Camp Concentration

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Camp Concentration

CAMP CONCENTRATION

Camp Concentration

Science-Fiction-Roman von

Thomas M. Disch

EDITIONS RENCONTRE LAUSANNE

Aus dem Amerikanischen übertragen von Gertrud Baruch Die Originalausgabe erschien unter dem Titel CAMP CONCENTRATION im Verlag Rupert Hart-Davis Ltd. London

© Copyright 1968 by Thomas M. Disch

Lizenzausgabe mit Genehmigung des Lichtenberg Verlags GmbH, München,

für Editions Rencontre Lausanne

Redaktion: W. Jeschke

Gedruckt von Union-Rencontre, Mülhausen

Printed in France

E-Book by Brrazo 09/2009

Was ich im Traum gesehn, erzählt’ ich dir;

Jetzt, Leser, deute dieses Traumbild mir,

Dir selbst, dem Nachbarn. Doch sei dir bewußt,

Daß falsche Deutung du vermeiden mußt.

Denn willst du Böses in dem Traum erraten,

So wirst du, Leser, dir nur selber schaden.

Und richte deinen Blick nicht nur gebannt

Auf meines Traumes äußeres Gewand.

Was er von mir erzählt, soll nicht verleiten

Zum Lachen dich, geschweige denn zum Streiten;

Das steht den Kindern, steht den Narren zu.

Des Traumes wahren Sinn erkenne du!

Du mußt enthüllen, was der Schleier deckt.

Was hinter den Metaphern sich versteckt;

Die echte Botschaft wird dir dann zuteil,

Und dir und andern dient der Traum zum Heil.

Manch unnütz’ Ding mag dieser Traum enthalten,

Wirf es von dir! Das Gold gilt’s zu behalten,

Auch dann, wenn es von Erz noch dicht umschlossen:

Den Kern nur findet, wer die Frucht genossen.

Und solltest diese Einsicht du versäumen,

Dann werd’ ich dennoch immer wieder träumen.

JOHN BUNYAN

Des Pilgers Reise

ERSTER TEIL

11. Mai Der junge R. M., mein mormonischer Wärter, hat mir endlich Papier gebracht. Vor genau drei Monaten habe ich ihn zum er­ sten Mal darum gebeten. Warum hat er sich’s plötzlich anders überlegt? Vielleicht ist es Andrea irgendwie gelungen, ihn zu bestechen. Rigor Mortis bestreitet es zwar, aber das habe ich nicht anders erwartet. Wir sprachen über Politik, und ich konnte seinen Andeutungen entnehmen, daß sich Präsident McNamara für den Einsatz taktischer Kernwaffen entschieden hat. Mögli­ cherweise habe ich also nicht Andrea, sondern McNamara das Papier zu verdanken, denn R. M. hat es die ganze Zeit gewurmt, daß man General Sherman, den armen General Sherman, nicht mit der nötigen Schlagkraft ausgestattet hat. Wenn R. M. guter Laune ist, wie heute, flackert sein fürchterliches Lächeln – zwischen schmalen, straffen Lippen ein wahres Totenschädel­ gebiß – bei der leisesten Andeutung von Humor auf. Warum haben alle Mormonen, die ich kenne, das gleiche verkrampfte Lächeln? Leiden sie alle unter schlechter Verdauung? Dies ist mein Tagebuch. Hier kann ich offen sprechen. Offen gesagt: Ich fühle mich schrecklich elend. 12. Mai Tagebuchaufzeichnungen, wie ich sie früher gemacht habe, werden meist unversehens zu bloßen Selbstermunterungen. Jetzt aber muß ich von Anfang an auf die genaue Schilderung der äußeren Umstände bedacht sein, wobei mir das unvergleich­ liche Protokoll eines Gefangenendaseins, Aus einem Totenhaus, als Vorbild dienen soll. Hier wird es mir sicher leichtfallen, sol­ che Details zu beschreiben, denn seit meiner Kindheit bin ich von den äußeren Umständen nicht mehr so tyrannisiert worden. 9

