anderes Zeichen?« »Es hat ein Segel gesetzt und ist ein Dreiruderer. Es kommt sehr schnell – das ist alles, was ich sagen kann.« »Ein siegreiches Römerschiff hätte viele Flaggen gesetzt. Es muß ein Feind sein. Hör nun!« Arrius wurde wieder sehr ernst. »Höre, denn jetzt muß ich sprechen. Wenn es eine Piratenga­ leere ist, bist du gerettet. Sie werden dir nicht die Freiheit geben, sondern dich wieder an die Ruder setzen; aber sie werden dich nicht töten. Ich aber…«, der Tribun zögerte, »ach was«, fuhr er entschlossen fort, »ich bin zu alt, Ehrlosigkeit zu ertragen. In Rom sollen sie sich erzählen, wie Quintus Arrius, wie es einem römischen Tribun geziemt, inmitten der Feinde mit seinem Schiff unterging. Das ist’s, was ich von dir verlan­ ge! Ist es eine Piratengaleere, so stoße mich von der Planke und laß mich ertrinken! Hörst du? Schwöre mir, daß du es tun willst!« »Ich werde nicht schwören«, sagte Ben Hur fest, »noch wer­ de ich die Tat ausführen. Das Gesetz, dem ich Untertan bin, macht mich für dein Leben verantwortlich. Nimm den Ring zurück.« Er zog ihn vom Finger. »Nimm ihn zurück und alle deine Versprechungen für den Fall, daß wir gerettet werden. Das Urteil machte mich für Lebenszeit zum Galeerensklaven, aber ich bin kein Sklave, noch weniger bin ich dein Freigelas­ sener. Ich bin ein Sohn Israels und in diesem Augenblick schließlich mein eigener Herr. Nimm den Ring zurück!« Arrius rührte sich nicht. »Du willst nicht?« fuhr Judah fort. »Dann werfe ich den Ring ins Meer. Nicht aus Zorn oder Trotz, sondern um mich von einer verhaßten Pflicht frei zu machen. Sieh, Tribun!« Er warf den Ring fort. Arrius hörte, wie das Kleinod aufs Wasser aufschlug und versank, aber er schaute nicht hin. »Du hast eine Torheit begangen«, sagte er, »doppelt töricht für einen Mann in deiner Lage. Ich brauche dich nicht, um zu 154

sterben. Und wenn ich den Tod wähle, was wird aus dir? Männer, die zum Tod entschlossen sind, ziehen es vor, durch die Hand eines andern zu sterben. Plato sagt uns, daß sich die Seele gegen die Selbstzerstörung auflehnt, das ist alles. Mein Entschluß ist gefaßt. Ich bin ein Römer. Erfolg und Ehre sind ein und dasselbe. Ich wollte dir helfen, aber du willst es nicht. Der Ring war das einzige Zeugnis, um meinen Willen zu bekunden. Wir sind beide verloren. Ich will sterben, da mir Sieg und Ruhm versagt blieben. Du wirst leben, um etwas später zu sterben, traurig darüber, weil du aus Torheit deine fromme Pflicht nicht erfüllt hast. Ich bedaure dich.« Ben Hur sah jetzt deutlicher als zuvor die Folgen seiner Handlung, aber er bereute sie nicht. »In den drei Jahren meines Sklavendienstes warst du, o Tri­ bun, der erste, der freundlich zu mir war. Nein, nein! Es gab noch einen andern.« Seine Stimme sank, seine Augen wurden feucht, und deutlich sah er das Antlitz des Jünglings vor sich, der ihm am Brunnen zu Nazareth den Wasserkrug gereicht. »Doch du warst der erste, der mich fragte, wer ich sei. Und wenn ich auch, als du untersankst, an vielerlei dachte, worin du mir in meinem Elend nützlich sein konntest, so war doch meine Handlung nicht ganz selbstsüchtig; ich bitte dich, das zu glauben. Zudem gab mir Gott die Erkenntnis, daß ich meine Ziele nur durch gerechte Mittel erreichen könnte. Ich würde lieber sterben, als an deinem Tod Schuld tragen. Ich bin ebenso fest entschlossen wie du. Und würdest du mir ganz Rom anbieten, o Tribun, und hättest du die Macht, dieses Anerbieten zu ver­ wirklichen, ich würde dich nicht töten. Dein Cato und dein Brutus waren kleine Kinder gegen den Hebräer, dessen Geset­ zen ein Jude gehorchen muß.« »Aber mein Wunsch. Hast du…« »Dein Befehl hätte mehr Gewicht, und dennoch würde ich nicht gehorchen. Das ist mein letztes Wort.« 155

Beide schwiegen und warteten. Ben Hur schaute nach dem sich nahenden Schiff aus. Arrius lag mit geschlossenen Augen und gleichgültig da. »Bist du sicher, daß es ein Piratenschiff ist?« fragte Ben Hur.

»Ich glaube«, war die Antwort.

»Die Galeere hält an und setzt ein Boot aus.«

»Siehst du ihre Flagge?«

»Gibt es nicht noch andre Zeichen auf einem römischen

Schiff?« »Die römischen Galeeren haben einen Helm auf dem Mast.« »Dann fasse Mut! Ich sehe den Helm.« Arrius war noch nicht überzeugt. »Die Bootsmannschaft nimmt Schiffbrüchige auf. Piraten sind nicht menschlich.« »Sie werden Ruderer brauchen«, entgegnete Arrius und ge­ dachte der Zeiten, wo er das selber tun ließ. Ben Hur folgte aufmerksam allen Bewegungen des Schiffes. »Das Schiff fährt weiter.« »Wohin?« »Zu unsrer Rechten liegt eine anscheinend verlassene Galee­ re. Darauf steuert es zu. Es legt an der Seite an. Männer steigen an Bord.« – Arrius öffnete die Augen und schreckte aus seiner Gleichgültigkeit auf. »Dank du deinem Gott, wie ich meinen vielen Göttern danke! Ein Pirat würde das Schiff versenken, nicht retten. Daran und an dem Helm auf dem Mast erkenne ich den Römer. Der Sieg ist mein. Das Glück hat mich nicht verlassen. Wir sind gerettet. Winke und rufe! Bring sie schnell herbei! Ich werde Duumvir. Und du? Ich kannte deinen Vater und liebte ihn. Er war wirk­ lich ein Fürst. Er lehrte mich, daß der Jude kein Barbar ist. Ich werde dich mit mir nehmen und zu meinem Sohn machen. Dank deinem Gott und rufe die Leute! Eile! Die Verfolgung muß fortgesetzt werden. Kein einziger Seeräuber darf entkom­ men. Laß sie eilen!« 156

Judah hatte sich auf der Planke aufgerichtet. Er winkte mit beiden Händen und schrie aus Leibeskräften. Und schließlich lenkte er die Aufmerksamkeit der Bootsleute auf sich. Sie ruderten herbei und nahmen beide auf. Arrius wurde an Bord der Galeere mit allen Ehren empfan­ gen, die einem vom Glück so begünstigten Helden gebührten. Auf einem Diwan an Deck erholte er sich und ließ sich alle Einzelheiten über den Ausgang des Kampfes berichten. Als alle Überlebenden aufgefischt und die Prise gesichert war, setzte er seine Kommandantenflagge und fuhr nordwärts, um den Sieg zu vervollständigen. Zur rechten Zeit trafen die fünfzig Schiffe aus dem Norden auf die Piraten und vernichte­ ten sie vollständig. Nicht ein Schiff entkam. Um den Ruhm des Tribunen vollzumachen, wurden zwanzig Galeeren des Feindes erbeutet. Nach seiner Rückkehr von dem Unternehmen wurde Arrius an der Mole von Misenum im Triumph empfangen. Der Jüng­ ling, der ihn begleitete, erregte sofort die Aufmerksamkeit seiner Freunde. Auf ihre Fragen erzählte der Tribun ausführlich und in warmherziger Weise ihre Erlebnisse, verschwieg aber die ganze Geschichte Ben Hurs. Am Ende legte er seine Hand auf des Jünglings Schulter und wandte sich an seine Zuhörer: »Liebe Freunde, das ist mein Sohn und Erbe. Er soll dereinst meinen Besitz erben und deshalb schon heute meinen Namen tragen. Ich bitte euch alle, ihn so zu lieben, wie ihr mich liebt!« So rasch, wie die Formalitäten es erlaubten, wurde die Adop­ tion vollzogen. So erfüllte der tapfere Römer sein Versprechen an Ben Hur und führte ihn in die kaiserliche Welt ein. Im folgenden Monat wurden des Arrius Rückkehr und sein Seesieg im Theater des Scaurus mit großem Pomp gefeiert. An einer Seite des Theaters hingen die Siegestrophäen, darunter die am meisten bewunderten zwanzig Schiffsschnäbel mit den Flaggen der eroberten Galeeren. Darüber war die allen achtzig­ tausend Zuschauern sichtbare Inschrift angebracht: 157

DEN PIRATEN IM GOLF VON EURIPUS ENTRISSEN

VON QUINTUS ARRIUS DUUMVIR

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Viertes Buch Ben Hur kehrt nach dem Osten zurück An einem, glühendheißen Vormittag im Juli des Jahres 29 stand Ben Hur mit anderen Reisenden seines Standes auf dem Deck eines Handelsschiffes, das eben in die Mündung des Orontes einfuhr und sich Antiochia näherte. Antiochia war die Königin des Ostens und nächst Rom die mächtigste und volkreichste Stadt der Welt. Wenn behauptet wird, daß die großen Städte die Verschwendung und Aus­ schweifung Roms nachahmten, so ist das nicht richtig. Es ist vielmehr so, daß sich der sittenverderbende Einfluß von Osten nach Westen, von den Besiegten auf die Sieger übertrug. Schon in Griechenland gab es Korruption und ebenso in Ägypten; und Antiochia, einer der ältesten Sitze assyrischer Macht und großer Prachtliebe, war eine der Hauptquellen dieses tödlichen Stroms. Ben Hur war in den verflossenen fünf Jahren zum Manne herangereift. Obwohl das weiße Leinengewand seine Gestalt ziemlich verhüllte, konnte es doch das Ebenmaß seiner Er­ scheinung nicht gänzlich verbergen. Länger als eine Stunde hatte er im Schatten des Segels gesessen, und mehrere Mitrei­ sende aus seinem Volke hatten vergeblich versucht, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. Er hatte ihnen auf ihre Fragen kurz, aber höflich geantwortet. Seine gewählte Ausdrucksweise, seine vornehmen Umgangsformen, seine Zurückhaltung hatten ihre Neugier erregt. Gewisse Eigentümlichkeiten waren schwer mit seinem Patriziertum zu vereinbaren, so die unverhältnis­ mäßig langen Arme und die Größe und Kraft seiner Hände. Man hätte gern erfahren, wer er war, und Einzelheiten seines 159

Lebens gekannt. Man sah ihm an, daß er eine Geschichte hatte. Die Galeere hatte in einem der Häfen von Cypern einen Hebrä­ er von bemerkenswerter Art an Bord genommen. Seine Erscheinung war ruhig, zurückhaltend, väterlich. Ben Hur hatte ihm ein paar Fragen gestellt und Antworten erhalten, die ihm so großes Zutrauen abgewannen, daß er in ein längeres Ge­ spräch mit ihm kam. Zugleich mit diesem Handelsschiff fuhren zwei andere in die Bucht des Orontes ein, denen man schon auf See begegnet war. Beide trugen kleine Flaggen von hellstem Gelb. Da niemand ihre Bedeutung kannte, wandte sich einer der Reisenden an den vornehmen Hebräer und fragte ihn danach. »Ja, ich kenne die Bedeutung der Flaggen. Sie bezeichnen nicht eine Nationalität, sondern sind nur das Zeichen des Schiffseigners.« »Hat er viele Schiffe?« »Ja.« »Du kennst ihn?« »Ich stehe in geschäftlicher Verbindung mit ihm.« Ben Hur hatte aufmerksam zugehört. »Er lebt in Antiochia«, fuhr der Hebräer in seiner ruhigen Art fort. »Da er unermeßlich reich ist, hat er nicht nur die allge­ meine Neugier erregt, sondern auch den Neid, und man spricht nicht immer freundlich von ihm. Dieser Simonides, der trotz seines griechischen Namens Jude ist, war ein Diener der Familie Hur, eines Fürsten von Jerusalem.« Judah bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber sein Herz schlug schneller. »Dieser Fürst war ein großer Kaufmann. Er gründete viele Unternehmungen im Fernen Osten wie im Westen, in den großen Städten hatte er Zweigniederlassungen. Die in Antio­ chia war in der Obhut des Simonides. Der Fürst kam auf dem Meer um, seine Geschäfte wurden weitergeführt und blühten. Da kam das Unglück über die Familie. Des Fürsten einziger 160

Sohn hatte versucht, den Prokurator Gratus in einer Straße Jerusalems zu töten. Der Versuch mißlang. Seitdem ist er verschollen. Die Rache des Römers traf das ganze Haus. Nicht ein Mitglied der Familie blieb am Leben. Ihr Palast wurde versiegelt und ist jetzt ein Nistplatz für Tauben. Der ganze Besitz und alles, was den Hurs gehörte, wurde eingezogen. Der Prokurator legte ein goldenes Pflaster auf seine Wunde.« Die Reisenden lachten. »Du meinst, er behielt das Vermögen für sich?« »Man sagt so. Ich erzähle nur, was ich hörte. Und dieser Simonides, der des Fürsten Agent gewesen war, eröffnete nach kurzer Zeit auf seine eigene Rechnung ein Geschäft und wurde in ganz kurzer Zeit der mächtigste Kaufmann der Stadt. Wie sein Herr es getan, schickte auch er Karawanen nach Indien, und auf der See hat er genug Schiffe, um eine königliche Flotte zu bilden. Man sagt, ihm mißlinge nichts. Seine Kamele sterben höchstens vor Altersschwäche, seine Schiffe gehen nie unter, und wenn er einen Span in den Fluß wirft, kommt er zu ihm in Gold verwandelt zurück.« »Wie lange geht das schon so?« »Kaum zehn Jahre.« »Er muß von Anfang an viel Glück gehabt haben.« »Ja. Es heißt, der Prokurator habe zwar des Fürsten Besitz – seine Pferde, sein Vieh, die Häuser, Ländereien und Vorräte – beschlagnahmt, aber kein Geld gefunden, obwohl es sich um ungeheure Summen handeln mußte. Was damit geschehen ist, bleibt ein Geheimnis.« »Für mich nicht«, warf ein Reisender spöttisch hin. »Ich verstehe, was du meinst«, fuhr der Hebräer fort. »Ande­ re hatten den gleichen Gedanken, daß der alte Simonides mit des Fürsten Geld arbeitete. Auch der Prokurator denkt so, und zweimal in fünf Jahren hat er den Kaufmann verhaftet und der Folter unterwerfen lassen.« Judah umklammerte das Tau, an das er sich hielt, als wollte 161

er es zerreißen. »Man sagt«, fuhr der Erzähler fort, »daß nicht ein Knochen im Leib des alten Mannes ganz blieb. Zuletzt sah ich ihn als formlosen Krüppel in den Kissen seines Armstuhls.« »Bedauernswerter Mann!« sagten mehrere Zuhörer wie aus einem Munde. »Krankheit konnte eine solche Zerstörung nicht hervorbrin­ gen. Aber die Leiden schienen ihm nichts zu bedeuten. Alles, was er besaß, gehörte ihm nach dem Gesetz, und er machte nur den gesetzlich erlaubten Gebrauch davon – das war alles, was sie ihm an Geständnissen herauspressen konnten. Nun, wie immer, die Verfolgung wurde jetzt eingestellt. Er besitzt eine Handelslizenz von Tiberius persönlich.« »Dafür hat er reichlich bezahlt, behaupte ich.« »Diese Schiffe dort gehören ihm«, fuhr der Hebräer fort, als habe er die Bemerkung überhört. »Seine Schiffe pflegen sich gegenseitig mit der gelben Flagge zu grüßen. Es bedeutet: Wir hatten eine glückliche Reise.« Hier endete der Erzähler. Als das Schiff in den Kanal einbog, trat Judah zu dem Hebrä­ er: »Wie war der Name von Simonides’ Herrn?« »Ben Hur, Fürst von Jerusalem.« »Was wurde aus der Familie des Fürsten?« »Der Knabe wurde auf die Galeeren geschickt. Er mag wohl tot sein. Für gewöhnlich hält man das nur ein Jahr aus. Von der Mutter und ihrer Tochter hat man nichts gehört. Wer etwas von ihnen weiß, spricht nicht darüber. Wahrscheinlich sind sie in den Zellen irgendeines Verlieses gestorben, die es in Judäa so zahlreich gibt.« Judah ging in die Steuermannskajüte. Er war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er nichts von den üppigen Ufern des Flusses sah mit ihren reichen Wein- und Fruchtgärten und nichts von den Villen, die so schön waren wie in Neapel. Auch 162

für die Schiffe, die endlos vorüberfuhren, hatte er keinen Blick. Er hörte den Gesang und die Rufe der Seeleute nicht. Der Himmel strahlte, Land und Wasser lagen im Sonnenglanz, nur über seinem Leben lagen die Schatten. Nur einmal erwachte eine flüchtige Aufmerksamkeit in ihm, das war, als jemand auf den Hain der Daphne wies, der an einer Biegung des Flusses vor ihnen lag.

Auf dem Orontes Als sich das Schiff der Stadt näherte, standen alle Reisenden auf dem Deck, damit ihnen nichts von diesem Anblick entge­ hen möchte. Der vornehme Jude spielte wieder die Rolle des Erklärers. »Hier fließt der Strom nach Westen«, begann er. »Ich kann mich noch daran erinnern, als er die Mauern bespülte. Als römische Untertanen haben wir in Frieden gelebt. Wie immer in solchen Zeiten ist der Handel gewachsen. Nun ist das ganze Flußufer voll von Werften und Docks. Dort«, der Sprecher deutete nach Süden, »ist der Berg Casius oder, wie die Leute hier ihn nennen, der Orontes-Berg, der zu seinem Bruder Amaus im Norden hinüberschaut. Dazwischen liegt die Ebene von Antiochia. Weiter fort liegen die Schwarzen Berge, von wo die Wasserleitungen des Königs das reinste Wasser für das Volk und die Straßen führen. Die Wälder dort sind noch wahre Wildnisse, voll von Getier jeder Art.« »Wo ist der See?« fragte einer. »Dort im Norden. Man kann dahin zu Pferde kommen oder noch besser im Boot; denn ein Nebenarm des Flusses führt in den See. Hier ist der Hain der Daphne! Niemand vermag ihn zu beschreiben, man wird sich hüten. Er wurde von Apollo be­ gonnen und vollendet. Er zog ihn dem Olymp vor. Man geht 163

hin, um eben nur einen Blick darauf zu werfen – und niemand kann sich mehr losreißen. Ein Sprichwort sagt: Lieber ein Wurm sein und sich von den Maulbeeren Daphnes nähren als ein Gast an der Tafel des Königs.« »Dein Rat wäre also, fernzubleiben?« »Keineswegs! Geh hin, wenn du willst! Jedermann geht hin, der zynische Philosoph, halberwachsene Jünglinge, Frauen und Priester – alle. Ich bin sicher, daß ihr alle hingeht, und nehme mir das Recht, euch einen Rat zu erteilen. Nehmt keine Woh­ nungen in der Stadt. Das ist nur Zeitverlust. Geht sogleich in das Dorf neben dem Hain. Der Weg führt durch einen Garten mit Springbrunnen. Die Verehrer des Gottes und seines penäi­ schen Mädchens haben die Stadt gebaut. Ihre Säulenhallen und Straßen und tausend stillen Plätze sind einzig in der Welt. Aber die Mauer der Stadt! Das ist das Meisterwerk des Xeräus, des Meisters aller Meister.« Aller Augen folgten dem Finger des Sprechers. »Dieser Teil wurde auf Befehl des ersten Seleukiden errich­ tet. In dreihundert Jahren ist die Mauer mit dem Felsen verwachsen, auf dem sie steht.« Das Werk rechtfertigte das Lob. Hoch, fest, mit zahlreichen kühnen Vorsprüngen zog sich die Mauer südwärts hin und verschwand den Blicken. »Auf der Mauer stehen vierhundert Türme, jeder ist ein Was­ serbehälter. Und dort hinten, über die Mauer hinweg seht ihr zwei Hügel, die Berge des Sulpius, Auf dem entferntesten steht die Zitadelle, in der das ganze Jahr eine römische Legion liegt. Auf dem gegenüberliegenden erhebt sich der Tempel des Jupiter. Darunter liegen die Residenz des Gesandten, ein Palast voll von Behörden und die Festung, die unüberwindlich ist.« Die Schiffsleute begannen jetzt das Segel einzuziehen. »Seht«, fuhr der Hebräer fort, »ihr, die ihr das Meer hasset, und ihr, die ihr ein Gelübde getan habt, macht euch bereit zu euern Flüchen und euren Gebeten! Die Brücke dort, über 164

welche die Straße nach Seleucia führt, bezeichnet das Ende der Schifffahrt. Was das Schiff hier auslädt, wird von den Kamelen weiterbefördert. Oberhalb der Brücke beginnt die Insel, auf der Calinicus seine neue Stadt baute und sie mit der alten durch fünf große Viadukte verband, die so fest gebaut sind, daß ihnen weder die Zeit noch Erdbeben noch Überschwemmungen etwas anhaben konnten. Von der Stadt selbst, meine Freunde, kann ich nur sagen, daß jeder, der sie gesehen hat, sich für sein ganzes Leben glücklich preisen kann.« Als er geendet hatte, wendete das Schiff und fuhr langsam dem Landeplatz an der Werft unter der Mauer zu. Taue wurden geworfen, die Ruder hielten an, die Reise war vorüber. Ben Hur suchte noch einmal den Hebräer auf: »Erlaube, daß ich dich noch einmal bemühe, ehe ich dir Le­ bewohl sage.« Der Mann verbeugte sich. »Deine Geschichte von dem Kaufherrn hat mich neugierig gemacht. Ich möchte ihn kennenlernen. Du nanntest ihn Simo­ nides?« »Ja. Er ist ein Jude mit griechischem Namen.« »Wo kann ich ihn finden?« Der Fremde blickte Judah scharf an, ehe er antwortete: »Ich möchte dir einen Ärger ersparen. Er ist kein Geldverleiher.« »Und ich kein Geldborger«, lächelte Ben Hur über des an­ dern Scharfsinn. Der Mann dachte kurz nach. »Man sollte denken, daß der reichste Kaufmann von Antio­ chia ein Haus bewohnt, das seinem Reichtum entspricht. Aber wenn du ihn am Tage aufsuchen willst, folge dem Fluß bis zur Brücke dort. Darunter hat er sein Haus. Es sieht aus wie ein Strebepfeiler in der Mauer. Vor seiner Tür ist ein riesiger Lagerplatz, der stets mit Waren überfüllt ist. Du kannst nicht fehlgehen.« »Ich danke dir!« 165

Damit trennten sie sich. Zwei Lastträger beluden sich mit Ben Hurs Gepäck. »Zur Zitadelle!« sagte er, ein Befehl, der auf eine offizielle militärische Verbindung schließen ließ. Zwei große Straßen, die sich rechtwinklig kreuzten, teilten die Stadt in vier Teile. Auf der einen, die von Norden nach Süden führte, erhob sich ein seltsames, riesiges Gebäude, das Nymphäum. Als die Lastträger sich nach Süden wandten, staunte der eben aus Rom Angekommene über die Pracht der Straße. Rechts und links erhoben sich Paläste, dazwischen zogen sich riesige doppelte Säulenhallen aus Marmor mit besonderen Wegen für Fußgänger, Tiere und Wagen hin. Sie lagen im Schatten und wurden noch durch Springbrunnen gekühlt. Ben Hur war nicht in der Stimmung, sich an der Pracht zu erfreuen. Die Geschichte des Simonides verfolgte ihn. Am Omphalus, dem gewaltigen Monument aus vier Bogen, die ebenso breit wie die Straßen und köstlich ausgeschmückt waren – von Epiphanes, dem Achten der Seleukiden für sich selbst errichtet –, änderte er plötzlich seinen Plan. »Ich will heute abend nicht zur Zitadelle. Bringt mich zu einer Herberge in der Nähe der Brücke auf der Straße nach Seleucia!« Die Lastträger machten kehrt, und in kurzer Zeit war Ben Hur in einem einfachen, aber sehr geräumigen Haus untergebracht, das nur einen Steinwurf weit von dem des Simonides unter der Brücke entfernt war. Er verbrachte die Nacht auf dem Dach. In ihm war nur der eine Gedanke: Nun endlich werde ich etwas von meinem Zuhause hören – von der Mutter und der lieben kleinen Tirzah. Wenn sie noch leben, werde ich sie finden.

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Die Frage an Simonides Am nächsten Tag ging Ben Hur, ohne der Stadt irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, zum Hause des Simonides. Sein Weg führte durch ein mit Zinnen gekröntes Tor an einer langen Reihe von Ladeplätzen vorüber und durch eine sich drängende und geschäftige Menge zur Brücke nach Seleucia. Hier blieb er stehen, um sich das Haus zu betrachten. Es lag, wie ihm ge­ schildert worden war, direkt unter der Brücke und bestand aus grauen unbehauenen Steinblöcken, die regellos zusammenge­ fügt waren. Es sah tatsächlich nur wie ein Mauervorsprung aus. Zwei riesige Tore führten zur Werft, zwei dichtvergitterte Öffnungen dienten als Fenster. In den Mauerspalten wucherte Unkraut, und an manchen Stellen waren die kahlen Steine von schwarzem Moos überzogen. Die Tore waren offen. Durch sie strömte pausenlos und eilig der Verkehr ein und aus. Auf dem Lagerplatz häuften sich in Ballen Waren jeder Art, und zahllose bis zum Gürtel nackte Sklaven waren damit beschäftigt. Unter der Brücke lag eine Flotte von Schiffen, die Ladungen einnahmen und löschten. An jedem Mast wehte eine gelbe Flagge. Von den Schiffen zum Ladeplatz, von Schiff zu Schiff war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. Jenseits der Brücke über dem Fluß erhob sich ein mit Gesimsen und Türmchen reichgeschmückter, stattlicher Palast, der die ganze Insel einnahm. Ben Hur beach­ tete ihn kaum; denn seine Gedanken galten nur dem einen: Würde er etwas von den Seinen erfahren, wenn Simonides wirklich seines Vaters Sklave war? Aber würde der Mann ihm Glauben schenken? Das hieße, seine Reichtümer und die Herrschaft über den Handel aufgeben, von dem die Lagerplätze und die Flotte der Schiffe ein so königliches Zeugnis ablegten. Und was war die noch schwerere Folge für den Kaufmann? Er mußte mitten in seinem gewaltigen Erfolg seine Geschäfte aufgeben und wieder das werden, was er einst war: ein Sklave! 167

Dieser einfache Gedanke erschien Ben Hur von ungeheuerli­ cher Kühnheit. Aus aller diplomatischen Form herausgeschält, würde er ihm sagen müssen: Du bist mein Sklave, gib mir alles, was du besitzt, und dich selbst! Trotzdem schöpfte Ben Hur Mut zur bevorstehenden Zusammenkunft aus dem Ver­ trauen auf sein Recht, auf die Hoffnungen, die sein Herz erfüllten. Wenn die Geschichte wahr war, die ihm erzählt wurde, so gehörte Simonides ihm, mit allem, was er besaß. An dem Reichtum lag ihm in Wahrheit nichts. Als er auf das Tor zuging, gab er sich ein Versprechen: Wenn er mir Nachricht über Mutter und Tirzah geben kann, schenke ich ihm bedin­ gungslos seine Freiheit. Er trat entschlossen in das Haus. Was er vor sich sah, war ein riesiges wohlgeordnetes Warenlager, in dem Güter aller Art aufgespeichert waren. In dem Halbdunkel und der erstickenden Luft arbeiteten zahllose Leute, teils mit Hammer und Säge, um Kisten für die Verschiffung fertigzumachen. Während er durch die aufgestapelten Ballen einen Weg suchte, fragte er sich von neuem, ob dieser Mann, von dessen Genie er so viel Proben sah, wirklich seines Vaters Sklave gewesen sein konnte. Wenn es so war, zu welcher Klasse hatte er gehört? Wenn er ein Jude war, war er der Sohn eines Leibeigenen? Oder war er ein Schuldner oder eines Schuldners Sohn? Oder war er wegen Diebstahls verurteilt worden? Alle diese Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, verminderten freilich nicht seine Achtung vor dem Kaufmann, vielmehr wuchs sie bei jedem Schritt. Endlich kam ein Mann auf ihn zu: »Was wünschst du?« »Ich suche den Kaufmann Simonides.« »Willst du mit mir kommen?« Durch die Warenlager kam man zu einer Treppenflucht, die auf das Dach führte. Als Ben Hur sie erstiegen hatte, stand er vor einem Gebäude, das auf dem anderen errichtet und von unten unsichtbar gewesen war. Es stand jenseits der Brücke 168

unter freiem Himmel. Das Dach, das von einer Balustrade umgeben war, war eine Terrasse, die zu seinem Erstaunen mit Blumen geschmückt war. Das Haus selbst wirkte in dieser reichen Umgebung wie ein viereckiger Steinklotz. Er hatte keine andere Öffnung als die Tür. Ein sauberer Weg führte durch Büsche blühender persischer Rosen. Ben Hur atmete den süßen Duft ein und folgte seinem Führer. Am Ende eines dunklen Ganges blieben sie vor einem geteilten Vorhang stehen. Der Mann rief laut: »Ein Fremder möchte den Herrn sprechen.« Eine helle Stimme antwortete: »In Gottes Namen, laß ihn eintreten!« Der Raum, den Ben Hur jetzt betrat, wirkte wie ein Atrium der Römer. An den Wänden zogen sich Regale hin, die ehe­ mals weiß gewesen und nun gelblich nachgedunkelt waren, gefüllt mit vom Alter und Gebrauch gebräunten Papieren. Die Regale waren köstlich mit verschlungenen Mustern geschnitzt. Über einem Gesims von vergoldeten Kugeln öffnete sich die Deckenrose, die sich zu einer flachen Kuppel erweiterte und mit Hunderten von violetten Scheiben besetzt war, durch die eine Flut gedämpften Lichts hereindrang. Der Boden war mit dicken grauen Teppichen belegt, die jeden Schritt unhörbar machten. In der Mitte des Raums waren zwei Personen – ein Mann in einem hochlehnigen, bequemen, mit Kissen belegten Armstuhl, und neben ihm stand, an den Stuhl gelehnt, ein Mädchen. Bei dem Anblick der beiden stieg Ben Hur die Röte ins Gesicht. Er verneigte sich achtungsvoll, aber auch, um Fassung zu gewinnen, und sah nicht die grüßende Hand und das kurze Erzittern des Mannes. Als er sich wieder aufrichtete, waren die beiden noch in derselben Haltung, das Mädchen hatte nur seine Hand auf die Schulter des Mannes gelegt. Beide schauten ihm aufmerksam entgegen. »Wenn du Simonides, der Kaufmann, und ein Jude bist« – Ben Hur stockte einen Augenblick –, »so sei der Friede des 169

Gottes unseres Vaters Abraham mit dir und den Deinen!« Das letzte Wort war an das Mädchen gerichtet. »Ich bin Simonides, von dem du sprichst, und von Geburt Jude«, antwortete der Mann mit auffällig klarer Stimme. »Ich bin Simonides und ein Jude und erwidere deinen Gruß mit der Bitte, mir zu sagen, was dich hergeführt hat.« Ben Hur betrachtete den Mann und sah, daß nur noch eine formlose Masse statt eines gesunden Körpers in den Kissen lag, er trug ein gefüttertes Gewand aus dunkler Seide. Über dem verkrüppelten Leibe saß ein edelgeformter Kopf, der Kopf eines Staatsmannes oder Feldherrn, wie ihn Angelo für den Kaiser modelliert haben könnte. Weiße dünne Locken fielen über die weißen Augenbrauen und vertieften die Schwärze der Augen. Das Antlitz war blutleer und voller Falten. In einem Wort: es waren der Kopf und das Gesicht eines Mannes, der eher die Welt bewegen konnte, als daß sie ihn hätte bewegen können – ein Mann, der ein dutzendmal gefoltert worden war, ohne sich einen Klagelaut, geschweige denn ein Bekenntnis abringen zu lassen; ein Mann, der nicht einen Punkt in seinem Leben aufgab; ein Mann, in Waffen geboren, der nur durch die Liebe zu besiegen war. Ihm streckte Ben Hur seine offenen Hände hin, als wolle er den Frieden anbieten, den er zugleich von ihm erbitten wollte. »Ich bin Judah, der Sohn des Ithamar, der Letzte aus dem Hause Hur und Fürst von Jerusalem.« Die rechte Hand des Kaufmanns lag auf seinem Kleid – eine lange, dünne Hand, an der die Folgen seiner Leiden deutlich zu erkennen waren. Sie schloß sich. Sonst war nicht das geringste Zeichen für den Eindruck dieser Worte zu erkennen, weder Neugier noch Staunen. Ruhig antwortete er: »Die Fürsten von Jerusalem aus edlem Blut sind in meinem Hause immer willkommen. Gib dem jungen Mann einen Stuhl, Esther!« Das Mädchen schob einen niedrigen Sessel zu Ben Hur. Als 170

sie sich erhob, begegneten sich ihre Augen: »Der Friede unseres Herrn sei mit dir«, sagte sie freundlich. »Setz dich und ruhe!« Und als sie wieder ihren Platz am Stuhl einnahm, hatte sie keine Vorstellung von dem, was er wollte, aber sie hatte empfunden, daß er gekommen war, um Wunden, die ihm das Leben geschlagen hatte, zu heilen. Ben Hur setzte sich nicht, sondern sagte ehrerbietig: »Ich bitte den guten Herrn Simonides, mich nicht für einen Eindringling zu halten. Als ich gestern den Fluß herauffuhr, hörte ich, daß er meinen Vater gekannt hat.« »Ich kannte den Fürsten Hur. Wir hatten gemeinsame Ge­ schäfte, wie es unter rechtlichen Kaufleuten geschieht, die ihre Einkünfte aus den Ländern über dem Meer und der Wüste beziehen. Aber setz dich, bitte! Und, Esther, bringe Wein für den jungen Mann! – Nehemia spricht von einem Sohn Hurs, der einst die Hälfte von Jerusalem regierte, ein altes Ge­ schlecht, wahrhaftig alt! Schon in den Tagen des Mose und Josua fanden einige des Geschlechts Gnade vor den Augen des Herrn und teilten die Ehre mit den Fürsten unter den Men­ schen. Es kann kaum geschehen, daß ein direkter Nachkomme von ihnen zu uns kommt und einen Becher Wein verschmäht, vom echten Wein Soreks, der auf der Südseite der Hügel Hebrons gedeiht.« Esther brachte einen Silberbecher, den sie aus einem Krug gefüllt hatte. Sie bot Ben Hur den Trunk mit gesenkten Augen an. Er berührte leicht ihre Hand, als er ihn ihr abnahm. Wieder begegneten sich ihre Augen. Er sah, daß sie klein war, ihm kaum bis zur Schulter reichte, aber sehr anmutig mit ihrem zarten, süßen Gesicht mit den schwarzen, unbeschreiblich sanften Augen. – Sie ist gutherzig und schön, dachte er, und sie hat Tirzahs Augen. Arme Tirzah! Dann sagte er: »Nein! Dein Vater, wenn er dein Vater ist…« Er stockte. »Ich bin Esther, des Simonides Tochter«, antwortete sie mit Würde. 171

»Dann, schöne Esther, wird dein Vater nicht übel von mir denken, wenn ich jetzt noch nicht seinen köstlichen Wein nehme, bis er gehört hat, was ich zu sagen habe. Auch in deinen Augen hoffe ich Gnade zu finden. Stell dich einen Augenblick an meine Seite!« Beide wendeten sich Simonides zu: »Simonides!« begann Judah fest. »Mein Vater hatte bis zu seinem Tode einen ver­ trauten Diener deines Namens, und man hat mir gesagt, du seist es.« Eine heftige Bewegung durchzitterte den Körper unter dem Gewand, und die magere Hand ballte sich: »Esther, Esther!« rief der Mann streng. »Hierher, nicht dort, wenn du deiner Mutter Kind und das meine bist –, hierher, nicht dort, sage ich!« Das Mädchen schaute vom Vater zu dem Besucher. Dann stellte sie den Becher auf den Tisch und ging gehorsam zu dem Stuhl. Ihre Haltung drückte Staunen und Schreck aus. Simonides nahm ihre Hand, die zart auf seiner Schulter lag, in seine Linke und sagte mit vollkommener Ruhe: »Ich bin im Umgang mit Menschen alt geworden, alt vor meiner Zeit. Wenn der Mann, der dir erzählt hat, wovon du sprachst, mein Freund ist, der meine Geschichte kennt, so muß er dich auch, wenn er nicht gehässig war, davon überzeugt haben, daß ich nicht anders als mißtrauisch sein kann. Der Gott Israels helfe dem, der am Ende seines Lebens so viel eingeste­ hen muß! Meine Liebe gehört wenigen. Eine davon ist diese Seele«, er führte Esthers Hand an seine Lippen, »eine Seele, die mir bis zur Stunde selbstlos gehörte und mir so süßen Trost brachte, daß ich sterben müßte, würde sie mir entrissen.« Esther neigte sich zu ihm herab, bis ihre Wange die seine berührte. »Meine andere Liebe ist nur noch eine Erinnerung. Von ihr kann ich sagen, daß sie wie ein Segen Gottes eine ganze Familie umfaßt, wenn ich nur wüßte« – seine Stimme sank und 172

zitterte –, »wenn ich nur wüßte, wo sie wäre.« Ben Hurs Gesicht erglühte, und er rief jäh, indem er einen Schritt vortrat: »Meine Mutter, meine Schwester! Du sprichst von ihnen!« Esther hob ihren Kopf, als habe er zu ihr gesprochen, aber Simonides bewahrte seine Ruhe und antwortete kalt: »Hör mich zu Ende an! Weil ich bin, wer ich bin, und um der Liebe willen, von der ich sprach, mußt du mir zuerst Beweise dafür bringen, wer du bist, ehe ich auf deine Fragen eingehe. Hast du schriftliche Beweise? Hast du Zeugen?« Diese Forderung war nur selbstverständlich, das Recht dazu unbestritten. Ben Hur errötete, er rang die Hände, stammelte und wandte sich zuletzt ab. Simonides drängte ihn: »Die Beweise, die Beweise, sage ich! Lege sie vor mich hin! Gib sie in meine Hände!« Ben Hur antwortete nicht. Er war nicht vorbereitet auf eine solche Forderung. Und nun, da sie erhoben wurde, kam ihm, wie nie vorher, die furchtbare Tatsache zum Bewußtsein, daß die drei Jahre auf den Galeeren alle Beweise für seine Person vernichtet hatten. Mutter und Schwester waren verschwunden, er lebte nicht mehr in der Erinnerung eines einzigen Menschen. Er hatte zwar viele Bekannte, aber das war alles. Wäre Quintus Arrius zugegen, was hätte er anderes bezeugen können, als wie er ihn vorgefunden hatte und daß er glaubte, er sei der Sohn Hurs? Aber der tapfere Römer war schon tot. Judah hatte wohl seine Verlassenheit gefühlt, aber jetzt traf sie ihn bis ins Inner­ ste. Er stand da wie versteinert, mit gerungenen Händen und abgewandtem Gesicht. Simonides achtete seine Qual und wartete schweigend. »Meister Simonides«, begann Judah, »ich kann nichts ande­ res tun, als meine Geschichte erzählen. Aber ich will es nur tun, wenn du dich so lange deines Urteils enthältst, bis du mich voll guten Willens angehört hast.« »Sprich«, antwortete Simonides, der nun tatsächlich Herr der 173

Situation war, »sprich, und ich will dich um so lieber anhören, als ich nicht geleugnet habe, daß du wirklich der bist, für den du dich ausgibst.« Nun begann Ben Hur seine Geschichte so kurz wie möglich zu erzählen und mit der Beredsamkeit, die ihre Quelle nur in der Wahrheit haben kann. Er erzählte alles bis zu der Sieges­ feier für Arrius in Misenum. Dann fuhr er fort: »Mein Wohltäter wurde vom Kaiser geliebt und mit Gnaden überhäuft. Die Kaufleute des Ostens, denen er die Sicherheit auf ihren Meeren zurückgegeben hatte, machten ihm kostbare Geschenke, und er wurde doppelt so reich wie die Reichen Roms. Kann ein Jude seinen Glauben vergessen? Oder seine Heimat, zumal wenn sie das Heilige Land seiner Väter ist? Der gute Arrius nahm mich an Sohnes Statt an nach allen Vor­ schriften des Gesetzes, und ich tat alles, um ihm seine Wohltaten zu erwidern. Kein Kind konnte gehorsamer zu seinem Vater sein. Er wollte mich in der Kunst, Philosophie, Rhetorik ausbilden lassen, um mich zum berühmtesten Lehrer zu machen. Ich lehnte alles ab, weil ich ein Jude war und Gott, den Herrn, nicht vergessen konnte, den Ruhm seiner Prophe­ ten, die Heilige Stadt, die David und Salomo auf den Hügeln erbaut hatten. Fragst du mich, warum ich überhaupt die Wohl­ taten des Römers annahm? Ich liebte ihn, und ich hoffte, eines Tages mit seiner Hilfe das Geheimnis um meine Mutter und Schwester zu lüften. Ich hatte noch einen anderen Grund, von dem ich nicht sprechen will, der mich aber veranlaßte, das Waffenhandwerk zu erlernen und mich in allen Kriegskünsten auszubilden. Ich plagte mich in der Palästra und im Zirkus der Stadt ebenso wie im Lager. Ich habe mir in alldem einen Namen geschaffen, aber es ist nicht der meines Vaters. Die Kränze, die ich gewonnen habe – an den Wänden der Villa bei Misenum hängen viele –, errang ich als Sohn des Duumvir Arrius. Nur als diesen kennen mich die Römer. – In steter Verfolgung meines geheimen Plans verließ ich Rom und kam 174

nach Antiochia, entschlossen, den Konsul Maxentius auf seinem Kriegszug gegen die Parther zu begleiten. Nachdem ich im Waffenhandwerk Meister geworden war, gedachte ich hier die höhere Kunst der Truppenführung auf dem Schlachtfeld zu erlernen. Ich bin in die nächste Umgebung des Konsuls aufge­ nommen. Aber gestern, als – die Schiffe mit der gelben Flagge an uns vorüberfuhren, hörte ich deine Geschichte, o Simonides, erfuhr von deinem Glück und den Grausamkeiten des Gratus.« Bei dieser Erwähnung senkte Simonides sein Haupt, und seine Tochter barg ihr Gesicht an seinem Hals, als wolle sie ihm helfen, seine Empfindungen und ihr eigenes Mitgefühl zu verbergen. Dann hob er die Augen und sagte ruhig: »Ich höre.« »O guter Simonides, ich sehe, daß du nicht überzeugt bist und ich im Schatten deines Mißtrauens stehe.« Der Kaufmann schwieg. Seine Züge waren wie aus Marmor gemeißelt. »Auch ich sehe das Ungenügen meiner Lage«, fuhr Ben Hur fort. »Alle meine römischen Verbindungen kann ich beweisen, ich brauche mich nur an den Konsul zu wenden, der gegenwär­ tig Gast des Gouverneurs der Stadt ist. Aber den Beweis, den du verlangst, kann ich nicht geben. Ich kann nicht beweisen, daß ich meines Vaters Sohn bin. Die mir helfen können, sind tot oder verschollen.« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Da nahm Esther den Becher und sagte: »Der Wein kommt aus dem Lande, das wir alle so lieben. Ich bitte dich, trinke!« Ihre Stimme war so süß, wie die Rebekkas am Brunnen von Nahor gewesen sein mag. Er sah Tränen in ihren Augen und trank. »Dein Herz ist voll Güte, Tochter des Simonides«, sagte er dann. »Und du bist barmherzig, sie einem Fremden zu erweisen, wie dein Vater es tut. Unser Gott segne dich! Ich danke dir!« Dann wandte er sich wieder an Simonides: »Da ich keine Beweise dafür erbringen kann, daß ich meines 175

Vaters Sohn bin, will ich von meinem Verlangen abstehen, o Simonides, und gehen, um dich nicht weiter zu belästigen. Laß mich nur so viel sagen: Ich will weder deine Rückkehr in die Dienstschaft noch Rechenschaft über dein Vermögen. Ich hätte in jedem Fall gesagt, was ich jetzt sage: Alles, was du durch deine Klugheit und durch dein Genie erworben hast, gehört dir, besitze es in Frieden! Ich brauche davon nichts. Als der große Quintus, mein zweiter Vater, auf die Reise ging, die seine letzte war, hinterließ er mir als Erben ein fürstliches Vermö­ gen. Denkst du aber je wieder meiner, so tu es in Erinnerung an die Frage, die ich dir jetzt stelle. Und ich schwöre dir bei den Propheten und Jehova, meinem Gott und deinem, daß sie der Hauptgrund für mein Kommen war: Was weißt du und was kannst du mir von meiner Mutter und Tirzah, meiner Schwester sagen, von Tirzah, die an Schönheit und Anmut jetzt deiner Tochter, die dein Leben ist, gleichen würde?« Über Esthers Wangen liefen die Tränen, aber ihr Vater war unerbittlich: »Ich habe gesagt, daß ich den Fürsten Hur kannte. Ich habe von dem Unglück gehört, das seine Familie betroffen hat. Ich erinnere mich an die Bitterkeit, als ich es erfuhr. Der Mann, der über die Witwe meines Freundes so großes Unheil gebracht hat, ist derselbe, der später im selben Geiste auch mich ge­ schlagen hat. Ich gehe noch weiter und sage dir, daß ich die sorgfältigsten Nachforschungen nach der Familie angestellt habe, aber ich kann dir nichts über ihr Schicksal sagen. Sie ist verschollen.« Ben Hur seufzte tief. »Dann ist eine andere Hoffnung zerstört. Ich bin an Enttäu­ schungen gewöhnt. Ich bitte um Verzeihung für meine Zudringlichkeit. War ich dir lästig, so halte es meinem Kum­ mer zugute. Ich habe nur noch der Rache zu leben. Lebt wohl!« Als er den Vorhang hob, wandte er sich noch einmal um: »Ich danke euch beiden!« 176

»Gehe in Frieden!« sagte Simonides. Esther konnte vor Schluchzen nicht reden. Und so ging er.

Simonides und Esther Kaum war Ben Hur gegangen, als Simonides wie aus dem Schlaf erwachte, sein Gesicht glänzte, seine eben noch düsteren Augen strahlten. Hastig rief er: »Esther, läute! Rasch!« Sie ging an den Tisch und schwang eine Glocke. Sogleich öffnete sich eine Füllung in der Wand, und durch eine Tür trat ein Mann ein, der sich tief vor dem Kaufherrn verneigte. »Malluch, hierher, näher zum Stuhl!« befahl der Herr. »Ich habe einen Auftrag für dich, den du sofort ausführen mußt. Höre! Eben steigt ein junger Mann die Treppe zum Lagerhaus hinunter, groß, anmutig, in jüdischer Kleidung. Folge ihm wie ein Schatten! Gib mir jeden Abend Bericht, wo er sich aufhält, was er treibt und in welcher Gesellschaft er ist. Kannst du ihn belauschen, ohne Gefahr, entdeckt zu werden, berichte mir Wort für Wort seiner Gespräche und alles, was du über ihn, seine Gewohnheiten, seine Absichten, sein Leben erfahren kannst. Hast du verstanden? Mach rasch! Halt, Malluch! Wenn er die Stadt verläßt, folge ihm und merk es dir wohl, Malluch, sei wie ein Freund. Wenn er mit dir reden sollte, erzähl ihm irgend etwas, nur kein Wort darüber, daß du in meinem Dienst bist, davon kein Wort! Rasch, eile!« Der Mann grüßte wie zuvor und verschwand. Dann rieb sich Simonides seine mageren Hände: »Was für ein Tag ist heute, Tochter? Welcher Tag? Ich will ihn mir merken als Glückstag. Sieh nach und sei fröhlich, und fröhlich sag ihn mir, Esther!« Die Heiterkeit des Vaters schien ihr so unnatürlich, daß sie 177

ihm, als wolle sie ihn davon abbringen, traurig sagte: »Wehe mir, Vater, sollte ich diesen Tag je vergessen!« Augenblicklich ließ er seine Hand sinken, und sein Kopf fiel auf seine Brust herab: »Du sprichst wahr, meine Tochter! Heute ist der zwanzigste Tag des vierten Monats, und heute sind es fünf Jahre, daß Rachel, deine Mutter, niederfiel und starb. Man brachte mich zerbrochen, wie du mich jetzt siehst, nach Hause, und wir fanden sie tot vor Gram. Oh, sie war für mich wie ein Büschel Kampfer in den Weingärten von EnGedi, wie Myrrhe und Narde, wie Honig! Wir begruben sie an einsamer Stätte – in einem Grab im Berg, niemand liegt in ihrer Nähe. In meiner Dunkelheit ließ sie mir ein Licht, das in den Jahren zu großem Morgenglanz aufgeblüht ist.« Er hob seine Hand und legte sie auf das Haupt seiner Tochter. »Guter Gott, ich danke dir, daß in meiner Esther meine verlorene Rachel weiterlebt!« Plötzlich hob er den Kopf: »Ist es nicht heller Tag draußen?« »Es war hell, als der junge Mann eintrat.« »Dann laß Abimelech kommen, damit er mich in den Garten fährt. Ich will den Fluß und die Schiffe sehen. Und ich will dir erzählen, Esther, warum ich so fröhlich war und mein Herz so leicht.« Der Diener fuhr den Armstuhl auf das Dach des unteren Hau­ ses, den Simonides seinen Garten nannte. Durch die Rosenbüsche und die Blumenbeete wurde er auf einen Platz geschoben, wo er die Dächer der Paläste auf der gegenüberlie­ genden Insel, das Ende der Brücke auf dem jenseitigen Ufer und den Fluß unter der Brücke mit seinen vielen Schiffen sehen konnte. Hier ließ ihn der Diener mit Esther allein. Der Lärm der Arbeiter unten auf dem Lagerplatz störte ihn ebensowenig wie die drängende Menschenmenge auf der Brücke. Er war es gewohnt, und er nahm nur insofern Kenntnis davon, als er an seine Geschäfte und an den Gewinn dachte, den sie abwerfen würden. 178

Esther setzte sich auf die Lehne des Armstuhls und streichel­ te seine Hände. Sie wartete darauf, daß er sprechen würde. Er tat es endlich in seiner ruhigen Art, nachdem er sich durch eine mächtige Willensanstrengung dazu aufgerafft hatte. »Als der junge Mann sprach, habe ich dich beobachtet, und mir schien, er habe dich gewonnen.« Sie antwortete mit gesenkten Augen: »Wenn du meinst, ich hätte ihm Glauben geschenkt, so hast du recht.« »In deinen Augen ist er also der verschollene Sohn des Für­ sten Hur?« »Wenn er es nicht ist…«, sie zögerte. »Und wenn er es nicht ist, Esther?« »Ich war deine Dienerin, Vater, seit unsere Mutter dem Rufe des Herrn folgte. An deiner Seite habe ich dich mit jeder Art gewinngierigen Menschen, gerechten und ungerechten, weise reden und handeln sehen. Und nun sage ich: Wenn der junge Mann nicht der Fürst ist, für den er sich ausgibt, dann hat vor mir die Falschheit noch nie so gut die Rolle der Wahrheit gespielt.« »Beim Ruhm Salomos, Tochter, das ist ein ernstes Wort. Glaubst du, daß dein Vater der Leibeigene seines Vaters ist?« »Wie ich ihn verstand, fragte er danach wie nach etwas, das er nur gehört hatte.« Eine Weile folgte Simonides seinen Schiffen unten, aber seinen Gedanken lag nichts ferner. »Nun, Esther, du bist ein gutes Kind und mit echt jüdischem Scharfsinn begabt. Du bist alt genug und stark genug, eine traurige Geschichte anzuhören. Ich will dir von mir, deiner Mutter und vielen anderen Dingen der Vergangenheit erzählen, von Dingen, von denen du nichts wissen oder träumen konntest und die meinem römischen Verfolger um der Zukunft willen verborgen bleiben mußten und dir verschwiegen wurden, damit deine Seele sich dem Herrn zuwenden konnte wie die Blume 179

der Sonne. – Ich bin in einem Gewölbe im Tal Hinnom gebo­ ren, auf der Südseite des Berges Zion. Mein Vater und meine Mutter waren hebräische Leibeigene. Sie versorgten die Fei­ gen- und Olivenbäume und die Weinstöcke in den königlichen Gärten am Teich Siloa. In meiner Jugend half ich ihnen. Sie gehörten einer Klasse an, die für ihr Leben Leibeigene bleiben mußten. Sie verkauften mich an den Fürsten Hur, dem nach König Herodes reichsten und mächtigsten Mann in Jerusalem. Von den Gärten sandte er mich in sein Geschäftshaus nach Alexandrien in Ägypten, wo ich großjährig wurde. Ich diente ihm sechs Jahre. Im siebenten wurde ich nach dem Gesetz frei.« Esther schlug die Hände zusammen: »Oh, dann bist du nicht seines Vaters Leibeigener!« »Nein, höre weiter, Tochter! In jenen Tagen gab es Gesetzes­ kundige in den Tempeln, die heftig die Ansicht verfochten, Kinder von Leibeigenen behielten für immer die Eigenschaft ihrer Eltern. Aber Fürst Hur war in allen Dingen ein gerechter Mann und ein Ausleger des Gesetzes im strengsten Sinne, obwohl er kein Gesetzeskundiger war. Er erklärte, daß ich im wahren Sinne des großen Gesetzgebers ein gekaufter Leibeige­ ner sei und machte mich durch gesiegelte Urkunden frei. Sie sind noch in meinem Besitz.« »Und meine Mutter?« fragte Esther. »Du sollst alles hören, Esther, habe Geduld. Ehe ich zu Ende bin, wirst du sehen, daß ich eher mich selbst vergessen könnte als deine Mutter… Als meine Dienstzeit zu Ende war, kam ich zum Osterfest nach Jerusalem. Mein Gebieter lud mich zu sich ein. Ich liebte ihn wahrhaftig und bat ihn, mich in seinen Diensten zu behalten. Er willigte ein, und ich diente ihm noch sieben Jahre, aber als gemieteter Sohn Israels. Ich leitete in seinem Namen Unternehmungen zur See und zu Lande, führte Karawanen bis nach Susa und Persepolis im Osten und in die noch ferneren Seidenländer. Es waren gefahrvolle Reisen, 180

meine Tochter, aber der Herr segnete alles, was ich unternahm. Ich brachte dem Fürsten reiche Gewinne nach Hause und für mich reiche Erfahrungen, ohne die ich die Aufgaben nicht hätte erfüllen können, die mir gestellt wurden. Eines Tages war ich wieder Gast in des Fürsten Haus. Eine Magd brachte ein paar Brotschnitten auf einer Platte, und sie bot sie mir zuerst an. Es war die erste Begegnung mit deiner Mutter. Ich liebte sie vom ersten Augenblick an und nahm diese Liebe im Herzen meines Herzens mit mir. Nach einiger Zeit bat ich den Fürsten, sie mir zur Frau zu geben. Er erklärte mir, daß sie eine ewige Leibeigene sei, erbot sich aber, sie freizulassen, damit mein Wunsch erfüllt werden konnte. Sie erwiderte meine Liebe, aber sie war glücklich in ihrem Dienst und wollte nicht frei sein. Ich bat und flehte und kam in langen Zwischenräumen immer wieder zu ihr. Immer sagte sie, sie wolle meine Frau werden, wenn ich gleich ihr wieder dienstbar würde. Unser Vater Jakob diente zweimal sieben Jahre um Rahel. Konnte ich für meine Rahel nicht das gleiche tun? Deine Mutter aber wollte, daß ich wie sie lebenslänglicher Leibeige­ ner werde. Da ging ich. Aber ich kehrte zurück. Sieh hier, Esther!« Er deutete auf sein linkes Ohrläppchen: »Siehst du das Mal des Pfriems?« »Ich sehe es, oh, und ich sehe, wie sehr du meine Mutter liebtest!« »Liebte? Sie war mir mehr als Sulamit dem königlichen Psalmisten, reiner wie ein Brunnen im Garten, lebendiges Wasser wie die Ströme des Libanon. Auf meine Bitte nahm mich mein Herr zu den Richtern und führte mich zur Tür seines Hauses. Er durchbohrte mein Ohrläppchen mit dem Pfriem, daß ich an den Türpfosten geheftet war. Nun war ich sein Leibeigener auf Lebenszeit, und ich gewann meine Rahel. Konnte es eine größere Liebe geben als die meine?« Esther beugte sich zu ihm und küßte ihn. Schweigend ge­ 181

dachte sie der Toten. »Mein Gebieter kam auf der See um. Mein erster Schmerz kam über mich. Trauer herrschte in seinem Hause und in dem meinen hier in Antiochia, wo ich damals wohnte. Nun, Esther, merk auf! Nach dem Tode des Fürsten wurde ich zum Haupt­ verwalter seines Vermögens eingesetzt. Alles, was ihm gehörte, kam unter meine Aufsicht und Leitung. Urteile nun selbst, wie sehr er mich liebte und mir vertraute. Ich eilte nach Jerusalem, um der Witwe Rechenschaft abzulegen. Sie bestä­ tigte mich als Verwalter. Nun arbeitete ich mit noch größerem Fleiß. Die Geschäfte blühten und wuchsen von Jahr zu Jahr. Zehn Jahre vergingen. Dann kam das Unglück, von dem der junge Mann erzählt hat, der Unfall, wie er es nannte, mit dem Prokurator Gratus. Der Römer behauptete, es sei ein Mordver­ such gewesen. Unter diesem Vorwand riß er den unermeßlichen Besitz der Witwe und der Kinder an sich. Aber das genügte ihm nicht. Damit eine Aufhebung seines Urteils unmöglich gemacht wurde, beseitigte er alle Beteiligten. Von diesem schrecklichen Tag an ist die ganze Familie Hur ver­ schwunden. Der Sohn, den ich als Kind gesehen hatte, wurde lebenslänglich zu den Galeeren verurteilt. Von der Witwe und der Tochter glaubt man, sie schmachteten in einem der vielen Kerker Judäas, die wie Gräber versiegelt sind, wenn sie sich einmal hinter den Unglücklichen geschlossen haben. Sie entschwanden dem Gedächtnis der Menschen, als hätte sie das Meer verschlungen. Wir konnten nie erfahren, wie sie gestor­ ben waren oder ob sie tot sind.« Esthers Augen waren voller Tränen. »Du hast ein gutes Herz, Esther, so wie deine Mutter. Ich bete darum, daß du nicht noch das Schicksal der meisten Gutherzigen teilen mögest – von den Unbarmherzigen und Rücksichtslosen mit Füßen getreten zu werden. Aber höre weiter! Ich ging nach Jerusalem, um meiner Wohltäterin beizustehen. Am Stadttor wurde ich ergriffen und in die tiefen 182

Zellen unter der Burg Antonia geworfen. Warum, wußte ich nicht, bis Gratus selbst kam und von mir die Gelder des Hauses Hur verlangte. Er wußte, daß sie auf meine Wechsel hin von allen Handelsplätzen der Welt eingezogen werden konnten. Er drang in mich, die Anweisungen auszustellen. Ich weigerte mich. Er hatte die Häuser, Ländereien, Waren, Schiffe und alle bewegliche Habe meiner Herrin eingezogen, aber ihre Gelder sollte er nicht bekommen. Ich sah, daß ich mit Gottes Hilfe ihren zerstörten Reichtum wiederaufbauen konnte und ging auf das Verlangen des Tyrannen nicht ein. Er ließ mich foltern, aber mein Wille blieb standhaft. Ich kam nach Hause zurück und begann von neuem meine Geschäfte, diesmal aber unter dem Namen des Simonides von Antroclera statt dem des Fürsten Hur. Du weißt, Esther, wie mich das Glück begünstig­ te. In meinen Händen vermehrten sich die Millionen des Fürsten wunderbar. Du weißt auch, daß ich nach drei Jahren, als ich nach Caesarea ging, noch einmal von Gratus gefangen­ gesetzt und gefoltert wurde, damit ich bekenne, daß meine Güter und Gelder der Konfiskation unterworfen seien. Du weißt auch, daß er – wie das erstemal – seinen Zweck verfehl­ te. Am Körper gebrochen, kam ich nach Hause und fand meine Rahel tot. Angst und Gram hatten sie getötet. Der Herr, unser Gott, war mit mir – ich lebte. Vom Kaiser selbst erkaufte ich mir die Freiheit und das Recht, Handel in der ganzen Welt zu treiben. Heute – gepriesen sei der Herr, der die Wolken zu seinem Thron macht und auf den Winden dahinfährt! –, heute, Esther, ist das, was meinen Händen anvertraut war, verviel­ facht zu Talenten, die einen Kaiser bereichern könnten.« Stolz hob er sein Haupt. Ihre Augen begegneten sich. Einer las des anderen Gedanken. »Was soll ich mit dem Schatz, Esther?« fragte er, ohne den Blick zu senken. »Mein Vater«, antwortete sie leise, »hat nicht eben der rechtmäßige Eigentümer seinen Anspruch erhoben?« 183

Noch immer blieb sein Auge auf sie gerichtet. »Und du, mein Kind, soll ich dich als Bettlerin hinterlassen?« »Nein, Vater. Bin ich nicht als dein Kind seine Leibeigene? Und von wem steht geschrieben: Kraft und Ehre ist ihr Kleid, sie soll selig sein der Zeit, die kommt?« Ein Strahl unaussprechlicher Liebe verklärte das Antlitz Simonides’, als er sagte: »Der Herr hat mir seine Güte auf vielfältige Weise gezeigt, aber du, Esther, bist die Krone seiner Güte!« Er zog sie an seine Brust und küßte sie wieder und wieder. »Höre nun, warum ich an diesem Morgen so fröhlich war. Der junge Mann erschien mir als das Ebenbild seines Vaters in der Jugend. Meine Seele erhob sich, ihn zu begrüßen. Ich fühlte, daß meine Prüfungen und meine Mühen zu Ende gin­ gen. Ich konnte mich kaum bezwingen, es laut zu rufen. Ich wollte ihn bei der Hand nehmen und ihm zeigen, was ich besitze, und sagen: ›Sieh, das alles gehört dir! Und ich bin dein Diener, bereit, abgerufen zu werden.‹ Und das würde ich auch getan haben, Esther, aber drei Gedanken hielten mich zurück. Ich will sicher sein, daß er der Sohn meines Gebieters ist – das war mein erster Gedanke. Wenn er es ist, so will ich ihn besser kennenlernen. Unter denen, die reich geboren werden, Esther, gibt es viele, in deren Händen der Reichtum zum Fluch aus­ schlägt. Gedenke der Schmerzen, die ich in des Römers Hand erduldete. Nein, nicht durch Gratus allein; die Elenden, die seine Befehle vollzogen, waren Römer, und sie lachten, als sie meine Schmerzensschreie hörten. Schau meinen gebrochenen Leib, gedenke der Jahre, die mich geschwächt haben, und deiner Mutter in ihrem einsamen Grab, an der Seele gebrochen wie ich am Körper. Gedenke des Kummers der Familie meines Gebieters, wenn sie noch lebt, und der Grausamkeit ihres Todes, wenn sie gestorben ist. Gedenke all dessen, und um der Liebe des Himmels willen sage mir, Tochter, soll nicht zur Sühne ein Haar fallen oder ein 184

Blutstropfen fließen? Sage mir nicht, wie die Prediger es manchmal sagen, daß die Rache bei Gott ist. Hat er nicht größere Kriegsscharen als die Propheten? Ist sein Gesetz nicht: Auge um Auge, Hand um Hand, Fuß um Fuß? Oh, in all diesen Jahren habe ich von der Rache geträumt, darum gefleht, sie vorbereitet! Ich übte Geduld, indes mein Reichtum sich ver­ mehrte, immer im Gedanken daran, daß er mir eines Tages, so wahr der Herr lebt, dazu dienen soll, die Übeltäter zu bestrafen. Und als der junge Mann von seinem Waffenhandwerk sprach und andeutete, er könne seinen Zweck noch nicht nennen, da wußte ich, daß es zur Rache geschieht. Und das, Esther, ist der dritte Gedanke, der mich bewog, still und hart zu bleiben, während er erzählte, und mich fröhlich stimmte, als er gegan­ gen war.« Esther streichelte des Vaters welke Hände und sagte, als ob sie im Innern so wie er an das Spätere dachte: »Er ist gegan­ gen. Wird er wiederkommen?« »Ja, der treue Malluch folgt ihm und wird ihn zurückbringen, wenn ich bereit bin.« »Und wann wird das sein, Vater?« »Bald, bald! Er glaubt, alle seine Zeugen seien tot. Aber einer ist noch am Leben, der ihn nicht verleugnen wird, wenn er wirklich der Sohn meines Gebieters ist.« »Seine Mutter?« »Nein, Esther. Ich will diesen Zeugen vor ihn führen. Bis dahin legen wir alles in Gottes Hand. Ich bin müde. Rufe Abimelech.« Esther rief den Diener, und sie kehrten ins Haus zurück.

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Der Hain der Daphne Als Ben Hur das Haus des Simonides verließ, war er erfüllt von dem Gedanken, daß zu den vielen Enttäuschungen, die ihm das Suchen nach Mutter und Schwester gebracht hatte, eine neue hinzugekommen sei. Diese Erfahrung bedrückte ihn um so mehr, je mehr er sich nach den Seinen sehnte. Sie umschloß ihn wie ein Vorhang mit einem Gefühl tiefer Verlassenheit auf Erden, das mehr als alles andere die Freude am Dasein zerstört. Er bahnte sich einen Weg durch die Güter auf dem Ladeplatz zum Ufer, wo kühle Schatten ihn aufnahmen. Der träge Lauf des Flusses schien auf ihn zu warten. Da erinnerte er sich an das Wort des Reisenden: »Besser ein Wurm sein und sich von den Maulbeeren Daphnes nähren als an der Tafel des Königs sitzen!« Er wandte sich ab und ging rasch über den Landeplatz in die Herberge. »Der Weg nach Daphne?« fragte der Türhüter erstaunt. »Bist du zum erstenmal hier? Dann nenne den heutigen Tag den glücklichsten deines Lebens. Du kannst die Straße nicht verfehlen. Die nächste Straße links führt nach Süden geradewegs zum Berg Sulpius, auf dessen Gipfel der Altar des Jupiter und das Amphitheater stehen. Halte die Straße ein bis zur dritten Kreuzung, den Herodes-Kolonnaden, dann wende dich rechts und gehe durch die alte Stadt des Seleucus bis zum Bronzetor des Epiphanes. Hier beginnt der Weg nach Daphne – die Götter mögen dich beschützen!« Nach ein paar Anweisungen für sein Gepäck machte sich Ben Hur auf den Weg. Es war etwa vier Uhr nachmittags, als er durch das Bronzetor ging und sich inmitten einer unabsehbaren Menschenmenge fand, die zu dem berühmten Hain ging. Die Straße war nicht nur geteilt in Wege für Fußgänger, Reiter und Wagen, sondern sogar für Hinwandernde und Zurückwandernde. Sie waren durch niedrige Geländer voneinander getrennt, die von Posta­ 186

menten und Statuen unterbrochen waren. Rechts und links dehnten sich wohlgepflegte Rasenflächen aus mit Gruppen von Eichen und Sykomoren und weinumrandeten Sommerhäu­ schen, in denen man sich ausruhen konnte. Die Wege für die Fußgänger waren mit roten Steinplatten belegt, jene für die Reiter und Wagen mit Sand bestreut, der zwar festgewalzt, aber doch so locker war, daß Hufe und Räder keinen Lärm machten. Die Fülle der verschiedensten Springbrunnen war erstaunlich. Sie trugen die Namen der Könige, denen die Stadt sie verdankte. Die Prachtstraße zwischen Stadt und Hain war etwa zwei Meilen lang. Ben Hur achtete kaum auf die Herrlichkeiten, die ihn umga­ ben, ebensowenig auf die ihn umdrängende Menge, so verdüstert war sein Gemüt. Aber es war eine gewisse Selbst­ überhebung des Römers dabei. Was konnten die Provinzen schon bieten, was das Zentrum der Welt rings um die goldene Säule des Augustus nicht viel besser und vollkommener besaß! Die Menschen gingen ihm für seine Ungeduld zu langsam, und er drängte sich durch die Gruppen. Aber als er Herakleia erreichte, war er müde und einer Betrachtung und Unterhaltung zugänglicher geworden. Ein paar Ziegen, die von einer schönen Frau geführt wurden, erregten seine Aufmerksamkeit. Frau und Tiere waren köstlich mit Bändern und Blumen geschmückt. Dann blieb er stehen, um einen schneeweißen Stier zu betrach­ ten, der mit frisch geschnittenen Reben bekränzt war und auf dessen breitem Rücken ein nacktes Kind als Sinnbild des jungen Bacchus in einem Korb saß. Es drückte den Saft der reifen Beeren in einen Becher und schwenkte ihn wie ein Trankopfer. Ein Pferd, nach der Mode der Zeit mit gestutzter Mähne und einem köstlich gekleideten Reiter entzückte ihn durch den Stolz, den beide zeigten. Oft drehte er sich nun um, wenn er Wagen und Pferde vorüberbrausen sah, und bald betrachtete er auch die Menge mit wachen Blicken. Es waren Frauen und Männer jeden Alters. Einige trugen einheitliche 187

weiße Gewänder, andere schwarze; einige schwenkten Fahnen, andere Weihrauchbecken; manche gingen langsam und sangen Hymnen, andere marschierten zur Musik von Flöten und kleinen Handtrommeln. Wenn sich so die Wanderung nach Daphne täglich, das ganze Jahr hindurch abspielte, wie herrlich mußte Daphne sein! Schließlich vernahm er Freudenrufe und lautes Händeklatschen, und als er aufschaute, sah er den Tempeleingang des heiligen Hains auf dem Abhang des Hü­ gels. Der Hymnengesang wurde lebhafter, die Musik lauter, und vom allgemeinen Strom mitgerissen, trat er ein. Trotz seines verfeinerten römischen Geschmacks konnte er sich der Bewunderung nicht entziehen, die ihn bei dem Anblick erfüllte. Hinter dem Eingangstor stand eine Säule im reinsten griechi­ schen Stil auf einer breiten Esplanade, die mit polierten Steinplatten belegt war. Um ihn her eine jubelnde riesige Menge in den heitersten Farben vor dem kristallenen Sprühen der Springbrunnen, vor ihm führten staublose Wege in einen Garten und weiter in einen Wald, über dem ein blaßblauer Nebel lag. Neben ihm rief eine Frau: »Herrlich! Aber wohin jetzt?« Ihr Begleiter, der einen Lorbeerkranz trug, lachte und antwortete: »Geh zu, schöne Barbarin! Die Frage ist mir zu irdisch. Hatten wir uns nicht vorgenommen, allen irdischen Gram hinter uns in Antiochia zu lassen? Hier wehen göttliche Winde. Überlassen wir uns ihnen!« »Aber wenn wir uns verlaufen?« »O du Furchtsame! Niemand ist je in Daphne verlorengegan­ gen, mit Ausnahme derer, für die sich ihre Pforten für immer geschlossen haben.« »Und wo sind die?« »Sie haben den Ort fürs ganze Leben und den Tod gewählt. Sieh! Ich werde sie dir zeigen.« Über den Marmorboden huschten eilige Füße. Die Menge öffnete sich, und eine Gruppe von Mädchen erschien, singend 188

und tanzend zum Rhythmus ihrer Handtrommeln. Das Haar der Tänzerinnen wehte, und ihre Körper leuchteten durch die dünnen Gewänder, die sie kaum verhüllten. Worte können die Wollüstigkeit des Tanzes nicht schildern. Noch eine kurze Runde, und sie wehten davon, wie sie gekommen waren. »Nun, was meinst du?« fragte der Mann im Lorbeerkranz, der seinen Arm um seine schöne Gefährtin gelegt hatte. »Wer sind sie?« »Devadasi – Priesterinnen des Apollotempels. Es gibt ein ganzes Heer davon. Sie bilden den Chor bei den Feierlichkei­ ten. Hier wohnen sie. Manchmal reisen sie in andre Städte, aber nur um das Haus des göttlichen Musikers zu bereichern.« Die beiden verschwanden in der Menge. Ben Hur genügte die Versicherung, daß noch niemand in Daphne verlorengegangen war, und so ging er, ohne zu wissen wohin. Eine Skulptur auf einem schönen Postament zog zunächst seine Aufmerksamkeit an. Es war eine Statue des Zentauren Chiron, des Geliebten des Apoll und der Diana, den sie in die Geheimnisse der Jagd, der Heilkunde, der Musik und der Wahrsagekunst eingeweiht hatten. Dieser weiseste aller Zen­ tauren hielt in seiner Hand eine Rolle, auf der in griechischer Sprache die folgenden Sätze eingegraben waren: »O Reisender!

Bist du ein Fremder?

1. Lausche dem Gesang der Bäche und fürchte dich nicht vor dem Regen der Springbrunnen; so werden dich die Naja­ den lieben. 2. Die einladenden Düfte Daphnes sind Zephyrus und Auster, freundliche Geister des Lebens, sie wollen dir Süßigkeit spenden; wenn Eurus weht, ist Diana auf der Jagd; wenn Boreas stürmt, verbirg dich, Apoll ist zornig. 3. Die Schatten des Tages im Hain sind für dich bestimmt; nachts gehören sie Pan und seinen Dryaden. Stör sie nicht! 189

4. Iß mäßig vom Lotus am Bach, sonst verlierst du dein Ge­ dächtnis, das ein Kind der Daphne ist. 5. Wandre um den dampfenden Dreifuß – Arachne ist am Werk oder Minerva. 6. Willst du die Tränen der Daphne sehen, brich einen Zweig vom Lorbeer – und stirb.

Hüte dich!

Bleibe und sei glücklich!«

Ben Hur hatte die Inschrift gelesen, er ließ die Erklärung der mystischen Worte anderen, die ihn umstanden, und wandte sich dem Stier mit dem Knaben zu, die von einer Prozession gefolgt wurden, und der Frau mit den Ziegen, hinter ihr die Tänzerin­ nen und eine andre Prozession mit Weihegeschenken. »Wohin gehen sie?« fragte einer. »Der Stier zu Vater Jupiter, die Ziegen…«, antwortete ein andrer. »Hat nicht Apoll einstmals die Herden auf dem Admatus gehütet?« »Oh, die Ziegen zu Apoll!« Ben Hur hörte sich dieses Gespräch an wie ein Mensch, der jedes anderen Glauben achtet. Ihn hatten weder die Jahre auf den Galeeren noch die in Rom an seinem Glauben irre werden lassen. Er war noch ein Jude. Aber es war keine Gottlosigkeit, wenn er die Schönheiten im Hain der Daphne bewunderte. Wäre Ben Hur in alltäglicher Stimmung gewesen, so wäre er nicht allein in den Hain gegangen, oder wäre er allein gekom­ men, so wäre er sich seiner Stellung in der Familie des Konsuls bewußt gewesen und hätte sich vorher über die wichtigsten Punkte unterrichtet und die schönsten Plätze nach einem Plan besucht. Er wäre nichts als ein Schaulustiger gewesen, wie so viele rings um ihn. Er hätte keine Verehrung für die Göttinnen des Hains gehabt, nur Neugier. Ein Mann, der in der Blindheit tiefer Enttäuschung dahintreibt, wartet nicht auf das Schicksal, 190

sondern sucht es verzweifelt und herausfordernd. Glücklich für Ben Hur, daß die Torheit, die ihn jetzt packte, eine Art freundlicher Harlekin war mit Flöte und gemalter Kappe, und nicht eine Gewalt, die mit unbarmherzigem Schwert zurückschlägt.

Die Maulbeeren der Daphne Ben Hur betrat das Wäldchen zusammen mit der Prozession. Zu gleichgültig, um zu fragen, wohin sie gingen, hatte er doch die Vorstellung, daß man sich zu einem Tempel begäbe, dem Hauptanziehungspunkt des Hains. Er ertappte sich wieder dabei, wie er das Wort wiederholte: »Besser ein Wurm sein und sich von den Maulbeeren Daphnes nähren als ein Gast an des Königs Tafel.« Die Frage drängte sich auf: War das Leben im Hain wirklich so süß? Worin lag sein Zauber? Lag er in der Tiefe einer Philosophie? Oder lag er offen zutage, jedem Besucher wahrnehmbar? Alljährlich verließen Tausende die Welt, um hier ihr Leben zu verbringen. Fanden sie das Geheimnis? Und wenn ihnen der Hain eine solche Befriedigung gab, würde er nicht auch ihm Ruhe brin­ gen? Er war ein Jude. Konnte es sein, daß die Annehmlichkeiten für alle da waren, nur nicht für die Kinder Abrahams? Von diesem Gedanken erfüllt, beschloß er, das Geheimnis des Ortes zu ergründen, ohne sich um die Menge zu kümmern. In dieser Hinsicht sagte ihm der Himmel nichts. Er war blau, tiefblau, und erfüllt vom Zwitschern der Schwalben, aber so war auch der Himmel über der Stadt. Aus dem Wäldchen zu seiner Rechten kam, vom leisen Wind getragen, ein Duft von Rosen und vielerlei Gewürz zu ihm her. Er blieb stehen und fragte einen Mann neben sich: »Ist da 191

drüben ein Garten?« »Ich glaube, es ist mehr die Vorbereitung zu einer religiösen Zeremonie, etwas für Diana oder Pan oder eine Gottheit des Waldes.« Die Antwort wurde in seiner Muttersprache gegeben. »Ein Hebräer?« fragte Ben Hur. »Ich bin kaum einen Steinwurf weit vom Marktplatz in Jeru­ salem geboren«, antwortete der Mann mit liebenswürdigem Lächeln. Ben Hur wollte eben noch eine Bemerkung machen, als er von der drängenden Menge vorwärtsgeschoben und von dem Fremden getrennt wurde. Er prägte sich dessen Erscheinung ein: er trug das herkömmliche Obergewand und einen Stab, auf dem Kopf ein braunes Tuch, das von einer gelben Schnur festgehalten wurde. Sein Gesicht war ausgesprochen jüdisch. Er glaubte, ihn wiedererkennen zu können. Die Begegnung hatte an einer Stelle stattgefunden, wo ein Pfad in den Wald abzweigte, eine Gelegenheit, um sich der lärmenden Prozession zu entziehen. Ben Hur folgte dem Weg. Er kam zuerst in ein Dickicht, das in seinem natürlichen Zustand geblieben schien, ein Nistplatz für Vögel. Aber nach wenigen Schritten erkannte er auch hier die pflegende Men­ schenhand. Die Gesträuche blühten oder trugen Früchte, unter den niederhängenden Zweigen sproßten die schönsten Blumen. Darüber streckte der Jasmin seine duftenden Büsche. Flieder und Rosen, Lilien und Tulpen, Oleander und Erdbeeren, alle alten Freunde aus den Gärten der Täler um Jerusalem waren hier versammelt und gaben ihren Duft. Und damit kein Wunsch für die Nymphen und Najaden offenblieb, sprudelte ein klarer Bach in vielen Windungen durch die Schatten. Als Ben Hur weiterging, hörte er das Gurren der Tauben. Die Amseln saßen in den Bäumen, eine Nachtigall blieb furchtlos auf ihrem Zweig sitzen, obwohl er auf Armeslänge an ihr vorüberging. Ein Feldhuhn sprang vor ihm her und lockte seine Brut. Ben Hur staunte. War ihm gar erlaubt, einen Satyr in 192

seinem Wohnsitz zu sehen? Das Geschöpf schaute ihn an und hatte zwischen seinen Zähnen ein Gartenmesser. Ben Hur lächelte über seinen eigenen Schrecken und – siehe da – der Zauber war vergangen. Friede ohne Furcht! Friede, ein allum­ fassender Zustand – das war es! Er setzte sich unter einen Zitronenbaum, der seine Wurzeln im Bach kühlte. Das Nest einer Meise hing dicht über dem sprudelnden Wasser, und der kluge Vogel schaute ihm in die Augen. – Wahrhaftig, dachte er, der Vogel gibt mir die Erklä­ rung. Er sagt: Ich fürchte mich nicht vor dir; denn das Gesetz an diesem glückseligen Platz heißt Liebe. Der Zauber des Hains der Daphne war ihm nun klar. Er war froh und wäre am liebsten selbst einer der Verlorenen in Daphne gewesen. Konnte er nicht wie der Mann mit dem Gartenmesser im Mund die Tage seines Lebens hier verbringen und alles vergessen? Aber nach und nach regte sich sein jüdisches Blut wieder. Dieser Zauber mochte manchen Leuten genügen. Liebe ist köstlich – oh, wie wohltuend für einen Elenden, wie er einer ist! Aber war sie alles im Leben? Alles? Es war eine Ungleichheit zwischen ihm und jenen, die sich hier selbstzufrieden begruben. Sie hatten keine Aufgaben, sie hatten keine gehabt, aber er… »O Gott Israels«, rief er laut und sprang mit brennenden Wangen auf seine Füße: »Mutter! Tirzah! Verflucht sei der Augenblick, verflucht der Ort, wo ich glücklich zu sein wähnte ohne euch!« Er eilte durch das Dickicht und kam zu einem Kanal mit ummauerten Ufern, dann und wann durch Schleusen gehemmt. Sein Weg führte über eine Brücke, und weiterhin sah er noch viele Brücken, jede in einem andern Stil, unter sich einen Teich, und dahinter rauschte ein Wasserfall. Das gleiche Bild immer wieder: Brücken, Teiche, Wasserfälle. Sie redeten alle eine deutliche Sprache, der Fluß lief, genauso, wie sein Meister es wollte, als sei er ein Diener der Götter. 193

In der Ferne erblickte er eine Landschaft weiter Täler und unregelmäßiger Anhöhen mit Grotten, Seen, Villen, die mitein­ ander durch schimmernde Wege und im Sonnenlicht glänzende Flüsse verbunden waren. Die Täler glichen grünen, mit Blumen übersäten Teppichen und dienten Herden schneeweißer Schafe zur Weide. Man hörte die Stimmen der Hirten. Zahllos waren die Altäre unter freiem Himmel. Prozessionen zogen zu ihnen hin, und der Rauch der Opfer stieg in blassen Wolken über die geweihten Plätze. Plötzlich begriff er – der Hain war tatsächlich ein Tempel, ein weiter mauerloser Tempel! Nichts anderes als das! Der Baumeister hatte keine Säulen und Portikus, keine ummauerten Räume gebraucht, er hatte die Natur zu seiner Dienerin ge­ macht. Die Kunst konnte nicht weiter gehen. So hatte der kluge Sohn des Jupiter und der Callisto das alte Arkadien gebaut, und in diesem wie in jenem war der Genius Griechenlands lebendig geworden. Ben Hur kam zu einer Schafherde. Der Schäfer war eine Schäferin. Sie rief ihm zu: »Komm!« Bei einem Altar stand eine Frau, die ihm zuwinkte und mit der Stimme der Versuchung rief: »Bleibe!«. Eine Prozession kam ihm entgegen, an ihrer Spitze eine Gruppe kleiner Mädchen, nackt bis auf die Blumenranken um ihre Körper. Sie sangen mit schrillen Stimmen. Nackte braun­ gebrannte Knaben folgten und tanzten zum Gesang der Mädchen. Hinter ihnen ein Zug sorglos gekleideter Frauen, die ihm die Hände entgegenstreckten: »Bleibe und geh mit uns!« Und eine sang griechisch einen Vers des Anakreon. Und dann stand er vor einer Statue von wundervoller Schönheit, die Daphne darzustellen schien. Zu ihren Füßen lag schlafend ein Mädchen in den Armen eines Jünglings auf einem Tigerfell. Beim Anblick dieses Paares gedachte er des Wortes, das ihm den Zauber des Haines erschlossen hatte: Friede ohne Furcht. Das Gesetz des Ortes hieß Liebe, aber nun schien es ihm, als 194

heiße es Liebe ohne Gesetz. Das war der süße Ort der Daphne und aller ihrer Verehrer. Und er erkannte, daß er nur für einen Teil der Menschheit seinen Zauber entfaltete, denen die Liebe ohne Gesetz galt. Nach dem Gesetz des Moses und auch nach dem des Brahma aber galt der Satz: Besser ein Gesetz ohne Liebe als eine Liebe ohne Gesetz. Ben Hur ging rascher und hielt den Kopf höher. In ihm war es ruhiger geworden. Manchmal kräuselte ein Lächeln seine Lippen. Es bedeutete, daß er nicht so rasch vergessen konnte, wie nahe er daran gewesen war, sich zu täuschen.