Vor der Hauptmahlzeit erlebe ich täglich zwei Stunden lang ein Gethsemane der Angst und Hoffnung. Angst davor, daß man uns wieder diese ekelhaften Spaghetti bringen wird. Hoffnung darauf, daß ich in meiner Eintopfration einen Fleischbrocken entdecken oder zum Nachtisch einen Apfel bekommen werde. Noch schlimmer als der Fraß ist die irre Schrubberei, die wir jeden Morgen vor der Zelleninspektion veranstalten müssen. Die Zellen sind so steril wie die Ideen von Philip Johnson (Waschraum im Grand-Central-Bahnhof). Wir dagegen, die Gefangenen, strömen den unvorstellbaren, unausrottbaren Ge­ ruch vertrockneten, unnützen Fleisches aus. Dennoch: Wir leben hier nicht schlechter, als wir es jenseits dieser Mauern getan hätten, wären wir dem Einberufungsbefehl gefolgt. So scheußlich dieses Gefängnis ist – es hat den Vorteil, daß es uns nicht so rasch, nicht so sicher in den Tod schicken wird. Ganz zu schweigen von dem unschätzbaren Vorteil, daß wir uns auf unsere Standfestigkeit berufen können. »Wir« – wer ist das? Außer mir selbst nicht mehr als ein Dutzend Kriegsdienstverweigerer. Man hält uns sorgfältig von­ einander getrennt, damit kein Gemeinschaftsgeist aufkommen kann. Die Gefangenen – die echten Gefangenen – strafen uns mit Verachtung. Sie können sich auf etwas berufen, das mehr gilt als Standfestigkeit: auf ihre Schuld. So wird unsere Isolie­ rung, meine Isolierung, immer größer. Aber ich fürchte, mein Selbstmitleid auch. An manchen Abenden sitze ich hier und hoffe, daß R. M. hereinkommen und sich mit mir streiten wird. Vier Monate! Und sie haben mich zu fünf Jahren verurteilt … Das ist das Gorgonenhaupt, das ich immer und überall vor mir sehe. 13. Mai Ich muß von Smede berichten. Gefängnisdirektor Smede, mein Erzfeind. Smede der Eigenmächtige verbietet mir noch 10

immer, die Bibliothek zu benutzen, und erlaubt mir nur ein Neues Testament und ein Gebetbuch. Es ist, als müßte ich, wie mir als Kind oft angedroht wurde, die Sommerferien beim ver­ haßten Onkel Morris verbringen, der meinen Eltern einredete, ich würde vom vielen Lesen »das Augenlicht verlieren«. Smede: kahl, geräuschvoll, feist wie ein aus dem Leim gegangener Sportler. Schon wegen seines Namens könnte man ihn verab­ scheuen. Heute erfuhr ich aus dem kurzen, nicht der Zensur (Smede?) zum Opfer gefallenen Abschnitt meines monatlichen Briefs von Andrea, daß die Korrekturfahnen von Die Hügel der Schweiz von der Gefängnisverwaltung an den Verlag zurückge­ schickt wurden, unter Hinweis auf die bei der Korrespondenz mit Gefangenen zu beachtenden Vorschriften. Das ist bereits drei Monate her. Inzwischen ist das Buch erschienen. Und es ist rezensiert worden! (Wahrscheinlich hat sich der Verleger so beeilt, weil er sich von der Gerichtsverhandlung kostenlose Re­ klame versprochen hat.) Natürlich hat der Zensor die Besprechung, die Andreas Brief beilag, beschlagnahmt. Seelenqualen der Eitelkeit! Seit zehn Jahren habe ich, abgesehen von meiner miserablen Dissertation über Winstanley, kein Buch veröffentlicht; jetzt sind meine Ge­ dichte erschienen, und es kann fünf Jahre dauern, bis ich sie zu sehen bekomme. Die Pest über Smede! Der Schlag soll ihn tref­ fen! Habe versucht, an meinem Gedichtzyklus Zeremonien zu ar­ beiten. Kann nicht. Die Quelle ist versiegt. Versiegt. 14. Mai Spaghetti. In solchen Nächten (ich mache diese Aufzeichnungen nach dem Verlöschen der Lampen, im trüben Schein der 20-WattBirne über dem Klosett) frage ich mich, ob meine Entschei­ 11