Das Stadion im Hain Vor Ben Hur erhob sich ein Wald von Zypressen, jeder Stamm gerade wie ein Mast und hoch wie eine Säule. Wie er weiterging, hörte er fröhliches Trompetengeschmetter. Als er um sich blickte, sah er in seiner Nähe den Landsmann im Grase liegen, mit dem er auf dem Weg zu den Tempeln gesprochen hatte. Der Mann erhob sich und kam auf ihn zu: »Ich wünsche dir nochmals Frieden!« sagte er freundlich. »Ich danke dir«, erwiderte Ben Hur, »gehst du in der glei­ chen Richtung?« »Ich gehe zur Rennbahn – wenn das deine Richtung ist.« »Zur Rennbahn?« »Ja. Der Trompetenstoß war das Zeichen für die Teilnehmer am Wettkampf.« »Guter Freund«, sagte Ben Hur offen, »ich gestehe meine Unkenntnis des Hains und wäre froh, könntest du mein Führer sein.« »Es wird mir eine Freude sein. Horch, da rollen schon die Wagen zur Rennbahn!« Ben Hur lauschte einen Augenblick, dann legte er seine Hand 195

auf den Arm des Mannes und sagte: »Ich bin der Sohn des Duumvir Arrius – und du?« »Ich bin Malluch, ein Handelsdiener aus Antiochia.« »Nun denn, guter Malluch, der Trompetenstoß, das Knir­ schen der Räder und die Aussicht auf Unterhaltung erfreuen mich. Ich habe einige Erfahrung in solchen Übungen und bin nicht unbekannt in der Palästra Roms. Laß uns zur Bahn gehen!« Malluch fragte: »Der Duumvir war ein Römer, doch ich sehe seinen Sohn im Gewände eines Juden.« »Der edle Arrius war mein Adoptivvater.« »Oh, ich verstehe. Verzeih bitte!« Aus dem Wald heraus betraten sie ein Feld, auf dem eine Rennbahn angelegt war, genau wie in einem Stadion. Die Bahn bestand aus weicher Erde, die festgewalzt und besprengt war, und an beiden Seiten war sie durch Seile abgesperrt, die zwi­ schen Pflöcken locker gespannt waren. Zur Bequemlichkeit der Zuschauer war ein mit Planen überdachter und mit Sitzen versehener Raum errichtet. In einem der abgeteilten Stände fanden die beiden noch Plätze. Ben Hur zählte die Wagen, es waren neun. »Ich wünsche den Lenkern Glück. Ich glaubte, man begnüge sich im Osten mit zwei Pferden, sehe aber, daß man sich an die königlichen vier wagt. Wir wollen sehen, was sie leisten.« Acht Viergespanne rollten vorüber, einige im Schritt, andre im Lauf, alle recht gut gelenkt. Dann kam das neunte Gespann im Galopp. Ben Hur rief staunend: »Ich war in den Gestüten des Kaisers, aber bei unserm Vater Abraham, gesegnet sei sein Name! Solche Pferde sah ich noch nie!« Die letzten vier sausten vorüber, aber plötzlich gerieten sie in Verwirrung. Im Zuschauerraum stieß jemand einen scharfen Schrei aus. Ben Hur wandte sich und sah einen alten Mann, der sich halb von seinem Sitz erhoben hatte und mit aufgehobenen Fäusten und wildglänzenden Augen dastand. Sein langer 196

weißer Bart zitterte. Einige der zunächst sitzenden Zuschauer lachten. »Sie sollten wenigstens vor seinem greisen Bart Achtung haben. Wer ist es?« fragte Ben Hur. »Ein mächtiger Mann aus der Wüste irgendwo bei Moab, ein Besitzer ganzer Herden von Kamelen und Pferden, die, wie man sagt, von den Rennern des ersten Pharao abstammen. Sein Name und Titel ist Scheik Ilderim.« Der Wagenlenker bemühte sich unterdessen, das Viergespann zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Der Scheik regte sich immer mehr auf. »Abbadon hole ihn!« schrie der Patriarch mit durchdringen­ der Stimme. »Lauft, fliegt, meine Kinder!« Dieser Zuruf galt seinem Gefolge, offensichtlich Angehörige seines Stammes. »Hört ihr? Sie sind in der Wüste geboren, wie ihr selber, greift sie! Schnell!« Die Unruhe der Pferde steigerte sich. »Verfluchter Römer!« Der Scheik drohte dem Lenker mit geballter Faust. »Hat er nicht geschworen, er könne sie lenken, geschworen bei der ganzen Brut seiner lateinischen Bastardgöt­ ter? Nein, laßt eure Hände von mir, sage ich! Er schwor, sie würden wie Adler fliegen, lenksam wie die Lämmer. Verflucht sei er! Verflucht die Mutter des Lügners, die ihn Sohn nennt! Seht sie doch, die Unschätzbaren! Er soll es nur wagen, eins mit der Peitsche zu berühren, und…« Der Schluß des Satzes ging unter wildem Zähnefletschen verloren. »Lauft zu ihren Köpfen und sprecht mit ihnen – ein Wort, eins ist genug, von den Zeltgesängen, die eure Mutter sang. O Tor, Tor, der ich war, einem Römer zu vertrauen!« Einige aus seinem Gefolge warfen sich zwischen ihn und die Pferde, ihm war der Atem ausgegangen. Ben Hur glaubte den Scheik zu verstehen und hatte Mitleid mit ihm. Er begriff, daß die Erregung des Mannes weniger vom verletzten Stolz herrührte, noch von der Sorge um den Ausgang des Rennens, sondern vielmehr von seiner leidenschaftlichen 197

Liebe zu den Pferden. Sie waren rötlichbraun, einander vollkommen ähnlich, und von herrlicher Gestalt. An den kleinen Köpfen saßen zarte Ohren, zwischen den Augen war die Stirn breit, die Nüstern schienen feuerrot, die Hälse waren wundervoll gebogen und die feine und dichte Mähne so lang, daß sie auf Schulter und Brust fiel, die Stirnlocken fein wie Seidenbüschel. Vom Knie bis zum Huf waren die Beine flach wie eine geöffnete Hand, über den Knien aber muskulös und rund, geeignet, die wohlge­ bauten, festen Körper zu tragen. Die Hufe glänzten wie geschliffener Achat. Wenn sie dahinjagten oder sich bäumten, peitschten sie mit ihren langen, dichten schwarzglänzenden Schweifen die Luft und die Erde. Der Scheik hatte sie un­ schätzbar genannt, er hatte recht. Ben Hur las von der Schönheit der Tiere die ganze Geschich­ te ihres Verhältnisses zu ihrem Herrn ab. Sie waren unter den Augen des Scheiks aufgewachsen und tagsüber Gegenstand all seiner Sorgfalt, nachts der Stolz seiner Träume gewesen. Sie lebten mit seiner Familie in den schwarzen Zelten der schatten­ losen Wüste und waren ihm lieb wie die eigenen Kinder. Er hatte seine Lieblinge in die Stadt gebracht, da er nicht daran zweifelte, sie würden ihm einen Sieg über die hochmütigen, gehaßten Römer bringen. Er mußte nur einen zuverlässigen Lenker finden, einen, der nicht nur die Geschicklichkeit besaß, sondern auch den Geist, den sie anerkannten. Anders als die kühleren Naturen des Westens konnte er gegen die Unfähigkeit des Fahrers nicht vernünftig protestieren und ihn wegschicken, ein Araber und ein Scheik mußte vor Zorn zerspringen und die Luft mit Geschrei erfüllen. Aber noch ehe er sich beruhigt hatte, waren schon ein Dut­ zend Hände am Gebiß der Pferde und hatten sie beruhigt. Um diese Zeit erschien noch ein andrer Rennwagen auf der Bahn. Im Gegensatz zu den neun anderen erschienen Lenker, Wagen und Pferde schon genau in der Form, wie sie sich am Tage des 198

Rennens im Zirkus zu präsentieren pflegen. Die anderen Wagen waren mit Stillschweigen empfangen worden, der Neuankömmling hatte mehr Glück. Er wurde mit lautem Händeklatschen und Zurufen begrüßt, mit dem Erfolg, daß er die ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Seine Jochpferde waren schwarz, die Strangpferde schneeweiß. Nach römischer Art waren Mähne und Schweif kurz geschnitten, und um die Geschmacklosigkeit vollzumachen, war die geknüpfte Mähne noch mit roten und gelben Bändern durchflochten. Als der Wagen nahe herangekommen war, zeigte es sich, daß er den Beifallssturm rechtfertigte. Waren schon die Rennwagen im Laufe der Zeit von ihrer einfachen Form zu wahren Kunst­ werken im Material und der Ausstattung geworden – dieser hier übertraf alles bisher Gesehene. Seine Räder waren wahre Wunder, starke Bänder aus polierter Bronze umschlossen die zierlichen Naben, die Speichen bestanden aus Stücken von Elefantenzähnen, die in ihrer natürlichen Biegung nach aus­ wärts eingesetzt waren, um den erforderlichen Widerstand zu erzielen. Bronzene Radschienen hielten die aus glänzendem Ebenholz gedrechselten Felgen. Die Achsen waren ebenso wie die Räder verziert und mit vergoldeten Tigerköpfen mit aufge­ rissenen Mäulern besetzt. Das hinten offene Wagenbett bestand aus vergoldeten Weiden. Die herrlichen Pferde und der glän­ zende Wagen erregten Ben Hurs Aufmerksamkeit in höchstem Maße. Wer mochte der Lenker sein? Als sich Ben Hur diese Frage stellte, konnte er weder das Gesicht noch die ganze Gestalt erkennen, aber sie erschien ihm irgendwie bekannt. Wer konnte es sein? Der Beifallssturm und die Pracht des Aufzugs deuteten auf irgendeine offizielle bekannte Persönlichkeit oder einen be­ rühmten Fürsten. Auch solche Personen nahmen gelegentlich an Rennen teil. Sogar Könige begehrten den Lorbeerkranz als Preis solcher Siege. Nero und Commodus hatten auf Rennwa­ gen gestanden. Ben Hur erhob sich und drängte nach vorn. Sein 199

Gesicht war ernst, er war erregt. Jetzt stand ihm die ganze Gestalt des Lenkers vor Augen. Ein Begleiter stand neben ihm, ein sogenannter Myrtilus, wie es den Vornehmen bei den Rennen erlaubt war. Aber Ben Hur sah nur den Lenker, der aufrecht im Wagen stand, die Zügel mehrfach um seinen Leib geschlungen – eine schöne Erscheinung, nur lose mit einer hellroten Tunika bekleidet. In der Rechten hatte er eine Peit­ sche, in der Linken die vier Zugleinen. Seine Haltung war überaus anmutig und lebendig. Er nahm die Beifallsbezeigungen mit unbeweglicher Gleich­ gültigkeit entgegen. Ben Hur stand wie angewurzelt, seine Ahnung und sein Gedächtnis hatten ihn nicht verlassen: der Lenker war Messala! An der Auswahl der Pferde, der Pracht des Wagens, der Hal­ tung und Pose, mehr noch an dem Ausdruck von Kälte, Schärfe und Stolz, der sich in seinen Landsleuten durch die Herrschaft über die Welt in so vielen Generationen ausgeprägt hatte, erkannte Ben Hur, daß Messala unverändert war, daß er so hochmütig, sicher, zynisch und selbstbewußt wie immer war und voll sorglosem Spott.

Die Castalische Quelle Als Ben Hur die Stufen hinunterging, erhob sich auf der letzten ein Araber und rief laut: »Ihr Männer aus Ost und West, hört! Der gute Scheik Ilderim entbietet euch seinen Gruß. Mit vier Pferden aus dem besten Stamm Salomos des Weisen ist er hierhergekommen, um sich den Besten zu stellen. Er bedarf eines kundigen Lenkers. Wer immer sie zu seiner Zufriedenheit lenkt, dem verspricht er Bereicherung für immer. Verkündet dieses Angebot in der Stadt, im Zirkus, überall, wo sich die Tapferen versammeln! So 200

sagt mein Herr, Scheik Ilderim, der Gütige.« Diese Ankündigung rief die lebhafteste Bewegung hervor. Bis zur Nacht würde sie gewiß in ganz Antiochia in allen Sportkreisen bekannt sein. Ben Hur blickte unschlüssig von dem Ausrufer zum Scheik. Malluch glaubte schon, er wolle das Angebot annehmen, und fühlte sich erleichtert, als er sich zu ihm wandte und fragte: »Guter Malluch, wohin jetzt?« Lachend antwortete der Würdige: »Wenn du tun willst, was andre Besucher tun, die zum erstenmal in den Hain kommen, so mußt du dir vor allem anhören, was dir über dein Glück gewahrsagt wird.« »Gewahrsagt, sagst du? Obwohl die Vorstellung etwas von Unglauben hat, laß uns zu den Göttinnen gehen!« »Nein, Sohn des Arrius, diese Apollonier haben eine bessere List als das. Statt eines Gesprächs mit Pythia oder einer Sibylle verkaufen sie dir ein frisches, eben vom Stengel gerissenes Papyrusblatt und bitten dich, es in eine bestimmte Quelle zu tauchen. Es wird ein Vers darauf erscheinen, der dir deine Zukunft voraussagt.« Das Interesse war von Ben Hurs Zügen verschwunden. »Es gibt Menschen, die es nicht nötig haben, sich über ihre Zukunft zu quälen«, sagte er düster. »Du ziehst also vor, zu den Tempeln zu gehen?« »Es sind griechische Tempel, nicht wahr?« »Sie nennen sie griechisch.« »Die Hellenen waren Meister der Schönen Künste, aber in der Baukunst opfern sie die Mannigfaltigkeit der starren Schönheit. Ihre Tempel sind alle gleich. – Wie nennst du diese Quelle?« »Castalia.« »Oh, sie ist in der ganzen Welt bekannt. Wir wollen hinge­ hen.« Malluch beobachtete seinen Gefährten, als sie dahinschritten, und sah, daß ihn, wenigstens für den Augenblick, sein froher 201

Mut verlassen hatte. Er beobachtete die Vorübergehenden kaum, und die Wunderwerke, an denen sie vorüberkamen, entlockten ihm keinen Ausruf des Staunens. Schweigend und düster ging er langsam dahin. Die Erscheinung Messalas beschäftigte alle seine Gedanken. Ihm schien, als sei kaum eine Stunde vergangen, als die rohen Hände ihn von der Mutter fortgerissen, kaum eine Stunde, als der Römer sein Siegel auf die Tore seines Vaterhauses gesetzt hatte. Er erinnerte sich, wie er in dem hoffnungslosen Elend seines Lebens auf den Galeeren neben dem Rudern nichts anderes zu denken hatte, als Träume der Rache zu brüten, in denen Messala die Hauptperson war. Vielleicht konnte er Gratur entkommen lassen, aber Messala – niemals. Um sich vor sich selber zu rechtfertigen, mußte er sich immer wiederho­ len: Wer zeigte uns den Verfolgern? Und als er ihn um Hilfe bat – nicht für sich selbst –, wer spottete über ihn und ging lachend davon? Und alle Träume kamen zu demselben Schluß: An dem Tage, an dem ich ihn finde, hilf mir, du Gott meiner Väter! – hilf mir zu einer besonderen Art Rache. Und nun hatte er ihn gefunden! Vielleicht wären seine Empfindungen anders gewesen, wenn er Messala arm und leidend begegnet wäre; aber so war es nicht. Er fand ihn mehr als glücklich. In seinem Glück war ein Glanz und Schimmer – Sonnenschein auf Gold. Das, was Malluch als eine vorübergehende Anwandlung von Mutlosig­ keit ansah, war in Wahrheit die Frage, wann er mit Messala zusammenkommen sollte und auf welche Weise er es denk­ würdig gestalten könne. Am Ende einer Eichenallee, auf der ihnen viele Fußgänger, Reiter, Frauen in Sänften und Wagen begegnet waren, senkte sich die Straße sanft in eine grüne Ebene hinab, deren eine Seite von einem grauen Felsen abgeschlossen war, während die andre in eine Wiese von frühlingshafter Frische führte. Nun 202

sahen sie die berühmte Quelle von Castalia. Ben Hur drängte sich durch die um den Quell Versammelten und sah einen kräftigen Wasserstrahl, der sich aus einem Felsen in ein schwarzes Marmorbecken ergoß, wo er nach vielem Schäumen und Zischen wie durch einen Trichter verschwand. Neben dem Becken saß unter einem kleinen, in den Felsen gehauenen Bogen ein alter, bärtiger, runzliger Priester mit Kappe, kein ganz vollkommener Eremit mehr. Es war schwer zu sagen, wer die größere Anziehungskraft ausübte; der immer sprudelnde Quell oder der immer schweigsame Priester. Er hörte, sah, wurde gesehen, aber er sprach kein Wort. Manchmal streckte ihm ein Besucher die Hand mit einem Geldstück entgegen. Er nahm es mit einem listigen Augenzwinkern und reichte ihm dafür ein Papyrusblatt. Der Empfänger beeilte sich, es in den Quell zu tauchen, dann hielt er das tropfende Blatt ins Sonnen­ licht und wurde mit einem Vers belohnt, der auf dem Blatt erschien. Und der Ruhm des Quells erlitt selten Schaden durch die Armut der Dichtung. Ehe Ben Hur das Orakel befragen konnte, näherten sich über die Wiese andere Besucher, deren Erscheinung auch die Neugier Ben Hurs erweckte. Ein ungewöhnlich großes weißes Dromedar wurde von einem Reiter zu Pferde am Zügel geführt. Die goldne und karminrote Houdah auf dem Tier war ungewöhnlich groß. Zwei andere Reiter mit großen Speeren folgten zu Pferde. »Was für ein wunderbares Kamel!« rief einer. »Ein Fürst von weit her«, meinte ein anderer. »Sieht aus wie ein König.« »Wenn er auf einem Elefanten käme, würde ich sagen, er sei ein König.« Ein dritter hatte eine andre Meinung: »Ein Kamel und ein weißes Kamel, bei Apoll, Freunde, die Ankömmlinge sind weder Könige noch Fürsten, es sind Frauen!« Als die Fremden näher gekommen waren, zeigte sich, daß das Kamel alle Erwartungen rechtfertigte, keiner der Anwesen­ 203

den hatte je etwas Ebenbürtiges gesehen. Aber wer waren der Mann und die Frau unter dem Zelt? Als die Neugierigen das hagere, eingesunkene Gesicht des Mannes erblickten, das mit einer Haut wie eine Mumie unter einem riesigen Turban erschien, mußten sie die Vorstellung gewinnen, daß auch für die Großen das Leben seine Grenzen hatte. Sie sahen an ihm nichts Beneidenswertes außer dem kostbaren Schal, den er umgelegt hatte. Die weibliche Gestalt saß nach der Art des Ostens unter dem Zelt in Schleiern und Spitzen. An den nack­ ten Oberarmen trug sie Armspangen in der Form geringelter Nattern und an den Gelenken Armbänder aus Goldfäden. Arme und Hände waren von außerordentlicher Schönheit. Eine Hand, die von dem Sitz herabhing, war mit Ringen geschmückt. Die Fingerspitzen glänzten wie Perlmutter. Auf dem blauschwarzen Haar trug sie ein mit Korallen und Goldmünzen besetztes Netz. Im Widerspruch zu der Gewohnheit der Frauen von Rang war ihr Gesicht nicht verschleiert. Es war jung und von großer Anmut. Die Haut war nicht weiß wie bei den Griechen, nicht brünett wie bei den Römern, nicht gelblich wie bei den Galli­ ern, sie hatte jene Zartheit, wie sie die Sonne des Oberen Nils hervorzaubert, so daß das Blut hindurchzuscheinen schien. Die Augen waren groß und die Lider schwarz gemalt, wie es im Osten üblich war. Es war eine königliche Erscheinung, und sie schaute von ihrem hohen Sitz so ruhig auf die Menge und war so vertieft in ihre Betrachtung, daß sie die Neugier nicht bemerkte, die ihre Erscheinung hervorrief. Als sie genug gesehen hatte, gab sie dem Führer, einem dunkelbraunen Äthiopier, der bis zum Gürtel nackt war, einen Befehl. Er führte das Kamel näher an die Quelle und ließ es in die Knie gehen. Dann gab sie ihm einen Becher und ließ ihn mit dem Wasser der Quelle füllen. In diesem Augenblick brach das Geräusch von Rädern und Pferdehufen in die Stille, die von der Schönheit der Frau heraufbeschworen war, und die Umstehen­ den liefen schreiend auseinander. 204

»Gib acht«, rief Malluch Ben Hur zu, »der Römer wird uns überfahren«, und er sprang beiseite. Ben Hur schaute auf und sah Messala auf seinem Wagen, der seine vier Rosse direkt auf die Menge zusteuerte. Diesmal sah er ihn nahe und deutlich vor sich. Die auseinanderstiebende Menge ließ das Kamel allein auf seinem Platz an der Quelle. Es mochte klüger sein als andre seiner Art, aber die Hufe des Viergespanns waren schon nahe, und es blieb mit geschlossenen Augen liegen und wiederkäute in jener Sicherheit, wie lange Verwöhnung es das Tier gelehrt hatte. Der Äthiopier rang die Hände im Schreck. In der Houdah versuchte der Greis zu fliehen, aber er war viel zu schwach und vergaß selbst in der drohenden Gefahr seine Würde nicht. Auch für die Frau war es zu spät, sich zu retten. Ben Hur stand ihnen am nächsten. Er schrie: »Halt! Sieh, wohin du fährst! Zurück, zurück!« Der Römer lachte in seinem Übermut, und als Ben Hur sah, daß es nur eine Möglichkeit gab, ein Unglück abzuwenden, sprang er zu und fiel dem linken Jochpferd und dem Strang­ pferd in die Zügel. Mit den Worten: »Hund von einem Römer, hast du so wenig Achtung vor dem Leben eines Menschen?« riß er die Pferde mit seiner ganzen Kraft zur Seite. Die beiden Pferde bäumten sich und rissen die andern mit sich, der Wagen drohte umzustürzen. Messala konnte sich gerade noch halten. Sein Myrtilus aber stürzte rückwärts wie ein Klotz zu Boden. Als die Umstehenden die Gefahr beseitigt sahen, brachen sie in Hohngelächter aus. Nun zeigte sich das beispiellose Selbstbewußtsein des Rö­ mers. Er wickelte sich die Leitseile los, stieg ab, ging um das Kamel herum, warf einen Blick auf Ben Hur und sagte, halb zu dem Greis, halb zu der Frau gewendet: »Ich bitte um Verzei­ hung, ich bitte euch beide um Verzeihung. Ich bin Messala, und bei der alten Mutter Erde schwöre ich, daß ich euer Kamel nicht gesehen habe. Was die guten Leute angeht – ich verließ 205

mich vielleicht zu sehr auf meine Geschicklichkeit. Ich wollte mich über sie lustig machen – nun lachen sie über mich. Mag es ihnen gut bekommen!« Der sorglose, fast gutmütige Blick und Ausdruck schien den Umstehenden gut zu diesen Worten zu passen. Sie hofften, noch mehr von ihm zu hören, und waren still. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Myrtilus keinen Schaden genom­ men hatte, gab er ihm ein Zeichen, den Wagen abseits zu führen, und wandte sich keck an die Frau: »Du nimmst Anteil an diesem guten Mann hier? Seine Ver­ zeihung werde ich, wenn sie mir nicht jetzt gewährt wird, später mit größerem Eifer erbitten. Seine Tochter?« Sie gab ihm keine Antwort. »Bei Pallas, du bist schön! Ich möchte wissen, welches Land sich als deine Mutter rühmen kann. Wende dich nicht ab! Mach Frieden mit mir! Die Sonne Indiens ist in deinen Augen. In deine Mundwinkel hat Ägypten seine Liebeszeichen geprägt Wende dich nicht zu jenem Sklaven, edle Herrin, ehe du dich mir gnädig erwiesen hast: Sag mir wenigstens, daß du mir verzeihst!« Jetzt unterbrach sie ihn und wandte sich lächelnd und mit einer graziösen Neigung des Kopfes an Ben Hur: »Nimm den Becher und füll ihn, ich bitte dich. Mein Vater ist durstig.« »Ich bin dein ergebener Diener!« Ben Hur wandte sich und stand Auge in Auge mit Messala. Sie schauten sich an, der Jude herausfordernd, der Römer voll kecker Laune. »O Fremde, bist du so grausam, wie du schön bist?« fuhr Messala fort und hob seine Hand zu der Frau: »Wenn Apollo dich nicht entführt, sollst du mich wiedersehen. Da ich dein Land nicht kenne, kann ich dich keinem Gott empfehlen. So – bei allen Göttern – will ich dich mir empfehlen!« Da er sah, daß der Myrtilus sein Viergespann wieder in Ord­ nung gebracht hatte, ging er zu seinem Wagen. Die Frau sah 206

ihm nach, und was auch sonst in ihrem Blick lag – es war kein Mißfallen darin. Sie empfing von Ben Hur den Becher. Ihr Vater trank, dann hob sie den Becher an ihre Lippen und gab ihn mit einer bezaubernden Geste Ben Hur: »Nimm ihn, ich bitte! Er ist voller Segenswünsche für dich!« Als sich das Kamel erhoben hatte, rief der Greis Ben Hur zu sich: »Du hast heute uns Fremden einen großen Dienst erwie­ sen. Es gibt nur einen Gott. Und in seinem heiligen Namen danke ich dir. Ich bin Balthasar, der Ägypter, und bin mit meiner Tochter Gast in dem großen Palmenhain bei dem Dorf von Daphne in den Zelten des Scheiks Ilderim, des Gütigen. Suche uns dort auf! Dankbar sollst du uns willkommen sein.« Ben Hur blieb staunend zurück über des alten Mannes klare Stimme und würdige Haltung. Als er den beiden nachsah, sah er auch Messala davonfahren, so wie er gekommen war: heiter, sorglos und mit einem spöttischen Lachen.

Besprechung über das Wagenrennen Der Vorgang, den Malluch aus der Entfernung mit angesehen hatte, erhöhte Ben Hur in seiner Achtung, da er ihm weder Mut noch Takt absprechen konnte. Gelang es ihm nun, noch etwas von der Geschichte des jungen Mannes zu erfahren, so war das Ergebnis dieses Tages nicht nutzlos für den guten Herrn Simonides. Zwei Dinge waren sicher: Er war ein Jude und der Adoptivsohn eines berühmten Römers. Außerdem glaubte er richtig beobachtet zu haben, daß zwischen Messala und dem Sohn des Duumvir irgendeine Beziehung bestand. Aber worin bestand sie? Und wie konnte er Gewißheit darüber erlangen? In dieser Verlegenheit kam ihm Ben Hur selbst zu Hilfe. Er fand ihn unter der Menge, legte ihm die Hand auf den 207

Arm und fragte ihn: »Guter Malluch, kann ein Mann seine Mutter vergessen?« Die Frage kam so direkt und unerwartet, daß sie Malluch bestürzte. Er schaute Ben Hur ins Gesicht, um nach einer Erklärung zu suchen, aber er sah statt dessen zwei rote Flecken auf seinen Backen und in seinen Augen Spuren unterdrückter Tränen. So antwortete er ganz mechanisch: »Nein«, und mit Nachdruck: »Niemals!« Und einen Augenblick später sagte er: »Wenn er ein Israelit ist, niemals!« Und nach einer Weile hatte er sich gefaßt: »In meiner ersten Stunde in der Synagoge lehrte man das Schema; in meiner nächsten hörte ich Sirachs Aus­ spruch: ›Ehre deinen Vater aus ganzer Seele und vergiß nicht die Schmerzen deiner Mutter!‹« Die roten Flecken in Ben Hurs Gesicht vertieften sich: »Die­ se Worte bringen mir meine Kindheit zurück, und sie bezeugen dich, Malluch, als echten Juden. Ich glaube, ich darf dir ver­ trauen.« Ben Hur nahm seine Hand von Malluchs Arm und preßte die Falten seines Kleides auf die Brust, als müsse er einen Schmerz unterdrücken: »Mein Vater trug einen guten Namen und war nicht ohne Ehre in Jerusalem, wo er wohnte. Meine Mutter war bei ihrem Tode im besten Frauenalter, und es genügt nicht, von ihr zu sagen, daß sie gut und schön war. Auf ihrer Zunge lag das Gesetz der Güte, und ihre Taten wurden an allen Toren gepriesen. Sie freute sich an jedem Tag, der kam. Ich hatte eine kleine Schwester, und wir waren eine so glückliche Familie, daß ich kein Unrecht sah, mit dem alten Rabbi zu sagen: ›Gott kann nicht überall sein und darum schuf er Mütter!‹ Eines Tages hatte ein hoher Römer einen Un­ glücksfall, als er an der Spitze seiner Kohorte an unserm Haus vorbeiritt. Die Legionäre brachen die Tore auf und drangen in unser Haus. Seit dem Tage habe ich meine Mutter und meine Schwester nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob sie noch leben oder ob sie tot sind. Aber, Malluch, der Mann auf dem Rennwagen dort war anwesend bei unserer Trennung. Er 208

übergab uns den Römern, er hörte die Bitten meiner Mutter für ihre Kinder und lachte, als sie uns wegführten. Man kann schwer sagen, was sich tiefer ins Gedächtnis gräbt: Liebe oder Haß. Heute sah ich ihn von ferne – und, Malluch…«, er packte wieder den Arm seines Gefährten, »er kennt und trägt mit sich das Geheimnis, für das ich mein Leben geben würde: Er könnte mir sagen, ob meine Mutter lebt und wo sie ist und was mit ihr geschehen ist; ob sie beide tot sind. Er könnte mir sagen, wo sie starben und woran.« »Und will er nicht?« »Nein.« »Warum?« »Ich bin ein Jude, und er ist ein Römer.« »Aber Römer haben Zungen, und Juden, sosehr sie auch verachtet sind, haben Mittel, sie zum Sprechen zu bringen.« »Seinesgleichen? Nein! Außerdem ist es ein Staatsgeheimnis. Der ganze Besitz meines Vaters wurde eingezogen und ver­ teilt.« Malluch nickte bedächtig, als lasse er das Argument gelten, dann fragte er: »Hat er dich erkannt?« »Er konnte nicht. Ich war zu lebendigem Tode verurteilt und werde längst zu den Toten gezählt.« »Mich wundert, daß du ihn nicht erschlagen hast.« »Das würde mir ihn für meine späteren Pläne entzogen ha­ ben. Ich hätte ihn töten müssen, und der Tod, du weißt es, bewahrt die Geheimnisse noch besser als ein schuldiger Rö­ mer. Ich will ihm nicht das Leben nehmen, guter Malluch, sondern ich will ihn strafen, und wenn du mir helfen willst, werde ich es versuchen.« »Er ist ein Römer«, antwortete Malluch ohne Zögern, »und ich bin aus dem Stamme Juda. Ich will dir helfen. Wenn du willst, setze mich unter Eid, unter den feierlichsten Eid.« »Gib mir deine Hand, das genügt mir.« – Nachdem es ge­ schehen war, fuhr Ben Hur mit leichterem Herzen fort: »Was 209

ich dir auftragen will, ist nicht schwer, guter Freund, noch belastet es dein Gewissen. Laß uns gehen!« Sie schlugen den Weg rechts über eine Wiese ein, auf der sie zu der Quelle gekommen waren. »Kennst du Scheik Ilderim, den Gütigen?« fragte Ben Hur. »Ja.« »Wo ist sein Palmengarten, oder besser, Malluch, wie weit ist es vom Dorf Daphne?« Malluch wurde von einem Zweifel berührt. Er erinnerte sich an die Gabe der Frau an der Quelle und wunderte sich, daß jemand, den die Sorgen um eine Mutter quälten, sie vergessen könnte um einer Verlockung der Liebe. Aber er antwortete: »Der Palmenhain ist vom Dorf in zwei Stunden zu Pferde, in einer auf einem schnellen Kamel zu erreichen.« »Ich danke dir. Und ich nehme deine Kenntnisse noch einmal in Anspruch: Sind die Rennen, von denen du sprachst, öffent­ lich? Wann finden sie statt?« Malluch antwortete ihm mit einer gewissen Neugier, da Ben Hurs Fragen wohl eine besondere Bedeutung zugrunde liegen mußte: »Vor einem Monat erschienen Herolde in allen vier Teilen der Stadt und verkündeten die Eröffnung des Zirkus für eine Festlichkeit, die der reiche Präfekt für den Konsul Maxen­ tius gibt, der hier die letzten Vorbereitungen für einen Kriegszug gegen die Parther trifft. Der Name des Präfekten garantiert im ganzen Osten für die Vorführungen. Alle Leute von den Inseln und den Städten am Meer werden hier sein, mit ihnen die berühmtesten Wettkämpfer. Die Preise sind könig­ lich.« »Und der Zirkus? Ich hörte, er sei der größte nach dem Ma­ ximus?« »Du meinst den in Rom? Wir haben Zweihunderttausend Plätze, Rom hat fünfundsiebzigtausend mehr. Euer Zirkus ist aus Marmor, der unsre auch. In der Einrichtung gleichen sie sich genau.« 210

»Sind die Kampfregeln auch gleich?« »Wenn Antiochia wagen würde, seine eigenen aufzustellen, dann, Sohn des Arrius, wäre Rom nicht die Herrin, die sie ist. Die Gesetze im Zirkus Maximus gelten auch hier, mit einer Ausnahme: Dort dürfen nur vier Wagen zugleich laufen, hier ist ihre Zahl unbegrenzt.« »Das ist griechischer Brauch.« »Ja, Antiochia ist mehr griechisch als römisch.« »Ich kann also meinen eigenen Wagen wählen?« »Deinen eigenen Wagen und deine eigenen Pferde. In dieser Hinsicht gibt es keine Beschränkungen.« »Noch etwas, Malluch. Wann ist das Fest?« »Oh, verzeih! Morgen oder übermorgen landet der Konsul, wenn ihm, um im römischen Stil zu sprechen, die Meeresgötter gnädig sind. Ja, in sechs Tagen, von heute gerechnet, haben wir die Rennen.« »Die Zeit ist kurz, Malluch, aber sie genügt. Bei den Prophe­ ten unsers alten Israel! Ich will die Zügel wieder nehmen. Halt! Eine Bedingung! Ist es sicher, daß Messala auftreten wird?« Malluch erkannte nun den Plan und die Gelegenheit, den Römer zu demütigen. Und er hätte nicht der wahre Nachkom­ me Jakobs sein müssen, wenn er nicht mit all dem erwachten Interesse alle Konsequenzen bedacht hätte. Seine Stimme zitterte, als er fragte: »Hast du Erfahrung und Übung?« »Sei ohne Sorge, mein Freund. Im Zirkus Maximus erhielten in diesen letzten drei Jahren die Sieger ihren Kranz nach meinem Belieben. Frage sie, frage die besten Kämpfer – und sie werden es dir bestätigen. Bei den letzten großen Rennen bot sich mir der Kaiser selbst als Schutzherr an, wenn ich seine Pferde führen und gegen die ganze Welt in die Schranken treten wollte.« »Aber du tatest es nicht?« »Ich – ich bin ein Jude« – Ben Hur schien zu sich selbst zu sprechen – »und wagte nicht, obwohl ich einen römischen 211

Namen trug, gegen Geld etwas zu tun, was meines Vaters Namen in den Vorhöfen und im Tempel selbst beflecken könnte. In den Kampfschulen konnte ich es tun; im Zirkus wäre es Frevel gewesen. Und wenn ich hier teilnehme, so schwöre ich dir, daß es nicht wegen der Geldpreise geschieht.« »Halt, schwöre das nicht!« rief Malluch. »Der Preis ist zehn­ tausend Sesterzen, ein ganzes Vermögen!« »Nicht für mich, und wenn der Präfekt ihn fünfzigmal ver­ dreifachte, mehr als das, mehr als alle kaiserlichen Einkünfte seit den ersten Cäsaren – ich mache dieses Rennen nur, um meinen Feind zu demütigen. Rache ist vom Gesetz erlaubt.« Malluch lächelte, als ob er sagen wollte: Recht, Recht, lehre einen Juden einen Juden verstehen! »Messala wird fahren. Er hat sich mehrfach zu den Rennen verpflichtet durch Ankündigungen auf den Straßen, in den Bädern und Theatern, den Palästen und den Kasernen, und dann steht sein Name auf den Notiztafeln jedes jungen Ver­ schwenders in Antiochia. Das erlaubt ihm keinen Rücktritt.« »Für Wetten?« »Ja, für Wetten. Und jeden Tag kommt er prahlerisch zu den Probefahrten, wie du heute gesehen hast.« »Und das ist der Wagen, das sind die Pferde, mit denen er sich am Rennen beteiligt? Dank, Malluch! Du hast mir gute Dienste erwiesen. Ich bin zufrieden. Nun sei noch mein Führer zum Palmengarten. Führe mich bei Scheik Ilderim ein!« »Wann?« »Heute. Morgen könnten die Pferde schon vergeben sein.« »Sie gefallen dir also?« »Ich sah sie von meinem Platz nur einen Augenblick. Dann erschien Messala, und ich hatte für nichts anderes mehr Augen. Dennoch erkannte ich die Pferde als Abkömmlinge derer, die das Wunder und der Ruhm der Wüsten sind. Ich habe nie dergleichen gesehen, mit Ausnahme im Gestüt des Kaisers. Hat man sie einmal gesehen, erkennt man sie immer wieder. 212

Morgen, wenn ich dir begegne, Malluch, werde ich dich erkennen, selbst wenn du mich nicht grüßt. Ich kenne dich an deinem Gesicht wieder, an deiner Gestalt, deiner Art. Und durch dieselben Zeichen und mit derselben Sicherheit erkenne ich die Pferde wieder. Wenn alles wahr ist, was von ihnen gesagt wurde, und wenn ich ihren Geist unter den meinen bringen kann, dann kann ich…« »Die Sesterzen gewinnen«, lachte Malluch. »Nein«, antwortete Ben Hur ebenso rasch. »Ich werde tun was einem Nachkommen Jakobs besser ansteht: Ich will meinen Feind vor aller Öffentlichkeit demütigen. – Aber wir verlieren unsre Zeit. Wie kommen wir am schnellsten zu den Zelten des Scheiks?« Malluch dachte einen Augenblick nach. »Es ist am besten, wir gehen direkt zum Ort, der glückli­ cherweise in der Nähe ist, und versuchen zwei schnelle Kamele zu mieten.« »Versuchen wir es!« Der Ort bestand aus Palästen in herrlichen Gärten und aus Khans der fürstlichen Art. Kamele waren vorhanden, und der Ritt zu dem berühmten Palmengarten begann.

Ben Hur hört von Christus Hinter dem Ort tat sich wellenförmig die wohlbebaute Land­ schaft auf, in der Tat der Garten Antiochiens, in dem jeder Fußbreit Boden nutzbar gemacht war. Die steilen Abhänge der Hügel waren terrassenförmig angelegt. Selbst die Umzäunun­ gen waren voll mit Reben bewachsen und boten dem Reisenden Schatten und die Erwartung der reifenden purpurnen Trauben. Aus den Melonenfeldern, den Aprikosen- und Fei­ genbäumen, aus den Orangen- und Zitronenhainen leuchteten 213

die weißgetünchten Häuser der Bauern hervor. Überall entfalte­ te sich Fruchtbarkeit, die lächelnde Tochter des Friedens. Für diese das Herz erfreuenden Gaben zahlten sie sogar gern ihre Steuern an Rom. Man konnte von hier bis zum Taurus und Libanon sehen, zwischen denen sich das Silberband des Oron­ tes dahinschlang. Die Gefährten folgten den Windungen des Flusses durch Täler und über Hügel. Überall grünte die Land­ schaft von Eichen, Sykomoren und Myrte. Der Fluß mit seinem Strom von Schiffen deutete auf die Nähe des Meeres, ferne Völker und berühmte Orte und seltene Dinge. Ben Hur und Malluch erreichten bald eine Bucht, die vom Stauwasser des Flusses gebildet war und klar, tief und unbeweglich dalag. Eine alte Palme beherrschte den Eingang. Als sie sich von dort nach links wendeten, klatschte Malluch in die Hände: »Sieh dort! Der Palmengarten!« Nichts Herrlicheres war denkbar. Das Bild war ähnlich den schönsten Oasen Arabiens oder den ptolemäischen Gütern am Nil. Die Ebene erstreckte sich endlos. Weite, üppige Wiesen, eine Seltenheit in Syrien, breiteten sich vor ihnen, riesige Dattelpalmen unter dem blaßblauen Himmel, das kühle, klare Gewässer – konnte der Hain der Daphne schöner sein? Malluch wies Ben Hur auf einen dieser Baumriesen hin: »Jeder Ring an seinem Stamm bedeutet ein Jahr seines Lebens. Zähle sie von den Wurzeln bis zum Ansatz der Zweige! Und wenn dir der Scheik erzählt, daß der Hain gepflanzt wurde, ehe Antiochien etwas von den Seleukiden wußte, dann glaube ihm aufs Wort.« »Als ich den Scheik Ilderim zum erstenmal sah, schien er mir ein recht gewöhnlicher Mann. Ich meinte, die Rabbis von Jerusalem würden auf ihn herabsehen und ihn als einen Hunde­ sohn Edoms verachten. Wie kam er in den Besitz dieses Hains, und wie konnte er ihn gegen die Raubsucht der römischen Gouverneure schützen? Wenn Alter der Abstammung ein Vorzug ist, dann ist Ilderim von hohem Adel, obwohl er ein 214

Edomiter ist. Alle seine Vorfahren waren Scheiks. Einer half einst einem König, der von seinen Feinden verfolgt wurde. Man erzählt, daß er ihm mit tausend Reitern zu Hilfe kam, die alle Verstecke der Wildnis kannten, so wie die Hirten die kahlen Berge kennen, auf denen sie ihre Herden hüten. Sie brachten ihn von Ort zu Ort, bis sie die Möglichkeit hatten, seine Feinde mit ihren Speeren zu töten. Dann setzten sie ihn wieder auf seinen Thron. Der König belohnte diese Dienste und brachte sie hierher. Er lud sie ein, hier ihre Zelte aufzu­ schlagen, ihre Familien und Herden herzubringen, und schenkte ihnen und ihren Kindern alles Land vom Fluß bis zum nächsten Berg als ewiges Eigentum. Es ist ihnen nie bestritten worden. Die späteren Herrscher fanden es richtig, mit den Stämmen in gutem Einvernehmen zu leben, denen der Herr so viele Menschen, Pferde, Kamele und Reichtümer gegeben hatte. Die Stämme beherrschten manche Handelsstraße zwi­ schen den Städten und konnten nach ihrem Belieben die Kaufleute ziehen lassen oder ihnen Halt gebieten. Selbst der Präfekt in der Zitadelle, die Antiochia überragt, war glücklich, als Ilderim, der wegen seiner vielen guten Taten den Beinamen ›der Gütige‹ führt, mit seinen Frauen und Kindern, seinem Gefolge an Dienern und all seinen Tieren, der wie unser Vater Abraham umherzieht, seine Einsamkeit verließ und hierher­ kam.« »Aber wie ist das«, wandte Ben Hur ein, »ich sah, wie der Scheik sich an seinem Bart zog, weil er sich verfluchte, einem Römer vertraut zu haben. Wäre dieses Wort zum Kaiser ge­ langt, hätte er gewiß gesagt: ›Ein solcher Freund gefällt mir nicht. Fort mit ihm!‹ « »Du hast recht«, lächelte Malluch. »Ilderim liebt Rom nicht, er hat Grund dazu. Vor drei Jahren zogen die Parther auf der Straße von Bosra nach Damaskus und überfielen eine Karawa­ ne, die neben andern Dingen auch die Steuern eines Bezirks mit sich führte. Sie erschlugen alle Gefangenen. Den Mord 215

hätten ihnen die Beamten in Rom vergeben, wenn sie den kaiserlichen Schatz abgeliefert hätten. Die Steuerpächter, die den Verlust tragen mußten, beklagten sich bei dem Kaiser. Dieser verlangte Ersatz von Herodes, und Herodes nahm Besitz von Ilderims Eigentum unter dem Vorwand, er habe seine Pflicht verräterisch versäumt. Der Scheik wandte sich an den Kaiser, aber der gab ihm eine Antwort, wie sie blinzelnd wohl die Sphinx erteilt hätte. Seitdem leidet der Greis unter dem ihm angetanen Schimpf und wartet auf eine Gelegenheit zur Ra­ che.« »Er kann nichts tun, Malluch.« »Ich will dir das später erklären – sieh, hier beginnt schon die Gastfreundschaft Ilderims. Die Kinder hier sprechen mit dir.« Die Kamele hielten an, und Ben Hur sah auf ein paar kleine syrische Bauernmädchen hinunter, die ihm Feigen in einem Körbchen anboten. Sie waren frisch gepflückt und durften nicht abgewiesen werden. Als er sie nahm, rief ein Mann vom Baum unter dem sie hielten: »Friede sei mit euch! Willkom­ men!« Sie dankten den Kindern und ritten weiter. »Du mußt wissen«, nahm Malluch das unterbrochene Ge­ spräch wieder auf, »daß ich das Vertrauen des Handelsherrn Simonides genieße und daß er mich manchmal damit auszeich­ net, mich um Rat zu fragen. Bei einem Besuch in seinem Hause machte ich die Bekanntschaft vieler seiner Freunde, auch die des Scheiks Ilderim.« Für einen Augenblick sah Ben Hur in seinem Geiste das Bild der reinen, sanften und bittenden Esther, des Kaufmanns Tochter. Ihre tiefschwarzen Augen mit dem eigentümlichen jüdischen Glanz begegneten bescheiden den seinen, er hörte ihre Schritte, als sie ihm den Becher darbot. Er fühlte das Mitgefühl, das sie ihm so deutlich bezeigt hatte, daß es keiner Worte bedurfte. Das schöne Bild floh, als Malluch weitersprach. »Vor ein paar Wochen besuchte der alte Araber Simonides, 216

als ich bei ihm war. Da ich spürte, daß ihn irgend etwas sehr bewegte, wollte ich gehen, aber er verbot es mir. ›Da du ein Israelit bist, bleibe, denn ich habe eine merkwürdige Geschich­ te zu erzählen.‹ Der Nachdruck, den er auf das Wort Israelit legte, machte mich neugierig, und ich blieb. Und das ist seine Geschichte: Vor vielen Jahren kamen einst drei Männer zu Ilderims Zelt in der Wüste, drei Fremde: ein Hindu, ein Grie­ che, ein Ägypter. Sie kamen auf riesigen weißen Dromedaren, wie man sie nur selten sieht. Ilderim begrüßte sie und nahm sie auf. Am nächsten Morgen erhoben sie sich und beteten ein Gebet zu Gott und seinem Sohn, und zwar in so seltsamen Worten, wie sie der Scheik noch nie gehört hatte. Nach dem Frühstück erzählte der Ägypter, wer sie waren und woher sie kamen. Jeder von ihnen hatte einen Stern gesehen und eine Stimme gehört, die sie aufgefordert hatte, nach Jerusalem zu gehen und zu fragen: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Sie gehorchten. Von Jerusalem waren sie von dem Stern nach Bethlehem geführt worden, wo sie in einer Höhle ein neugeborenes Kind fanden. Sie fielen vor ihm in die Knie, beteten es an und brachten ihm kostbare Geschenke. Dann setzten sie sich, ohne zu verweilen, auf ihre Dromedare und flohen zu dem Scheik, weil sie fürchteten, Herodes, sie meinten den mit dem Beinamen ›der Große‹, werde seine Hände auf sie legen und sie töten. Wie er es gewohnt war, nahm sich der Scheik ihrer an und hielt sie ein Jahr lang verborgen. Dann nahmen sie Abschied von ihm, ließen ihm kostbare Geschenke zurück und ritten davon, jeder auf seinem eigenen Weg.« »Das ist wahrhaftig eine höchst wunderbare Geschichte!« rief Ben Hur aus. »Was sagtest du, sollten sie in Jerusalem fra­ gen?« »Wo ist der neugeborene König der Juden?« »Das war alles?« »Es war noch mehr, aber ich erinnere mich nicht.« »Und sie fanden das Kind?« 217

»Ja, und sie beteten es an.«

»Das ist ein Wunder, Malluch.«

»Ilderim ist ein ernster Mann, wenn auch erregbar wie alle

Araber, aber eine Lüge auf seiner Zunge ist undenkbar«, entgegnete Malluch ernst. Die Kamele ließen sich während des Gesprächs das Gras neben der Straße schmecken. »Hat Ilderim nichts mehr von den drei Männern gehört? Was wurde aus ihnen?« fragte Ben Hur. »O ja, das war der Grund seines Besuches bei Simonides, von dem ich sprach. Gerade am Abend zuvor war der Ägypter wieder bei ihm erschienen.« »Wo?«

»Hier vor dem Zelt, zu dem wir jetzt reiten.«

»Wie erkannte er den Mann?«

»So wie du heute die Pferde erkanntest – von Angesicht und

an seinem Wesen.« »Sonst an nichts?« »Er ritt auf demselben großen weißen Dromedar und nannte sich wie damals: Balthasar, der Ägypter.« »Es ist ein Wunder Gottes!« rief Ben Hur erregt. »Inwiefern?« fragte Malluch erstaunt. »Du sagtest Balthasar?« »Ja, Balthasar, der Ägypter.« »Das war der Name, den der Greis heute am Quell nannte.« Bei dieser Erinnerung wurde auch Malluch von Erregung gepackt: »Das ist wahr, und sein Dromedar war groß und weiß – und du rettetest ihm das Leben.« »Und die Frau war seine Tochter«, sagte Ben Hur wie zu sich selbst. »Sag mir noch einmal«, drängte Ben Hur, »was die drei frag­ ten: ›Wo ist der, der König der Juden sein wird?‹ « »Nicht genauso. Die Worte waren: ›der neugeborene König der Juden!‹ So hörte sie der Scheik zuerst in der Wüste, und seither erwartet er die Ankunft des Königs. Nichts kann seinen 218

Glauben erschüttern, daß er kommen wird.« »Wie – als König?« »Ja, und um das Schicksal Roms zu erfüllen – so sagt der Scheik.« Ben Hur verfiel wieder in nachdenkliches Schweigen und versuchte, seine Ruhe wiederzugewinnen: »Der alte Mann«, sagte er langsam, »ist einer von vielen Millionen, die ein Unrecht zu rächen haben. Dieser Glaube ist Brot und Wein für seine Hoffnung. Denn wer anders als Herodes kann der König der Juden sein, solange Rom regiert? Doch hörtest du, was Simonides zu der Geschichte sagte?« »Wenn Ilderim ein ernster Mann ist, dann ist Simonides ein weiser Mann«, antwortete Malluch. »Er sagte – aber horch, jemand holt uns ein!« Das Geräusch wurde lauter. Sie konnten schließlich das Rollen von Rädern und den Hufschlag von Pferden unterscheiden, und einen Augenblick später erschien Scheik Ilderim mit großem Gefolge und dem Wagen mit den vier weinroten Rossen. Der Scheik hatte sein Kinn mit dem langen weißen Bart auf die Brust gesenkt, aber er hob seinen Kopf, als sie ihm ein Zeichen gaben, und sprach freundlich mit ihnen. »Friede sei mit euch! Oh, mein Freund Malluch, willkom­ men! Und sage nicht, daß du gehst, sondern erst kommst, und daß du mir irgend etwas von dem guten Simonides zu sagen hast. Möge ihn der Gott unsrer Väter noch viele Jahre am Leben erhalten! Nehmt eure Zügel wieder auf und folgt mir beide. Ich habe Brot und Wein oder, wenn ihr lieber wollt, Arrak und das Fleisch junger Zicklein. Kommt!« Sie folgten ihm bis zum Eingang des Zeltes. Dort empfing er sie, nachdem sie abgestiegen waren, mit drei Bechern eines rahmartigen Getränks auf einer Platte, das er einer rauchge­ schwärzten Lederflasche entnommen hatte. »Trinkt«, sagte er herzlich, »trinkt, das ist die Herzstärkung der Zeltbewohner!« Jeder trank den Becher bis zum Grund aus. 219

»Und nun tretet ein im Namen Gottes!« Im Zelt nahm Malluch den Scheik beiseite und sprach mit ihm. Danach trat er zu Ben Hur und entschuldigte sich: »Ich habe dem Scheik von dir erzählt, und er wird dir morgen früh die Pferde zur Probe geben. Er ist dein Freund. Ich habe für dich alles getan, was ich konnte, das andere mußt du tun. Ich muß nach Antiochia zurück, wo mich jemand am Abend erwartet. Ich muß gehen. Ich werde morgen wiederkommen, wenn alles in der Zwischenzeit gut geht, und werde bei dir bleiben bis nach dem Rennen.«

Der weise Diener und seine Tochter Als das untere Horn des Neumonds die Zinnen der Fe­ stungsmauer auf dem Berg Sulpius berührte und zwei Drittel aller Einwohner Antiochias sich auf ihren Dächern im Nacht­ wind erfrischten oder sich mit Fächern Kühlung zuwehten, wenn der Luftzug ausblieb, saß Simonides in seinem Sessel und schaute auf der Terrasse hinab auf den Fluß bis zum jenseitigen Ufer. Auf der Brücke über ihm zog eine endlose Menge dahin. Esther hielt dem Vater eine Platte hin, auf der sein einfaches Mahl stand: weißes Brot, Honig und Milch. »Malluch verspätet sich heute«, sagte Simonides und zeigte damit, wo seine Gedanken waren. »Glaubst du, daß er noch kommt?« fragte sie. »Wenn er nicht auf dem Wasser oder in der Wüste ist, um dem jungen Mann zu folgen, wird er kommen«, antwortete er bestimmt. »Vielleicht schreibt er.« »Nein, Esther. Er hätte mir einen Brief geschickt, wenn er nicht hätte kommen können.« 220

»Ich hoffe es!« Etwas in ihrem Ausdruck erregte seine Aufmerksamkeit, sei es der Ton, sei es der Wunsch, den sie zum Ausdruck brachte. »Du wünschst es, daß er kommt, Esther?« »Ja«, sagte sie und schaute ihn an. »Warum? Kannst du mir das sagen?« bedrängte er sie. »Weil«, sie zögerte, »weil der junge Mann…« »Unser Herr ist. Meinst du das?« »Ja.« »Und du bist noch immer der Meinung, ich sollte nicht dul­ den, daß er geht, ohne daß ich ihn einlade, er solle kommen, wenn es ihm beliebt, und uns alles nehmen – was wir haben, Esther, unsre Waren, das Geld, die Schiffe, die Diener, den unermeßlichen Kredit, diesen Mantel, aus Gold und feinstem Silber für mich gewebt von den mächtigsten Engeln des Men­ schen – dem Erfolg?« – Sie antwortete nicht. »Bewegt dich das nicht? Nein? Nun gut, Esther, ich habe gefunden, daß die schlimmste Wirklichkeit niemals unerträg­ lich ist, wenn sie einmal aus der dunklen Wolke hervorgetreten ist, in der wir sie zuerst erblickten – nicht einmal die Folter. Ich denke, es wird auch so mit dem Tode sein. Nach dieser Philo­ sophie mag auch die Leibeigenschaft, der wir entgegengehen, nach einer Weile süß sein. Welch ein Günstling des Glücks ist doch unser Herr! Sein Vermögen kostet ihn nichts – keine Sorge, keinen Tropfen Schweiß, nicht soviel wie einen Gedan­ ken. Es fällt ihm unverdient zu, noch dazu in seiner Jugend. Und, Esther, laß mich ein wenig Eitelkeit mit dieser Betrach­ tung verschwenden, er erhält, was er auf keinem Markt mit seinem ganzen Mammon kaufen kann – dich, mein Kind, mein Liebling, du Blüte vom Grabmal meiner verlorenen Rahel!« Er zog sie an sich und küßte sie zweimal – einmal für sie selbst, ein zweites Mal für ihre Mutter. »Sprich nicht so«, bat sie. »Wir wollen besser von ihm den­ ken. Er weiß, was Kummer ist, und wird uns freilassen.« 221

»Du hast feine Instinkte, Esther, und du weißt, daß ich mich ihrer in manchem zweifelhaften Fall bedient habe, wenn eine Person vor uns stand wie er heute morgen. Aber, aber«, seine Stimme wurde lauter und härter, »diese Glieder, die mich nicht mehr tragen, sind nicht alles, was ich ihm von mir bringe. O nein, nein! Ich bringe ihm eine Seele, die manche Folter überstanden hat, und römische Niedertracht, die schlimmer ist als die Folter. Ich bringe ihm einen Geist, der Augen hat, Gold zu erkennen aus weiterer Ferne, als Salomos Schiffe segelten, und die Kraft, es herbeizubringen, hier in meine flache Hand, die fähig ist, es zu halten, damit es keine Flügel bekommt auf eines anderen Wort – einen Geist, der planen kann.« Er hielt inne und lachte. »Ehe der Neumond, den sie in diesem Moment in den Vorhöfen des Tempels auf dem Heiligen Hügel feiern, in sein nächstes Viertel getreten ist, könnte ich die Welt er­ schüttern, so daß sogar der Kaiser zittern würde; denn du weißt, mein Kind, ich besitze die Gabe, die wichtiger als alles ist, Menschen meinem Willen geneigt zu machen und sie treu zu seiner Erfüllung anzuhalten, eine Gabe, mit der ich mich ins Hundert- und Tausendfache vervielfältige. Deshalb befahren die Kapitäne meiner Schiffe die Meere und bringen mir ehrli­ chen Gewinn, deshalb folgt Malluch dem jungen Herrn und wird…« In diesem Augenblick hörte man Schritte auf der Terrasse. »Ha, Esther, sagte ich es nicht? Er ist hier, und wir werden Nachricht erhalten. Um deinetwillen, mein Kind, bitte ich den Herrn, unsern Gott, der die irrenden Schafe Israels nicht vergessen hat, daß die Nachricht gut und tröstlich ist. Nun werden wir wissen, ob er dich in all deiner Schönheit gehenlas­ sen will und mich mit all meinen Gaben.« Malluch trat zu dem Sessel. »Friede sei mit dir, guter Herr«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung, »und mit dir, Esther, der besten aller Töchter!« Er stand ehrerbietig vor ihnen, seine Haltung war nicht leicht zu bestimmen. Er war sowohl ein Diener wie ein Vertrauter 222

und Freund. Nachdem Simonides seinen Gruß erwidert hatte, ging er direkt auf seinen Auftrag ein: »Was gibt es über den jungen Mann, Malluch?« Malluch erzählte ruhig und mit den einfachsten Worten von den Ereignissen des Tages. Niemand unterbrach ihn. »Ich danke dir, Malluch, ich danke dir! Du hast es gut ge­ macht. Keiner hätte es besser gekonnt. Was hältst du von der Nationalität des jungen Mannes?« »Er ist ein Israelit, guter Herr, und aus dem Stamme Judah.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher!« »Mir scheint, er hat dir nicht viel von seinem Leben erzählt?« »Er hat gelernt, vorsichtig zu sein. Ich möchte ihn mißtrau­ isch nennen. Er wies alle meine Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen, zurück, bis wir von der Quelle Castalia zum Dorfe Daphne gingen.« »Warum ging er dahin, zu diesem Ort der Greuel?« »Ich möchte sagen: aus Neugier, wie die meisten. Aber son­ derbar, die Dinge, die er sah, interessierten ihn nicht. Guter Herr, der junge Mann trägt einen Seelenschmerz, den er ver­ bergen möchte. Er ging zum Hain, denke ich, wie zu den Gräbern unsrer Toten. Er wollte ihn begraben.« »Gut, wenn es so wäre. Malluch, der Fluch unserer Zeit ist Verschwendungssucht. Der Arme macht sich ärmer, indem er den Reichen nachäfft, und die Halbreichen leben wie die Fürsten. Sahst du in dem Jüngling Zeichen dieser Schwäche? Prahlte er mit Geld, mit römischer oder jüdischer Münze?« »Nein, nein, guter Herr.« »Aber gewiß, Malluch, wo es so viele Anreize zur Torheit gibt – so viel zu essen und zu trinken, gewiß hat er dir irgend­ ein verschwenderisches Angebot gemacht. Schon seine Jugend, wenn nichts anderes, würde ihm das Recht dazu geben?« »In meiner Gesellschaft aß er nichts, noch trank er.« »Konntest du nicht aus dem, was er sagte oder tat, irgendwie 223

seine inneren Absichten erkennen? Du weißt, auch dem Vor­ sichtigsten entschlüpft dann und wann ein unbewachter Gedanke.« »Erkläre dich näher!« »Nun, du weißt, in allem, was wir reden oder tun, werden wir von einem Beweggrund geleitet.« »Darüber kann ich wohl Auskunft geben, Meister Simonides. Er widmet sich ganz der Aufgabe, seine Mutter und Schwester zu finden – das ist sein erster Gedanke. Dann trägt er einen tiefen Haß gegen Rom. Und was den Messala betrifft, von dem ich dir sagte, daß er etwas zu tun hat mit dem Unrecht, das ihm geschehen ist, so hat er nur dessen Demütigung im Sinn. Die Begegnung schuf ihm eine Gelegenheit, aber sie war ihm nicht öffentlich genug.« »Besitzt Messala Einfluß?« »Ja. Aber die nächste Begegnung wird im Zirkus sein.« »Gut – und dann?« »Der Sohn des Arrius wird gewinnen.« »Woher weißt du das?« Malluch lächelte: »Ich urteile nach seinen Worten.« »Ist das alles?« »Nein, es gibt noch ein besseres Zeugnis – seinen Mut.« »Gut, Malluch, aber seine Idee der Rache – was ist sein Ziel? Begrenzt sie sich auf jene, die ihm Unrecht getan haben? Oder umfaßt sie mehr? Und weiter – kommt sein Gefühl nur aus der Laune eines empfindlichen Knaben, oder besitzt er die Reife eines Mannes, der gelitten hat, um ihm Dauer zu geben? Du weißt, Malluch, Rachegedanken, die nur aus dem verletzten Gefühl stammen, sind nur Träume der vergänglichen Art, die an einem klaren Tag verschwinden, während die wahre Rach­ gier eine Leidenschaft ist, eine Krankheit des Herzens, die ins Gehirn steigt und sich selbst von beiden nährt.« Simonides verriet zum erstenmal ein Gefühl. Er sprach rasch und mit gekrampften Händen und dem Eifer eines Menschen, 224

der die Krankheit, die er beschreibt, zugleich mitfühlt. »Mein guter Meister, einer meiner Beweise dafür, daß der junge Mann ein Jude ist, ist die Glut seines Hasses. Obwohl er offen zu mir war, beherrschte er sich doch, was nur natürlich ist, da er so lange in der Atmosphäre römischer Eifersucht gelebt hat. Einmal offenbarte er sich, als er sich nach Ilderims Verhältnis zu Rom erkundigte, und noch einmal, als ich ihm die Geschichte des Scheiks und des Weisen erzählte und von der Frage sprach: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹« Simonides beugte sich rasch nach vorn: »O Malluch, seine Worte! Sag mir, was er sagte! Laß mich den Eindruck beurtei­ len, den das Geheimnis auf ihn machte!« »Er wollte die genauen Worte der Frage wissen. Hieß es: ›Geboren, um König der Juden zu sein?‹ oder ›… der, der König der Juden ist?‹ Ich begriff, daß ihn der Unterschied in den zwei Sätzen bewegte.« Simonides war ganz wieder nur Zuhörer. »Dann teilte ich ihm Ilderims Ansicht über das Geheimnis mit, daß der König kommen werde, um das Schicksal Roms zu besiegeln. Ihm stieg das Blut in Stirn und Wangen, und er sagte ganz ernst: ›Wer anders als Herodes kann König sein, solange Rom regiert?‹ « »Was meinte er damit?« »Daß das Reich zerstört werden müsse, ehe ein anderer herr­ schen könne.« »Genug, Malluch, iß jetzt und mache dich bereit, in den Pal­ mengarten zurückzukehren. Du mußt dem jungen Mann bei seinem Proberennen beistehen. Komm am Morgen zu mir! Ich will dir einen Brief an Ilderim mitgeben.« Und wie zu sich selbst fügte er hinzu: »Ich möchte selbst in den Zirkus gehen.« Als Malluch nach den gegenseitigen Segenswünschen ge­ gangen war, nahm Simonides einen kräftigen Schluck Milch und schien dann erfrischt und heiter: »Stell den Teller fort, Esther, ich habe genug.« Sie gehorchte. »Komm nun zu mir!« 225

Sie setzte sich wieder auf die Lehne des Sessels. »Gott ist gut zu mir, sehr gut! Er pflegt geheimnisvoll zu handeln, aber manchmal läßt er uns glauben, wir könnten ihn verstehen. Ich bin alt und muß gehen, aber nun in der elften Stunde, als meine Hoffnung zu sinken begann, sendet er mir diesen da mit einer Verheißung, und ich richte mich wieder auf. Ich sehe einen großen Teil meines Weges in einem Ereignis, das selbst so groß ist, daß es wie eine Neugeburt der ganzen Welt aussieht. Und ich sehe, warum ich mit so großem Reich­ tum gesegnet wurde. Ich sehe auch den Zweck, wofür er bestimmt ist. Wahrhaftig, mein Kind, ich beginne wieder aufzuleben.« Esther schmiegte sich enger an ihn, wie um seine Gedanken zurückzuhalten. »Der König ist geboren, und er muß in der Mitte seines Le­ bens sein. Balthasar sagt, er war ein Kind in seiner Mutter Schoß, als er ihn sah, seine Geschenke brachte und ihn anbete­ te. Und Ilderim meint, es sei im Dezember vor siebenundzwanzig Jahren gewesen, als Balthasar für sich und seine Gefährten vor seinem Zelt um ein Versteck vor Herodes bat. Das Erscheinen des Königs kann nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es kann heute abend, es kann morgen sein. Heilige Väter von Israel, welche Glückseligkeit liegt in diesem Gedanken! Mir scheint, ich könnte den Einsturz der alten Mauer hören und den Tumult einer allgemeinen Wandlung – oh, und zur größten Freude der Menschen öffnet sich die Erde, um Rom zu verschlingen, und alle blicken auf und sind fröh­ lich und singen, weil es nicht mehr ist und weil wir sind. Hast du je dergleichen gehört, Esther? Ich habe in mir die Begeiste­ rung eines Dichters, das glühende Blut Miriams und Davids. In meinen Gedanken, in denen nichts anderes als Zahlen und Tatsachen sein sollten, tönen Zimbeln und Harfen und die Jubelrufe einer Menge um einen neuerrichteten Thron. Wenn 226

der König kommt, braucht er Geld und Menschen, denn wenn er von einer Frau geboren ist, wird er ein Mann sein, der an menschliche Wege gebunden ist wie du und ich. Siehst du nun den Weg, der mir und unserm jungen Herrn vorgezeichnet ist? Er führt uns beide zu Ruhm und zur Rache – und zum Glück für deiner Mutter Kind.« Sie saß still und schwieg. Dann dachte Simonides an die Unterschiede der Naturen und an das Gesetz, das uns nicht erlaubt, uns alle an den gleichen Dingen zu erfreuen oder zu kränken. Und er dachte daran, daß sie noch ein Mädchen war. »Woran denkst du, Esther? Wenn deine Gedanken Wünsche sind, sage sie mir, solange ich noch die Macht habe, sie zu erfüllen. Macht ist ein flüchtiges Ding, ihre Schwingen sind immer zum Flug bereit.« Sie antwortete mit kindlicher Unbefangenheit: »Sende nach ihm, Vater! Sende nach ihm noch heute abend! Und laß ihn nicht in den Zirkus!« »Ah!« sagte er gedehnt. Und er fühlte den Stachel der Eifer­ sucht. Sollte sie den jungen Herrn wirklich lieben? O nein! Das konnte nicht sein, sie war noch zu jung. Aber der Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt. Sie war sechzehn, er wußte es wohl. An ihrem letzten Geburtstag war er mit ihr zum Schiffs­ bauhof gegangen, wo ein neues Schiff vom Stapel gelassen wurde, das auf seiner gelben Flagge den Namen »Esther« trug. So hatten sie den Tag zusammen gefeiert. Ein Schmerz überfiel ihn, und er seufzte tief. Es war nicht genug, daß sie als Leibei­ gene in ihre Reife als Mädchen treten würde, sie mußte ihrem Herrn auch Empfindungen zuwenden, deren Tiefe und Zärt­ lichkeit er so gut kannte. Im Schmerz des Augenblicks vergaß der alte Mann seine neuen Pläne und den wunderbaren neuen König. Mit großer Anstrengung beherrschte er sich: »Nicht in den Zirkus lassen? Warum, mein Kind?« »Das ist kein Ort für einen Sohn Israels, Vater.« »Rabbinische Ansicht, Esther. Ist das alles?« 227

Der Ton seiner Frage war forschend und traf sie ins Herz, das laut zu schlagen begann, so laut, daß sie nicht antworten konnte. Eine Verwirrung, die neu und beseligend war, kam über sie. »Der junge Mann wird sein Vermögen erhalten«, fuhr Simo­ nides fort, indem er ihre Hand nahm, »er soll die Schiffe und das Geld haben, alles, Esther, alles. Ich werde mich trotzdem nicht arm fühlen, da du mir bleibst und deine Liebe. Sag mir, soll er auch das haben?« Sie beugte sich über ihn und legte ihre Wange an seine Schlä­ fe. »Sprich, Esther! Ich bin stark genug, es zu hören.« Sie richtete sich auf und antwortete in einem Ton innerster Wahrhaftigkeit: »Tröste dich, Vater. Ich werde dich nie verlas­ sen. Auch wenn er meine Liebe will, bleibe ich deine Dienerin für immer.« Sie küßte ihn. »Und mehr, sein Anblick tut mir wohl, und seine Stimme zieht mich zu ihm, und ich schaudere, wenn ich denken muß, er sei in Gefahr. Ja, Vater, ich wäre mehr als glücklich, ihn wiederzusehen. Aber unerwiderte Liebe kann nicht vollkommene Liebe sein, darum will ich warten und daran denken, daß ich deine und meiner Mutter Tochter bin.« »Du bist ein wahrer Gottessegen, Esther, ein Segen, der mich reich macht, auch wenn ich alles andere verliere. Und bei seinem heiligen Namen und beim ewigen Leben schwöre ich dir, daß du nicht leiden sollst.« Nach einer Weile kam der Diener und rollte den Sessel ins Zimmer. Dort saß er lange und gedachte des zukünftigen Königs. Esther war gegangen und schlief den Schlaf der Unschuld.

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Eine römische Orgie Der Palast jenseits des Flusses und dem Hause des Simonides beinahe gegenüber soll von dem berühmten Epiphanes erbaut worden sein. Er war ein Baumeister, der das Kolossale mehr liebte als das Klassische; es war eher eine Nachbildung persi­ scher als griechischer Baukunst. Das gewaltige Mauerwerk, das die ganze Insel bis an das Ufer einnahm, war sowohl als Bollwerk gegen das Wasser errichtet wie gegen feindliche Angriffe. Man hielt den Palast deshalb für unbewohnbar und hatte deshalb einen neuen auf dem westlichen Abhang des Sulpius erbaut. Aber man sorgte dennoch dafür, daß der Palast auf der Insel immer geöffnet war, Gäste aufzunehmen, und wenn ein Konsul, Feldherr, König oder Fürst nach Antiochia kam, waren für ihn sofort die Räume des Palastes bereit. Seine Gärten, Bäder, Hallen, Laby­ rinthe von Räumen bis hinauf zu den Pavillons auf dem Dach waren voller Herrlichkeiten. In einem der großen Räume waren etwa hundert Männer versammelt. Alle waren noch jung, manche noch halbe Kna­ ben, alle wohl Kinder Italiens, die meisten Römer. Sie sprachen reines Latein. Alle trugen die in Rom gebräuchliche Hausklei­ dung, eine Tunika mit kurzen Ärmeln. Sie saßen an den Tischen oder standen und gingen herum, von einer Gruppe zur andern. Für die Kostbarkeit und Großartigkeit des Raumes hatten sie kein Auge. Das Licht fiel auf den mit Marmorplatten belegten Fußboden durch farbige Deckenfenster. Das Gesims war mit Arabesken in Blau, Grün, Purpur und Gold eingelegt; die Decke wurde von Atlasgestalten getragen. Rings an den Wänden hin zog sich ein Diwan aus indischer Seide und Kaschmir. Tische und Stühle hatten ägyptischen Stil. An bronzenen Kettenzügen hingen fünf Kronleuchter von der Decke mit Pyramiden brennender Lampen. Die jungen Herren hatten ihre Oberkleider und Togen, von 229

denen manche purpurverbrämt waren, achtlos auf den Diwan geworfen. Da und dort lag auch ein Schläfer. Der riesige Raum war von Stimmengewirr und Lachen erfüllt. Überall klapperten die Würfel, die meisten waren beim Brett- oder Würfelspiel. »Guter Flavius«, rief ein Spieler, seinen Stein in den Fingern, »du siehst dort das Oberkleid auf dem Diwan. Es ist ganz neu und kommt eben vom Schneider, seine goldene Schulterschnal­ le ist so groß wie eine Hand.« »Nun«, antwortete Flavius, ohne seine Aufmerksamkeit vom Spiel abzuwenden, »ich habe so was schon gesehen. Es mag nicht alt sein, aber, beim Gürtel der Venus, neu ist es auch nicht. Was ist damit?« »Nichts. Aber ich würde es einem Mann schenken, der alles weiß.« »Haha, das kannst du billiger haben. Ich kann dir hier unter denen mit Purpur ein paar finden, die dein Angebot annehmen würden. Aber jetzt spiele!« »Da – Schach!« »Wirklich, bei allen Jupitern! Nun, wie ist’s? Noch einmal?« »Schön!« »Und der Einsatz?« »Eine Sesterz.« Dann holte jeder sein Täfelchen und machte sich eine Notiz, und während sie die Steine wieder aufstellten, kam Flavius auf die Bemerkung seines Freundes zurück: »Ein Mann, der alles weiß? Beim Herkules! Da würden ja die Orakel zugrunde gehen. Was willst du mit solch einem Monstrum?« »Er müßte eine Frage beantworten, Flavius. Und dann würde ich ihm die Kehle durchschneiden!« »Und die Frage?« »Er sollte mir die Stunde – Stunde, sagte ich? – nein, die Minute angeben, wann Maxentius morgen ankommt.« »Ein guter Zug. Ich habe dich! – Und warum die Minute?« »Hast du jemals barhäuptig in der syrischen Sonne am Kai 230

gestanden, an dem er landen wird? Die Feuer der Vesta sind nicht so heiß. Und, bei unserm Vater Romulus, wenn ich sterben muß, will ich in Rom sterben. – Ha, bei der Venus, du hast mich gefangen, mein Flavius! Ich habe verloren. O Fortu­ na!« »Noch einmal?« »Ich muß meine Sesterz zurückgewinnen.« »Also gut!« Und sie spielten wieder und wieder. Und als sich der Tag durch die Deckenfenster stahl und die Lampenlichter trübte, saßen die beiden noch immer am gleichen Platz, am selben Tisch, beim selben Spiel. Sie gehörten zum militärischen Gefolge des Konsuls und warteten auf seine Ankunft, indem sie sich vergnügten. Mittlerweile war eine neue Gruppe in den Saal gekommen, die sich, zunächst unbemerkt, zum mittleren Tisch begab. Man kam anscheinend von einem eben beendeten Gelage. Einzelne der Ankömmlinge konnten sich nur mit Mühe auf den Füßen halten. Einer von ihnen trug einen Kranz um die Stirn zum Zeichen, daß er der Leiter des Festes, wenn nicht der Gastgeber war. Ihm hatte der Wein nichts angehabt, es sei denn, daß er seine römische Schönheit noch erhöhte. Er trug den Kopf stolz, seine Lippen und Wangen glänzten, seine Augen strahlten. Selbstbewußt wie ein Cäsar schritt er in seiner fleckenlosen weißen Toga zum Tisch und machte sich und seinen Gefährten rücksichtslos Platz. Als er stehenblieb und über die Gesell­ schaft der Spieler hinschaute, blickten alle auf und begrüßten ihn mit lautem Jubel: »Messala! Messala!« Auch alle andern erhoben sich. Alles strömte zur Mitte. Man ließ die Spiele und sammelte sich um den Neuangekommenen. Messala nahm die jubelnde Begrüßung wie selbstverständlich hin: »Auf deine Gesundheit, mein Freund Drusus!« begrüßte er einen der Spieler. »Und leihe mir eins deiner Täfelchen für einen Augenblick!« Messala erhielt es und warf einen Blick 231

auf die Spieleinsätze: »Denare, nichts als Denare – die Münze der Kärrner und Fleischer! Bei der trunkenen Semele, wohin soll Rom kommen, wenn ein Cäsar eine ganze Nacht beim Spiel sitzt, bis Fortuna ihm einen bettelhaften Denar in den Schoß wirft!« Drusus errötete bis in die Schläfen, aber die Umstehenden übertönten seine Antwort mit neuen Rufen: »Messala! Messa­ la!« »Männer vom Tiber!« fuhr Messala fort und nahm einem der Umstehenden den Würfel aus der Hand. »Wer ist der, den die Götter am meisten begünstigen? Ein Römer! Wer gibt den Völkern Gesetze? Ein Römer! Wer ist nach dem Recht des Schwertes der Beherrscher der Welt?« Die leichtbegeisterte Schar nahm ihm die Antwort aus dem Mund: »Ein Römer, ein Römer!« »Und doch, und doch«, er hielt inne, um ihre Neugier zu spannen, »und doch gibt es noch einen Besseren als den Besten von Rom.« Er schüttelte seinen Patrizierkopf und schwieg, als wolle er sie mit seinem Hohn reizen: »Hört ihr? Es gibt noch einen Besseren als den Besten Roms.« »Herkules!« rief einer. »Bacchus«, kreischte ein Spötter. »Jupiter – Jupiter!« donnerte die Menge. »Nein«, antwortete Messala, »unter den Menschen.« »Nenne ihn! Nenne ihn!« »Das werde ich«, sagte er, als es still geworden war. »Es ist der, der zu der Vollkommenheit Roms die Vollkommenheit des Ostens hinzufügt, der dem Eroberer, das ist der Westen, die Kunst der Lebensfreude beibringt, das ist der Osten.« »So ist der Beste doch ein Römer«, riefen einige. Und es gab ein großes Gelächter und Beifallsklatschen. »Im Osten«, fuhr Messala fort, »haben wir keine Götter, nur Wein, Frauen und Glück, und das größte unter ihnen ist das 232

Glück. Darum gilt das Motto: ›Wer wagt, was ich wage?‹ sowohl im Senat wie in der Schlacht, am meisten gilt es dem, der das Beste sucht und vor dem Schlimmsten nicht zurück­ schreckt.« Seine Stimme nahm einen leichten, vertraulichen Ton an: »In dem großen Kasten oben in der Zitadelle liegen fünf Talente in vollgültiger Münze, hier sind die Belege.« Er zog aus seiner Tunika eine Rolle Papier und warf sie auf den Tisch. Dann fuhr er unter atemloser Stille fort, während aller Augen an ihm hingen: »Ich setzte diese Summe ein. Wer wagt ebensoviel? – Ihr schweigt? Ist sie zu hoch? Ich will ein Talent streichen. Wie, noch kein Angebot? Nun denn, also noch weniger, also nur drei, für zwei – also noch eins – ein Talent zur Ehre des Flusses, an dem ihr geboren seid. Rom Ost gegen Rom West! Der barbarische Orontes gegen den heiligen Tiber!« Er schüttelte den Würfelbecher über seinem Kopf und wartete. »Den Orontes gegen den Tiber!« wiederholte er mit zorni­ gem Nachdruck. Nicht einer rührte sich, dann flog der Becher auf den Tisch, und lachend steckte er seine Quittungen ein: »Haha! Bei dem olympischen Jupiter! Jetzt weiß ich, daß ihr erst euer Glück machen wollt oder es wenigstens verbessern wollt. Dazu seid ihr nach Antiochia gekommen. He, Cecilius!« »Hier, Messala«, rief ein Mann hinter ihm, »hier bin ich. Soll die ganze Bande zum Teufel gehen und sich eine Drachme erbetteln, um sie dem zerlumpten Fährmann zu geben. Aber Pluto hole sie! Diese Neuen haben nicht einen Obolus.« Der Saal brach in schallendes Gelächter aus. Messala be­ wahrte als einziger seine Würde. »Geh du«, wandte er sich an Cecilius, »geh in den Raum, durch den wir gekommen sind, und bitte die Diener, die Am­ phora zu bringen, Becher und Trinkschalen. Wenn unsre Landsleute hier auch keine Beutel haben, beim syrischen 233

Bacchus, ich will sehen, ob sie wenigstens Mägen besitzen. Beeil dich!« Dann wandte er sich an Drusus mit einem lauten Lachen, das durch den ganzen Saal schallte: »Mein Freund! Nimm es mir nicht übel, daß ich den Cäsar in dir gegen einen Denar aus­ spielte. Ich benutzte deinen Namen nur, um diese feinen Sprößlinge unseres alten Roms auf die Probe zu stellen. Komm, mein Drusus, komm!« Er nahm den Würfelbecher wieder auf und schüttelte ihn. »Hier, wir wollen unser Glück versuchen! Welchen Einsatz willst du?« Das Anerbieten wurde offen, höflich und liebenswürdig gemacht. Drusus war sofort gewonnen. »Bei den Nymphen, ja! Ich will mit dir um einen Denar wür­ feln!« Ein Jüngling von knabenhaftem Aussehen beobachtete die Szene. Plötzlich wandte sich Messala an ihn: »Wer bist du?« Der Knabe wich zurück. »Nein, bei Castor! Und bei seinem Bruder! Ich wollte dich nicht kränken. Es ist unter Männern Regel, auch in andern Dingen als beim Würfeln Buch zu führen. Ich brauche einen Schreiber. Willst du das für mich tun?« Messalas Art war unwiderstehlich. Der Knabe zog sein Tä­ felchen hervor, um die Wetten einzutragen. »Halt, Messala, halt!« rief Drusus. »Ich weiß nicht, ob es unheilvoll ist, einen Wurf durch eine Frage zu unterbrechen, aber mir fällt etwas ein, und ich muß dich etwas fragen, auch wenn mich Venus mit ihrem Gürtel schlägt.« »Nein, mein Drusus, Venus mit einem offenen Gürtel ist die liebende Venus. Zu deiner Frage – ich will meinen Wurf machen und ihn halten.« Er schlug den Becher auf den Tisch und ließ ihn über die Würfel gestülpt. Und Drusus fragte: »Hast du je einen Quintus Arrius gekannt?« »Den Duumvir?« »Nein – seinen Sohn.« »Ich wußte nicht, daß er einen Sohn hatte.« »Nun, es hat nichts zu 234

bedeuten. Nur, mein Messala, Pollux kann dem Castor nicht ähnlicher gewesen sein als dieser Arrius dir.« Die Bemerkung hatte die Wirkung eines Signals: Zwanzig Stimmen bestätigten sie. »Wirklich, wirklich! Seine Augen, sein Gesicht!« rief man. »Was?« warf einer angewidert ein. »Messala ist ein Römer, Arrius ein Jude!« »Du hast recht«, rief ein dritter. »Er ist ein Jude, oder Momus hat seiner Mutter die falsche Maske aufgesetzt.« Ein Wortwechsel entstand, Messala legte sich ins Mittel: »Der Wein ist noch nicht da, mein Drusus, und wie du siehst, habe ich die sommersprossigen Pythien hier unter der Hand wie eine Koppel Hunde. – Was Arrius betrifft, so will ich dein Urteil gelten lassen, wenn du mir mehr von ihm erzählst.« »Schön, mag er ein Jude oder Römer sein, und – beim großen Gott Pan, ich sage das nicht, um deine Gefühle zu verletzen –, mein Messala, dieser Arrius ist schön, tapfer und klug. Der Kaiser bot ihm Gunst und sein Patronat an – er schlug sie aus. Er ist geheimnisvoll emporgekommen und wahrt Distanz, als ob er sich für besser halte oder wisse, daß er schlechter sei als die übrigen. In der Palästra war er unvergleichlich. Er spielte mit den blauäugigen Riesen vom Rhein und den ungehörnten Stieren aus Sarmatien, als wären sie Weidenbüschel. Der Duumvir hinterließ ihm ein unermeßliches Vermögen. Er hat eine Leidenschaft für Waffen und denkt nur an Krieg. Maxen­ tius nahm ihn in sein Gefolge auf. Er hätte mit uns zu Schiff gehen sollen, aber wir verloren ihn in Ravenna. Trotzdem kam er hier an. Wir hörten von ihm heute morgen. Statt in den Palast zu kommen, ließ er sein Gepäck in eine Herberge bringen. Seitdem ist er wieder verschwunden.« Zu Beginn der Erzählung hörte Messala mit höflicher Gleichgültigkeit zu, später wurde er aufmerksamer, am Schluß nahm er seine Hand vom Würfelbecher und rief: »He, mein Cajus, hast du gehört?« 235

Der junge Mann an seiner Seite, sein Myrtilus, antwortete, von seiner Aufmerksamkeit geschmeichelt: »Ich wäre dein Freund nicht, hätte ich nicht zugehört.« »Erinnerst du dich an den Mann, der dich heute zu Fall brachte?« »Bei den Liebeslocken des Bacchus, habe ich nicht eine zer­ schundene Schulter, um mich daran zu erinnern?« »Nun, so sei dem Schicksal dankbar, ich habe deinen Gegner gefunden. Höre!« Dann wandte sich Messala zu Drusus: »Erzähl mir mehr von dem, der sowohl Jude wie Römer ist – bei Phoebus, eine Zusammenstellung, die einen Zentauren reizend macht. Wie ist er gekleidet, mein Drusus?« »Wie ein Jude.« »Hörst du, Cajus? Der Bursche ist jung – eins; er hat das Gesicht eines Römers – zwei; er liebt es, sich wie ein Jude zu kleiden – drei; in der Palästra erlangt man Ruhm, indem man ein Pferd oder einen Wagen niederwirft – vier. Und Drusus, hilf meinem Freund weiter! Ohne Zweifel hat dieser Arrius auch allerhand Kniffe mit der Sprache, sonst könnte er sich nicht so verwandeln; heute ein Jude, morgen ein Römer. Aber spricht er auch die Sprache Athens?« »Mit solcher Reinheit, Messala, als wäre er ein Schauspie­ ler.« »Hörst du, Cajus?« fragte Messala. »Der Mann kann eine Dame – vielleicht Aristomache selbst – auf griechisch begrü­ ßen, und das macht in meiner Aufzählung – fünf. Was sagst du dazu?« »Du hast ihn gefunden, mein Messala«, antwortete Cajus, »oder ich bin nicht ich selbst.« »Ich bitte um Vergebung, Drusus, dich und euch alle, daß ich in Rätseln sprach. Bei allen gütigen Göttern, ich möchte deine Höflichkeit nicht übermäßig bemühen, aber nun mußt du mir helfen. Sieh«, er legte die Hand wieder auf den Würfelbecher und lachte, »sieh, wie fest ich die Pythien und ihr Geheimnis 236

halte! Du sprachst von Geheimnissen bei diesem Sohn des Arrius. Erzähle davon!« »Es ist nichts, Messala, nichts, eine Kindergeschichte. Als Arrius, der Vater, sich zur Verfolgung der Piraten aufmachte, hatte er weder Weib noch Kind. Bei seiner Rückkehr brachte er diesen Knaben mit und adoptierte ihn am nächsten Tag.« »Adoptierte ihn?« wiederholte Messala. »Bei den Göttern, Drusus, das interessiert mich! Wo hat der Duumvir den Knaben gefunden? Und wer war er?« »Wer könnte dir darauf antworten! Doch nur der junge Arrius selbst. In dem Kampf verlor der Duumvir – damals noch Tribun – seine Galeere. Ein zurückkommendes Schiff fand ihn und einen andern – die beiden einzigen Überlebenden – auf einer treibenden Planke. Ich erzähle die Geschichte, wie ich sie von den Rettern hörte. Sie hat das für sich, daß ihr nie wider­ sprochen wurde. Sie sagen, des Duumvirs Gefährte auf der Planke war ein Jude…« »Ein Jude«, wiederholte Messala. »Und ein Sklave.« »Wie, Drusus? Ein Sklave?« »Als die beiden an Deck gebracht wurden, war der Duumvir in seiner Rüstung und der andere im Gewand eines Ruderers.« Messala erhob sich: »Ein Galeeren…«, er verschluckte das halbe Wort und sah um sich, zum erstenmal in seinem Leben in Besorgnis. Gerade in diesem Augenblick füllte sich der Raum mit einer Schar Sklaven, einige mit großen Weinkrügen, andere mit Fruchtkörben, wieder andere mit silbernen Bechern und Scha­ len. Sofort sprang Messala auf einen Stuhl: »Männer vom Tiber«, rief er mit klarer Stimme, »laßt uns das Warten auf unsern Befehlshaber in ein Bacchusfest verwandeln. Wer soll unser Meister sein?« Drusus erhob sich: »Wer anders soll Meister sein als der Festgeber? Antwortet, Römer!« Der Saal erdröhnte von Bei­ 237

fallsrufen. Messala nahm seinen Kranz vom Kopf und gab ihn Drusus, der auf den Tisch sprang und den Kranz vor allen an Messala zurückgab. »Ich brachte einige Freunde mit«, sagte Messala, »die eben erst von der Tafel aufgestanden waren. Um unser Fest nach heiligem Brauch zu beginnen, bringt den her, der am meisten berauscht ist!« Ein Lärm von Stimmen erhob sich: »Hier ist er!« Und von dem Boden, auf den er hingesunken war, brachten sie einen Jüngling von solch weichlicher Schönheit, daß er der trunkene Gott selbst hätte sein können, nur der Kranz und Thyrsusstab fehlten ihm. »Hebt ihn auf den Tisch!« sagte der Meister. Aber er konnte weder stehen noch sitzen. »Hilf ihm, Drusus!« Drusus nahm den Trunkenen in seine Arme, und Messala sprach zu ihm: »O Bacchus, größter aller Götter, sei uns diese Nacht hold! Und für mich und diese deine Jünger – er hob seinen Kranz hoch – weihe ich diesen Kranz deinem Altar im Hain der Daphne.« Er verneigte sich, setzte den Kranz wieder auf, dann hob er den Würfelbecher, deckte die Würfel auf und sagte lachend: »Sieh, mein Drusus, bei dem Esel des Silen, der Denar ist mein!« Der Beifallssturm machte den Saal erzittern, so daß die grimmigen Atlasgestalten zu tanzen schienen. Und die Orgie begann.

Ein Lenker für llderims Araber Scheik Ilderim war ein Mann von so hohem Ansehen, daß er nicht unscheinbar auftreten konnte. Er mußte den Ruf seines Stammes wahren, wie es einem Fürsten und Patriarchen der 238

größten Gefolgschaft in der ganzen Wüste östlich von Syrien geziemte. In den Städten galt er als einer der reichsten Männer von nichtköniglichem Rang im ganzen Osten. Und da er tatsächlich sehr reich war – nicht nur an Geld, sondern an Dienerschaft, Kamelen, Pferden und Herden aller Art –, liebte er es, einen gewissen Aufwand zu treiben, der sowohl sein Ansehen bei Fremden erhöhte als auch seiner persönlichen Eitelkeit schmeichelte und seiner Behaglichkeit wohltat. Hier im Palmengarten hatte er ein richtiges Lager. Er hatte drei große Zelte errichten lassen; eins für sich selbst, eins für Gäste und eins für seine Lieblingsfrau und ihr Gefolge; daneben sechs oder acht kleinere für seine Dienerschaft und eine auser­ lesene Leibwache, eine Schar beherzter Männer, die es wohl verstanden, mit Bogen, Speeren und Pferden umzugehen. Obwohl er sicher sein konnte, daß ihm im Palmenhain kei­ nerlei Gefahr drohte, hatte er doch nach seinen Gewohnheiten die Kühe, Kamele und Ziegen innerhalb des Lagers unterge­ bracht, wo sie vor Löwen und Dieben sicher waren. Kurz, er lebte auch hier, wie er in der Wüste lebte, hielt alle seine Gebräuche streng und führte ein echtes Patriarchenleben, das Hirtenleben des alten Israel. An dem Tage, als die Karawane hier angelangt war, hatte er sein Pferd angehalten und einen Speer in den Boden gestoßen: »Hierher setzt das Zelt, den Eingang nach Süden, zum See zu, damit die Kinder der Wüste hier bei Sonnenuntergang sitzen können.« Bei diesen Worten war er abgestiegen und zu einer Gruppe von drei großen Palmen getreten, er streichelte einen Stamm, so wie er den Hals eines Pferdes oder eines seiner Lieblings­ kinder zu streicheln pflegte. Wer als der Scheik hatte das Recht, der Karawane Halt zu gebieten und zu bestimmen, wo das Zelt zu errichten war? Dort wo sein Speer gesteckt, trieben die Diener die erste Zeltstange ein, um diese wurden acht andere versenkt, drei Reihen. Dann 239

kamen die Frauen und Kinder und nahmen die großen Zelttü­ cher von den Rücken der Kamele. Wer anders als die Frauen durfte das tun? Hatten sie nicht die braunen Ziegen geschoren, das Haar zu Fäden gesponnen und daraus das Tuch gewebt? Sie hatten es zusammengenäht, so daß es eine dichte dunkel­ braune Decke bildete, die aus der Entfernung schwarz wirkte wie bei den Zelten von Kedar. Das ganze Gefolge zog dann lachend und scherzend die Zeltdecke von Pfosten zu Pfosten und spannte sie mit Seilen fest. Und als die Wände aus Flecht­ werk errichtet waren, warteten alle auf das Urteil des Herrn. Er ging ein und aus, besah alles genau und rieb sich die Hände: »Wohlgetan! Nun bereitet das Lager, so gut ihr könnt, und am Abend werden wir unser Brot mit Arrak und unsere Milch mit Honig versüßen, und jede Feuerstelle soll ein Zicklein haben. Gott mit euch! An süßem Wasser ist kein Mangel, der See ist unsere Quelle. Die Herde und die Lasttiere werden nicht hungern, denn hier ist grüne Weide. Gott mit euch, meine Kinder! Geht!« Und freudig gingen sie alle daran, sich ihre eigenen Zelte zu errichten. Einige männliche Diener blieben zurück, um das Zelt des Scheiks innen einzurichten. Sie hängten einen Vorhang an die mittleren Stützen und teilten das Zelt in zwei Teile; der eine war Ilderim vorbehalten, im anderen wurden seine geliebten Rosse untergebracht – seine Schmuckstücke Salomos. Sie führten sie herein mit Küssen und Streicheln und ließen sie frei. An die mittlere Säule lehnten sie den großen Waffenkö­ cher und füllten ihn mit Speeren, Wurfspießen, Bogen und Pfeilen. Darüber hängten sie das Schwert ihres Herrn, dessen sichelartige Klinge an Glanz mit dem edelsteinbesetzten Griff wetteiferte. An eine andere Zeltstütze hängten sie das Geschirr der Pferde, das wahrhaft königlich war, und schließlich an eine dritte die Kleider des mächtigen Mannes aus Wolle und Lei­ nen, die Mäntel und Tuniken und die bunten Kopftücher. Unterdessen hatten die Frauen den Diwan aufgestellt. Ein 240

Rahmen zog sich an drei Seiten des Zeltes hin, zum Eingang offen. Er wurde mit Polstern und Decken ausgefüllt, die gelb und braun gestreift waren und mit roten und blauen Kissen bedeckt. Teppiche wurden hinter den Diwan gespannt und auf dem Boden ausgebreitet. Nun war alles bereit, es mußten nur noch die Krüge mit Wasser gefüllt und die mit Arrak gefüllten Lederschläuche aufgehängt werden. Am Eingang dieses Zeltes hatte Scheik Ilderim Ben Hur empfangen, Diener lösten dem Herrn die Sandalen, Ben Hur die römischen Stiefel. Dann vertauschten beide die staubigen Oberkleider mit frischen weißen Leinengewändern. »Tritt ein in Gottes Namen und ruhe dich aus!« begrüßte Ilderim seinen Gast herzlich in der Sprache des Marktplatzes von Jerusalem und führte ihn zum Diwan. Eine Magd bereitete ihnen die Sitze, ein Diener brachte frisches Wasser vom See und wusch ihnen die Füße. »Ein Wort der Wüstenbewohner sagt: ›Ein guter Appetit verspricht ein langes Leben ‹«, fuhr der Scheik fort. »Hast du Hunger?« »Nach diesem Wort werde ich hundert Jahre alt, guter Scheik. Ich bin hungrig wie ein Wolf vor der Tür.« »Nun, wie ein Wolf sollst du nicht verjagt werden, ich werde dir das Beste meiner Herde geben.« Ilderim klatschte in die Hände, ein Diener erschien: »Suche meinen Gast in seinem Zelt auf und sage ihm, ich, Ilderim, wünsche ihm Frieden, solange das Wasser fließt. Sage ihm ferner, daß ich mit einem anderen Gast das Brot breche, und wenn Balthasar, der Weise, an unserem Mahl teilnehmen wolle, so werden wir drei sein, und die Brosamen für die Vögel werden noch ausreichen.« Der Diener ging. »Nun wollen wir ruhen!« Ilderim nahm auf dem Diwan Platz. Dann fragte er, seinen Bart streichend: »Nachdem du den Begrüßungstrank mit mir geteilt, und da wir nun miteinander speisen werden, ist wohl eine Frage nicht verboten: Wer bist 241

du?« »Scheik Ilderim, ich bitte dich, nicht zu glauben, daß ich dein gerechtes Verlangen mißbillige. Allein – gab es nicht auch in deinem Leben manche Stunde, in der die Beantwortung dieser Frage ein Verbrechen gegen dich selbst hätte sein können?« »Bei der Pracht Salomos, ja!« antwortete Ilderim. »Selbstver­ rat ist zuzeiten so schlimm wie Verrat am Stamm.« »Ich danke dir, guter Scheik! Nun weißt du, daß ich dein Vertrauen achte, um das ich dich bitte. Das bedeutet mehr als die Geschichte meines armen Lebens.« Der Scheik verneigte sich, und Ben Hur beeilte sich, dieses Entgegenkommen zu nützen: »Wenn du mich denn anhören willst, so muß ich dir als erstes sagen, daß ich kein Römer bin, wie mein Name vermuten läßt.« Ilderim griff wieder in den über seine Brust wallenden Bart und sah seinen Gast unter zusammengezogenen Brauen scharf an. »Und als zweites muß ich sagen, daß ich ein Israelit aus dem Stamm Juda bin.« Der Scheik zog seine Brauen etwas in die Höhe. »Noch mehr: Scheik, ich bin ein Jude, der gegen Rom eine Klage zu führen hat, gegen welche die deine nicht mehr ist als ein Kinderkummer.« Der Greis wühlte mit nervöser Hast in seinem Bart und zog seine Brauen zusammen, daß seine Augen ganz verschwanden. »Und noch etwas, ich schwöre dir, Scheik Ilderim, bei dem Bündnis, das Gott mit meinen Vätern geschlossen hat: Wenn du mir zu der Rache verhilfst, die ich suche, so soll das Geld und der Ruhm des Rennens dir gehören!« Ilderim hob den Kopf, sein Gesicht strahlte, man konnte ihm seine Zufriedenheit ansehen. »Genug!« sagte er. »Wenn an der Wurzel deiner Zunge eine Lüge verborgen ist, so wäre Salomo selbst vor dir nicht sicher gewesen. Ich glaube dir, daß du kein Römer, sondern ein Jude bist, und daß du eine Klage gegen 242

Rom und eine Rache zu vollbringen hast. Aber wie steht es mit deinen Fähigkeiten? Welche Erfahrung hast du im Wagenren­ nen? Und die Pferde – kannst du sie dir gefügig machen? Bringst du es fertig, daß sie dich kennen und dir auf den Ruf folgen, das Äußerste hergeben an Atem und Kraft? Und kannst du sie im gefährlichen Augenblick aus dir heraus zur mächtig­ sten Anstrengung spornen? Diese Fähigkeit, mein Sohn, besitzt nicht jeder. Ich habe Könige gekannt, die über Millionen Menschen herrschten, ihre vollkommenen Herren waren, die aber nicht das Zutrauen eines einzigen Pferdes gewinnen konnten. Wohlverstanden, ich spreche nicht von den stumpfsinnigen Tieren, die nur die Aufgabe haben, Sklaven von Sklaven zu sein, und in Herkunft und Gestalt herunterge­ kommen und geistig tot sind. Ich spreche von den meinen hier, Königen ihrer Art, die in direkter Linie aus den Gestüten der Pharaonen stammen, meinen Gefährten und Freunden, Mitbe­ wohnern meines Zeltes, die mich nach langem Zusammenleben verstehen, die mit ihrem Instinkt unsern Verstand erreicht und mit ihren Sinnen unsre Seele ersetzt haben, die mit uns alles empfinden, unsern Ehrgeiz, unsre Liebe, unsern Haß und unsre Verachtung, die im Kriege Helden sind und treu wie Frauen! – Laß meine Araber kommen!« rief er einem Diener zu. Der zog den Vorhang beiseite und gab den Blick auf die vier Pferde frei, die einen Augenblick zögerten, als ob sie sich erst über die Einladung vergewissern wollten. »Kommt!« rief Ilderim. »Was steht ihr da? Was ich habe, gehört euch. Kommt, sage ich!« Langsam kamen sie heran. »Sohn Israels«, fuhr er fort, »dein Moses war ein mächtiger Mann, aber – ich muß lachen, wenn ich daran denke, daß er deinen Vätern nur den stumpfsinnigen Ochsen und den lang­ samen Esel erlaubte, ihnen aber den Besitz von Pferden verbot. Glaubst du, er hätte das getan, wenn er dieses hier gesehen hätte und dieses – und das hier?« 243

Bei diesen Worten legte er seine Hand auf den Kopf des nächsten und tätschelte ihn mit unbeschreiblichem Stolz und voller Zärtlichkeit. »Das ist ein falsches Urteil, Scheik«, erwiderte Ben Hur mit Wärme. »Moses war ebenso ein Krieger wie ein von Gott geliebter Gesetzgeber, und wenn man in den Krieg zieht, was heißt das anderes, als daß man alle diese Geschöpfe liebt – diese da und alle andern?« Ein wohlgeformter Kopf mit großen Augen, die sanft wie die eines Rehs waren und halb von der dichten Stirnlocke verdeckt, mit kleinen spitzen und nach vorn stehenden Ohren, näherte sich mit verlangenden Nüstern und Oberlippen der Brust Ben Hurs. – Wer bist du? schien das Tier zu fragen. Ben Hur erkannte in ihm einen der vier Renner, die er auf der Bahn gesehen hatte, und hielt dem schönen Tier die offene Hand vor das Maul. Der Scheik ereiferte sich weiter: »Diese Lästerer – mögen ihre Tage abnehmen! – werden dir sagen, daß unsre Pferde die besten von den nisäischen Weiden Persiens sind. – Gott gab dem ersten Araber eine unermeßliche Sandwüste mit einigen unbewaldeten Bergen und da und dort etwas bitteres Wasser und sagte zu ihm: ›Das ist dein Land!‹ Und als sich der Arme beklagte, erbarmte sich der Allmächtige und sagte: ›Sei guten Muts, ich will dich vor den andern Menschen doppelt segnen.‹ Der Araber hörte es, dankte und ging voller Vertrauen, die Segnungen zu finden. Er wanderte zuerst alle Grenzen ab und fand nichts, dann bahnte er sich einen Weg durch die Wüste, wanderte und wanderte, und endlich fand er im Herzen der Wüste eine herrliche grüne Insel und im Herzen dieser Insel eine Herde Kamele und eine Herde Pferde. Er nahm sie voller Freude und pflegte sie mit Sorgfalt als das, was sie waren: Geschenke Gottes. Von dieser Wüsteninsel stammen alle Pferde der Erde, auch jene auf den Weiden von Nisäa. Und sie breiteten sich aus nach dem Norden bis in die unwirtlichen 244

Täler, die den Meeresstürmen ausgesetzt sind. Bezweifle meine Erzählung nicht, aber wenn du sie bezweifelst, soll nie wieder ein Amulett seine Kräfte einem Araber schenken. Doch ich will dir Beweise geben.« Er klatschte in die Hände und befahl einem Diener: »Bringt mir die Register des Stammes!« Während sie warteten, spielte der Scheik mit den Pferden, streichelte ihre Hälse und kämmte ihnen die Stirnlocken mit den Fingern. Bald erschienen sechs Männer und setzten sechs messingbeschlagene verschlossene Kisten aus Zedernholz vor dem Scheik nieder. »Nein«, sagte er, »ich meinte nicht alle, nur die Register der Pferde! öffnet diese eine Kiste und tragt die andern wieder fort!« Die Kiste enthielt eine Menge von Elfenbeintäfelchen, die auf Ringe aus Silberdraht aufgereiht waren, und da die Täfel­ chen kaum dicker als Oblaten waren, faßte ein Ring mehrere hundert. »Ich weiß«, begann Ilderim, indem er einige Ringe in die Hand nahm, »mit welcher Sorgfalt und welchem Eifer die Schreiber des Tempels in der Heiligen Stadt die Namen der Neugeborenen aufschreiben, so daß jeder Sohn Israels die Reihe seiner Vorfahren bis zum Anfang zurück aufzählen kann, auch wenn er bis zu den Patriarchen zurückgehen muß. Meine Väter – möge ihr Angedenken ewig erhalten bleiben – hielten es nicht für sündig, diese Idee auf ihre stummen Gefährten zu übertragen. Schau diese Tafeln an!« Ben Hur nahm die Ringe und faltete die Täfelchen auseinan­ der. Sie trugen arabische Schriftzeichen, die mit glühenden Nadeln auf dem glatten Elfenbein eingebrannt waren. »Kannst du das lesen, Sohn Israels?« »Nein, du mußt es mir erklären.« »Wisse denn, jedes Täfelchen trägt den Namen eines Füllens reiner Rasse, das meinen Vätern seit Jahrhunderten geboren wurde, und ebenso die Namen seiner Eltern. Betrachte sie und 245

spüre ihr Alter, damit du es mir wirklich glaubst.« Einige Täfelchen waren fast abgeschliffen und braun vor Alter. »In dieser Kiste habe ich die vollständige Geschichte beisammen, vollständig, weil ich darin die Abstammung bis zum Anfang zurück belegen kann. Das ist selten in der Ge­ schichte. Wie meine Lieblinge hier zu uns kommen – sieh doch, wie sie sich an dich drängen, damit du sie beachtest und zärtlich zu ihnen bist –, so kamen ihre Vorfahren unter ein solches Zelt, um ihr Maß Gerste aus der offenen Hand zu fressen und damit man mit ihnen spricht; und wortlos wie Kinder drücken sie ihren Dank aus. Und nun, o Sohn Israels, glaube mir, wenn ich ein Herr der Wüste bin, so sind sie meine Minister. Nimm sie mir, und ich werde krank und von der Karawane zum Sterben zurückgelassen. Dank ihrer gibt es für mich keine Schrecken auf den Straßen zwischen den Städten, weil ich die Kraft habe, mit ihnen zu gehen. Ich könnte dir Wunderdinge erzählen, die ihre Vorfahren vollbrachten. Vielleicht kann ich es einmal tun. Für heute mag es genügen, dir zu sagen, daß sie noch nie im Laufe eingeholt worden sind, noch nie bei einer Verfolgung zurückblieben. Aber, wohlge­ merkt, das war im Sande der Wüste unterm Sattel. Jetzt aber bin ich – ich weiß nicht warum – um sie besorgt. Es ist das erstemal, daß sie eingespannt sind, und es gibt so viele Vorbe­ dingungen für den Erfolg. Schnelligkeit und Ausdauer ist ihr Stolz. Wenn ich ihren Meister finde, werden sie gewinnen. Sohn Israels! Wenn du der Mann bist, so schwöre ich dir, soll es ein Glückstag sein, der dich hierhergeführt hat. Nun sprich von dir!« »Ich weiß nun«, begann Ben Hur, »warum für den Araber das Pferd gleich nach seinen Kindern kommt. Und ich weiß auch, warum das arabische Pferd das beste in der Welt ist. Aber, guter Scheik, du sollst mich nicht nur nach Worten allein beurteilen. Gib mir das Gespann morgen zur Probe!« Ilderims Gesicht strahlte vor Freude, er wollte eben erwidern, 246

aber Ben Hur fuhr fort: »Noch einen Augenblick, guter Scheik! Laß mich noch etwas sagen. Von den Meistern in Rom habe ich mancherlei gelernt, von dem ich kaum dachte, daß es mir einmal nützlich sein werde. Diese Wüstensöhne mögen die Schnelligkeit des Adlers und die Ausdauer des Löwen haben, sie werden deinen Erwartungen aber nicht entsprechen, wenn sie nicht gemeinsam unter dem Joch eingeübt sind. Denn du wirst zugeben, daß unter den vieren eins das schnellste und eins das langsamste Tier ist, und weil das Rennen immer mit dem langsamsten gemacht wird, gibt es stets Schwierigkeiten mit dem schnellsten Pferd. So war es heute. Der Lenker konnte das schnellste Pferd nicht mit dem langsamsten in Überein­ stimmung bringen. Meine Probe mag nicht besser ausfallen, aber ich schwöre dir, daß ich dir das sagen werde, wenn es so ist. Ich sage dir aber auch: Wenn es mir gelingt, die Tiere zusammen unter meinen Willen zu bringen, so daß alle vier wie eins laufen, sollst du den Kranz und die Sesterzen erhalten, und ich werde meine Rache haben. Was sagst du dazu?« Ilderim hatte befriedigt in seinem Bart gewühlt, nun antwor­ tete er lachend: »Ich denke besser von dir, Sohn Israels. Wir haben ein Sprichwort in der Wüste: Wenn du das Essen mit Worten kochst, verspreche ich dir einen Ozean von Butter. – Du sollst die Pferde morgen haben.« In diesem Augenblick wurde es vor dem Zelteingang leben­ dig: »Das Essen ist bereit, und dort kommt mein Freund Balthasar, den du kennenlernen sollst. Er wird dir eine Ge­ schichte erzählen, die ein Israelit immer anhören kann, ohne zu ermüden.« Und zu den Dienern gewandt: »Bringt die Register weg und führt meine Lieblinge in ihren Raum!«

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Im Palmengarten Balthasar wurde, während man das Essen hereinbrachte, zum Diwan geleitet, wo ihn Ilderim und Ben Hur stehend empfin­ gen. Er trug ein schwarzes loses Gewand und stützte sich auf einen Stab und auf den Arm seines Dieners. Die Freunde begrüßten sich mit dem gewohnten Segens­ wunsch. Balthasars Augen lagen lange und streng und mit wachsender Erregung, aber mit dem zutraulichen Ausdruck eines Kindes auf Ben Hur, so daß diesen ein sonderbares Gefühl überkam. Ilderim legte seine Hand auf Ben Hurs Arm und sagte zu Balthasar: »Das ist er, der mit uns das Brot heute abend bre­ chen will. Ich habe ihm meine Pferde zur Probe für morgen versprochen, wenn alles gut geht, wird er sie im Zirkus len­ ken.« Balthasar hielt noch immer seinen Blick starr auf Ben Hur gerichtet. Ilderim fuhr fort: »Er ist mir wohl empfohlen wor­ den. Er ist der Sohn des Arrius, eines vornehmen römischen Schiffskommandanten, obwohl er sich selbst einen Juden aus dem Stamme Juda nennt, und, bei der Herrlichkeit Gottes, ich glaube ihm.« Balthasar durfte nicht länger eine Erklärung seines Beneh­ mens zurückhalten: »Heute, gütiger Scheik, war mein Leben in Gefahr, und ich hätte es verloren, wenn nicht ein Jüngling, das Ebenbild dieses deines Gastes, dazwischengetreten wäre und mich gerettet hätte, da alle anderen geflohen waren.« Dann wandte er sich an Ben Hur: »Warst du es nicht?« »Ich kann insoweit antworten, als ich es war, der die Pferde des anmaßenden Römers anhielt, als sie auf dein Kamel an der Quelle Castalia losstürmten. Deine Tochter gab mir einen Becher.« Ben Hur zog aus seinem Rock den Becher und gab ihn Balthasar. »Der Herr sandte dich mir an der Quelle«, sagte er mit zit­ 248

ternder Stimme, »und er sendet dich mir noch einmal. Ich danke ihm und preise seine Güte, denn durch ihn ist es mir möglich, dich nach Verdienst zu belohnen. Und ich will es tun. Der Becher gehört dir, behalte ihn.« Ben Hur nahm ihn zurück, und Balthasar erzählte Ilderim das Ereignis an der Quelle. »Was!« rief der Scheik und schaute Ben Hur an. »Du sagst mir nichts davon und hättest doch keine bessere Empfehlung haben können? Bin ich nicht ein Araber und der Scheik eines Stammes von Zehntausenden? Und ist er nicht mein Gast? Und sagt nicht das Gastrecht, das mir widerfährt, was meinem Gast Gutes oder Schlimmes getan wird? Von wem sollst du belohnt werden, wenn nicht von mir?« Seine Stimme war scharf geworden. »Guter Scheik, ich muß dich bitten«, antwortete Ben Hur rasch. »Ich bin nicht wegen einer Belohnung gekommen. Die Hilfe, die ich diesem würdigen Manne geben konnte, hätte ich auch dem geringsten seiner Diener erwiesen.« »Aber er ist mein Freund und mein Gast, nicht sein Diener. Siehst du nicht den Unterschied des Glückes darin?« – Dann wandte er sich an Balthasar: »Bei der Herrlichkeit Gottes, ich sage es noch einmal: Er ist kein Römer!« Balthasar wandte sich wieder Ben Hur zu: »Wie nannte dich der Scheik? Ich meinte, es war ein römischer Name.« »Arrius, Sohn des Arrius.« »Und dennoch kein Römer?« »Alle meine Vorfahren waren Israeliten.« »Waren – sagst du? Ist niemand mehr von den Deinen am Leben?« Die Frage war nur natürlich. Aber Ilderim ersparte Ben Hur die Antwort: »Kommt, das Mahl ist bereit.« Ben Hur bot Balthasar den Arm und führte ihn zu den niede­ ren Tischen. Sie ließen sich auf den Matten nieder, und nach dem Hände waschen sprach Balthasar das Tischgebet: »O Gott 249

und Vater aller! Was wir haben, kommt von dir. Nimm unsern Dank und segne uns, daß wir fortfahren, immer deinen Willen zu tun!« Es war das gleiche Gebet, das er mit seinen Brüdern Kaspar und Melchior in der Wüste gesprochen hatte. Obwohl es jeder in seiner eigenen Sprache gesprochen, hatte jeder es wie durch ein Wunder verstanden, und es hatte ihnen die göttliche Ge­ genwart bestätigt. Das Mahl, das sie einnahmen, war, wie es bei dem Reichtum Ilderims nicht anders sein konnte, mit den kräftigsten wie mit den feinsten Speisen des Ostens bestellt. Kuchen, noch heiß vom Ofen, Gemüse aus den Gärten, Fleisch mit allen mögli­ chen Zutaten, Milch, Honig und Butter standen bereit. Und während sie aßen, wurde wenig gesprochen. Beim Nachtisch änderte sich das, und bald war ein angeregtes Gespräch im Gange. In einer solchen Gesellschaft – ein Araber, ein Jude, ein Ägypter, die alle an einen Gott glaubten – konnte nur über dieses eine Thema geredet werden. Und wer anders von den dreien durfte sprechen als jener, der den Stern gesehen und die Stimme gehört hatte und von dem Stern wunderbar geleitet worden war? Und wovon anders konnte er reden als von dem, zu dessen Zeugen er berufen worden war?

Balthasar und Ben Hur Die Schatten der Berge, die sich nach dem Sonnenuntergang über den Palmengarten breiteten, ließen zwischen Tag und Nacht keine Dämmerung aufkommen. Die Nacht kam früh und plötzlich. Aus dem Zelt wurde die Dunkelheit von vier Leuch­ tern aus Messing vertrieben, die an jeder Ecke des Tisches niedergestellt wurden. Jeder Leuchter hatte vier Arme, und jeder Arm trug eine silberne Lampe mit einer Vorratsschale für 250

das Öl. Die drei Freunde sprachen Syrisch, wie es in allen Teilen des östlichen Reiches üblich war. Der Ägypter erzählte die Geschichte seiner Zusammenkunft mit Kaspar und Melchi­ or in der Wüste und er stimmte mit Ilderim überein, daß es im Dezember siebenundzwanzig Jahre waren, als sie bei ihm Schutz gesucht hatten. Ben Hur war es, als höre er eine Offen­ barung von höchster Bedeutung für die Menschheit. In seinem Geiste entstand eine Idee, die geeignet war, sein ganzes Leben zu wandeln, wenn nicht vollständig einzusaugen. Dem Scheik war die Erzählung nicht neu. Er hatte sie von allen drei Weisen gehört und unter Umständen, die keine Zweifel an ihrer Wahrheit ließen. Aber ihr mächtiges Geheim­ nis konnte ihn nicht mit der gleichen Kraft berühren, wie es Ben Hur geschah. Er war ein Araber, der nur allgemeines Interesse daran hatte. Aber Ben Hur, den Juden, erregte die Erzählung über die Maßen. Für ihn war die Wahrheit des Erzählten von höchster Bedeutung. Er nahm den Bericht von seinem jüdischen Standpunkt auf. Vom Messias hatte er schon in den Schulen gehört. Es war ihm eine vertraute Vorstellung von Jugend an. Die Propheten, vom ersten bis zum letzten, hatten von ihm berichtet, und die Ankunft des Messias war immer und auch jetzt noch das Thema rabbinischer Erörterun­ gen in den Synagogen, im Tempel, an den Fasttagen und Feiertagen, öffentlich und geheim verkünden die jüdischen Lehrer die Erwartung auf den Messias, so daß alle Kinder Abrahams, wo immer sie lebten, auf ihn harrten und davon ihr Leben bestimmen ließen. Es ging ihnen nur um die Zeit seines Erscheinens, denn daß er, wenn er einmal kam, als König der Juden kam, als ihr politischer König und Kaiser, darüber war unter dem auserwählten Volk kein Zweifel. Durch Israel würde er die Welt mit den Waffen erobern und sie zu ihrem Vorteil und im Namen Gottes für immer regieren. Auf diesem Glauben errichteten die Pharisäer und Separatisten in den Vorhöfen und bei den Altären des Tempels ein phantastisches Gebäude von 251

Hoffnungen. In ihrer schrankenlosen Phantasie von gotteslä­ sterlicher Selbstgefälligkeit mußte Gott der Allmächtige ihren eigenen Zwecken dienen. Sie wollten ihn, wie es mit den Sklaven geschieht, durch ein Ohr an ihre Tür nageln als Zei­ chen ewiger Dienstbarkeit. Die fünf Jahre, die Ben Hur in Rom unter Römern gelebt hatte, waren nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben. Die große Stadt war sowohl der politische und geschäftliche Sammel­ punkt aller Nationen wie das Zentrum des Lebensgenusses. Rund um den goldenen Meilenstein vor dem Forum trieb ein ruheloser Menschenstrom, wenn er auch nicht mit dem zu vergleichen war am Passahfest in Jerusalem. Wenn Ben Hur als einer unter dreihundertfünfzigtausend Zuschauern im Zirkus Maximus saß, so muß ihm der Gedanke gekommen sein, daß womöglich noch mehrere Zweige der Menschenfamilie der göttlichen Fürsorge, wenn nicht der Barmherzigkeit, würdig seien, auch wenn sie keine Juden waren, denn sie alle trugen ihren Kummer und noch Schlimmeres, ihre Hoffnungslosigkeit inmitten ihrer Sorgen, und sie hatten das Recht, von seinen Landsleuten als Brüder behandelt zu werden. Das Elend der Massen, ihr hoffnungsloser Zustand stand in keiner Verbin­ dung zur Religion, zu welcher auch immer. Ihr Murren, ihr Seufzen richtete sich nicht gegen ihre Götter. Sie riefen nicht nach Gott. In den Eichenwäldern Britanniens hatten die Drui­ den ihre Nachfolger. Odin und Freya behaupteten sich in ihrer Göttlichkeit in Gallien und Deutschland und unter den Hyper­ boreern. Ägypten war befriedigt durch seine Krokodile und Anubis. Die Perser beteten noch zu Ormudz und Ahriman. In der Hoffnung auf das Nirwana wanderten die Hindus so gedul­ dig wie je auf den Wegen des Brahma. Der herrliche griechische Geist bedichtete noch immer die Heldengötter Homers, während in Rom nichts so gewöhnlich und wohlfeil war wie Götter. Nein, die unglücklichen Verhältnisse kamen nicht von der Religion, sondern von der Mißwirtschaft, durch 252

Eindringlinge und Tyrannen. Die Menschen flehten um Erlö­ sung im politischen Sinne. Man flehte in Bodinum, Alexandria, Athen und Jerusalem um einen König, der sie befreien sollte, nicht um einen Gott, den sie anbeten wollten. Die von Rom unterjochten und auf Rom eifersüchtigen Völker setzten ihre Hoffnungen auf den Fall Roms. War erst das geschehen, folgte Erneuerung und Umgestaltung. Dafür hatten sie gebetet, verraten, rebelliert, gekämpft, und dafür waren sie gestorben, heute den Boden mit Blut düngend, morgen mit Tränen – und immer mit demselben Ergebnis. Ben Hur war eines Sinnes mit den nichtrömischen Menschenmassen. Die fünf Jahre Aufent­ halt in der Hauptstadt der Welt hatten ihm Gelegenheit gegeben, das Unglück der unterdrückten Welt zu erkennen: Und im festen Glauben daran, daß die Ursachen, die es hervor­ gerufen, politisch seien und nur mit dem Schwert geheilt werden konnten, hatte auch er sich auf das heroische Heilmittel vorbereitet. Durch seine Waffenübung war er ein hervorragen­ der Soldat geworden, aber der Krieg stellte noch höhere Aufgaben als die Verteidigung mit Schild und Speer. Dorthin ging sein Sinn. Der Feldherr ist ein Kämpfer, der mit einer Armee bewaffnet ist. Wenn Ben Hur von seiner Rache träumte, erkannte er ebenfalls, daß sie nur durch Krieg und nicht durch Frieden zu erfüllen sei. Man versteht so, welche Gefühle Balthasars Erzählung in ihm hervorrief. Sie berührte zwei empfindliche Seiten in seinem Herzen, die miteinander kämpf­ ten. Sein Herz schlug rasch, wenn er in sich hineinhorchte und keinen Zweifel daran fand, daß das so wunderbar gefundene Kind der Messias war. Groß war aber seine Verwunderung darüber, daß Israel sich so gleichgültig gegen die Offenbarung verhielt und daß er bis zu diesem Tag nichts davon gehört hatte. Zwei Fragen standen vor ihm, nichts war wichtiger, als darauf die Antwort zu erhalten. Und so legte er sie Balthasar vor: »Wo ist das Kind jetzt? Und was ist seine Sendung?« 253

Christus ist erschienen »Wenn ich dir nur darauf antworten könnte! Wüßte ich, wo er ist, wie rasch würde ich zu ihm gehen! Kein Meer und keine Berge könnten mich hindern.« »Hast du versucht, ihn zu finden?« Ein Lächeln überflog das Gesicht des Ägypters: »Meine erste Aufgabe, als ich den Schutz in der Wüste verlassen hatte, war die, zu erfahren, was aus dem Kind geworden war. Aber ein Jahr verging, und ich wagte noch nicht, persönlich nach Judäa zu gehen, denn Herodes saß noch auf seinem blutigen Thron. Bei meiner Rückkehr nach Ägypten fand ich ein paar Freunde, die an die wunderbaren Dinge glaubten, die ich gehört und gesehen hatte, und die sich mit mir freuten, daß der Erlöser geboren war. Sie wurden nicht müde, meiner Erzählung zu lauschen. Einige unternahmen es, nach dem Kinde zu forschen. Sie begaben sich zuerst nach Bethlehem und fanden dort die Herberge, aber den Torhüter jener Nacht fanden sie nicht. Der König hatte ihn entfernen lassen, und niemand hat ihn seitdem gesehen.« »Aber sie fanden sicherlich einige Beweise?« fragte Ben Hur ungeduldig. »Ja, Beweise, mit Blut geschrieben – ein trauerndes Dorf. Als Herodes von unserer Flucht gehört hatte, sandte er nach Beth­ lehem und ließ alle neugeborenen Kinder erschlagen. Nicht eins entkam. Meine Sendlinge wurden in ihrem Glauben bestärkt, aber sie kamen zu mir und sagten, das Kind sei tot, mit den andern Unschuldigen erschlagen.« »Tot?« rief Ben Hur entsetzt. »Tot, sagst du?« »Nein, mein Sohn, das sagte ich nicht. Ich sagte, meine Bo­ ten hätten es mir gesagt. Ich glaubte es damals nicht, ich glaube es heute nicht.« »Ich sehe, du hast besondere Nachrichten.« »Nein, das nicht. Der Geist hatte uns nur bis zu dem Kind 254

geführt. Als wir aus der Höhle kamen, sahen wir zuerst nach unserm Stern, aber er war verschwunden, und wir wußten, daß wir uns selber überlassen waren. Die letzte Erleuchtung war die, zu Ilderim in Sicherheit zu fliehen.« »Ja«, sagte der Scheik, »du sagtest mir, ein Geist habe dich zu mir gesandt – ich erinnere mich.« »Ich habe keine Nachrichten«, fuhr Balthasar fort, »aber, mein Sohn, ich habe viel darüber nachgedacht, Jahre hindurch, von meinem Glauben geleitet, der, Gott sei mein Zeuge, noch ebenso stark ist wie in der Stunde, in der ich die Stimme des Geistes an der Küste des Sees hörte. Ich will dir sagen, warum ich glaube, daß das Kind lebt. Wir drei glauben an Gott, und er ist in der Wahrheit. Das Wort ist Gott. Die Hügel mögen zu Staub zerfallen und das Meer vom Südwind aufgetrunken werden, aber sein Wort wird bleiben, denn er ist die Wahrheit.« Im Zelt herrschte tiefe Stille, und Balthasar hatte mit größter Feierlichkeit gesprochen. »Seine Stimme redete am See zu mir: ›Du bist gesegnet, o Sohn des Mizraim. Die Erlösung naht. Mit zwei anderen von den Grenzen der Erde sollst du den Erlöser sehen!‹ – Ich habe den Erlöser gesehen – gesegnet sei sein Name –, aber die Erlösung, der zweite Teil der Verheißung, soll erst kommen. Siehst du nun? Wenn das Kind tot wäre, gäbe es keinen, der die Erlösung bringen könnte. Das Wort wäre nichts, und Gott, ich wage es nicht auszusprechen…« Er hob beide Hände wie im Schrecken. »Die Erlösung ist das Werk, für das dieses Kind geboren wurde. Und solange die Verheißung nicht widerrufen wird, kann nicht einmal der Tod es von seinem Werk trennen, bis es erfüllt oder wenigstens auf dem Wege zur Erfüllung ist. Nimm das als einen Grund meines Glaubens.« Balthasar machte eine Pause. Ilderim bot ihm einen Becher Wein, und der Greis trank, um dann erfrischt fortzufahren. »Der Erlöser, den ich sah, war vom Weibe geboren, uns gleich und allen unsern Krankheiten, auch dem Tod unterwor­ 255

fen. Nimm das als die erste Voraussetzung. Betrachten wir das Werk, das ihm aufgetragen ist. Ist es nicht eine Aufgabe, der nur ein Mann gewachsen ist? Ein weiser, fester und kluger Mann, kein Kind? Um das zu werden, muß er aufwachsen wie wir. Bedenken wir nun die Gefahren, denen sein Leben in der Zwischenzeit ausgesetzt ist in den langen Jahren von der Kindheit bis zum Mannesalter. Die herrschenden Mächte sind seine Feinde. Herodes war sein Feind, und was würde Rom gewesen sein? Und Israel – daß er von Israel nicht aufgenom­ men werde, war der Grund, ihn beiseite zu schaffen. Verstehst du jetzt? Gab es einen besseren Weg, ihn in dieser ganzen Zeit zu schützen, als ihn in der Verborgenheit zu halten? Deshalb sage ich mir und zu meinem Glauben – ich sage, er ist nicht tot, sondern lebt im verborgenen, und da sein Werk noch nicht getan ist, wird er wieder erscheinen. Das sind die Gründe für meinen Glauben. Sind sie nicht gut?« Ilderims schmale Araberaugen waren voller Verständnis, und Ben Hur, der sich von seiner Niedergeschlagenheit erholt hatte, sagte: »Ich für mein Teil bestreite es nicht. Was weiter, bitte?« »Hast du noch nicht genug, mein Sohn? Nun, da ich erkann­ te, daß meine Gründe einfach und gut waren, begriff ich, daß es Gottes Wille war, wenn das Kind nicht gefunden war, und ich bewahrte meinen Glauben in Geduld und wartete. Ich warte noch immer. Er lebt und bewahrt sein mächtiges Geheimnis. Was tut es, daß ich nicht zu ihm gehen kann und daß ich den Namen des Hügels oder des Tals nicht kenne, wo er lebt? Er lebt, ob nun erst wie die Frucht in der Blüte oder schon vor der Reife – bei der Gewißheit, die in der Verheißung Gottes liegt, weiß ich, er lebt.« Ein Schauer der Ehrfurcht ging durch Ben Hur, ein Schauer, in dem ein letzter Zweifel schwand. »Wo, denkst du, mag er leben?« fragte er leise, als verschlös­ se ihm ein heiliges Schweigen die Lippen. Balthasar schaute ihn gütig an und erwiderte: »In meinem 256

Hause am Nil, das so nahe am Ufer liegt, daß die in den Booten Vorüberfahrenden das Haus und seine Spiegelung im Wasser sehen können, saß ich vor ein paar Wochen in Nachdenken versunken. – Ein dreißigjähriger Mann, sagte ich mir, sollte die Felder seines Lebens wohlbestellt und bepflanzt haben, denn dann ist es Sommer und nicht viel Zeit zur Reife. Das Kind ist jetzt siebenundzwanzig Jahre alt – die Saatzeit ist da. Ich stellte mir die gleiche Frage wie du, mein Sohn, und als Antwort machte ich mich hierher auf, dem passenden Ruheplatz nahe bei dem Lande, daß Gott deinen Vätern gab. Wo sollte der Verheißene sonst erscheinen als in Judäa? In welcher Stadt sollte er sein Werk beginnen, wenn nicht in Jerusalem? Wem sollten seine ersten Segnungen zuteil werden, wenn nicht den Kindern Abrahams, Isaaks und Jakobs? Wenn ich ihn suchen sollte, so würde ich die Flecken und Dörfer auf den Abhängen der Berge Judäas und Galiläas, die sich ostwärts zum Tal des Jordan senken, durchwandern. Dort ist er jetzt. Vielleicht steht er heute abend vor einer Tür oder auf einer Hügelkuppe und sah den Sonnenuntergang, schon einen Tag näher an dem Tag, an dem er selbst das Licht der Welt werden wird.« Balthasar schwieg, aber sein Arm und seine Hand deuteten noch immer ausgestreckt in die Richtung Judäas. Alle Zuhörer, selbst die Diener, die im Raum geblieben waren, empfanden die Gegenwart eines majestätischen Wesens im Zelt. Das Gefühl blieb, und alle schauten nachdenklich vor sich hin. Endlich brach Ben Hur die Stille: »Ich habe erkannt, guter Balthasar, daß du durch vielerlei und große Gunstbezeigungen ausgezeichnet worden bist. Auch das sehe ich, daß du ein Weiser bist. Ich bin nicht imstande, dir zu sagen, wie tief dankbar ich dir für das bin, was du uns erzählt hast. Ich bin vorbereitet auf große Ereignisse und hege etwas von deinem Glauben. Vollende nun deine Aufgabe, ich bitte dich, und sage uns mehr von der Sendung dessen, den du erwartest und den auch ich von nun an erwarte, wie es einem gläubigen Sohn 257

Judas geziemt. Du sagst: er ist der Erlöser, wird er nicht auch König der Juden sein?« »Mein Sohn, die Sendung ist noch in der Vorsehung Gottes geborgen. Alles, was ich denke, schöpfe ich aus den Worten der Stimme und aus dem Gebet, auf die sie geantwortet hat. Sollen wir sie noch einmal betrachten?« »Du bist unser Lehrer.« »Die Ursache meiner Unruhe, die mich zu einem Prediger in Alexandria und in den Dörfern am Nil machte, die mich schließlich in die Einsamkeit trieb, wo mich der Geist fand, war die Erkenntnis, daß die Menschheit gefallen war, weil sie Gott verloren hatte. Ich betrübte mich über das Elend meiner Mitmenschen, nicht nur einer Klasse, sondern aller Menschen. Ich sah, sie waren so tief gefallen, daß es keine Erlösung geben konnte, wenn Gott nicht selbst das Werk tat. Und ich betete, er möge kommen, so daß ich ihn sehen könnte. ›Deine guten Werke haben gesiegt; die Erlösung kommt, du sollst den Erlöser sehen‹, so hatte die Stimme gesprochen. Und mit dieser Antwort ging ich hocherfreut nach Jerusalem. Wem gilt die Erlösung? Der ganzen Menschheit! Und wie wird sie vollbracht? Stärke deinen Glauben, mein Sohn. Die Menschen sagen, es wird keine Glückseligkeit geben, ehe nicht Rom von seinen Hügeln verschwunden ist. Das soll heißen, wie ich denke, die Krankheiten der Zeit kommen nicht von der Gottlosigkeit, sondern von der Mißwirtschaft der Herrscher. Müssen wir uns sagen lassen, daß die menschlichen Regierun­ gen niemals um der Religion willen bestehen? Von wieviel Königen hast du gehört, daß sie besser sind als ihre Unterta­ nen? Nein, nein! Die Erlösung kann keinen politischen Zweck haben – nicht den, die Herrscher und Gewalthaber zu stürzen und ihre Plätze frei zu machen, damit andere sie einnehmen und sich ihrer erfreuen. Wäre das der Zweck, hörte Gottes Weisheit auf, ewig zu sein! Ich sage dir, und wäre mein Wort auch das eines Blinden zu einem Blinden: Der, der da kommen 258

soll, kommt als Erlöser der Seelen. Die Erlösung bedeutet, daß Gott wieder auf Erden wohnen wird und auf einer rechtschaf­ fenen Erde, so daß ihm der Aufenthalt erträglich ist.« Auf Ben Hurs Gesicht war seine Enttäuschung deutlich zu lesen. Er ließ den Kopf sinken. Obwohl er nicht überzeugt war, fühlte er sich außerstande, die Ansichten des Ägypters zu widerlegen. Anders fühlte Ilderim: »Bei der Herrlichkeit Gottes!« rief er in seiner erregbaren Art. »Eine solche Ansicht ist gegen jede Gewohnheit. Der Lauf der Welt ist festgelegt, er läßt sich nicht ändern. In jedem Gemeinwesen muß es einen Führer geben, der mit Macht ausgestattet ist, sonst ist keine Erneuerung möglich.« Balthasar nahm den Einwurf mit Ernst auf: »Deine Weisheit, guter Scheik, ist von dieser Welt, und du vergißt, daß es diese Welt ist, von der wir erlöst werden sollen. Der Ehrgeiz der Könige ist es, Menschen als Untertanen zu haben. Gottes Wunsch ist es, die Seele des Menschen zu erlösen.« Ilderim schwieg zwar, aber er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht zustimmen. Ben Hur griff die Entgegnung auf: »Vater – darf ich dich so nennen? –, nach wem solltest du an den Toren Jerusalems fragen?« Der Scheik sah ihn dankbar an: »Ich sollte das Volk fragen: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ « »Und du sahst ihn in der Höhle von Bethlehem?« »Wir sahen ihn und beteten ihn an und gaben ihm Geschenke – Melchior Gold, Kaspar Weihrauch und ich Myrrhen.« »Wenn du von Tatsachen sprichst, Vater, so heißt: dich hören – glauben. Aber wenn es sich um Ansichten handelt, kann ich nicht verstehen, was für eine Art König du aus dem Kind machen willst. Ich kann nicht den Herrscher von seiner Macht und Pflicht trennen.« »Sohn, wir pflegen naheliegende Dinge genau, entferntere oberflächlich zu betrachten. Du siehst jetzt nur den Titel: König der Juden. Richtest du aber deinen Blick auf das Ge­ 259

heimnis dahinter, wird der Stein des Anstoßes verschwinden. Ein Wort zu dem Titel. Dein Israel hat bessere Tage gesehen, Tage, in dem Gott es zärtlich sein Volk nannte und mit ihm durch die Propheten verkehrte. Nun, da er ihnen damals den Erlöser versprach, den Erlöser, den ich sah, da er ihn als König der Juden versprach, so muß seine Erscheinung der Verheißung entsprechen, wenn auch nur um des Wortes willen. Verstehst du nun den Sinn meiner Frage an dem Tor in Jerusalem? Du verstehst sie. Vielleicht denkst du an die Würde des Kindes. Wenn du es tust, so bedenke: Was soll es als Nachfolger des Herodes? Was? Sollte Gott zu seinem Auserwählten nicht liebevoller sein? Kannst du dir vorstellen, daß Gott, der Allmächtige, einen Titel braucht und deshalb zu den sündigen Menschen herabsteigt? Und warum hatte ich nicht den Auftrag, gleich nach einem Kaiser zu fragen? Willst du das Wesen, von dem wir sprechen, erfassen, so schau höher, ich bitte dich! Frage lieber, was für ein König er sein soll; denn, ich sage dir, mein Sohn, das ist der Schlüssel zum Geheimnis, und ohne den Schlüssel wird kein Mensch es verstehen.« Balthasar schaute andächtig zum Himmel. »Es gibt ein Kö­ nigreich auf der Erde, obwohl es nicht von der Erde ist, ein Königtum, das größer ist als die Erde, weiter als Meer und Land. Sein Dasein ist eine Tatsache, so wie unsere Herzen Tatsachen sind, und wir durchwandern dieses Reich von der Geburt bis zum Tode, ohne es zu sehen, noch soll ein Mensch es sehen, ehe er seine eigene Seele gesehen hat: Denn es ist ein Königreich nur für seine Seele.« »Was du sagst, Vater, ist mir ein Rätsel«, sagte Ben Hur, »denn ich habe niemals von solch einem Königreich gehört.« »Auch ich nicht«, sagte Ilderim. »Mehr mag ich darüber nicht sagen«, fuhr Balthasar fort und schlug die Augen nieder. »Was es ist, wozu es ist, wie es zu erlangen ist – keiner kann es sagen, bis das Kind kommt, um 260

von dem, was sein ist, Besitz zu ergreifen. Es bringt den Schlüssel zur unsichtbaren Pforte mit und wird sie den Erwähl­ ten öffnen. Unter ihnen werden alle sein, die es lieben; denn nur sie werden erlöst werden.« Alle schwiegen. Balthasar war zu Ende mit seinem Bericht. »Guter Scheik«, schloß er und erhob sich. »Morgen oder am folgenden Tag will ich für einige Zeit in die Stadt gehen. Meine Tochter will die Vorbereitungen zu den Spielen sehen. Ich werde dir die Zeit meiner Abreise noch genau angeben. Und dich, mein Sohn, werde ich wiedersehen. Friede sei mit euch! Und gute Nacht!« Alle erhoben sich. Der Scheik und Ben Hur schauten dem Ägypter nach, der aus dem Zelt geführt wurde. »Scheik Ilderim, ich habe heute abend seltsame Dinge ge­ hört. Erlaube mir bitte, mich am See zu ergehen, damit ich darüber nachdenken kann.« »Geh! Ich werde dir später folgen.« Sie wuschen sich wieder ihre Hände, ein Diener brachte Ben Hurs Schuhe, und er verließ das Zelt.

Das Königreich Etwas abseits von den Zelten stand eine Gruppe von Palmen dicht am Ufer des Sees. Eine Nachtigall sang in ihren Zweigen. Ben Hur blieb stehen, um ihr zu lauschen. Zu jeder andern Zeit hätte ihm der Gesang alle Gedanken verscheucht, aber die Erzählung des Ägypters war eine solche Last an wunderbaren Dingen, daß er sie tragen mußte wie ein Lastträger. Die Nacht war still. Alle Sterne des alten Ostens standen an ihrem gewohnten Platz. Überall war Sommer, auf dem Lande, auf dem See, im Himmel. 261

Aber Ben Hurs Phantasie war erregt wie seine Gefühle, und sein Wille war unentschlossen. Er stand jetzt in einer ähnlichen Welt, in die Balthasar vom Elend der Menschen vertrieben worden war. Konnten alle jene Erscheinungen des Wunders auch zu ihm kommen? Oder konnte er zu ihnen hinübergetra­ gen werden? Und wie, wenn sich das Wunder wiederholte – und in ihm wiederholte? Er fürchtete es und wünschte es herbei, er erwartete es. – Schließlich kühlte sich sein fiebriges Verlangen, und er konnte wieder nachdenken. Sein Lebensplan war ihm klargeworden. In allen seinen Gedanken über die Zukunft war eine Lücke geblieben, über die er keine Brücke schlagen oder die er nicht ausfüllen konnte. Sie war so groß, daß er nur ungenau sehen konnte, was jenseits war. Wenn er endlich ebenso Heerführer geworden war, wie er Soldat war, welcher Aufgabe sollten seine Kräfte dienen? Gewiß hatte er an Aufstand gedacht, aber alle Aufstände hatten immer zu dem gleichen Ergebnis geführt. Um die Menschen dazu zu bringen, mußte erstens ein Vorwand, zweitens ein Ziel vorhanden sein. Wer ein Unrecht rächen will, kämpft gut, aber besser kämpft der, dem das erlittene Unrecht ein Ansporn ist, um ein Ziel zu erreichen, das ihm Balsam für seine Wunden, Lohn für seine Tapferkeit, Dank für seine Mühen ist und das ihm, wenn der Tod ihn trifft, ein ruhmvolles Angedenken verheißt. Natürlich konnte er alles nur mit seinen Landsleuten unter­ nehmen. Die Beschwerden Israels waren jedem Sohn Abrahams eingefleischt, und jede war genügend Grund, den Aufstand als eine heilige Sache zu führen. Der Grund war vorhanden, aber wie würden die Folgen sein? Stunden und Tage hatte er über diesen Teil seines Plans nachgedacht, immer war er zu dem gleichen unbefriedigenden Ergebnis gekommen: einer unbestimmten, trüben, gestaltlosen Vorstellung der nationalen Freiheit. Genügte sie? Er konnte es noch nicht sagen; denn er hätte damit all seinen Hoffnungen das Todesur­ teil gesprochen. Er wagte nicht ja zu sagen, denn sein Urteil 262

belehrte ihn eines Besseren. Und auch die Zusicherung konnte er nicht geben, daß Israel allein imstande sein werde, den Kampf gegen Rom aufzunehmen. Er kannte die Mittel des mächtigen Gegners und wußte, daß seine Kunst noch größer war. Nur ein Bündnis aller gegen Rom konnte zum Ziel führen. Aber das war unmöglich, es sei denn, daß aus einem der unterdrückten Völker ein Held aufstehe, dessen Kriegsruhm und Erfolg die ganze Erde erfüllt. Welcher Ruhm für Judäa, hätte es das Mazedonien eines neuen Alexander sein können! Aber ach, unter den Rabbis war wohl mancher Tapfere, aber Disziplin im Heer war nicht zu erwarten. Und hatte Messala nicht recht gehabt mit seinem Vorwurf damals im Garten des Palastes: »Was ihr in sechs Tagen erobert, verliert ihr am siebenten!« So kam es, daß er sich dieser Lücke in seinen Plänen nie näherte, ohne davor wie vor einer unübersteigbaren Kluft zurückzuschrecken. Er mußte seinen Plan einem Zufall über­ lassen, zu einem andern Ergebnis war er noch nie gekommen. Der Held konnte erscheinen oder nicht. Gott allein wußte es. Als er Malluchs Erzählung über Balthasar zum erstenmal gehört hatte, war es über ihn wie eine Erleichterung gekom­ men: Hier war der Held! Und es war ein Sohn des Löwenstammes Juda, der König der Juden! Und hinter dem Helden stand eine ganze Welt in Waffen! Ein König setzte ein Königreich voraus. Es würde ein Krieger sein, ruhmreich wie David, ein Herrscher, weise und mächtig wie Salomo. Das Königreich würde eine Macht sein, an dem Rom in Stücke brach. Ein gewaltiger Krieg würde kommen mit seinen Todes­ nöten und Geburtswehen – aber dann würde der Frieden kommen und die Herrschaft der Juden für alle Zeit. Sein Herz schlug schneller, wenn er sich Jerusalem als die Hauptstadt der Welt vorstellte und Zion als Sitz des einen Herrschers über alle. Dort im Zelt – was für ein Glück! – saß der Mann, der den König gesehen hatte. Dort konnte er mit ihm 263

sprechen und alles erfahren, was er über die Zukunft wußte. Wenn es so war, dann mußte er den Kriegszug mit Maxentius aufgeben und alle Vorbereitungen zur Organisierung und Bewaffnung der Stämme treffen, damit Israel bereit war für den großen Tag der Erneuerung. Hatte ihn die wunderbare Erzählung Balthasars befriedigt? Über ihm lag ein Schatten, tiefer als dieser Schatten unter den Palmen, der Schatten der Ungewißheit. Was war mit dem Königreich? Und wie sollte alles werden? Er mußte den Weg des Kindes bis zum Ende verfolgen, und immer blieb es ein Rätsel, unverständlich für jeden, der nicht wußte, daß jeder Mensch aus zwei Wesen besteht: der unsterb­ lichen Seele und dem sterblichen Leib. – Was sollte geschehen? Für Ben Hur gab es nur die Worte Balthasars: Ein Reich auf Erden noch nicht, nicht für die Menschen, nur für ihre Seele. – Mitten in seinen Gedanken legte sich eine Hand auf seine Schulter: »Ich muß dir noch ein Wort sagen, Sohn des Arrius«, sagte Ilderim, »ein Wort, dann muß ich zur Ruhe gehen.« »Sei willkommen, Scheik!« »Schenke allem Glauben, was du gehört hast, nur nicht in dem, was das Reich betrifft, das von dem Kind errichtet wird. Darüber enthalte dich des Urteils, bis du Simonides, den Kaufmann, gehört hast, einen guten Mann in Antiochia, mit dem ich dich bekannt machen will. Der Ägypter erzählte dir seine Träume, die zu erhaben für diese Erde sind. Simonides ist weiser. Er wird dir die Aussprüche der Propheten anführen und Buch und Seite nennen, so daß du nicht daran zweifeln kannst, daß das Kind in Wahrheit König der Juden sein wird. Ja, bei der Herrlichkeit Gottes, ein König, wie Herodes es war, nur viel besser und viel gewaltiger. Und dann, du verstehst mich, werden wir die Süße der Rache kosten. Ich habe gesprochen. Friede sei mit dir!« »Bleibe, Scheik!« Aber Ilderim beachtete seinen Ruf nicht 264

und ging. Wieder Simonides! dachte Ben Hur bitter. – Simonides hier, Simonides dort. Es scheint, daß meines Vaters Diener seine Macht über mich wohl auszunutzen versteht. Wenigstens versteht er festzuhalten, was mein ist, und deshalb ist er rei­ cher, aber nicht weiser als der Ägypter. Bei der Bundeslade! Der Treulose ist nicht der Mann, zu dem man geht, um die Wahrheit zu erfahren. Ich werde es nicht tun. Er unterbrach seine Gedanken, denn er hörte in der Dunkel­ heit einen Gesang: Eine Frau singt – oder ein Engel? Sie kommt hierher. Auf dem See kam ein Boot, das den Zelten zuruderte. Die singende Stimme schwebte zu Ben Hur her und kam immer näher. Bald konnte er die langsamen Ruderschläge vernehmen und die Worte verstehen, Worte im reinsten Griechisch, ein Lied des Heimwehs nach dem Nil. Das Boot zog vorüber. Das letzte Wort »Lebewohl!« verhallte. Ich kenne sie, es ist die Tochter Balthasars. Wie schön war es! Und wie schön ist sie! Ben Hur sah die Sängerin, wie er sie zum erstenmal an der Quelle von Castalia gesehen hatte: Wie schön war sie! Und sein Herz schlug rascher. Aber im selben Augenblick tauchte ein anderes Gesicht vor ihm auf, ein jüngeres, ebenso schön, aber zarter und kindlicher und nicht mit dem leidenschaftlichen Ausdruck wie diese hier. »Esther«, sagte er lächelnd. »Ein Stern ist mir gesandt worden, wie ich es mir wünschte!« Er wandte sich und ging langsam zum Zelt zurück. Sein Herz, das von Kummer und Rachegedanken erfüllt war, hatte bisher keinen Raum für Liebe. Sollte dies der Anfang einer glücklichen Verwandlung sein? Und als er mit diesem Gefühl in sein Zelt trat, wer ging mit ihm? Esther hatte ihm einen Becher geboten. Das gleiche hatte die Ägypterin getan. Und beide waren zu ihm gekommen, zur gleichen Zeit unter 265

den Palmen.

Welche sollte er wählen?

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Fünftes Buch Messala legt seinen Kranz ab Am Morgen nach dem Bacchanal im Saale des Palastes von Idernee war der Diwan mit jungen Patriziern bedeckt. Mochte Maxentius kommen und die ganze Stadt auf den Straßen sein, ihn zu empfangen, mochte die Legion von Berg Sulpius herun­ tersteigen im Glanz ihrer Waffen und Panzer, mochte vom Nymphäum bis zum Omphalus eine Pracht entfaltet werden, wie sie der prachtliebende Osten noch nie gesehen hatte – die jungen Herren würden auf ihrem Diwan weiterschlafen, so wie sie niedergesunken waren oder von gleichgültigen Sklaven gebettet worden waren. An dem Empfang konnten sie jeden­ falls nicht teilnehmen. Aber nicht alle, die an der Orgie teilgenommen hatten, waren in diesem schmählichen Zustand. Als die Morgendämmerung durch die Deckenfenster des Saales fiel, erhob sich Messala und nahm den Kranz ab zum Zeichen, daß das Gelage zu Ende war. Er warf sein Oberkleid um, schaute noch einmal über die Szene und ging in sein Quartier. Cicero hätte nicht mit größe­ rem Anstand eine Nachtsitzung des Senats verlassen können. Drei Stunden danach betraten zwei Boten sein Zimmer, und jeder empfing aus seiner Hand ein versiegeltes Päckchen: Duplikate eines Briefes an den Prokurator Valerius Gratus, der noch in Caesarea residierte. Die Wichtigkeit der Briefe forderte rasche Beförderung. Einer der Boten sollte den Landweg nehmen, der andere zur See gehen. Beide sollten sich der größten Eile befleißigen. Der Brief lautete:

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»Antiochia, XII. Kal. des Juli Messala an Gratus O mein Midas! Ich bitte Dich, sei nicht beleidigt von der Anrede, sie kommt aus Liebe und Dankbarkeit, und sie soll Dir nur sagen, daß Du der glücklichste unter den Menschen bist. Ich habe Dir eine außerordentliche Begebenheit zu melden, die ohne Zweifel Deiner sofortigen Beachtung wert ist, obwohl sie zum Teil noch auf Vermutungen beruht. Ich muß erst Dein Gedächtnis auffrischen. Erinnere Dich, daß vor vielen Jahren in Jerusalem die Familie eines Fürsten wohnte, die sehr alt und unermeßlich reich war. Sie trug den Namen Hur. Sollte Dein Gedächtnis an irgendeiner Schwäche leiden, so findest Du, wenn ich nicht irre, eine Narbe an Dei­ nem Kopf, die Dir helfen wird, Dich der Umstände zu erinnern. Zur Strafe für den Angriff auf Dein Leben – mögen die Göt­ ter um der Ruhe des Gewissens willen verhindern, daß sich jemals erweist, es habe sich um einen Unfall gehandelt – wurde die Familie beiseite geschafft und ihr Vermögen konfisziert. Da es mit Zustimmung des Kaisers geschah, mögen seine Altäre stets blumengeschmückt sein! In der Erinnerung an die Summen, die uns damals aus dieser Quelle zugeflossen sind, sollte keine Schmach liegen, und ich werde Dir ewig dankbar sein, jedenfalls solange ich im unbestrittenen Besitz des mir zugefallenen Teils bin. Zum ferneren Beweise Deiner Klugheit rufe ich Dir noch ins Gedächtnis, daß Du eine Verfügung trafst, die wir beide damals für die wirksamste hielten, nämlich Stillschweigen, um den sicheren, aber natürlichen Tod der Betreffenden zu errei­ chen. Du wirst Dich Deiner Befehle über Mutter und Schwester des Übeltäters erinnern, und wenn ich jetzt dem Verlangen nachgebe zu erfahren, ob sie noch leben oder ob sie gestorben sind, so kenne ich Deine Liebenswürdigkeit zu gut, mein Gratus, als daß ich an Deinem Entgegenkommen zweifeln 268

dürfte. Da es die gegenwärtige Begebenheit betrifft, erinnere ich Dich noch weiter daran, daß der Verbrecher auf Lebenszeit zu den Galeeren verurteilt worden war. Es mag dazu dienen, die Ereignisse, die ich zu berichten im Begriff bin, um so wunder­ barer erscheinen zu lassen, zumal ich die schriftliche Bescheinigung seiner Ablieferung an den kommandierenden Tribun einer Galeere selbst gesehen und gelesen habe. Beginne ich Deine Aufmerksamkeit zu erregen? Zieht man die durchschnittliche Lebenszeit eines Galeeren­ sträflings in Betracht, so müßte dieser Hur schon seit fünf Jahren tot sein. Ich jedenfalls war dieser Meinung und genoß in Ruhe das Vermögen, das ich in gewissem Grade ihm verdanke. Ich komme zum Kernpunkt. Letzte Nacht, als ich ein Fest gab zu Ehren einiger eben aus Rom Angekommener, hörte ich eine sonderbare Geschichte. Wie Du weißt, kommt heute der Konsul Maxentius hier an, um gegen die Parther zu ziehen. Unter den Strebern, die ihn beglei­ ten, ist der Sohn des Duumvirs Quintus Arrius. Ich hatte Anlaß, mich nach ihm zu erkundigen, und erfuhr, daß Arrius, als er sich zur Verfolgung der Seeräuber aufmachte, deren Vernich­ tung ihm schließlich hohe Ehren einbrachte, keine Familie besaß. Als er zurückkehrte, brachte er einen Erben mit. Bewah­ re nun Deine Ruhe, wie es sich für den Besitzer so vieler Talente in gangbaren Sesterzen geziemt. Der Sohn und Erbe ist derselbe Ben Hur, den Du auf die Galeeren gesandt hast, derselbe Ben Hur, der schon vor fünf Jahren an seinem Ruder hätte zugrunde gehen müssen. Er ist zurückgekehrt, reich und angesehen und vermutlich als römischer Bürger, und wird… Nun, Du stehst zu fest, um besorgt zu sein, aber ich, mein Freund, bin in Gefahr: weshalb, brauche ich Dir nicht zu sagen; wer soll es wissen, wenn Du es nicht weißt! Was sagst Du zu alldem? Als Arrius, der Adoptivvater, mit den Seeräubern kämpfte, 269

versank sein Schiff. Alle, die darauf waren, gingen zugrunde, alle bis auf zwei – Arrius selbst und sein Erbe. Die Offiziere, die ihn von der Planke retteten, behaupten, der Gefährte des Tribuns sei ein junger Mann gewesen, der wie ein Galeerensklave gekleidet war, als er an Bord des rettenden Schiffes gebracht wurde. Das sollte, um das wenigste zu sagen, überzeugend sein. Damit Du aber nicht geringschätzig lächelst, sage ich Dir, mein Freund, daß ich gestern das Glück hatte, den geheimnisvollen Sohn des Arrius von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Und ich erkläre hiermit auf das bestimmteste, daß es jener Ben Hur ist, obwohl ich ihn nicht erkannte, der jahrelang mein Spielgefähr­ te war, derselbe Ben Hur, der, wenn er ein Mann selbst der niedrigsten Klasse ist, jetzt im Augenblick, da ich dies schrei­ be, Rache brütet, wie ich es an seiner Stelle tun würde, Rache, die mit nichts weniger als dem Leben befriedigt werden kann. Rache für sein Land, seine Mutter und Schwester, sich selbst und – ich nenne es zuletzt, obwohl Du denken wirst, es sei das erste – für sein verlorenes Vermögen. Und nun, mein guter Wohltäter und Freund, mein Gratus, in Anbetracht der gefährdeten Sesterzen, deren Verlust das Schlimmste wäre, was einem Mann Deines hohen Rangs geschehen kann – sage ich, ich glaube annehmen zu können, daß Du bereit bist darüber nachzudenken, was in einem solchen Fall geschehen müßte. Ich halte es für unpassend, Dich zu fragen, was getan werden muß. Laß mich Dir vielmehr erklären, daß ich mich unter Deinen Schutz stelle, daß Du mein Ulysses bist, dessen Aufga­ be es ist, mir einen vernünftigen Rat zu erteilen. Es macht mir Vergnügen, Dich mir vorzustellen, wenn Du diesen Brief liest. Ich sehe Dich, wie Du ihn zuerst mit einem ernsten Gesicht, dann wieder mit einem Lächeln überfliegst. Hat aber Deine Unschlüssigkeit ein Ende, und bist Du zu einem Plan gekommen, mag er so oder so sein, so wird er die 270

Weisheit Merkurs und die Entschlossenheit Cäsars bekunden. Die Sonne ist bereits aufgegangen. In einer Stunde werden zwei Boten aus meiner Tür hinausgehen, jeder mit einer ver­ siegelten Kopie dieses Briefes. Einer wird zu Lande, der andre zur See gehen, so wichtig erachte ich es, daß Du rasch und genau vom Erscheinen unsers Feindes in diesem Teil der Welt Nachricht erhältst. Ich will Deine Antwort hier abwarten. Ben Hurs Gehen und Kommen wird natürlich von seinem Gebieter, dem Konsul, bestimmt. Dieser kann, selbst wenn er seine Vorbereitungen Tag und Nacht betreibt, nicht vor einem Monat ausziehen. Du weißt ja, was es heißt, eine Armee zu sammeln und auszurüsten, die in einem so wüsten, städtearmen Land kämpfen soll. Ich sah den Juden gestern im Hain der Daphne, und wenn er jetzt nicht dort ist, so ist er gewiß in der Nähe, so daß es mir leicht sein wird, ihn im Auge zu behalten. Wenn Du mich fragst, wo er jetzt sein kann, würde ich mit größter Bestimmt­ heit antworten, man könne ihn im alten Palmengarten finden unter dem Zelt des verräterischen Scheiks Ilderim, der sich nicht mehr lange unsrer starken Hand entziehen kann. Sei nicht überrascht, wenn Maxentius als seine erste Maßnahme den Araber auf ein Schiff setzt und ihn nach Rom bringen läßt. Ich bin besonders genau bei den Angaben über den Aufent­ halt des Juden, weil es für Dich wichtig ist, o Herrlicher, wenn Du zu einem Entschluß kommst, was zu geschehen hat. Denn so viel weiß ich, und ich schmeichle mir, an Wissen zugenom­ men zu haben, daß in jedem Plan zu einer Handlung drei Elemente in Rechnung gestellt werden müssen: Zeit, Ort und Mittel. Wenn du meinst, der gegebene Ort sei hier, so zögere nicht, die Sache mir zu überlassen, Deinem liebenden Freund, der Dein gefügiger Schüler ist. Messala.« 271

Ilderims Araber im Joch Um die Zeit, als Messalas Boten abreisten, es war noch früh am Morgen, trat Ben Hur in Ilderims Zelt. Er hatte sich im See erfrischt, hatte gefrühstückt und erschien in seiner kurzen, ärmellosen römischen Untertunika vor dem Scheik. Ilderim begrüßte ihn vom Diwan: »Friede sei mit dir, Sohn des Arrius!« Er sagte es mit Bewunderung, denn er hatte noch nie ein so vollkommenes Bild blühender, kraftvoller und selbstbewußter Männlichkeit gesehen. »Die Pferde sind bereit, ich bin bereit, und du?« »Ich erwidere deinen Wunsch und den Willkommensgruß, guter Scheik! Ich bin bereit.« Ilderim klatschte in die Hände: »Ich will die Pferde bringen lassen. Nimm Platz!« »Sind sie angeschirrt?« »Nein.« »Dann bitte ich, es selbst tun zu dürfen. Ich muß mit den Arabern vertraut werden, ich muß ihre Namen erfahren, damit ich mit ihnen reden kann, auch ihren Charakter muß ich studie­ ren, denn sie sind wie die Menschen: wenn sie mutig sind, muß man sie zurückhalten, sind sie zaghaft, muß man sie loben und ermuntern. Die Diener sollen das Riemenzeug bringen.« »Und den Wagen?« »Den Wagen werde ich heute nicht benutzen. Laß mir an seiner Stelle ein fünftes Pferd geben, wenn du eins hast, es muß ohne Sattel sein und so schnell wie die andern.« Ilderims Neugier wurde rege, er befahl dem Diener, das Ge­ schirr und einen Zaum für Sirius zu bringen: »Sirius ist mein Liebling und ich bin der seine, Sohn des Arrius. Zwanzig Jahre sind wir Gefährten, im Zelt, im Kampf, in der Wüste. Ich will ihn dir zeigen.« Sie traten durch den Vorhang, alle Pferde kamen auf den 272

Scheik zu, eins wieherte freudig, als es ihn erblickte. »Braves Pferd!« Der Scheik klopfte den dunkelbraunen Hals. »Guten Morgen, braves Pferd! – Das ist Sirius, der Vater dieser vier. Mira, die Mutter, wartet an einem Ort auf unsre Rückkehr, wo sie eine strengere Hand versorgt als die meine, sie ist zu kostbar, als daß man sie einer Gefahr aussetzen dürfte. Ich bezweifle auch, daß der Stamm ihre Abwesenheit ertragen würde. Sie ist sein Ruhm. Alle verehren sie. Sie würden sich lachend unter ihre Hufe werfen. Zehntausend Reiter, Söhne der Wüste, fragen heute: ›Hast du von Mira gehört?‹ Und wenn sie die Antwort erhalten: ›Es geht ihr gut‹ – rufen sie aus: ›Gott ist gut, Gott sei gelobt!‹« »Mira, Sirius, das sind Sternennamen?« fragte Ben Hur, er ging zu jedem der Pferde und hielt ihnen seine Hand hin. »Und warum nicht?« antwortete Ilderim. »Warst du jemals nachts in der Wüste?« »Nein.« »Dann kannst du auch nicht wissen, wie wir Araber von den Sternen abhängen. Aus Dankbarkeit nehmen wir ihre Namen. Alle meine Väter hatten ihre Mira, so wie ich die meine, und auch ihre Kinder haben Sternennamen. Dieser da ist Rigel und der dort Aldebaran, der jüngste, aber nicht der geringste, o nein; er wird dich gegen den Wind tragen, bis es in deinen Ohren saust, er wird hingehen, wohin du willst, ja, bei der Herrlichkeit Salomos, er wird dich in den Rachen des Löwen tragen, wenn du es wagst.« Das Riemenzeug wurde gebracht. Ben Hur legte es den Pfer­ den mit eigener Hand an und führte sie aus dem Zelt: »Bringt mir Sirius!« Ein Araber konnte sich nicht geschickter auf den Rücken des Renners schwingen: »Und nun die Zügel!« Er hielt sie und trennte sie sorgfältig. »Ich bin bereit, guter Scheik. Laß Führer zum Feld vorangehen und sende ein paar Männer mit Wasser!« Alles ging gut am Anfang, die Pferde waren nicht scheu, 273

zwischen ihnen und dem neuen Lenker schien bereits ein stillschweigendes Einvernehmen zu herrschen. Ben Hur war ganz ruhig, mit dem Vertrauen, das Vertrauen hervorruft. Er hatte die Pferde in der Ordnung nebeneinander gestellt, wie sie vor dem Wagen laufen sollten. Ilderim wühlte zufrieden lächelnd in seinem Bart: »Der ist kein Römer, bei der Herrlich­ keit Gottes, nein!« Er folgte zu Fuß, und alle Männer, Frauen und Kinder aus den Zelten schlossen sich ihm an. Das Feld erwies sich für die Übungen wie geschaffen und groß genug. Ben Hur ließ das Gespann zuerst langsam geradeaus, dann in weitem Kreis laufen. Dann ließ er es traben und schließlich galoppieren. Er zog den Kreis immer enger und zum Schluß ließ er die Pferde bald dahin, bald dorthin, bald links, bald rechts ohne Rast dahinjagen. Nach einer Stunde lenkte er sie im Schritt zu Ilderim: »Die Arbeit ist getan, nun muß fortgesetzt geübt werden. Ich wün­ sche dir Glück, Scheik Ilderim, daß du solche Diener hast.« Er stieg ab und streichelte die Pferde. »Sieh, der Glanz ihres roten Fells ist ohne einen Flecken, sie atmen so leicht wie am Anfang. Ja, ich wünsche dir Glück!« und er wandte sich strahlend dem Greise zu: »Es müßte sonderbar zugehen, wenn wir nicht den Sieg und unsre…« Er hielt inne und errötete, dann verneigte er sich. Erst jetzt hatte er an der Seite des Scheiks Balthasar bemerkt, der sich auf einen Stab stützte und von zwei tiefverschleierten Frauen geführt wurde. Ben Hur blickte die eine an und sagte zu sich klopfenden Herzens: Das ist sie, die Ägypterin! Ilderim vollendete den Satz: »… den Sieg und unsre Rache erringen. – Ich fürchte nichts, Sohn des Arrius, ich freue mich: du bist mein Mann. Ist das Ende wie der Anfang, so sollst du sehen, was in der Hand eines Arabers liegt, der die Mittel besitzt, zu belohnen.« Ben Hur gab selbst den Pferden das Wasser. Dann bestieg er 274

wieder den Sirius und setzte seine Übungen fort, genau wie vorher, vom Schritt zum Trab, vom Trab zum Galopp, und ließ den Rennern zuletzt vollen Lauf. Es war für die Zuschauer ein wundervolles Schauspiel, sie hielten mit ihrem Beifall nicht zurück. Sie lobten den kundigen Gebrauch der Zügel und bewunderten die vier Renner, die sich immer gleich blieben, ob sie nun geradeaus oder in verschiedenen Kreisen dahinflogen. Sie erschienen wie eine Einheit, Kraft, Grazie und Freude zeigte sich in ihnen und nicht das geringste Zeichen von Mühe. Es gab an ihnen ebensowenig zu tadeln wie am Flug der Schwalben am Abend. Inmitten der Übungen erschien Malluch auf dem Feld und suchte den Scheik: »Ich habe eine Botschaft für dich vom Handelsherrn Simonides!« »Simonides! Möge Abbadon alle seine Feinde stürzen! Laß hören!« »Er trug mir auf, dir diese beiden Briefe zu übergeben mit der Bitte, sie sofort zu lesen!« Ilderim brach das Siegel des Päckchens und entnahm der Umhüllung aus feinem Leinen zwei Briefe, die er sogleich zu lesen begann: »Nr. 1. Simonides an Scheik Ilderim. Mein Freund! Sei zuerst versichert, daß Du einen Platz in meinem innersten Herzen einnimmst. Dann: In Deinen Zelten ist ein Jüngling von anmutiger Er­ scheinung, er nennt sich Sohn des Arrius und ist es durch Adoption. Er ist mir sehr teuer. Er hat eine wunderbare Geschichte. Komm heute oder mor­ gen, damit ich sie Dir erzählen kann. Unterdessen gewähre ihm alles, was er verlangt, soweit es 275

nicht gegen die Ehre verstößt. Sollten Auslagen zu ersetzen sein, so bin ich dazu verpflichtet. Behalte für Dich, daß ich Interesse an dem Jüngling nehme! Empfiehl mich Deinen andern Gästen. Er, seine Tochter, Du selbst und wen Du noch als Gesellschaft mitbringen willst, sind meine Gäste im Zirkus am Tag der Spiele. Ich habe bereits Sitze belegt. Friede sei mit Dir und den Deinen! Was sollte ich sein, o mein Freund, als Dein Freund. Simonides.« »Nr. 2.

Simonides an Scheik Ilderim.

Mein Freund!

Ich sende Dir eine Nachricht, die ich erfahren habe. Es gibt

ein Zeichen, daß sich alle Nichtrömer, die Gut und Geld besitzen, das dem Raub ausgesetzt ist, als Warnung dienen lassen müssen. Es hängt zusammen mit der Ankunft eines hochgestellten mit Macht bekleideten Römers am Sitz seines Amtes. Heute kommt der Konsul Maxentius.

Laß Dich warnen!

Und noch einen Rat.