dung, ins Gefängnis zu gehen, richtig war. Bin ich nicht ein Narr? Ist das Heldentum oder Masochismus? In meinem Privat­ leben haben Gewissensgründe keine große Rolle gespielt. Aber verdammt noch mal, dieser Krieg ist ein Unrecht! Ich hatte geglaubt (hatte es mir eingeredet), daß der Ent­ schluß, mich einsperren zu lassen, fast das gleiche bedeuten würde wie der Eintritt in ein Trappistenkloster, daß Entbehrun­ gen leichter zu ertragen seien, wenn man sie freiwillig auf sich nimmt. Ich habe stets bedauert, daß es mir als verheiratetem Mann versagt blieb, alle Vorzüge des kontemplativen Lebens auszukosten. Ich hielt die Askese für einen seltenen Luxus, für eine geistige Delikatesse. Haha! In der Koje unter mir schnarcht ein kleinbürgerlicher Mafioso (wegen Steuerhinterziehung eingelocht) zufrieden vor sich hin. Eine Matratze quietscht in der greifbaren Dunkelheit. Ich versuche an Andrea zu denken. Im Gymnasium riet uns Pater Wilfred, zur Heiligen Jungfrau zu beten, wenn uns lüsterne Ge­ danken überkämen. Ihm hat’s vielleicht geholfen. 15. Mai Nel mezzo del Camino di nostra vita – tatsächlich! Mein 35. Geburtstag und ein Anflug von Schrecken. Heute morgen, vor dem Rasierspiegel aus Metall, machte sich mein Doppelgänger, Louie II. kurz bemerkbar. Er verspottete und verhöhnte und beschmutzte das Banner des Glaubens, ganz zu schweigen von dem der Hoffnung (das sowieso schon ziemlich schmutzig ist) mit seinen unflätigen Witzen. Ich erinnere mich des deprimie­ renden Sommers, als ich fünfzehn war, des Sommers, als Louie II. von meiner Seele Besitz ergriff. War es wirklich deprimierend? Nein, in Wirklichkeit machte es mir Vergnügen, non serviam zu sagen, ein Vergnügen, das sich in der Erinnerung noch immer mit meinen ersten sexuellen Erfahrungen vermischt. 12

Ist meine gegenwärtige Situation wirklich so anders? Nur in­ sofern, als ich jetzt nicht zu Gott, sondern zu Cäsar non serviam sage. Als der Gefängnispfarrer erschien, um mir die Beichte abzu­ nehmen, erwähnte ich diese Zweifel nicht. In seiner Unschuld hätte er sich vielleicht auf die Seite des zynischen zweiten Louie geschlagen. Aber inzwischen hat er gelernt, mich mit seiner dürren Kasuistik zu verschonen (der Herr Pfarrer ist einer jener unverbesserlichen irischen Thomisten!) und mich – an­ geblich – als den Menschen zu akzeptieren, für den ich mich selbst halte. »Aber hüten Sie sich«, sagte er, bevor er mir die Absolution erteilte, »hüten sie sich vor geistigem Hochmut, Louie!« Womit meiner Erfahrung nach immer gemeint ist, man solle sich vor dem Denken hüten. Wie unterscheidet man zwischen Standfestigkeit und Eigen­ sinn? Und zwischen den beiden Louies? Wie kann man, wenn man sich einmal entschieden hat, aufhören zu fragen? (Das ist die Frage.) Hat jemand wie R. M. solche Probleme? Er wirkt, als hätte er zeit seines Lebens nie an etwas gezweifelt – und dabei scheinen die Mormonen doch besonders viel Grund dafür zu haben. Mit meiner Nächstenliebe ist es nicht weit her. Auch diese Quelle versiegt allmählich. 16. Mai Heute haben sie uns hinausgeschickt, um kranke Bäume zu fällen und zu verbrennen. Ein neuer Virus, oder einer von un­ sern, der sich nach draußen verirrt hat. Obwohl Frühling ist, wirkt die Landschaft vor den Gefängnismauern genauso trostlos wie die dahinter. Der Krieg hat jetzt auch die letzten Spuren unseres einstigen Überflusses getilgt und nagt bereits am Lebens­ nerv. 13