Eine Verschwörung ist im Gange, die gegen Dich gerichtet

ist und zum Teil von Herodes ausgeht, Du hast große Besit­ zungen in seinen Ländern. Sei vorsichtig! Sende heute morgen zu Deinen treuen Wächtern an den Stra­ ßen, die von Antiochia südwärts führen, und befiehl ihnen, jeden Kurier zu untersuchen, der geht und kommt. Wenn sich dabei Botschaften finden, die Deine Geschäfte betreffen, so solltest Du sie sehen. Du hättest diesen Brief schon gestern erhalten sollen, allein wenn Du schnell handelst, ist es nicht zu spät. Wenn heute 276

morgen Kuriere Antiochia verlassen, so kennen Deine Wächter die Schleichwege und können sie abfangen, ehe sie Deine Befehle erhalten. Zögere nicht! Verbrenne das Schreiben. O mein Freund, Dein Freund Simonides.« Ilderim las die Briefe zweimal, faltete sie zusammen und steckte sie in seinen Gürtel. Ben Hur beendete nach zwei Stunden seine Übungen und lenkte das Gespann wieder zu Ilderim: »Mit deiner Erlaubnis, Scheik, will ich die Araber wieder ins Zelt bringen und erst am Nachmittag wieder holen.« »Ich überlasse sie dir bis nach den Spielen«, sagte er. »Du hast in zwei Stunden fertiggebracht, was der Römer – meine Schakale mögen seine Gebeine bis auf die Knochen abnagen – in vielen Wochen nicht konnte. Wir werden gewinnen, bei der Herrlichkeit Gottes!« Ben Hur blieb im Zelt, bis die Pferde versorgt waren. Dann erholte er sich durch ein Bad im See und einen Schluck Arrak mit dem Scheik, der in der besten Stimmung war, zog sein jüdisches Oberkleid an und erging sich mit Malluch unter den Palmen. Mitten in der Unterhaltung sagte Ben Hur: »Ich werde dir eine Anweisung für mein Gepäck in der Herberge auf dieser Seite des Flusses nahe der Brücke geben. Bring es mir, wenn du kannst, noch heute. Und, guter Malluch, wenn es nicht zuviel verlangt ist –« Malluch erklärte sich sofort bereit, ihm jeden Dienst zu erweisen. »Dank, guter Malluch. Ich will dich beim Wort nehmen. Wir sind ja Brüder eines Stammes und Rom ist unser gemeinsamer Feind. Da du ein Geschäftsmann bist, während ich befürchte, Ilderim ist keiner –« »Araber haben selten Geschäftskenntnis«, fiel Malluch ein. 277

»Schlau sind sie immer, und es ist gut, sich mit ihnen vorzu­ sehen. Um jedes Hindernis und jede List bei dem Rennen im voraus zu beseitigen, würde es mich sehr beruhigen, wenn du dich bei der Leitung des Zirkus erkundigen wolltest, ob der Scheik alle Vorbedingungen richtig erfüllt hat. Kannst du eine Abschrift der Vorschriften erhalten, wäre es mir sehr nützlich. Ich möchte auch die Farben wissen, die ich tragen soll, beson­ ders auch die Nummer meines Platzes, an dem das Rennen beginnt. Liegt er neben dem Messalas, so ist es gut, sonst sieh zu, den Platz zu wechseln, daß ich neben den Römer komme. Hast du ein gutes Gedächtnis, Malluch?« »Es hat mich schon im Stich gelassen, aber nie, wenn ihm das Herz zu Hilfe kommt wie jetzt.« »Dann will ich dich noch um einen Dienst bitten. Ich sah gestern, wie stolz Messala auf seinen Wagen ist, und zwar mit Recht, denn der beste des Kaisers kann ihn kaum erreichen. Kannst du seinen Prunk nicht zum Vorwand einer genauen Untersuchung nehmen, um herauszufinden, ob er leicht oder schwer ist? Ich möchte gern sein genaues Maß und Gewicht haben. Und wenn du nichts anderes feststellen kannst, bring mir wenigstens die genaue Höhe der Achse vom Boden. Verstehst du, Malluch? Ich will nicht, daß Messala irgendeinen besonderen Vorteil vor mir hat. Die Pracht des Wagens ist mir gleichgültig. Wenn ich ihn schlage, wird seine Niederlage nur schmählicher und mein Sieg vollständiger sein. Besitzt er aber wirklich Vorteile, so möchte ich sie kennenlernen.« »Ich verstehe«, antwortete Malluch, »du willst, daß ich die Höhe der Achse vom Boden messe.« »Das ist es, Malluch. Und es ist mein letzter Auftrag. Laß uns zu den Zelten zurückgehen!« An der Tür des Zeltes erfrischten sie sich, dann ging Malluch zur Stadt zurück. Während ihrer Abwesenheit hatte Ilderim einen berittenen Boten mit seinen Befehlen an seine Wächter abgesandt. Es war 278

ein Araber, und er hatte nichts Schriftliches bei sich.

Die Künste der Kleopatra »Iras, die Tochter Balthasars, sendet mich mit Grüßen und einer Botschaft zu dir.« Ein Bote war in Ben Hurs Zelt getre­ ten, während er ruhte. »Sage mir die Botschaft!« »Würde es dir gefallen, sie auf dem See zu begleiten?« »Ich werde ihr die Antwort selbst bringen. Sage es ihr.« Es war Abend. Man hörte das Läuten der Schafglocken, das Muhen der Kühe und die Stimmen der Hirten, die ihre Herden heim­ brachten. Scheik Ilderim war bei den Übungen am Nachmittag dabei­ gewesen, sie hatten sich so wie die vom Morgen abgespielt. Dann war er in die Stadt gegangen, um Simonides aufzusu­ chen, er wollte am Abend zurück sein, aber die beiden Freunde hatten soviel zu besprechen, daß er kaum erwartet werden konnte. Ben Hur war allein geblieben, er hatte sich um seine Pferde gekümmert, sich im See erfrischt, sein weißes Sadduzäer-Gewand angelegt, früh gegessen, und war dabei, sich auszuruhen. Daß die Ägypterin ihn rufen ließ, erregte ihn. Für ihn war sie wie Sulamit aus dem Hohenlied Salomos. Ihre Schönheit bezwang ihn, aber es war nicht Liebe, die ihn zu ihr zog, sondern Bewunderung und auch Neugier. Er ging die Treppen zum Landeplatz hinab, der von zwei Lampen erhellt war. Im klaren Wasser lag ein Boot, das einer Eischale glich. Ein Äthiopier – es war der Kamelführer von der Quelle – saß auf dem Ruderplatz, er trug ein weißes Gewand, das seine Schwärze noch erhöhte. Das ganze Boot war mit Vorhängen und Kissen aus leuchtendem tyrianischem Rot 279

bedeckt. Am Steuer saß die Ägypterin, in indische Schals gehüllt. Ihre Arme waren bloß bis zu den Schultern und fehler­ los wie ihre Hände. Über die Schultern war ein dünner Schal geworfen. Als Ben Hur sie so vor sich sah, kamen ihm wieder die Hul­ digungen des Hohenlieds in den Sinn und er verharrte in ihrem Anblick. »Komm! Oder ich muß denken, du bist nicht gern auf dem Wasser.« Er errötete. Wußte sie etwas über sein Leben auf dem Meer? Er stieg ins Boot. »Ich war in Sorge«, sagte er, als er sich auf seinen Platz setz­ te. »Worüber?« »Daß das Boot sinken könne«, antwortete er lächelnd. »Warte, bis wir im tieferen Wasser sind.« Auf ihr Zeichen begann der Schwarze zu rudern. Wenn Liebe und Ben Hur Feinde waren, so war er jedenfalls nicht in ihrer Gewalt. Die Ägypterin saß vor ihm, so daß er nur sie sehen konnte. Mochte die Nacht kommen, empfand er, ihre Augen würden ihm wie Sterne leuchten. »Gib mir das Ruder«, bat er. »Nein, das wäre gegen die Verabredung. Ich bat dich, mit mir zu fahren. Ich bin dir verschuldet und möchte mit der Zahlung beginnen. Du magst reden, ich werde zuhören, oder ich werde reden und du hörst zu. Du magst wählen. Aber wohin wir steuern, mußt du mir überlassen.« »Und wohin wird das sein?« »Du bist wieder beunruhigt?« »O schöne Ägypterin, ich stelle nur die erste Frage jedes Gefangenen.« »Nenne mich Ägypten!« »Ich möchte dich lieber Iras nennen.« »Du kannst mich in deinen Gedanken so nennen. Aber rede 280

mich Ägypten an.« »Ägypten ist ein Land und bedeutet viele Menschen.« »Jaja! Und ein solches Land…« »Ich verstehe, wir fahren nach Ägypten.« »Könnten wir es! Ich wäre glücklich.« »Du hast keine Angst vor mir?« »Hätte ich das, wärst du nicht hier.« »Ich war nie in Ägypten.« »Das ist ein Land, wo es keine unglücklichen Menschen gibt, ersehnt von allen andern der Erde, die Mutter aller Götter und darum so gesegnet. Dort, o Sohn des Arrius, findet der Glück­ liche höhere Glückseligkeit, und der Unglückliche braucht nur einen Schluck vom süßen Wasser des heiligen Flusses zu trinken, um wieder zu lachen, zu singen und sich wie ein Kind zu freuen.« »Gibt es nicht auch dort Arme wie überall?« »Die Armen in Ägypten sind ganz einfach und bescheiden. Sie haben keine Wünsche über das Nötigste hinaus. Und wie wenig das ist, kann kein Grieche oder Römer wissen.« »Ich bin weder Grieche noch Römer.« Sie lachte: »Ich habe einen Rosengarten, in der Mitte steht ein Strauch, der am reichsten blüht. Woher mag er stammen?« »Aus Persien, der Heimat der Rosen.« »Nein.« »Aus Indien?« »Nein.« »Ah, von einer griechischen Insel.« »Ich will es dir sagen, ein Reisender fand ihn zerstört an der Straße auf der Ebene von Rephaim.« »In Judäa!« »Ich pflanzte ihn ein in die fruchtbare Erde, die der Nil zu­ rückläßt, der sanfte Südwind wehte aus der Wüste und nährte ihn und die Sonne küßte ihn voller Mitleid. Nun konnte er nur wachsen und blühen. Nun steht er herrlich da und dankt mir 281

mit seinem Duft. So wie es den Rosen ergeht, ergeht es den Menschen von Israel. Wo anders sollen sie sich entfalten als in Ägypten?« »Moses war einer von Millionen.« »Nein, es gab einen Traumdeuter. Vergißt du ihn?« »Die freundlichen Pharaonen sind tot.« »Ja. Der Strom, an dem sie wohnten, singt ihnen zu in ihren Gräbern. Aber noch immer erwärmt dieselbe Sonne dieselbe Luft und dasselbe Volk.« »Alexandria ist nur noch eine römische Stadt.« »Sie hat nur das Zepter gewechselt. Cäsar nahm von ihr das Schwert und gab ihr dafür die Wissenschaft. Geh mit mir zum Brucheium, und ich will dir die Schulen der Nationen zeigen, zum Serapeion, und du sollst die Vollkommenheit der Bau­ kunst sehen, zur Bibliothek, um die Bücher der Unsterblichen zu lesen, zum Theater, in dem die Tragödien der Griechen und Inder gespielt werden, zum Hafen, wo der Handel blüht. Geh mit mir durch die Straßen, und wenn die Philosophen gegangen sind und mit ihnen die Meister aller Künste, und alle Götter in ihre Heiligtümer, und nichts geblieben ist als nur Freude, sollst du die Geschichten hören, die alle Menschen von jeher ent­ zückt haben, und die Lieder, die nie, niemals vergehen werden.« Ben Hur mußte an seine Mutter denken, als sie ihm damals in Jerusalem dasselbe Loblied ihres Volkes sang. »Jetzt begreife ich, warum du Ägypten genannt werden willst. Willst du mir das Lied singen, das ich gestern nacht hörte?« »Es war eine Hymne an den Nil, eine Klage, die ich singe, wenn ich den Atem der Wüste spüren will und das Rauschen des alten lieben Stroms hören will, das Lied hat etwas von der Seele Indiens.« »Wenn wir in Alexandria sind, will ich dich an eine Straßen­ ecke führen, wo du es von einer Tochter des Ganges hören 282

kannst. Kapila war eine der schönsten indischen Sagen.« Und sie sang das Lied der gestrigen Nacht. Ben Hur hatte nicht die Zeit, um ihr seinen Dank zu sagen, denn der Kiel knirschte schon im Sand, und im nächsten Augenblick stieß das Boot ans Ufer. »Eine kurze Reise, Ägypten!« rief er. »Und eine kürzere Rast!« Mit einem starken Stoß trieb der Schwarze das Boot ins Wasser zurück. »Gib mir jetzt das Steuer!« »O nein, der Wagen für dich, für mich das Boot. – Wir sind am Ende des Sees. Wir waren in Ägypten, nun laß uns zum Hain der Daphne fahren!« »Ohne ein Lied auf den Weg?« »Erzähl mir etwas von dem Römer, vor dem du uns gerettet hast!« Die Frage traf Ben Hur unerwartet. »Ich wünschte, dies wäre der Nil. Die Könige und Königin­ nen, die so lange geschlafen haben, sollten aus ihren Gräbern kommen und mit uns fahren.« »Sie wären zu gewaltig und würden unser Boot zum Sinken bringen. Die Pygmäen wären vorzuziehen. – Aber erzähl mir etwas von dem Römer! Er ist sehr böse, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht.« »Stammt er aus einer edlen und reichen Familie?« »Ich weiß nichts über seinen Reichtum.« »Was für schöne Pferde er hatte! Das Wagenbett war aus Gold und die Räder aus Elfenbein. Und seine Kühnheit! Die Umstehenden lachten, als er davonfuhr, aber sie wären fast unter seine Räder gekommen.« »Es war Pöbel.« »Er muß einer jener Ungeheuer sein, wie sie in Rom wachsen sollen – ein Apoll, gefräßig wie Cerberus. Lebt er in Antio­ chia?« »Er ist irgendwo im Osten.« 283

»Ägypten würde ihm besser tun als Syrien.« »Schwerlich. Kleopatra ist tot.« »Da ist das Zeltlager!« rief sie, als die Lampen in Sicht ka­ men. »Oh, dann waren wir nicht in Ägypten. Ich habe Karnak oder Philä und Abydos nicht gesehen! Das ist nicht der Nil. Ich habe nur ein indisches Lied gehört und bin in einem Traumboot gefahren.« »Philä, Karnak. Bedaure mehr, daß du den Ramses von Aboo Simbel nicht gesehen hast, vor dem es einfach ist, an Gott zu denken, den Schöpfer Himmels und der Erden. Aber warum sollst du immer bedauern? Gehen wir wieder auf den Fluß, und ich will dir eine Geschichte aus Ägypten erzählen.« »Ja, gehen wir! Bis zum Morgen, bis zum Abend und zum nächsten Morgen.« »Wovon soll meine Geschichte handeln? Von den Mathema­ tikern?« »O nein!« »Von den Philosophen?« »Nein, nein!« »Von den Zauberern und Geistern?« »Wenn du willst.« »Vom Krieg?« »Ja.« »Von der Liebe?« »Ja.« »So will ich dir ein Heilmittel gegen die Liebe geben. Es ist die Geschichte der Königin Ne-Ne-Hofra…« Ben Hur saß zu Füßen der Ägypterin und lauschte ihrer Stimme. Seine Hand lag auf der ihren, die das Ruder hielt. Als sie geschlossen hatte, fragte sie: »Gibt es kein Heilmittel gegen die Liebe?« »O ja, den Tod!« »Du bist ein guter Zuhörer, Sohn des Arrius…« 284

Als sie landeten, sagte sie: »Morgen gehen wir in die Stadt.« »Aber du wirst bei den Spielen sein?« »Gewiß.« »Ich werde dir meine Farben senden.« Damit verabschiedeten sie sich.

Messala hält Wacht Ilderim kam zum Zeltlager am nächsten Tag etwa um die dritte Stunde zurück. Als er abstieg, trat ihm ein Mann entge­ gen, den er sogleich als ein Mitglied seines Stammes erkannte: »Ich erhielt den Auftrag, Scheik, dir dieses Päckchen zu übergeben, mit dem Ersuchen, es sofort zu lesen. Wenn eine Antwort nötig ist, soll ich mich zu deiner Verfügung halten.« Ilderim betrachtete das Päckchen. Das Siegel war bereits erbrochen. Die Adresse lautete: An Valerius Gratus in Cäsarea. »Abbadon hole ihn«, brummte der Scheik, als er sah, daß der Brief in Latein war. Wäre der Brief griechisch oder arabisch geschrieben, hätte er ihn lesen können, so konnte er nur die in großen römischen Buchstaben geschriebene Adresse und die Unterschrift entziffern: »Messala« lautete sie. Seine Augen sprühten. »Wo ist der junge Jude?« fragte er. »Mit den Pferden auf dem Feld«, antwortete ein Diener. Der Scheik bestieg sein Pferd. In diesem Augenblick erschien ein Fremder, anscheinend aus der Stadt: »Ich suche den Scheik Ilderim, genannt der Gütige«, sagte er. Sprache und Kleidung zeigten, daß er ein Römer war. Was Ilderim nicht lesen konnte, konnte er doch sprechen, so antwortete der alte Araber mit Würde: »Ich bin Scheik Ilderim.« Der Mann schlug seine Augen nieder, als er sie wieder hob, sagte er mit erzwungener Ruhe: »Ich hörte, du brauchst einen 285

Lenker für die Spiele.« Ilderims Lippen verzogen sich unter seinem weißen Bart zu einem verächtlichen Lächeln: »Gehe deines Wegs! Ich habe einen Lenker.« Er wandte sich, um fortzureiten. Aber der Mann blieb stehen: »Scheik, ich bin ein Liebhaber von Pferden, man sagt, du hättest die schönsten der Welt.« Der Greis fühlte sich geschmeichelt, er zog am Zügel, als wolle er bleiben, besann sich dann aber anders: »Nicht heute, nicht jetzt. Ein andermal will ich sie dir zeigen. Jetzt bin ich zu sehr beschäftigt.« Er ritt aufs Feld, während der Fremde sich lächelnd auf den Weg zur Stadt machte. Er hatte seinen Zweck erreicht. Und täglich kam von da an bis zum Tag der Spiele ein Mann, manchmal kamen auch zwei oder drei zu dem Scheik und boten sich als Lenker an. Sie waren von Messala gesandt, Ben Hur zu überwachen.

Ilderim und Ben Hur beraten Der Scheik wartete, bis Ben Hur die Pferde für den Vormit­ tag vom Felde nahm, voller Zufriedenheit, denn er hatte bemerkt, daß sie bei allen Übungen ihr volle Schnelligkeit entwickelten, keins schien schneller als das andere, alle vier waren eins. »Heute nachmittag, mein Scheik, gebe ich dir Sirius zurück. Ich werde von jetzt an den Wagen nehmen.« »Schon so bald?« »Mit solchen Gefährten genügt ein Tag. Sie sind nicht ängst­ lich, sie haben die Klugheit eines Menschen, und sie lieben die Übungen. Dieses eine, du nanntest es Aldebaran, ist das schnellste. Im Stadion würde es die anderen um drei Längen 286

schlagen.« »Aldebaran ist das schnellste. Und welches ist das langsam­ ste?« »Dieses hier!« Ben Hur nahm die Zügel des Antares. »Aber es wird gewinnen, denn, siehst du, Scheik, es kann den ganzen Tag rennen und wird am Abend, wenn die Sonne untergeht, seine größte Schnelligkeit erreichen.« »Du hast recht.« »Ich habe nur eine Besorgnis, Scheik! In seiner Begierde nach dem Sieg kann ein Römer seine Ehre nicht rein halten. In allen Spielen haben sie unzählige Kniffe. Beim Wagenrennen erstrecken sich ihre Listen auf alles, vom Pferd bis zum Len­ ker, vom Lenker bis auf seinen Herrn. Deshalb, guter Scheik, gib acht auf das Deine! Laß von heute an, bis das Rennen vorüber ist, keinen Fremden die Pferde sehen. Willst du voll­ kommen sicher gehen, so tue noch mehr, bewache sie mit schlaflosem Auge und bewaffneter Hand. Dann habe ich für den Ausgang keine Sorge.« »Was du willst, soll geschehen. Keine Hand als die meiner Getreuen soll sie berühren. Heute nacht werde ich Wachen ausstellen. – Aber, sieh hier, Sohn des Arrius, sieh dir das an und hilf mir mit deinem Latein.« Dann übergab er ihm den Brief Messalas an Gratus: »Lies laut und übersetze es in die Sprache deiner Väter. Latein ist mir ein Greuel.« Ben Hur, der in gehobener Stimmung gewesen war, stutzte. Eine Ahnung trieb ihm das Blut zum Herzen. Ilderim bemerkte seine Aufregung: »Nun, ich warte.« Ben Hur las. Als er an die Stelle kam, wo von dem Schwei­ gen und der Auslieferung der Familie zum unvermeidlichen, aber natürlichen Tod die Rede war, brach er ab, der Brief entfiel ihm, und er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen: »Sie sind tot – tot. Ich allein bin übrig.« Der Scheik erhob sich: »Ich bitte dich um Verzeihung, Sohn des Arrius, lies den Brief allein für dich. Wenn du dich stark 287

genug fühlst, mir den Rest mitzuteilen, so laß mich rufen.« Er ging hinaus aus dem Zelt, und nichts in seinem Leben hatte ihm besser angestanden. Ben Hur hatte sich auf den Diwan geworfen und überließ sich seinem Schmerz. Als er nach einer Pause weiterlas und an die Stelle kam, wo Messala fragte, ob Mutter und Schwester noch leben, rief er aus: »Er weiß es nicht, ob sie tot sind! Gepriesen sei der Name des Herrn! Noch ist nicht alle Hoffnung verloren.« Neu gestärkt las er den Brief zu Ende. »Ja, sie sind nicht tot«, wiederholte er sich, »sonst hätte Mes­ sala es erfahren.« Nun sandte er nach dem Scheik. »Als ich dein gastliches Zelt aufsuchte, lag es nicht in meiner Absicht, mehr von mir zu erzählen, als was sich auf meine Erfahrung mit den Pferden bezog. Ich weigerte mich, dir meine Lebensgeschichte zu berichten. Aber diese Fügung, die den Brief in meine Hände spielte, ist so merkwürdig, daß ich dir alles anvertrauen muß, was mich betrifft. Dazu kommt, daß wir einen gemeinsamen Feind haben, gegen den wir gemeinsame Sache machen müssen. Ich werde dir den Brief vorlesen und dir die nötigen Erklärungen geben. Du wirst dich dann nicht mehr über meine Erregung wundern und mich entschuldigen, falls du mich für schwach oder kindisch gehalten hast.« Ben Hur las den Brief Satz für Satz in der Sprache vor, die der Scheik verstand. Als die Stelle kam, an der Messala ihn einen Verräter nannte, schrie er wütend im schrillsten Ton: »Was, Verräter?« Aber Ben Hur unterbrach ihn: »Das ist Messalas Meinung über dich, aber höre seine Dro­ hung!« Und er las ihm die Sätze vor, in denen Messala von der Ver­ schickung des Scheiks schrieb. »Nach Rom? Mich, Ilderim, den Scheik von zehntausend 288

speerbewaffneten Reitern, mich nach Rom?« Er sprang hoch mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, die sich wie Krallen krümmten: »O Gott, nein, bei allen Göttern, mit Ausnahme derer von Rom! Wann soll diese Unverschämtheit enden? Ich bin ein freier Mann, mein Volk ist frei! Sollen wir als Sklaven sterben, oder soll ich, was noch schlimmer ist, wie ein Hund leben, der zu den Füßen seines Herrn kriecht? Muß ich die Hand lecken, die mich schlägt? Was mein ist, soll nicht mehr mein sein? Ich gehöre mir nicht, denn mit meinem Atemzug soll ich einem Römer danken? Könnte ich wieder jung werden, könnte ich zwanzig oder zehn oder fünf Jahre abschütteln!« Er knirschte mit den Zähnen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Plötzlich packte er Ben Hur bei den Schul­ tern: »Wäre ich an deiner Stelle, Sohn des Arrius, so jung, so stark, so waffenkundig, hätte ich einen Grund zur Rache wie den deinen, groß genug, Haß zu heiligen – fort mit aller Ver­ stellung zwischen dir und mir! –, Sohn Hurs sage ich…« Bei diesem Namen stockte Ben Hurs Blut. Erstaunt, verwirrt blickte er in des Arabers Augen. »Sohn Hurs, sage ich, wäre ich an deiner Stelle, ich würde und könnte nicht ruhn…« Die Worte sprudelten aus dem Mund des Greises. »Meinen eigenen Unbilden würde ich die der ganzen Welt hinzufügen und mich der Rache widmen. Von Land zu Land würde ich ziehen und die ganze Menschheit aufwiegeln. An jedem Freiheitskrieg würde ich teilnehmen. Ich würde mich, wenn es nichts Besseres gäbe, zu den Parthern schlagen. Und fände ich bei den Menschen keinen Anhang, würde ich zu den Wölfen gehen und mich mit Löwen und Tigern befreunden, in der Hoffnung, sie gegen den gemeinsamen Feind aufzureizen. Ich würde jede Waffe gebrauchen. Mir würde genügen, daß 289

meine Opfer Römer sind, um mich an der Metzelei zu freuen. Niemand würde ich schonen, niemand um Schonung bitten. In die Flammen mit allem, was römisch ist! Vor das Schwert alle, die römisch geboren sind! Nachts würde ich die Götter anfle­ hen, die guten wie die bösen Götter, daß sie mir ihre Schrecken verleihen: Sturm, Hitze, Dürre, Kälte und alle die namenlosen Gifte in der Luft, alle die tausend Dinge, durch die Menschen sterben auf dem Meer und auf dem Land. Oh, ich könnte nicht schlafen!« Ilderim konnte nicht mehr, der Atem stockte ihm. Zum erstenmal seit Jahren war Ben Hur mit seinem eigenen Namen angesprochen worden. Ein Mensch wenigstens kannte ihn, und einer wenigstens glaubte ihm, ohne Beweise zu verlangen. Und er war ein Araber aus der Wüste! Wie kam er dazu? Von einer Art Hoffnung belebt, versuchte er Ruhe zu bewahren: »Guter Scheik, wie kamst du zu diesem Brief?« »Meine Leute, die auf den Straßen zwischen den Städten lauern, nahmen ihn einem Kurier ab.« »Weiß man, daß es deine Leute waren?« »Nein. Vor der Welt sind es Räuber, die ich fangen und töten soll.« »Scheik, du nanntest mich Sohn Hurs. So hieß mein Vater, Ich glaubte, mich kenne kein einziger Mensch in der Welt. Woher kennst du mich?« Ilderim zögerte mit der Antwort: »Ich kenne dich, laß dir das genügen, denn noch darf ich nicht mehr sagen.« »Zwingt dich jemand?« Der Scheik blieb stumm und wollte gehen, aber da er Ben Hurs Enttäuschung sah, kam er zurück: »Laß uns jetzt nicht weiter über die Sache reden. Ich will zur Stadt. Wenn ich zurückkehre, werde ich mit dir sprechen. Gib mir den Brief! Ich sagte dir, was ich an deiner Stelle tun würde, 290

du hast mir nicht darauf geantwortet.« »Ich wollte dir darauf antworten, Scheik, und ich will es. Ich werde alles tun, soweit es in der Macht eines Menschen liegt. Ich habe mein Leben längst der Rache geweiht. Keine Stunde der vergangenen fünf Jahre diente einem anderen Zweck. Ich habe mir keine Ruhe gegönnt. Ich verschmähte alle Vergnü­ gungen der Jugend. Die Schmeicheleien Roms galten mir nichts. Ich benutzte sie nur, um mich zur Rache zu erziehen. Ich nahm mir die berühmtesten Meister und Lehrer, nicht solche für Rhetorik oder Philosophie, dafür hatte ich leider keine Zeit, sondern solche, die mich in die Kunst des Kämp­ fens einweihen konnten. Ich gesellte mich zu Gladiatoren und Preisträgern im Zirkus, und sie wurden meine Lehrer. Die Exerziermeister in den großen Lagern nahmen mich als Schüler und waren stolz auf meine Fortschritte. Ich bin Soldat, aber die Dinge, von denen ich träume, verlangen, daß ich Heerführer werde. Mit diesem Gedanken meldete ich mich zum Zug gegen die Parther. Wenn er vorbei ist und Gott mir Leben und Kraft schenkt – dann…« Ben Hur schüttelte die geballten Fäuste zum Himmel – »…dann werde ich ein Feind sein, der wie ein Römer geschult ist, und dann soll mir Rom für alles Übel mit dem Leben von Römern bezahlen. Das ist meine Antwort, Scheik!« Ilderim legte seinen Arm um ihn und küßte ihn: »Wenn Gott dir nicht beisteht, so lebt er nicht mehr, Sohn Hurs. Dieses Versprechen gebe ich dir – feierlich beschworen, wenn du es willst –: Du sollst meine Hände haben, mit allem, was sie halten: Männer, Pferde, Kamele und die Wüste zur Vorberei­ tung. Ich schwöre es. – Für jetzt genug! Du hörst noch vor der Nacht von mir.« Er wandte sich rasch und ritt eilig zur Stadt.

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Die vier Araber werden erprobt Der aufgefangene Brief gab Ben Hur Aufschluß über zahlrei­ che Dinge von großer Wichtigkeit. Er enthielt das Bekenntnis, daß die Familie Hur mit mörderischer Absicht beseitigt worden war, daß Messala diesen Plan gutgeheißen und einen Teil des konfiszierten Vermögens erhalten hatte. Er bestätigte ferner, daß ihm das Auftauchen des Totgeglaubten als Drohung erschien, er im Begriff stand, sich zu sichern, und bereit war, das auszuführen, was sein Genosse in Cäsarea raten würde. Und nun war der Brief in die Hände dessen gefallen, von dem er hauptsächlich handelte, und brachte ihm zwar das Bekenntnis der Schuld, aber auch die Nachricht von einer neuen Gefahr. Seine Feinde, die ihm drohten, waren so mächtig wie irgend jemand im Osten. Fürchteten sie ihn, so hatte er mehr Ursache, sie zu fürchten. Er konnte keinen klaren Überblick der Lage gewinnen, alle seine Gefühle überwältigten ihn immer wieder. Eine gewisse Ursache zur Hoffnung lag in der Vorstellung, daß die Seinen wahrscheinlich noch lebten, denn, es gab einen Menschen, der darüber Bescheid wußte. Sein Gefühl sagte ihm, es scheine, als ob Gott zu seinen Gunsten eingreifen wolle, sein Glaube flüsterte ihm zu, sich ruhig zu verhalten. Noch immer wunderte er sich, woher Ilderim seinen Namen wußte. Von Malluch gewiß nicht, erst recht nicht von Simoni­ des, der ja ganz gegenteilige Interessen hatte und ihn verschweigen wollte. Alle Vermutungen waren umsonst. Aber Ben Hur kam nicht von dem Gedanken los, der Angeber müsse sein Freund sein und werde sich zur rechten Zeit als das zu erkennen geben. Noch etwas Geduld, noch eine kurze Zeit des Abwartens! Vielleicht war der Scheik auf dem Wege, das Rätsel zu lösen. Er hätte gern Geduld geübt, wenn er nur gewußt hätte, ob Tirzah und seine Mutter ebenso auf ihn warteten mit ähnlichen 292

Hoffnungen wie er. Um diesen Gedanken zu entfliehen, wanderte er im Palmen­ garten umher, blieb bei den Dattelpflückern stehen, die ihm wieder freundlich ihre Früchte anboten, schaute den Vögeln in den hohen Bäumen zu und den Bienen, die umherschwärmten. Schließlich ging er zum See, gedachte der schönen Ägypterin und Balthasars wunderbarer Geschichte. Dann schweiften seine Gedanken zum König der Juden. Ein Königreich der Seelen war für seinen sadduzäischen Glauben, wenn nicht ganz unvorstellbar, so doch unwahrscheinlich und traumhaft. Ein Königreich von Judäa andererseits war mehr als denkbar, es hatte schon bestanden und konnte wieder bestehen. Es schmei­ chelte seinem Stolz, sich dieses neue Königreich größer und mächtiger als das des Salomo vorzustellen. Er ging zu den Zelten zurück. Nachdem er gegessen hatte, ließ er den Wagen herausrollen und unterwarf ihn der sorgfältigsten Untersuchung, wobei ihm nicht das geringste entging. Mit großer Befriedigung stellte er fest, daß er nach griechischem Muster gebaut war, ein Vorzug, der nach seiner Meinung die römische Pracht aufwog, er war breiter zwischen den Rädern, niedriger und stärker. Der Nach­ teil des größeren Gewichtes wurde durch die größere Ausdauer seiner Araber ausgeglichen. Die Wagen der Griechen waren für den Krieg gebaut, die der Römer wollten Sicherheit mit Schön­ heit, Festigkeit mit Grazie verbinden. Er spannte die Pferde ein und ließ sie Stunde um Stunde über das Feld jagen. Wieder war er voll befriedigt von ihren Lei­ stungen, und als er in guter Stimmung zurückkam, beschloß er, alle Untersuchungen gegen Messala bis nach dem Rennen aufzuschieben. Er wollte sich des Vergnügens nicht berauben, seinen Gegner unter den Augen des gesamten Ostens zu treffen. Daß auch noch andere Bewerber auftreten würden, schien ihm nicht einzufallen. Seine Zuversicht war unerschüt­ terlich, an seiner eigenen Fähigkeit zweifelte er ebensowenig 293

wie an der seiner Pferde, die für ihn vollkommene Partner in dem ruhmreichen Spiel waren. »Er soll euch nur sehen! Antares, Aldebaran! Edler Rigel und du Atair, König unter den Rennern. Er mag sich vorsehen!« So redete er mit ihnen, nicht wie ein Meister, sondern wie ihr älterer Bruder. Als es Nacht geworden, saß er vor dem Zelt und wartete auf Ilderim. Er war nicht ungeduldig noch unruhig oder zweifel­ haft. Nachricht würde der Scheik auf jeden Fall senden. Er wußte sich in der Hand der Vorsehung, die nicht länger sein Feind war. Schließlich hörte er Huf schlag, und Malluch erschien. »Sohn des Arrius, ich grüße dich im Namen des Scheiks, der dich bittet, ein Pferd zu nehmen und in die Stadt zu kommen, wo er dich erwartet.« Ben Hur stellte keine Fragen. Er ging zu den Pferden. Alde­ baran kam ihm entgegen, als wolle er sich anbieten. Er streichelte ihn, ging aber weiter und wählte ein anderes Pferd, das nicht zum Gespann gehörte. Beide ritten im gestreckten Galopp zur Stadt, nahmen unter­ halb der Brücke nach Seleucia die Fähre und gelangten vom Westen her in die Stadt. Der Umweg war beträchtlich, aber Ben Hur wollte Vorsicht üben. Sie ritten zum Landungsplatz vor dem Haus des Simonides. Unter der Brücke hielt Malluch vor dem großen Warenlager. »Wir sind an Ort und Stelle. Steige ab!« Ben Hur erkannte den Platz: »Wo ist der Scheik?« »Komm mit mir, ich werde dich führen.« Ein Wächter nahm die Pferde in Empfang, und ehe sich Ben Hur dessen besann, stand er wieder vor der Tür des Hauses auf dem Dachgarten und hörte die Einladung von innen: »Tritt ein im Namen Gottes!«

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Simonides legt Rechnung ab Malluch blieb an der Tür zurück, Ben Hur trat allein ein. Es war das gleiche Gemach, in dem er beim vorigen Mal Simoni­ des gegenübergestanden hatte. Es schien nichts daran verändert, nur vor dem Armsessel stand ein hoher Leuchtkör­ per, der auf einer polierten Messingstange mehrere silberne Lampen trug, die ein helles Licht verbreiteten. Drei Personen waren im Zimmer und schauten ihn an: Simonides, Ilderim und Esther. In einiger Verlegenheit blieb Ben Hur vor ihnen stehen und schaute vom einen zum anderen, als suche er Antwort auf eine dringende Frage. – Was mögen sie von mir wollen? dachte er. Sind es Freunde oder Feinde? Am längsten verweilte sein Auge auf Esther. Hatten die zwei Männer seinen Blick voll Güte erwidert, so lag in dem ihren mehr als Güte, ein Ausdruck, der sich nicht erklären ließ, der sich ihm dennoch ohne Erklärung im Innersten einprägte. »Sohn Hurs«, begann Simonides, so langsam, als ob er den, dem die Anrede galt, ihre volle Wichtigkeit empfinden lassen wollte, »Sohn Hurs, empfange den Frieden des Herrn, des Gottes unserer Väter, empfange ihn von mir – von mir und den Meinigen.« Des Simonides schwarze Augen blickten ruhig und milde unter den weißen Brauen hervor. Er hatte die Hände auf der Brust gekreuzt. Haltung und Gruß konnten nicht mißverstanden werden, und sie wurden es nicht. »Den heiligen Frieden, Simonides«, sprach Ben Hur tiefbe­ wegt, »nehme ich an. Wie ein Sohn seinem Vater wünsche ich ihn auch dir. Nur laß zwischen uns volle Offenheit herrschen!« Auf diese Weise suchte er an die Stelle von Gebieter und Untergebenem ein höheres und heiligeres Verhältnis zu setzen. Simonides ließ seine Hände sinken: »Einen Sitz für den Herrn, Tochter!« Sie brachte einen Schemel und schaute errötend von Ben Hur 295

zu ihrem Vater und wieder zurück. Beide warteten. Als die Pause bedrückend zu werden begann, nahm ihr Ben Hur den Sessel aus den Händen und stellte ihn Simonides zu Füßen: »Hierher will ich mich setzen.« Sein Blick begegnete dem Esthers, nur einen Augenblick, dann hatten sie sich verständigt. Er hatte ihre Dankbarkeit, sie seine Großmut und Nachsicht begriffen. Danach ließ Simonides Esther aus einem Wand­ schrank Papiere bringen. »Du hast ein gutes Wort gesprochen, Sohn Hurs«, fuhr Si­ monides fort: »Laß zwischen uns volle Offenheit herrschen!« Er rollte die Papiere auseinander. »In Erwartung eines Verlan­ gens, auf das ich bestanden hätte, auch wenn du dich ihm hättest entziehen wollen, habe ich hier einen Bericht aufgesetzt, der alles umfaßt, was zu einer offenen Verständigung nötig ist. Er umfaßt sowohl das Vermögen wie unsere gegenseitigen Beziehungen. Willst du bitte jetzt lesen?« Ben Hur empfing die Papiere, aber er schaute auf Ilderim. »Nein«, wandte Simonides ein, »der Scheik soll dich nicht vom Lesen abhalten. Die Rechnungsablage – sie enthält der Bericht – bedarf eines Zeugen. Du findest den Namen des Scheiks am Ende verzeichnet. Er weiß alles. Er ist dein Freund. Und alles, was er mir war, wird er auch dir sein.« Die beiden Greise nickten sich zu und Ilderim sagte: »Du sagst es.« »Ich kenne schon den Wert seiner Freundschaft und habe mich nun ihrer würdig zu erweisen. Später, Simonides, will ich die Papiere sorgfältig lesen, für heute nimm sie wieder zurück, und wenn es dich nicht zu sehr ermüdet, gib mir einen Über­ blick ihres Inhalts.« Simonides nahm die Bogen zurück und übergab sie Esther, damit sie, wie er sagte, nicht in Unordnung geraten. Und dann begann er: »Dies Papier zeigt dir, wie hoch die Summe war, die ich von deinem Vater hatte und die ich vor den Römern rettete. Ande­ res Eigentum ließ sich nicht retten, nur Geld, und auch das 296

hätten die Räuber bekommen, wäre nicht unser jüdisches Wechselsystem. Die gerettete Summe, die ich in Rom, Alexan­ dria, Karthago, Valencia und anderen Handelsplätzen stehen hatte, beträgt hundertundzwanzig Talente jüdischer Münze.« Er nahm das nächste Blatt: »Mit diesem Betrag unternahm ich selbst Geschäfte. Hör nun, welchen Gewinn ich aus dem Gelde zog.« Von den verschiedenen Blättern las er die folgende Aufstel­ lung ab: Schiffe Waren im Lager Waren auf dem Transport Kamele, Pferde usw. Niederlagen Fällige Rechnungen Bargeld Summe:

60 Talente 110 Talente 75 Talente 20 Talente 10 Talente 54 Talente 224 Talente 553 Talente

»Zu diesem Betrag füge das Geld deines Vaters hinzu, so hast du sechshundertdreiundsiebzig Talente – das ist eine Summe, die dich, Sohn Hurs, zum reichsten Mann der Erde macht. Und es gibt nichts, was du nicht tun kannst.« Es war für alle drei ein wichtiger Augenblick. Simonides hatte wieder die Hände über die Brust gekreuzt, Esthers Ge­ sicht drückte Besorgnis aus, Ilderim war erregt. Ben Hur ergriff die Rolle, erhob sich und sprach, alle ihn bestürmenden Gefüh­ le mit Macht bekämpfend: »Alles das ist ein Licht, vom Himmel gesandt, um die Nacht zu verscheuchen, die so lange gedauert hat, daß ich fürchtete, sie wird nicht enden, und die so dunkel war, daß ich die Hoff­ nung verloren hatte. Ich danke zuerst dem Herrn, der mich nicht verließ, und dann dir, o Simonides. Deine Treue wiegt die Grausamkeit der anderen auf und gibt mir den Glauben an die 297

Menschheit wieder. ›Es gibt nichts, was ich nicht tun kann.‹ So sei es. Darf irgend jemand in meiner Stunde so gewaltiger Macht großmütiger sein als ich? Sei mein Zeuge, Scheik Ilderim. Hör meine Worte, die ich sage, höre und gedenke ihrer. Und du, Esther, guter Engel dieses guten Menschen, höre auch du.« Er streckte die Hand mit der Rolle zu Simonides: »Die auf diesem Papier aufgezählten Dinge an Schiffen, Häusern, Waren, Kamelen, Pferden, Geld, das Geringste wie das Größte – gebe ich dir zurück und erkläre sie als dein Eigentum und bestätige dich und die Deinen auf immer in ihrem Besitz.« Esther lächelte unter Tränen, Ilderim strich erregt seinen Bart, seine Augen leuchteten wie Jett. Nur Simonides blieb ruhig. »Ich bestätige dich und die Deinen darin für ewig«, fuhr Ben Hur fort, »mit einer Ausnahme und unter einer Bedingung: Die hundertzwanzig Talente meines Vaters sollst du mir zurückge­ ben. Und du sollst mich im Forschen nach meiner Mutter und Schwester unterstützen und mit all dem Deinen, wie ich mit dem Meinen, dabei helfen.« Simonides war tief bewegt. Er streckte seine Hand aus: »Ich sehe deinen Geist, Sohn Hurs, und ich danke dem Herrn, daß er dich zu mir geführt hat – so wie du bist. So wie ich deinem Vater im Leben und später seinem Gedächtnis gedient habe, so werde ich auch dir dienen. Aber dennoch kann ich auf die Bedingung nicht eingehen.« Er wies auf den zurückbehaltenen Bogen: »Du hörtest noch nicht den ganzen Bericht. Nimm hier und lies – lies laut!« Ben Hur nahm das Papier und las: »Aufstellung der Leibeigenen Hurs, eingereicht von Simoni­ des, Verwalter des Vermögens: 1. Amrah, Ägypterin, im Palast zu Jerusalem, 2. Simonides, Verwalter in Antiochia, 3. Esther, des Simonides Tochter.« 298

Es war Ben Hur, wenn er des Simonides gedachte, nie in den Sinn gekommen, daß nach dem Gesetz eine Tochter die Leib­ eigenschaft des Vaters teile. In allen seinen Träumen war ihm die süße Esther als eine Rivalin der Ägypterin erschienen, als eine Frau, die er hätte lieben können. Vor dieser plötzlichen Entdeckung erschrak er, und er schaute errötend auf das Mäd­ chen. Dann sagte er, indem er das Papier zusammenrollte: »Ein Mann im Besitz von sechshundert Talenten ist in Wahr­ heit reich und kann alles tun, was er will. Aber wertvoller als das Geld und seltener als der Reichtum sind der Geist, der das Vermögen sammelte, und das Herz, das dabei nicht verdorben werden konnte. Simonides und du, schöne Esther, fürchtet euch nicht! Scheik Ilderim soll Zeuge sein, daß ich in demselben Augenblick, da ich euch als meine Leibeigenen erkannte, eure Freilassung verfügte. Und was ich verfügt habe, das will ich schriftlich bestätigen. Genügt es? Kann ich mehr tun?« »Sohn Hurs«, erwiderte Simonides, »wahrlich, du machst die Leibeigenschaft leicht. Aber ich hatte unrecht. Es gibt doch Dinge, die du nicht tun kannst. Du kannst uns nach dem Gesetz nicht frei machen, ich bin ein Leibeigener, solange ich lebe, denn ich folgte eines Tages deinem Vater zum Türpfosten – mein Ohr zeigt noch seine Pfriemmarke: – Richte deinen Vater nicht, Esther. Mein Gebieter tat es – du weißt es, denn ich habe dir alles erzählt –, weil ich ihn darum bat. Es war der Preis für meine Rahel, sie war eine Leibeigene und wollte meine Frau nur werden, wenn ich es auch wurde.« Ben Hur schritt im Gefühl seines Unvermögens auf und ab: »Ich war schon reich durch das Erbe des gütigen Arrius, nun kommt noch das größere und der Geist hinzu, der es zu sam­ meln wußte. Liegt darin nicht eine Absicht Gottes? Rate mir, Simonides! Hilf mir, das Rechte zu erkennen und zu tun. Hilf mir, meines Namens würdig zu sein! Sei mir in Wahrheit und Tat, was du mir nach dem Gesetz bist. Ich werde immer dein Diener bleiben.« 299

»O Sohn meines toten Herrn! Ich will mehr tun als dir helfen. Ich will dir mit der ganzen Kraft meines Geistes und Herzens dienen. Ich schwöre es bei dem Altare unseres Gottes und bei den Opfergaben auf dem Altar! Nur mache mich vor dem Gesetz zu dem, was ich bis jetzt gewesen bin.« »Sage es!« »Als Verwalter will ich die Sorge um dein Vermögen tra­ gen.« »Betrachte dich als Verwalter. Oder willst du es schriftlich haben?« »Dein Wort genügt. So war es bei deinem Vater, ich will nichts anderes von dem Sohn. Und nun, wenn wir uns vollstän­ dig verstehen…« Simonides hielt inne. »Auf meiner Seite geschieht es.« »Und du, Tochter der Rahel, sprich nun du!« Dabei nahm er ihren Arm von seiner Schulter. Esther, auf diese Weise allein gelassen, stand einen Augen­ blick verwirrt und errötend da. Dann ging sie zu Ben Hur und sagte mit weiblicher Anmut: »Ich bin nicht besser als meine Mutter, und da sie gegangen ist, bitte ich dich, mein Gebieter, mich für meinen Vater sorgen zu lassen.« Ben Hur ergriff ihre Hand und führte sie wieder zurück zum Sessel: »Du bist ein gutes Kind. Es soll nach deinem Willen geschehen.« Simonides legte wieder ihren Arm um seinen Hals. Und dann war eine lange Stille in dem Gemach.

Geistig oder politisch? Nach einiger Zeit schaute Simonides auf, er war nicht weni­ ger Gebieter als vorher, und bat Esther, Erfrischungen bringen zu lassen: 300

»In meinen Augen, mein guter Herr, ist unsere Verständi­ gung noch nicht vollkommen. Unser Leben wird von nun an zusammenfließen wie zwei Ströme, die ihre Wasser vereinigen. Ich denke, sie werden besser dahinfließen, wenn jede Wolke vom Himmel darüber fortgeweht ist. Du hast kürzlich meine Tür verlassen in der Meinung, ich hätte dir bestritten, was ich dir soeben unumschränkt zugestanden habe. Aber so war es nicht, wirklich nicht. Esther ist mein Zeuge, daß ich dich anerkannte. Und daß ich dich nicht im Stich ließ, dafür ist Malluch Beweis.« »Malluch?« »Wer an seinen Sessel gefesselt ist wie ich, muß viele und weitreichende Hände haben, wenn er in der Welt, von der er so grausam ausgeschlossen ist, tätig sein will. Ich habe viele solche Hände, und Malluch ist eine meiner besten. Und manchmal« – er blickte den Scheik dankbar an –, »manchmal bediene ich mich auch anderer gütiger Herzen, wie Ilderims. Er mag dir sagen, ob ich dich irgendwie verleugnet hatte.« Ben Hur warf dem Araber einen Blick zu: »Von ihm also, guter Ilderim, hast du über mich gehört?« Mit glänzenden Augen nickte der Scheik seine Antwort. »Wie, mein Gebieter, sollen wir ohne Prüfung einem Men­ schen vertrauen? Ich erkannte dich, ich sah deinen Vater in dir, aber was für ein Mensch du warst, wußte ich nicht. Es gibt Menschen, denen der Reichtum zum Fluch wird. Konntest du ein solcher Mensch sein? Um das zu ergründen, sandte ich Malluch dir nach, er war mein Auge und Ohr. Trage es ihm nicht nach! Er gab mir nur gute Berichte über dich.« »Nein, nein, in deiner Güte war Weisheit.« »Nun fürchte ich nicht länger, von dir mißverstanden zu werden. Und nun laß die Ströme zusammenfließen, wohin Gott sie lenken mag. Die Wahrheit zwingt mich noch zu einer Erklärung: Während unter meiner Hand das Vermögen wuchs und ich nur staunen konnte über das Wachstum, mußte ich 301

erkennen, daß eine Macht außer mir half. Wüste und Meer, die so vieles zerstören, taten mir nichts zuleide und das Erstaun­ lichste: auch die Menschen nicht, keiner meiner Untergebenen war mir je untreu. Das konnte nur Gottes Werk sein, und ich fragte mich, welche Absichten er dabei hatte? Vor vielen Jahren saß ich mit meiner Rahel und meiner Es­ ther nördlich von Jerusalem an der Straße bei den Gräbern der Könige. Da zogen drei Männer vorüber auf großen weißen Kamelen, ähnliche Tiere hatte die Heilige Stadt noch nie gesehen. Die Männer kamen aus fernen Ländern. Sie hielten an, und einer fragte: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Und wie um meine Verwunderung zu beschwichtigen, fügte er hinzu: ›Wir haben seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten.‹ Ich verstand ihn nicht und folgte ihm zum Damaskustor. Allen, denen er begegnete, und auch dem Wächter am Tor stellte er die gleiche Frage. – Später vergaß ich das Ereignis, obwohl viel darüber geredet wurde als von einem Zeichen der Ankunft des Messias. Was sind wir Menschen doch für Kinder, selbst die weisesten!« »Hast du Balthasar gesehen?« fragte Ben Hur. »Und von ihm selbst seine Geschichte gehört.« »Ein Wunder! In der Tat ein Wunder! Als er sie mir erzählte, mein Gebieter, war es mir, als hörte ich die langersehnte Antwort. Gottes Absichten wurden mir klar. Der König, wenn er kommt, wird arm sein und ohne Freunde, ohne Gefolge, ohne Kriegsheer, ohne Städte oder Festungen. Ein Königtum zu errichten und Rom zu stürzen! Siehst du, Herr, siehst du die Aufgabe, die dir der Herr gesandt hat – in deiner Jugendkraft, deiner Waffenkunst, deinem Reichtum? Kann ein Mensch zu größerem Ruhme geboren werden?« »Aber das Königreich, das Königreich! Balthasar sagt, daß es ein Reich der Seelen sein wird!« rief Ben Hur. »Balthasar hat wunderbare Dinge gesehen, er war Zeuge von wirklichen Wundern. Wenn er davon redet, beuge ich mich 302

gläubig vor ihm. Aber er ist ein Nachkomme Mizraims. Es ist nicht möglich, daß er von den Absichten Gottes für Israel besondere Kenntnis hat. Die Propheten waren vom Himmel selbst erleuchtet, so wie er, so wie viele. Jehova bleibt sich immer gleich. Ich muß den Propheten glauben.« Er ließ sich von Esther die Thora reichen und zitierte alle jene Stellen, die auf das Reich hinwiesen, das dem auserwähl­ ten Volk verheißen wurde: »Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht. Er wird auf dem Throne Davids sitzen, und seine Herrschaft wird kein Ende nehmen.« – Und das andere: »Und du, Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, von dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei!« – »Glaubst du an die Propheten, mein Gebieter?« »Es ist genug, ich glaube!« rief Ben Hur. »Was nun? Erscheint der König in Armut – wird ihm mein Gebieter nicht aus seinem Überfluß zu Hilfe kommen?« »Zu Hilfe kommen? Mit dem letzten Schekel und dem letzten Atemzug. Aber warum davon reden, daß er arm sein wird?« »Höre, was Zacharias sagt! – ›Freue dich, o Tochter Zions, siehe, dein König kommt zu dir… er ist arm und reitet auf einer Eselin, auf dem Füllen einer Eselin.‹ « Ben Hur blickte abseits. »Was siehst du, mein Gebieter?« »Rom! Rom! und seine Legionen. Ich habe mit ihnen im Lager gelebt und kenne sie.« »Und du sollst der Herr der Legionen des Königs sein und unter Millionen deine Wahl treffen!« Ben Hur schwieg. Die Rede des Simonides war eine Auffor­ derung, sein Leben und sein Vermögen dem geheimnisvollen Wesen zu weihen. Der Gedanke war ihm nicht neu. Bedurfte es nur noch dieser Anregung? »Alles zugegeben, was du sagst, Simonides: Der König wird kommen, sein Reich wird herrlich sein wie das Salomos. Ich 303

bin bereit, mich selbst und alles, was ich besitze, seiner Sache hinzugeben. Ich gebe sogar zu, daß die Ereignisse in meinem Leben und deine Vermehrung der Reichtümer damit in einer gewissen Verbindung stehen mögen. Was aber dann? Sollen wir wie Blinde bauen? Sollen wir warten, bis der König kommt? Oder bis er nach uns sendet?« »Wir haben keine Wahl«, antwortete ihm Simonides. »Dieser Brief ist das Zeichen, daß wir handeln müssen. Wir sind nicht stark genug, der beabsichtigten Verbindung zwischen Messala und Gratus zu widerstehen, wir haben weder den Einfluß in Rom noch die Macht hier. Sie werden dich töten, wenn wir warten. Wie gnädig sie sind, siehst du an mir. – O mein Gebie­ ter, wie stark du bist – ich meine im Willen!« Ben Hur verstand ihn nicht. »Ich erinnere mich, wie schön die Welt in meiner Jugend war«, fuhr Simonides fort. »Dennoch warst du des größten Opfers fähig.« »Ja, aus Liebe.« »Gibt es im Leben nicht andere, ebenso starke Antriebe?« »Den Ehrgeiz.« »Er ist in Israel verboten.« »Und die Rache?« »Rache ist des Juden Recht, sie ist sein Gesetz. – Die Zeit des Umschwungs ist gekommen, die Zeit, in der die Hirten ihre Rüstung anlegen und zu Speer und Schwert greifen und die grasenden Herden verlassen werden müssen, um die Löwen zu bekämpfen. Jemand muß, mein Sohn, dem König zum Rechten stehen. Wer soll es sein, wenn nicht der, der das Werk vollen­ det? – Du und der Scheik, ihr müßt die Anführer sein – jeder mit seiner Aufgabe. Ich bleibe hier und treibe Handel wie bisher, damit die Quelle nicht versiegt. Du mußt nach Jerusa­ lem gehen und dann in die Wüste, die kampffähigen Männer Israels zählen, sie in Scharen von zehn und hundert teilen, Führer ernennen und einüben, Waffen an geheimen Orten 304

sammeln. Du beginnst in Peräa, gehst von dort nach Judäa und hast nur noch einen Schritt nach Jerusalem. In Peräa hast du die Wüste im Rücken und Ilderim in der Reichweite deiner Hand. Er wird die Straßen bewachen, damit nichts geschieht ohne dein Wissen. Er wird dir in vielerlei Art helfen. Bis die Zeit gekommen ist, soll niemand erfahren, was unter uns geplant ist. Ich habe nur eine dienende Stellung dabei. Mit Ilderim habe ich gesprochen. Was sagst du?« Ben Hur schaute den Scheik an. »Es ist, wie er sagt, Sohn Hurs«, bestätigte der Araber. »Ich habe mein Wort verpfändet, er ist damit zufrieden. Du aber sollst meinen Eid haben, der mich bindet, und die willigen Hände meines Stammes, und womit ich dir sonst dienen kann.« Alle drei – Simonides, Ilderim und Esther – blickten ge­ spannt auf Ben Hur. »Jedem ist ein Freudenbecher gefüllt, der ihm früher oder später in die Hand gegeben wird, damit er ihn kostet und trinkt – nur mir nicht. Ich sehe, Simonides und du, edler Scheik, wohin euer Vorschlag zielt. Nehme ich ihn an, betrete ich die mir angebotene Laufbahn – dann, lebe wohl Friede und alle Hoffnungen, die ich daran knüpfte! Wenn ich durch diese Tore trete, schließen sich hinter mir die Türen des ruhigen Lebens, die sich nie wieder öffnen werden, denn Rom bewacht sie. Ich werde geächtet sein, Roms Verfolger auf meinen Fersen. Und in den Grabkammern bei den Städten und den düsteren Höhlen auf abgelegenen Hügeln muß ich mein Brot essen und meinen Schlaf finden.« Esther schluchzte auf und barg ihr weinendes Gesicht an der Schulter ihres Vaters. »Es tut mir wohl, Esther, ein Mann erträgt ein bitteres Los leichter, wenn er um das Mitleid weiß, das ihm gegönnt wird. Ich wollte sagen: Ich habe keine Wahl, als diese Aufgabe zu erfüllen. Und da Verweilen gleichbedeutend mit Tod ist, will ich mich sogleich an meine Arbeit machen.« 305

»Sollen wir unser Abkommen schriftlich machen?« fragte Simonides. »Ich verlasse mich auf dein Wort«, entgegnete Ben Hur. »Auch ich«, bestätigte Ilderim. Auf so einfache Weise wurde das Bündnis geschlossen, das Ben Hurs Leben wandelte. »Also ist es beschlossen!« »Möge der Gott Abrahams uns beistehen!« »Nur noch ein Wort, meine Freunde! Bis nach den Spielen werde ich mit eurer Erlaubnis über mich selbst verfügen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Messala mir gefährlich wird, bis der Prokurator ihm geantwortet hat. Das kann nicht vor sieben Tagen nach der Absendung des Briefes geschehen. Ihm im Zirkus zu begegnen ist ein Vergnügen, das ich um keinen Preis entbehren möchte.« Ilderim gab sofort seine Zustimmung, da es ja um den Ruhm seiner Pferde ging. Und Simonides, der an die geschäftliche Seite dachte, antwortete: »Gut, mein Gebieter! Der Aufschub gibt mir Zeit, dir einen Dienst zu erweisen. Du sprachst von einer Erbschaft, die dir von Arrius zufiel. Besteht sie aus Besitzungen?« »Aus einer Villa bei Misenum und Häusern in Rom.« »In diesem Falle schlage ich vor, die Besitzungen zu verkau­ fen und das Geld fest anzulegen. Gib mir eine Aufstellung, und ich werde Vollmachten ausstellen und einen Agenten damit absenden. Wir wollen jedenfalls den kaiserlichen Räubern zuvorkommen.« »Ich werde dir morgen alles übergeben.« »Dann ist wohl die Arbeit der Nacht getan.« »Und gut getan«, murmelte Ilderim. »Noch einmal Brot und Wein, Esther! Scheik Ilderim wird uns so glücklich machen, bis morgen hierzubleiben, und du, Herr…« »Laß mir die Pferde bringen«, antwortete Ben Hur. »Ich will 306

in den Palmengarten zurück. Wenn ich jetzt gehe, wird mich kein Feind entdecken, und meine vier werden glücklich sein, mich zu sehen.« Als der Tag dämmerte, stieg Ben Hur mit Malluch vor dem Zelte Ilderims ab.

Esther und Ben Hur Am nächsten Abend um die vierte Stunde stand Ben Hur mit Esther auf der Terrasse über dem großen Lagerhaus. Unter ihnen war der tägliche Lärm und die eilige Bewegung, die im dunstigen Licht der Fackeln etwas Unwirkliches hatten. Eine Galeere wurde zur Abfahrt beladen. Simonides saß in seinem Geschäftszimmer und gab dem Kapitän die letzten Anweisun­ gen, ohne Aufenthalt nach Ostia, dem Hafen Roms, zu fahren, einen Passagier zu landen und langsam weiter nach Valencia an der Küste Spaniens zu steuern. Der Passagier war der Bevollmächtigte, der Ben Hurs Grundstücke, die er von Arrius geerbt hatte, verkaufen sollte. Wenn das Schiff seine Taue gelöst und seine Reise begann, ist Ben Hur unwiderruflich an das in der Nacht vorher beschlosse­ ne Werk gebunden. Sollte er das Übereinkommen mit Ilderim bereuen, so ist ihm noch eine kurze Frist gegeben, in der er zurücktreten kann. Er ist der Herr und braucht nur seinen Willen kundzutun. Er stand mit verschränkten Armen da und schaute auf das Treiben unter ihm, wie ein Mann, der in tiefen Gedanken ist. Er ist jung, reich und schön, war noch bis vor kurzem ein Mitglied der patrizischen Kreise der römischen Gesellschaft und konnte nicht verhindern, daß ihn diese Welt noch immer lockte, während er sich schon mit den großen Pflichten, dem mit Acht und Gefahren verbundenen ehrgeizigen Streben belastete. Er 307

sah die sich auftürmenden Schwierigkeiten, die Hoffnungslo­ sigkeit eines Kampfes gegen den Kaiser, die Ungewißheit, die alles verhüllte, was den kommenden König betraf und daneben die Ruhe, Ruhm und Ehren, die er wie käufliche Güter besitzen konnte, vor allem das Bewußtsein, eine neue Heimat und neue Freunde gefunden zu haben. »Warst du jemals in Rom?« fragte er Esther.

»Nein.«

»Möchtest du einmal hingehen?«

»Ich glaube nicht.«

»Warum?«

»Ich habe Angst vor Rom.«

Er blickte sie an – oder vielmehr schaute auf sie herab, denn

neben ihm erschien sie kaum größer als ein Kind. Ihr Gesicht konnte er im trüben Schein nicht erkennen, selbst ihre Gestalt erschien schattenhaft. Dennoch erinnerte sie ihn wieder an Tirzah, und eine plötzliche Zärtlichkeit überkam ihn – geradeso hatte er mit seiner Schwester an jenem schrecklichen Tage auf dem Dach gestanden. Arme Tirzah! »Ich kann mir Rom«, fuhr Esther fort, »nicht als eine Stadt mit Palästen und Tempeln voller Volk vorstellen. Mir erscheint es wie ein Ungeheuer, das von herrlichen Ländern Besitz ergriffen hat und ihre Einwohner mit Tod und Verderben bedroht, ein Ungeheuer, dem man nicht widerstehen kann, ein reißendes Tier, das sich von Blut nährt. Warum…« Sie zögerte und schaute zu Boden.

»Weiter!« drängte Ben Hur.

Sie trat einen Schritt näher zu ihm und schaute zu ihm auf:

»Warum mußt du dir Rom zum Feind machen? Warum nicht lieber Frieden schließen und Ruhe finden? Du hast so viel Unbill erlitten, aber dich aus den Schlingen, die dir deine Feinde stellten, lösen können. Der Kummer hat deine Jugend verzehrt, soll es so auch künftig bleiben?« Das Mädchengesicht unter seinen Augen schien bleicher zu 308

werden. Er beugte sich zu ihr hinab und fragte mit weicher Stimme: »Was rätst du mir, Esther?« »Ist dein Besitz bei Rom ein Haus?« »Ja.« »Sehr schön?« »Sehr schön, ein Palast mit Gärten, Anlagen und Springbrun­ nen, Statuen und schattigen Büschen. Von den Weinbergen kann man bis nach Neapel und zum Vesuv sehen. Das Meer liegt vor dem Blick, tiefblau mit weißen Segeln. Der Kaiser hat eine Villa in der Nähe, aber man sagt, die des Arrius sei schö­ ner.« »Und kann man dort ruhig leben?«

»Weshalb fragst du?«

»Mein guter Herr…«

»Nein, nein Esther, nenne mich Freund – Bruder, wenn du

willst. Dein Herr bin ich nicht und will ich nicht sein. Nenne mich Bruder!« Er konnte nicht sehen, wie ihr Gesicht vor Freude errötete. »Ich kann nicht verstehen, warum du es vorziehst, ein Leben – der Gewalttätigkeit und wohl des Blutvergießens – zu führen anstatt ein ruhiges Leben in der schönen Villa.« »Esther, du irrst dich. Ich habe keine Wahl. Der Römer ist nicht gütig. Wenn ich hier bleibe, werde ich sterben. Und gehe ich nach Rom, erwartet mich das gleiche Ende – ein vergifteter Becher, der Dolch eines Meuchelmörders oder ein auf Meineid begründetes Urteil. Messala und der Prokurator sind reich geworden durch meines Vaters Vermögen, und es ist für sie beinahe wichtiger, es zu halten, als es seinerzeit zu erwerben. Ein friedliches Übereinkommen ist undenkbar, da es ein Bekenntnis der Schuld fordern würde. Und dann – ach Esther, wenn es auch möglich wäre, ich weiß nicht, ob ich es tun würde. Ich glaube nicht, daß mir Frieden beschieden sein kann, nicht einmal im einschläfernden Schatten der weichen Luft der Marmorhalle der alten Villa, wer auch immer meine Tageslast 309

mit mir zu tragen oder mir geduldige Liebe erweisen würde. Für mich gibt es keine Freuden, solange die Meinen verloren sind, denn ich muß alles tun, um sie zu finden. Und wenn ich sie finde und wenn sie schwer gelitten haben, muß dann nicht der Schuldige dafür bestraft werden? Wenn sie umgebracht wurden, darf dann der Mörder entkommen? Meine Träume rauben mir den Schlaf.« »Steht es so schlimm um dich? Kann nichts getan werden, nichts?« Ben Hur nahm ihre Hand: »Sorgst du dich so um mich?« »Ja.« Ihre Hand war warm und zitterte in der seinen. Und ihm kam die Ägypterin in den Sinn, die so sehr in allem das Gegenteil von Esther war, in ihrer Schlauheit und Kühnheit, mit ihrer listigen Schmeichelei, ihrem Witz, so schön und bezaubernd. Er führte die kleine Hand an seine Lippen: »Du sollst mir eine zweite Tirzah sein, Esther!« »Wer ist Tirzah?« »Die kleine Schwester, die mir die Römer nahmen und die ich finden muß, ehe ich ruhig und glücklich sein kann.« In diesem Augenblick fiel ein Lichtstrahl auf sie. Sie wand­ ten sich um und sahen, wie ein Diener Simonides in seinem Sessel herausschob. Beide traten zu ihm. Unten aber wurden die Taue der Galeere gelöst, sie drehte sich und steuerte im Glanz der Fackeln und unter den Rufen fröhlicher Seeleute dem Meer zu. Ben Hur blieb zurück, seinem Werk für den kommenden König verschworen.

Angekündigt für das Rennen Am Nachmittag vor den Spielen wurden der Wagen und die 310

Pferde Ilderims in die Nähe des Zirkus gebracht. Zugleich wurde das Zeltlager abgebrochen und ein großer Teil des übrigen Besitzes mit Dienern, berittenem und bewaffnetem Gefolge, Pferden, Vieh, beladenen Kamelen in Bewegung gesetzt. Der Auszug aus dem Palmengarten sah wie eine Wanderung des ganzen Stammes aus. Die Leute auf den Straßen lachten über den bunten Zug, aber trotz seiner Reiz­ barkeit kümmerte sich Ilderim nicht im geringsten darum. Stand er, wie er annehmen mußte, unter Beobachtung, so würde der Spion nur diese halbbarbarische Schaustellung schildern, mit der er zu den Spielen kam. Die Römer würden lachen, die Stadt sich dabei amüsieren, was kümmerte es ihn? Am nächsten Morgen war das Schaugepränge schon weit auf der Straße zur Wüste, und alle beweglichen Dinge waren in Sicherheit, was bei einem Erfolg der Pferde wichtig war. In der Tat war er auf dem Heimweg, das Lager bestand nicht mehr. In zwölf Stunden war alles außer Reichweite, wer auch immer ihn verfolgen würde. Ein Mann ist nie sicherer, als wenn man über ihn lacht; der vorsichtige Araber wußte das. Weder er noch Ben Hur unterschätzten den Einfluß Messalas, aber sie glaubten, daß er bis zum Ende der Spiele nichts unter­ nehmen werde. Würde er aber besiegt und vor allem von Ben Hur besiegt, mußten sie auf das Schlimmste gefaßt sein; er würde nicht einmal erst auf die Ratschläge des Gratus warten. Guten Mutes ritten sie nebeneinander, ruhig auf den morgigen Sieg vertrauend. Auf ihrem Weg stießen sie auf Malluch, der sie erwartete. Er grüßte sie und überreichte Ilderim ein Papier, ohne im geringsten zu zeigen, wie vertraut er mit dem Verhältnis zwischen Ben Hur und Simonides und Ilderim war: »Ich habe hier die soeben erlassene Bekanntmachung des Leiters der Spiele, in der die Teilnahme deiner Pferde am Rennen veröffentlicht wird. Du findest darin auch die Renn­ ordnung. Ich wünsche dir Glück und Sieg, guter Scheik.« 311

Dann wandte er sich an Ben Hur: »Auch dir, Sohn des Arrius, meine Glückwünsche! Deinem Treffen mit Messala steht nichts im Wege, jede Vorbedingung ist erfüllt. Ich habe die Bestätigung des Leiters der Spiele. Deine Farbe ist Weiß, die Messalas Scharlach-Gold. In den Straßen werden weiße Bänder verkauft, und morgen wird sie jeder Araber und Jude in der Stadt tragen. Im Zirkus wirst du sehen, daß sich die Galerien ziemlich gleichmäßig in Weiß und Rot teilen werden.« »Ich danke dir, Malluch. Die Galerien – aber nicht die Tribü­ nen über der Porta Pompä.« »Nein, hier wird Scharlach-Gold herrschen. Aber wie werden die Herrschaften zittern, wenn wir gewinnen. Bei ihren Wetten werden sie sich von ihrer Verachtung alles Nichtrömischen leiten lassen, zwei, drei, fünf zu eins auf Messala, weil er ein Römer ist.« Er sprach leiser: »Es ziemt einem Juden, der in den Tempel geht, nicht, für Geld zu wetten. Aber, im Vertrauen, ich habe einen Freund, der ganz in der Nähe des Konsuls sitzt und Wetten annimmt – drei zu eins, oder fünf, oder zehn – in ihrer Verrücktheit mögen sie so hoch gehen. Ich habe ihm zu diesem Zweck eine Anweisung auf sechstausend Schekel gegeben.« »Nein, Malluch«, antwortete Ben Hur, »ein Römer wird nur römisches Geld wetten. Ich nehme an, du siehst deinen Freund heute abend, dann gib ihm eine Anweisung auf so viel Sester­ zen, wie du willst. Er soll Wetten mit Messala und seinem Anhang eingehen, Ilderims Gespann gegen das Messalas.« Malluch dachte einen Augenblick nach: »Das würde das Interesse auf diese beiden sammeln.« »Gerade das will ich, Malluch.« »Ich verstehe.« »Willst du mir einen großen Dienst erweisen, so hilf mir, die ganze öffentliche Aufmerksamkeit auf das Rennen zwischen mir und Messala zu lenken.« 312

»Das kann geschehen.« »So tu’s, Malluch!« »Riesige Wetten fordern heraus. Werden sie angenommen, desto besser!« Malluch hatte Ben Hur mit großer Aufmerksamkeit beobach­ tet. »Soll ich mich nicht für die Räuberei entschädigen«, fuhr Ben Hur fort, als spräche er zu sich selbst. »Vielleicht ist es die letzte Gelegenheit. Wenn ich nicht nur seinen Stolz breche, sondern ihn auch zugrunde richten könnte, unser Vater Jakob könnte kein Ärgernis daran nehmen.« Sein schönes Gesicht bekam einen harten, entschlossenen Zug: »Ja, es sei! Höre, Malluch! Bleibe nicht bei Sesterzen stehen, steigere bis auf Talente, wenn du jemand findest, der so hoch gehen will. Fünf, zehn, zwanzig, ja selbst fünfzig Talente, wenn die Wette mit Messala selbst abgeschlossen werden kann.« »Das ist eine gewaltige Summe, dazu müßte ich Bürgschaft stellen.« »Das sollst du. Geh zu Simonides und sage ihm, daß ich die Angelegenheit geregelt wünsche. Vergiß dies nicht, guter Malluch.« Malluch ritt davon, kehrte aber nochmals zurück. »Verzeih, Sohn des Arrius, ich habe etwas vergessen. Ich selbst konnte nicht an Messalas Wagen herankommen und ließ ihn durch einen anderen messen. Seine Achse ist eine Hand­ breite höher als die deine.« »Eine Handbreite! So viel?« rief Ben Hur erfreut und beugte sich zu ihm: »Beschaffe dir einen Platz über dem Siegestor nahe am Balkon über den Säulen und gib acht, wenn wir zur dortigen Wendung der Bahn kommen. Gib gut acht, denn wenn ich Glück habe, will ich… nein, Malluch, es soll ungesagt bleiben! Nur finde dich dort ein und gib acht!« In diesem Augenblick stieß Ilderim einen Schrei aus: 313

»Bei der Herrlichkeit Gottes! Was ist das?« Er zog Ben Hur näher und zeigte auf eine Stelle der Be­ kanntmachung: »Lies!« Ben Hur nahm das Blatt, das vom Präfekten der Provinz, dem Veranstalter der Spiele, unterschrieben war und das Verzeich­ nis der Veranstaltungen enthielt. Es unterrichtete die Zuschauer, daß die Spiele mit einem prächtigen Umzug begin­ nen, dem die gebräuchlichen Opfer an den Gott Comus folgen. Die Namen der Teilnehmer an den Kämpfen – im Wettlauf, Springen, Ringen, Boxen – wurden genannt, ihre Nationalität, die Schulen, aus denen sie hervorgegangen waren, die Orte, an denen sie aufgetreten waren, und die Preise, die sie errungen hatten. Die Preissummen waren in illuminierter Schrift ange­ geben, ein Zeichen, daß die Tage vorbei waren, in denen dem Sieger der einfache Lorbeerkranz genügte und er ihn höher hielt als Reichtum. Dann kamen die Ankündigungen der Wagenrennen. Den Liebhabern dieser Wettkämpfe wurde mitgeteilt, daß ihnen etwas geboten werde, wie es Antiochia noch nicht gesehen habe. Die Stadt veranstalte die Spiele zu Ehren des Konsuls. Hunderttausend Sesterzen und ein Lor­ beerkranz waren die Preise. Dann folgten die Einzelheiten. Es waren sechs Vierergespanne angemeldet, sie sollten zusammen auftreten. Dann wurden alle sechs beschrieben: 1. Vierergespann des Korinthers Lysippus – zwei Grau­ schimmel, ein Fuchs und ein Rappe. Sieger im Vorjahr in Korinth und Alexandria. Lenker: Lysippus. Farbe: Gelb. 2. Vierergespann des Römers Messala – zwei Schimmel, zwei Rappen. Sieger im Vorjahre im Circus Maximus zu Rom. Lenker: Messala. Farbe: Scharlach-Gold. 3. Vierergespann des Atheners Cleanthes – drei Grauschim­ mel, ein Fuchs. Sieger im Vorjahr bei den Isthmischen Spielen. Lenker: Cleanthes. Farbe: Grau. 314

4. Vierergespann des Byzantiners Dicäus – zwei Rappen, ein Grauschimmel, ein Fuchs. Sieger in diesem Jahr in Byzanz. Lenker: Dicäus. Farbe: Schwarz. 5. Vierergespann des Sidoniers Admetus – vier Grauschim­ mel. Dreimal Sieger in Cäsarea. Lenker: Admetus. Farbe: Blau. 6. Vierergespann Ilderims, Scheiks der Wüste – vier Füchse. Erstes Rennen. Lenker: Ben Hur, ein Jude. Farbe: Weiß. Lenker: Ben Hur, ein Jude! Warum dieser Name statt Arrius? Ben Hur sah Ilderim an. Jetzt konnte er sich seinen Ausruf erklären. Beide kamen zu demselben Schluß: Das war Messalas Hand!

Die Wetten werden abgeschlossen An diesem Abend unterschied sich der Menschenstrom, der täglich durch die Kolonnaden des Herkules flutete, dadurch vom gewohnten Bild, daß fast jedermann irgendeine Farbe des einen oder anderen Wagenlenkers trug. Die Tausende aus allen Völkerstämmen bekannten sich durch eine Schärpe, ein Band oder wenigstens eine Feder als Freunde des Cleanthes, wenn sie Grau trugen, als die des Byzantiners, wenn sie Schwarz gewählt hatten. Drei Farben herrschten vor: Grau, Weiß, Scharlach-Gold. Im Palast auf der Insel war die Gesellschaft wieder versam­ melt, die sich dort täglich zu treffen pflegte. Die fünf Kronleuchter waren eben angezündet worden. Auch heute liegen Schläfer und Kleidungsstücke auf dem Diwan, auf den Tischen klappern die Würfel. Aber die meisten stehen und sitzen müßig und gähnend herum. Man tauscht leere Redensar­ ten aus: Wird morgen das Wetter schön werden? Sind alle Vorbereitungen für die Spiele getroffen? Gelten im Zirkus die gleichen Bedingungen wie in Rom? Man langweilt sich, denn 315

man hat nichts zu tun, als auf morgen zu warten. Auf den Notiztäfelchen haben die jungen Herren ihre Wetten auf die Läufer, Ringer und Faustkämpfer eingetragen, keine einzige Wette auf die Wagenlenker ist dabei. Im Saal herrscht nur eine Farbe, und gegen Messala zu wetten ist sinnlos, weil jeder ganz sicher mit seinem Sieg rechnet. Zweifel gibt es nicht. Hat er nicht die kaiserliche Schule mit Auszeichnung durchgemacht. Waren seine Pferde nicht Preisträger im Circus Maximus? Und ist er nicht ein Römer? Messala sitzt ruhig in einer Ecke des Diwans. Seine Bewun­ derer bestürmen ihn mit Fragen; es gibt nur einen Gegenstand der Unterhaltung: das Rennen. Eben treten Drusus und Cäcilius ein. »Woher?« fragt Messala. »Von den Straßen. So viel Menschen hat man noch nie in der Stadt gesehen. Morgen wird die ganze Welt im Zirkus sein.« Messala lachte geringschätzig: »Diese Narren haben noch nie Spiele gesehen, die der Kaiser veranstaltet. – Aber Drusus, was bringst du Neues?« »Nichts.« »Doch«, wandte Cäcilius ein, »du vergißt etwas! Den ›Auf­ zug der Weißen!‹« »Richtig!« rief Drusus. »Wir begegneten einer Gruppe der Weißen mit einer Fahne. Aber…« Er fiel lachend auf den Diwan. »Warum erzählst du nichts?« »Abschaum der Wüste, Messala. Auskehricht vom Ja­ kobstempel in Jerusalem.« »Was hab’ ich mit denen zu tun!« »Drusus fürchtet ausgelacht zu werden«, wandte Cäcilius ein. »Mir macht es nichts, Messala.« »Also sprich du!« »Nun, wir hielten an…« »Und boten ihnen eine Wette«, fuhr Drusus fort. »Ich zog mein Täfelchen. ›Wer ist dein Mann‹, fragte ich. ›Ben Hur, der 316

Jude‹, antwortete einer. Und ich: ›Wieviel soll es sein?‹ Er antwortete… Entschuldige Messala, ich kann vor Lachen nicht reden.« »Sprich du, Cäcilius!« »Ein Schekel!« Alle lachten laut auf: »Ein Schekel?« »Und was tat Drusus?« fragte Messala. An der Tür war eine Bewegung entstanden. Cäcilius antwor­ tete: »Der edle Drusus nahm die Wette an.« Und er ging zur Tür, um zu sehen, was es gab. »Ein Weißer! Ein Weißer!« rief man. »Er soll hereinkommen!« »Hierher! Hierher!« Ein Jude trat ein in fleckenlosem weißem Kleid und weißem Turban, er tat es ernst, gemessen und sicher. Sofort sammelten sich die Anwesenden um ihn. Die Spieler kamen von den Tischen sogar die Schläfer wachten auf. Der Fremde verbeugte sich dankend und ging an den Tisch in der Mitte. Er nahm Platz, hüllte sich vornehm in sein Kleid und winkte; in einem seiner Finger blitzte ein Edelstein. »Römer! Hochedle Römer, ich entbiete euch meinen Gruß!« Messala und Drusus waren in ihrer Ecke geblieben. »Wer ist das?« fragte Drusus. »Beim Jupiter, still!« Messala erhob sich: »Ein Hund von einem Juden. Er heißt Sanballat, ist Heereslieferant und wohnt in Rom. Er ist uner­ meßlich reich geworden an Lieferungen, die er niemals liefert. Er spinnt sein Gewebe feiner als Spinnen und sinnt stets auf Übles. Trotzdem werden wir ihn diesmal fangen.« Sanballat hatte seine Notiztafel hervorgeholt: »Ich hörte auf der Straße, daß man im Palast höchst unzufrieden ist, weil niemand Wetten gegen Messala eingehen will. – Ihr seht meine Farbe. Die Götter wollen Opfer haben, wie ihr wißt. Hier bin ich. Laßt uns also zur Sache kommen! Was bietet ihr?« 317

Seine Kühnheit schien die Anwesenden zu verblüffen. »Beeilt euch! Der Konsul wartet auf mich.« Diese Bemerkung hatte Erfolg. »Zwei gegen eins«, rief ein halbes Dutzend Stimmen. »Wie? Zwei gegen eins?« fragte Sanballat erstaunt. »Und ihr wollt Römer sein?« »Also, drei!« »Drei? Nur drei? – Sagt vier!« »Also vier!« rief einer. »Fünf! Gebt mir fünf!« Es war still geworden. »Der Konsul, euer Herr und der meine, wartet auf mich. Gebt mir fünf, Rom zu Ehren: fünf!« »Es sei: fünf!« rief eine Stimme. Es entstand eine Bewegung, man hörte Beifall. Es war Messala, der geboten hatte. »Fünf!« bestätigte er. Sanballat lächelte, er machte sich fertig zum Schreiben: »Wenn der Kaiser morgen stirbt, so ist Rom doch nicht ver­ waist. Es gibt wenigstens einen, der Mut hat. Gib mir sechs!« »Also sechs!« antwortete Messala. Der Beifallssturm wurde noch lauter. »Sechs gegen eins – der Unterschied zwischen einem Römer und einem Juden! Da wir ihn nun kennen, wollen wir rasch noch den Betrag festsetzen. Der Konsul könnte nach mir schicken, und dann wären wir verwaist.« Sanballat nahm den Hohn gelassen auf, er schrieb und reichte Messala die Tafel. »Lies!« riefen alle. Und Messala las: »Wagenrennen. Messala aus Rom wettet mit Sanballat, eben­ falls aus Rom, daß er Ben Hur, den Juden, besiegen werde. Betrag der Wette: Zwanzig Talente. Zugunsten Samballats: Sechs gegen eins. Zeugen: Sanballat« Im Saal herrschte tiefe Stille, keiner rührte sich. Messala 318

starrte die Tafel an. Er fühlte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, und überlegte. Weigerte er sich, zu unterzeichnen, so war es aus mit seiner Führerschaft. Aber unterzeichnen konnte er nicht. Er besaß keine hundert Talente, nicht einmal den fünften Teil. Er wurde bleich. Endlich glaubte er einen Ausweg gefunden zu haben: »Du Jude, wo hast du zwanzig Talente? Bringe Beweise!« Sanballat lächelte überlegen. »Hier!« sagte er und überreichte Messala ein Papier. Messala las laut: »Antiochia, am 16. Tanmuz. Inhaber dieses, Sanballat aus Rom, hat bei mir fünfzig Talen­ te in kaiserlichem Geld hinterlegt. Simonides.« »Fünfzig Talente!« riefen alle. Hier mischte sich Drusus ein »Beim Herkules, das Papier lügt, und der Jude ist ein Lügner. Wer außer dem Kaiser hat fünfzig Talente auf Anweisung! Herunter mit dem unver­ schämten Weißen!« Er hatte zornig gesprochen, und zornig wurde es wiederholt. Sanballat aber blieb ruhig sitzen, und sein Lächeln wurde um so herausfordernder, je länger Messala ihn warten ließ. Endlich antwortete Messala: »Meine Wette mit dir lautet sechs gegen eins, Jude.« »Ja«, antwortete Sanballat. »Gut. Überlaß mir die Festsetzung des Betrages.« »Mit dem Vorbehalt, daß die Summe nicht gering ist.« »Schreibe fünf statt zwanzig!« »Besitzest du so viel?« »Bei der Göttermutter, ich kann dir die Quittung zeigen.« »Nein, das Wort eines so tapferen Römers muß genügen. Nur mache eine gerade Zahl, sage sechs statt fünf, und ich schrei­ be.« 319

Sie tauschten die Verschreibungen aus. Dann erhob sich Sanballat, Hohn statt Lächeln im Ausdruck: »Römer, noch eine Wette, wenn ihr es wagt! Fünf gegen fünf Talente auf Weiß. Ich fordere euch insgesamt heraus.« Alle waren von neuem überrascht. »Wie? Soll es morgen im Zirkus heißen, ein Hund von Jude sei in den Saal des Palastes gekommen, in dem die edelsten Römer versammelt waren, unter ihnen der Erbe des Kaisers, und habe fünf Talente vor sie hingelegt, ohne daß einer den Mut hatte, sie aufzunehmen?« Der Stachel wirkte. »Es sei, Unverschämter!« sagte Drusus. »Schreib die Heraus­ forderung und laß sie auf dem Tisch liegen! Und wenn wir feststellen, daß du wirklich so viel Geld auf eine verlorene Sache setzen kannst, so verspreche ich, Drusus, daß sie morgen angenommen werden soll.« Sanballat schrieb und erhob sich: »Hier, Drusus, ich lasse die Wette in deinen Händen. Wenn sie unterschrieben ist, sende sie mir zu irgendeiner Zeit vor dem Beginn der Rennen. Ich werde beim Konsul über der Porta Pompä sitzen. – Friede sei mit dir! Friede mit euch allen!« Mit einer Verbeugung verabschiedete er sich, ohne sich um das Hohngelächter zu kümmern. Noch in der Nacht machte die Geschichte von der gewaltigen Wette die Runde durch die Stadt. Auch Ben Hur, der sich bei seinem Gespann aufhielt, hörte davon. Und ihm wurde gesagt, daß Messalas ganzes Vermögen auf dem Spiele stand. Nie hatte er so ruhig geschlafen.

Der Zirkus Der Zirkus von Antiochia stand am Südufer des Flusses, der 320

Insel gegenüber, und unterschied sich in seiner Anlage kaum von ähnlichen Bauwerken. Die Spiele waren in vollstem Sinne ein Geschenk an das Volk, jedermann hatte freien Zutritt, und so riesig die Anlage auch war, nie blieb ein Platz frei. Um Mitternacht fielen die Schranken vor den Eingängen, und die Menge strömte hinein und nahm die Ränge ein. Nur ein Erdbeben oder eine Armee mit Speeren hätte sie wieder daraus vertreiben können. Die Nacht verbrachten viele auf den Bänken, sie frühstückten dort, und sie rührten sich nicht bis zum Schluß der Aufführungen. Die vornehmeren Zuschauer begaben sich auch schon in den frühen Morgenstunden auf ihre reservierten Plätze, die reich­ sten in Sänften und von Dienern begleitet. Schon von der zweiten Stunde an war der Strom der Menge nicht mehr zu bändigen. Um diese Zeit zog die Legion in voller Ausrüstung mit all ihren Standarten vom Berg Sulpius herunter. Als die letzte Kohorte auf der Brücke verschwand, war Antiochia entvölkert. Nicht daß der Zirkus alle Einwohner hätte fassen können, aber hinausgezogen waren sie alle. Eine riesige Menge hatte sich am Fluß eingefunden, um den Konsul in seinem Staatsschiff landen zu sehen. Der militärische Aufzug ver­ drängte für eine Weile das Interesse an den Spielen. Um die dritte Stunde, als alle Zuschauer ihre Plätze einge­ nommen hatten, forderte ein Trompetenstoß Stille, und sofort wandten sich die Blicke der mehr als hunderttausend Menschen zum östlichen Teil des Zirkus. Dort war über dem breiten gewölbten Eingangstor, der Porta Pompä, eine prächtig ge­ schmückte Tribüne errichtet, auf welcher der Konsul seinen Ehrensitz hatte. Zu beiden Seiten des Eingangs, in der ganzen Breite des Zirkus, befanden sich die abgetrennten aufsteigen­ den Sitzreihen für die Vornehmen und Würdenträger; massive Tore zwischen Säulen schlossen die niedrige Brustwehr ab. Über diesen Sitzen spannte sich die purpurne Decke, die Velaria, die zugleich Schatten spendete. 321

Zur Rechten und Linken der Bühne erheben sich die Türme mit den mächtigen Portalen. Unter ihr liegt die mit weißem Sand bestreute Arena. Gegen Westen stehen auf marmornem Sockel drei Säulen aus grauem Stein, sie bezeichnen das erste Ziel der Rennen und Anfang und Ende der Rennbahn. Dahinter ist ein Altar errichtet, und hinter ihm erstreckt sich sechshun­ dert Fuß lang eine zehn oder zwölf Fuß hohe Mauer. Am Ende der Mauer steht wiederum eine Piedestal mit Säulen, das zweite Ziel. Anfang und Ende der Arena liegen gerade vor den Blicken des Konsuls. In einer Mauer, die das Innere des Zirkus umschließt, ist das reich geschmückte Triumphtor eingelassen, durch das am Schlusse die gekrönten Sieger ziehen. Von dieser Mauer steigen im Halbkreis die Zuschauersitze auf. Ein neuer Trompetenstoß gibt das Zeichen zum Beginn. Durch die Porta Pompä im Osten zieht, von Musik begleitet, die Stadtverwaltung, an ihrer Spitze der Leiter der Spiele, alle mit Kränzen geschmückt und in Prachtgewändern. Ihnen folgen die Götterbilder auf Tragbahren oder großen vierrädri­ gen Wagen und danach die Wettkämpfer. Langsam schreitet der Zug durch die Arena, ein eindrucksvolles, herrliches Bild. Ein Beifallssturm erhebt sich, die Menge ruft die Namen ihrer Lieblinge und wirft ihnen Kränze zu. Die Vorliebe für die Wagenlenker zeigt sich sofort, die Zuschauer erheben sich von ihren Plätzen, ein Blumenregen ergießt sich über die Wagen. Jedem Wagen folgt ein Begleiter, nur Ben Hur hat es, vielleicht aus Mißtrauen, vorgezogen, allein zu bleiben. Weiß scheint die Lieblingsfarbe der Tausende zu sein. Als Ben Hur sich dem zweiten Ziel nähert, wird er mit Beifall überschüttet, aber auch Messala wird stürmisch ausgezeichnet. Ihre Namen brausen durch den Zirkus: »Ben Hur – Messala – Messala – Ben Hur!« »Beim Bacchus, war er nicht schön?« ruft eine Römerin, die Scharlach-Gold im Haar trägt. »Und wie herrlich ist sein Wagen!« ergänzt ihr Nachbar. »Jupiter lasse ihn gewinnen!« Auf der Bank hinter ihnen rief eine durchdringende Stimme: 322

»Ich wette hundert Schekel auf den Juden!« »Sei doch vernünftig! Die Kinder Jakobs haben nicht viel Glück im heidnischen Sport, denn sie sind dem Herrn ein Greuel.« »Wahr! Aber hast du jemals einen ruhiger und zuversichtli­ cher gesehen als ihn? Was hat er für Arme!« »Und was für Pferde!« »Man rühmt ihm nach, er sei ein Meister in allen Künsten der Römer!« »Und schöner als der Römer ist er auch!« warf eine Frau ein. Der Wettlustige rief aufs neue begeistert »Hundert Schekel auf den Juden!« »Du Narr!« antwortete ein Antiochier. »Weißt du denn nicht, daß fünfzehn Talente – sechs gegen eins – gegen Messala gewettet sind? Behalte deine Schekel!« »Dummes Gerede! Dieser Esel aus Antiochia scheint nicht zu wissen, daß Messala auf sich selbst gewettet hat!« Als sich der Zug bei der Porta Pompä auflöste, wußte Ben Hur, daß der ganze Osten Zeuge seines Kampfes mit Messala war.

Der Beginn Am Nachmittag drei Uhr – nach der heutigen Zeitrechnung – waren alle Spiele beendet, bis auf die Wagenrennen. Es trat eine Pause ein, die Tore öffneten sich, und die meisten Zu­ schauer gingen hinaus, um an den zahllosen Speisestätten außerhalb des Zirkus ihren Hunger zu stillen. Die anderen saßen gähnend herum und beschauten ihre Notiztafeln, die glücklichen Gewinner ebenso wie die verdrießlichen Verlierer. In der Pause nahmen jene ihre reservierten Plätze ein, die nur zu den Wagenrennen kamen. Zu ihnen gehörte auch Simonides 323

und seine Gesellschaft. Ihre Plätze lagen an der Nordseite, den Plätzen des Konsuls gegenüber. Als Simonides von vier Die­ nern in seinem Sessel durch den Gang getragen wurde, grüßte man ihn von allen Seiten; auch Ilderim wurde begrüßt. Baltha­ sar aber und die beiden verschleierten Frauen waren unbekannt. Als sie Platz genommen hatten, sah Esther ängstlich über den Zirkus und zog ihren Schleier noch enger über ihr Gesicht. Iras dagegen ließ den ihren fallen und blickte kühl um sich. Kurz danach betraten Bedienstete die Arena und spannten einen mit Kreide bestrichenen Strick vor das erste Ziel. Dann traten sechs Männer vor die Türen der Brustwehren. Die summende Erregung auf den Sitzreihen wuchs. »Sieh da, Grau geht nach Nummer vier.« »Und Messala hat Nummer zwei!« »Der Korinther…« »Dort ist Weiß, zur Linken. Er geht auf Nummer eins zu.« »Nein, das ist der Platz für Schwarz. Weiß hat Nummer zwei!« »Du hast recht.« Es waren die Aufseher, die Tuniken in den Farben der Preis­ bewerber trugen; sie waren vor die Verschlage getreten, hinter denen die Wagen warteten. »Hast du je Messala gesehen?« fragte die Ägypterin Esther. »Nein!« Sie schauderte bei dem Namen. »Er ist schön wie Apoll!« Iras entfaltete ihren edelsteinbe­ setzten Fächer. Esther fragte sich in Gedanken: Ist er so viel schöner als Ben Hur? Da hörte sie Ilderim, der ihrem Vater sagte: »Ja, er ist in Nummer zwei!« Esther sah dorthin, aber schlug gleich wieder die Augen nieder und murmelte ein Gebet. Sanballat trat zu der Gesellschaft und verneigte sich vor Ilde­ rim: »Ich komme eben aus den Ställen, Scheik. Die Pferde sind in der besten Verfassung.« 324

Ilderim begnügte sich mit der Antwort: »Wenn sie besiegt werden, so hoffe ich, nicht von Messala.« Dann wandte sich Sanballat zu Simonides: »Auch für dich habe ich Nachrichten. Wie du dich erinnern wirst, schloß ich gestern noch eine Wette mit Messala ab und ließ das Anerbie­ ten für eine zweite im Palast zurück. Sie ist angenommen, hier ist die schriftliche Bestätigung.« Simonides las die Tafel: »Ich weiß davon. Sie sandten einen, der sich erkundigte, ob du so viel Geld bei mir stehen hast. Hebe das Täfelchen sorgfältig auf! Wenn du verlierst, weißt du, an wen du dich wenden mußt. Gewinnst du« – ein drohen­ der Schatten flog über sein Gesicht –, »gewinnst du, dann, Freund, so sieh zu, daß dir der Unterzeichner nicht entschlüpft. Zwinge ihn, den letzten Schekel herzugeben. Mit uns würden sie es ebenso machen.« »Verlaß dich auf mich!« antwortete der Unterhändler. »Du bist sehr gütig, aber wenn ich den Konsul verlasse, wird das junge Rom dort übermütig. Friede mit dir, Friede mit euch allen!« Die Pause war zu Ende. Ein Trompetenstoß rief die Zuschau­ er auf ihre Plätze zurück. In der Arena wurden in der Nähe des zweiten Ziels sieben hölzerne Kugeln, am ersten Ziel sieben hölzerne Fische aufgestellt. »Was bedeuten die Kugeln und Fische, Scheik?« fragte Bal­ thasar. »Sie dienen zum Zählen, nach jeder Runde wird eine Kugel und ein Fisch abgenommen. Hast du noch nie einem Rennen beigewohnt?« »Noch nie, ich weiß kaum, wo ich bin.« Ein Trompeter erhob sich, um das Zeichen zu geben. »Gibt acht, daß du das Erscheinen des Römers nicht ver­ paßt!« Esther hörte nicht, was ihr Iras zugeraunt, sie erwartete mit klopfendem Herzen Ben Hur. 325

Ein gellender Trompetenstoß. Die Tore der Carceres öffneten sich, die berittenen Begleiter der Bewerber erschienen; trotz der Pracht ihres Aufzugs fanden sie wenig Beachtung. Alles lauschte auf das Stampfen der Pferde und die Stimmen der Lenker hinter den Toren. Da fiel das Zeichen. Und wie ein Sturmwind jagten die sechs Gespanne in die Bahn. Der Zirkus dröhnte von Beifall, die ungeheure Menge war auf die Bänke gestiegen. »Dort ist er! Sieh, dort!« rief Iras und zeigte auf Messala. »Ich sehe ihn«, entgegnete Esther und schaute auf Ben Hur. Sie hatte den Schleier fallen lassen, und plötzlich begriff sie, daß man sich, im Angesicht der Tausende, bei einer mutigen Tat bis zur Todesverachtung begeistern kann. Die Bewerber waren nun von allen Teilen des Zirkus aus sichtbar. Aber das Rennen begann noch nicht. Der bekreidete Strick war ausgespannt. Im Abstand von ungefähr zweihun­ dertfünfzig Fuß hinter ihm sammelten sich die Wagen, und erst in dem Augenblick, in dem er fiel, durften die Pferde losjagen. Wem es gelang, als erster über die Schranke zu kommen, der hatte den großen Vorteil, die innere Seite der Rennbahn an der Mauer zu gewinnen. Ein scharfes Auge, eine sichere Hand und ruhige Berechnung waren dazu nötig. Die Bewerber näherten sich gleichzeitig der Schranke. Ein Trompetenstoß, ein Aufjauchzen der Menge – die Schranke fiel. Und keinen Augenblick zu spät; denn schon hatte der Huf eines der Pferde Messalas sie berührt. Der Römer holte mit der Peitsche aus – und mit einem Triumphruf eroberte er die vielbegehrte innere Bahn an der Mauer. »Jupiter mit uns, Jupiter mit uns!« schrien die Römer außer sich vor Freude. Als Messala hinüberwendete, erfaßte der bronzene Tigerkopf am Ende seiner Wagenachse ein Vorderbein des Strangpferdes des Atheners und warf es gegen das andere Pferd. Die Pferde wankten, sträubten sich und blieben zurück. Die Menge hielt den Atem an. Nur dort, wo der Konsul saß, hörte man Rufe: 326

»Jupiter mit uns!« schrie Drusus. »Er gewinnt! Jupiter mit uns!« rief ein anderer aus der Gesellschaft. Sein Täfelchen in der Hand, wandte sich Sanballat zu ihm. Aber ein Krach von der Bahn her verschloß ihm den Mund. Als Messala vorüberjagte, war der Korinther der einzige an des Atheners Rechten. Und nach dieser Seite versuchte der Athener seine gehemmten viere zu lenken. Da traf zu seinem Unglück ein Rad des Byzantiners zu seiner Linken seinen Wagen, so daß er zu Fall kam. Ein Krachen, ein Wutschrei – und der unglückliche Cleanthes lag unter den Hufen seiner eigenen Pferde. Esther bedeckte ihre Augen. Und vorwärts jagte der Korinther, der Byzantiner, der Sido­ nier. Sanballat sah auf Ben Hur und wandte sich nochmals an Drusus und sein Gefolge. »Nochmals hundert Sesterzen auf den Juden!« Niemand schien ihn zu hören. Er wiederholte das Anerbieten. Aber das Rennen in der Arena fesselte alle zu sehr, als daß er beachtet worden wäre. Als Esther wieder aufzusehen wagte, waren eben Arbeiter dabei, die Pferde des Atheners wegzufüh­ ren und den zerbrochenen Wagen zu beseitigen. Andere trugen den Verunglückten hinaus. Von jeder Bank, auf der ein Grie­ che saß, hörte man Verwünschungen und Rachedrohungen. Jetzt sah Esther Ben Hur. Er stand unverletzt in seinem Wa­ gen und raste an Messalas Seite an der Spitze. Hinter ihm folgten in einer Gruppe der Sidonier, der Korinther und der Byzantiner. Das Rennen war in vollem Gang. Die Lenker waren mit ganzer Seele dabei. Und die Tausende über ihnen saßen mit vorgestreckten Köpfen.

Das Wagenrennen

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Als der Kampf um die Plätze begann, war Ben Hur an der äußersten Linken der sechs Wagen. Einen Augenblick hatte auch ihn wie die andern das grelle Licht der Arena geblendet; aber er hatte dennoch die Absichten seiner Gegner erkannt. Messala, der mehr als ein Gegner war, warf er einen durch­ dringenden Blick zu. Der Ausdruck kalten Stolzes, so charakteristisch für das feine Patriziergesicht, war derselbe wie ehemals, und ebenso unverändert war die italienische Schön­ heit, die der Helm noch erhöhte. Ihm war, als sehe er die Seele dieses Mannes wie durch ein dunkles Glas: Grausam, listig, verzweifelt; nicht erregt, sondern entschieden – eine Seele in der Spannung von Wachsamkeit und grimmiger Entschlossen­ heit. In einem Nu, nicht länger als nötig war, seine vier zu wenden, fühlte Ben Hur seinen eigenen Entschluß sich im ähnlichen Sinne härten. Was immer es koste, unter allen Umständen, er mußte diesen Feind besiegen. Preis, Freude, Wetten, Ehre – alles, was eine Rolle bei dem Rennen spielen mochte, ging unter in dem einen wohlüberlegten Entschluß. Auch die Ehrfurcht vor dem Leben durfte ihn nicht zurückhal­ ten. Es war keine Leidenschaft auf seiner Seite, keine blindwütige Hitze vom Herz zum Hirn, kein Impuls, sich dem Glück auszuliefern; er glaubte nicht an das Glück. Er hatte seinen Plan, die Luft um ihn schien vollkommen durchsichtig. Noch halbwegs in der Arena erkannte er, daß Messala, wenn es keinen Zusammenstoß gäbe und die Schnur fiele, die Mauer erreichen würde. Er zweifelte nicht daran, daß Messala wußte, die Schnur würde genau dann fallen, wenn seine Pferde sie berührten. Ben Hur war entschlossen, ihm zunächst die Mauer zu überlassen. Als die Schnur fiel, hielt er sofort nach rechts, ließ seine Araber mit äußerster Schnelligkeit losjagen und erreichte an den anderen vorbei Messala, wenn auch an der Außenseite. Im Zirkus hatte man diese Wendung von der äußersten Linken zur Rechten mit Beifall aufgenommen. Sogar Esther klatschte voll 328

freudiger Überraschung. Danach bot Sanballat seine hundert Sesterzen zum zweitenmal an, ohne einen Partner zu finden. Und dann begannen die Römer zu zweifeln, da sie erkannten, Messala habe einen gleich Starken, wenn nicht Überlegenen gefunden, noch dazu in einem Juden. Und nun, Hals an Hals, dicht nebeneinander, näherten sich die beiden dem ersten Ziel. Das Piedestal der Säulen war dort halbkreisförmig. Hier wendete sich die Bahn, und diesen Bogen kunstgerecht zurück­ zulegen galt als Meisterstück. Im Zirkus war es atemlos still. Dann schien es, als ob Messala Ben Hur beobachtete und erkannte, sofort brach die Unverschämtheit des Mannes in erstaunlicher Weise aus: »Nieder Eros, hoch Mars!« schrie er, schwang seine Peitsche mit geschickter Hand und gab den Arabern Ben Hurs einen Schlag, wie sie ihn noch nie erhalten hatten. Man hatte diesen Hieb von allen Plätzen gesehen, und der Unwillen darüber war allgemein. Es war totenstill. Auf den Bänken hinter dem Konsul hielt der Keckste den Atem an. Einen Augenblick später brach ein Donner von den Balkonen: Das Volk schrie seinen Zorn und seine Verachtung ungehemmt aus. Ben Hurs Gespann tat einen erschrockenen Sprung. Noch nie hatte etwas anderes als Liebe die Pferde Ilderims berührt. Und was konnten sie anderes tun, als sich retten? Mit einem mächtigen Satz sprangen sie wie eins davon und rissen den Wagen nach. Woher hatte Ben Hur die große Hand und den mächtigen Griff, der ihm jetzt so gut half? Jetzt retteten ihn die Jahre auf den Ruderbänken. Auch das Schleudern seines Wagens war nichts gegen das des wogengepeitschten Schiffs. So hielt er seinen Platz, gab den Rennern den Zügel frei, rief ihnen Schmeichelnamen zu und suchte sie sanft an der gefährlichen Stelle der Bahn vorbeizulenken. Und ehe noch die Erregung der Zuschauer verebbt war, hatte er seine vier schon wieder fest in der Hand. Und nun das: Auf dem Rückweg zum ersten 329

Ziel war er schon wieder an Messalas Seite und hatte sich das Wohlwollen aller Nichtrömer erobert. So deutlich gab sich das kund, daß Messala trotz seiner Kühnheit sich nicht getraute, seinen niederträchtigen Hieb zu wiederholen. Als Esther einen Blick auf Ben Hur werfen konnte, sah sie, daß er blaß war und den Kopf etwas höher hielt, eine andere Veränderung bemerkte sie nicht. Auch nach der dritten Runde hatte Messala noch die innere Seite der Mauer inne. Ben Hur behauptete seinen Platz an seiner Seite, die übrigen folgten im Abstand. Es schien eines jener Doppelrennen zu sein, wie sie später in Rom gebräuch­ lich wurden – Messala und Ben Hur als erste, der Korinther, Sidonier und Byzantiner als zweite. In der fünften Runde gelang es dem Sidonier, an Ben Hurs Seite zu kommen, aber er blieb bald wieder zurück. In der sechsten Runde war alles unverändert, nur die Schnelligkeit nahm zu. Lenker und Pferde waren sich bewußt, daß die Entscheidung nahe war. Das Interesse hatte sich von Anfang an hauptsächlich dem Römer und dem Juden zugewandt; aber es schien jetzt, als wandle sich die Zuversicht für Ben Hur in Befürchtung. Die Zuschauer beugten sich vor und verfolgten mit ängstlichen Blicken die beiden Rivalen. »Hundert Sesterzen auf den Juden«, rief Sanballat zum drit­ tenmal den Römern auf der Tribüne des Konsuls zu. Er erhielt keine Antwort. »Ein Talent – fünf – zehn Talente! Wählt!« rief er und schwang seine Notiztafel. »Deine Sesterzen will ich annehmen«, antwortete ein römi­ scher Jüngling und machte sich zum Schreiben bereit. »Tu’s nicht!« warnte ihn ein Freund. »Warum nicht?« »Messala hat seine größte Schnelligkeit erreicht. Sieh, wie er sich über die Brüstung seines Wagens beugt und den Pferden die Zügel läßt! Und dann betrachte den Juden!« 330

»Beim Herkules!« rief der andere. »Der Hund hält die Zügel mit aller Kraft. Wenn die Götter unserem Freund nicht beiste­ hen, besiegt ihn der Jude. – Nein! Noch nicht! Jupiter ist mit uns!« Der Ruf wurde von den Umsitzenden aufgenommen und pflanzte sich lateinisch fort, bis das Zeltdach des Zirkus erbeb­ te. Hatte Messala wirklich seine größte Schnelligkeit erreicht, so hatte er damit auch einen Vorteil gewonnen: Er hatte einen kleinen Vorsprung. Seine Pferde hielten die Köpfe tief gesenkt, ihre Leiber schienen den Boden zu berühren, blutigrot glänzten ihre Nüstern, ihre Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Sie taten ihr Bestes. Aber wie lange noch? Als das zweite Ziel der letzten Runde erreicht war, lenkte Ben Hur seine Pferde hinter den Wagen seines Gegners. Der Jubel der Freunde Mesallas erreichte den Höhepunkt, sie schrien, sie wehten mit Tüchern in seinen Farben. Sanballat konnte seine Wetten nicht rasch genug eintragen. Malluch befand sich auf der Galerie über dem Triumphtor. Er konnte seine Unruhe nicht mehr verbergen und begann seinen Mut zu verlieren. Er erinnerte sich wohl an den Wink, den ihm Ben Hur gegeben hatte. Er sollte auf die Wendung bei den Säulen im Westen achten. Aber noch immer behauptete Ben Hur kaum den Platz hinter seinem Feind. Simonides und seine Gesellschaft blieben ruhig. Der Kauf­ herr saß mit gesenktem Haupt in seinem Sessel. Ilderim wühlte in seinem Bart, seine Augen waren unter den buschigen Brauen verborgen. Esther schien kaum zu atmen. Nur Iras schien froh. Die Wagen erreichten das erste Ziel und bogen in derselben Folge um die Kurve. Messala, in der Furcht, seinen Platz zu verlieren, hielt sich dicht an der Mauer – ein Fußbreit näher, und der Wagen mußte daran zerschellen. Als die Kurve ge­ nommen war, sah man nur ein Wagengespann, so genau folgte Ben Hur Messala. »Er führt etwas im Schilde«, sagte Simoni­ 331

des zu Ilderim. »Sein Gesicht kündet mir’s.« »Siehst du, wie sauber und frisch sie sind?« erwiderte Ilde­ rim. »Bei der Herrlichkeit Gottes, Freund! Noch liefen sie nicht! Aber nun, gib acht!« Eine Kugel und ein Fisch waren noch übrig, der Anfang des Endes war da. Der Sidonier versuchte, einen Vorsprung zu gewinnen; es blieb bei dem Versuch. Auch der Korinther und der Byzantiner versuchten es erfolglos. Die Zuschauer, mit Ausnahme der Römer, hofften noch auf Ben Hur. Wenn er vorbeijagte, riefen sie: »Ben Hur, Ben Hur! An die Mauer! Laß den Arabern die Zügel!« Entweder hörte er sie nicht, oder er hatte bereits sein Bestes geleistet; denn schon war die letzte Runde zur Hälfte beendet, und noch hatte er keinen Vorsprung gewonnen. Beim zweiten Ziel noch keine Änderung. Um die Biegung zu nehmen, begann Messala seine Pferde linker Hand zu wenden, was notwendig ihre Schnelligkeit verminderte. Aber er war guten Muts. Rom würde triumphieren. Ruhm, Reichtum, Beförde­ rung und durch Haß versüßter Sieg winkten ihm bei den drei Säulen, sechshundert Fuß vor ihm. In diesem Augenblick sah Malluch von der Galerie aus, wie sich Ben Hur vorbeugte und seinen Pferden die Zügel ließ. Er schwang die Peitsche über ihnen, berührte sie aber nicht. Mit einem Sprung waren sie an der Seite des Römers. Messala hörte sie, getraute sich aber nicht, sich in der gefährlichen Nähe des Ziels umzuschauen. Von den Zuschauern erhielt er einen Wink. Aus dem allgemeinen Lärm klang nun eine Stimme deutlich an sein Ohr, die Ben Hurs, der in der alten aramäi­ schen Sprache des Scheiks seinen Arabern zurief: »Los, Atair! Auf, Rigel! Wie, Antares, du willst zurückblei­ ben? Brav, Aldebaran, gutes Pferd! Ich höre sie in den Zelten singen, die Kinder und Frauen, von den Sternen Atair, Antares, Rigel und Aldebaran – ein Lied von ihrem Sieg. Wohlgetan! Morgen gehen wir heim unter das schwarze Zelt. Los, Antares! 332

Der Stamm wartet auf uns, und der Meister wartet!… Es ist getan! Ist geschehen! – Wir haben den Stolzen gedemütigt. Die Hand, die uns schlug, liegt im Staube. Unser ist der Sieg! Unser der Ruhm! Seht! Das Werk ist getan! Halt! Steht!« Einfacher und schneller hatte sich nie etwas Ähnliches abge­ spielt. Messala war eben im Begriff, die Biegung um das Ziel zu vollenden. Um an ihm vorbeizukommen, mußte Ben Hur die Bahn in einem möglichst kurzen Abstand kreuzen. Die Tausende errieten seine Absicht, sahen ihn das Zeichen geben und waren Zeuge seines Erfolges. Das Gespann sauste am äußeren Rade Messalas vorbei, das innere Rad Ben Hurs traf Messalas Rad – ein Krach, der im ganzen Zirkus widerhallte. Schneller, als man denken konnte, wirbelte über die Bahn ein blitzendes Gefunkel. Nach rechts herunter brach das goldne Bett des römischen Wagens. Es war ein Gekreisch, als risse die Achse die harte Erde auf – noch eins, noch eins. Der Wagen zerbrach in Stücke, und Messala, in die Zügel verwickelt, wurde heruntergeschleudert. Um das Unglück voll zu machen, konnte der Sidonier seine Pferde nicht halten, sie sausten mit voller Wucht in die Trümmer, über den Römer hinweg, in sein schäumendes Gespann. Messala versuchte, sich aus der Wolke von Sand und Staub zu erheben und konnte gerade noch sehen, wie der Korinther und der Byzantiner Ben Hur auf der Bahn folgten, der nicht im geringsten aufgehalten worden war. Die Zuschauer erhoben sich schreiend von den Bänken, ein Beifallssturm brauste durch den Zirkus. Messala war unter den Trümmern seines Wagens und seinen vor Wut stampfenden Pferden hingesunken. Man hielt ihn für tot. Ben Hur war das Ziel aller. Die wenigsten hatten bemerkt, wie er seine Araber etwas nach links lenkte, als er Messala überholte und die eiserne Spitze an der Achse seines Wagens in das Rad des Gegners rannte. Nur die Veränderung in seinem Wesen war ihnen nicht entgangen, als er seinen Arabern plötzlich seinen Geist einzuflößen schien. War das ein Rennen! Noch hatten der 333

Korinther und der Byzantiner den Rest der Bahn kaum zur Hälfte zurückgelegt, als Ben Hur schon am Ziel war. Der Sieg war errungen. Der Konsul erhob sich. Die Zuschauer schrien sich heiser. Der Leiter der Spiele verließ seinen Sitz und krönte die Sieger. Unter den Boxern war ein hellhaariger Nordmann, ein Sachse mit einem so brutalen Gesicht, daß Ben Hur ihn genauer ansah. Und er erkannte in ihm seinen Lehrer in Rom. Von ihm schaute Ben Hur hinauf zu Simonides und seiner Gesellschaft auf dem Balkon. Sie winkten ihm zu. Esther saß still auf ihrem Platz; Iras begrüßte ihn mit einem huldigenden Lächeln. Nun ordnete sich wieder der Zug und verließ den Zirkus durch das Triumphtor. Der Tag war vorüber.

Die Einladung der Iras Ben Hur weilte mit Ilderim am Fluß; denn um Mitternacht wollten sie, wie verabredet, mit der Karawane weiterziehen, die sie dreißig Stunden begleitet hatte. Der Scheik war glücklich, seine Angebote waren königlich, aber Ben Hur hatte alles abgelehnt und erklärt, daß ihm die Niederlage seines Feindes genüge. Sie hatten lange miteinander gestritten. »Denke«, hatte der Scheik ihm auseinandergesetzt, »was du für mich getan hast. Der Ruhm meiner Mira und ihrer Kinder wird in jedes schwarze Zelt dringen, bis nach Akaba und an den Ozean, über den Euphrat und über die See hinunter zu den Skythen, und alle, die davon erzählen, werden mich rühmen und vergessen, daß mein Leben seinem Ende zugeht. Und alle die herrenlosen Speere werden nun zu mir kommen und meine Macht unendlich vergrößern. Du weißt nicht, was es heißt, eine solche Herrschaft in der Wüste auszuüben. Ich sage dir, sie 334

bringt unberechenbare Handelszölle und Befreiung von Köni­ gen. Oh, beim Schwert Salomos! Wenn meine Boten die Gunst Cäsars für mich erbitten, wird er sie gewähren. Und dafür nichts – nichts?« Ben Hur hatte geantwortet: »Nein, Scheik, habe ich nicht deine Hand und dein Herz? Überlaß den Zuwachs deiner Macht und deines Einflusses dem König, der kommt. Wer könnte sagen, es sei dir nicht erlaubt? Ich will an diesem Werk schaffen, ich muß es tun. Wenn ich jetzt nein sage, werde ich dich später einmal mit besserem Grund bitten können.« Mitten im Gespräch waren zwei Boten erschienen, Malluch und ein Unbekannter. Malluch verbarg nicht seine Freude über das Ereignis des Tages. »Aber ich komme, um dir im Auftrage meines Herrn Simo­ nides zu sagen, daß einige von der römischen Partei bei der Leitung der Spiele gegen die Auszahlung des Geldpreises protestiert haben.« Ilderim fuhr auf und schrie in seinem wütendsten Ton: »Bei der Herrlichkeit Gottes! Der Osten wird entscheiden, daß das Rennen gerecht gewonnen ist.« »Nein, guter Scheik«, sagte Malluch, »der Leiter hat das Geld bezahlt.« »Das ist gut.« »Als sie sagten, Ben Hur habe Messalas Rad getroffen, lachte der Leiter und erinnerte sie an den Schlag, den die Araber an der Wendung zum Ziel erhalten hatten.« »Was ist mit dem Athener?« »Er ist tot.« »Tot?« rief Ben Hur. »Tot«, wiederholte Ilderim. »Was für ein Glück diese römi­ schen Ungeheuer haben. Ist Messala davongekommen?« »Davongekommen, o Scheik, mit dem Leben. Aber es wird für ihn eine Last sein. Die Ärzte sagen, daß er leben wird, aber 335

nie wieder gehen kann.« Ben Hur blickte schweigend zum Himmel auf. Er sah Messa­ la vor sich, an den Sessel gefesselt wie Simonides und wie dieser auf die Schultern der Sklaven gestützt. Der alte Mann hatte sich damit abgefunden, aber was würde aus Messala werden mit seinem Stolz und seiner Anmaßung? »Simonides bat mich noch, zu berichten«, fuhr Malluch fort »daß Sanballat Schwierigkeiten habe. Drusus und die andern, die bei ihm gewettet hatten, legten dem Konsul Maxentius die Frage vor, ob sie die fünf Talente zu zahlen hätten, und der hat sie an den Kaiser weitergeleitet. Auch Messala weigerte sich zu zahlen, und Sanballat ging ähnlich wie Drusus zum Konsul, wo die Frage noch erörtert wird. Die besseren Römer sagen, daß die Verlierer keine Ausrede haben, und alle von den gegneri­ schen Parteien sind ihrer Meinung. Die ganze Stadt ist voll von dem Skandal.« »Was sagt Simonides?« fragte Ben Hur. »Der Herr lacht und ist sehr befriedigt. Wenn der Römer zahlt, ist er ruiniert, wenn er sich weigert, ist er entehrt. Die kaiserliche Politik wird den Fall entscheiden. Es wäre ein schlechter Beginn des parteiischen Krieges, würde man den Osten verstimmen. Den Scheik Ilderim zu beleidigen, würde heißen, sich die Wüste zum Gegner zu machen, über die alle Verbindungswege des Maxentius führen. Simonides bittet, dich nicht zu beunruhigen; Messala wird zahlen.« Bei Ilderim war sogleich seine gute Stimmung zurückge­ kehrt. »Laß uns aufbrechen«, sagte er händereibend. »Das Geschäft liegt bei Simonides in guten Händen. Unser ist der Ruhm. Ich will die Pferde herbeiholen lassen.« »Warte«, sagte Malluch, »ich habe noch einen Boten drau­ ßen. Willst du ihn sprechen?« »Beim Glanze Gottes, ich vergaß ihn.« Der Mann, der Malluch folgte, besaß gute Umgangsformen und sah sehr gut aus. Er beugte ein Knie und sagte gewinnend: 336

»Iras, die Tochter Balthasars, der dem guten Scheik Ilderim wohlbekannt ist, hat mich mit einer Botschaft an ihn beauf­ tragt: Sie würde sich sehr freuen, wenn sie ihm ihre Glückwünsche zu dem Sieg seiner vier aussprechen dürfe.« »Die Tochter meines Freundes ist sehr freundlich«, antworte­ te Ilderim mit glänzenden Augen. »Gib ihr diesen Ring als Zeichen meiner Freude über ihre Botschaft.« Er zog einen Ring vom Finger, während er das sagte. »Ich will tun, was du mir sagst, o Scheik. Die Tochter des Ägypters hat mir weiter aufgetragen, dem jungen Ben Hur zu sagen, daß ihr Vater für einige Zeit in den Palast von Idernee übersiedelt ist, wo sie den jungen Mann morgen nach der vierten Stunde sehen möchte. Und wenn auch Scheik Ilderim diese Einladung annehmen wollte, wäre sie sehr erfreut.« Der Scheik schaute auf Ben Hur, der voller Freude schien. »Was willst du tun?« fragte er ihn. »Bei deiner Liebe, o Scheik, ich will die edle Ägypterin se­ hen.« Ilderim lachte: »Soll sich nicht ein Mann seiner Jugend freu­ en?« Ben Hur antwortete dem Boten: »Sage der, die dich gesandt hat, daß ich, Ben Hur, sie morgen mittag in ihrem Palast in Idernee aufsuchen werde.« Der Bote erhob sich mit einem stummen Gruß und ging. Gegen Mitternacht machte sich Ilderim auf den Weg. Er hatte für Ben Hur ein Pferd und einen Führer zurückgelassen.

Im Palast von Idernee Am nächsten Tag ging Ben Hur vom Omphalus im Herzen der Stadt über die Kolonnaden des Herodes zum Palast von Idernee. Von der Straße betrat er zunächst ein Vestibül, an 337

dessen Seiten gedeckte Treppen zu einer Säulenhalle führten. Geflügelte Löwen saßen zur Seite der Treppen, in der Mitte stand ein gewaltiger Ibis, der Wasser spie. Löwen, Ibis, Wände und Boden gemahnten an die Ägypter, alles, selbst die Balu­ strade der Treppen, war aus massivem grauem Stein. Über dem Vestibül am Ende der Treppen erhob sich die Säulenhalle aus schneeweißem Marmor, im köstlichsten griechischen Stil wirkte sie wie eine Lilie über kahlen Felsen. Geräumige Dop­ peltüren führten ins Innere des Palastes. Ben Hur ging zunächst durch einen hohen schmalen Gang, der mit roten Ziegeln belegt war, die Wände waren in der gleichen Farbe bemalt. Iras wartete auf ihn mit Liedern, Erzählungen und Scherzen, sprühend, schwärmerisch, kapriziös – mit ihrem Lächeln und dem sinnlichen Zauber ihres Flüsterns. Sie hatte am Abend nach der Bootsfahrt auf dem See im Palmengarten nach ihm gesandt, und nun kam er zum zweitenmal zu ihr. Er war glück­ lich und eher traumverloren als gedankenlos. Als er vor einer geschlossenen Tür stand, öffneten sich die großen Flügel wie von selbst, lautlos, ohne daß ein Fuß oder eine Hand sie berührt hatte. Er trat in einen kostbaren Raum. Als er um sich sah, stand er auf der Brust einer Leda, die einen Schwan koste, und er bemerkte, daß der ganze Boden mit Mosaiken ausgelegt war, die mythologische Szenen darstellten. Überall standen herrli­ che Sessel, reich geschnitzte Tische und hier und da ein Diwan. Die Möbel spiegelten sich im glänzenden Fußboden und ebenso die Malereien und Reliefs an den Wänden wie das Fresko der Decke. Die gewölbte Decke öffnete sich zu einer Kuppel, das Licht strömte voll herein, und der Himmel schien so nahe, als könne man ihn mit der Hand berühren. Die Öff­ nungen waren von einem bronzenen Geländer umgeben und vergoldete Säulen trugen die Kuppel. Seltsame Kandelaber, Statuen und Vasen schmückten den Raum, der nur zu verglei­ chen war mit dem Haus auf dem Palatin, das Cicero von Crassus gekauft hatte, oder mit dem durch seine Kostbarkeit 338

noch berühmteren, der tusculanischen Villa von Scaurus. Ben Hur nahm sich Zeit, die Herrlichkeit dieses Empfangs­ raumes zu betrachten. Zwei-, dreimal machte er die Runde, schaute zur Kuppel hinauf, lehnte an einer Säule, betrachtete nochmals eingehender die Figuren auf dem Mosaikfußboden. Iras ließ ihn warten, das Haus schien totenstill, eine gewisse Unruhe überkam ihn, und er nahm den Geist dieses Ortes kritischer auf als beim ersten Blick. Dann lächelte er über sich selbst. Iras würde die letzten Vorbereitungen zu seinem Emp­ fang treffen, sie würde gleich erscheinen, schöner denn je. Allmählich wurde die Stille aber doch für ihn quälend, er lauschte, aber kein Ton war zu hören, der Palast war still wie ein Grab. Konnte es einen Irrtum geben? Die Botschaft war zu ihm gekommen, er war am richtigen Ort. Plötzlich dachte er daran, wie geheimnisvoll sich die Tür geöffnet hatte. Er ging zu ihr zurück. Seine Schritte hallten laut und hart, und er erschrak darüber. Er wurde unruhig. Der schwere Riegel an der Tür widerstand ihm zunächst, das Blut stieg ihm in die Wangen, er rüttelte mit aller Wucht. Die Türe öffnete sich nicht. Eine Ahnung von Gefahr kam über ihn, und einen Augenblick stand er unentschlossen. Wer hatte in Antiochia einen Grund, ihm Böses zu tun? Messala! Und dieser Palast von Idernee? Er hatte Ägypten im Vestibül gesehen, Athen in der schneeweißen Säulenhalle, aber hier, im Atrium, hier war Rom. Gewiß, der Palast lag an einer der Hauptverkehrsstraßen der Stadt, sollte man ihm an einer so öffentlichen Stelle Gewalt antun wollen? Furcht malt alles schwarz. Er ging zu den andern Türen, die vermutlich zu Schlafräu­ men führten, aber alle waren fest verschlossen. Vielleicht sollte er klopfen. Zu rufen, schämte er sich. Er legte sich auf den Diwan. Es war klar: er war ein Gefangener. Aber zu welchem 339

Zweck? Und durch wen? Konnte es Messalas Werk sein? Er setzte sich wieder auf, sah sich um und lächelte. Jeder Tisch konnte für ihn eine Waffe sein, selbst ein Diwan mochte als Sturmbock dienen. Und er war stark. In ihm stieg die Wut der Verzweiflung hoch. Messa­ la selbst konnte nicht kommen. Er würde nie wieder gehen können, er war ein Krüppel wie Simonides. Aber er konnte andere anstellen. Ben Hur erhob sich und versuchte sich von neuem an den Türen. Einmal rief er, sein Ruf hallte im Saal erschreckend wider. Mit der ganzen Ruhe, die er aufbringen konnte, entschloß er sich zu warten, ehe er versuchte, sich einen Ausweg zu schaffen. Ruhe! Der Palast gehörte jemand, er mußte versorgt werden, und ein Schließer würde kommen, am Abend oder in der Nacht. Nach einer halben Stunde öffnete und schloß sich die Tür so lautlos wie vorher, ohne daß er es bemerkte. Er saß in diesem Augenblick am äußersten Ende des Raums. Das Geräusch eines Schrittes schreckte ihn auf. Endlich kommt sie! dachte er mit einer Aufwallung von Er­ leichterung und Freude. Der Schritt war schwer und vom Geräusch grober Sandalen begleitet. Zwischen ihm und der Tür standen die vergoldeten Säulen, er ging ruhig vorwärts und lehnte sich an eine Säule. Da hörte er Stimmen – Männerstimmen –, rauh und kehlig. Was man sagte, verstand er nicht, die Sprache kannte er nicht, sie stammte weder aus dem Osten noch dem Süden. Die Männer wandten sich nach links, und nun sah Ben Hur, daß es zwei waren, der eine war sehr stark, beide waren groß und trugen kurze Tuniken. Sie sahen weder wie Herren noch wie Diener aus. Alles, was sie betrachteten, schien ihnen fremd zu sein, sie fühlten alles an. Es waren gewöhnliche Burschen. Das Atrium schien durch ihre Anwesenheit entweiht. Trotzdem sah es aus, als wären sie hier mit einem gewissen Recht oder zu einem bestimmten Zweck. Aber zu welchem? Als sie vor einer Statue stehenblieben, um sie zu betrachten – 340

sie waren nur ein paar Schritte von Ben Hur entfernt –, erkann­ te er in dem einen einen Nordmann, den er in Rom gesehen hatte, einen Ringer, der im Zirkus gewonnen hatte und be­ kränzt worden war. Sein brutales Gesicht war von den Narben vieler Kämpfe bedeckt, und als Ben Hur die gewaltigen Glie­ der, die vom Sport trainierten Muskeln und die herkulischen Schultern betrachtete, überkam ihn eine Ahnung von Gefahr. Ein sicherer Instinkt warnte ihn, die Gelegenheit war für einen Mord nur zu günstig. Er warf einen Blick auf den Gefährten, er sah mit seinen schwarzen Augen und Haaren jüdisch aus. Beide trugen die Kleidung ihrer Klasse, so wie sie im Zirkus auftraten. Ben Hur zweifelte nicht mehr daran, daß er in den Palast gelockt worden war. Ohne jede Hilfe, in dieser abgeschlosse­ nen Einsamkeit sollte er sterben. Ihm schossen alle Ereignisse der letzten Tage und sein gan­ zes Leben durch den Kopf. Er sah sich selbst, als ob er ein anderer wäre. Er sah, was ihm angetan worden war, und daß nun er der Angreifer hatte sein müssen. Erst gestern hatte er seinen ersten Sieg errungen. Er hatte Messala gestraft. Gott hatte ihm beigestanden, er hatte gesiegt. Dieses neue Leben hatte ihm eine neue Aufgabe gestellt, die eben erst begonnen war: Der neue König würde kommen, für ihn mußte er da sein. Er legte seinen Gürtel und sein weißes jüdisches Gewand ab und stand da in seiner Tunika, nicht unähnlich seinen Feinden, und war bereit. Er verschränkte seine Arme, lehnte sich wieder an die Säule und wartete in voller Ruhe. Als die beiden mit der Betrachtung der Statue fertig waren, wandte sich der Nordmann und sagte etwas zu seinem Gefähr­ ten, dann schauten sie beide auf Ben Hur und näherten sich. »Wer seid ihr?« fragte Ben Hur. Der Nordmann grinste: »Barbaren.« »Dies hier ist der Palast von Idernee. Was wollt ihr? Gebt Antwort!« 341

Er hatte mit großem Ernst gesprochen, die beiden blieben stehen, der Nordmann fragte nun ihn: »Wer bist du?« »Ein Römer.« Der Riese legte seinen Kopf schief und lachte: »Ich habe gehört, daß einmal ein Gott aus einer Kuh kam, die einen salzigen Stein geleckt. Aber kein Gott kann aus einem Juden einen Römer machen.« Dann rief er seinem Gefährten etwas zu, und sie kamen beide näher. »Halt!« rief Ben Hur. »Ein Wort!« Wieder blieben sie stehen: »Ein Wort«, wiederholte der Sachse und kreuzte seine gewaltigen Arme. »Ein Wort! Rede!« »Du bist Thord, der Nordmann.« Des Riesen blaue Augen wurden groß. »Du warst Ringer in Rom.« Thord nickte. »Ich war dein Schüler.« »Nein, beim Barte des Irmin, ich habe nie aus einem Juden einen Kämpfer machen wollen.« »Aber ich will es dir beweisen.« »Wie?« »Du kommst hierher, um mich umzubringen.« »Das ist wahr.« »Dann laß mich mit diesem Mann kämpfen, damit ich dir den Beweis geben kann.« Eine Spur von Lachen kam in Thords Züge. Er sprach mit seinem Gefährten, dann sagte er mit der Naivität eines belustig­ ten Kindes: »Warte, bis ich das Zeichen gebe!« Er schob sich einen Diwan zurecht, legte sich behaglich darauf und sagte: »Jetzt!« Ohne weiteres trat Ben Hur dem Mann entgegen: »Verteidige dich!« Beide waren in der Gestalt nicht unähnlich, im Gegenteil, sie sahen wie Brüder aus. Ben Hur war ernst, der andere lächelte. Beide wußten, es war ein Kampf auf Leben und Tod. Ben Hur 342

schlug mit dem rechten Arm zu, der andre hob den linken. Ehe er sich decken konnte, packte Ben Hur ihn am Handgelenk, die Überraschung für den Gegner war groß, jetzt packte ihn Ben Hur an der Schulter und drehte ihn, um mit der Rechten zu­ schlagen zu können. Der Hieb in den Nacken unter dem Ohr fiel. Ein zweiter Schlag war unnötig, der Komplize stürzte lautlos zusammen und blieb liegen. Ben Hur wandte sich zu Thord. Der lachte auf: »Beim Barte des Irmin!« Er betrachtete Ben Hur sachlich von Kopf zu Fuß, erhob sich und konnte seine uneingeschränkte Bewunderung nicht verbergen. »Es ist mein Kniff – ich habe ihn zehn Jahre lang in den Kampfschulen Roms angewandt. Du bist kein Jude. Wer bist du?« »Kanntest du Arrius, den Duumvir?« »Quintus Arrius? Ja, er war mein Patron.« »Er hatte einen Sohn.« »Ja«, sagte Thord, »ich kannte den Burschen, er hätte ein König unter den Gladiatoren werden können. Der Kaiser bot ihm sein Patronat an. Ich lehrte ihn meinen Kniff, den du jetzt angewandt hast – ein Kniff, der nur für eine Hand und einen Arm wie den meinen möglich ist. Er hat mir mehr als einen Kranz gewonnen.« »Ich bin der Sohn des Arrius.« Thord trat näher und beschaute ihn genau, dann lachte er mit vergnügten Augen: »Er sagte mir, ich würde einen Juden hier finden – einen Hund von einem Juden, den zu ermorden ein Dienst für die Götter ist.« Er streckte Ben Hur die Hand entge­ gen. »Wer hat dir das gesagt?« Ben Hur nahm die Hand. »He – Messala!« »Wann, Thord?« »Gestern abend.« »Ich dachte, er sei verletzt.« 343

»Er wird nie wieder gehen können. Er sagte es mir an seinem Bett unter Stöhnen.« Ein unheimliches Bild des Hasses mit wenigen Worten. Und Ben Hur sah den Römer, der, solange er lebte, immer fähig sein würde, ihn zu verfolgen. Rache würde sein zerstörtes Leben versüßen, daher sein Griff nach dem Geld in der Wette mit Sanballat. Ben Hur überdachte alles, worin sein Feind ihm schaden könne bei seiner Mission für den kommenden König. Warum sollte er nicht die Mittel des Römers anwenden? Der gemietete Mann, der ihn töten sollte, konnte gemietet werden, um zurückzuschlagen. Er konnte höhere Preise zahlen. Die Versuchung war groß. Er blickte auf den Mann, der tot und bleich auf dem Boden lag: .»Thord, was hat dir Messala für den Mord an mir versprochen?« »Tausend Sesterzen.« »Du sollst sie haben, und wenn du tust, was ich will, werde ich dir noch dreitausend dazugeben.« Der Riese dachte nach. »Ich habe gestern fünftausend gewonnen von dem Römer Nummer 16. Gib mir vier, guter Arrius – viertausend mehr und ich will dir dienen, sonst soll der alte Thor, mein Namensvet­ ter, mich mit dem Hammer treffen! Gib mir vier und ich will den lügnerischen Patrizier umbringen, wenn du willst. Ich brauche nur seinen Mund mit meiner Hand zuzuhalten – so.« Er machte es vor, indem er die Hand vor seinen eigenen Mund legte. »Ich verstehe, zehntausend Sesterzen sind ein Vermögen. Damit kannst du nach Rom zurückkehren und eine Weinkneipe beim Großen Zirkus eröffnen und so leben, als wärst du der erste Ringer.« Der Riese strahlte über das ganze Gesicht, angesichts des Bildes, das ihm Ben Hur ausgemalt. »Gut, ich gebe dir viertausend, und du sollst deine Hand dafür nicht mit Blut besudeln. Hör mir zu! Sieht dein Freund 344

hier mir nicht ähnlich?« »Ich möchte sagen, er war ein Apfel vom selben Stamm.« »Gut, wenn ich die Tunika mit ihm tausche, wir zusammen den Palast verlassen und ihn hier liegen lassen – kannst du dann nicht die Sesterzen von Messala erhalten? Du mußt ihn nur glauben machen, daß ich tot bin.« Thord lachte, bis ihm die Tränen kamen: »Noch nie wurden zehntausend Sesterzen so leicht verdient. Und eine Weinschen­ ke beim Großen Zirkus! – alles für eine Lüge ohne Blut! Gib mir deine Hand, Sohn des Arrius. Komm nun! Und wenn du wieder in Rom bist, versäume nicht, nach der Schenke Thords des Nordmanns zu fragen. Beim Barte des Irmin, du sollst den besten Wein haben und müßte ich ihn vom Kaiser borgen!« Sie drückten sich die Hände, dann wurden die Kleider ausge­ tauscht. Es wurde verabredet, daß am Abend ein Bote Thord die viertausend Sesterzen überbringen sollte. Danach klopfte der Riese an die Tür, sie öffnete sich, sie traten in die Halle und trennten sich unten im Omphalus. Noch einmal wiederholte Thord lachend seine Einladung und verabschiedete sich. Ben Hur hatte noch einen Blick auf den Toten in seinen jüdi­ schen Kleidern geworfen, die Ähnlichkeit war verblüffend. Wenn Thord schwieg, konnte der Betrug nie entdeckt werden. Am Abend berichtete Ben Hur im Hause des Simonides alles, was im Palast von Idernee vorgegangen war, und es wurde beschlossen, in einigen Tagen nach dem Sohn des Arrius forschen zu lassen. Womöglich konnte der Fall dem Konsul Maxentius vorgetragen werden. Wenn das Geheimnis nicht an den Tag kam, sollte sowohl Messala und Gratus in Ruhe gelassen werden, und Ben Hur sich nach Jerusalem begeben, um nach Mutter und Schwester zu suchen. Beim Abschied saß Simonides auf seiner Gartenterrasse und segnete Ben Hur väterlich. Esther ging mit ihm bis zur Treppe: »Wenn ich meine Mutter finde, Esther, sollst du zu ihr nach 345

Jerusalem gehen und eine Schwester Tirzahs sein.« Mit diesen Worten küßte er sie. War es nur ein Segenskuß? Er überquerte den Fluß in der Nähe von Ilderims Wohnung, wo er den Araber fand, der ihm als Führer dienen sollte. Man brachte die Pferde. »Dieses eine gehört dir«, sagte der Araber. Ben Hur schaute auf: es war Aldebaran, der schnellste und stärkste Sohn der Mira und neben dem Sirius das liebste Pferd Ilderims. Und er spürte, daß der alte Mann ihm mit diesem Geschenk sein Herz gegeben hatte. Der Tote im Atrium wurde herausgeholt und in der Nacht verbrannt. Und nach Messalas Plan wurde ein Bote zu Gratus geschickt, um ihm zu seiner Beruhigung den Tod Ben Hurs zu melden. Und eines Tages wurde die Weinschenke Thords in Rom eröffnet.

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Sechstes Buch Der Turm von Antonia, – Zelle Nr. 6 Seit der Nacht, in der Ben Hur Antiochia verließ, um mit Scheik Ilderim in die Wüste zu gehen, sind dreißig Tage verflossen. In dieser Zeit hat sich ein großes Ereignis abge­ spielt, groß wenigstens, soweit es Ben Hurs Schicksal betraf: Valerius Gratus hatte dem Prokurator Pontius Pilatus weichen müssen. Dieser Wechsel kostete Simonides fünf Talente in römischem Geld. Den Betrag erhielt Sejanus, der damals auf dem Gipfel der kaiserlichen Gunst stand, damit er dafür sorgte, daß Ben Hur mit weniger Gefahr in Jerusalem nach den Seinen forschen konnte. Diese Summe hatte Simonides von Drusus und seinen Freunden gewonnen und ihr Verlust hatte die Römer zu Feinden Messalas gemacht. Die Entscheidung über Messalas Haftung bei seiner eigenen Wette war aus Rom noch nicht eingetroffen. Kurz nach dem Wechsel im Amt des Prokurators machten die Juden die Erfahrung, daß er nicht zu ihren Gunsten ausgefallen war. Die Kohorten, die zum Ersatz der in der Burg Antonia liegenden Garnison kommandiert waren, betraten Jerusalem nachts. Das erste, was die in der Nachbarschaft Wohnenden am nächsten Morgen entdeckten, waren die neuen militärischen Abzeichen an der alten Mauer. Sie bestanden unglücklicher­ weise aus Darstellungen des Kaisers und römischen Adlern. Eine erregte Menschenmenge sammelte sich davor und zog nach Cäsarea, wo Pilatus noch residierte, mit der Forderung, er möge die verabscheuten Abzeichen entfernen lassen. Fünf Tage und Nächte verharrte die Menge vor den Toren des Palastes. Pilatus ließ sie von Truppen einschließen, aber sie 347

waren bereit, ihr Leben hinzugeben, wenn sie nur ihre Absicht erreichten. Das wirkte. Pilatus ließ die Abzeichen nach Cäsarea bringen, wo sie auch Gratus in den elf Jahren seiner Amtszeit aufbewahrt hatte. Aber auch der schlechteste Mensch begeht zuweilen eine gute Handlung, so auch Pilatus. Er befahl eine Inspektion aller Gefängnisse in Judäa und ließ eine Liste aller Gefangenen anfertigen mit der Angabe ihrer Vergehen. Er wollte damit lediglich einer Pflicht genügen, aber das Volk, das sich von dieser Maßnahme gute Folgen versprach, legte sie zu seinen Gunsten aus und war für eine Weile befriedigt. Die Untersuchung brachte erstaunliche Dinge zutage. Hun­ derte von Personen wurden freigelassen, weil gar keine Anklage gegen sie vorlag, Menschen wurden gefunden, die man längst zu den Toten gezählt hatte. Am unglaublichsten war, daß man Zellen öffnete, von denen nicht einmal die Gefängnisbeamten etwas wußten. Ein solcher Fall ereignete sich in Jerusalem. Der Turm von Antonia nahm etwa zwei Drittel des Berges Moriah ein und war einstmals von den Mazedoniern als Burg erbaut worden. Hyrkanus baute sie in eine Festung zur Vertei­ digung des Tempels um, sie galt als uneinnehmbar. Herodes befestigte sie noch mehr und fügte Zeughäuser, Vorratskam­ mern, Zisternen, vor allem aber Gefängnisse aller Art hinzu. Er ließ den Felsen glätten, tiefe Spalten sprengen und überbauen. Das Ganze verband er mit dem Tempel durch einen prachtvol­ len Säulengang, von dessen Dach man die Vorhöfe und das heilige Bauwerk überblicken konnte. Als die Römer ihre Herrschaft antraten, übernahmen sie die Burg, da sie für ihre Zwecke wie geschaffen war. Unter Gratus hatte sie als Festung und unterirdisches Gefängnis gedient. Die fertiggestellte Liste der Kerker und der dort Gefangenen lag bereit auf dem Tisch des kommandierenden Tribuns, er hatte nur noch seine Unterschrift darunterzusetzen, in fünf 348

Minuten sollte sie an Pilatus abgesandt werden, der im Palast auf dem Berg Sion wohnte. Es ist um die siebente Stunde. Der Tribun betritt sein prächti­ ges, geräumiges und helles Amtszimmer. Er ist müde und abgespannt und will sich nach der Abfertigung der Listen Ruhe gönnen. Da tritt ein Mann ein, an dessen Gürtel ein Bund Schlüssel hängt, jeder einzelne ist so schwer wie ein Hammer, und bittet um eine Unterredung. »Tritt näher, Gesius!« begrüßt ihn der Tribun. Während der Mann an den Tisch tritt, hinter dem der Tribun sitzt, beobach­ ten ihn die übrigen Beamten im Raum mit Besorgnis, sie wollen keine neuen Geschäfte. »Tribun, ich fürchte mich, dir zu berichten, was ich dir zu sagen habe.« »Ein neues Versehen, Gesius?« »Wäre es nur das, würde ich mich nicht fürchten.« »Also ein Verbrechen, oder schlimmer – eine Pflichtverlet­ zung? Du magst über den Kaiser spotten oder die Götter schmähen – und sollst leben. Beleidigst du aber die Adler, o Gesius…! Komm zur Sache!« »Vor mehr als acht Jahren«, begann der Mann, »hat mich Valerius Gratus zum Schließer in der Burg gemacht. Ich erinnere mich noch an den Morgen, an dem ich mein Amt übernahm. Am Tag zuvor hatte es einen Aufruhr in der Stadt gegeben. Wir erschlugen viele Juden und hatten auch selbst Verluste. Der Aufruhr entstand dadurch, wie man sagte, daß der Prokurator von einem Ziegel getroffen worden war und verwundet vom Pferde stürzte. Ich fand ihn hier nach dem Unfall, wo du jetzt sitzt, Tribun, sein Kopf war mit Tüchern umwickelt. Er gab mir meine Ernennung bekannt und über­ reichte mir die Schlüssel. Sie waren mit den Nummern der Zellen bezeichnet und galten als Zeichen meines Amtes, ich sollte sie niemals, unter keinen Umständen aus der Hand lassen. 349

Auf dem Tisch lag eine Pergamentrolle, die aus drei Blättern bestand. Er erklärte mir, daß es der Plan der Zellen in den drei Stockwerken sei, und übergab ihn mir: Mache dich gleich mit den Räumen bekannt, sagte er, besuche jede Zelle und ihre Einrichtung. Wenn etwas in bezug auf die Sicherung der Gefangenen mangelhaft ist, triff Anstalten nach deinem Ermes­ sen, du allein bist unter mir dort der Herr, sonst niemand. Dann wies er mich auf die Zellen im untersten Stockwerk hin und zeigte auf die Zelle V: In dieser Zelle, erläuterte er, sind drei Männer eingekerkert, die auf irgendeine Art in den Besitz eines Staatsgeheimnisses kamen und jetzt ihre Neugier büßen. Neugier ist in solchen Dingen schlimmer als ein Verbrechen. Sie wurden geblendet, ihrer Zunge beraubt und sind auf Le­ benszeit hier eingekerkert. Nahrung und Wasser erhalten sie durch einen Schieber. Die Tür der Zelle darf nie geöffnet werden, niemand darf hinein, auch du nicht. Die Zelle ist vom Aussatz angesteckt. Wenn sie sterben, ist die Zelle ihr Grab! – Damit war ich entlassen.« Gesius legte dem Tribun ein alters­ schwarzes Pergament auf den Tisch. »Hier ist die Karte des unteren Stockwerks. So habe ich sie von Gratus erhalten. Sieh hier, Zelle V.« Gang V IV

III

II

Treppe I

»Ich sehe. Fahre fort. Die Zelle ist aussätzig?«

»Ich möchte eine Frage stellen.« Der Tribun nickte.

»Mußte ich die Karte für zuverlässig halten?«

»Gewiß!«

»Sie ist aber nicht zuverlässig. Sie ist falsch. Sie zeigt nur

fünf Zellen, es gibt aber sechs!« – Der Tribun blickte erstaunt auf. »Ich will dir die Karte so aufzeichnen, wie die Zellen in Wirklichkeit liegen, oder wie ich wenigstens glaube.« 350

Gang V IV

III VI

II

Treppe I

»Gut!« sagte der Tribun. »Ich werde die Karte ändern lassen oder vielmehr eine neue anfertigen lassen. Du kannst sie morgen früh abholen.« Er erhob sich. »Höre weiter, Tribun!« – »Morgen, Gesius, morgen!« »Was ich noch zu sagen habe, duldet keinen Aufschub.« Der Tribun nahm wieder Platz. »Noch eine Frage, ehe ich fortfahre: Mußte ich nicht glauben, was mir Gratus über die Männer in Zelle V sagte?« »Es war deine Pflicht, es zu glauben. Drei Männer in der Zelle, Staatsgefangene, blind und stumm.« »Auch das ist nicht wahr.« – »Nein?« »Höre und urteile selbst! Ich habe das Verbot, die Zelle V nicht zu betreten, immer beachtet. Die Nahrung für die drei Männer erhielten sie durch den Schieber. Gestern ging ich an die Tür, um meine Inspektion vorzunehmen, wie du befohlen hast. Das Schloß widerstand dem Schlüssel. Wir rüttelten, die morsche Tür stürzte aus den verrosteten Angeln. Ich fand einen Greis – blind, ohne Zunge, nackt, aber noch lebend. Ich fragte ihn nach seinen Gefährten. Er schüttelte den Kopf. Wir fanden nichts. Wären hier Menschen gestorben, hätte man wenigstens ihre Gebeine finden müssen.« »Du glaubst also…?« »Tribun, ich glaube, daß in all den Jahren nur ein Gefangener da war.« Der Tribun blickte den Schließer scharf an: »Gib acht! Du beschuldigst den Prokurator der Lüge.« Gesius verneigte sich und entgegnete: »Vielleicht war Gratus falsch berichtet worden.« 351

»Nein, er hatte recht«, fuhr der Tribun fort. »Hast du nicht eben berichtet, daß du acht Jahre lang für drei Personen Nah­ rung und Wasser gereicht hast?« Die Beamten sahen in dieser Entgegnung des Tribuns den Beweis seines Scharfsinns und spendeten Beifall. Aber Gesius schien sich nicht daran zu kehren: »Du kennst erst die Hälfte der Geschichte, o Tribun, wenn du alles weißt, wirst du mir recht geben. – Was ich mit dem Mann tat, habe ich dir schon berichtet. Ich schickte ihn ins Bad, ließ ihn scheren und kleiden, führte ihn ans Tor der Burg und ließ ihn gehen. Heute kam er zurück und gab mir zu verstehen, er wolle in die Zelle zurückgebracht werden. Er warf sich vor mir nieder und küßte meine Füße. Durch Zeichen gab er mir zu verstehen, ich möge ihm folgen. Ich tat ihm den Willen. Das Geheimnis um die drei ließ mir keine Ruhe. Ich bin froh, daß ich seinen Bitten nachgab. Als wir in die Zelle traten, nahm mich der Greis an die Hand und führte mich zu einer Öffnung in der Wand, die ich gestern übersehen hatte. Er brachte sein Gesicht an die Öffnung und stieß einen tierähnlichen Schrei aus. Ein schwacher Laut antwortete. Ich erschrak und trat selbst an die Öffnung: Wer da? rief ich hinein. Keine Antwort. Ich rief nochmals, und da hörte ich schwach aber deutlich ›Sei gepriesen, o Herr!‹ Es war eine Frauenstimme. Ich fragte: Wer bist du? Die Antwort lautete: Eine Frau aus Israel, die hier mit ihrer Tochter lebendig begraben ist. Hilf uns schnell, sonst müssen wir sterben! – Ich sprach ihnen Mut zu und bin hierher zu dir geeilt.« Der Tribun erhob sich hastig. »Du hattest recht, Gesius. Die Karte war eine Lüge, und eine Lüge war die Geschichte von den drei Männern. Es hat bessere Römer gegeben als Valerius Gratus.« »Ja«, antwortete der Schließer. »Aus dem entlassenen Gefan­ genen brachte ich heraus, daß er die beiden Frauen seit Jahren mit seinem Essen ernährte.« 352

»So ist alles aufgeklärt«, entgegnete der Tribun, dann muster­ te er seine Untergebenen, froh, sie als Zeugen zu haben: »Kommt alle, wir wollen die Frauen erlösen.« »Wir werden die Mauer durchbrechen«, sagte der Schließer erfreut. »Ich habe die Stelle gefunden, an der die Tür war, aber sie ist zugemauert.« Der Tribun wandte sich an einen Untergebenen: »Schicke mir Arbeiter mit Werkzeugen nach! Beeile dich, die Listen aber halte zurück, sie müssen abgeändert werden.« Dann folgten alle dem Tribun in das unterste Stockwerk.

Die Aussätzigen Der Tribun beeilte sich. »Ihr da drinnen!« rief er, als er an der Öffnung in der Zellenwand stand. »Hier«, antwortete eine Frauenstimme. Die Arbeiter begannen sogleich ihr Werk. Ein Stein nach dem andern fiel, noch einer, dann brach die zugemauerte Tür auf: der Eingang war offen. Ein mit Staub und Mörtel bedeck­ ter Arbeiter trat in die Zelle und hielt die Fackel ins Dunkel. Der Tribun wollte ihm folgen, aber er sah, daß die zwei Gestal­ ten vor ihm flohen. Und da hörte er das furchtbarste, traurigste und hoffnungsloseste Wort, das die Sprache kennt: »Unrein, unrein! Tritt nicht näher!« Der Tribun vernahm den Ruf. Schrecken befiel ihn. Aber er blieb. Er begriff im Augenblick. Gratus hatte die Zelle als aussätzig bezeichnet. Sie war es wirklich, und die Insassen waren von der tödlichen und ansteckenden Krankheit befallen worden. »Wer seid ihr?« »Zwei Frauen, die vor Hunger und Durst sterben. Aber komm uns nicht nahe! Berühr Wände und Boden nicht! Unrein, 353

unrein!« »Erzähle deine Geschichte, Weib! Wie heißt du, wer hat dich hierhergebracht? Wodurch und warum?« Und die Frau, die sich in die äußerste Ecke der langen Zelle verkrochen hatte, erzählte mit brüchiger Stimme. Und alle, die sie hörten, wollten es nicht fassen: »In Jerusalem lebte einst ein Fürst aus der Familie Hur. Er war des Kaisers und aller tapferen Römer Freund. Ich bin seine Witwe, dies ist meine Tochter. Weshalb wir hier sind, kann ich nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Wir wurden eines Tages aus unserem Palast geholt und nachts hierhergebracht, die Tür wurde zugemauert. Ein Mann gab uns täglich das Essen und Wasser. Valerius Gratus kann dir unseren Feind nennen und dir sagen, wie lange wir hier lagen. Ich kann es nicht. Sieh, was aus uns geworden ist, und hab Erbarmen mit uns!« Die von Pestgeruch und Fackelrauch, von Unrat und ver­ brauchter Luft geschwängerte Kellerluft hielt den Tribun nicht ab, einen der Fackelträger an seine Seite zu rufen und diese Geschichte aufzuschreiben. In den wenigen Worten lagen Anklage und Bitte. Nur eine Frau mit vornehmer Bildung konnte ihren Elendsbericht in diesen furchtbaren Sätzen zu­ sammenfassen. Der Tribun konnte ihr nur glauben und Mitleid bekunden. »Dir soll geholfen werden, Weib. Ich werde dir Speise und Trank, Wasser zur Reinigung und Kleider senden.« »Gott ist gut!« schluchzte Ben Hurs Mutter. »Sein Friede sei mit dir!« »Ich werde euch nicht mehr sehen. Macht euch bereit. Heute nacht werde ich euch an das Tor der Burg bringen lassen – dann seid ihr frei. Das Gesetz kennt ihr. Lebt wohl!« Ben Hurs ewige Sorge und ewiger Kummer um Mutter und Schwester, seine quälende Frage: Leben sie noch, sind sie tot, wie sind sie gestorben? war gelöst. Hier waren sie, pestkrank, abgezehrt, halb verhungert, dem Tode nahe. Und im letzten 354

Augenblick wurde ihnen wenigstens ein Gut des Menschen wiedergegeben: die Freiheit! Als man ihnen eine Wanne, Wasser und Tücher, Kleider und eine Platte mit Brot und Fleisch gebracht hatte, waren sie wieder allein. Und während sie sich von dem äußeren Elend reinigten und mit langentbehrten Bissen und Schlucken wenig­ stens den schrecklichsten Hunger stillten, kehrten ihnen langsam, langsam die Bilder des Lebens zurück, das sie hier verbracht hatten. Ihre Zelle war groß, aber dunkel. Nur durch die kleine Öff­ nung, durch welche die Hand des blinden und stummen Mannes ihnen das Brot und Wasser gereicht, drang ein wenig frische Luft und ein winziger Lichtstrahl. Vor dieser Öffnung spielte sich ihr Leben ab. Erschien der Lichtstrahl, dann wuß­ ten sie, daß es Morgen war, verschwand er, begann für sie die Nacht. Meist saß die Mutter am Boden, auf dem nackten, kalten, glatten Felsenboden, und sie selbst waren nackt; das, was man ihnen an Kleidern gelassen hatte, war längst zerfallen. In ihren Armen hielt die Mutter Tirzah, in der nicht soviel Kraft war wie in der Fürstin Hur. Die Fürstin war eine schöne Frau gewesen, die Tochter ein anmutiges Mädchen. Jetzt waren sie beide nur noch Schatten von Menschen. Ihr Haar bedeckte in langen Strähnen ihre Blöße, es war sonderbar weiß, abscheulich weiß. Kam es vom Mangel an Licht und Luft? Am letzten Tag hatten sie bitter darunter gelitten, daß ihnen das tägliche Brot und Wasser fehlte. Tirzah stöhnte schmerzlich: »Sei ruhig, Tirzah! Sie werden kommen! Gott ist gut. Wir haben seiner gedacht und nie zu beten vergessen, wenn drüben im Tempel das Zeichen gegeben wurde, das zu uns hereindrang. Noch ist es Tag. Die Sonne steht am südlichen Himmel, und es ist kaum später als die siebente Stunde. Bald wird man kommen. Gott ist gut!« Tirzah nahm die tröstlichen Worte der Mutter auf und stärkte ihre Hoffnung, die sie immer wieder in all dem Elend genährt 355

hatte. Ihre Gedanken waren in der Welt draußen, wo sie Judah wußten. Sie suchten ihn auf dem Meere und den Inseln des Meeres, heute in dieser Stadt, morgen in jener. So wie sie ihn suchten, suchte auch er sie. Wie oft mochten sie sich in Gedan­ ken und Sehnsucht begegnen! »Solange er lebt, sind wir unvergessen, solange er unser gedenkt, ist Hoffnung.« »Ich will stark sein, Mutter. Du leidest ebenso wie ich. Ich will für dich und den Bruder leben. Aber meine Zunge ist vertrocknet, meine Lippen brennen.« Ihre beiden Stimmen klangen sonderbar scharf, trocken und unnatürlich. Die Mutter zieht das Mädchen zu sich empor: »Gestern nacht träumte mir von ihm, ich sah ihn so deutlich wie ich dich sehe. Unsere Väter glaubten an Träume, der Herr sprach durch sie mit ihnen. Ich sah uns an der schönen Pforte im Frauenvorhof des Tempels. Viele Frauen waren mit uns. Da kam er zur Pforte und schaute sich um. Mein Herz schlug heftig. Ich wußte, daß er uns sucht, streckte meine Arme nach ihm aus und rief seinen Namen. Er sah und hörte mich, erkann­ te mich aber nicht. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.« »So wird es sein, wenn wir ihm wirklich begegnen. Wir sind ganz verändert.« Im Gesicht der Mutter spiegelte sich der tiefste Schmerz: »Aber wir könnten uns ihm zu erkennen geben.« Tirzah stöhn­ te: »Wasser, Wasser, einen Tropfen Wasser!« Hilflos blickte sich die Mutter um. Ein Schatten fliegt über die elende Öff­ nung in der Mauer. Sie glaubt beinahe, der Tod ist nahe. Sie kann den Namen ihres Gottes, den sie so oft gerufen hat, nicht mehr rufen. Es scheint ihr wie ein Hohn. Verlischt ihr Glau­ ben? So wiederholt sie: »Geduld, Tirzah, sie kommen, sie sind bald hier.« – Sie glaubt einen Ton am kleinen Schieber zu hören. Sie täuscht sich nicht, es ist der Schrei des Gefangenen. Auch Tirzah hört ihn. Beide erheben sich. »Gepriesen sei der Herr!« ruft die Mutter mit neuer Hoffnung 356

und neuem Glauben. »Ihr da!« hörten sie eine Stimme. »Wer seid ihr?« Die Stim­ me war ihnen fremd, die erste Menschenstimme nach acht Jahren! Was bedeutet sie? Sie antwortet: »Eine Frau aus Israel, die hier mit ihrer Tochter lebendig begraben ist. Schnell, hilf uns, ehe wir sterben!« Und die Stimme erwidert: »Sei guten Mutes, ich komme sogleich.« Die beiden Frauen schluchzten auf. Hatte man sie gefunden? Nahte Hilfe, die Freiheit? Würde ihnen die Heimat, der Sohn und Bruder, das Vermögen zurückgegeben? Sie vergaßen alles Elend und weinten vor Freude. Bis sie inmitten des Taumels der furchtbare Schreck neu überfiel mit dem Wort: »Unrein, unrein!« Sie waren aussätzig, der Boden, die Mauern hatten ihnen die Pest übertragen. Und die Mutter wagte nicht, es denen, die da vor der aufgebrochenen Tür standen, zu ver­ schweigen. Sie konnte es nicht verschweigen, denn im Fackellicht würde man es erkennen. »Vier sollen für tot gelten: die Blinden, die Aussätzigen, die Bettler, die Kinderlosen«, so heißt es unbarmherzig im Tal­ mud. Wer aussätzig war, wurde wie ein Leichnam von den Lebenden aus der Stadt verwiesen, durfte nur aus der Ferne seine Angehörigen sehen und sprechen, mußte Tempel und Synagoge meiden, er mußte in der Wüste oder in verlassenen Grabkammern hausen. – Es war fast unmerklich über sie gekommen. Zuerst war es ein trockener Schorf an der Hand, der nicht weichen wollte. Eines Tages führte die Mutter Tirzah in den Lichtstrahl und sah, daß ihre Augenbrauen weiß wie Schnee waren. Nun durfte sie nicht mehr zweifeln. Es war Aussatz. Und Jahr um Jahr fraß er sich in ihren ganzen Körper ein. Heute waren sie hoffnungslos zerstört. – Und im Augen­ blick der Rettung mußte die grausame Wahrheit bekannt werden: »Unrein! Unrein!«

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Gratus und Messala hatten ihr Werk gut getan. Gratus hatte die Burg für seine Gefangenen gewählt, weil sie unmittelbar seiner Aufsicht unterstand, und die Zelle VI, weil sie leichter in Vergessenheit fallen konnte und vom Aussatz angesteckt war. Die beiden Frauen sollten nicht nur für immer verwahrt wer­ den, sondern auch langsam dahinsiechen. Die Sklaven, von denen er die Türe zur Zelle vermauern ließ, verschickte er in ferne Gegenden. Der Sträfling in Zelle V war blind und stumm, er konnte nichts verraten. Alle diese Maßnahmen hatte Messala mitgeplant, um so sicher im Besitz der beschlagnahmten Güter zu bleiben, der kaiserliche Schatz erhielt keinen Anteil. Die letzte Maßregel des Gratus war es, den alten Schließer zu entlassen und dem neuen falsche Pläne auszuhändigen. Die Zelle und ihre Bewohner mußten nun der Vergessenheit an­ heimfallen. Gegen die Mitte der ersten Nachtwache wurden die Mutter und Tirzah an das Tor und auf die Straße gebracht. So befreiten sich die Römer von ihnen. In der Stadt ihrer Väter standen nun die beiden Frauen wieder in Freiheit. Aber es war nicht die alte Freiheit in Ehren und Reichtum. Sie waren Geächtete. »Was nun? Wohin?«

Wieder in Jerusalem Etwa in der Stunde, in der Gesius, der Schließer, vor dem Tribun erschien, erstieg ein Mann die östliche Seite des Öl­ bergs. Der Weg war rauh und staubig, alle Pflanzen waren braun verbrannt, es war zur Trockenzeit in Judäa. Der Wande­ rer war jung und kräftig, er trug lose, leichte Kleidung. Er ging langsam, nicht wie ein Unkundiger, der sich umsieht, um sich zurechtzufinden, sondern wie einer, der nach langer 358

Abwesenheit Altbekanntes wiedersieht und Stück für Stück begrüßt. Der Wanderer war Ben Hur. Zu seinen Füßen lag Jerusalem, und er setzte sich auf einen Stein, um auf die Vaterstadt hinab­ zuschauen. Die Sonne war im Untergehen und vergoldete die Mauern und Kuppeln der Stadt. Ben Hur ließ seine Blicke über die ganze Stadt wandern, er erkannte jeden Turm, jede Straße, jedes Tor wieder. Seine Jugend erstand vor ihm und alles, was ihm vertraut war. Dort, nördlich vom Tempel, stand noch der Palast seines Vaters, in dem er so glückliche Zeiten verbracht hatte, glücklich mit Mutter und Tirzah. Seine Gefühle überwäl­ tigten ihn, wenn er sich der Pflichten bewußt wurde, die ihn nach Jerusalem geführt hatten. In der Wüste bei Ilderim hatte er sich mit dem Land vertraut gemacht, in dem sein Werk beginnen sollte, so wie ein Heer­ führer das Land kennenlernt, in dem er einen Feldzug plant. Da hatte ihn eines Tages die Nachricht erreicht, daß Gratus seines Amtes entsetzt sei und Pilatus sein Nachfolger geworden war. Messala war ein Krüppel und konnte ihm kaum noch scha­ den. Gratus war machtlos und war gegangen. Weshalb sollte er noch länger zögern, Mutter und Schwester zu suchen? Zu fürchten hatte er nichts mehr. Wenn er auch nicht selbst die Gefängnisse Judäas durchsuchen konnte, so konnte er es andere tun lassen. Würden die Verschollenen entdeckt, hatte Pilatus keinen Grund, sie im Gefängnis zurückzuhalten – wenigstens keinen, der sich nicht durch Geld beseitigen ließ. Fand er sie, konnte er sie an einen sicheren Platz bringen, und wenn diese Pflicht getan war, sich mit Ruhe und Überlegung der Sache des kommenden Königs widmen. Ilderim hatte ihm zugestimmt. Er hatte ihm Aldebaran, das schnellste Pferd seines siegreichen Gespanns, zum Geschenk gemacht und drei Araber zur Begleitung gegeben. Ben Hur hatte sie in Jericho zurückgelassen und war allein und zu Fuß weitergewandert. In Jerusalem sollte sich Malluch zu ihm gesellen. 359

Ben Hur hielt es für geraten, sich vor allen amtlichen Perso­ nen zu verbergen, besonders vor Römern. Malluch war klug und zuverlässig, er war der richtige Mann, der Nachforschun­ gen ohne Aufsehen und mit Erfolg betreiben konnte. Vor allem mußte man feststellen, wo die Nachforschungen beginnen sollten. Ben Hur glaubte, man sollte mit der Burg Antonia anfangen; denn es war bekannt, daß sie tiefe Verliese besaß. Von Simonides hatte er erfahren, daß Amrah noch lebte. Sie hatte sich seinerzeit von den Soldaten losgerissen und war in den Palast gelaufen, wo man sie eingeschlossen hatte. Simoni­ des hatte sie in der ganzen Zeit mit Nahrungsmitteln versehen lassen, so war sie allein im Haus geblieben. Gratus hatte den Palast trotz aller Versuche nicht verkaufen, nicht einmal vermieten können. Die Geschichte der rechtmäßigen Eigentü­ mer hatte genügt, alle abzuschrecken. Es hieß, es spuke im Palast. Daran mochte Amrah schuld sein, die man vielleicht manchmal an einem der Fenster oder auf dem Dach sah. Ben Hur hoffte, von ihr Nachricht über die Seinen zu erhalten. So war er nun auf dem Wege zu seinem Vaterhaus. Mit diesem Entschluß erhob er sich und stieg vom Ölberg hinab. Am Fuße des Berges nahe beim Bett des Baches Kidron kam er auf die Straße, die nach dem Dorf und See Siloah führte. Hier traf er einen Hirten, der Schafe zum Markt trieb. Er ging mit ihm und kam in seiner Begleitung, an Gethsemane vorbei, durch das Fischtor in die Stadt.