Nach der Rückkehr mußten wir wieder einmal zur Impfung marschieren. Der Arzt ließ mich warten, bis die andern den Raum verlassen hatten. Panik ergriff mich: Hatte er bei mir die Symptome einer jener neuen Krankheiten entdeckt, die uns der Krieg beschert? Nein – er zeigte mir die Rezension von Die Hügel der Schweiz. Gott segne ihn. Die Mons hat sie für New Dissent geschrieben. Das Buch gefällt ihr (hurra!), obwohl sie – wie zu erwarten – Anstoß an den Fetisch-Gedichten nimmt. Außerdem sind ihr die Anspielungen auf Rilke entgangen, mit denen ich mir so viel Mühe gegeben habe. Schade! Während ich die Besprechung las, jagte mir der Arzt eine Spritze in den Oberschenkel. Fühlte sich an wie tausend ccm schleimige Flüs­ sigkeit. Aber ich war so glücklich, daß es mich kaum störte. Eine Rezension! Ich existiere also noch! Muß mich bei der Mons bedanken. Vielleicht gibt R. M. den Brief für mich auf. Viel­ leicht kann ich sogar wieder arbeiten! 17. Mai Die beiden Schwulen, mit denen wir, der Mafioso und ich, mißvergnügt unsere Zelle teilen (man beachte, daß ich nicht von ihrer Zelle spreche!), reden plötzlich nicht mehr miteinan­ der. Donny sitzt den ganzen Tag auf dem Klo und trommelt Blues. Peter brütet auf dem Bett vor sich hin. Manchmal be­ klagt sich Donny laut bei mir über Peters (tatsächliche oder an­ gebliche) Promiskuität. (Wann haben sie hier schon Gelegen­ heit zur Untreue?) Donny, jünger als Peter und schwarz, wirkt feminin, sogar in seiner Boshaftigkeit, die ebenso raffiniert wie fruchtlos ist. Peter ist für seine dreißig Jahre noch sehr attraktiv, wenngleich sein Gesicht verschlissen wirkt. Beide sind wegen Rauschgiftvergehen hier, aber Peter kann sich rühmen, schon 14

einmal unter Mordanklage gestanden zu haben. Er macht den Eindruck, als bedaure er seinen Freispruch. Ihre Leidenschaft füreinander wirkt in dieser Umgebung nicht gerade überzeu­ gend: Wenn du und ich die beiden einzigen Jungs auf der Welt wären … Jetzt ist noch jemand boshaft geworden! Ich muß zugeben, daß ich dergleichen auf der Bühne erträg­ licher finde – bei Genet zum Beispiel. Meine Toleranz versagt angesichts der Wirklichkeit. In dieser Situation ist es ein Vorteil, daß ich dick bin. Keinen, der Augen im Kopf hat, würde es nach diesem Körper gelüsten. Ich habe einmal vorgehabt, ein Buch zum Trost für Dicke zu schreiben: Fünfzig berühmte Fettwänste. Dr. Johnson, Alfred Hitchcock, Salinger, Thomas Aquinas, Melchior, Buddha, Nor­ bert Wiener u. a. Die Matratze quietscht heute nicht, aber immer wieder mischt sich in das Schnarchen des Mafioso ein Seufzer Donnys oder Peters. 18. Mai Heute abend eine Stunde mit dem jungen Rigor Mortis ver­ bracht. Daß ich ihm diesen Spitznamen gegeben habe, hat er eigentlich nicht verdient. Denn er ist der einzige hier, mit dem ich mich gewissermaßen angefreundet habe. Bei aller Sektiererei ist er ein ernst zu nehmender, gutwilliger Mensch, und unsere Gespräche sind, wie ich hoffe, mehr als rhetorische Übungen. Was mich betrifft, so empfinde ich über meinen Bekehrungsei­ fer hinaus den fast verzweifelten Wunsch, R. M. verstehen zu lernen; denn es sind Leute wie er, die diesen unglaublichen Krieg am Leben erhalten und zweifellos überzeugt sind, damit eine moralische Pflicht zu erfüllen. Oder soll ich die Meinung unserer modernen Mills-Jünger (oder besser unserer NeoMachiavellisten) akzeptieren, daß die Wählerschaft – die kleinen 15