Ben Hur vor der Tür seines Vaterhauses Es war schon dunkel, als er sich von dem Hirten trennte und in eine enge, nach Süden führende Gasse einbog, deren Häuser niedrig, düster und unfreundlich waren. So kam er an den Teich Bethesda, in dessen Fluten sich die Wolken spiegelten. 360

Vor ihm hob sich die dunkle Masse der Burg Antonia vom grauen Himmel ab. Sie stand da wie ein drohender Wächter. Wenn seine Mutter und seine Schwester hier begraben waren, was könnte er tun? Mit Gewalt nichts, und List ist leicht vereitelt, dachte er, Gott aber, die letzte Zuflucht der Hilflosen, ist oft langsam mit seiner Hilfe. Mit diesen düsteren Gedanken nahm er die Straße am Turm vorbei und ging langsam nach Westen. Er wußte, daß drüben in Bezetha eine Herberge war, dort wollte er bleiben, solange er in der Stadt blieb. Dann aber packte ihn die Sehnsucht nach dem Hause des Vaters, sein Herz zog ihn dorthin. Nie hatte der altgewohnte Gruß, mit dem man ihm begegnete, so zutraulich geklungen wie heute. Der Mond ging auf. Und da stand er schon vor seinem Vaterhaus. Er blieb vor dem Tor an der Nordseite stehen, das Siegel war noch zu erkennen und auch die Inschrift auf dem Blatt »Dies ist Eigentum des Kaisers«. Niemand war seit jenem Tage durch das Tor gegangen. Sollte er klopfen wie in früheren Zeiten? Vielleicht hörte ihn Amrah und schaute zu einem Fenster heraus. Er hob einen Stein auf, stieg die breiten Stufen hinan und klopfte dreimal. Der Schlag hallte im Dunkeln wider. Er klopfte nochmals, diesmal lauter. Die Stille, die dem Laut folgte, war unerträglich. An den Fenstern war niemand. Die Balustrade des Daches zeichnete sich scharf gegen den mond­ hellen Himmel ab, aber auch dort zeigte sich nichts. Dann ging er zur Westseite mit ihren vier Fenstern. Aber auch hier rührte sich nichts. Und auf der Südseite war es dasselbe. Als er auch dort die Inschrift las, riß er wütend das Brett ab und warf es auf die Straße. Dann setzte er sich auf die Treppe; hier überkam ihn die Müdigkeit, und er schlief ein. Um diese Zeit kamen zwei Frauen auf der Straße vom Turm von Antonia herunter und näherten sich dem Palast Hur. Als sie an der Ecke angekommen waren, flüsterte die eine der andern zu: »Da ist es, Tirzah!« Und Tirzah ergriff, nachdem sie 361

einen Blick auf das Haus geworfen hatte, schluchzend die Hand der Mutter. »Laß uns gehen, Kind! Sobald der Morgen kommt, treiben sie uns aus dem Stadttor, und wir dürfen nie wieder zurückkeh­ ren.« Tirzah sank beinahe um: »Ich vergaß, ich dachte, wir gehen heim. Aber wir sind aussätzig und gehören zu den Toten.« In Wirklichkeit hätten beide durch das bloße Aufheben der Hände eine ganze Legion in die Flucht schlagen können. Als sie ans Tor kamen, lasen sie die Inschrift: »Eigentum des Kaisers«; die Mutter rang die Hände vor Schreck. »Was nun, Mutter? Du erschreckst mich.« »Tirzah, wer arm ist, der ist tot. Er ist tot!« »Wer, Mutter?« »Dein Bruder. Sie raubten ihm alles – alles – sogar sein Haus.« »Arm!« Tirzah sagte es wie geistesabwesend. »Er wird uns niemals helfen können!« »Und nun, Mutter?« »Morgen – morgen, mein Kind, müssen wir einen Platz am Wege finden und um Almosen betteln wie die Aussätzigen, betteln oder…« Tirzah schmiegte sich an die Mutter und flüsterte: »Laß uns – laß uns sterben!« »Nein!« antwortete die Mutter fest. »Der Herr hat unsere Zeit bestimmt, und wir sind Gläubige des Herrn. Wir wollen auf ihn warten, selbst darin. Komm! Fort!« Sie nahm Tirzah an der Hand und zog sie dicht an der Mauer mit sich zur Westecke des Hauses und weiter zur Südseite. Dort erschraken sie vor dem hellen Mondschein, aber die Mutter überwand sich und drängte weiter. Wer sie jetzt gese­ hen hätte, mußte die schrecklichen Zerstörungen im Gesicht und an den Händen erkennen, beide Frauen sahen aus, als ob sie gleich alt wären. 362

»Still! Auf der Schwelle liegt jemand – ein Mann. Vorsichtig, daß er uns nicht sieht!« Sie liefen rasch zur anderen Straßenseite hinüber, von dort gingen sie geräuschlos im Schatten bis zum Tor. »Er schläft, Tirzah! Bleib hier, ich will sehen, ob das Tor offen ist.« Als sie davorstand, bewegte sich der Schläfer, sein Kopftuch fiel von seinem Gesicht, das hell vom Mond beschienen war. Die Mutter schaute es an – und erstarrte. Sie blickte noch einmal hin zu dem Schläfer und erkannte ihn. Sie stürzte davon, rang die Hände, hob ihre Augen zum Himmel und stöhnte: »So wahr der Herr lebt«, flüsterte sie tonlos, »der Mann ist Judah, mein Sohn und dein Bruder!« Tirzah konnte nur wiederholen: »Mein Bruder Judah?« Die Mutter packte ihre Hand und zog sie zu ihm hin: »Komm! Schau ihn an, noch einmal, zum letztenmal – und dann erbarm dich deiner Dienerinnen, o Herr!« Sie gingen Hand in Hand, geisterhaft rasch, geisterhaft laut­ los. Als ihr Schatten auf den Schläfer fiel, blieben sie stehen. Eine seine Hände lag offen auf der Treppe. Und Tirzah sank auf die Knie, um sie zu küssen. Aber die Mutter hielt sie zurück: »Nicht um dein Leben, Tirzah. Unrein! Unrein«, flüsterte sie. Tirzah bebte vor Judah zurück, als sei er es, der aussätzig war. Er lag vor ihnen in der Blüte seiner Jahre, Wangen und Stirn waren gebräunt, unter dem kleinen Schnurrbart atmeten seine schwellenden roten Lippen, der Mund war leicht geöff­ net, man sah seine weißen Zähne, am runden Kinn krauste sich ein weicher Bart. Wie schön erschien er der Mutter, und die Sehnsucht überwältigte sie, ihn zu küssen, ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu halten, wie sie ihn als Knaben gehalten hatte. Aber ums Leben nicht hätte sie gewagt, seine Wange zu berühren. Sie kniete nieder, beugte sich über seine Füße und 363

küßte die Sohle seiner Sandale. Judah bewegte sich im Traum und flüsterte: »Amrah, Mutter –«, aber er wachte nicht auf. Die Mutter kämpfte ihren Schmerz nieder, das Herz wollte ihr brechen. Sie wünschte fast, er möchte erwachen. Aber dann erhob sie sich, beide standen vor ihm, als wollten sie sich sein Bild für ewig einprägen, dann gingen sie Hand in Hand auf die andere Straßenseite. Dort knieten sie nieder im Schatten der Mauer, sie schauten zu ihm hinüber, warteten, daß er erwache, warteten auf irgend etwas, sie wußten nicht, worauf. Als sie dort kauerten, kam eine Frau um die Ecke des Pala­ stes. Sie sahen sie deutlich, eine kleine, gebückte Gestalt von brauner Gesichtsfarbe, mit grauem Haar, sie war wie eine Magd gekleidet und trug einen Korb mit Gemüse. Als sie den Mann auf der Schwelle sah, stockte sie, dann schien sie einen Entschluß zu fassen, ging um ihn herum zum Tor, drückte das kleine Türchen leicht zur Seite und schob ihre Hand in die Öffnung, ein Flügel der Tür öffnete sich lautlos. Sie schob den Korb hinein und wollte folgen, schaute aber noch einmal neugierig auf das Gesicht des Schläfers, das offen vor ihr lag. Die beiden Frauen an der Straße hörten einen leisen Ausruf, sahen, wie die Frau sich die Augen rieb, sich tiefer beugte, die Hände zusammenschlug, verwirrt um sich schaute, nochmals den Schläfer betrachtete, seine Hand ergriff und sie zärtlich küßte – so wie sie selber es so gern getan hätten. Judah erwachte durch diese Berührung, zog die Hand zurück und entdeckte die Frau: »Amrah, o Amrah! Bist du es?« Die Gute konnte nicht antworten, sie fiel ihm um den Hals und weinte vor Freude. Dann hörten die beiden im Schatten lauernden Frauen: »Mutter – Tirzah! O Amrah, erzähl mir von ihnen. Sprich, ich bitte dich!« Amrah brach von neuem in Tränen aus. »Du hast sie gesehen, Amrah! Du weißt, wo sie sind. Sag mir, daß sie zu Hause sind!« 364

Tirzah machte eine Bewegung, aber die Mutter hielt sie mit aller Kraft zurück und flüsterte: »Tu es nicht! Geh nicht! Um keinen Preis! Unrein, unrein!« Ihre Liebe war tyrannisch. Und wenn ihnen die Herzen bre­ chen würden – er durfte nicht werden, was sie waren. Und sie siegte. »Wolltest du hineingehen?« fragte Judah. »Komm also! ich gehe mit dir. – Die Römer lügen – Gottes Fluch komme über sie – sie haben gelogen. Das Haus gehört mir. – Steh auf, Amrah, laß uns hineingehen!« Ein Augenblick – und sie waren gegangen, und sie ließen die beiden im Schatten zurück, die auf das geschlossene Tor starrten, durch das sie nie mehr eintreten würden. Sie schmieg­ ten sich zusammen in den Staub. Aber sie hatten ihre Pflicht getan. Ihre Liebe hatte sich bewährt. Am nächsten Morgen wurden sie aus der Stadt gesteinigt: »Hinaus! Ihr gehört zu den Toten! Geht zu den Toten!« Mit diesem grausamen Urteilsspruch im Ohr flohen sie hin­ aus.

Das Grab über dem Königsgarten Am zweiten Tag nach ihrer Begegnung mit Judah begab sich Amrah zur Quelle En-Rogel, wohin der Weg vom Königsgar­ ten durch das Bett des Bachs Kidron führt. Das Tal ist mit zahllosen Grabmälern besät, es ist seit Jahrhunderten der Begräbnisplatz der israelitischen Bewohner Jerusalems. Die überhängenden Felsen sind in den natürlichen oder künstlichen Höhlen voller Grabstätten. Dort lebten die Aussätzigen, die eine Art Gemeinwesen bildeten. Amrah setzte sich in der Nähe der Quelle auf einen Stein. Sie hatte einen Wasserkrug bei sich und einen Korb, den sie mit 365

einem schneeweißen Tuch bedeckt hatte. Es war noch sehr früh, und sie war die erste bei der Quelle. Bald kam ein Mann mit einem ledernen Seil und einem ledernen Wassereimer, er winkte dem kleinen braunen Weib, das wie die Magd einer wohlhabenden Familie aussah, einen Gruß zu. Der Mann wartete auf die Wasserholer. Wer wollte, konnte selbst schöp­ fen; er aber betrieb ein Geschäft damit und füllte den größten Krug, den das stärkste Weib tragen konnte, für einen Gerah. Amrah blieb ruhig sitzen, sie hatte ihr Kopftuch losgeknüpft und wartete. Auf die Frage des Wasserschöpfers, ob er ihr den Krug füllen solle, antwortete sie: »Noch nicht.« Als es über dem Ölberg zu tagen begann, sammelten sich die Leute am Brunnen, und der Wasserschöpfer war vollauf beschäftigt. Amrah besuchte gewöhnlich am Abend den Markt. Sie be­ suchte die Läden des Tyropöon oder die am Fischtor, machte ihre Einkäufe und schloß sich wieder ein. Ihre Freude, Judah im Hause zu haben, war unbeschreiblich, aber über Mutter und Tirzah konnte sie ihm nichts sagen. Judah wollte sie dazu bewegen, eine weniger einsame Wohnung zu beziehen, aber vergebens. Sie hätte ihn am liebsten wieder in seinem früheren Zimmer haben wollen, es war unverändert, seitdem er es verlassen hatte. Aber die Gefahr einer Entdeckung war zu groß, und er mußte verborgen bleiben. Er versprach ihr, sie so oft als möglich zu besuchen, natürlich zur Nachtzeit. Sie mußte sich damit begnügen, aber bedienen wollte sie ihn, sie wollte ihm seine Lieblingsspeisen bereiten und bedachte nicht, daß er ein Mann geworden und seine Liebhabereien aus der Knabenzeit verloren haben mochte. Aber sie wollte einen Vorrat haben, wenn er wiederkäme. Darum hatte sie sich so früh aufgemacht, um auf dem Markt nach dem besten Honig zu suchen. Dabei hörte sie eine Geschichte erzählen, die sie voll Staunen mit anhörte. Der Erzähler, ein Arbeiter, berichtete von einer Arbeit, die er 366

gestern in den Gefängnissen der Burg Antonia getan hatte, vom Aufbrechen einer Wand, von zwei Frauen, die man dort gefun­ den, von der Erzählung dieser Gefangenen, sogar ihren Namen hatte er behalten. Als dieser Name fiel, hätte Amrah beinahe aufgeschrien vor Freude und vor Entsetzen. Konnte es wahr sein? Sie hatte ihre Herrin gefunden und für Judah die Mutter und Schwester! Sie machte zitternd ihre Einkäufe und schlich sich traumwandelnd in den Palast zurück. Was für eine Freu­ denbotschaft für Judah! Als sie zu Hause angekommen, blieb sie plötzlich wie ange­ wurzelt stehen: Eine Freudenbotschaft? Eine Schreckensbotschaft mußte es für Judah sein, wenn er hörte, Mutter und Tirzah lebten zwar, aber sie waren aussätzig. Er würde sich sofort aufmachen zum Schreckensort drüben am Berg des bösen Rats und würde jede Grabhöhle absuchen, um sie zu finden. Mit welchem Erfolg? Auch er würde vom Aus­ satz angesteckt und das entsetzliche Los der Seinen teilen. Nein! Er durfte es nicht erfahren! Aber was sollte sie tun? Sie rang ratlos die Hände. Die Liebe half ihr zu einem Entschluß. Sie wußte, daß die Aussätzigen am frühen Morgen aus ihren Höhlen am Berghang herunter kamen, um am Brunnen EnRogel Wasser zu holen. Sie brachten ihre Krüge, setzten sich auf die Erde und warteten abseits, bis die Krüge gefüllt waren. Auch ihre Herrin und Tirzah würden kommen, denn das Gesetz kannte keine Ausnahmen für reiche Aussätzige. Amrah ent­ schloß sich, Judah nichts vom Schicksal der Seinen zu erzählen, sie allein würde die Sorge um sie übernehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie die beiden erkennen würde, aber gewiß würde die Herrin ihre Magd erkennen. Soweit hatte sie alles bedacht, als Ben Hur kam. Morgen erwartete er Malluch und dann würden sie die Nachforschun­ gen beginnen. Er konnte es kaum abwarten. Amrah war von ihrem Geheimnis schwer bedrückt, aber sie brachte es fertig zu schweigen. 367

Als Ben Hur gegangen war, bereitete sie mit der größten Sorgfalt kräftige Speisen. Als die Morgendämmerung anbrach, füllte sie alles in einen Korb, auch einen Wasserkrug nahm sie mit und machte sich auf den Weg zum Fischtor, das zuerst geöffnet wurde, und wanderte zur Quelle. Kurz nach Sonnenaufgang, als das größte Gedränge um den Brunnen entstanden war, kamen die Aussätzigen in Gruppen herbei. Frauen mit Krügen auf den Schultern, Männer an Stäben und Krücken, andere hilflos und einem Bündel Lumpen ähnlich auf Tragbahren – denn auch diese Gemeinschaft des Elends besaß barmherzige Seelen. Amrah beobachtete jeden einzelnen. Mehr als einmal glaubte sie, die Herrin erkannt zu haben. Sie zweifelte nicht daran, daß sie auf dem Berg waren. Sie mußten kommen, das wußte sie. Sie würden vielleicht nach allen andern kommen, da sie erst neu in dieser Umwelt waren. Am Fuße des Bergs war eine Grabhöhle, der sich Amrahs Aufmerksamkeit schon mehrmals zugewendet hatte. Nahe am Eingang lag ein großer Stein. In der heißen Tageszeit schien nach ihrer Vermutung die Sonne in die unbewohnbare Höhle. Jetzt sah Amrah, daß aus dieser Höhle aber doch zwei Frauen hervorkamen, eine die andere stützend. Beide hatten weißes Haar, beide schienen alt, aber ihre Kleider waren gut erhalten. Sie schauten sich um, als fürchteten sie sich sogar vor ihren Unglücksgefährten. Es war nichts Ungewöhnliches an ihrem Verhalten, aber Amrahs Herz begann stärker zu schlagen, und sie folgte den beiden unverwandt mit den Blicken. Die Frauen blieben eine Weile an dem großen Stein stehen, dann näherten sie sich zögernd dem Brunnen. Mehrere Stimmen erhoben sich warnend, um sie zurückzutreiben, dennoch kamen sie immer näher. Der Wasserschöpfer hob ein paar Steinchen auf, um sie zurückzuscheuchen. Die am Brunnen Versammelten sandten ihnen Flüche entgegen. Gewiß sind es Fremde, dachte Amrah, die von den Gebräu­ 368

chen der Aussätzigen hier nichts wissen. Sie erhob sich und ging ihnen mit Korb und Krug entgegen. Am Brunnen ver­ stummte die Unruhe. »Wie töricht«, sagte einer, »den Toten gute Speisen zu geben!« »Und einen so weiten Weg zu machen!« wandte ein anderer ein. »Ich würde sie mir wenigstens bis zum Stadttor entgegen­ kommen lassen.« Amrah folgte der Eingebung ihres guten Herzens. Aber je näher sie den beiden kam, um so größer wurden ihre Zweifel. Ein paar Schritte vor ihnen blieb sie stehen. Nein! Das konnte ihre Herrin nicht sein, ihre schöne Herrin, der sie so oft die Hand geküßt hatte! Und das nicht Tirzah, die sie von Kindheit an gepflegt, deren kindliche Schmerzen sie gestillt, mit der sie gespielt hatte, die lächelnde, schöne süße Tirzah, das Licht des großen Hauses! Die treue Dienerin war einer Ohnmacht nahe. Das sind alte Frauen, die ich nie zuvor gesehen habe, sagte sie zu sich. Ich will umkehren. Und sie wandte ihnen den Rücken. »Amrah!« rief eine der Aussätzigen. Die brave Dienerin stellte den Krug nieder und sah sich um: »Wer hat mich geru­ fen?« »Amrah!« »Wer seid ihr?« »Du erkennst uns nicht, gute Amrah. Aber wir erkennen dich!« Amrah fiel auf die Knie: »Bist du es, Herrin? Bist du es wahrhaft? Oh, dein Gott, den ich zu dem meinen gemacht habe, sei gepriesen.« Auf ihren Knien rutschte sie ihnen entge­ gen, die sie gesucht, auf die sie gewartet, die sie gefunden hatte. »Halt, Amrah! Nicht näher! Unrein, unrein!« Das Wort genügte. Amrah fiel auf ihr Gesicht und weinte. Sie schluchzte so laut, daß die Leute am Brunnen sie hörten. Plötzlich richtete sie sich auf: »O gütige Herrin, wo ist Tir­ 369

zah?« »Hier bin ich, Amrah, hier! Willst du mir nicht ein wenig Wasser bringen?« Sogleich wurde Amrah zur Dienerin. Sie erhob sich und holte den Korb: »Seht, hier ist Brot und Speise.« Und sie war im Begriff, das Tuch auf den Boden zu breiten. Aber die Herrin rief ihr zu: »Nicht so, Amrah, sie werden dich steinigen und uns den Trunk verweigern. Laß den Korb hier! Nimm den Krug und laß ihn füllen. Wir nehmen beides in unsere Höhle. Dann hast du alles getan, was das Gesetz erlaubt. Eil dich, Amrah!« Die Leute, die Zeugen dieser Begegnung gewesen waren, machten Platz, ja, sie halfen ihr, den Krug zu füllen, so großen Schmerz drückte ihre Miene aus. »Wer sind sie?« fragte eine Frau. »Sie waren einst gut zu mir«, antwortete Amrah bescheiden. Sie nahm den Krug auf die Schulter und eilte zurück, sie vergaß alles und kam ihnen so nahe, daß sie wieder von dem Ruf: »Unrein, unrein!« zu Tode erschrak und stehenblieb. Sie stellte den Krug neben den Korb und trat beiseite. »Ich danke dir, Amrah«, sagte die Herrin und nahm Krug und Korb. »Du bist sehr gut!« »Was kann ich sonst für euch tun?« Die Mutter hatte den Krug ergriffen, sie verschmachtete vor Durst: »Ja, du kannst etwas für mich tun. Ich weiß, daß Judah heimgekehrt ist. Ich sah ihn gestern nacht am Tor, als er auf der Treppe schlief. Ich sah, daß du ihn wecktest.« Amrah rang die Hände: »O meine Herrin, du hast ihn gese­ hen und bist nicht gekommen?« »Ich hätte ihn getötet. Ich darf ihn nie mehr sehen, nie mehr in die Arme schließen, nie mehr küssen. O Amrah, ich weiß, du liebst ihn.« »Ja, ich würde für ihn sterben.« Sie kniete nieder und brach von neuem in Tränen aus. 370

»Beweise es mir, Amrah!« »Ich bin bereit!« »Du darfst ihm nicht sagen, wo wir sind und daß du uns ge­ sehen und mit uns gesprochen hast. Sonst nichts, Amrah!« »Aber er sucht euch! Er ist von weit her gekommen, um euch zu finden.« »Er darf uns nicht finden. Er darf nicht erfahren, was wir sind. Das wenige, was wir brauchen, sollst du uns bringen. Es wird nicht mehr lange dauern. Du sollst jeden Morgen und Abend hierherkommen« – ihre Stimme zitterte – »und uns von ihm erzählen. Aber zu ihm, Amrah, nichts von uns! Hörst du?« »Das ist hart! Ihn von euch reden zu hören und zu sehen, wie er nach euch forscht, Zeuge all seiner Liebe zu sein und ihm nicht einmal sagen zu dürfen: sie leben!« »Kannst du ihm sagen, daß es uns gut geht?« Die Magd verhüllte ihr Gesicht. »Nein, Amrah, also schweige ganz! Geh jetzt und komm, wenn du kannst, heute abend wieder! Wir werden dich erwar­ ten. Bis dahin lebe wohl!« »Die Last wird schwer sein, o meine Herrin, und schwer zu tragen!« sagte Amrah und fiel auf ihr Gesicht. »Wieviel schwerer wäre es für uns, ihn in diesem Zustand zu sehen!« Die Herrin gab Tirzah den Korb, sie selbst nahm den Krug auf: »Komm diesen Abend wieder!« Dann machten sich beide auf den Weg zu ihrer Höhle. Amrah kniete, bis sie verschwunden waren. Dann machte auch sie sich auf ihren schweren Heimweg. Am Abend kam sie zurück, und von da an jeden Morgen und Abend. Sie brachte ihnen das Notwendigste, so daß sie wenigstens nicht mehr hungern mußten. Die Grabhöhle, obwohl sie steinig und einsam war, war doch nicht so furchtbar und trostlos wie die Zelle im Verliese der Burg. Die Sonne vergoldete ihre Tür und ringsum war die schöne Welt. Unterm offenen Himmel kann man den Tod mit besserem Glauben erwarten. 371

Eine List des Pilatus. – Der Kampf Am Morgen des ersten Tages im siebenten Monat, den die Hebräer Tishri nennen, erhob sich Ben Hur von seinem Lager in der Herberge, mit der ganzen Welt zerfallen. Malluch war gekommen, und sie hatten nicht viel Zeit mit ihren Beratungen gebraucht, er hatte sich sofort an seine Nachforschungen in der Burg Antonia gemacht. Er tat es ganz offen und erzählte dem Tribun die volle Wahrheit über die Geschichte der Familie Hur, alle Einzelheiten über den Unglücksfall mit Gratus, so daß klar wurde, daß von einem Verbrechen keine Rede sein konnte. Er erklärte, daß dem Kaiser eine Bittschrift unterbreitet würde, wenn die Unglücklichen gefunden würden, um die Rückerstat­ tung des Vermögens und die Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte zu erlangen. Er zweifelte nicht, daß der Kaiser auf diese Bitte hin eine Untersuchung anordnen werde. Die Freunde der Familie hätten über das Ergebnis keinerlei Besorgnis, hatte Malluch dem Offizier erklärt. Der Tribun hatte ihm daraufhin einen ausführlichen Bericht über die Entdeckung der Frauen im Turm gegeben und ihm erlaubt, Einblick in seine eigenen Aufzeichnungen zu nehmen, sie sogar zu kopieren. Mit diesem Ergebnis war er zu Ben Hur zurückgekommen. Der Eindruck, den diese furchtbare Offenbarung auf Ben Hur machte, war vernichtend. Er konnte sich weder in Tränen noch in leidenschaftlichen Ausbrüchen erleichtern, er saß toten­ bleich, mit wildpochendem Herzen stumm vor Schmerz. Nun war die Welt wahrhaft für ihn zusammengebrochen. Er konnte nur vor sich hinmurmeln: »Aussätzig! Aussätzig sie – meine Mutter, meine Tirzah – aussätzig! Wie lange, o Herr, wie lange!« Ein rasender Schmerz des Mitleids überfiel ihn. Dann wieder das unersättliche Verlangen nach Rache. Schließlich war er aufgesprungen: »Ich muß zu ihnen! Vielleicht sterben sie 372

bald!« »Wo willst du sie suchen?« »Es gibt nur einen Ort, wohin sie gegangen sein können.« Malluch hatte sich diesem Plan widersetzt, und schließlich war es ihm gelungen, Ben Hur zu überzeugen, daß er selbst das nicht tun dürfe. So hatte er den Erfolg, daß ihm die Aufgabe übertragen würde. Sie machten sich zusammen auf zu dem Tor gegenüber vom Berg des bösen Rates, wo seit ewigen Zeiten die Aussätzigen zu betteln pflegten. Dort verweilten sie den ganzen Tag, gaben Almosen, fragten nach den zwei Frauen und boten eine hohe Belohnung für ihre Entdeckung. Das wieder­ holten sie Tag um Tag, den ganzen fünften und sechsten Monat lang. Das Angebot der Belohnung an die Aussätzigen war für die Bewohner der gefürchteten Stadt von großem Anreiz, denn sie hatten ja Bedürfnisse, die sie befriedigen mußten. Immer und immer wieder besuchten Ben Hur und Malluch die Grabhöhlen beim Brunnen und fragten auch dort nach den zwei Frauen, aber die Aussätzigen bewahrten ihr Geheimnis. Auf diesen Wegen hatten sie jedenfalls keinen Erfolg gehabt. Erst an diesem ersten Morgen des siebenten Monats erfuhren sie, daß vor nicht langer Zeit zwei aussätzige Frauen aus dem Fischtor von amtlichen Personen vertrieben worden waren. Genauere Erkundigungen und der Vergleich der Zeitangaben überzeugte sie, daß es sich bei diesen Armen um die Gesuchten handeln müsse, und damit wurde die Lage nur noch dunkler. Wo waren sie? Und was war aus ihnen geworden? »Es war nicht genug, daß meine Mutter und Schwester aus­ sätzig geworden sind«, stöhnte Judah. »O nein! Sie mußten noch aus ihrer Vaterstadt gesteinigt werden. Meine Mutter ist tot! Sie ist in die Wüste gewandert, sie ist tot! Tirzah ist tot! Nur ich bin übriggeblieben. Und wozu? Wie lange, o Gott, du Gott meiner Väter, wie lange soll dieses Rom noch dauern?« Zornig, hoffnungslos und rachgierig kehrte er in den Hof der Herberge zurück und fand sie voll von Menschen, die am 373

Abend neu angekommen waren. Während er sein Frühstück einnahm, hörte er ihren Gesprächen zu. Besonders von einer Gruppe wurde er angezogen. Sie bestand aus kräftigen, abge­ härteten jungen Männern, denen man ansah und anhörte, daß sie aus der Provinz stammten. In ihrem Blick, der Haltung des Kopfes, in ihren leuchtenden Augen war ein schwer erklärli­ cher Zug, der in den unteren Schichten Jerusalems nicht zu finden war. Es mußten Leute aus den Gebirgsgegenden sein, die in gesunder Freiheit lebten. Ben Hur brauchte nicht lange, um festzustellen, daß es sich um Galiläer handelte, die aus verschiedenen Gründen nach Jerusalem gekommen waren, in der Hauptsache wohl, um an dem heute stattfindenden Trompe­ tenfest teilzunehmen. Das waren Leute, die sein größtes Interesse fanden, da sie aus der Gegend kamen, von denen er sich die stärkste Unterstützung des Werkes erwartete, zu dem er sich entschlossen hatte. Während er sie beobachtete und erwog, welche Erfolge er mit einer Legion solcher Männer erringen könnte, wenn er sie nach der strengen römischen Art ausbildete, kam ein Mann mit erhitztem Gesicht und erregtem Blick in den Hof: »Was sitzt ihr hier«, redete er die Galiläer an, »die Rabbis und Ältesten sind auf dem Wege vom Tempel zu Pilatus. Kommt rasch, wir wollen dabeisein!« Sie umringten ihn im Augenblick: »Zu Pilatus? Wozu?« »Sie haben eine Verschwörung entdeckt. Pilatus will die neue Wasserleitung mit Geldern des Tempels bezahlen.« »Was, mit dem heiligen Tempelschatz?« Sie wiederholten die Frage mit blitzenden Augen. »Es ist Carban – Gottes Geld. Er soll nur wagen, einen Sche­ kel anzutasten!« »Kommt«, rief der Bote. »Der Zug ist schon auf der Brücke. Die ganze Stadt zieht hinterher. Vielleicht werden wir ge­ braucht. Beeilt euch!« Im Nu entledigten sich die Männer ihrer überflüssigen Kleidungsstücke und standen barhäuptig und in 374

der kurzen ärmellosen Tunika da, wie sie die Schnitter auf den Feldern trugen, die Bootsleute auf dem See, die Hirten auf der Weide und die Leser im Weinberg, die keine Sonne stört. Sie zogen ihre Gürtel enger und riefen: »Wir sind bereit.« Jetzt war der Augenblick für Ben Hur gekommen: »Männer von Galiläa, ich bin ein Sohn Judahs, wollt ihr mich mitneh­ men?« »Es kann zum Kampf kommen«, antworteten sie.

»Nun, dann werde ich nicht als erster davonlaufen.«

Sie nahmen seine Entgegnung gutmütig auf: »Stark genug

scheinst du zu sein. Gehen wir!« Auch Ben Hur legte sein Oberkleid ab: »Ihr meint, es könnte zum Kampf kommen?« fragte er ruhig. »Ja.«

»Mit wem?«

»Mit der Wache.«

»Legionären?«

»Wem sonst könnte ein Römer vertrauen?«

»Womit wollt ihr kämpfen?«

Sie antworteten nicht.

»Nun, wir werden das Beste tun, was wir können. Aber wir

müßten einen Führer haben. Die Legionäre haben einen und können dadurch einheitlich handeln.« Die Galiläer starrten ihn überrascht an, als ob der Vorschlag für sie ganz neu wäre. »Laßt uns jedenfalls beisammen bleiben!« schloß er. »Ich bin bereit, wenn ihr wollt!« »Ja, gehen wir!« Die Herberge lag, wie gesagt, in Bezetha in der Neustadt. Um zum Prätorium zu gelangen, wie die Römer den Palast des Herodes auf dem Berg Sion nannten, mußten die Galiläer durch die Niederungen im Norden und Westen des Tempels. Auf den engen Straßen kamen sie rasch um den Hügel Akra zum Turm Mariamne, von wo der Weg zum Haupttor des Palastes nur 375

wenige Schritte betrug. Zu ihnen gesellten sich noch viele, die von dem beabsichtigten Plan gehört hatten. Als sie das Tor erreicht hatten, waren die Ältesten und die Rabbis mit großem Gefolge schon eingetreten und ließen eine noch größere lär­ mende Menge draußen. Ein Hauptmann bewachte den Eingang unter der schönen marmornen Brustwehr mit einer Wache in voller Ausrüstung und gezogenem Schwert. Die Sonne glühte auf Helm und Schild der Soldaten, aber sie kümmerten sich ebensowenig darum wie um das Geschrei der Menge. Durch das offene Bronzetor drängten sich viele Bürger hin­ ein, wenige kamen heraus. »Was geht hier vor?« fragte einer der Galiläer einen, der herauskam. »Nichts«, lautete die Antwort. »Die Rabbis verlangen eine Unterredung mit Pilatus. Er hat sich geweigert herauszukom­ men. Sie haben einen zu ihm geschickt, um ihm zu sagen, daß sie nicht gehen würden, ehe er sie angehört hat. Jetzt warten sie.« »Gehen wir hinein!« sagte Ben Hur in seiner ruhigen Art. Er begriff, was seine Gefährten nicht konnten, daß es sich nicht nur um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Bittstellern und dem Gouverneur handelte, sondern um einen Streit und um die ernste Frage, wer seinen Willen durchsetzen würde. In dem Hof standen belaubte Bäume mit Sitzen darunter. Die Menge vermied den Schatten und drängte sich auf das weiße, reinge­ fegte Pflaster, denn nach einem Gesetz der Rabbis war Grünes innerhalb der Mauern verboten. Durch die Baumwipfel sah man die Front des Palastes. Die Gruppe der Galiläer wandte sich nach rechts und erreichte einen viereckigen Platz, an dessen Westseite sich der Sitz des Prokurators befand. In diesem Hofe wogte die Menge erregt hin und her. Aller Augen waren auf eine Tür gerichtet, über der sich eine Säulenhalle erhob. Die Tür war geschlossen, davor stand eine Reihe Legio­ 376

näre. Das Gedränge war so groß, daß Ben Hurs neue Gefährten nicht vorwärtskommen konnten, falls das ihre Absicht war, sie blieben also stehen und beobachteten die Vorgänge. Unter der Vorhalle sah man die hohen Turbane der Rabbis, deren Unruhe sich der Menge hinter ihnen übertrug. Dann und wann hörte man einen Ruf: »Pilatus, wenn du ein Prokurator sein willst, so komm heraus, zeige dich!« Einmal kam ein Mann heraus, dessen Gesicht rot vor Zorn war, und sagte laut: »Israel gilt hier nichts. Auf dieser heiligen Stätte sind wir nicht mehr als die Hunde in Rom.« »Wird er nicht herauskommen, denkst du?« »Kommen? Er hat sich schon zum drittenmal geweigert.« »Was werden die Rabbis tun?« »Wie in Caesarea – sie werden hier warten, bis er sie anhört.« »Er wird doch nicht wagen, den Tempelschatz anzutasten?« fragte einer der Galiläer. »Wer weiß das? Hat nicht ein Römer das Allerheiligste ent­ weiht? Gibt es überhaupt etwas, das den Römern heilig ist?« Eine Stunde verging, und obgleich Pilatus sie keiner Antwort würdigte, blieben die Rabbis und die Menge. Es wurde Mittag und fing an zu regnen, aber es änderte sich nichts, höchstens nahm das Gedränge drinnen noch mehr zu, ebenso der Lärm und die Ungeduld. »Heraus! Heraus!« tönte es ununterbrochen. Unterdessen hielt Ben Hur seine Galiläer zusammen. Er hoffte, daß der Stolz des Römers sich eines Besseren besinnen werde und daß es nicht mehr lange dauern könne. Aber Pilatus wartete nur auf einen Vorwand, den Aufruhr mit Gewalt zu unterdrücken. Schließlich kam es dazu. Man hörte Schläge, Schmerzens­ schreie und Wutschreie und wilden Tumult. Die ehrwürdigen Männer bei der Vorhalle schauten sich voller Schrecken um. Die Menge im Hintergrunde drängte nach vorn, die in der Mitte wollten herauskommen, und einen Augenblick lang war 377

das Gedränge fürchterlich. Tausend Stimmen schrien zugleich, und da niemand antworten konnte, brach eine Panik aus. Ben Hur blieb gefaßt. »Kannst du nicht sehen, was vor sich geht?« fragte einer der Galiläer. »Nein!« »Ich will dich in die Höhe heben.« Er packte den Mann in der Mitte und hob ihn hoch. »Was gibt es?« »Jetzt sehe ich’s. Da sind Leute mit Prügeln, die auf die Menge einschlagen. Sie sind wie Juden gekleidet.« »Wer sind sie?« »Es sind Römer, so wahr Gott lebt! Verkleidete Römer! Sie schwingen ihre Prügel wie Dreschflegel. Da – sie haben einen Rabbi niedergeschlagen – einen alten Mann. Sie verschonen keinen!« Ben Hur setzte den Mann nieder. »Männer von Galiläa«, sagte er. »Es ist eine List des Pilatus. Wenn ihr tun wollt, was ich euch sage, werden wir mit den Prügelmännern fertig werden.« Ihr galiläischer Mut brach aus. Alle stimmten ihm zu. »Laßt uns zu den Bäumen am Tor gehen! Und wir werden von diesen ungesetzlichen Anpflanzungen des Herodes Nutzen ziehen. Kommt!« Sie liefen zurück, so schnell sie konnten, und rissen die Äste ab, indem sie sich mit dem vereinten Gewicht daran hängten. In wenigen Augenblicken waren sie bewaffnet. Als sie zur Hofecke zurückkehrten, floh die Menge blindlings dem Aus­ gang zu. Im Vorhof hörte man noch immer Schreie, Verwünschungen und Flüche. »An die Mauer!« rief Ben Hur, »laßt die Herde vorbei! An die Mauer!« Indem sie sich an die Mauer preßten, wichen sie der Flut aus und drangen Schritt für Schritt bis zur Vorhalle. »Nun bleibt zusammen und folgt mir!« 378

Ben Hurs Führerschaft wurde anerkannt, und als sie in die kochende Menge drängten, blieb seine Gefolgschaft geschlos­ sen hinter ihm. Und als die verkleideten Römer, die noch immer auf die Menge einhieben, ins Handgemenge mit den Galiläern gerieten, die ebenso wie sie bewaffnet waren, waren sie vollkommen überrascht. Ein mörderischer Kampf brach aus. Und keiner war tüchtiger als Ben Hur, dessen Ausbildung und langen Arme ihm halfen, er schlug und verteidigte sich bewundernswert. Er war zugleich Kämpfer und Führer. Sein Ast war so lang und schwer, daß er mit einem Hieb einen Mann niederschlagen konnte. Er hatte seine Augen überall und war immer gerade dort, wo er gebraucht wurde. Mit seinen Rufen feuerte er seine Leute an und schreckte seine Feinde. Es dauerte nicht lange und die Römer zogen sich zurück und flohen in die Vorhalle. Die Galiläer wollten ihnen folgen, aber Ben Hur hielt sie zurück: »Halt, meine Männer! Dort kommt der Hauptmann mit der Wache. Sie haben Schwerter und Schilde! Gegen sie können wir nicht fechten. Wir haben uns gut gehalten. Zurück und zum Tor, solange es offen ist!« Sie gehorchten ihm, wenn auch langsam, denn sie mußten über ihre Landsleute steigen, die dort lagen, wo sie gefallen waren, einige stöhnten und krümmten sich vor Schmerz, einige flehten um Hilfe, andere lagen regungslos wie tot da. Aber nicht alle Gefallenen waren Juden. Das war ihr Trost. Der Hauptmann rief ihnen etwas nach, als sie sich zurückzogen. Aber Ben Hur lachte über ihn und antwortete ihm römisch: »Wenn wir Hunde von Israel sind, dann seid ihr Schakale von Rom. Bleibt nur da, wir kommen wieder.« Die Galiläer klatschten Beifall und zogen lachend davon. Vor dem Tor hatte sich eine Volksmenge angesammelt, wie sie Ben Hur noch nie gesehen hatte, selbst im Zirkus von Antiochia nicht. Die Dächer, die Straßen, die Abhänge des Berges, alles war voller Menschen, die jammerten und beteten. Die Luft war von ihren Schreien und Flüchen erfüllt. 379

Die Außenwache ließ die Galiläer ohne Belästigung ziehen. Aber sie hatten eben das Tor hinter sich, als schon der Haupt­ mann mit der Wache erschien und nach Ben Hur rief: »He, Unverschämter! Bist du ein Römer oder ein Jude?« Ben Hur antwortete: »Ich bin ein Sohn Judas und hier gebo­ ren. Was willst du von mir?« »Steh und kämpfe!« »Allein?« »Wenn du willst!« Ben Hur lachte höhnisch: »O tapferer Römer! Edler Sohn des falschen römischen Jupiter! Ich habe keine Waffen.« »Du sollst meine haben«, antwortete der Hauptmann. »Ich werde mir eine von der Wache borgen.« Die Leute hörten das Gespräch schweigend mit an, und die Stille war noch tiefer geworden. Ben Hur dachte bei sich: Da er kürzlich einen Römer vor den Augen von Antiochia und dem ganzen Osten geschlagen hatte, warum sollte er nicht einen anderen Römer vor den Augen Jerusalems schlagen? Die Ehre konnte dem Neuen König zugute kommen. Er zögerte nicht. Er ging dem Hauptmann offen entgegen: »Ich bin bereit. Leih mir ein Schwert und ein Schild!« »Und Helm und Brustpanzer?« fragte der Römer. »Behalte sie! Sie nützen mir nichts.« Die Waffen wurden ausgeliefert, und der Hauptmann war sofort bereit. Die ganze Zeit standen die Soldaten regungslos am Tor, sie hörten nur zu. Unter der Menge ging die Frage von Mund zu Mund: »Wer ist das?« Aber niemand konnte sie beantworten. Die Überlegenheit der Römer im Waffenhandwerk lag in drei Dingen – in der Unterwerfung unter die Disziplin, in der Schlachtformation der Legionäre und besonders im Gebrauch des kurzen Schwerts. Im Kampf schlugen sie nie damit, sie stießen im Angriff zu, sie zogen sich stoßend zurück. Und im allgemeinen ging es ihnen um des Gegners Gesicht. Das wußte 380

Ben Hur alles genau. Als sie in ihrer Position waren, wandte er sich noch einmal an den Römer: »Ich sagte dir, daß ich ein Sohn Judas bin, aber nicht, daß ich in der Kampfschule ausge­ bildet wurde. Verteidige dich!« Beim letzten Wort kreuzten sie die Klingen. Sie beobachteten sich über den Rändern ihrer Schilde, dann ging der Römer vor und machte eine Finte mit einem Tiefstoß. Judah lachte. Ein Stoß ins Gesicht folgte. So rasch der Stoß kam, Judah sprang rascher nach links. Er stieß unter den erhobenen Arm des Gegners seinen Schild vor, drückte ihn nach oben, bis Schwertarm und Schwert des Gegners an seiner Stirn waren, noch ein Schritt nach vorn und links: die rechte Seite des Römers lag offen für den Stoß. Der Hauptmann stürzte zu Tode getroffen aufs Pflaster. Ben Hur hatte gesiegt. Wie es der Brauch bei den Gladiatoren wollte, stellte er seinen Fuß auf den Rücken des Gegners, hob sein Schild und grüßte die Soldaten am Tor, die ohne Bewe­ gung den Kampf und Sieg des Unbekannten verfolgt hatten. Als die Menge begriffen hatte, daß der Römer besiegt war, benahm sie sich wie verrückt. Sie schrien und winkten, und die Galiläer hätten ihn am liebsten auf ihre Schultern gehoben. Einem Offizier unteren Grades, der vom Tor auf ihn zu kam, sagte er: »Dein Kamerad ist wie ein Soldat gestorben. Ich plündere ihn nicht aus. Nur sein Schwert und sein Schild gehören mir.« Damit ging er davon. Als er etwas abseits war, sprach er zu den Galiläern: »Brüder, ihr habt euch gut gehalten. Wir wollen uns jetzt trennen, aber wir treffen uns heute abend in der Herberge. Ich habe euch einen Vorschlag zu machen, der für Israel von großer Wichtigkeit ist.« »Wer bist du?« fragten sie ihn. »Ein Sohn Judas. Werdet ihr nach Bethany kommen?« »Ja, wir kommen.« 381

»Dann bringt dies Schwert und Schild mit, damit ich euch erkenne.« Und damit drängte er sich durch die Menge und verschwand. Auf Anordnung des Pilatus holten die Juden ihre Toten und Verwundeten vom Platz weg. Es herrschte tiefe Trauer, aber sie wurde gemildert durch den Gedanken an den Sieg des unbekannten Helden. Sein Lob war in aller Munde. Der gesun­ kene Mut des Volkes wurde dadurch neu belebt, so daß in den Straßen bis zum Tempel hinauf mitten in den Feierlichkeiten des Festes alte Erzählungen über die Makkabäer umgingen und Tausende flüsterten: »Nur noch eine Weile, eine kleine Weile Brüder, und Israel wird wieder sein Recht erlangen. Vertraut dem Herrn und hofft in Geduld!«

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Siebentes Buch Jerusalem geht zu einem Propheten Die Zusammenkunft in der Herberge zu Bethanien fand zur verabredeten Stunde statt. Von dort begab sich Ben Hur mit seinen Gefährten nach Galiläa, wohin schon der Ruhm seiner Tapferkeit im Vorhofe des Palastes gedrungen war. Noch vor Ende des Winters hatte er drei Legionen gesammelt und nach der römischen Art ausgebildet. Er hätte noch mehr haben können, da sich der kämpferische Geist der Leute immer erhalten hatte. Aber er mußte sein Unternehmen sowohl vor den Römern wie vor Herodes geheimhalten. Infolgedessen gab er sich mit den drei Legionen zufrieden und nutzte die Zeit, sie zu einheitlichem Handeln zu schulen. Zu diesem Zweck führte er die Hauptleute in das Lavagebiet von Trachonitis und lehrte sie dort den Gebrauch der Waffen, besonders des Wurfspeers und des Schwertes, sowie in der Führung der Mannschaften. Danach schickte er sie wieder nach Hause, damit sie nun ihre Männer weiter ausbilden konnten. Die Aufgabe verlangte von ihm Geduld, Eifer und Zähigkeit, Eigenschaften, die er in hohem Maße besaß. Mit wahrer Selbstverleugnung setzte er alle seine Kräfte ein, aber er hätte wenig erreicht, wenn ihm nicht Simonides mit Waffen und Geld und Ilderim mit Verpflegung und Wachen geholfen hätten. Beides wäre vergeblich gewesen ohne die Fähigkeiten der Galiläer. Unter diesem Namen verstand man die vier Stämme Äser, Isaschar, Naphtali und Sebulon, die in den ihnen ursprünglich zugewiesenen Gebieten wohnten. Der in der Nähe des Tempels geborene Jude sah an sich mit Verachtung auf seine Brüder im 383

Norden, doch der Talmud sagte: Der Galiläer liebt die Ehre, der Jude das Geld. Jedenfalls haßten die Galiläer Rom so glühend, wie sie ihr eigenes Land liebten und waren bei jedem Aufstand die ersten im Angriff und die letzten im Weichen. (Einhundertfünfzigtausend junge Galiläer kamen beim End­ kampf mit Rom um.) Zu den großen Festen gingen sie nach Jerusalem, sie marschierten dahin und lebten in Lagern wie eine Armee, aber sie waren freimütig in ihrer Art und duldsam selbst gegen die Heiden. In den herrlichen Städten des Hero­ des, die in allen Zügen römisch waren, vor allem in Sepphoris und Tiberias, lebten sie voller Stolz und friedlich mit den Einwohnern aus allen Nationen. Sie hatten zum Ruhme Israels beigetragen durch Dichter wie den Sänger des Hohenlieds und Propheten wie Hosea. Auf ein so tapferes, stolzes, phantasievolles Volk wirkte der Bericht über den neuen König wie ein Zauber. Daß er kommen würde, um Rom zu stürzen, hätte schon genügt, sie für den Plan Ben Hurs zu begeistern. Daß er aber die Welt beherrschen und ein Reich schaffen werde, größer als das des Kaisers und glorreicher als das Salomos – diese Aussicht war für sie über­ wältigend. Sie weihten sich der Idee mit Leib und Seele. Sie befragten Ben Hur nach der Glaubwürdigkeit seiner Angaben, und er wies auf die Propheten hin, erzählte ihnen von Baltha­ sar, der drüben in Antiochia auf ihn wartete. Was sie hörten, befriedigte sie vollkommen, denn es war für sie die alte, geliebte Legende vom Messias, ihnen ebenso vertraut wie der Name Gottes, und der langersehnte Traum hatte nun einen festen Zeitpunkt gewonnen. Der König kam nicht irgendwann, er war schon da. So gingen die Wintermonate dahin. Und als der Frühling kam, hatte er so ernsthaft und erfolgreich gearbeitet, daß er sich und seinen Gefolgsleuten sagen konnte: »Laßt den König kommen! Er braucht uns nur zu sagen, wo er seinen Thron errichtet haben will. Wir werden ihn mit der Waffe in der Hand 384

darauf setzen.« Die Galiläer kannten ihn nur als Sohn Judas, seinen Namen wußten sie nicht. Eines Abends saß Ben Hur mit einigen Gefährten in Tracho­ nitis vor dem Eingang der Höhle, die ihm als Wohnung diente, als ein Araber herbeigeritten kam und ihm einen Brief über­ reichte. Er brach das Siegel und las: »Jerusalem, am 4. Nisan Ein Prophet ist aufgestanden, von dem die Leute sagen, er sei Elias. Er hat sich jahrelang in der Wüste aufgehalten und ist in unseren Augen ein Prophet. Das ist er auch nach allem, was er sagt. Er weist auf einen hin, der größer sei als er selbst und der bald kommen wird, wie er sagt. Er wartet auf ihn am östli­ chen Ufer des Jordans. Ich habe ihn gesehen und gehört, und der, auf den er hinweist, ist gewiß der König, auf den auch du wartest. Komm und urteile selbst. Ganz Jerusalem zieht hinaus zu ihm. Und mit den vielen anderen, die dazukommen, erscheint der Ort, wo er ist, wie der Ölberg zur Zeit des Osterfestes. Malluch«. Ben Hurs Angesicht leuchtete vor Freude: »Diese Nachricht, meine Freunde, macht unserem Warten ein Ende. Der Herold des neuen Königs ist erschienen und hat ihn angekündigt.« Er las den Brief vor, die Freude über die Verheißung erfaßte auch sie. »Macht euch nun bereit und begebt euch morgen auf den Heimweg. Zu Hause haltet eure Leute bereit für meine Befehle. Unterdessen will ich mich auch für euch erkundigen, ob es so ist, wie der Brief sagt. Ich werde euch Nachricht geben. Inzwi­ schen laßt uns in der Freude der Verheißung leben.« In seiner Höhle schrieb er Briefe an Ilderim und Simonides 385

und berichtete ihnen, was er erfahren hatte und daß er eilig nach Jerusalem müsse. Er sandte die Briefe mit Eilboten ab. Als es Nacht geworden war und die Sterne ihn leiten konnten, stieg er zu Pferde und ritt mit dem arabischen Führer zum Jordan; er gedachte, die Karawanenstraße zwischen RabbathAmmon und Damaskus zu kreuzen. Der Führer war sicher und Aldebaran schnell, und um Mitternacht hatten sie die Lavage­ gend schon hinter sich und eilten südwärts.

Mittagsrast am Quell Ben Hur hatte die Absicht, sich bei Tagesanbruch abseits zu wenden und einen sicheren Ruheplatz zu suchen, aber die Dämmerung überraschte ihn in der Wüste, und er blieb auf der Straße, da ihm der Führer versprach, ihn nach einer Weile in ein Felsental zu bringen, wo es eine Quelle, ein paar Maulbeer­ bäume und Gras für die Pferde gab. Während er dahinritt, gedachte er der wunderbaren Ereignis­ se, die so bald zu erwarten waren, auch der großen Veränderungen, die sie über die Welt und die Menschen bringen sollten. Da machte ihn der wachsame Araber darauf aufmerksam, daß hinter ihnen Fremde aufgetaucht waren. Ringsumher erstreckte sich die Wüste mit ihren Sandwogen, die langsam im steigen­ den Licht ihre gelbe Farbe annahmen, nirgends war etwas Grünes zu sehen. Weit in der Ferne erkannte man niedrige Hügelreihen, die anscheinend grenzenlos waren. In dieser Leere des Raumes konnte keine irgendwie geartete Bewegung lange verborgen bleiben. »Es ist ein Kamel mit Reitern«, sagte der Araber. »Sind andere dahinter?« »Nein, ein einzelnes Kamel. Aber noch ein Reiter zu Pferde, 386

wahrscheinlich der Führer.« Bald konnte Ben Hur unterscheiden, daß es sich um ein un­ gewöhnlich großes, weißes Kamel handelte, das ihn an das Tier Balthasars an der Quelle im Hain der Daphne erinnerte. Es konnte kein anderes sein. Als er nun an die edle Ägypterin dachte, ließ er sein Pferd langsamer traben, schließlich ritt er im Schritt, bis er das Zelt auf dem Kamel erkennen konnte, in dem zwei Personen saßen. Konnten es Balthasar und Iras sein? Sollte er sich ihnen zu erkennen geben? Sie konnten es nicht sein, hier war die Wüste, und sie waren allein. Aber während er sich diese Fragen vorlegte, hatte das Kamel mit seinen weit­ ausholenden Schritten ihn erreicht. Er hörte das Klingeln der Glöckchen und erkannte das kostbare Zelt, das die Leute an der kastalischen Quelle so bewundert hatten. Jetzt erkannte er auch den Äthiopier, der Iras stets begleitete. Das riesige Tier hielt neben seinem Pferde an, und Ben Hur sah, daß es wirklich Iras war, die unter dem Zeltdach auf ihn heruntersah, er erkannte ihre großen, feuchten Augen, die ihn voller Staunen betrachte­ ten! »Der Segen Gottes sei mit dir«, sagte Balthasar mit seiner zitternden Stimme. »Und mit dir und den Deinen der Friede des Herrn«, antwor­ tete Ben Hur. »Meine Augen sind mit den Jahren schwach geworden, aber dennoch glaube ich dich als den Sohn Hurs zu erkennen, den ich als geehrten Gast im Zelte des gütigen Scheiks Ilderim kennenlernte.« »Und du bist Balthasar, der weise Ägypter, dessen Erzählun­ gen über die zukünftigen heiligen Ereignisse so vieles mit meiner Anwesenheit hier in der Wüste zu tun haben. Was führt dich hierher?« »Wer dort ist, wo Gott ist, der ist niemals allein – und Gott ist überall«, antwortete Balthasar feierlich. »Ich bin mit einer Karawane gekommen, die auf dem Wege nach Alexandria ist; 387

da sie über Jerusalem geht, habe ich mich ihr angeschlossen, da ich dorthin will. Heute morgen brachen wir drei früh auf, weil sie sehr langsam vorwärts kommt, und wir sind ihr weit voraus. Räuber auf unserem Weg fürchten wir nicht, da wir einen Geleitbrief Ilderims besitzen; gegen wilde Tiere schützt uns Gott.« Ben Hur verneigte sich: »Der Geleitbrief des Scheiks ge­ währt euch in der ganzen Wüste Sicherheit, und der Löwe müßte schnell sein, wenn er diesen König seiner Art einholen wollte.« Dabei streichelte er den Hals des Kamels. Während des Gesprächs waren Ben Hurs Blicke oft zu Iras gegangen, nun lächelte sie und wandte sich an ihn: »Zu langes Fasten ist nicht gut, selbst Könige haben Hunger und Kopfweh. Wenn du tatsächlich Ben Hur bist, von dem mein Vater ge­ sprochen hat und den ich zu meiner Freude auch kenne, so wirst du dich gewiß glücklich fühlen, uns einen nicht zu weiten Weg zu einer Quelle zu zeigen, wo wir unser Morgenmahl in der Wüste halten können.« »Wenn sich die schöne Ägypterin noch eine Weile gedulden kann, werden wir die Quelle finden, nach der du verlangst, und ich verspreche dir, daß der Trunk daraus so süß und labend sein wird wie an der berühmteren Quelle von Castalia. Mit eurer Erlaubnis wollen wir uns beeilen.« »Ich danke dir im Namen der Dürstenden und biete dir dafür ein Stück Brot aus der Stadtbäckerei an, mit frischer Butter von den tauigen Wiesen von Damaskus.« »Ein seltener Genuß! Laß uns eilen!« Ben Hur ritt mit dem Führer voran. Mit Kamelreitern kann man wegen der schaukelnden Bewegung des Tieres keine längeren Gespräche führen. Nach einer Weile gelangten sie in ein seichtes Wadi, durch das ihnen der Führer den Weg zeigte. Die Wasserrinne war durch den Regen aufgeweicht, und es ging ziemlich steil hinab. Die engen, steilen Wände öffneten sich aber plötzlich in ein 388

weites, schönes Tal, das mit Gras und Buschwerk bewachsen war. Nach der gelben Wüste glaubte man ein neuentdecktes Paradies zu betreten. Vom Jordantal hatte sich hier Oleander angesiedelt, eine einzelne Palme erhob königlich ihr Haupt. An den umgrenzenden Mauern rankte sich Wein empor. Das Wasser rieselte aus einer Felsenplatte, die sorgsam er­ weitert worden war und in die man in hebräischen Buchstaben das Wort »Gott« eingemeißelt hatte. Die Pferde wurden freigelassen, vom knienden Kamel half der Äthiopier Balthasar und Iras herunter, der Greis wandte sein Gesicht nach Osten und betete, die Hände über der Brust gekreuzt. Iras ließ sich einen Kristallbecher geben und wandte sich an Ben Hur: »Diesmal bin ich dein Diener an der Quelle.« Sie gingen zusammen zum Wasser, sie füllte selbst den Be­ cher und bot ihm den Trank. »Nein, laß mich dir dienen«, er schob ihre Hand beiseite und sah nun ihre großen Augen hinter den Wimpern. Aber sie bestand auf ihrem Willen: »In meinem Lande, Sohn Hurs, sagen wir: ›Besser ein Becherträger bei einem Glücklichen zu sein, statt Minister bei einem König.‹ « »Glücklicher?« Sie war überrascht von dem Ton und von seinem Blick und antwortete schnell: »Die Götter geben uns Erfolg als ein Zeichen dafür, damit wir erkennen, sie sind auf unserer Seite. Hast du nicht im Zirkus gesiegt? Das war ein Zeichen. Es gibt noch ein anderes. In einem Zweikampf mit dem Schwert hast du einen Römer besiegt.« Während sie das sagte, wußte er, daß von diesem Kampf im ganzen Osten geredet wurde, aber daß der Name des Siegers nur sehr wenigen Menschen bekannt war – Malluch, Ilderim, Simonides. Konnten sie das einer Frau anvertraut haben? Er war ganz bestürzt. Sie sah es und hielt den Becher unter die 389

Quelle: »O Götter Ägyptens! Ich danke euch, daß ihr mir einen Helden entdeckt habt. Ich danke euch, daß der Tote im Palast von Idernee nicht mein König der Männer war. Und so, ihr heiligen Götter, opfere ich euch und trinke.« Eine Hälfte des Wassers goß sie aus, die andere trank sie. Als sie den Becher von den Lippen absetzte, lachte sie ihn an: »O Sohn Hurs, ist es die Art der sehr tapferen Männer, so leicht von einer Frau besiegt zu werden? Nimm du nun den Becher und suche ein glückliches Wort für mich zu finden.« Er nahm den Becher und hielt ihn unter das Wasser: »Ein Sohn Israels hat keine Götter, denen er Trankopfer darbringen kann.« – Was wußte die Ägypterin noch von ihm? War ihr von seinen Beziehungen zu Simonides erzählt worden? Und vom Vertrag mit Ilderim? Plötzlich stieg Mißtrauen in ihm auf. Jemand hatte seine Geheimnisse verraten, und es waren große Geheimnisse. Und wenn gerade jetzt ein feindlicher Mitwisser nach Jerusalem ging, wohin er auf dem Weg war, konnte das nicht für ihn, seine Gefolgschaft und für sein Ziel gefährlich werden? Aber war sie sein Feind? Als der Becher gekühlt war, füllte er ihn: »Du Schönste, wäre ich ein Ägypter, Grieche oder Römer, so würde ich sagen: ›O ihr größeren Götter, ich danke euch, daß ihr uns in dieser Welt des Unrechts und Leidens die Schönheit gelassen habt und die Erquickung der Liebe, und ich trinke ihr zu, der vollkommensten Verkörpe­ rung beider – der lieblichen Iras, der Tochter des Nils!‹« Sie legte ihre Hand sanft auf seine Schulter. »Du hast dich gegen das Gesetz vergangen. Die Götter, de­ nen du zugetrunken hast, sind falsche Götter. Warum soll ich es nicht den Rabbis sagen?« »Oh!« antwortete er lachend. »Das wäre sehr wenig für je­ mand, der so viel von dem weiß, was wirklich Bedeutung hat.« »Nun, ich will noch weiter gehen, ich will von der kleinen Jüdin sprechen, die im Hause des Kaufherrn von Antiochia die Rosen pflegt und die Schatten erhellt. Bei den Rabbis will ich 390

dich als unbußfertig anklagen, ihr…« »Was – ihr?« »Ihr werde ich wiederholen, was du mir gesagt hast, als du trankst, die Götter sind meine Zeugen.« Er schwieg, als warte er, sie werde noch mehr sagen. Er sah Esther vor sich an der Seite ihres Vaters. In ihrer Gegenwart hatte er Simonides von den Ereignissen im Palast von Idernee berichtet. Sie und Iras waren bekannt, die Ägypterin war scharfsinnig und weltlich. Esther war einfach und herzlich und darum leicht gewonnen. Simonides konnte das Vertrauen nicht gebrochen haben, ebensowenig Ilderim. Konnte Esther die Ägypterin unterrichtet haben? Er wollte sie nicht anklagen. Aber ehe er antworten konnte, kam Balthasar an den Quell. »Wir sind dir tief verpflichtet, Sohn Hurs! Dieses Tal ist sehr schön, alles ladet zum Bleiben ein. Es genügt nicht, dir zu danken für die Freude, die wir hier finden, komm, sitz mit uns und teile unser Brot.« »Erlaube mir erst, dich zu bedienen.« Ben Hur füllte den Becher von neuem und reichte ihn Balthasar, der die Augen zum Dankgebet erhob. Darauf brachte der Äthiopier Wasser und Handtücher zur Händewaschung, dann ließen sich alle drei unter demselben Zelt nieder, das vor Jahren die drei Gefährten in der Wüste beherbergt hatte. Sie wandten sich den guten Dingen zu, die aus den Satteltaschen des Kamels hervorgeholt worden waren.

Das Leben der Seele Das Zelt war dicht unter einem Stamm errichtet worden, wo man das Murmeln der Quelle ständig im Ohr hatte. Über ihnen hingen regungslos die breiten Blätter des Baumes, die dünnen Gräser standen aufrecht im perlgrauen Nebel, eine heimkeh­ 391

rende Biene summte quer durch den Schatten, und ein Rebhuhn trank am Wasser und lief davon. Die Ruhe des Tales, die Schönheit der Oase, die kühle Luft und die Sabbatstille schie­ nen den greisen Ägypter tief zu beglücken, seine Stimme, seine Miene und sein ganzes Wesen waren noch sanfter als sonst, sooft er seine Augen Ben Hur zuwandte, der mit Iras sprach. »Als wir dich einholten, Sohn Hurs«, sagte er, als das Mahl beendet war, »schien dein Gesicht ebenfalls nach Jerusalem gewandt. Darf ich fragen, ohne neugierig zu erscheinen, ob du auf dem Wege dahin bist?« »Ich gehe zur Heiligen Stadt.« »Ich muß meine Kräfte sparen, deshalb erlaube ich mir noch eine Frage zu stellen, ob es einen kürzeren Weg als den über Rabbath-Ammon gibt?« »Es gibt einen rauheren, aber kürzeren Weg über Gerasa und Rabbath-Gilead. Den wollte ich nehmen.« »Ich bin voller Ungeduld«, fuhr Balthasar fort. »Ich habe in der letzten Zeit Träume im Schlaf gehabt, vielmehr ein und denselben, oft wiederholten Traum. Ich hörte eine Stimme – es war nichts anderes –, die mich mahnte: Steh eilends auf, er, auf den du so lange gewartet hast, ist gekommen.« »Du meinst ihn, der König der Juden sein wird?« fragte Ben Hur und schaute den Ägypter verwundert an. »Eben den.« »Du hast also nichts von ihm gehört?« »Nichts als die Worte der Stimme im Traum.« »Nun, so habe ich dir Nachrichten zu geben, die dich ebenso erfreuen werden, wie sie mich erfreuten.« Ben Hur zog den Brief Malluchs hervor, der Ägypter nahm ihn mit zitternder Hand entgegen. Er las ihn laut, und seine Erregung wuchs, die Adern an seinem Hals schwollen und pochten. Am Schluß hob er die feuchten Augen zum Himmel und sprach ein Dankgebet. Er stellte keine Fragen; denn nun zweifelte er nicht mehr: 392

»Du bist sehr gütig zu mir, o Herr! Laß mich, ich bitte dich, den Erlöser wiedersehen und ihn anbeten, dann kann dein Diener in Frieden scheiden!« Ben Hur war von diesen Worten tief bewegt. Nie war ihm die Nähe Gottes so greifbar nahe erschienen, ihm war, als sei Gott mitten unter ihnen wie ein Freund, der seine Gaben auf die einfachsten Bitten hin austeilt, wie ein Vater – nicht nur der Juden, sondern auch der Heiden –, der alle seine Kinder mit gleicher Liebe umfaßt, ein Vater aller Menschen, der keine Rabbis, keine Priester, keine Lehrer, keine Vermittler braucht. Ben Hur erschien der Gedanke, daß ein solcher Gott der Menschheit statt eines Königs einen Erlöser senden werde, in einem ganz neuen Licht, und ihm wurde es in einer Weise klar, so daß er an die höhere Bedeutung dieser Sendung wie auch ihre höhere Übereinstimmung mit dem Wesen einer solchen Gottheit zu erkennen glaubte. Er konnte die Frage nicht unterdrücken: »Nun, da er erschienen ist, Balthasar, glaubt du noch, daß er als Erlöser kommt und nicht als König?« »Wie soll ich dich verstehen?« antwortete Balthasar. »Der Geist, der Stern meines Führers damals, ist mir nicht mehr erschienen, seit ich dich im Zelt Ilderims traf, das heißt, ich habe ihn nicht mehr gesehen und gehört. Ich glaube, daß es seine Stimme war, die im Traum zu mir sprach. Eine andere Offenbarung ist mir nicht geworden.« »Erlaube, daß ich an die Verschiedenheit unserer Ansichten erinnere«, wandte Ben Hur ein. »Du warst der Meinung, daß er ein König sein werde, aber nicht von der Art eines Cäsar. Du dachtest an eine geistige, nicht an eine irdische Herrschaft.« »Ja«, bestätigte Balthasar, »und ich bin noch der gleichen Ansicht. Ich sehe den Unterschied in unserem Glauben. Du erwartest einen weltlichen König, ich einen Erlöser der Seelen. – Laß mich versuchen, Sohn Hurs, dir meinen Glauben näher zu erklären. Wenn ich dir sage, daß die geistige Herrschaft, die 393

er ausüben wird, in jedem Sinne herrlicher sein wird als bloße kaiserliche Gewalt, dann verstehst du vielleicht, warum ich der geheimnisvollen Gestalt mit solcher Erwartung entgegensehe. – Ich weiß nicht, wann die Vorstellung von einer Seele im Menschen entstanden ist. Wahrscheinlich brachten sie schon die ersten Menschen aus dem Paradiese mit. Wir alle wissen, daß diese Vorstellung nie ganz unter den Menschen verloren­ gegangen ist, bei manchen Völkern vielleicht, aber nicht bei allen, in manchen Zeiten verblaßte sie oder wurde von Zwei­ feln überwuchert. Aber Gott sandte in seiner großen Güte von Zeit zu Zeit mächtige Geister, die den Glauben daran wieder belebten. – Warum, Sohn Hurs, muß in jedem Menschen eine Seele wohnen? Überlege einen Augenblick, wie nötig sie ist. Sich niederlegen und sterben und nicht mehr sein – für ewig nicht mehr sein –, es hat keine Zeit gegeben, in der sich der Mensch ein solches Ende gewünscht hätte, nie gab es einen Menschen, der in seinem Herzen nicht etwas Besseres erwarte­ te. Alle Denkmäler der Völker, alle Statuen, alle Inschriften, ja die ganze Geschichte legen Verwahrung ein gegen das Nichts nach dem Tode. Der größte unsrer ägyptischen Könige ließ sein Bildnis aus einem mächtigen Felsen hauen, jeden Tag begab er sich mit großem Gefolge im Wagen dorthin, um das Werk fortschreiten zu sehen. Endlich war es fertig, es hat nie ein so gewaltiges, unzerstörbares Bild gegeben, es trug seine Züge, seinen Ausdruck. Dürfen wir uns nicht vorstellen, daß er in jenem stolzen Augenblick zu sich selbst gesagt hat: Mag der Tod kommen, ich werde weiterleben. Sein Wunsch wurde erfüllt. Die Statue steht noch immer. Aber worin bestand dieses Leben nach dem Tode, das er sich gesichert hatte? Es bestand nur im Gedächtnis der Menschen, ein Ruhm, vergänglich wie der Mondschein auf der Stirn der großen Gestalt, eine Ge­ schichte in Stein, nicht mehr. Was wurde unterdessen aus dem König? In den königlichen Grabkammern liegt ein einbalsa­ mierter Körper, ein Bild, das keineswegs so großartig ist wie 394

das in der Wüste. Aber wo, Sohn Hurs, wo ist der König selbst? Ist er in Nichts zerfallen? Zweitausend Jahre sind vergangen, als er ein lebendiger Mensch war wie ich und du. War sein letzter Atemzug sein Ende? Wer diese Frage mit ja beantwortet, erhebt eine Anklage gegen Gott. Laß uns an seinen höheren Plan glauben, der uns das Leben nach dem Tode erhält – wirkliches Leben, meine ich – das mehr ist als ein Platz im Gedächtnis an die Toten. Das irdische Leben kommt und geht mit allen seinen Kräften, das ewige Leben bleibt. Fragst du, welches der Plan Gottes ist? Das Geschenk der Seele an jeden bei seiner Geburt, mit dem einfachen Gesetz, daß nichts am Menschen unsterblich ist bis auf seine Seele. Darin sieh die Notwendigkeit, von der ich sprach! Doch laß uns davon absehen. Dafür ein Wort über die Freu­ de, die der Gedanke an eine Seele in uns hervorruft! Er raubt uns den Schrecken vor dem Tode, er macht aus dem Sterben einen Übergang zum Besseren und aus dem Begräbnis das Einsäen eines Samens, aus dem ein neues Leben wachsen wird. Und nun betrachte mich: schwach, gebrechlich, alt, hinfällig und reizlos, höre meine schrille Stimme. Welche Seligkeit liegt für mich in der Verheißung, daß sich für mich die unsichtbaren Tore des Weltalls auftun werden, sobald meine abgetragene Hülle ins Grab gesenkt wird, die Tore zur Wohnung Gottes werden weit auf getan, um meine befreite unsterbliche Seele zu empfangen! Sage nicht, daß ich nichts davon wissen kann. Das, was ich weiß, genügt mir: eine Seele zu sein, die am göttlichen Wesen teilhat. An ihr haftet keine Schwere, sie ist dünner als Luft, durchsichtiger als das Licht, reiner als alles – sie ist Leben in vollkommener Reinheit. Was noch, Sohn Hurs? Soll ich noch mit dir über Unwesent­ liches streiten? Über die Gestalt der Seele? Oder über ihren Sitz im Menschen? Oder ob sie ißt und trinkt? Nein. Man muß 395

Gott vertrauen. Das Schöne in der Welt stammt aus seiner Hand. Er kleidet die Lilie, er malt die Rose, er schafft den Tautropfen, er ordnet die Harmonie der Natur. In einem Wort: er schuf uns für dieses Leben und gab uns seine Bedingungen. Sie sind mir eine solche Bürgschaft, daß ich ihm vertraue wie ein kleines Kind vertraut. Ich überlasse ihm die Schöpfung meiner Seele für das Leben nach dem Tode. Ich weiß, daß er mich liebt.« Der Greis hielt inne und führte den Becher mit zitternder Hand an seine Lippen. Iras wie Ben Hur waren von seiner Erregung ergriffen und schwiegen. Ben Hur schien von innen erleuchtet. Klar wie nie zuvor begriff er, daß ein geistiges Königreich für die Menschen wichtiger war als ein weltliches und daß ein Erlöser ein größeres Geschenk war als der größte König. »Ich könnte dich nun fragen«, fuhr Balthasar fort, »ob dieses leibliche Leben, das so kummervoll und so kurz ist, dem vollkommenen und ewigen Leben der Seele vorzuziehen ist. Aber stelle dir diese Frage selbst. Ist eine glückliche Stunde wünschenswerter als ein Jahr des Glücks? Und dann gehe einen Schritt weiter: Was sind siebzig Jahre gegen die ganze Ewigkeit mit Gott? Ich weiß, daß die Welt das Leben der Seele fast ganz außer acht läßt. Da und dort mag es einen Philoso­ phen geben, der von der Seele wie von einer Urkraft spricht, da aber die Philosophen nichts auf den Glauben geben, lassen sie die Seele nicht als Wesen gelten und deshalb bleibt sie ihnen im Dunkel. Jedes lebende Wesen ist mit entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet. Hast du nicht bemerkt, daß der Mensch das einzige Wesen ist, das nach der Zukunft forschen kann? Für mich ist das ein Zeichen dafür, daß Gott uns für ein kommendes und besseres Leben geschaffen hat. Freilich sind die Völker verkommen. Sie leben in den Tag hinein, als ob die Gegenwart alles in allem sei, und sie sagen: Nach dem Tode gibt es kein Morgen, oder wenn es das gibt, wissen wir nichts 396

darüber und darum brauchen wir uns nicht darum zu kümmern. – Wenn der Tod sie ruft, so sind sie auf die glorreiche Ewigkeit nicht vorbereitet und ihrer nicht würdig. O Sohn Hurs, daß ich das sagen muß! Aber so wie das Kamel, das dort schläft, ebenso existiert wie die heiligen Priester, die an den höchsten Altären der Tempel dienen, so sind die Menschen dem unteren irdischen Leben hingegeben und haben ganz das zukünftige vergessen. Was mich betrifft, so würde ich nicht eine Stunde des Lebens als Seele hergeben für tausend Jahre irdischen Menschenlebens.« Hier schien der Ägypter seine Umgebung vergessen zu haben und versank in tiefes Nachdenken: »Ich bitte dich um Vergebung, Sohn Hurs, die Freude, über das Leben der Seele zu dir sprechen zu dürfen, hat mir diese vielen Worte eingegeben. Es bedrückt mich, daß sie so schwach sind, aber forsche selbst, und du wirst zu der Erkennt­ nis kommen, daß er, auf den wir warten, nicht als Krieger mit dem Schwert noch als Monarch mit einer Krone kommen wird. Nun erhebt sich nur noch die praktische Frage: Wie werden wir ihn erkennen? Bleibst du bei deiner Ansicht über seinen Cha­ rakter – daß er ein König sein wird wie Herodes –, so wirst du einen Mann in Purpur mit dem Zepter suchen. Der aber, den ich suche, wird ein Mensch wie alle Menschen sein und das Zeichen, an dem ich ihn erkenne, wird nicht so einfach sein. Er wird mir und der ganzen Menschheit den Weg zum ewigen Leben zeigen, zum herrlichen reinen Leben der Seele.« Eine Zeitlang saßen alle drei in tiefem Schweigen. Balthasar unterbrach es endlich: »Laßt uns aufbrechen und uns auf unseren Weg machen! Meine Worte haben die Ungeduld in mir noch mehr geschürt. Ich muß ihn sehen, der immer in meinen Gedanken lebt. Entschuldigt meine Eile, Sohn Hurs, und du, meine Tochter.« Auf ein Zeichen brachte der Äthiopier Wein in einer Leder­ flasche, sie füllten die Becher und tranken, dann schüttelten sie 397

das Tischtuch aus und erhoben sich. Während der Äthiopier das Zelt abbrach und alle Geräte in den Kisten auf der Houdah unterbrachte, führte der Araber die Pferde vor. Bald waren sie auf dem Weg, um die Karawane zu erreichen, die sie mittler­ weile auf der Straße überholt haben mußte.

Ben Hur hält Wacht mit Iras Die Karawane, die durch die Wüste zog, war sehr malerisch, sie sah aus wie eine träge Schlange. Nach und nach wurde ihr langsames Dahinziehen für Balthasars Ungeduld wieder unerträglich, so daß die fünf sich absonderten und ihren eige­ nen Weg einschlugen. Ben Hur empfand es als großen Reiz, neben dem Kamel dahinzureiten und mit der Ägypterin Blicke zu tauschen. Manchmal sprach sie von ihrem hohen Sitz herunter zu ihm, und jedesmal schlug sein Herz stärker. Alles, was sie auf dem Weg trafen, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Sie deutete auf eine schwarze Schwalbe, die durch die Luft schoß. Er holte ihr einen Quarz oder ein Stück Glimmerschiefer, der auf dem Sand im Sonnenlicht aufschimmerte, es wäre ihm lieber gewesen, er hätte ihr Wertvolleres – einen Rubin oder einen Diamanten – bringen können. Bei ihrem Anblick – manchmal lüftete sie den Vorhang der Houdah – vergaß er alle Gefahren des einsamen Weges. Sie zeigte, daß sie sich ihres Einflusses auf ihn bewußt war. Seit dem Morgen trug sie auf ihrem blauschwarzen Haar ein Netz aus Goldmünzen, ihre Finger und Ohren schmückte sie mit Ringen, ihre Arme mit Spangen, ihren Hals mit Perlen. In ihre köstlichen Schals gehüllt, lächelte sie auf ihn hinunter. Es war ein Spiel wie das Cleopatras mit Antonius. Am ersten Abend hielt die Gesellschaft Rast an einem Teich 398

mit klarem Regenwasser in der Abilenewüste. Hier wurde das Zelt errichtet und das Mahl eingenommen. Die zweite Wache hatte Ben Hur übernommen. Er stand dicht neben dem Kamel, den Speer in der Hand, und schaute in die Sterne und über das verschleierte Land. Die Stille war ungeheuer. Ein warmer Wind hatte sich erhoben, er störte ihn nicht, denn seine Gedanken waren bei der Ägypterin. Er empfand ihren Reiz, der ihn fesselte, und doch überdachte er immer wieder die Frage, woher sie seine Geheimnisse wissen könne. Mitten in seinen Gedanken wurde ihm eine Hand leicht auf die Schulter gelegt, Iras stand neben ihm. »Ich dachte, du schläfst?« »Der Schlaf ist für alte Leute und kleine Kinder. Ich komme heraus zu meinen Freunden, den Sternen im Süden, die jetzt in der Mitternacht über dem Nil stehen. Habe ich dich er­ schreckt?« Er nahm ihre Hand: »Meinst du, ich war erschreckt, als hätte mich ein Feind angerührt?« »O nein! Ein Feind sein, heißt hassen, und Haß ist eine Krankheit, die Isis nicht in uns duldet. Sie küßte mich aufs Herz, als ich ein Kind war.« »Du sprichst nicht wie dein Vater. Hast du nicht seinen Glauben?« »Ich hätte ihn gern« – sie lachte – »ich hätte ihn gern ange­ nommen, könnte ich erkennen, worin er besteht. Vielleicht glaube ich wie er, wenn ich alt bin. Es sollte eine Religion für die Jugend geben, nur Dichtung und Philosophie, und keine andere Dichtung als die durch Wein, Freude und Liebe inspi­ rierte, keine andere Philosophie als jene, die keine Entschuldigung braucht für Torheiten, die nicht lange währen. Der Gott meines Vaters ist zu ehrfurchtgebietend für mich. Ich konnte ihn nicht im Hain der Daphne finden. Von ihm war keine Rede in Rom. Aber, Sohn Hurs, ich habe einen Wunsch.« »Einen Wunsch? Welcher Mensch hätte keine Wünsche?« 399

»Ich will ihn dir anvertrauen.« »Sag ihn mir!« »Er ist sehr einfach: Ich möchte dir helfen.« Sie war nahe zu ihm getreten. Er lachte: »O Ägypten! Beina­ he hätte ich gesagt, geliebtes Ägypten! Wohnt nicht die Sphinx in deinem Lande? Du bist eines ihrer Rätsel. Sei gnädig und hilf mir, dich zu verstehen. Worin brauche ich Hilfe? Und wie willst du mir helfen?« Sie entzog ihm ihre Hand und wandte sich zu dem Kamel, dessen gewaltigen Kopf sie streichelte, als wäre er ein Gegen­ stand der Schönheit: »O du unwahrscheinlicher, schnellster und prächtigster Hirte Jakobs! Manchmal strauchelst du, denn der Weg ist rauh und steinig und die Last ist schwer. Wie kommt es, daß du den Sinn der Worte kennst und immer die Antwort leicht machst, auch wenn dir die Hilfe von einer Frau angebo­ ten wird? Ich will dich küssen, du königlicher Unmensch!« – sie berührte seine Stirn mit den Lippen. »Denn in deinem Verstand ist kein Mißtrauen.« Ben Hur antwortete ruhig: »Dein Vorwurf hat mich getrof­ fen, o Ägypten! Wenn ich dir nicht antworten kann, so deshalb, weil ich unter einem Eid stehe und mit meinem Schweigen das Leben und die Güter andrer decke!« »Wohl möglich«, antwortete sie rasch. »Es wird so sein.« Er trat einen Schritt näher zu ihr und fragte sie in höchster Verwunderung: »Was weißt du alles?« Sie lachte: »Warum glauben die Männer, daß die Sinne der Frauen schärfer als die ihren sind? Ich habe dein Gesicht den ganzen Tag vor mir gesehen. Ich brauche dich nur anzusehen, um zu wissen, daß du eine Last in dir trägst. Und um herauszu­ finden, was für eine Last es ist, brauchte ich nur deinen Gesprächen mit meinem Vater zuzuhören. Sohn Hurs, du bist auf dem Wege, den zu finden, der König der Juden sein wird. Nicht wahr?« Ihr Atem berührte seine Wange, sein Herz schlug stark. »Einen König wie Herodes, nur größer«, fuhr sie fort. 400

Er schaute fort, in die Nacht, in die Sterne, dann trafen sich ihre Blicke wieder und hielten sich fest. Und ihr Atem war jetzt auf seinen Lippen, so nahe stand sie bei ihm. »Heute haben wir Gesichte gehabt. Wenn ich dir das meine erzähle, wirst du mir das deine berichten? Wie? Noch immer schweigsam?« Sie schob seine Hand fort und wandte sich, als ob sie davon­ gehen wollte. »Bleib!« sagte er heftig. »Bleib und sprich!« Sie kam zurück, schmiegte sich an ihn, die Hand auf seiner Schulter, er legte den Arm um sie und zog sie ganz eng an sich. Und in der Zärtlichkeit war das Versprechen, das sie erbeten hatte. »Sprich und berichte mir von deinen Gesichten, geliebtes Ägypten! Kein Prophet, nein, nicht einmal der Gesetzgeber, könnte ein Verlangen wie das deine ablehnen. Ich will dir antworten. Sei gnädig, ich bitte dich.« Sie schmiegte sich in seine Umarmung, dann sagte sie lang­ sam: »Das Gesicht, das mich verfolgte, war ein herrlicher Krieg, zu Land und zur See, mit Waffenlärm von Armeen, als ob Cäsar und Pompejus wiedergekommen wären und Octavius und Antonius. Eine Wolke von Staub und Asche erhob sich und bedeckte die Welt, Rom war nicht mehr, alle Provinzen waren zum Osten zurückgekehrt. Aus der Wolke trat eine andere Art von Helden und es wurden größere Länder und Kronen verteilt als je. Und als das Gesicht verging, stellte ich mir die Frage, Sohn Hurs: Was könnte dem nicht zustehen, der dem König am frühesten und besten gedient hat?« Wieder schauerte Ben Hur. Es war die Frage, die er in all diesen Tagen in sich getragen hatte. Jetzt schien es ihm, als habe er den Schlüssel, den er brauchte. »So«, sagte er, »jetzt habe ich dich. Der Satrapenthron und Kronen sind Dinge, zu denen du mir helfen willst. Ich verstehe. Und noch nie hat es eine Königin gegeben wie dich, so 401

schön, so klug, so königlich – noch nie! Aber, geliebtes Ägyp­ ten! Deine Gesichte zeigen mir, daß der Preis für das alles Krieg ist. Und du bist nur eine Frau, obwohl dich Isis aufs Herz geküßt hat. Und Kronen sind die glänzenden Gaben für deine Hilfe; für dich gibt es einen gewisseren Weg dorthin als mit dem Schwert. Wenn es so ist, Ägypten, so zeige ihn mir, und ich will ihn mit dir gehen, wenn auch nur zu deinem Schutz.« »Leg dein Gewand in den Sand, ich will mich an das Kamel legen. Ich will sitzen und dir eine Geschichte erzählen, die vom Nil nach Alexandria gekommen ist.« Er tat, wie ihm geheißen und steckte den Speer neben sich in den Boden: »Und was soll ich tun? Pflegen die Zuhörer in Alexandria zu sitzen oder zu stehen?« »Sie tun das, was ihnen gefällt.« Ohne Zögern legte sich Ben Hur in den Sand, ihren Arm um seinen Hals. Und sie erzählte ihm mit leiser Stimme die Ge­ schichte von Isis und Osiris, und wie die Schönheit auf die Erde kam. Ben Hur hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und ihre Hand an seine Lippen geführt. »Du wirst den König finden«, sagte sie und legte die andere Hand auf seine Stirn: »Du wirst weitergehen, den König finden und ihm dienen. Mit deinem Schwert wirst du seine reichsten Gaben erwerben, und sein bester Soldat wird mein Held sein.« Er wandte ihr sein Gesicht zu, ihre Augen hatten einen stär­ keren Glanz als alle Sterne am Himmel. Er richtete sich auf, umarmte sie und küßte sie leidenschaftlich: »O Ägypten! Ägypten! Wenn der König Kronen unter seinen Gaben hat, so wird eine mein sein. Und ich will sie dir bringen und sie auf die Stirn setzen, die meine Lippen berührt haben. Du sollst eine Königin sein – meine Königin –, und ich will für immer glück­ lich sein.« »Und du wirst mir alles sagen und mich dir in allem helfen lassen?« fragte sie und küßte ihn wieder. 402

»Ist es nicht genug, daß ich dich liebe?« »Vollkommene Liebe fordert vollkommenes Vertrauen. Aber laß nur! Du wirst mich bald besser kennen.« Sie erhob sich. »Du bist grausam«, sagte er. Sie trat zu dem Kamel und berührte seine Stirn mit ihren Lippen: »O du Edelstes deiner Art! In deiner Liebe ist kein Mißtrauen.« Dann war sie gegangen.