Fische dieses Weltdramas – nur als Instrument benützt wird und daß die geheimen Herren und Meister im Olymp von Washington die Wählermeinung ebenso mühelos manipulieren wie (zugege­ benermaßen) die Presse? Vielleicht sollte ich mir sogar wünschen, daß es so wäre: Wenn man Menschen so leicht überreden könnte, dürften die wenigen Standfesten hoffen, daß einmal vielleicht auch ihre Stimme gehört wird. Tatsächlich aber ist es mir und den andern Mitgliedern des Friedenskomitees bisher nicht gelungen, je­ manden von dem Irrsinn und der Verworfenheit dieses Krieges zu überzeugen, der nicht insgeheim bereits der gleichen Mei­ nung war und nur noch eine Bestätigung brauchte. Vielleicht hat Andrea recht; vielleicht sollte ich den Krieg den Politikern und Propagandisten überlassen – den sogenannten Experten. (Richtig, Eichmann galt als »Experte« für die Lösung der Judenfrage. Er sprach immerhin Jiddisch!) Vielleicht sollte ich mich aus der Kontroverse heraushalten und meine Arbeit ausschließlich den Musen weihen. Und folglich meine Seele dem Teufel? Nein. Opposition ist zwar eine hoffnungslose Sache, aber Schweigen wäre schlimmer. Wie ist es Youngerman ergangen? Er hat geschwiegen, die Dinge laufen lassen, sein Gewissen geknebelt. Hat ihm seine Ironie geholfen? Oder die Muse? Wenn du eine akademische Festrede halten willst und erleben mußt, daß die Hälfte der Zuhörer den Saal verläßt, wo, o Dichter, bleibt dann deine hochmütige Indifferenz? Und sein letztes Buch – so schlecht, so schlecht! Aber Youngerman war sich wenigstens über die Bedeutung seines Schweigens klar. Wenn ich mit R. M. rede, scheint mir sogar die Bedeutung der Sprache verlorenzugehen: Ich versuche, Bedeutungen zu erhaschen, und sie flitzen davon wie Elritzen in einem Gebirgsbach. Oder, um eine bessere Metapher zu ge­ brauchen, ich habe das Gefühl, vor einer jener Geheimtüren zu 16

stehen, die in Gruselfilmen gezeigt werden. Sie sehen wie ein Bücherregal aus, aber wenn man den verborgenen Mechanis­ mus auslöst, drehen sie sich um die eigene Achse, und eine Mauer kommt zum Vorschein. Ich sollte einmal versuchen, diese Idee weiter auszuspinnen. Eine letzte Bemerkung über R. M.: Wir verstehen einander nicht, und ich fürchte, wir werden es nie. Manchmal frage ich mich, ob der Grund dafür nicht einfach darin zu suchen ist, daß er sehr dumm ist. 19. Mai Die Muse küßt mich – bezeichnenderweise in der höchst ir­ dischen Tarnung eines von Kopfschmerz begleiteten Durchfalls. Auden hat irgendwo (im Brief an Lord Byron?) geschrieben, daß »ein Poet oft zu guten Ideen gelangt, wenn er, rumm­ bumm-bumm, an Grippe erkrankt«. Obwohl es fast paradox klingt, habe ich mich seit Monaten nicht so wohl gefühlt wie heute. Zur Feier des Tages will ich mein kleines Gedicht aufschreiben (eine sehr bescheidene Lei­ stung, aber mein Gott, wie lange habe ich überhaupt nichts ge­ schrieben!): DAS LIED DER SEIDENRAUPE Wie kann ich mich überwinden Hineinzukriechen in diesen Kasten aus Zedernholz Seht ihr nicht Daß es noch zu früh ist Ich bin noch jung Der Tau hinter meinen Ohren Ist kaum getrocknet Worte können mein Leid Nicht beschreiben Und nicht mein Lied Lauscht dem Gesang 17

Selbst die Steine sind sprachlos Vor Entzücken Wie kann ich mich überwinden Hinabzusteigen In diese Dunkelheit Und meine Seele zurückzulassen Lauscht dem Gesang Schmetterlinge Und Scherben Gehören in den Kasten Nein, nein, nicht ich Haltet ein mit dem Wirbel Von Schmetterlingen und Scherben O haltet ein [Hier endet der handschriftliche Teil von Louis Sacchettis Tage­ buch. Die folgenden Passagen wurden mit der Maschine auf Papier anderen Formats und anderer Qualität geschrieben. – Der Herausgeber.] 2. Juni Ich bin eingesperrt! Man hat mich aus dem Gefängnis, in das ich rechtmäßig eingewiesen worden war, entführt und in ein anderes gebracht, in das ich nicht gehöre. Rechtsberatung ist mir verwehrt. Meine Proteste ignoriert man mit einem milden Lächeln, das mich rasend macht. Seit der Tyrannei, die auf den Spielplätzen meiner Kindheit herrschte, habe ich keine ähnlich arrogante Mißachtung aller Spielregeln erlebt, und ich stehe ihr hilflos gegenüber. An wen soll ich mich wenden? Wie ich er­ fahren habe, gibt es hier nicht einmal einen Geistlichen. Nur Gott kann mich hören – und meine Wärter. In Springfield war ich aus einem bestimmten Grund und auf bestimmte Zeit eingesperrt. Hier (wo immer das sein mag) ist nichts bestimmt, gibt es keine Regeln. Ich verlange unaufhör­ lich, nach Springfield zurückgebracht zu werden, aber als einzige Antwort zeigt man mir ein Formular, auf dem Smede meine Überführung genehmigt hat. Zur Hölle mit Smede! Zur Hölle mit diesen unbekannten 18