In Bethabara Am dritten Tag ihrer Reise rastete die Gesellschaft mittags am Flusse Jabbok, wo sich hundert und mehr Männer, meist aus Peräa, zusammengefunden hatten, um sich und ihre Tiere auszuruhen. Sie waren kaum abgestiegen, als ein Mann mit einem Krug und Becher auf sie zutrat und ihnen Wasser anbot. Sie nahmen es dankend an. Der Mann sagte: »Ich komme vom Jordan, wo sich eine große Menge zusam­ mengefunden hat; aber ein so schönes Tier habe ich noch nie gesehen. Ein edles Tier. Darf ich fragen, von welcher Rasse?« Balthasar gab ihm Auskunft und schwieg dann. Ben Hur fragte: »In welcher Gegend des Jordans sind die Leute?« »Bei Bethabara.« »Das war doch immer ein einsamer Ort. Ich begreife nicht, wie er so wichtig werden konnte.« »Ich merke, daß auch du von weit her kommst und noch nichts von der guten Botschaft gehört hast.« »Von welcher Botschaft?« »Es ist ein Mann aus der Wüste erschienen, ein sehr heiliger Mann, der eine neue Lehre verkündet, die alle, die sie hören, in 403

Staunen versetzt. Er nennt sich Johannes, Sohn des Zacharias, und sagt, er sei ein Vorläufer des Messias.« Sogar Iras hörte aufmerksam zu. »Man erzählt von diesem Mann, daß er von seiner Kindheit an in einer Höhle bei En-Gedi gelebt und unter Gebet und Fasten größere Kasteiungen geübt habe, als die Essäer. Große Mengen Menschen gehen zu ihm, um ihn predigen zu hören. Auch ich habe ihn angehört.« »Sind alle diese deine Freunde dort gewesen?« »Die meisten sind auf dem Wege dahin, einige waren schon dort.« »Was predigt er?« »Eine neue Lehre, wie sie nie vorher in Israel verkündet worden ist, alle sagen das. Er nennt sie die Lehre von der Buße und Taufe. Die Rabbis wissen nicht, was sie von ihm halten sollen. Einige fragen ihn, ob er Christus oder Elias sei. Allen antwortet er: ›Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste, bereitet dem Herrn einen Weg!‹ « Der Fremde wurde von seinen Gefährten gerufen. Als sie sich verabschiedeten, fragte ihn Balthasar: »Sag uns, guter Mann, ob wir den Prediger noch an dem Ort finden, wo du ihn sahst?« »Ja, in Bethabara.« »Wer kann dieser Johannes anders sein, als der Herold des neuen Königs?« sagte Ben Hur. Ihm schien die Tochter mehr Interesse für den geheimnisvollen Mann zu nehmen als ihr Vater. Aber Balthasar erhob sich: »Laßt uns eilen, ich bin nicht müde.« Sie brachen auf und legten ihren Weg eilig zurück. Ohne viel Reden verständigten sie sich, daß sie in der Nacht westlich von Ramoth-Gilead rasten wollten. »Wir wollen früh aufbrechen, Sohn Hurs. Es kann sein, daß der Erlöser kommt und wir sind nicht dort.« »Der König kann nicht weit von seinem Herold sein«, flü­ 404

sterte Iras, als sie auf das Kamel stieg. »Morgen werden wir sehen«, sagte Ben Hur und küßte ihre Hand. Am nächsten Morgen um die dritte Stunde, als sie aus dem Hohlweg herauskamen, der sich am Berge Gilead hinzieht, kamen sie auf die öde Ebene östlich des Jordan. Jenseits erblickten sie die obere Grenze der alten Palmenwälder von Jericho, die sich bis in die Gebirgsgegend Judäas erstreckten. Ben Hurs Blut rann schneller; denn er wußte, daß der Ort nahe war. Der Führer trieb das Kamel an. Bald sahen sie Zelte, Hütten und angebundene Tiere und dann, an beiden Ufern des Flusses, eine große Menge. Da sie hofften, sie würden Johan­ nes predigen hören, beeilten sie sich. Aber gerade als sie dort angekommen waren, kam eine Bewegung in die Menge und sie zerstreute sich. Sie waren zu spät gekommen! Balthasar rang die Hände. »Wir wollen hierbleiben«, sagte Ben Hur, »der Prediger könnte hier vorbeikommen.« Die Leute waren zu sehr mit dem beschäftigt, was sie gehört hatten, als daß sie auf die Neuangekommenen geachtet hätten. Hunderte zogen vorüber, und es schien so, als würden die drei diesmal den Prediger nicht mehr hören. Aber dann kam ein Mann vom Fluß her auf sie zu, dessen Erscheinung so seltsam war, daß sie alles um sich her vergaßen. Er sah fast rauh und verwildert aus mit seinem hageren schmalen Gesicht, das braun wie altes Pergament war. Über die Schultern und den Rücken fielen ihm wirre Locken. Seine Augen hatten einen auffallenden Glanz. Seine rechte Seite war nackt, von derselben Farbe wie sein Gesicht und ebenso hager; ein Gewand aus rauhen Kamelhaaren, so rauh wie Beduinen­ zelte, hing ihm über seiner linken Schulter bis zum Knie herab, es wurde von einem breiten Gürtel aus ungegerbtem Leder gehalten. Seine Füße waren nackt, am Gürtel war eine Lederta­ sche befestigt. Er hielt einen langen Stab in der Hand. Seine 405

Bewegungen waren rauh, kurz und äußerst wachsam. Von Zeit zu Zeit strich er sich das widerspenstige Haar aus der Stirn und blickte sich forschend um, als ob er jemand suchte. Die junge Ägypterin betrachtete den Sohn der Wüste mit Staunen, wenn nicht mit Abscheu. Dann hob sie den Vorhang des Zeltes und fragte Ben Hur: »Ist das der Herold deines Königs?« »Es muß der Wüstenprediger sein«, antwortete er, ohne auf­ zublicken. In Wahrheit war er selbst mehr als enttäuscht. Trotz seiner Vertrautheit mit den asketischen Bewohnern von EnGedi, die sich in ihrer Kleidung und ihren Bußwerken so sehr von anderen Einwohnern unterschieden, und obwohl er gewußt hatte, daß er eine Stimme aus der Wüste hören werde, hatte er doch gehofft, daß der Vorläufer irgendein Zeichen der Größe und Macht seines Königs tragen werde. Er konnte nicht umhin, einen Vergleich anzustellen mit der großen Schar von Höflin­ gen, die er in Rom in den Thermen oder in den Korridoren des Kaiserlichen Palastes gesehen hatte. Beschämt, verlegen und verwirrt konnte er nur antworten: »Es ist der Herold.« Anders Balthasar. Die Wege Gottes, das wußte er, sind nicht der Menschen Wege. Er hatte den Erlöser als Kind in der Krippe gesehen, und in seinem Glauben wußte er, daß er Armut und Einfachheit in der göttlichen Wiederkunft erwarten mußte. So blieb er ruhig auf seinem Kamel sitzen, die Hände auf der Brust gekreuzt, die Lippen im Gebet bewegt. Er erwar­ tete keinen König. Als die drei so Verschiedenes beim Anblick des Predigers empfanden, hatte sich ein Mann von einem Stein am Ufer des Flusses erhoben und war auf den Prediger zuge­ gangen. Etwa zwanzig Meter vor dem Kamel blieben beide stehen. Der Prediger strich sich das Haar aus der Stirn und schaute den Fremden an. Dann hob er die Hand, als wolle er allen ein Zeichen geben. Alle blieben stehen und lauschten, und als vollkommene Stille eingetreten war, senkte sich der Stab in der Hand des Predigers und deutete auf den Fremden. 406

Im selben Augenblick und unter dem gleichen Impuls richte­ ten sich Balthasars und Ben Hurs Augen auf den Mann, auf den des Predigers Stab wies. Seine Gestalt war etwas größer als das Mittelmaß, er war schlank und zart, seine Miene war ruhig und sinnend wie die eines Mannes, der viel über ernste Dinge nachgedacht hat. Sie paßte gut zu seiner Kleidung, die aus einem gewebten Untergewand bestand, das bis zu den Knö­ cheln reichte, und dem gebräuchlichen Obergewand, dem Talith, aus weißem Leinen mit einem schmalen blauen Saum, das durch den Straßenstaub gelblich erschien. Über dem linken Arm trug er das Kopftuch, dessen rote Stirnbinde lose an der Seite herabhing. Die Quasten an seinem Kleid waren blau und weiß, wie es das Gesetz für die Rabbis vorsieht. Er trug Sanda­ len der einfachsten Art und sonst weder Tasche noch Gürtel oder Stab. Einzig das Haupt und Angesichts des Mannes hielt die drei in Bann, ebenso die Menge umher. Das Haupt war unbedeckt, das lange, goldbraune, etwas ge­ lockte Haar war in der Mitte gescheitelt. Unter einer breiten Stirn strahlten, von schwarzen, schön geformten Brauen überwölbt, große dunkelblaue Augen, denen lange Wimpern, wie man sie viel bei Kindern, selten bei Männern findet, einen sehr weichen und zarten Ausdruck verliehen. Die Gesichtszüge ließen Zweifel aufkommen, ob es sich um einen Griechen oder einen Juden handelte; die Feinheit der Nasenflügel und des Mundes waren eher griechisch. Güte strahlte aus den Augen, seine Züge waren blaß, das feine Haar, der weiche Bart, der in Wellen über die Kehle bis auf die Brust fiel – selbst ein Soldat hätte nie über diesen Mann gelacht. Jede Frau hätte ihm ver­ traut, jedes Kind ihm seine Hände gegeben. Keiner hätte sagen können, es sei nicht Schönheit in ihm. Eine sündenlose Seele schaute aus diesen Augen und Zügen. Er kam immer näher, näher zu den drei. Ben Hur auf seinem stolzen Pferd, den Speer in der Hand, hätte die Aufmerksam­ 407

keit eine Königs erregt; aber der Blick des Nahenden ruhte nicht auf ihm, nicht auf Iras, sondern auf dem greisen Baltha­ sar. Die tiefste Stille herrschte. Da erhob der Prediger, noch immer mit dem Stab auf den Fremden weisend, laut seine Stimme: »Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!« Der Eindruck dieser Worte war unbeschreiblich; auf Baltha­ sar wirkten sie überwältigend. Es war ihm vergönnt, den Erlöser der Menschheit noch einmal zu sehen! Der Glaube, der ihm vor so langer Zeit die ersten Vorrechte gegeben, wohnte noch immer in ihm. Er gab ihm die Kraft, zu erkennen, wer in der Erscheinung des Mannes vor ihm stand: der Inbegriff, das vollkommene Bild seines Glaubens. Und nun mußte sich etwas ereignen, um den Fremden auch als das zu bezeichnen. Und es ereignete sich. Genau in dem Augenblick, als wolle er den bebenden Baltha­ sar bestätigen, rief der Prediger noch einmal: »Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!« Balthasar fiel auf die Knie, er bedurfte keiner Erklärung mehr; und als wisse das der Prediger, wandte er sich an die Umstehenden: »Dieser ist es, von dem ich sagte, daß nach mir kommen wird ein Mensch, der vor mir gewesen ist, und ich erkannte ihn nicht. Aber damit er von Israel erkannt würde, bin ich gekommen, um mit Wasser zu taufen. Ich sah den Geist vom Himmel herabkommen in Gestalt einer Taube und über ihm schweben. Und ich erkannte ihn nicht. Aber jener, der mich sandte, um mit Wasser zu taufen, der sagte zu mir: ›Über welchen du den Geist herniederkommen und über ihm verwei­ len siehst, das ist der, der mit dem Heiligen Geist taufen wird.‹ Und ich sah und bezeuge, daß dieser« – und noch immer wies sein Stab auf den Fremden –, »daß dieser der Sohn Gottes ist.« »Er ist es, er ist es!« rief Balthasar mit tränennassen Augen; 408

dann fiel er ohnmächtig nieder. Ben Hur hatte das Gesicht des Fremden mit ganz anderen Gedanken betrachtet. Er war nicht unempfindlich für die Reinheit seiner Züge, ihre Zartheit, Demut und Heiligkeit; aber in diesem Augenblick konnte er keinen anderen Gedanken fassen als den: Wer ist dieser Mann, und was ist er? Messias oder König? Nie war ihm eine Gestalt unköniglicher erschie­ nen. Nein, wenn man auf seine Ruhe, seine milde Erscheinung sah, so kam einem der Gedanke an Krieg und Eroberung und Herrschsucht wie eine Entweihung vor. Er sagte sich, als ob er zu seinem eigenen Herzen spräche: Balthasar hat recht, Simo­ nides ist im Irrtum. Dieser Mann ist nicht gekommen, um den Thron Salomons wieder aufzurichten; er hat weder die Natur noch die Anlagen eines Herodes; er mag ein König sein, aber nicht über ein Reich, das größer und herrlicher ist als das Roms. Während Ben Hur noch das wunderbare Antlitz betrachtete, begann er in seinem Gedächtnis zu forschen: Ganz gewiß habe ich diesen Menschen schon gesehen, aber wo und wann? Schwach zuerst, aber zuletzt ganz klar kam ihm die Erinnerung an jene Begebenheit am Brunnen von Nazareth, als die Solda­ ten ihn auf die Galeere brachten. Sein ganzes Wesen erbebte. Das waren die Hände, die ihm geholfen hatten, als er am Verschmachten war. Das war das Antlitz, dessen Bild seither niemals aus seinem Geist entschwunden war. In dieser Erschüt­ terung waren ihm die Worte des Predigers entgangen, alle bis auf die letzten:… das ist der Sohn Gottes. Ben Hur stieg vom Pferde, um seinem Wohltäter seine Ehr­ furcht zu bezeigen. Aber im selben Augenblick rief Iras: »Hilf, Sohn Hurs, hilf, oder mein Vater stirbt!« Er hielt inne, blickte zurück und kam ihr zu Hilfe. Sie gab ihm den Becher, und während der Äthiopier das Kamel auf die Knie brachte, lief er zum Fluß, um Wasser zu holen. Als er zurückkam, war der Fremde entschwunden. Endlich kam 409

Balthasar wieder zum Bewußtsein. Er erhob seine zitternden Hände und fragte: »Wo ist er?« »Wer?« fragte Iras. »Er – der Erlöser –, der Sohn Gottes, den ich wiedergesehen habe!« »Glaubst du das?« flüsterte Iras Ben Hur zu. »Die Zeit ist voller Wunder, laß uns warten!« war alles, was Balthasar antwortete. Als sie am folgenden Tage der Predigt des Johannes lausch­ ten, brach dieser plötzlich mitten im Wort ab und sagte ehrfurchtsvoll: »Sehet das Lamm Gottes!« Und als sie hinschauten, wohin er deutete, sahen sie wieder den Fremden. Als Ben Hur das heilige Antlitz nochmals betrachtete, dieses Antlitz voller Hoheit und milder Trauer, brach eine neue Erkenntnis in ihm auf: Balthasar hat recht – aber auch Simonides. Kann der Erlöser nicht zugleich König sein? Und er fragte einen der Umstehenden: »Wer ist dieser Mann dort?« Höhnisch lachend erwiderte der: »Er ist der Sohn eines Zimmermanns aus Nazareth.«

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Achtes Buch Gäste im Hause Hur »Esther, Esther, laß mir einen Trunk Wasser heraufbringen!« »Möchtest du nicht lieber Wein, Vater?« »Laß beides bringen!« Es war auf dem Dach des Palastes der Familie Hur in Jerusa­ lem. Von der Brustwehr aus gab Esther den Auftrag an einen untenstehenden Diener. Ein anderer Diener kam in diesem Augenblick auf das Dach und grüßte ehrerbietig. »Eine Sendung für den Herrn.« Er überreichte Esther einen leinenumhüllten, versiegelten Brief. Es war der 21. März, fast drei Jahre nach der Verkündigung Christi in Bethabara. Malluch hatte in der Zwischenzeit im Auftrage Ben Hurs, der dem Verfall und der Leere seines väterlichen Hauses nicht länger zusehen mochte, es von Ponti­ us Pilatus zurückgekauft. Bei der Wiederherstellung der Tore, Höfe, Veranden, Treppen, Terrassen und des Daches war es nicht nur erneuert, sondern mit noch größerer Pracht als zuvor ausgestattet worden; auch jede Erinnerung an die traurige Vergangenheit war völlig ausgelöscht. Überall fand man Zeugnisse für Ben Hurs durch seinen jahrelangen Aufenthalt in der Villa bei Misenum und in Rom geläuterten Geschmack. Ben Hur hatte aber den Besitz seines Eigentums nicht öffent­ lich angetreten, dazu hielt er die Zeit noch nicht für gekommen. Auch seinen wirklichen Namen führte er noch nicht. Er hielt sich mit all den Vorbereitungen in Galiläa auf und harrte geduldig des Nazareners, der ihm von Tag zu Tag geheimnis­ voller erschien. Durch die Wunder, die vor seinen Augen geschahen, blieb er über dessen Sendung und Charakter voller 411

Unruhe und Zweifel. Gelegentlich ging er nach Jerusalem und hielt sich in seinem väterlichen Hause auf, aber noch immer als Fremdling und Gast. Balthasar und Iras hatten Wohnung in seinem Palast genom­ men, und der Reiz der Ägypterin zog ihn noch immer an, während ihr Vater, obwohl er zusehends schwächer wurde, ihn als unermüdlichen Zuhörer fesselte bei seinen Reden über die erstaunlichen Kräfte und die Göttlichkeit des wandernden Wundertäters, dem sie alle so erwartungsvoll entgegensahen. Um diese Zeit waren Simonides und Esther erst vor einigen Tagen aus Antiochia angelangt. Es war eine beschwerliche Reise gewesen; denn man hatte sich einer Sänfte bedienen müssen, die zwischen zwei Kamelen angebracht war. Aber die Tiere hielten nur selten gleichen Schritt. Aber seit er ange­ kommen war, konnte sich der gute Mann an den Schönheiten seiner Heimat nicht satt sehen. Besonders liebte er die Aussicht vom Dach. Deshalb verbrachte er auch dort die meiste Zeit des Tages in seinem Armstuhl. Im Schatten des Sommerhauses atmete er die reine Luft ein, die ihm von den wohlbekannten Bergen der Umgegend zu­ strömte. Dort konnte er den Lauf der Sonne von ihrem Aufgang bis zu ihrem Untergang verfolgen, sich der Liebe seiner Tochter erfreuen und ihrer Mutter gedenken, die im fernen Lande im Schoße der Erde ruhte. Auch hier vergaß er nicht seine Geschäfte. Täglich brachte ihm ein Bote Sanballats, der das Haus in Antiochia leitete, Nachrichten über den Stand der großen Unternehmungen. Täglich sandte er so genaue Anweisungen, daß sie jedes andere Urteil ausschlossen und alle nur möglichen Zufälle in Erwägung zogen, mit Ausnahme jener, die der Allmächtige der menschlichen Berechnung entzogen hat. Als sich Esther ins Sommerhaus zurückbegab, fiel das Son­ nenlicht auf sie, so daß man erkennen konnte, daß sie wundervoll erblüht war, klein, graziös, mit regelmäßigen 412

Zügen, jung und gesund, klug und schön und voller Hinge­ bung, ein junges Weib, das geliebt zu werden verdiente, da Liebe ihr Wesen war. Sie betrachtete das Päckchen zuerst flüchtig, dann hielt sie inne und besah es genauer. Das Blut schoß ihr in die Wangen, denn sie hatte Ben Hurs Siegel erkannt. Rasch ging sie weiter. Auch Simonides besah das Päckchen eine Weile, nachdem Esther es ihm überreicht hatte. Er untersuchte das Siegel, öffnete es und gab ihr die darin enthaltene Rolle. »Lies!« In seinem Gesicht spiegelte sich, während er sie anschaute, eine nicht zu verbergende Unruhe. »Du weißt, von wem dieser Brief kommt, Esther?« »Ja – von unserem Gebieter!« Trotz ihrer Befangenheit begegnete sie dem auf sie gerichte­ ten Blick mit ruhiger Bescheidenheit. »Du liebst ihn, Esther?« fragte er ernst. »Ja!« »Hast du gut überlegt, was du tust?« »Ich habe mich immer bemüht, seiner nur als unseres Gebie­ ters zu gedenken, dem ich pflichtgemäß angehöre. Aber ich war nicht stark genug.« »Du bist ein liebes Kind, Esther, und gleichst deiner Mutter. Der Herr verzeihe mir; aber deine Liebe wäre nicht ver­ schwendet, hätte ich das behalten können, was mir einmal gehörte. Das Geld hat große Macht.« »Es hätte mich in eine schlimmere Lage gebracht; denn dann wäre ich seiner Beachtung unwürdig gewesen und ohne Stolz auf dich. Soll ich jetzt lesen?« »Noch einen Augenblick! Ich will dir das Schlimmste sagen – um deinetwillen, mein Kind! Seine Liebe ist bereits verge­ ben!« »Ich weiß es«, sagte sie ruhig. »Die Ägypterin hat ihn in ihrem Netz. Sie besitzt die List ihres Volkes und dazu die Schönheit: große List, große Schön­ 413

heit; aber wie ihr Volk, hat sie kein Herz. Die Tochter, die ihren Vater verachtet, wird auch ihren Gatten betrüben.« »Tut sie das, Vater?« »Balthasar ist ein Weiser, der für einen Heiden wunderbar begnadet wurde. Sein Glaube ziert ihn, sie aber verlacht diesen Glauben. Ich hörte sie sagen: ›Die Verirrungen der Jugend sind entschuldbar, dem Alter aber ziemt Weisheit; verliert ein Greis die Weisheit, so sollte er sterben.‹ Eine grausame Sprache, die eines Römers würdig ist! Ich wandte sie auf mich an, denn ich weiß, daß auch bei mir, wie bei ihrem Vater, eine Schwäche nicht ausbleiben wird, nein, sie kann sogar bald eintreten. Aber du, Esther, du wirst niemals von mir sagen: ›Es wäre besser, er würde sterben.‹ Nein, denn deine Mutter war eine Tochter Judas.« »Ich bin meiner Mutter Kind.« Die Tränen stiegen ihr auf, und sie küßte ihn. »Ja, und meine Tochter! Meine Tochter, die mir alles das ist, was der Tempel dem Salomo war.« Simonides legte seine Hand auf die Schulter seiner Tochter. Beide schwiegen eine Weile. »Wenn er die Ägypterin als Gattin heimgeführt hat, Esther, dann wird er mit Wehmut und Reue deiner gedenken. Denn er wird erkennen müssen, daß sie ihn nur als Diener ihrer schlech­ ten Begierden betrachtet. Rom ist der Mittelpunkt ihres Denkens. Für sie ist er Arrius, der Sohn des Duumvirs, nicht der Sohn Hurs, des Fürsten von Jerusalem.« Esther versuchte nicht, die Wirkung dieser Worte zu unter­ drücken: »Rette ihn, Vater. Es ist noch nicht zu spät!« bat sie. Ein zweifelndes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ein Ertrin­ kender läßt sich retten, ein Verliebter niemals.« »Aber du hast Einfluß auf ihn. Er steht allein in der Welt. Zeige ihm die Gefahr, die ihm droht. Sage ihm, was für ein Weib sie ist!« »Vielleicht könnte ich ihn vor ihr retten. Aber Esther, würde 414

es ihn dir zuführen? Nein!« Seine Brauen verdunkelten ihm die Augen. »Ich bin ein Leibeigener, wie meine Väter es seit vielen Geschlechtern waren; ich darf ihm nicht sagen: ›Gebieter, sieh meine Tochter! Sie ist schöner als die Ägypterin und liebt dich inniger.‹ – Dazu habe ich zu lange gelebt und zu viel gesehen. Nie werden solche Worte über meine Lippen kommen. Die Steine auf den alten Bergen würden sich umdrehen aus Scham. Nein, Esther, bei den Vätern, lieber wollte ich uns beide zu deiner Mutter zum Schlaf legen.« Tiefe Röte überzog Esthers Gesicht. »Ich wollte dich nicht bitten, ihm das zu sagen. Ich dachte nur an ihn – an sein Glück, nicht an meins. Weil ich ihn zu lieben wagte, will ich mich auch seiner Achtung würdig erwei­ sen. Denn nur so kann ich meine Torheit entschuldigen. Doch jetzt laß mich seinen Brief lesen.« Esther begann sofort, um den peinlichen Gegenstand zu übergehen: Am 8. Nisan Auf der Straße von Galiläa nach Jerusalem. Der Nazarener ist auf demselben Wege. Ich folge ihm ohne sein Wissen mit meiner vollzähligen Legion. Eine zweite Legion folgt. Das Osterfest erklärt die Ansammlung einer solchen Menge. Als sich der Nazarener auf den Weg begab, sagte er: »Siehe, sie gehen hinauf nach Jerusalem, damit alles in Erfül­ lung gehe, was die Propheten von mir vorausgesagt haben.« Unser Harren geht dem Ende zu. In Eile. Friede mit dir, Simonides! Ben Hur. Esther reichte den Brief ihrem Vater zurück, sie konnte die Tränen nur mühsam zurückhalten. Der Brief enthielt nicht ein 415

Wort an sie, nicht einmal im Gruß war sie eingeschlossen. Und es wäre doch so leicht gewesen, zu schreiben: »Friede sei mit dir und deiner Tochter!« Zum ersten Male in ihrem Leben fühlte sie die Qualen der Eifersucht. »Der achte Nisan«, wiederholte Simonides, »der achte; den wievielten haben wir heute?« »Den neunten!« »Sie könnten also jetzt in Bethanien sein.« »Und womöglich werden wir ihn heute abend hier sehen«, fügte Esther freudig hinzu und vergaß ihre Bedrückung. »Gut möglich, gut möglich! Morgen ist das Fest der unge­ säuerten Brote, vielleicht will er es hier feiern, vielleicht auch der Nazarener. Und wir werden ihn sehen, vielleicht beide, Esther.« In diesem Augenblick brachte der Diener den Wein und das Wasser. Während Esther ihren Vater bediente, betrat Iras das Dach. Noch nie war sie den Augen Esthers so schön erschienen als eben jetzt. Ein florähnliches Gewand umhüllte sie wie eine Wolke. Stirn, Hals und Arme funkelten von schweren Juwelen. Ihr Gesicht strahlte, ihr Gang war selbstbewußt, elastisch, doch ohne Ziererei. Esther schien bei ihrem Anblick zurückzu­ schrecken und schmiegte sich enger an ihren Vater. »Friede sei mit dir, Simonides, und mit dir, schöne Esther! Du erinnerst mich, greiser Freund, an die persischen Priester, die sich um die Neige des Tages auf die Dächer zurückziehen, um von dort aus der untergehenden Sonne ihre Gebete nachzu­ senden. Wenn du diese Art der Gottesverehrung noch nicht kennst, dann will ich meinen Vater rufen. Er stammt von Magiern ab.« Der Greis neigte mit ernster Höflichkeit das Haupt: »Schöne Ägypterin, dein Vater ist ein guter Mann, der nicht beleidigt sein würde, wenn ich ihm sagte, daß sein persisches Wissen der geringste Teil seiner Weisheit sei.« 416

Iras verzog kaum merklich die Lippen. »Ich will wie du philosophisch sprechen. Der geringere Teil setzt stets einen größeren voraus. Darf ich deshalb fragen, was du für den größeren Teil der seltenen Eigenschaft hältst, die du meinem Vater zuschreibst?« »Die wahre Weisheit strebt immer nach Gott. Die höchste Weisheit ist die Kenntnis Gottes. Und im Kreise derer, die ich kenne, besitzt diese Weisheit niemand in höherem Grade oder zeigt sie besser in Rede und Tat als der gute Balthasar.« Er hob den Becher zum Munde und trank, zum Zeichen, daß das Gespräch beendet sei. Die Ägypterin wandte sich ein wenig beleidigt an Esther. »Ein Mann, der Millionen besitzt und ganze Flotten auf dem Meere hat, kann nicht verstehen, was uns einfältigen Frauen gefällt. Wir wollen ihn sich selbst überlassen. Dort in der Mauerecke können wir ungestört plaudern.« Sie gingen zur Brustwehr und blieben an der Stelle stehen, wo Ben Hur vor Jahren den zerbrochenen Ziegel zu Fall gebracht hatte, der den Prokurator auf den Kopf traf. Iras spielte mit ihrer geöffneten Armspange:

»Warst du noch nie in Rom?«

»Nein«, antwortete Esther zurückhaltend.

»Hast noch nie den Wunsch gehabt, hinzugehen?«

»Nein!«

»Oh, wie leer ist doch dein Leben!«

Der Seufzer, mit dem die Ägypterin das sagte, hätte nicht

mitleidiger sein können, wenn sie sich selbst statt Esther gemeint hätte. Doch im nächsten Augenblick lachte sie so laut, daß man es unten auf der Straße hören konnte. »Oh, oh, liebe kleine Einfalt! Die halbflüggen Vögel im Ohr der Sphinx in der Wüste von Memphis wissen beinahe soviel wie du!« Als sie Esthers abweisende Verschlossenheit bemerkte, än­ derte sie ihre Haltung und sprach in zutraulichem Tone: »Du 417

mußt dich nicht beleidigt fühlen, o nein, ich rede nur im Scherz. Laß mich die Wunde küssen und dir etwas anvertrauen, was ich sonst niemand sagen würde.« Wieder lachte sie und überdeckte damit den scharfen Blick, den sie Esther zuwarf. »Der König kommt!« Esther blickte sie mit unschuldigem Staunen an. »Der Nazarener, er, von dem unsere Väter so viel zu reden wissen, er, dem Ben Hur schon so lange dient und für den er sich abmüht; der Nazarener wird morgen hier sein – und Ben Hur noch heute nacht.« Esther hätte gern ihren Gleichmut bewahrt, brachte es aber nicht fertig. Sie senkte die Augen, und ein verräterisches Rot färbte ihr Wangen und Stirn. Das triumphierende Lächeln, das über das Gesicht der Ägypterin huschte, entging ihr. »Sieh hier sein Versprechen!« Mit diesen Worten zog Iras eine Rolle aus ihrem Gürtel. »Freue dich mit mir, Freundin. Heute abend wird er hier sein. Am Tiber steht ein Haus, ein königlicher Palast, der mir als seiner Herrin gehören soll…« Schnelle Schritte, die von der Straße heraufkamen, unterbra­ chen ihre Rede. Sie beugte sich über die Brustwehr und schaute hinunter. Dann trat sie schnell zurück und rief, die Hände über ihrem Kopf hebend: »Gepriesen sei Isis! Er ist es, Ben Hur ist gekommen! Daß er gerade in dem Augenblick kommt, in dem ich an ihn dachte! Es gibt keine Götter, wenn das nicht ein gutes Zeichen ist! Umarme mich – küsse mich, Esther!« Die Jüdin blickte auf. Ihre Wangen brannten, und ihre Augen flammten zornig. Ihre Sanftmut war zu sehr auf die Probe gestellt worden. War es nicht schon genug, daß sie an den Mann, den sie liebte, nur im flüchtigen Traume denken durfte? Mußte ihr noch eine prahlerische Nebenbuhlerin im Vertrauen davon reden, daß sie besseren Erfolg hatte und größere Ver­ sprechen? Ihrer, der leibeigenen Tochter des Leibeigenen, hatte er nicht gedacht, jene aber konnte seinen Brief vorzeigen und sie über den Inhalt Vermutungen anstellen lassen. 418

»Liebst du ihn selbst so sehr, oder liebst du Rom mehr?« Die Ägypterin wich einen Schritt zurück. Dann beugte sie stolz den Kopf zu Esther hinab. »Was liegt denn dir an ihm, Tochter des Simonides?« Esther wollte erregt antworten: Er ist mein! – Sie sprach das Wort nicht aus, sie zitterte, erblaßte und antwortete, als sie sich erholt hatte: »Er ist meines Vaters Freund.« Das Bekenntnis ihrer Leibeigenschaft wollte nicht über ihre Lippen. Iras lachte strahlender als zuvor: »Sonst nichts? Oh, bei den Liebesgöttern Ägyptens, du kannst deine Küsse behal­ ten. Bessere warten auf mich hier in Judäa.« Sie wandte sich um und sagte, über ihre Schulter zurückschauend: »Ich gehe, sie mir zu holen. Friede mit dir!« Esther sah sie die Treppe hinabsteigen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Es waren Tränen der Beschämung, Tränen der unterdrückten Leidenschaft. Und wie um die heftige, ihr so fremde Bewegung zu verstärken, kamen ihr in einer neuen Bedeutung ihres Vaters Worte in den Sinn: »Deine Liebe wäre nicht verschwendet, hätte ich alles behalten, was ich hatte, wie es in meiner Macht stand.« Ehe sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie ins Sommerhaus zurückgehen konnte, um dort ihren gewohnten Platz an der Seite des Vaters einzunehmen, standen die Sterne am Himmel. An der Seite des Vaters zu sein, seine Wünsche zu erfüllen, das erschien ihr als die einzige Aufgabe ihres Lebens. Und als nun der stechende Schmerz nachließ, kehrte sie nicht ungern zu dieser Pflicht zurück.

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Ben Hur erzählt vom Nazarener Ungefähr eine Stunde später kamen Balthasar und Simoni­ des, den Esther begleitete, im großen Saale des Palastes zusammen. Und als sie miteinander sprachen, kamen auch Ben Hur und Iras zusammen herein. Ben Hur ging seiner Begleiterin voran und zuerst auf Baltha­ sar zu, grüßte ihn und erhielt den Gegengruß, dann wandte er sich Simonides zu, zögerte aber, als er Esther sah. Ihre zur Vollkommenheit erblühte weibliche Anmut erinnerte ihn an unerfüllte Erwartungen und Pflichten gegen die Seinen, aber auch an frühere Gefühle gegen sie selbst. Schnell über­ wand er die Überraschung und ging auf Esther zu. »Friede sei mit dir, süße Esther, und mit dir, Simonides! Der Segen des Herrn ruhe auf dir, weil du dem Vaterlosen ein gütiger Vater warst.« Esther stand mit gesenkten Augen vor ihm. Simonides ant­ wortete: »Ich wiederhole den Willkommengruß des guten Balthasar, Sohn Hurs, willkommen im Hause deiner Väter. Setz dich und erzähle uns von deinen Wanderungen und deiner Arbeit und von dem wunderbaren Nazarener, wo er ist und was er tut. Setz dich zwischen uns, damit alle es hören können.« Esther brachte ihm einen Stuhl. Er dankte ihr und setzte sich. »Ich bin gekommen, um euch vom Nazarener zu erzählen. Kürzlich folgte ich ihm mehrere Tage und beobachtete ihn mit größter Aufmerksamkeit. Ich sah ihn unter allen jenen Verhält­ nissen, die man als Proben und Prüfungen eines Menschen ansehen kann. Und ich kam zu dem Schlusse, daß er, obgleich er ein Mensch ist, wie ich einer bin, dennoch mehr ist als ein Mensch.« »Wieso mehr?« fragte Simonides. »Ich will es dir sagen.« Ben Hur hörte, daß jemand das Zimmer betreten hatte, er blickte sich um und erhob sich mit ausgestreckten Händen. 420

»Amrah! Liebe alte Amrah!« rief er. Sie kam auf ihn zu; Freude verklärte ihr Gesicht. Zu seinen Füßen niederkniend, umfing sie seine Knie und küßte seine Hände. Er strich ihr das graue Haar aus der Stirn und küßte sie auf die Wange: »Gute Amrah, hast du mir nichts von ihnen zu berichten – kein Wort, nicht ein kleines Zeichen?« Sie schluchzte nur auf, und das sagte ihm mehr als Worte. »Gottes Wille geschehe!« Der Ton seiner Stimme verriet, daß er alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Seinen je wiederzuse­ hen. Tränen standen ihm in den Augen. Nachdem er seine Rührung bewältigt hatte, nahm er wieder seinen Platz ein. »Komm, Amrah, setz dich zu mir. Nein? Dann also zu mei­ nen Füßen! Ich habe meinen guten Freunden vieles von einem wunderbaren Manne zu erzählen, der in die Welt gekommen ist.« Sie ging jedoch abseits und setzte sich, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, auf den Boden, schlang die Hände um die Knie und war sichtbar glücklich und zufrieden, Ben Hur sehen und hören zu dürfen. »Ich kann eure Frage über den Nazarener nicht beantworten, bevor ich nicht einiges über die Dinge berichtet habe, die ich ihn tun sah. Ich tue das um so lieber, weil er morgen in unsere Stadt kommen und den Tempel besuchen wird, den er seines Vaters Haus nennt. Dort, heißt es, wird er sich verkündigen. Morgen also werden wir und Israel erfahren, ob du, Balthasar, oder du, Simonides, recht hast.« Balthasar hatte seine zitternden Hände gefaltet und fragte: »Wohin muß ich gehen, um ihn zu sehen?« »Es wird ein großes Gedränge geben. Deshalb halte ich es für das beste, wenn du auf das Dach der Vorhalle Salomons gehst.« »Kannst du uns begleiten?« »Nein, denn ich muß mit meinen Leuten der Prozession bei­ 421

wohnen.« »Der Prozession? Reist er denn im Triumphzug?« Ben Hur hatte den Gedankengang dieser Frage, die Simoni­ des stellte, verstanden. »Er hat zwölf Männer bei sich, Fischer, Landsleute und einen Zöllner, alles Leute der niederen Klasse. Er und sie reisen zu Fuß, unbekümmert um Wind, Kälte, Regen oder Hitze. Wenn ich sie am Wege haltmachen sah, um zu essen oder zu ruhen, dann erinnerten sie mich an Hirten, die zu ihrer Herde gehen, nicht aber an Edelleute oder Könige. Nur wenn der Nazarener sein Haupt entblößt, um den Staub oder den Schweiß abzuwischen, dann erkennt man ihn als ihren Lehrer und Meister, ihren Herrn nicht weniger als ihren Freund. Was würdet ihr von einem Menschen halten, der die Steine zu seinen Füßen in Gold verwandeln könnte und dennoch aus freier Wahl arm bleibt?« »Die Griechen würden ihn einen Philosophen nennen«, warf Iras ein. »Nein, Tochter«, erwiderte Balthasar, »die Philosophen ha­ ben nicht die Macht, solche Dinge zu tun.« »Woher weißt du, daß dieser Mann sie hat?« »Ich sah ihn Wasser in Wein verwandeln«, entgegnete Ben Hur. »Wunderbar, in der Tat wunderbar! Aber noch wunderbarer kommt es mir vor, das er es vorzieht, arm zu bleiben, wenn er reich sein könnte. Ist er wirklich sehr arm?« Auf die Frage des Simonides antwortete Ben Hur: »Er besitzt nichts. Und er beneidet niemand um seinen Besitz. Im Gegen­ teil, er bemitleidet die Reichen. Was würdet ihr aber sagen, wenn ihr gesehen hättet, wie ein Mensch sieben Brote und zwei Fische so vermehrt, daß davon fünftausend Menschen satt werden könnten und noch Körbe voll übrigbleiben? Das sah ich den Nazarener tun!« »Das sahst du ihn tun?« rief Simonides. 422

»Ich sah es und aß von dem Brot und den Fischen. – Und was noch wunderbarer ist: Was würdet ihr von einem Menschen sagen, der eine so große Heilkraft besitzt, daß die Kranken nur den Saum seines Gewandes zu berühren oder ihn von ferne anzurufen brauchen, um geheilt zu werden? Auch davon war ich Zeuge, nicht einmal, sondern öfter. Als wir Jericho verlie­ ßen, riefen zwei Blinde am Wege den Nazarener an. Er berührte ihre Augen, und sie wurden sehend. Als man einen Gichtbrüchigen zu ihm brachte, da sprach er nur: ›Gehe in dein Haus!‹ Und der Mann ging gesund davon. Was sagt ihr dazu?« Simonides wußte darauf nichts zu antworten. »Denkt ihr vielleicht wie manche, die ich sagen hörte, daß alles nur Blendwerk sei? Aber ich will euch noch mehr erzäh­ len. Denkt an den Aussatz, jenen Fluch der Menschheit, der kein anderes Ende kennt als den Tod.« Bei diesen Worten stützte Amrah ihre Hände auf den Boden und erhob sich halb in ihrem Eifer. »Was sagt ihr dazu? In Galiläa kam ein Aussät­ ziger zum Nazarener und rief ihn an: ›Herr, wenn du es willst, kannst du mich reinigen!‹ Er hörte den Ruf und berührte den Aussätzigen mit der Hand: ›Sei rein!‹ Und sogleich war der Mann gesund, genauso gesund wie wir alle, die wir Zeugen des Wunders waren; und wir waren eine große Menge.« Jetzt erhob sich Amrah und hielt ihre wirren Haare mit den dürren Fingern aus den Augen. Ihre Seufzer waren allen schon zu Herzen gegangen, und sie war außer sich. »Ein andermal kamen zehn Aussätzige auf einmal zu ihm, fielen ihm zu Füßen und riefen: ›Meister, Meister, erbarme dich unser!‹ Er sprach: ›Geht hin und zeigt euch den Priestern, ehe ihr dort seid, werdet ihr geheilt sein.‹ « »Und wurden sie geheilt?« »Ja. Als sie auf dem Wege waren, verließ sie die Krankheit, und nur ihre Kleider erinnerten noch daran.« »Solche Dinge hat es nie gegeben – nie in ganz Israel hat man je davon gehört!« sagte Simonides mit gedämpfter Stim­ 423

me. Amrah hatte sich während der Erzählung unbemerkt zur Türe begeben. Jetzt ging sie leise hinaus. Niemand achtete darauf. »Ihr könnt euch vorstellen, daß mich alle diese Begebenhei­ ten, die vor meinen Augen geschahen, tief ergriffen haben. Aber noch hatten meine Zweifel, meine Unruhe, mein Staunen und Bewundern den Höhepunkt nicht erreicht. Ihr wißt, daß die Galiläer ungestüm und heftig sind. Nach jahrelangem Warten, daß er sich erkläre, brannte ihnen das Schwert in der Hand, sie wollten nichts anders als kämpfen. Sie sagten: ›Er zögert, sich zu erklären, wir wollen ihn dazu zwingen!‹ Auch ich brannte vor Ungeduld und sagte mir, wenn er König sein soll, warum nicht jetzt! Die Legionen sind bereit. Als er einmal am Seeufer lehrte, gingen wir hin und wollten ihn mit Gewalt zum König krönen. Er aber verschwand aus unserer Mitte, und als wir ihn wiedersahen, da war er auf dem See in einem Schiff, das vom Ufer abstieß. Guter Simonides, alles, wonach andere gieren: Reichtum, Macht, selbst Königtum, das ihm die Liebe eines Volkes anbietet, berührt ihn nicht im geringsten. Was sagst du dazu?« Der Handelsherr hielt eine Weile seinen Kopf gesenkt, dann blickte er auf. »Der Herr lebt und auch die Worte seiner Pro­ pheten. Die Zeit ist reif. Morgen werden wir die Antwort erhalten.« »So wird es sein«, sagte Balthasar lächelnd. Und Ben Hur wiederholte: »So wird es sein. – Noch bin ich nicht zu Ende. Von diesen Dingen, nicht zu groß, um für jene, die sie nicht wie ich selbst gesehen haben, über alle Zweifel erhaben zu sein, laßt euch noch zu anderen führen, die unend­ lich größer sind. Seit Anbeginn der Welt hat nie ein Mensch die Macht dazu gehabt. Sagt mir, hat eures Wissens jemals einer dem Tode die schon geraubte Beute entrissen? Wer hat je einen Toten wieder zum Leben erweckt, außer…« »Gott!« sagte Balthasar ehrfurchtsvoll. Ben Hur neigte den 424

Kopf. »Oh, weiser Ägypter, und du, Simonides, was würdet ihr beide gesagt haben, wenn ihr gesehen hättet, was ich sah, daß ein Mensch mit wenigen Worten und ohne jedes andre Mittel, mit nicht mehr Mühe als eine Mutter ihr Kind weckt, einen Toten wieder zum Leben bringt? Es war bei Nain. Wir wollten gerade durch das Stadttor gehen, als man einen Toten heraus­ trug. Der Nazarener blieb stehen, damit der Leichenzug vorüberziehen konnte. Unter den Leidtragenden war auch eine weinende Frau. Ich sah, wie sich im Gesicht des Nazareners das Mitleid spiegelte. Er sprach mit der Frau, dann ging er hin, berührte die Bahre und sagte zu dem Toten: ›Jüngling, ich sage dir, stehe auf!‹ Und augenblicklich erhob sich der Tote und redete.« »Gott allein ist groß!« sagte Balthasar. »Glaubt mir, ich berichte nur von Wundern, die ich selbst sah und mit mir viele andere. Auf dem Wege hierher sah ich ein noch größeres Wunder. In Bethanien wohnte ein Mann, na­ mens Lazarus. Er starb und wurde begraben. Nachdem er vier Tage im Grabe hinter einem großen Stein gelegen hatte, wurde der Nazarener hingeführt. Als der Stein vom Grabe gewälzt wurde, sahen wir den Toten darin liegen, der schon zu verwe­ sen begann. Eine Menge Volks war dabei. Und wir alle hörten, wie der Nazarener laut ausrief: ›Lazarus, komm hervor!‹ – Ich finde keine Worte, um euch meine Gefühle zu schildern, die mich überwältigten, als ich sah, wie der Tote aufstand und in seinem Grabgewand auf uns zuschritt! ›Macht ihn los‹, sagte der Nazarener, ›und laßt ihn fortgehen!‹ Und als das Tuch, das sein Gesicht verhüllte, hinweggenommen worden war, kreiste sein Blut wieder in den Adern, und er war gerade so, wie er war, ehe er starb. Er lebt, und man kann ihn zu jeder Stunde sehen und sprechen. Ihr könnt morgen hingehen und euch von der Wahrheit meines Berichts überzeugen. – Ich stelle euch nun noch einmal die Frage, die Simonides bereits gestellt hat: 425

Wer ist dieser Nazarener, der mehr als ein Mensch ist?« Noch lange nach Mitternacht bedachte der kleine Kreis in tiefem Nachdenken, was Ben Hur erzählt hatte. Simonides wollte noch immer an seiner eigenen Auslegung der Propheten festhalten. Aber Ben Hur meinte, daß beide, Simonides und Balthasar, recht hätten – der Nazarener sei der Erlöser und zugleich der zukünftige König. »Morgen wird es sich zeigen. Friede sei mit euch allen!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Ben Hur und ging nach Bethanien zurück.

Die Aussätzigen verlassen ihr Grab Die erste, die am nächsten Morgen nach der Öffnung des Schäfertores die Stadt verließ, war Amrah. Die Wächter stell­ ten keine Fragen an sie. Denn sie kam regelmäßig an jedem Morgen zur selben Zeit. Man kannte sie als irgend jemandes treue Dienerin, und das genügte ihnen. Vom Schäfertor aus schlug sie den Weg nach dem Tal im Osten ein. Der dunkel­ grüne Abhang des Ölberges war mit vielen weißen Zelten bedeckt, die den Festteilnehmern als Unterkunft dienten. Da es noch sehr früh war, begegnete ihr niemand. Ihr Weg führte an Gethsemane, an den Gräbern bei der Kreuzung der Wege nach Bethanien und Siloah vorbei. Amrah wankte oft, und einmal setzte sie sich nieder, um Atem zu schöpfen, stand aber bald wieder auf und ging mit erneuter Eile weiter. Hätten die Felsen am Wege Ohren gehabt, dann hätten sie Amrah murmeln hören können. Hätten sie Augen gehabt, dann hätten sie sehen kön­ nen, wie oft sie zu den Bergen hinüberblickte und die frühe Morgendämmerung verwünschte. Hätten sie reden können, dann hätten sie sicherlich gesagt: Unsere Freundin hat heute besondere Eile; diejenigen, denen sie Nahrung bringt, müssen 426

sehr hungrig sein. Erst als sie die königlichen Gärten erreicht hatte, ging sie etwas langsamer. Am südlichen Ende des Tales Hinnom am Berge lag die gemiedene Stadt der Aussätzigen. Obwohl es noch früh am Tage war, saß die unglückliche Fürstin Hur schon vor dem Eingang ihrer Höhle, während Tirzah noch schlief. Die Krankheit hatte in den drei Jahren schnelle und furchtbare Fortschritte gemacht. Da sie sich ihres Aussehens voll bewußt war, ging sie stets tief verschleiert. Selbst Tirzah durfte sie nicht ohne Schleier sehen. An diesem Morgen aber saß sie mit entblößtem Kopf da. Sie wußte, daß jetzt niemand in der Nähe ist, den ihr Anblick entsetzen könnte. Das Haar, schneeweiß und widerspenstig, fiel der Unglückli­ chen wie Silberdraht über Brust und Rücken. Die Augenlider, die Lippen, die Nase und die Wangen waren zerstört und waren nichts als eine Masse wunden Fleischs. Eine Hand lag steif auf dem Kleide. Die Fingernägel waren abgefallen und die Gelen­ ke der Finger bis auf die Knochen zerfressen. Kopf, Gesicht, Hals und Hand ließen nur zu deutlich auf den Zustand des ganzen Körpers schließen. Wenn man sie so sitzen sah, schien es verständlich, wie die einst so stattliche Frau solange ihr Dasein verheimlichen konnte. Und warum machte sie ihrem gequälten Leben nicht gewaltsam ein Ende? Das Gesetz verbot es! Ein Heide kann darüber lächeln, nicht aber ein Sohn Israels. Als die Sonne den Olivenhain und den Berg zu beleuchten begann, wußte sie, daß Amrah kommen werde, erst zum Brunnen, dann zum Stein, und daß sie dort ihren Korb mit der Nahrung niedersetzen würde. Dieser kurze Besuch der treuen Dienerin war das einzige Glück, das sie noch besaß. Sie konnte mit ihr über Judah reden, so wenig sie auch erfahren konnte. Sich selbst und Tirzah zählte sie schon zu den Toten, und sie lebte nur noch in zärtlichen Erinnerungen an das längst ver­ schwundene Leben. Während sie völlig im Nachdenken versunken dasaß, erblick­ te sie eine Frauengestalt, die eilig auf sie zukam. Sie bedeckte 427

schnell den Kopf und rief mit hohler Stimme: »Unrein, un­ rein!« Aber schon lag ihr Amrah zu Füßen. Und die lange zurück­ gedrängte Liebe brach unbeherrschbar hervor. Unter Tränen und stammelnden Zärtlichkeiten küßte sie die Kleider der Herrin. Vergeblich versuchte diese, Amrah zurückzudrängen. Da es ihr nicht gelang, wartete sie ab, bis sich die Magd beru­ higt hatte. »Was hast du getan, Amrah? Zeigst du durch diesen Unge­ horsam deine Liebe zu uns? Nun bist auch du verloren und darfst nie mehr zu ihm, deinem Herrn, zurückkehren.« Amrah kniete weinend im Staube. »Du stehst jetzt auch unter dem Banne des Gesetzes. Du darfst nicht mehr nach Jerusalem zurück. Was wird jetzt aus uns? Wer wird uns Nahrung bringen? Oh, schlimme, böse Amrah. Jetzt sind wir alle zusammen verloren!« »Barmherzigkeit!« »Du hättest gegen dich selber barmherzig sein sollen, dann hättest du auch gegen uns Barmherzigkeit geübt. Wohin sollen wir nun fliehen? Treulose Dienerin, der Zorn Gottes lag schon schwer genug auf uns!« Jetzt erschien auch Tirzah im Eingang der Höhle, von den lauten Reden aufgeweckt. »Ist es Amrah, Mutter?« Die Magd wollte auch zu ihr hinkriechen. »Bleib, Amrah! Ich verbiete dir, auch sie zu berühren. Stehe auf und geh hinweg, bevor dich jemand vom Brunnen aus sieht! – Doch nein, ich vergaß, du mußt jetzt hierbleiben und unser Schicksal teilen. Stehe auf, sage ich!« Amrah hob sich auf die Knie und sprach mit gefalteten Hän­ den: »Gute Herrin, ich bin nicht treulos – ich bin nicht schlimm, ich bringe euch gute Nachricht!« »Von Judah?« fragte die Witwe begierig. 428

»Ich weiß einen wunderbaren Mann, der die Macht hat, euch zu heilen. Er spricht ein Wort, und die Kranken sind gesund, ja selbst die Toten kehren zum Leben zurück. Ich bin gekommen, weil ich euch zu ihm führen will.« »Arme Amrah!« »Nein, so wahr der Herr lebt, ich rede die Wahrheit. Geht mit mir, ich bitte euch. Verliert keine Zeit! Er wird heute morgen auf dem Wege nach der Stadt hier vorbeikommen. Seht, schon ist der Tag da! Hier, nehmt und eßt! Dann wollen wir gehen!« Die Mutter lauschte begierig den Worten: »Wer ist es?«

»Ein Nazarener.«

»Wer erzählte dir von ihm?«

»Judah!«

»Judah? Ist er zu Hause?«

»In der letzten Nacht kam er.«

»Hat dich Judah gesandt?«

»Nein, er glaubt, daß ihr tot seid.«

»Einmal hat ein Prophet einen Aussätzigen geheilt, aber er

hatte die Macht von Gott«, sagte die Mutter zu Tirzah. »Woher weiß mein Sohn, daß dieser Mann solche Macht hat?« »Er wanderte mit ihm, er hörte, wie die Aussätzigen ihn an­ riefen, und er sah sie gesund weggehen. Einmal war es einer allein, ein anderes Mal waren es ihrer zehn. Er hat sie alle gesund gemacht.« Die Mutter schwieg noch immer. Sie erwog das Gehörte und zweifelte nicht mehr an seiner Wahrheit, nachdem sie erfahren hatte, daß ihr Sohn Zeuge war. Doch sie wollte die Macht begreifen, durch die ein Mensch solche Wunder vollbringen konnte. Sie wandte sich an Tirzah. »Es muß der Messias sein! Ich erinnere mich der Zeit, als Jerusalem und ganz Judäa davon redeten, er sei geboren. Jetzt muß er ein Mann sein. So muß es sein – er ist es!« Nach einer Weile tiefen Schweigens ging sie zu Amrah hin. »Wir werden mit dir gehen. Bring uns das Wasser, das du in 429

der Höhle in einem Kruge findest, und gib uns zu essen. Dann wollen wir gehen!« Das Mahl war schnell beendet. Die drei Frauen begaben sich auf den Weg. Tirzah teilte das Vertrauen, das ihre Mutter und Amrah erfüllte, nur eine Befürchtung beunruhigte sie noch. Nach Amrahs Bericht kam der Mann von Bethanien her. Es führten aber von dort drei Wege nach Jerusalem: einer über den Ölberg, ein zweiter an dessen Fuß entlang und der dritte am Berg des Ärgernisses vorbei. Sie waren zwar nicht sehr weit auseinander, aber doch weit genug, um den Nazarener verfeh­ len zu können. Auf ihre Fragen erkannte die Mutter bald, daß Amrah die Gegend jenseits des Kidron nicht kannte und auch nicht wußte, welchen Weg der Mann kommen werde. Sie sah auch bald ein, daß sich sowohl Amrah als Tirzah auf sie verlie­ ßen: die eine aus lebenslänglicher Dienstgewohnheit, die andere aus natürlicher Abhängigkeit. »Wir gehen zuerst nach Bethphage. Wenn uns der Herr gnä­ dig ist, dann werden wir dort erfahren, wohin wir uns wenden müssen.« Also stiegen sie den Berg hinab gegen Tophet und den Kö­ nigsgärten zu. Als sie die Straße erreicht hatten, hielten sie an. »Wir dürfen nicht auf der Straße bleiben. Es ist besser, wenn wir uns abseits halten; denn heute ist Feiertag, und es werden viele Leute auf dem Wege sein. Wenn wir über den Berg des Ärgernisses gehen, weichen wir ihnen aus.« Tirzah, die sich bisher nur mit großer Mühe aufrecht gehalten hatte, wurde bei diesen Worten völlig mutlos. »Der Berg ist steil, Mutter! Ich komme nicht hinauf!« »Bedenke, daß wir dem Leben und der Gesundheit entgegen­ gehen. Schau, Kind, es beginnt ein herrlicher Tag. Dort kommen Frauen, die zum Brunnen gehen. Sie werden uns steinigen, wenn wir hier stehenbleiben. Komm, sei stark!« Obgleich die Mutter selber kaum vorwärts konnte, suchte sie die Tochter zu ermutigen. Amrah unterstützte sie dabei. Bis 430

jetzt hatte sie die Aussätzigen nicht direkt berührt. Jetzt achtete sie nicht mehr auf die Befehle ihrer Herrin und dachte auch nicht an die Folgen, sondern legte den Arm um Tirzah und ermunterte sie. »Stütze dich auf mich. Ich bin stark. Es ist ja nur eine kurze Strecke. So, jetzt können wir gehen!« Der Berg, den sie nun erklommen, war durch Steine, verfal­ lene Gruben und Ruinen nur sehr mühevoll zu ersteigen. Als sie endlich auf dem Gipfel standen und gegen Nordwesten den Tempel und seine Höfe und Zions weiße Türme sahen, erwach­ te bei der Mutter wieder die Liebe zum Leben. »Sie, Tirzah, sieh die goldenen Platten an der schönen Pforte! Erinnerst du dich noch, wie wir einst durch diese Pforte gegan­ gen sind? Wie schön wird es sein, wenn wir es wieder tun können! Und nicht weit davon steht auch unser Haus. Ich kann es beinahe von hier aus sehen. Hinter dem Dache des Allerhei­ ligsten muß es liegen. Und Judah wird dort sein, und er wird uns willkommen heißen!« Dann stiegen sie auf der anderen Seite des Berges hinab. Obwohl Amrah Tirzah führte und stützte, stöhnte das Mädchen bei jedem Schritt. Als sie am Fuße des Berges ankamen, fiel sie völlig erschöpft nieder. »Mutter, geh du mit Amrah weiter. Laß mich hier liegen!« »Nein, nein, Tirzah, was würde es für mich bedeuten, gesund zu sein, wenn nicht auch du bei mir wärest? Und wenn Judah nach dir fragen würde, was sollte ich ihm antworten?« »Sage ihm, daß ich ihn sehr liebte.« Die Mutter war ratlos. Ihre höchste Hoffnung auf Heilung schloß unzertrennlich Tirzah ein. Als sie den Entschluß faßte, alle weiteren Überredungsversuche aufzugeben und das Weite­ re Gottes Fügung zu überlassen, kam von Osten her ein Mann. Amrah half Tirzah in eine sitzende Stellung. »Mut, Tirzah, dort kommt einer, der uns Nachricht vom Na­ zarener bringen wird.« 431

»Mutter, du vergißt, wer wir sind. Der Mann wird vor uns fliehen, er wird uns fluchen oder uns gar steinigen.« »Wir werden sehen!« Anderes wußte die Mutter nicht zu erwidern; denn ihr war nur allzugut bekannt, wie man Leute ihrer Art behandelte. Nun war an der Stelle, an der sich die drei Frauen befanden, der Weg kaum mehr als ein Pfad. Hielt ihn der Mann ein, dann mußte er ihnen von Angesicht zu Ange­ sicht begegnen. Und so geschah es auch. Als er nahe genug herangekommen war, rief die Mutter ihm zu: »Unrein, unrein!« Zu ihrem Erstaunen kam der Mann aber immer näher heran. Er blieb einige Schritte von ihnen stehen. »Was wollt ihr?« »Du siehst uns. Habe acht!« »Weib, ich bin der Vorläufer dessen, der solche, wie ihr seid, mit einem Wort heilt. Ich fürchte mich nicht!« »Vorläufer des Nazareners?« »Des Messias!« »Ist es wahr, daß er heute in die Stadt kommt?« »Er ist schon in Bethphage.« »Welchen Weg nimmt er?« »Diesen!« Sie faltete die Hände und blickte gläubig und dankbar zum Himmel. »Für wen hältst du ihn?« »Für den Sohn Gottes!« »Bleibe hier. Oder besser, weil ihm eine große Menge folgt, stell dich dort an den Felsen, an den weißen unter dem Baum! Wenn er vorüberkommt, rufe ihn an. Er wird dich hören. Ich gehe nun, um dem Volke zu verkünden, daß er kommt, damit sich alle vorbereiten. Friede sei mit dir und den Deinen!« Er ging weiter. »Hast du gehört, Tirzah, hast du gehört? Der Nazarener ist auf dem Wege – auf diesem Wege. Und er wird uns hören. Nur noch eine Anstrengung, mein Kind, damit wir zum Felsen 432

gelangen. Es sind ja nur wenige Schritte.« So ermutigt, ergriff Tirzah Amrahs Hand und hob sich mü­ hevoll auf. Als sie weitergehen wollten, deutete Amrah auf den Mann, der zurückkam. Als er bei den drei Frauen angelangt war, reichte er ihnen eine Kürbisflasche voll Wasser. Er stellte sie nicht vor ihnen auf den Boden, sondern gab sie der Mutter in die Hand. »Weib! Die Sonne wird heiß brennen, bevor der Nazarener kommt. Und da ich in der Stadt Erfrischungen erhalten kann, so nimm dieses Wasser, das ihr nötiger habt als ich. Ruft ihn an, wenn er vorüberkommt, und seid bis dahin guten Mutes.« »Bist du ein Jude?« »Ich bin es und noch mehr. Ich bin ein Jünger Christi, der täglich durch Wort und Beispiel das lehrt, was ich getan habe. Die Welt kannte schon lange Zeit das Wort Liebe, aber sie hat es bis jetzt nie richtig verstanden. Ich wünsche euch nochmals den Frieden!« Er ging weiter. Die drei Frauen gingen zu dem Felsen. Die Mutter überzeug­ te sich, daß sie von dort aus von den Vorübergehenden gesehen und gehört werden konnten. Sie setzten sich in den Schatten, tranken von dem Wasser und ruhten. Tirzah war bald einge­ schlafen. Da sie das Mädchen nicht stören wollten, verhielten sich die beiden Frauen still.

Das Wunder Um die dritte Morgenstunde fanden sich viele Leute vor dem Ruheplatz der Aussätzigen ein. Sie gingen in der Richtung nach Bethanien und Bethphage. Zu Beginn der vierten Stunde zeigte sich auf dem Gipfel des Ölberges eine große Men­ schenmenge. Als sie zu Tausenden näher kamen, sahen die 433

Aussätzigen und Amrah voll Staunen, daß jeder einen frischen Palmenzweig in den Händen hielt. Indes sie noch das unge­ wohnte Schauspiel gefangennahm, zog der Lärm einer anderen Menge, die von Osten her kam, ihre Aufmerksamkeit dorthin. Tirzah sah verwundert auf das Treiben. »Was bedeutet das alles?« »Er kommt! Diese hier vor uns sind aus der Stadt. Sie gehen ihm entgegen. Die anderen gehören zu seinem Gefolge. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich beide Züge hier treffen würden.« »Ich fürchte, daß er uns dann nicht hören wird!« Die Mutter teilte diese Befürchtung. »Amrah, wie sagte Judah, als er euch von der Heilung der Aussätzigen erzählte? Wie haben sie den Nazarener angeru­ fen?« »Sie riefen: ›Herr, erbarme dich unser!‹ oder ›Meister, erbarme dich unser!‹ « »Sonst nichts?« »Andres habe ich nicht gehört.« »Und das ist alles?« »Judah sagte, daß er sie gesund hinweggehen sah.« Inzwischen hatte sich der Zug vom Osten her genähert. Die Blicke der Aussätzigen fielen auf einen Mann, der inmitten einer Gruppe ritt, die sang und tanzte. Er war ganz in Weiß gekleidet und trug keine Kopfbedeckung. Die Frauen konnten den Blick von seinem gütigen Antlitz, das von langem, gold­ braunem, in der Mitte gescheiteltem Haar umrahmt war, nicht abwenden. Er blickte weder zur Rechten noch zur Linken. An der lärmenden Freude seiner Umgebung schien er nicht teilzu­ nehmen. Sein ganzes Wesen drückte eine tiefe Trauer aus. Da die Sonne auf das im Winde flatternde Haar schien, war sein Haupt wie von einem Strahlenkranz umflossen. Hinter ihm jubelte und sang die Menge, bis er ihrem Gesichtskreis ent­ schwand. Es war nicht nötig, daß jemand den Aussätzigen 434

sagte, daß er es sei – der wundertätige Nazarener. »Er ist da, Tirzah! Er ist da! Komm, mein Kind!« Die Mutter fiel neben dem Felsen auf die Knie. Die Tochter und die Magd knieten ihr zur Seite. In diesem Augenblick gewahrten jene aus der Stadt den entgegenkommenden Zug und hielten inne. Sie schwangen ihre Palmenzweige und riefen: »Hosianna dem Sohne Davids! Hochgelobt, der da kommt im Namen des Herrn!« Und alle nahmen den Ruf auf, so daß die Luft erzitterte wie vom Brausen eines Sturmwindes. Der Ruf der Aussätzigen mußte sich unter diesem Lärmen verlieren wie das Gezwitscher von Sperlingen im Donner des Gewitters. Aber für sie gab es nur diesen Augenblick. Nützten sie ihn nicht, war er auf immer dahin und damit auch alle Hoffnung auf Gesundheit und Leben. »Näher heran, mein Kind. Laß uns näher treten! Er kann uns von hier aus nicht hören.« Die Mutter erhob sich und wankte vorwärts. Sie hatte ihre verstümmelten Hände hochgehoben und rief mit gellender Stimme. Die Menschen bemerkten sie, sahen ihr entstelltes Gesicht und blieben erschrocken und entsetzt stehen. Tirzah war zurückgeblieben. Sie fiel ermattet zu Boden. »Aussätzige, Aussätzige! – Steinigt sie! – Die Gottverfluch­ ten! – Tötet sie!« Diese und ähnliche Rufe vermischten sich mit dem Hosianna jenes Teiles der Menge, der zu weit entfernt war, um die Ursache der Störung zu erkennen. Einige in der Nähe aber hatten lange genug in der Gemeinschaft des Nazareners gelebt, um sein göttliches Mitleid zu kennen. Sie schauten ihm nach, wie er jetzt zu den Frauen hinritt und vor ihnen anhielt. Diese schauten gläubig in sein gütiges, mildes, ruhiges, von überirdi­ scher Schönheit überflutetes Antlitz, aus dem ihnen seine Augen mitleidsvoll entgegenstrahlten. »Meister, Meister, du siehst unsere Not! Du kannst uns reini­ gen! Erbarme dich unser! Erbarme dich unser!« 435

»Glaubst du, daß ich es tun kann?« »Du bist der, den die Propheten vorausgesagt haben, du bist der Messias!« »Weib«, sagte er, »dein Glaube ist groß, es geschehe dir nach deinem Glauben!« So, als ob er alles um sich vergessen hätte, weilte er noch einige Augenblicke bei den Frauen. Dann ritt er weiter. Über­ wältigt von ihren Gefühlen rief die Witwe aus: »Ehre sei Gott in der Höhe! Hochgelobt, dreimal hochgelobt sei der Sohn, den er uns gegeben hat!« Beide Scharen, jene von der Stadt und jene von Bethphage, umringten den Nazarener wieder unter Freuden- und Hosianna­ rufen und Palmenschwingen. So entschwand er den Blicken der Aussätzigen. Die Mutter bedeckte ihren Kopf und eilte zu Tirzah, die sie erregt in die Arme schloß. »Tochter, freue dich, ich habe sein Versprechen. Er ist wirk­ lich der Messias! Wir sind gerettet, gerettet!« Sie blieben auf ihren Knien, indes die Scharen vorüberzogen, bis sie endlich hinter dem Berge verschwanden. Als sich der Lärm in der Ferne verlor, begann sich das Wunder zu vollzie­ hen. Zuerst fühlten die Aussätzigen eine Erneuerung ihres Blutes. Es strömte schneller und stärker und erfüllte ihre siechen Körper mit einem unbeschreiblichen Gefühl schmerzloser Heilung. Dann empfanden sie, wie sich ihr Geist kräftigte. Die Kraft, welche die Umwandlung vollzog, erschien ihnen wie ein Wundertrank mit schnellster und glücklichster Wirkung. Die Wirkung kam plötzlich und war vollkommen. Ben Hur war beharrlich allen Wegen des Nazareners gefolgt. Und so wurde auch er Zeuge der Bitten der Aussätzigen, sah auch er ihr Siechtum und die fürchterlichen Verheerungen der Körper, hörte auch er des Nazareners Antwort. Obwohl er schon mehrfach Zeuge solcher Heilung war, war seine Erre­ gung noch immer so groß wie beim erstenmal. Er hatte sich 436

vom Zuge abgesondert und grüßte nun von dem Sitze aus, den er sich in der Nähe der Frauen ausgewählt hatte, viele der Vorüberziehenden. Viele von ihnen waren seine Genossen, Galiläer, die, unter ihren langen Obergewändern verborgen, kurze Schwerter trugen. Nach einer geraumen Zeit kam ein sonnenverbrannter Araber auf ihn zu, der zwei Pferde führte. »Bleib hier, ich muß in die Stadt, und Aldebaran muß mir zu Diensten sein.« Er streichelte das Pferd, das jung und in der Fülle seiner Kraft und Schönheit stand. Dann schritt er über den Weg hin zu den Frauen. Zufällig fiel sein Blick auf den weißen Felsen, und er sah dort eine kleine Frauengestalt stehen, die ihr Gesicht in den Händen barg. »So wahr der Herr lebt! Das ist Amrah!« Er eilte auf sie zu, an Mutter und Schwester vorbei, die er nicht erkannte, und blieb vor der Magd stehen. »Amrah, Amrah, was tust du hier?« Sie fiel weinend vor Freude und Furcht zugleich vor ihm auf die Knie. »Meister, Meister, dein Gott und mein Gott – wie barmherzig ist er!« Eine Ahnung sagte ihm, daß Amrahs Gegenwart mit den beiden Frauen in Verbindung stehen müsse. Deshalb wandte er sich nach diesen um. Sie waren inzwischen aufgestanden. Sein Herz schien stillzustehen. Wie angewurzelt haftete er an der Stelle. Es war ihm unmöglich, ein Wort zu sprechen. Die Frau, die mit dem Nazarener gesprochen hatte, stand jetzt mit gefal­ teten Händen und hatte den Blick zum Himmel gewandt. Allein die Umwandlung hätte genügt, sein Erstaunen und sein Ver­ wundern zu rechtfertigen. Doch das war die geringste Ursache seiner Erregung. War es ein Blendwerk? Nie hatte eine Frau seiner Mutter ähnlicher gesehen. So hatte sie ausgesehen, an jenem Tage, als der Römer sie ihm entrissen hatte. Nur eine Veränderung war mit ihr vorgegangen, ihr Haar war mit Grau vermischt. Und das Mädchen an ihrer Seite? Das war doch 437

Tirzah! Anmutig, schöner, vollkommener, reifer, aber ganz wie an jenem Morgen, da sie mit ihm an der Brustwehr gestanden hatte. Er hatte sie zu den Toten gezählt, und die Zeit hatte die Wunde langsam vernarbt. Doch er hatte nie aufgehört, sie zu betrauern. Nur aus seinen Plänen und Zukunftsträumen hatte er sie fallenlassen. Er traute seinen Sinnen nicht. »Amrah, Amrah, das ist doch meine Mutter! Sag mir, daß ich richtig sehe. Sag mir, daß es wahr ist!« »Sprich mit ihnen, Herr, sprich mit ihnen!« Ben Hur zögerte nicht länger, er eilte mit ausgebreiteten Armen auf die Frau zu. »Mutter, Mutter, Tirzah, Tirzah, hier bin ich!« Sie hörten ihn und eilten mit jubelnden Gegenrufen in die offenen Arme. Doch plötzlich wich die Mutter zurück und rief wie ehemals: »Unrein, unrein! Bleibe fort, Judah, mein Sohn!« Es war nicht die Gewohnheit, die ihr diesen Ausruf erpreßte, sondern eine von der mütterlichen Liebe ausgelöste Furcht. Sie fürchtete, obwohl ihr Körper geheilt war, daß noch in den Kleidern ein Keim der Krankheit zurückgeblieben sein könnte. Ben Hur dachte an nichts dergleichen. Sie waren da, er hatte sie angerufen, sie hatten geantwortet. Wer oder welche Macht konnte ihn jetzt noch von ihnen zurückhalten? Die so lange Getrennten hielten sich in den Armen. Nachdem sich die erste Freude des Wiederfindens gelegt hatte, fand die Mutter zuerst das Wort. »In unserem Glück, meine Kinder, wollen wir nicht undank­ bar sein. Laßt uns das neue Leben beginnen mit der Anbetung dessen, der es uns geschenkt hat.« Alle fielen auf die Knie. Auch Amrah war dem Beispiel ge­ folgt. Und wie ein Jubelpsalm erklang das Gebet der hochbeglückten Witwe. Tirzah sprach es Wort für Wort nach und auch Ben Hur. Aber er tat es nicht mit dem bedingungslo­ sen Glauben der Mutter; denn nachdem sie aufgestanden waren, fragte er: »In Nazareth, Mutter, wo er zu Hause ist, 438

nennen sie ihn den Zimmermannssohn. Wer ist er?« »Der Messias!« »Woher stammt seine Macht?« »Wir sehen, was er damit tut. Hat er je etwas anderes als Gutes damit getan?« »Nein!« »Das ist der Beweis dafür, daß seine Macht von Gott kommt!« Es ist nicht leicht, jahrelang gehegten Wünschen und Hoff­ nungen auf einmal zu entsagen. Und obwohl sich Ben Hur sagen mußte, daß einem Messias die Eitelkeiten der Welt als nichtig gelten, war sein verwundeter Ehrgeiz hartnäckig und wollte sich nicht leichten Kaufes ergeben. Die Mutter aber gedachte alsbald der Pflichten des Lebens. »Was sollen wir nun tun, mein Sohn? Wohin können wir gehen?« Jetzt erst sah Ben Hur, wie vollständig jede Spur der Krank­ heit von den Frauen gewichen war. Er nahm seinen Mantel und breitete ihn über Tirzah. Durch das Ablegen des Mantels war ein Schwert an seiner Seite sichtbar geworden. »Ist es Kriegszeit?« fragte die Mutter besorgt. »Nein!« »Weshalb bist du dann bewaffnet?« »Es könnte nötig werden, den Nazarener zu verteidigen.« »Hat er Feinde? Wer sind sie?« »Leider sind es nicht nur Römer, Mutter!« »Ist er nicht ein Israelit und ein Mann des Friedens?« »Keiner ist es mehr als er! Aber nach der Ansicht der Rabbi­ ner und Lehrer hat er sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht.« »Eines Verbrechens?« »Der Unbeschnittene gilt in seinen Augen soviel wie der gewissenhafteste Jude. Er predigt eine neue Lehre.« 439

Die Mutter begab sich schweigend in den Schatten des Fel­ sens. Ben Hur bekämpfte seine Ungeduld, die Mutter und Tirzah nach Hause zu führen. Aber es mußte erst das Gesetz befolgt werden, das für Aussätzige galt; sie mußten sich dem Priester zeigen. Dann rief er den Araber herbei und beauftragte ihn, die beiden Pferde nach dem Tor bei Bethesda zu bringen und dort auf ihn zu warten. Mutter, Tochter, Sohn und die Magd machten sich zusammen auf den Weg über den Berg des Ärgernisses. Konnte er die beiden Frauen auch noch nicht in die Stadt hineinbringen, so wollte er sie doch in der Nähe haben; wie leicht war ihnen der Rückweg! Sie gingen schnell und leicht und erreichten auch bald eine neue Grabhöhle in der Nähe des Grabes Absaloms, nicht weit vom Bache Kidron. Sie war leer, und die Frauen nahmen einstweilen davon Besitz, indes sich Ben Hur eiligst entfernte, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen, die ihre jetzige Lage verlangte.

Pilger zum Osterfest Ben Hur kehrte nach einiger Zeit zurück und schlug am obe­ ren Kidron, nicht weit ostwärts von den Gräbern der Könige, zwei Zelte auf und ließ sie auf das bequemste einrichten. Dorthin führte er sogleich Mutter und Schwester. Sie sollten hier bleiben, bis sie der Priester untersucht und ihnen das Zeugnis der vollständigen Heilung ausgestellt hatte. Durch das Beisammensein mit Aussätzigen war auch er nach dem Wortlaut des Gesetzes unrein. Deshalb durfte er sich nicht an den Feiern des Osterfestes beteiligen und nicht das Heiligste im Vorhof des Tempels betreten. Er mußte also – aber es geschah zu seiner großen Freude – bei Mutter und Schwester bleiben. Nun war endlich die Zeit gekommen, sich gegenseitig 440

alles zu erzählen, was sie erlebt hatten, seitdem sie auseinan­ dergerissen worden waren. Sie wußten kaum, wo sie beginnen sollten mit ihren Leidensgeschichten. Ben Hur verriet durch keine Geste, welche Gefühle ihn bei diesen Erzählungen bestürmten. Sein Haß gegen Rom wurde noch gesteigert, und er wurde so stark wie nie zuvor. Er überdachte immer wieder, was er gehört hatte, und sein Wunsch nach Rache wuchs. Viele Pläne kamen ihm in den Sinn, und er steigerte sich in wilde Bitterkeit hinein. Er erwog ernsthaft, in Galiläa einen Aufstand auszulösen oder mit seinen Legionen alle römischen Reisenden auf den Landstraßen zu überfallen. Selbst das Meer wollte er unsicher machen, römische Kaufleute gefangenneh­ men und römische Waren erbeuten. Doch sein abwägender Verstand behielt in diesem Streit der Gefühle die Oberhand. Am Ende aller Überlegungen stand immer wieder die Einsicht, daß nur ein Krieg des vereinigten Israel gegen die Römer Erfolg haben konnte. Und bei diesen Gedanken kehrte er immer wieder zum Ausgangspunkt aller seiner Überlegungen zurück: zum Nazarener und seinen Absichten. Er überdachte die Folgen, wenn er aufstehen und verkünden würde: Höre, Israel, ich bin der von Gott verheißene König der Juden, ich komme zu euch mit der Gewalt, von der die Propheten gekündet haben. Erhebe dich und unterwirf dir die Welt! Würde er diese Wort sprechen? Wenn der Nazarener diese wenigen Worte spräche, was für ein Aufruhr würde ihnen folgen! Wieviel Münder würden die Botschaft weitergeben, wie ein Ruf der Trompeten würde sie die Armeen vereinigen. In seinem Eifer, den Aufstand vorzube­ reiten, vergaß Ben Hur die doppelte Natur dieses Mannes und die Möglichkeit, daß das Menschliche in ihm dem Göttlichen untergeordnet war. Er sah nur die Macht, die in seinen Wun­ dern lag und deren Zeugen die Mutter und Tirzah und schließlich er selbst waren, eine Macht, groß genug, einen 441

jüdischen Thron auf den Trümmern des römischen aufzurich­ ten, die ganze Welt umzugestalten und die Menschheit in einer glücklichen Gemeinschaft zu vereinigen. Wenn dieses Werk erst einmal vollendet war, wer konnte dann noch leugnen, daß die Welt erlöst wäre und daß es eine des Gottessohnes würdige Aufgabe war? Und wenn er die politischen Folgen bedachte, dann sah er auch den persönlichen Ruhm, den er erlangen konnte. Welchen Menschen hätte eine solche Aussicht nicht gelockt! In diesen Tagen waren am Bache Kidron, bei Bezetha und auf dem Wege zum Damaskustor Zelte und Hütten errichtet worden, in denen die Pilger lebten, die zur Feier des Osterfe­ stes nach Jerusalem strömten. Ben Hur suchte die Bekanntschaft der Fremden, sprach mit ihnen und war erstaunt, woher sie alle kamen. Es waren Menschen aus allen Weltge­ genden. Sie kamen aus den Städten an den Ufern des Mittelländischen Meeres, aus Indien und sogar aus den nörd­ lichsten Provinzen Europas. Obwohl sie die verschiedensten Sprachen redeten, die mit keiner Silbe dem alten Hebräisch der Väter ähnelten, waren sie dennoch alle mit dem Wunsch gekommen, daß große Fest gemeinsam zu feiern. Bei dieser Überlegung kam ihm ein neuer Gedanke! War es möglich, daß er den Nazarener mißverstand? Konnte dieser Mann nicht seine Vorbereitungen nur unter geduldigem Warten verbergen? Vielleicht bewies er gerade dadurch seine Berufung, das glorreiche Ziel zu erreichen? Wieviel besser lagen die Dinge heute im Vergleich zu damals, als die Galiläer ihn am See Genezareth mit Gewalt zum König machen woll­ ten! Damals hätte er nur einige tausend Anhänger gehabt, jetzt würden Millionen seinem Rufe folgen. In der Verfolgung dieser Gedanken kam Ben Hur zu dem Schluß, daß der mild­ blickende Nazarener unter seinem demütigen, selbstverleugnenden Äußeren weitreichende politische Pläne und kriegerische Absichten verbarg. 442

Von Zeit zu Zeit kamen schwarzbärtige Männer, kräftige und gedrungene Gestalten, zum Zelt und führten mit Ben Hur geheime Verhandlungen. Auf die Frage seiner Mutter antwortete er nur, daß es Freunde aus Galiläa seien. Diese Männer brachten ihm Nachrichten über den Nazarener; aber auch über seine Feinde, die Römer und die Rabbiner. Ben Hur wußte, daß das Leben des Nazareners in großer Gefahr war, glaubte aber nicht, daß seine Feinde den Mut haben würden, ihre Pläne während der Festzeit auszuführen. Der Nazarener war sicher in der Bewunderung der großen Menge seiner Anhänger. Das Wohlwollen des Volkes und die Anwesenheit so vieler Gläubiger aus aller Welt schienen Ben Hur die beste Gewähr für seine Sicherheit zu sein. Seine Zuversicht, daß dem Nazarener nichts geschehen könne, entsprang aber letztlich der Wunderkraft dieses Mannes. Von seinem Standpunkt aus hielt es Ben Hur für selbstverständlich, daß der heilige Mann, der über Leben und Tod gebieten konnte, diese Kräfte auch für sich selbst anwenden würde. Am Abend des 25. März unserer Zeitrechnung drängte es Ben Hur, sich in der Stadt umzusehen. Er gab Mutter und Schwester das Versprechen, bald zurückzukehren, und ritt davon. Das Pferd war ausgeruht und kam rasch vorwärts. Die Wege, Gärten und Ortschaften waren wie ausgestorben; er sah weder Männer noch Frauen oder Kinder. Der Hufschlag seines Pferdes hallte. Überall in den Häusern waren die Herdfeuer erloschen. Es war Passahvorabend, und alles Volk war in den Tempeln und schlachtete die Osterlämmer. Durch das nördliche Tor ritt er in Jerusalem ein.

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Eine Schlange vom Nil Ben Hur stieg vor der Herberge ab, in der die Weisen vor mehr als dreißig Jahren übernachtet hatten, ehe sie nach Beth­ lehem weitergezogen waren. Dort band er sein Pferd an und ging zu seinem Vaterhaus. Er erkundigte sich nach Malluch und erfuhr, daß dieser und Simonides am Fest teilnahmen und daß Balthasar sehr schwach sei und sich in einem Zustand höchster Erregung befinde. Ben Hur wollte sich zu ihm bege­ ben. Doch in diesem Augenblick trat Iras ein. Der Diener entfernte sich. Während der vergangenen ereignisvollen Tage hatte Ben Hur kaum an die schöne Ägypterin gedacht. Als sie vor ihm stand, wurde er sogleich wieder in ihren Bann gezogen. Er ging ihr freudig entgegen, blieb aber ganz erstarrt vor ihr stehen. Welche Veränderung war mit Iras vorgegangen! Wie hatte sie sonst alle ihre weiblichen Künste spielen lassen und ihn um­ worben und gefesselt! Und jetzt? Heute hätte sie keinen Fremden mit größerer Kälte empfangen können. Wie eine Statue stand sie vor ihm mit hocherhobenem Kopf und fest zusammengepreßten Lippen. Ben Hur sah sie fragend an. Da brach sie das Schweigen. »Du kommst zur rechten Zeit, Sohn Hurs. Ich möchte dir meinen Dank für deine Gastfreundschaft sagen. Von übermor­ gen an werde ich sie nicht mehr in Anspruch nehmen.« Kalt, schneidend und scharf war ihre Stimme. Ben Hur ver­ beugte sich vor ihr, ließ sie aber nicht aus den Augen. Und wieder stand diese harte Frauenstimme im Raum. »Ich habe gehört, daß es beim Würfelspiel Brauch ist, am Ende des Spiels Gewinn und Verlust zu verrechnen. Auch wir haben gespielt, ein Spiel, das viele Tage und Nächte gedauert hat. Warum soll, da es nun zu Ende ist, nicht entschieden werden, wer es gewonnen hat?« »Ein Mann wird der Frau immer ihren Willen lassen«, ant­ 444

wortete Ben Hur, sehr wachsam geworden. »Sag mir, du Fürst von Jerusalem«, fuhr Iras fort, »wo ist er, jener Zimmermannssohn aus Nazareth, der zugleich Gottes Sohn sein will und von dem so Großes erwartet wurde?« Ben Hur machte eine nicht mißzuverstehende Handbewe­ gung. »Ich bin nicht sein Hüter!« Iras trat näher heran, beugte den stolzen Kopf zu Ben Hur, und ein zynisches Lächeln spielte um ihren Mund. »Hat er Rom zertrümmert? Wo ist seine Hauptstadt? Kann ich nicht seinen Thron mit den Bronzelöwen sehen? Wo baute er seinen Palast? Ihm, der Tote erweckt hat, konnte es keine Mühe sein, ein goldenes Haus zu errichten. Er brauchte nur mit den Füßen aufzustampfen und ein Wort zu sagen – und das Haus mit den Säulen von Karnak wäre da!« Ben Hur wußte, daß Iras im Ernst so redete; denn ihr ganzes Wesen war feindselig und ihre Fragen voll von Hohn. Er fühlte, daß er auf der Hut sein und sie beschwichtigen müsse. »O Ägypterin, laß uns noch einen Tag, noch eine Woche auf ihn, seine Löwen und Paläste warten!« Sie beachtete seine Worte nicht. »Warum trägst du noch diese Kleidung? Es ist nicht die Tracht eines Statthalters von Indien oder eines Vizekönigs! Ich sah einmal einen Satrapen der Perser. Er trug einen seidenen Turban und einen Mantel aus Goldstoff. Der Glanz der Edel­ steine an seinem Schwert machte mich schwindlig. Ich glaubte, Isis habe ihm den Glanz der Sonne geliehen. Ich fürchte, du hast deine Herrschaft nicht angetreten, die Herrschaft – die ich mit dir teilen wollte.« »Die Tochter meines weisen Gastes ist viel gütiger, als sie selbst weiß. Sie lehrt mich, daß Isis ein Herz küssen kann, ohne es besser zu machen.« Ben Hur hatte mit kalter Höflichkeit gesprochen. Iras spielte mit ihrer Halskette: 445

»Für einen Juden ist der Sohn Hurs sehr klug. Ich sah deinen erträumten König in Jerusalem einziehen. Du sagtest uns, er werde sich auf den Stufen des Tempels als König der Juden ausrufen. Ich sah den Zug, der ihn vom Berg herabbegleitete. Ich hörte den Gesang, sah die Palmenzweige wehen, suchte aber vergeblich nach einer königlichen Erscheinung, vergeb­ lich nach einem Reiter in Purpur, nach einem Wagen mit einem Lenker in funkelndem Kupfer oder einem Krieger mit dem Speer. Ich suchte seine Leibgarde. Ich hätte gern einen Fürsten von Jerusalem und eine Kohorte galiläischer Legionäre gese­ hen.« Sie warf Ben Hur einen verächtlichen Blick zu. »An Stelle eines wappengeschmückten Cäsars sah ich einen Mann mit einem Frauengesicht und langen Haaren, der auf dem Füllen einer Eselin ritt. Ein König! Der Sohn Gottes! Der Erlöser der Welt!« – Sie lachte laut auf. Trotz seiner Selbstbeherrschung konnte Ben Hur die Be­ schämung nicht verbergen. »Fürst von Jerusalem, ich verließ trotzdem meinen Platz nicht. Ich lachte nicht. Ich sage mir: Warte, im Tempel wird er seinen Glanz entfalten, wie es einem Helden geziemt, der im Begriff ist, die Welt in Besitz zu nehmen. Ich sah ihn durch das Shushan-Tor in den Hof der Frauen eintreten. Ich sah ihn anhalten vor dem Schönen Tor. Die Vorhöfe des Tempels, die Stufen, die Gänge, jeder verfügbare Platz war voll von Men­ schen. Tausende und Tausende warteten mit atemloser Spannung auf die Ankündigung. Ich vernahm schon in dieser lautlosen Stille das Krachen des zusammenstürzenden Römer­ throns. O Fürst, bei der Seele Salomons, dein König der Welt hüllte sich in sein Oberkleid und ging hinweg durch das letzte Tor. Kein Wort kam aus seinem Mund. Und das römische Weltreich besteht noch!« Ben Kurs Blicke senkten sich. Alle Gründe, die Balthasar vorzubringen gewußt hatte, alle durch den Nazarener voll­ brachten Wunder waren nichts im Vergleich zu dem Eindruck, 446

den diese Schilderung der Ägypterin auf ihn machte. Jetzt erkannte er endgültig, daß der Nazarener kein politisches Ziel verfolgte, und im selben Augenblick ließ er alle Gedanken an Rache sinken. Der Mann mit dem Frauengesicht und im langen Haar erschien vor ihm in Tränen, er kam näher, so nahe, daß ihn ein Hauch seines Geistes berührte. »Tochter Balthasars«, sagte er würdevoll, »wenn dies das Spiel ist, von dem du sprachst, dann hast du gewonnen, nimm den Kranz. Aber laß uns ein Ende machen! Ich bin sicher, daß du einen Zweck verfolgst. Ich bitte dich, sage ihn mir, und ich will dir antworten. Und dann mögen sich unsere Wege trennen, und wir wollen vergessen, daß wir uns je begegnet sind. Sprich! Ich will dich anhören. Aber nichts mehr von diesen Reden!« Iras sah gespannt auf Ben Hur. Einen Augenblick schien sie zu überlegen, dann sagte sie kalt: »Entferne dich, geh!« Ben Hur zögerte nicht einen Augenblick. »Friede sei mit dir.« Mit diesen Worten ging er zur Tür. Doch als er sie erreicht hatte, rief ihn Iras zurück. »Noch ein Wort!« Er blieb stehen und schaute zurück. »Du solltest bedenken, was ich über dich weiß!« »Was weißt du schon über mich, schöne Ägypterin!« Sie starrte ihn eine Weile an. »Du bist viel mehr Römer, Sohn Hurs, als irgendeiner deiner hebräischen Stammesgenossen.« »Bin ich ihnen so unähnlich?« »Alle Halbgötter sind Römer!« »Und darum willst du mir alles sagen, was du von mir weißt?« »Diese Ähnlichkeit habe ich nicht vergessen. Sie könnte mich veranlassen, dich zu retten.« »Rette mich!« 447

Iras hatte ruhig und leise gesprochen. Ihre Finger spielten unruhig mit dem Edelstein auf ihrer Brust. Aber das Aufstamp­ fen ihres Fußes auf dem Teppich, das Ben Hur nicht entgangen war, gebot ihm, besonders vorsichtig zu sein. »Ich kenne einen Juden, einen entflohenen Galeerensklaven, der einen Mann im Palast von Idernee tötete. Derselbe Jude erschlug einen Römer am Marktplatz. Dieser Jude hat drei Legionen bereit, um heute nacht den römischen Statthalter gefangenzunehmen. Er hat außerdem Vorbereitungen für einen Kampf mit Rom getroffen, und der Scheik Ilderim ist sein Verbündeter.« Sie trat dicht an Ben Hur heran und dämpfte ihre Stimme noch mehr. »Du hast in Rom gelebt. Nimm an, diese Dinge kommen gewissen Leuten zu Ohren. Ah, du erbleichst!« Er wich vor ihr zurück, wie ein Mann, der glaubte, mit einem Kätzchen zu spielen, und erkennt, daß er einen Tiger vor sich hat. »Du kennst den mächtigen Sejanus. Nimm an, er erfährt mit Beweisen oder ohne sie, daß derselbe Jude der reichste Mann im Osten ist, ja der reichste Mann im ganzen römischen Rei­ che. Die Fische im Tiber würden bald ein leckeres Mahl haben. Glaubst du nicht? Und im Zirkus würde man herrliche Spiele abhalten. Das Volk zu belustigen ist eine schöne Kunst, aber das Geld dafür aufzutreiben eine noch schönere. In beiden ist Sejanus Meister!« Ben Hur konnte seine Ruhe bewahren. Seine Stimme klang kühl. »Vielleicht befriedigt es dich, Tochter Ägyptens, wenn ich dir sage, daß ich deine List bewundere. Es wird dich auch befriedigen, wenn ich zugestehe, daß ich von dir keine Nach­ sicht zu erwarten habe. Ich könnte dich jetzt töten. Aber du bist ein Weib. Die Wüste ist immer bereit, mich aufzunehmen. Und wenn auch die Römer vortreffliche Menschenjäger sind, sie würden lange suchen müssen, ehe sie mich fangen könnten, 448

denn in der Wüste sind ebenso viele Speere wie Sand, und die unbesiegten Parther fühlen sich wohl darin. Für einen Mann, der in seinem Leben so viel Unheil erfahren hat, liegt selbst in der Flucht oder Gefangenschaft oder selbst im Tod ein Trost, dem Verräter seinen Fluch zu hinterlassen. – Woher hast du erfahren, was du über mich weißt? Wer sagt dir das?« Vielleicht war es ein Kunstgriff, vielleicht war es Ernst: die Züge der Ägypterin verschönte ein Lächeln. »Sohn Hurs, in meinem Lande gibt es Künstler, die am Mee­ resstrand vielfarbige Muscheln sammeln, sie in kleine Stücke zerschneiden und dann auf Marmorplatten zu Bildern zusam­ mensetzen. Ich habe da und dort ein Wort erhascht, eins an das andere gereiht und nach und nach ein ziemlich vollkommenes Bild erhalten.« »Nein! Das ist nicht genug!« erwiderte Ben Hur. »Morgen wirst du wissen, was du damit anfängst. Vielleicht entscheidest du über mein Leben.« »Ein paar Züge, Muschelstückchen für das Bild, hatte ich von…« »Von wem?« »Von dem Sohn Hurs selbst. Und manches hatte ich vom Scheik Ilderim. In der Wüste sind die Zelte dünn und die Nächte so still, daß man den Flug eines Käfers hört.« »Und sonst hat dir niemand etwas zugetragen?« »Nein, nicht einer.« »Danke! Es wäre nicht vornehm, Sejanus auf dich warten zu lassen. Noch einmal, o Ägypten, Friede sei mit dir.« Er wollte gehen, aber sie streckte ihre Hand aus: »Bleib! Und glaube mir, wenn ich dir sage, daß ich weiß, warum dich der edle Arrius zu seinem Erben einsetzte. Und bei Isis und allen Göttern Ägyptens! Ich schwöre dir: Ich zittre bei dem Gedan­ ken, dich in der Hand des unbarmherzigen Statthalters zu sehen. Du hast einen Teil deines Lebens in der Weltstadt verbracht, überlege dir, was die Wüste dir geben kann! Ich 449

habe Mitleid mit dir. Und wenn du tust, was ich dir sage werde ich dich retten. Ich schwöre es dir bei unserer heiligen Isis.« Ihre Worte blieben nicht ohne Eindruck auf Ben Hur: »Gut«, sagte er, »gut, ich glaube dir.« »Das vollkommene Glück für eine Frau ist, in Liebe zu le­ ben, das größte Glück für einen Mann, sich selbst zu überwinden. Du hattest einst einen Freund. Es war in deiner Kindheit. Ihr hattet einen Streit und wurdet Feinde. Er tat dir Unrecht. Nach vielen Jahren begegnetest du ihm im Zirkus von Antiochia.« »Messala!« »Ja, Messala. Du bist sein Gläubiger. Vergib ihm die Ver­ gangenheit, sei wieder sein Freund und gib ihm sein Vermögen zurück, das er durch die Wette verloren hat! Hilf ihm! Diese sechs Talente sind für dich nicht viel. Für ihn aber, der krank ist, für ihn bedeuten sie alles. Ben Hur, edler Fürst, für einen Römer seines Standes ist Armut schlimmer als der Tod. Hilf ihm!« Sie hatte sehr schnell gesprochen, es war List, um Ben Hur am Nachdenken zu hindern. Aber sie irrte sich. Ben Hur war es, als blickte Messala über ihre Schulter. Und er sah für einen Augenblick den höhnischen, stolzen Ausdruck seines Gesich­ tes. »Die Bitte ist abgeschlagen. Messala erhält nichts! Ich muß gehen und es in mein Buch einschreiben, ich handle als Römer gegen einen Römer. Aber – sandte dich Messala zu mir mit diesem Ansuchen?« »Er ist edel und hielt auch dich für großmütig.« »Da du ihn so gut kennst, schöne Ägypterin, kannst du mir vielleicht sagen, ob er im umgekehrten Falle das tun würde, was du zu tun von mir verlangst. Antworte mir, bei Isis! Antworte mir um der Wahrheit willen!« »Oh… er ist…« »Ein Römer, wolltest du sagen und meinst damit, daß ich, ein 450

Jude, einen anderen Maßstab anlegen müsse. Nur deshalb, weil ich ein Jude bin und er ein Römer ist, muß ich, nach deiner Meinung, meinen Gewinn an ihn zurückgeben? Hast du mir noch mehr zu sagen, Tochter Balthasars? Dann sprich schnell! Denn, beim Gott Israels, wenn mein Blut noch heißer wird, könnte ich vergessen, daß du ein Weib bist und nur noch eine Spionin des gehässigen Römers und sein Werkzeug! Antworte mir rasch!« Sie trat erschrocken einen Schritt zurück. In Blick und Stim­ me aber tat sich ihre ganze Bosheit kund. »Du Hefentrinker und Trebernfresser, du willst dich mit Messala vergleichen! Du glaubst, ich könnte dich lieben, nachdem ich Messala gesehen habe? Du gehörst zu denen, die geboren sind, um ihm zu dienen. Er hätte sich mit der Zurück­ erstattung der sechs Talente zufriedengegeben. Ich aber verlange, daß du ihm zu den sechs noch zwanzig hinzufügst. Zwanzig, hörst du? Damit sollst du die Küsse auf meinen kleinen Finger bezahlen und daß ich dich so lange geduldet, ja begünstigt habe, obwohl ich ihm dadurch diente. Ich weiß, daß der Handelsmann hier der Verwalter deines Vermögens ist. Habe ich bis morgen mittag nicht deine Unterschrift auf einem Schuldschein, der gut ist für sechsundzwanzig Talente, dann wird Sejanus mit dir abrechnen. Sei klug und lebe wohl!« Sie wollte gehen, aber Ben Hur vertrat ihr den Weg. »Ob du Messala heute oder morgen, hier oder in Rom triffst – richte ihm auf jeden Fall meine Botschaft aus! Sage ihm, daß ich die sechs Talente zurückerhalten habe, die er mir von meines Vaters Besitz raubte. Sage ihm, daß ich die Galeere überlebt habe, zu der er mich verurteilen ließ, und daß ich mich über seine Armut und Ehrlosigkeit freue. Sage ihm, daß meine Mutter und meine Schwester, die er in eine Zelle der Burg Antonia warf, damit sie am Aussatz sterben sollten, leben und gesund sind, dank der Wunderkraft des Nazareners, den du so verachtest. Sage ihm, daß sie mir wiedergegeben wurden, um 451

mein Glück vollkommen zu machen. Sage ihm, du einge­ fleischte List, daß Sejanus, wenn er kommen sollte, um mich zu berauben, nichts finden wird. Das Erbe des Arrius und seinen Palast in Misenum habe ich zu Geld gemacht und es ist gut verwahrt. Dieses Haus hier und die Güter und Waren, die Schiffe und Karawanen, mit denen Simonides seine Geschäfte betreibt – das alles ist durch kaiserliche Schutzbriefe gesichert. Ein klügerer Kopf kam Sejanus zuvor. Und er zieht seinen sicheren Vorteil in einem annehmbaren Geschenk einem zweifelhaften Geschäft vor, bei dem er zu Verrat und Blut Zuflucht nehmen müßte. Sage ihm, daß dann, wenn alles nicht so wäre und wenn alles Besitztum und alles Geld noch in meinem persönlichen Besitz wären, als letzter Ausweg noch immer eine Schenkungsurkunde an den Kaiser bliebe. Das habe ich in Rom gelernt, Ägypterin. Und sage ihm endlich, daß ich ihm meinen Fluch nicht mit Worten übermittle, sondern ihm als besseren Ausdruck meines persönlichen Hasses jemand sende, den Inbegriff dieses Fluches. Und wenn er dich sieht, so wird ihn seine römische Findigkeit nicht im Zweifel darüber lassen, wen ich meine. Gehe jetzt, denn ich will auch gehen!« Ben Hur begleitete Iras zur Tür. Mit umständlicher Höflich­ keit hielt er den Vorhang zurück, als sie hindurchging. »Friede sei mit dir!«

Ben Hur kehrt zu Esther zurück Ben Hur verließ das Gastzimmer nicht so sorglos, wie er es betreten hatte. Er hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und ging sehr langsam. Er hatte die Entdeckung gemacht, daß auch ein Mensch mit gebrochenen Gliedern sich kluge Pläne aus­ denken kann. Er suchte sich in seiner Erinnerung alle Ereignisse zusammen, aus denen er ihre Verbindung mit 452

Messala hätte ablesen können, die Szene am Quell von Casta­ lia, wo sie kein Wort des Vorwurfs für ihn hatte, die Bootsfahrt, auf der sie ihn so hoch gepriesen hatte. Und jäh durchfuhr ihn der Schreck, daß sie auch bei dem Anschlag gegen ihn im Palast von Idernee ihre Hand im Spiel gehabt hatte. Diese Erkenntnis hätte ihn tödlich treffen können, aber er fand zugleich, daß ihn ein gütiges Geschick davor bewahrt hatte, sich tiefer in sie zu verstricken. Er wußte jetzt, daß er die Ägypterin nie wahrhaft geliebt hatte. Je mehr er sich beruhigte, um so leichter wurde sein Schritt. Als er zu der Stelle kam, wo von der Terrasse eine Treppe hinab in den Hof und eine andere auf das Dach hinauf führte, zögerte er einen Augenblick. Dann ging er hinauf. Auf der obersten Stufe verweilte er. – Kann es möglich sein, daß Balthasar ihr Verbündeter bei diesem Verrat war? schoß es ihm durch den Kopf. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Nein, nein, Heuchelei geht selten mit dem ehrwürdigen Alter zusammen. Balthasar war ein guter Mensch! Mit diesem Schluß seiner Überlegungen betrat er das Dach. Der Mond stand voll am wolkenlosen Himmel. Sein Licht verblaßte aber heute vor dem rötlichen Schein der vielen Feuer, die überall in den Straßen und auf freien Plätzen in der Stadt lohten. Ein leichter Wind trug ihm abgerissene Klänge des alten israelitischen Psalmengesanges zu. Er lauschte ihm. Und er sprach sich die Worte des Textes vor: »Also, o Sohn Judas, bekunden wir unsere Treue gegen den Herrn, unseren Gott, und unsere Liebe zum Lande, das er uns gab. Oh, daß ein Gideon oder ein David oder ein Makkabäer erschiene. Wir sind bereit.« Im Geiste sah er den Nazarener. Sein sanftes Bild begleitete ihn, als er über das Dach zur Brustwehr ging. Darin war kein Zeichen von Krieg, alles atmete tiefe Ruhe und Frieden. Und wieder stieg ihm die Frage auf: Wer ist er? Er blickte über die Brustwehr in die Straße hinab. Dann ging 453

er auf das Sommerhaus zu. Sie mögen das Schlimmste versuchen, dachte er. Dem Römer verzeihe ich nicht, kann ich nie verzeihen. Ich teile mein Vermögen nicht mit ihm. Und seinetwegen verlasse ich auch nicht mein Vaterland. Eher rufe ich die Galiläer zu Hilfe und lasse es auf einen offenen Kampf ankommen. Wenn wir tapfer sind, gewinnen wir die andern Stämme. Er, der dem Volke einen Moses gab, wird auch uns einen Anführer schenken. Und ist es nicht der Nazarener, dann wird es ein anderer von den vielen sein, die bereit sind, für die Freiheit zu sterben. Das Innere des Sommerhauses war nur schwach beleuchtet. Er blickte hinein und sah, daß der Sessel des Simonides an eine Stelle gerückt war, von der aus man die Gegend um den Marktplatz am besten überblicken konnte. – Der gute Mann ist zurückgekehrt, dachte er, wenn er nicht schläft, will ich mit ihm sprechen. – Er trat ein und ging leise auf den Sessel zu. Aber als er über die hohe Lehne blickte, sah er, daß Esther Im Stuhle saß. Sie war in die Decke ihres Vaters eingehüllt und schlief. Das Haar war ihr in das Gesicht gefallen. Sie atmete unregelmäßig und seufzte tief. Ben Hur schien es, als ob sie im Schlaf einem Kummer zu entfliehen versuchte. Die Natur hilft auf diese Weise oft den Kindern. Er stützte seine Arme auf die Lehne des Stuhles und stand eine Weile unschlüssig da. Er sah auf Esther. Sie war kein Kind mehr. Sie war eine Tochter Judas, schön und so ganz anders als die Ägypterin. Dort waren Eitelkeit, Ichsucht und Ehrgeiz, hier Wahrheit, Pflichtgefühl und Opferbereitschaft. Liebe ich sie? Nein, die Frage heißt: Liebt sie mich? Sie war meine Freundin vom ersten Augeblick an. Und er erinnerte sich an die Nacht auf der Terrasse in Antiochia und wie sie ihn bat, sich Rom nicht zum Feind zu machen. Ob sie meinen Kuß vergessen hat? Ich habe ihn nicht vergessen. Ich liebe sie… Noch weiß keiner im Hause, daß meine Mutter und meine Schwester leben. Nur die Ägypterin hat es erfahren. Aber die 454

kleine Esther hätte daran die ehrlichste Freude und würde sie mit ihrer Liebe umgeben. Sie würde meiner Mutter eine zweite Tochter sein und in Tirzah eine liebe Schwester finden. Ich möchte sie wecken und ihr das alles sagen. Aber da draußen ist die Hexe von Ägypten. Ich weiß nicht, zu welchen Tollheiten sie fähig ist. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich will auf eine bessere Stunde warten. Geliebte Esther! – Und leise, wie er gekommen war, ging er wieder hinaus.

Gethsemane – »Wen suchet ihr?« Die Straßen waren mit vielen Menschen angefüllt. Sie gingen und kamen, versammelten sich um die Feuer, wo Fleisch gebraten wurde, standen in Gruppen zusammen, sangen und waren glücklich. Der Geruch des brennenden Zedernholzes, vermischt mit den Dämpfen des bratenden Fleisches, lag überall in der Luft. Bei diesen Festlichkeiten waren alle Israeliten Brüder, und die Gastfreundschaft kannte keine Grenzen. Ben Hur wurde von allen Seiten gegrüßt, und bei jeder Feuerstelle lud man ihn ein, am Mahl teilzunehmen. Er aber dankte und ging eilig durch die Menschenmenge hindurch; denn er wollte schnell zur Herberge, um sein Pferd zu holen und zu den Zelten am Kidron zurückzureiten. Auch bei der Herberge waren die Feierlichkeiten im vollen Gange. Als er die Straße hinaufblickte, sah er eine Reihe brennender Fackeln näher kommen. Wo sie vorbeikamen, verstummte der Gesang. Sein Staunen wuchs, als er bemerkte, daß inmitten von Rauch und Funken Speerspitzen römischer Soldaten aufglänzten. Was hatten römische Soldaten bei einer jüdischen Feier zu tun? Das war unerhört. Er blieb stehen, um zu sehen, was es bedeutete. 455

Der Mond schien hell. Dennoch, als ob Mond und Fackeln und die Feuer in den Straßen nicht genügten, den Weg zu beleuchten, trugen einige Teilnehmer des Zuges Laternen. Ben Hur trat in die Straße hinaus, damit er jeden in diesem Zug genauer betrachten könne. Fackeln und Laternen wurden von Dienern getragen, die alle mit einem Knüppel oder einem zugespitzten Stab bewaffnet waren. Ihre Aufgabe schien darin zu bestehen, für die Ältesten und die Rabbiner, Männer der führenden Klasse in den Gerichten von Caiphas und Hanna, den Weg zu bahnen. Wohin mochten sie gehen? Keinesfalls zum Tempel; denn dorthin führte ein anderer Weg. Und wenn sie ein friedliches Ziel verfolgten, warum dann römische Soldaten? Als der Zug nahe bei Ben Hur war, wurde seine Aufmerk­ samkeit besonders von drei Männern gefesselt, die in der ersten Reihe gingen. In dem Mann, der zur Linken ging, erkannte er einen Hauptmann der Tempelwache, rechts ging ein Priester. Den Mann in der Mitte erkannte er nicht sogleich; denn er trug den Kopf tief gesenkt, als wolle er sein Gesicht verbergen, und stützte sich schwer auf die Arme seiner Begleiter. Es mochte ein Gefangener sein, der sich noch nicht von dem Schrecken der Gefangennahme erholt hatte oder der einer furchtbaren Strafe entgegenging, vielleicht der Folter oder gar dem Tode. Soviel erriet Ben Hur: War er nicht selbst die Ursache für diesen Zug, so hatte er doch zumindest einen großen Anteil daran. Da er wissen wollte, was diesen Zug veranlaßt hatte, trat Ben Hur entschlossen an die Seite des Priesters und hielt mit ihm Schritt. Er beobachtete unablässig den Mann in der Mitte. Wenn er nur einmal den Kopf heben würde! Und da tat er es! Das Licht einer Laterne fiel ihm voll ins Gesicht. Es war blaß, verwirrt, verzerrt, und die Augen blickten unstet und verzwei­ felt. Ben Hur, der während seines Aufenthaltes in der Umgebung 456

des Nazareners seine Jünger ebensowohl wie den Herrn selbst kennengelernt hatte, erkannte jetzt den Mann. »Iskariot!« Der Angerufene wandte sich ihm zu. Er bewegte die Lippen, als wolle er antworten. Aber der Priester kam ihm zuvor: »Wer bist du? Scher dich fort!« Damit schob er Ben Hur beiseite. Ben Hur ließ es sich gefallen, reihte sich aber etwas weiter zurück wieder in den Zug ein. Der wandte sich zwischen dem Hügel Bezetha und der Burg Antonia am Teiche Bethseda vorbei zum Schäfertor. Überall nahmen zahllose Menschen an der religiösen Feier teil. Da es Osternacht war, stand das Tor offen; auch die Wachen feierten. Vor dem Tore zweigten zwei Wege ab. Einer führte nördlich, der andere in der Richtung nach Bethanien. Jetzt wandte sich der Zug der Schlucht zu, durch die der Bach Kidron fließt. Jenseits der Schlucht sah man den Ölberg mit seinen dunklen Zedern und seinen Ölbäumen. Der Weg führte durch die Schlucht und weiter über die Brücke. Nach einer kurzen Strecke wandte er sich einem Ölgarten zu, der zur Linken lag. Ben Hur wußte, daß dort nur einige alte, knorrige Ölbäume standen und ein aus dem Felsen gehauener Trog, der zur Aufnahme des ausgepreßten Öls diente. Er wunderte sich darüber, was man zu solcher Stunde an einem so abgelegenen Ort zu suchen hatte. Plötzlich blieb der Zug stehen. Man hörte aufgeregte Stimmen. Es entstand ein wildes Durcheinander. Nur die römischen Soldaten hielten stand. Ben Hur löste sich aus dem wirren Haufen und eilte vorwärts. Er kam zu einem Eingang ohne Tor. Dort blieb er stehen. Im Garten jenseits der Steinmauer stand ein Mann in einem weißen Gewand, er hielt die Hände vor sich gekreuzt. Sein Kopf war unbedeckt, er stand da in Ergebung, als warte er. – Es war der Nazarener. In der Nähe des Eingangs standen seine Jünger. Sie waren tief erregt. Der Nazarener aber stand im Scheine der Fackeln in 457

erhabener Ruhe. Vor ihm hielt die Rotte furchtsam an, bereit, beim ersten Zeichen seines Zorns die Flucht zu ergreifen. Ben Hur warf einen Blick auf Iskariot. Jetzt wußte er den Grund für diesen nächtlichen Zug: Dort stand der Verräter, hier der Verratene! Diese bewaffnete Rotte sollte ihn gefangennehmen. Kein Mensch kann voraussagen, was er tun würde, wenn plötzlich und unerwartet für ihn der Augenblick des Handelns kommt. Das Ereignis, auf das sich Ben Hur mehrere Jahre vorbereitet hatte, war plötzlich da. Der Mann, dessen Verteidi­ gung er sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, war in Todesgefahr – und er war untätig. Um die Wahrheit zu sagen: Die erhabene Ruhe, mit der dieser geheimnisvolle Nazarener seinen Feinden gegenüberstand, hinderte ihn am Handeln. Und er zweifelte auch jetzt noch nicht daran, daß dieser seine so oft bewiesene Wunderkraft zu seinem eigenen Schutz anwenden werde. Gewiß, er hatte Frieden, Liebe, Verzeihung gepredigt. Aber er war auch der Herr über Leben und Tod. Wird er jetzt von seiner Macht Gebrauch machen? Wird er sich verteidigen? Ein Wort, ein Atemzug, ein Wink würden genügen. Da hörte Ben Hur des Nazareners klare Stimme.

»Wen suchet ihr?«

»Jesum von Nazareth!«

»Ich bin es!«

Die Worte wurden ohne Erregung gesprochen. Dennoch wich

die Rotte zurück. Da schritt Iskariot auf den Nazarener zu. »Sei gegrüßt, Meister!« Und er küßte ihn. Der Nazarener sagte mit milder Stimme: »Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kusse? – Wozu bist du gekommen?« Als er keine Antwort erhielt, wandte er sich wieder an die Rotte. »Wen suchet ihr?« »Jesum von Nazareth!« 458

»Ich habe euch gesagt, daß ich es bin. Wenn ihr mich sucht, dann laßt diese da gehen.« Die Rabbis schritten auf ihn zu; als die Jünger ihre Absicht errieten, warfen sie sich ihnen entgegen. Einer hieb in dem entstehenden Handgemenge dem Knechte des Hohenpriesters ein Ohr ab. Noch immer verhielt sich Ben Hur untätig! Während die Führer die Stricke zurechtmachten, um ihn zu binden, vollzog der Nazarener seine größte Tat der Nächsten­ liebe; er heilte das Ohr des Knechtes. Seine Handlung erfüllte seine Freunde und seine Feinde mit Erstaunen, die einen, weil er die Macht hatte, es zu tun, die anderen, weil er es unter diesen Umständen tat. Er wird sich nicht binden lassen, dachte Ben Hur. Der Nazarener wandte sich an seinen eifrigen Jünger: »Stek­ ke dein Schwert in die Scheide. Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater bereitet hat?« Dann wandte er sich an seine Schergen. »Wie zu einem Mörder seid ihr ausgezogen, mit Schwertern und Stöcken. Täglich war ich bei euch im Tempel, und ihr habt mich nicht gegriffen. Aber das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.« Jetzt gewann die Rotte Mut und umringte ihn. Als sich Ben Hur nach den Jüngern umschaute, waren sie alle gegangen. Nicht einer war geblieben. Und dann sah er, wie sie den Naza­ rener banden, ihn, der mit einem Hauche seines Mundes alle hätte vernichten können. Noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt, etwas zugleich so Unbarmherziges und eine solche Ergebung in das Schicksal. Was bedeutete der Kelch seines Vaters, den er ihm zu trinken gab? Rätsel über Rätsel! Die Rotte hatte sich, die Soldaten an der Spitze, auf den Rückweg nach der Stadt begeben. Ben Hur stand allein, er war mit sich selbst im Zwiespalt. Er wollte und mußte Klarheit haben. Er legte schnell sein langes Obergewand und das 459

Kopftuch ab und warf beides auf die Gartenmauer. Dann lief er dem Zuge nach. Er wußte, daß sich der Nazarener dort befin­ den mußte, wo die Fackeln am dichtesten waren. Es gelang ihm, an seine Seite zu kommen. Der Nazarener ging langsam, er hatte den Kopf gesenkt, und das Haar fiel ihm ins Gesicht. Er ging gebeugter als gewöhnlich und schien alles um sich vergessen zu haben. Die Hände waren ihm auf dem Rücken gebunden. Den Strick hielt ein Knecht fest. Als sich der Zug der Brücke näherte, nahm Ben Hur im Gedränge dem Knecht den Strick entschlossen aus der Hand und trat an die Seite des Nazareners. »Meister, Meister! Hörst du mich, Meister! Ein Wort nur! Nur ein Wort! Sage mir…« Er wurde unterbrochen. Man stürmte zornig auf ihn ein. »Wer bist du?« Der Knecht riß den Strick wieder an sich. Ben Hur ließ sich aber nicht abschrecken. »Gehst du freiwillig, Meister?« Er erhielt keine Antwort. »Meister, ich bin dein Freund, ich liebe dich. Sag mir, ich bitte dich: Wenn ich Hilfe bringe – nimmst du sie an?« Der Nazarener blickte nicht auf, antwortete nicht und gab auch kein Zeichen. Es schien, als wolle er sagen: Laßt mich allein! Ich bin von meinen Freunden verlassen. Die Welt hat mich verleugnet. Ich gehe, ich weiß nicht wohin, es kümmert mich nicht. Laßt mich allein! Jetzt drangen die Schergen auf Ben Hur ein. »Er ist einer von ihnen. Greift ihn! Schlagt ihn nieder!« Als mehrere Hände nach ihm griffen, riß er sich mit einem gewaltigen Ruck los und durchbrach den Kreis. Sein Kleid blieb in ihren Händen. Im Dunkel der Nacht lief er halbnackt davon. Er holte sein Obergewand und sein Kopftuch von der Gar­ tenmauer und folgte dem Zug bis zum Stadttor, dann schlich er sich zur Herberge. Dort holte er sein Pferd und ritt zu den Zelten bei den Königsgräbern hinaus. Er war entschlossen, den 460

Nazarener morgen aufzusuchen. Zu spät erfuhr er, daß er schon in derselben Nacht in das Haus Hannas zum Verhör geführt worden war. In dieser Nacht konnte er nicht schlafen. Konnte er noch zweifeln? Das jüdische Königreich löste sich in einen Traum auf. Wenn man seine Schiffe sinken sieht oder seine Häuser in einem Erdbeben vergehen – was liegt näher, als daß man sich selbst aufgibt? Aber Ben Hur war nicht aus diesem Stoff gemacht. Wenn das Leben versank, das er erhoffte, gab es für ihn doch noch eine Zukunft. Er sah statt des Fürstenpalastes, der ihm gewinkt, sein Haus in Misenum und darin Esther als die Herrin, die mit ihm durch die Gärten und Räume ging, über ihnen der Himmel von Neapel, zu ihren Füßen das sonnige Land und das blaue Meer. Er war an einem Wendepunkt seines Lebens, und der Nazarener war bei ihm.

Der Gang zum Kalvarienberg Am nächsten Morgen um die zweite Stunde ritten zwei Män­ ner auf Ben Hurs Zelt am Kidron zu. Sie stiegen dort ab und verlangten ihn zu sprechen. Er war noch nicht aufgestanden, befahl aber, sie vorzulassen. Es waren zwei Hauptleute seiner galiläischen Legionen. »Friede sei mit euch, Brüder. Setzt euch!« »Nein«, antwortete der älteste, »sitzen und ruhen hieße den Nazarener sterben lassen. Steh auf, Sohn Judas, und komm mit uns. Das Urteil ist gefällt, und das Kreuz ist schon bereit auf Golgatha.« Ben Hur starrte die beiden Männer an. »Das Kreuz?« Das war alles, was er sagen konnte. »Gestern nacht nahmen sie ihn gefangen und verurteilten ihn. 461

Gegen Morgen brachten sie ihn vor Pilatus. Zweimal leugnete der Römer seine Schuld, zweimal weigerte er sich, ihn den Juden zu überantworten. Schließlich wusch der seine Hände und sprach: ›Also nehmt ihn!‹ Und sie antworteten…« »Wer antwortete?« »Die Priester und das Volk: ›Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹ « »Heiliger Vater Abraham! Ein Römer ist milder gegen einen Israeliten als seine Stammesgenossen? Und wenn er – ja, wenn er der Sohn Gottes ist, was kann jemals die Blutschuld von ihren Kindern tilgen? Es darf nicht sein! Jetzt ist Zeit zum Kampf!« Er klatschte in die Hände. Ein arabischer Diener kam herein. »Schnell die Pferde! Amrah soll mir andere Kleider schicken. Bringt mir mein Schwert! Es ist Zeit, für Israel zu sterben, meine Freunde!« Er kleidete sich an, aß einen Bissen Brot und trank schnell einen Schluck Wein. Dann waren sie auf dem Weg. »Wohin zuerst?« fragte einer der Männer. »Die Legionen sammeln!« »Da ist nicht mehr viel zu sammeln. Wir hier sind die einzi­ gen, die treu geblieben sind. Die anderen sind alle zu den Priestern übergegangen.« »Was wollen sie dort?« »Ihn töten.« »Doch nicht den Nazarener?« »Du sagst es.« Ben Hur zügelte sein Pferd und schaute von einem der Män­ ner zum andern. Wieder hörte er die Frage von gestern nacht: »Soll ich den Kelch, den mir mein Vater bereitet hat, nicht trinken?« Und er antwortete sich selbst: Es ist so, sein Tod kann nicht abgewandt werden. Er ist ihm vom Anfang seiner Sendung mit vollem Bewußtsein entgegengegangen. Wenn er willig in den Tod geht, wenn er seine Zustimmung dazu gibt, 462

wenn es in einem höheren, in Gottes Willen beschlossen ist, was kann da ein Mensch tun? Was konnte er anders tun, als einzusehen, daß sein ganzer Plan mißlungen war, der auf der Treue der Galiläer fußte? Sie waren zu den Priestern übergetre­ ten, den Feinden des Nazareners! Warum gerade an diesem Morgen? Vielleicht waren sein Plan, seine Mühen, seine Opfer an Geld nur eine Auflehnung gegen den Willen Gottes! Bei diesem Gedanken schauderte er. Er griff in die Zügel. »Kommt, Brüder! – Nach Golgatha!« Sie trafen auf viel aufgeregtes Volk, das gleich ihnen nach Süden strebte. Die ganze Stadt und ihre Umgebung schienen in Bewegung zu sein. Als sie hörten, daß sie dem Zug mit dem Verurteilten in der Gegend der Türme des Herodes begegnen könnten, ritten sie dorthin. Im Tale, unterhalb des Teiches des Hesekia, wurde das Gedränge so groß, daß sie von den Pferden steigen mußten. An der Ecke eines Hauses hielten sie an und warteten. Eine halbe Stunde, eine Stunde verfloß, und noch immer zog die Menge an Ben Hur und seinen Freunden vorüber: Juden aus Libyen, aus Ägypten, aus Rom, Juden aus allen Ländern des Orients und Okzidents und von den Inseln der Meere; alle Sekten Judäas, alle Stämme Israels und alle Nationen der Erde waren vertreten. Sie kamen zu Fuß, zu Pferde, auf Kamelen, in Sänften; sie redeten in allen Sprachen. Mit ungestümer, drän­ gender Hast eilten sie dahin, um den Nazarener als Missetäter zwischen anderen Missetätern sterben zu sehen. Aber nicht nur aus Juden bestand die Menge. Tausende von Nichtjuden, Tausende, die die Juden haßten und verachteten, Griechen, Römer, Araber, Syrer, Ägypter, Inder ließen sich von dem Menschenstrom fortreißen. Es schien, als ob die ganze Welt bei der Kreuzigung sein wollte. Trotz dieser Men­ schenmenge lastete eine unheimliche Stille über der Gegend, eine Stille, die nur selten durch einen Zuruf, durch Pferde­ 463

stampfen oder Waffengeklirr unterbrochen wurde. Auf jedem Gesicht war die Spannung gezeichnet, mit der Menschen einem schrecklichen Ereignis, einer Katastrophe oder einer Schlacht entgegensehen. Ben Hur hörte aus der Richtung der Türme das erste ferne Geschrei vieler Menschen. »Sie kommen.« Jetzt blieben die Vorbeieilenden stehen und horchten. Als aber der Lärm näher kam, schauten sie sich an und eilten schweigend weiter. Der Lärm kam immer näher. Die lastende Stille war vorüber. Da sah Ben Hur Simonides, der von seinen Dienern im Sessel vorbeigetragen wurde. Esther schritt an seiner Seite. Hinter ihnen kam eine geschlossene Sänfte. Ben Hur trat zu ihnen. »Friede sei mit dir, Simonides, und mit dir, Esther! Wenn ihr auf dem Wege nach Golgatha seid, laßt erst den Zug vorbei. Ich will euch dann begleiten.« Simonides blickte auf, als wäre er in seinen Gedanken aufge­ stört worden. »Sprich mit Balthasar. Ich werde tun, was er tut. Er ist in der Sänfte.« Ben Hur zog den Vorhang der Sänfte zurück. Der Ägypter lag wie leblos darin. Er nickte schwach zu dem Vorschlag: »Können wir ihn sehen?« »Den Nazarener? Ja! Er muß hier vorbeikommen.« Der Greis rang die Hände. »Guter Gott, noch einmal, noch einmal! Welch schrecklicher, welch furchtbarer Tag ist heute für die Welt!« Sie warteten im Schutze eines Hauses. Keiner sprach, keiner wollte dem anderen zeigen, was ihn bewegte. Noch immer zog die Menge in ununterbrochenem Strom vorbei. Der Lärm, betäubend und ohrenzerreißend, kam näher und näher und mit ihm der Zug mit dem Verurteilten. 464

»Da kommt Jerusalem!« sagte Ben Hur bitter. Den Vortrab bildete eine Schar lärmender, tanzender Knaben, die immer und immer wieder schrien: »Der König der Juden! Platz für den König der Juden!« Simonides wies auf sie mit den Worten: »Wenn diese das Erbe antreten, dann wehe der Stadt Jerusalem!« Er folgte einer Rotte Soldaten in voller Waffenrüstung. Sie marschierten gleichgültig und teilnahmslos. Dann kam der Nazarener! Er schien dem Tode nahe. Bei jedem Schritt drohte er umzusinken. Um seinen Hals trug er einen Strick, an dem ein Brett befestigt war. Es trug eine Inschrift. Seine nackten Füßen hinterließen auf den Steinen blutige Spuren. Ein zerrissenes Kleid hing lose über seinem ungenähten Untergewande. Auf den Kopf war ihm eine Dor­ nenkrone gedrückt worden, unter der das Blut hervorsickerte. Sein blutverschmiertes Gesicht war geisterhaft bleich. Seine Hände waren zusammengebunden. Irgendwo in der Stadt war er unter der Last des Kreuzes, das er selbst tragen mußte, zusammengebrochen. Jetzt trug es ein anderer Mann für ihn. Esther klammerte sich an ihren Vater, der zitterte. Balthasar fiel wortlos zu Boden. Und Ben Hur schrie auf: »O mein Gott, mein Gott!« Gegen die Wut des Volkes schützten den Nazarener vier Soldaten. Dennoch wurde er angespien und geschlagen. Er blickte auf, als er an das Haus kam, vor dem sich Ben Hur und seine Freunde aufhielten. Esther hielt ihren Vater umschlun­ gen, der trotz aller Willenskraft bebte. Balthasar war wortlos niedergesunken. In diesem Augenblick blickte der Nazarener zu der Gruppe hin. Diesen Blick vergaßen sie alle nie. Sie empfanden, daß er nicht an sich dachte, sondern an sie alle; daß er ihnen mit diesem Blick seinen Segen gab, seinen Segen, den er mit dem Mund nicht mehr aussprechen durfte. »Wo sind deine Legionen, Sohn Hurs?« 465

»Das weiß Annas besser als ich!« »Sie haben dich verlassen?« »Alle – bis auf diese zwei Getreuen hier!« »Dann ist alles verloren. Dann muß der Nazarener sterben!« Schmerz, unendlich tiefer Schmerz spiegelte sich im Gesicht des Simonides. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken. Dem Nazarener folgten zwei andere Männer, die auch Kreu­ ze trugen. Der nächste im Zuge war ein mit allen Abzeichen der Würde geschmückter Hohenpriester. Er war von der Tempelwache umgeben und in langer Reihe von den Priestern des Synedriums gefolgt. Simonides sprach leise vor sich hin: »Das ist Caiphas, der Schwiegersohn Hannas. Jetzt bin ich davon überzeugt, daß jener dort das ist, was die Inschrift auf dem Brett sagt: König der Juden. Ein gewöhnlicher Mensch, ein Betrüger, ein Mörder hätte niemals solches Gefolge. Ihm folgten Nationen. Er ist ein König; oh, daß ich ihm folgen dürfte!« Ben Hur hörte erstaunt diese Worte. Simonides, der merkte, daß Ben Hur gehört, was er sagte, fügte schnell hinzu: »Sprich mit Balthasar. Wir wollen weiter!« Da fragte Esther: »Wer sind die weinenden Frauen dort?« »Ich kenne sie«, antwortete Ben Hur, »die eine ist seine Mut­ ter Maria, die anderen sind gute Frauen aus Galiläa, der Mann ist der Jünger des Nazareners, den er am meisten liebte.« Was sie nun sahen, war wirklich der Auswurf Jerusalems, schaudernd hörten sie die Schreie: »Platz für den König der Juden! Den Schänder des Tempels! Den Gotteslästerer! Kreu­ zigt ihn!« Ben Hur stand da und dachte zurück. Bei der Mordlust der Menge mußte er an die Milde des Nazareners denken und an die vielen Wohltaten, die jener den Menschen erwiesen hatte. Auch er selbst hatte sie ihm zu danken. Hatte dieser Mann ihn nicht getröstet, als er zu einem beinahe sicheren Tod auf die Galeere geführt wurde? Schmeckte er nicht noch den Trunk am 466

Brunnen von Nazareth! Hatte er dem Nazarener nicht erst vor wenigen Tagen die wunderbare Heilung seiner Mutter und Schwester zu danken? War es möglich, daß gar nichts zu seiner eigenen Rettung getan werden konnte? Mußte Ben Hur nicht Hilfe zurückgeben dem, der ihm so viel geholfen hatte? Er hätte mehr tun können! Er hatte seine Pflicht versäumt und die Galiläer besser bewachen müssen, dann wären sie treu geblie­ ben und verläßlich. Jetzt war der Augenblick der Tat da. Ein wohlgeplanter Ausfall würde nicht nur diese Rotte auseinan­ dersprengen, sondern er würde wie ein Fanfarenstoß Israel sammeln und würde der Beginn des Kampfes für die ersehnte Freiheit sein. Da sah er einige seiner Galiläer. Er eilte sofort zu ihnen. »Folgt mir! Ich muß mit euch sprechen!« Die Männer gehorchten. »Ihr gehört zu denen, die mein Schwert tragen und bereit waren, für die Freiheit und für den zukünftigen König zu kämpfen. Ihr habt eure Schwerter bei euch. Jetzt ist noch Zeit, sie zu gebrauchen. Geht, sucht überall nach euren Genossen und sagte ihnen, daß ich sie bei der Kreuzigungsstätte auf Golgatha erwarte. Beeilt euch! Der Nazarener ist der König. Wenn er stirbt, dann stirbt auch die Freiheit!« Sie blickten ihn ehrerbietig an, rührten sich aber nicht von der Stelle. »Hört ihr denn nicht?« Da trat einer aus dem Haufen vor. »Sohn Judas, du bist getäuscht worden. Der Nazarener ist nicht der König. Er hat nicht den Geist eines Königs. Wir waren mit ihm beim Einzug in Jerusalem. Wir sahen ihn im Tempel. Er enttäuschte uns und ganz Israel, weil er den Tempel verließ und den Thron Davids verschmähte. Er ist nicht der König. Und Galiläa hält nichts mehr von ihm. Er soll sterben. Und du, Sohn Judas, höre, wir führen deine Schwerter und sind bereit, sie für die Freiheit zu führen, und ganz Galiläa mit uns. 467

Sage, daß die Freiheit dein Ziel ist. Dann kommen wir beim Kreuze mit dir zusammen.« Der entscheidende Augenblick seines Lebens war für Ben Hur gekommen. Er begriff, jetzt mußte er handeln und das Wort sprechen, das alles wandeln konnte. Aber ihn überkam ein Gefühl der Verwirrung, er konnte es sich nicht erklären. Er stand ratlos, wortlos da. Dann barg er das Gesicht in den Händen. Der innere Kampf zwischen seinem Willen und einer höheren Macht ließ ihn erzittern. Da rief Simonides nach ihm. »Komm, wir warten auf dich.« Willenlos folgte er dem Sessel und der Sänfte. Esther ging an seiner Seite. Wie Balthasar und seine Gefährten in der Wüste, so ließ sich jetzt auch Ben Hur von einer höheren Macht leiten.

Die Kreuzigung Als sie den Ort der Kreuzigung erreichten, übernahm es Ben Hur, seinen Freunden einen Platz zu schaffen. Wie er es fertig­ gebracht hatte, ihnen den Weg durch das Gedränge zu bahnen, wußte er nicht, ebensowenig konnte er sagen, welche Richtung sie eingeschlagen und wieviel Zeit sie gebraucht hatten. Unbe­ wußt, ohne zu sehen, zu hören oder zu wissen weshalb, war er am Ort angelangt. In dem Zustand, in dem er sich jetzt befand, vermochte er so wenig wie ein Kind zur Verhinderung des furchtbaren Verbrechens zu tun. Der Gipfel Golgathas war wie ein Schädel geformt und trok­ ken und staubig. Mit Ausnahme einiger kümmerlicher Ysopstengel war er ohne Pflanzenwuchs. Die zur Kreuzigung ausgewählte Stelle auf dem höchsten Punkt des Hügels war schon von einer dichten lebendigen Mauer umgeben, die von einer Schar römischer Soldaten am weiteren Vordringen gehindert wurde. Ben Hur war bis zur äußersten Grenze des 468

zugewiesenen Raumes gelangt. Dort stand er nun. Wohin er blickte, sah er keinen Fleck Erde, keinen Felsen, nichts Grünes – nur Gesichter, Tausende und Tausende. Da standen sie nun vor dem schrecklichen Schauspiel. Die beiden Schacher waren ihnen gleichgültig; ihr Haß oder ihre Furcht oder ihre Neugier schlug nur dem einen Mann entgegen, ihm, der sie alle liebte und der für sie starb. Auf dem Hügel stand stolz der Hohenpriester in seinem Prachtgewande. Noch höher, allen sichtbar, stand, gebeugt, leidend, schweigend, der Nazarener. Einer der Soldaten hatte ihm zum Spott ein Rohr als Zepter in die Hand gegeben. Lärm, Gelächter, Flüche, Verwünschungen, bald einzeln, bald im Chor, umtobten ihn. In Ben Hur ging eine innere Wandlung vor. War es das Mit­ leid, oder hatte es eine andere Ursache? Ein Gefühl überkam ihn, das ihm die Kraft verlieh, die Qualen des Geistes ebenso wie die körperlichen Leiden zu ertragen, das ihm den Tod erwünscht erscheinen ließ als den Übergang zu einem besseren Leben – vielleicht zum Leben der Seele, das Balthasar so beredt verteidigte. Er begann einzusehen und zu verstehen, daß es des Nazareners Sendung war, alle, die ihn lieben, über die Grenze des Irdischen hinaus in jenes Reich zu führen, das ihm und den Seinen bereitet war. Und er glaubte im Geiste die Worte des Nazareners zu vernehmen, die er einst von ihm gehört hatte und die er damals nicht verstand: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Und wie man eine dem Wortlaut nach bereits verstandene Frage wiederholt, um auch den Sinn zu erfassen, fragte er sich, immer seine Augen auf die Gestalt auf dem Hügel geheftet: Wer ist die Auferstehung? Wer ist das Leben? – Ich! schien ihm diese Gestalt zu antworten. Und Ben Hur überkam ein Gefühl des Friedens, wie er es nie gekannt hatte, eines Frie­ dens, der allem Zweifel und allem Schwanken ein Ende machte und in dem der Glaube, die Liebe und die Überzeugung began­ 469

nen. Dumpfe Hammerschläge schreckten Ben Hur aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah, wie einige Soldaten und Werkleute die Kreuze herrichteten. Die Löcher, die sie auf­ nehmen sollten, waren bereits gegraben. »Treib sie zur Eile an! Die Verurteilten müssen vor Sonnen­ untergang tot und begraben sein, damit das Land nicht unrein werde. So lautet das Gesetz.« Mit diesen Worten hatte sich der Hohenpriester an den Hauptmann der Soldaten gewandt. Einer der Soldaten, der milder gesinnt schien, trat auf den Nazarener zu und bot ihm zu trinken an. Er aber verweigerte den Trank. Dann kam ein anderer und nahm ihm das Brett mit der Inschrift vom Hals und befestigte es am oberen Stamm des Kreuzes. Damit waren alle Vorbereitungen beendet. »Die Kreuze sind bereit!« Der Hauptmann hatte es dem Hohenpriester gemeldet. »Der Gotteslästerer kommt zuerst an die Reihe. Als Sohn Gottes sollte er in der Lage sein, sich selber zu retten. Wir werden sehen, ob er es kann.« Es wurde unheimlich still. Als die Soldaten Hand an den Nazarener legten, um ihn an das Kreuz zu nageln, ging ein Schauder durch die Menge. Selbst die Grausamsten unter ihnen fühlten ein Zittern. Viele sagten später, die Luft sei plötzlich eiskalt geworden. »Wie unheimlich es ist!« flüsterte Esther angstvoll und klammerte sich an ihren Vater. Und Simonides hob ihr Gesicht zu sich empor; er gedachte der Stunden seiner Folterung und sagte ihr leise: »Blicke weg, Esther, blicke weg! Mir scheint, daß alle, die es sehen, die Unschuldigen wie die Schuldigen, von dieser Stunde an verflucht sein werden.« Balthasar fiel auf die Knie. »Sohn Hurs, wenn Jehova jetzt nicht seine Hand ausstreckt, 470

ist Israel, sind wir alle verloren.« Ben Hur antwortete ruhig: »Ich war in einem Traum, Simonides, und hörte darin, war­ um das alles geschehen mußte und daß es geschehen muß. Es ist des Nazareners, es ist Gottes Wille! Laß uns tun, was Balthasar tut – still sein und beten.« Er blickte noch einmal zum Hügel hin und glaubte noch ein­ mal die Worte zu vernehmen: Ich bin die Auferstehung und das Leben! Und er verneigte sich ehrfurchtsvoll. Auf dem Gipfel ging indessen das grausame Werk vor sich. Die Soldaten beraubten den Nazarener seiner Kleider. Entblößt war er den Blicken der Menge preisgegeben. Man sah die blutigen Striemen der Geißelhiebe, die er am Morgen erhalten hatte. Erbarmungslos wurde er auf das Kreuz geworfen und darauf ausgestreckt. Sie zogen seine Arme auf den Querbalken, setzten die Nägel an – und einige kräftige Hammerschläge verbanden ihn mit dem Kreuz. Dann schoben sie seine Knie so, daß die Fußsohlen auf dem Stamm des Kreuzes ruhten, legten einen Fuß über den anderen und schlugen durch beide einen langen Nagel. Dumpf erklangen die Schläge. Selbst jene, die sie nicht hörten, sahen die Bewegungen der Henkersknechte und erbebten. Der Nazarener aber duldete stumm. Kein Laut kam über seine Lippen. »Nach welcher Richtung soll er schauen?« »Gegen den Tempel hin. Er soll noch im Tode das heilige Gebäude sehen, das er im Leben geschändet hat.« Die Soldaten ergriffen das Kreuz und trugen es samt seiner Last nach dem vorbestimmten Platz, senkten es in die Erde und drehten es so, wie der Hohenpriester es befohlen. Der Körper des Nazareners hing an den blutenden Händen. Noch ließ er keinen Laut des Schmerzes hören. Nur eine Bitte, die göttlichste aller Bitten, kam über seine Lippen: 471

»Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!« Die Menge begrüßte jetzt das allen sichtbare Kreuz mit ei­ nem wilden Geschrei. Jene, die die Schrift lesen konnten, beeilten sich, sie zu entziffern, und teilten den Inhalt den Umstehenden mit. Und bald erscholl von allen Seiten der höhnende Ruf: »Sei gegrüßt, König der Juden! Heil dir, König der Juden!« Die Sonne stand im Mittag. Die Berge, die Stadt, der Tempel, die Paläste, Türme und Zinnen erstrahlten. Aber plötzlich erlosch ihr Glanz, und eine Dämmerung brach über die Erde und den Himmel herein. Sie nahm so schnell zu, daß die Abertausende erschraken. Das Höhnen und Lärmen verstumm­ te, und angsterfüllt schauten sich die Menschen an. Sie erblaßten und zitterten. »Es ist nur ein Nebel oder eine vorüberziehende Wolke«, sagte Simonides tröstend zu Esther. Ben Hur dachte anders. Es ist kein Nebel und keine Wolke, sondern die Propheten und die Heiligen verhüllen die Sonne und die Natur, damit sie dieses grausige Schauspiel nicht sehen müssen. Und zu Simonides gewandt, sagte er: »Ich sage dir, Simonides, so wahr der Herr lebt: Jener, der dort hängt, ist Gottes Sohn!« Und während er Simonides seinem Staunen über diese Worte überließ, ging er zu Balthasar, der in der Nähe kniete, legte seine Hand auf dessen Schulter und sagte: »Weiser Ägypter, höre mich! Du allein hattest recht. Der Nazarener ist Gottes Sohn!« Balthasar zog ihn zu sich herab und entgegnete mit schwa­ cher Stimme: »Ich sah ihn als Kind in der Krippe liegen. Es ist nicht zu verwundern, daß ich ihn eher erkannte als du. Wäre ich doch gestorben, wie die glücklichen Freunde Melchior und Kaspar, dann hätte ich diesen Tag nicht erleben müssen!« Die Dämmerung hatte sich inzwischen zum Dunkel, dem die tiefste Finsternis folgte, verwandelt. Aber die Schergen auf 472

dem Bluthügel stellten ihre Arbeit nicht ein. Auch die beiden Schacher wurden gekreuzigt und auch diese Kreuze aufgerich­ tet. Dann wurden die Soldaten zurückgezogen, und die Menge hatte freien Zugang. Sich stoßend und schiebend, umdrängte sie die drei Kreuze. Der Nazarener wurde wieder mit Lästerun­ gen überschüttet. »Bist du der König der Juden, dann steige herab vom Kreuz!« »Wenn du jetzt herabsteigst, dann wollen wir dir folgen!« »Er wollte den Tempel zerstören und in drei Tagen wieder aufbauen und kann sich nicht selber helfen!« »Er nannte sich Gottes Sohn, wir wollen sehen, ob Gott ihn zu sich nimmt.« Esther zitterte vor Schreck und bat den Vater bebend, fortzu­ gehen, aus Angst, was noch geschehen könnte. Aber er hörte sie nicht. Allmählich hatte sich die Mauer um das Kreuz gelichtet, und Simonides hatte sich näher tragen lassen. Die anderen folgten ihm. Von ihrem Platz aus konnten sie den Gekreuzigten nur undeutlich erkennen, er erschien nur wie ein Schatten. Die zweite Stunde verging wie die erste. Der Nazarener wur­ de von der Menge verspottet und gelästert, die Schacher dagegen bemitleidet. Frauen kamen und knieten unter dem Kreuz. Als der Nazarener sie erblickte, sagte er zu seiner Mutter gewandt: »Weib, siehe, dein Sohn!« und zum Jünger: »Siehe, deine Mutter!« Es kam die dritte Stunde. Noch immer drängte sich das Volk um die Kreuze, aber die Menschen waren stiller geworden. Nur selten hörte man noch einen Ausruf. Wenn sie an das Kreuz des Nazareners kamen, schwiegen sie, schauten hinauf und gingen wortlos weiter. Auch die Soldaten, die kurz zuvor um seine Kleider gewürfelt hatten, standen unter der Aufsicht ihres Hauptmanns regungslos. Wenn der Nazarener einmal seufzte oder das schmerzende Haupt bewegte, dann sahen sie mit 473

ängstlichen Blicken hin. Am auffallendsten aber war das Benehmen des Hohenpriesters und seiner Leute. Als die Finsternis begann, verloren sie ihren Mut. Einige unter ihnen waren Sternkundige. Und als sich die Sonne zu verdunkeln begann, stellten sie allerlei Vermutungen darüber an. »Eine Sonnenfinsternis kann es nicht sein, denn es ist Voll­ mond.« Als niemand die ungewöhnliche Finsternis erklären konnte, begannen sie das Ereignis mit dem Nazarener in Verbindung zu bringen. Und je länger die unnatürliche Nacht anhielt, desto zaghafter und kleinlauter wurden sie. Sie beo­ bachteten jede Bewegung des Nazareners, belauschten die Reden des Volkes und sprachen nur noch flüsternd miteinan­ der. Vielleicht war er doch der Messias – und dann – und dann? Zagend warteten sie, was weiter geschehen werde. In Ben Hur war vollkommener Frieden. Er betete, das Ende des Gekreuzigten möge schnell kommen. Er erkannte, daß auch Simonides zu seinem Glauben gefunden hatte, auch sein kluges Gesicht spiegelte inneren Frieden. Der Greis sah manchmal zur Sonne empor, als suche er die Ursache der Finsternis zu erken­ nen. Esther hatte sich noch immer an ihn geklammert. »Fürchte dich nicht, Kind, bleibe und schaue mit mir! Viel­ leicht kommen noch mehr Offenbarungen. Wir wollen bis zum Ende ausharren…« Als die dritte Stunde seit der Kreuzigung etwa um die Hälfte vergangen war, kamen einige vom Auswurf der Stadt und blieben vor dem Kreuz stehen. »Bist du Gottes Sohn, dann steige herab!« Da hörte einer der Schacher auf zu jammern und rief dem Nazarener zu: »Wenn du Christus bist, dann hilf dir selbst und uns!« Die Umstehenden lachten. Der andere Schacher wandte sich um. »Fürchtest du Gott nicht? Wir erleiden die Strafe für unsere 474

Vergehen. Dieser aber hat nichts Böses getan!« Dann wandte er sich dem Nazarener zu. »Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!« Simonides hörte dieses Wort, es traf ihn mitten in seine Zweifel, die er so oft mit Balthasar besprochen hatte. »Hast du gehört?« fragte Ben Hur. »Sein Reich kann nicht von dieser Welt sein. Ich hörte dasselbe Wort in meinem Traum.« »Still, ich bitte dich! Wenn der Nazarener antwortet…« Und der Nazarener antwortete mit lauter, weithin vernehmli­ cher Stimme: »Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Para­ diese sein!« Simonides lauschte atemlos, dann faltete er die Hände und sagte: »Es ist genug, Herr. Die Finsternis ist gegangen. Ich sehe mit anderen Augen – mit denen Balthasars, im vollkom­ menen Glauben.« Ihm war ein neues Leben gezeigt worden. Beim Kreuze herrschte Staunen und Bestürzung. Die listigen Priester sahen sich in einer schlimmen Lage. Sie hatten den Nazarener zum Tode verurteilt, weil er sich als Messias be­ zeichnet hatte. Jetzt am Kreuz verkündigte er sich nicht nur bestimmter als je, sondern versprach sogar dem Missetäter das Paradies. Auch der Hohenpriester zitterte. Woher nahm dieser Mensch so viel Zuversicht? Doch nur aus der Wahrheit. Und die Wahrheit, was war sie anderes als Gott! Es hätte in diesem Augenblick nicht viel bedurft, um sie alle in die Flucht zu schlagen. Der Atem des Nazareners wurde beklommener, es ging dem Ende zu. Die Kunde verbreitete sich von Mund zu Mund. Dann trat eine Stille ein. Erstickender Qualm erfüllte die Luft. Jetzt gesellte sich zu der Finsternis eine ungewöhnliche Hitze. Die Menge verhielt sich so lautlos, als wäre kein Mensch da. 475

Da erscholl vom Kreuze ein Klageruf:

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Der Ruf erfüllte alle mit Schrecken.

Und dann: »Mich dürstet!«

Die Soldaten hatten ein Gefäß mit Wein und Wasser und

einen Schwamm mitgebracht. Er stand in der Nähe Ben Hurs. Einer unerklärlichen Regung folgend, ergriff Ben Hur den Schwamm, tauchte ihn in das Gefäß, spießte ihn auf ein Rohr und nahte sich damit dem Kreuze. Die Menge rief zornig: »Haltet ihn! Haltet ihn!«

Ben Hur achtete nicht auf diesen Ruf. Er hielt den Schwamm

an die Lippen des Nazareners… Zu spät! Zu spät! Das Gesicht des Gekreuzigten, obwohl es ganz mit Blut überzogen war, leuchtete in überirdischem Glanz. Er öffnete die Augen und blickte zum Himmel. Ergebung, Erleichterung, ja Triumph lagen in dem Wort, das er ausrief: »Es ist vollbracht!« Das Licht seiner Augen erlosch. Langsam senkte sich das dornengekrönte Haupt auf die Brust. Ben Hur glaubte, daß er den letzten Kampf beendet habe. Aber die scheidende Seele raffte sich zu einer letzten Anstrengung auf. »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!«

Ein Zittern durchflog den gemarterten Körper. Des Nazare­

ners Sendung und irdisches Leben waren zu Ende. Ben Hur kehrte zu seinen Freunden zurück. »Es ist vorüber. Er ist tot!« Die Kunde vom Tode des Nazareners verbreitete sich mit Windesschnelle unter der Menge. Niemand sprach es laut aus. Flüsternd pflanzte es sich von Hügel zu Hügel fort: »Er ist tot!« Der Wunsch dieses Volkes war erfüllt. Der Nazarener war tot. Und doch blickten sie sich alle schreckensbleich an. Da erbebte die Erde. Die Finsternis wich plötzlich dem grell­ 476

sten Licht. Leuchtend stand die Sonne wieder am Himmel. Das Wanken der Erde dauerte an. Ein jeder suchte sich zu halten und sich zu stützen. Alle Blicke wandten sich den Kreuzen zu. Aber nur das mittlere fesselte ihre Blicke. Es schien bis in den Himmel hineinzureichen. Und jeder einzelne unter ihnen, der ihn geschlagen hatte, der ihn verspottet hatte, der mit in den Ruf eingestimmt hatte: Kreuzigt ihn!, jeder, der ihm den Tod gewünscht hatte, fühlte sich schuldig, als ob er allein die Schuld trage. Sie begannen zu laufen, als wenn sie um ihr Leben laufen müßten. Zu Fuß, zu Pferde, auf Kamelen und in Wagen streb­ ten sie davon, und das Beben und Wanken der Erde verfolgte sie. Sie wurden zu Boden geworfen, unterirdische Geräusche erschreckten sie, und berstende Felsen ließen sie furchtsam aufschreien. Sein Blut war über sie gekommen. Die Einheimischen und die Fremden, Priester und Laien, Reiche und Bettler, Sadduzä­ er und Pharisäer fielen übereinander und durcheinander. Die Antwort auf ihr Rufen nach dem Herrn gab ihnen die bebende Erde. Sie nahm keine Rücksicht auf Stand und Rang, Alter und Würde und hielt den Hohenpriester nicht für besser als seine schuldbefleckten Genossen. Sie warf auch ihn darnieder und bedeckte ihn mit Schmutz und Staub. Als die Sonne die Kreuzigungsgruppe wieder beleuchtete, waren die Mutter des Nazareners, der Jünger, die frommen Frauen, der Hauptmann und seine Soldaten und Ben Hur und seine Freunde die einzigen, die noch auf dem Hügel verweil­ ten. Sie hatten nicht auf die wilde Flucht der Menge geachtet; denn sie hatten mit sich selbst zu tun gehabt. Ben Hur nahm sich Esthers an: »Setze dich hierher zu deines Vaters Füßen! Verhülle deine Augen und schaute nicht auf. Aber vertraue auf Gott und auf den Geist dieses Menschen dort.« »Nein«, sagte Simonides, »nennen wir ihn nun den Chri­ 477

stus!« »Er ist es!« bestätigte Ben Hur. Ein Erdbebenstoß erschütterte den Hügel. Obwohl Ben Hur vom Wanken der Erde betäubt war, konnte er doch einen Blick auf Balthasar werfen. Er lag unbeweglich auf der Erde. Ben Hur eilte zu ihm, rief seinen Namen, erhielt aber keine Ant­ wort. Balthasar war tot. Ben Hur hatte wohl einen Schrei gehört auf das letzte Wort des Gekreuzigten, aber er hatte nicht darauf geachtet. So war die Seele des weisen Ägypters der seines Herrn ins Paradies gefolgt. Der letzte von denen, die den Heiland in der Wiege angebetet hatten, war gegangen. Glaube, Liebe und gute Werke – die drei Tugenden – hatten ihn sein Leben lang geleitet. Balthasars Diener war mit der Menge geflohen. So trugen ihn die beiden Galiläer in seiner Sänfte in die Stadt zurück. Es war ein trauriger Zug, der bei Sonnenuntergang durch das südliche Tor Ben Hurs Palast betrat. Balthasars Leiche wurde im Saal aufgebahrt. Alle beweinten seinen Tod; denn er hatte sich die Liebe aller gewonnen. Als sie aber in sein durch ein mildes Lächeln verklärtes Gesicht sahen, da sagten sie: »Ihm ist wohl! Er ist heute abend seliger, als er am Morgen auszog!« Ben Hur übernahm es, Iras die Nachricht vom Tode ihres Vaters zu überbringen. Er dachte an ihren Kummer, sie würde nun allein in der Welt sein. Es war ein Tag, an dem man vergeben und Mitleid mit ihr haben mußte. Er hatte nicht gefragt, warum sie nicht mit zum Berg Golgatha gegangen war oder wo sie sich aufhielt. Er wußte, daß er nicht an sie gedacht hatte, und er schämte sich. Er war bereit, ihr zu verzeihen. Er suchte sie, um sie an die Leiche ihres Vaters zu führen. Er schüttelte die Vorhänge ihrer Tür, hörte die silbernen Glöck­ chen, erhielt aber keine Antwort. Er rief ihren Namen – kein Zeichen kam. Als er das Zimmer betrat, fand er es leer. Er fragte die Diener. Keiner hatte sie während des Tages gesehen. 478

– Dann stieg er auf das Dach und suchte sie dort. Auch da war sie nicht. Nachdem er das ganze Haus vergebens durchsucht hatte, kehrte er in den Saal zurück und nahm die Stelle der Tochter bei dem Toten ein. Als das Begräbnis Balthasars vorüber war, führte Ben Hur am neunten Tage nach ihrer wunderbaren Heilung, und nach­ dem das Gesetz erfüllt war, seine Mutter und Tirzah nach Hause. In heiliger Ehrfurcht beugten sie an diesem Tage die Knie vor Gott, dem Vater, und Christus, seinem Sohn. Etwa fünf Jahre nach der Kreuzigung saß Esther, Ben Hurs Frau, in ihrem Zimmer in der herrlichen Villa bei Misenum. Es war Mittag, und die heiße Sonne Italiens lag auf den Reben und Rosen der Gärten. Die Ausstattung des Zimmers war römisch, nur Esther trug ihre jüdische Kleidung. Auf einer Löwenhaut, die am Boden lag, saßen zwei Kinder und spielten unter Tir­ zahs Aufsicht. Man brauchte nur zu sehen, mit welch zärtlichen Blicken Esther auf die Kinder sah, um zu wissen, daß es ihre Kinder waren. Die Zeit hatte keine Spuren an ihr zurückgelas­ sen. Sie war schöner denn je, alle ihre Lebenswünsche waren erfüllt worden. Ein Diener kam. »In der Vorhalle ist ein Weib, das die Herrin sprechen will.« »Laß sie eintreten!« Die Fremde kam. Bei ihrem Eintritt hatte sich Esther erho­ ben, um sie anzureden. Nach einem Blick aber zögerte sie und wich zurück. »Ich kannte dich einst, du bist…« »Iras, die Tochter Balthasars.« Esther befahl der Dienerin, einen Stuhl zu bringen. »Nein. Ich gehe sofort wieder.« Sie schauten einander an. Esther war eine schöne Frau und eine glückliche Frau. Ihrer einstigen Nebenbuhlerin schien das Glück nicht günstig gewesen zu sein. Wohl war ihr noch etwas von ihrer Schönheit geblieben, aber ihr war der Stempel eines 479

schlechten Lebens aufgedrückt. Ihr Gesicht sah gewöhnlich aus, die großen Augen waren entzündet, die Wangen farblos. Die zusammengepreßten Lippen hatten einen zynischen Zug, und die ganze Erscheinung deutete auf Vernachlässigung und frühzeitiges Altern. Ihre Kleidung war unordentlich und schmutzig. Sie brach das Schweigen. »Sind das deine Kinder?« »Ja, willst du mit ihnen sprechen?« »Ich könnte sie erschrecken.« Sie trat näher an Esther heran, die erschrak: »Fürchte dich nicht. Ich bringe eine Nachricht für Ben Hur. Sage ihm, daß sein Feind tot ist. Sage ihm, daß ich ihn getötet habe für all das Elend, das er über mich gebracht hat.« »Sein Feind?« »Messala! Sage ihm ferner, daß ich für das Böse, was ich ihm zufügen wollte, so hart gestraft wurde, daß selbst er mich bemitleiden würde.« In Esthers Augen traten Tränen. Sie wollte reden, aber Iras kam ihr zuvor. »Ich will kein Mitleid und keine Tränen. Sage Ben Hur, daß ich zu der Überzeugung gekommen bin, daß Römer sein heißt: ein Unmensch sein. Lebe wohl« Sie wandte sich zum Gehen. Esther folgte ihr. »Bleib und warte auf Ben Hur. Er hat nichts gegen dich. Er hat dich überall gesucht. Er wird dein Freund sein. Auch ich werde gut zu dir sein. Wir sind Christen.« Iras beharrte auf ihrem Willen. »Was ich heute bin, das bin ich aus freier Wahl. Es wird bald vorbei sein.« »Aber… haben wir nichts, was wir für dich tun können, nichts, um dir…« Iras schien sich zu wandeln, auf ihren Lippen erschien ein Lächeln. Sie schaute auf die Kinder. »Ja, etwas gibt es…« 480

Esther folgte ihren Blicken: »Es ist dir gewährt.« Iras kniete zu den Kindern nieder und küßte sie beide. Dann ging sie rasch zur Tür hinaus, ohne ein Wort des Abschieds. Bevor sich Esther von der Überraschung erholt hatte, war sie verschwunden. Ben Hur hatte nun die Gewißheit, daß Iras am Tage der Kreuzigung ihren Vater verlassen hatte, um zu Messala zu gehen. Er hatte damals überall nach ihr suchen lassen. Auch jetzt tat er es erneut. Aber er fand sie nicht. Die blaue See hatte ein neues Geheimnis. Simonides wurde sehr alt. Er zog sich im zehnten Jahr der Regierung des Kaisers Nero von den Geschäften in Antiochia zurück. Seinen scharfen Verstand und sein gutes Herz behielt er bis zum Ende. Das letzte seiner Schiffe lag am Flußufer vor Anker. Es war erst am Tage zuvor aus Rom gekommen und hatte die Nach­ richt gebracht, daß Nero dort die Christen verfolge. Ben Hur, Esther und die Kinder waren bei ihm auf dem Da­ che seines Hauses. Sie sprachen über dieses Ereignis. Malluch, der noch immer der vertraute Diener seines Herrn war, brachte einen Brief. Er war an Ben Hur gerichtet. »Wer brachte ihn?« – »Ein Araber.« »Wo ist er?« – »Er wollte nicht warten.« Ben Hur las den Brief, nachdem er ihn durchflogen hatte, laut vor: »Ich, Ilderim, Sohn Ilderims des Gütigen und Scheik des Stammes Ilderim an Judah, den Sohn Hurs. Freund meines Vaters! Erfahre, wie mein Vater Dich liebte. Lies die beigeschlossene Schrift, und Du wirst es wissen. Sein Wille ist mein Wille. Deshalb ist das, was er Dir gab, Dein Eigentum. Alles, was ihm die Parther raubten in der 481

großen Schlacht, in der er erschlagen wurde, habe ich zurück­ erobert. Unter vielem diese Schrift. Friede sei mit Dir und den Deinigen! Diese Stimme aus der Wüste ist die Stimme Deines Freundes, des Scheiks Ilderim«. Ben Hur entrollte einen vergilbten Papyrusbogen und las weiter: »Ilderim, genannt der Gütige, Scheik des Stammes Ilderim an den Sohn, der sein Nachfolger ist. Mein Sohn! Alles, was ich besitze, soll am Tage Deiner Nachfolge Dein sein, ausgenommen der Besitz bei Antiochia. Er soll dem Sohne Hurs gehören, der uns Ruhm im Zirkus brachte. Mache Deinem Vater keine Schande! Ilderim, der Gütige, Scheik.« »Was sagst du dazu?« Simonides, den Ben Hur fragend ansah, schwieg eine Weile. Er blickte nachdenklich vor sich hin. »Der Herr hat dich so wunderbar gesegnet. Du hast Ursache, ihm dankbar zu sein. Ich weiß, was du in Antiochia für den Glauben getan hast. Jetzt kommt, gerade in dem Augenblick, da du von dem fürstlichen Geschenk Ilderims Kenntnis er­ hältst, die Nachricht von der Verfolgung unserer Brüder in Rom. Dort ist für dich ein neues Arbeitsfeld. Das Licht darf in der Hauptstadt nicht erlöschen.« »Was kann ich tun?« »Die Römer, selbst Nero, halten nur zwei Dinge heilig: die Asche der Verstorbenen und die Begräbnisstätten. Kannst du dem Herrn keine Tempel über der Erde bauen, errichte sie unter der Erde. Und um sie zu schützen, laß die Leiber der toten Christen dahin bringen.« 482

Ben Hur erhob sich erregt. »Das ist ein großer Gedanke! Ich will nicht zögern, ihn zu verwirklichen. Das Schiff, das die Nachricht von der Verfol­ gung brachte, soll mich nach Rom zurückbringen. Ich reise morgen ab.« Er wandte sich an Malluch: »Laß das Schiff bereitmachen, und mache dich fertig, um mit mir zu gehen.« »Es ist gut!« sagte Simonides. »Und Esther, was sagst du?« fragte Ben Hur. »Damit wirst du den Christen am besten helfen. O mein Gat­ te, ich hindere dich nicht! Geh zu ihnen und hilf ihnen!« Was aus Ben Hurs Vermögen wurde, bezeugen die Kata­ komben des Heiligen Calixtus in Rom, jene Gräberstätten, aus denen das Christentum emporstieg und das heidnische Rom stürzte.

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Inhalt Erstes Buch........................................................................................ 2

In die Wüste.............................................................................. 2

Zusammenkunft der Weisen ..................................................... 6

Der Athener spricht – Glaube ................................................. 11

Erzählung des Hindu – Liebe.................................................. 15

Die Geschichte des Ägypters – Gute Werke........................... 20

Das Joppa-Tor in Jerusalem.................................................... 30

Typen am Joppa-Tor ............................................................... 33

Joseph und Maria gehen nach Bethlehem............................... 37

Die Höhle in Bethlehem ......................................................... 42

Das Licht am Himmel............................................................. 49

Christus ist geboren ................................................................ 50

Die Weisen in Jerusalem......................................................... 56

Die Zeugnisse vor Herodes..................................................... 59

Die Weisen finden das Kind ................................................... 69

Zweites Buch................................................................................... 73

Jerusalem unter den Römern................................................... 73

Ben Hur und Messala.............................................................. 76

Ein jüdisches Haus.................................................................. 85

Die sonderbaren Fragen Ben Hurs .......................................... 89

Rom und Israel........................................................................ 94

Der Unfall des Gratus ........................................................... 102

Ein Galeerensklave ............................................................... 114

Drittes Buch................................................................................... 119

Sejanus an C. Cäcilius Rufus, Duumvir................................ 122

Am Ruder.............................................................................. 125

Arrius und Ben Hur auf Deck ............................................... 131

Nummer 60 ........................................................................... 139

Die Seeschlacht..................................................................... 145

Arrius adoptiert Ben Hur ...................................................... 151

Viertes Buch .................................................................................. 159

Ben Hur kehrt nach dem Osten zurück ................................. 159

Auf dem Orontes................................................................... 163

Die Frage an Simonides ........................................................ 167

Simonides und Esther ........................................................... 177

Der Hain der Daphne ............................................................ 186

Die Maulbeeren der Daphne ................................................. 191

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Das Stadion im Hain ............................................................. 195

Die Castalische Quelle.......................................................... 200

Besprechung über das Wagenrennen .................................... 207

Ben Hur hört von Christus .................................................... 213

Der weise Diener und seine Tochter ..................................... 220

Eine römische Orgie ............................................................. 229

Ein Lenker für llderims Araber............................................. 238

Im Palmengarten ................................................................... 248

Balthasar und Ben Hur.......................................................... 250

Christus ist erschienen .......................................................... 254

Das Königreich ..................................................................... 261

Fünftes Buch ................................................................................. 267

Messala legt seinen Kranz ab................................................ 267

Ilderims Araber im Joch........................................................ 272

Die Künste der Kleopatra...................................................... 279

Messala hält Wacht............................................................... 285

Ilderim und Ben Hur beraten ................................................ 286

Die vier Araber werden erprobt ............................................ 292

Simonides legt Rechnung ab................................................. 295

Geistig oder politisch? .......................................................... 300

Esther und Ben Hur............................................................... 307

Angekündigt für das Rennen ................................................ 310

Die Wetten werden abgeschlossen........................................ 315

Der Zirkus............................................................................. 320

Der Beginn............................................................................ 323

Das Wagenrennen ................................................................. 327

Die Einladung der Iras .......................................................... 334

Im Palast von Idernee ........................................................... 337

Sechstes Buch................................................................................ 347

Der Turm von Antonia, – Zelle Nr. 6 ................................... 347

Die Aussätzigen .................................................................... 353

Wieder in Jerusalem.............................................................. 358

Ben Hur vor der Tür seines Vaterhauses .............................. 360

Das Grab über dem Königsgarten......................................... 365

Eine List des Pilatus. – Der Kampf....................................... 372

Siebentes Buch .............................................................................. 383

Jerusalem geht zu einem Propheten ...................................... 383

Mittagsrast am Quell............................................................. 386

Das Leben der Seele ............................................................. 391

Ben Hur hält Wacht mit Iras ................................................. 398

In Bethabara.......................................................................... 403

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Achtes Buch .................................................................................. 411

Gäste im Hause Hur.............................................................. 411

Ben Hur erzählt vom Nazarener............................................ 420

Die Aussätzigen verlassen ihr Grab ...................................... 426

Das Wunder .......................................................................... 433

Pilger zum Osterfest.............................................................. 440

Eine Schlange vom Nil ......................................................... 444

Ben Hur kehrt zu Esther zurück............................................ 452

Gethsemane – »Wen suchet ihr?«......................................... 455

Der Gang zum Kalvarienberg ............................................... 461

Die Kreuzigung..................................................................... 468

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