Kerls in ihren pompösen, schwarzen, nichtssagenden Unifor­ men! Zur Hölle mit mir selbst, weil ich dumm genug war, mich in eine Situation zu begeben, in der so etwas geschehen konnte! Ich hätte schlau sein sollen wie Larkin oder Revere, die sich verrückt stellten, um nicht eingezogen zu werden. Was hab’ ich jetzt von meiner Scheißmoral? Scheiße! Der Gipfel ist, daß der bejahrte, unbedarfte Kerl, dem ich re­ gelmäßig vorgeführt werde, mich gebeten hat, Aufzeichnungen über meine Erlebnisse hier zu machen. Ein Tagebuch. Er sagt, er bewundere meinen Stil! Ich hätte eine echte Begabung für den richtigen Ausdruck, sagt dieser bejahrte, unbedarfte Kerl. Hilf Himmel! Seit mehr als einer Woche versuche ich, mich wie ein richti­ ger Kriegsgefangener zu verhalten – Name, Rang, Versiche­ rungsnummer, Schluß – aber es ist das gleiche wie mit meinem Hungerstreik damals im Gefängnis von Montgomery: Wer nicht fähig ist, vier Tage hintereinander Diät zu halten, sollte keinen Hungerstreik beginnen. Da hast du dein Tagebuch, altes Arschloch! Was du damit tun kannst, weißt du. 3. Juni Er hat sich bei mir bedankt, jawohl, bedankt. Er sagte: »Ich verstehe, daß Sie das alles sehr verwirrend finden, Mr. Sacchetti.« (Noch nennt er mich »Mr. Sacchetti«!) »Glauben Sie mir, wir im Lager Archimedes werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Ihnen das Eingewöhnen zu erleichtern. Das ist meine Aufgabe. Ihre Aufgabe ist es, zu beobachten. Und Ihre Beob­ achtungen zu interpretieren. Aber damit brauchen Sie nicht so­ fort anzufangen. Es dauert eine Weile, bis man sich an eine neue Umgebung gewöhnt hat, das ist mir völlig klar. Aber ich bin sicher, daß Sie sich dann im Lager Archimedes viel wohler 19

fühlen werden, als Sie sich in Springfield gefühlt hätten, oder besser, als Sie sich in Springfield gefühlt haben. Sie wissen ja, daß ich die Aufzeichnungen gelesen habe, die Sie dort …« Ich unterbrach ihn mit der Bemerkung, ich hätte es nicht ge­ wußt. »Nun, Direktor Smede war so freundlich, sie herzuschicken, und ich habe sie gelesen. Mit großem Interesse. Übrigens hat man Ihnen dort nur auf meinen Wunsch erlaubt, ein Tagebuch zu führen. Ich wollte erst mal sehen, wie Sie das machen, bevor ich Sie hierher bringen ließ. Sie haben wirklich ein herzzerrei­ ßendes Bild von Ihrem Leben in Springfield gezeichnet. Ehr­ lich, ich war schockiert! Ich kann Ihnen versichern, Mr. Sac­ chetti, daß Ihnen hier keine solchen Qualen bevorstehen. Und außerdem kommen hier keine solchen widerlichen Techtel­ mechtel vor. Bestimmt nicht! Sie haben dort Ihre Zeit ver­ schwendet, Mr. Sacchetti. Das war nicht der richtige Ort für einen Mann von Ihrem geistigen Niveau. Ich bin selbst eine Art Experte in der F&E-Abteilung. Nicht gerade das, was man ein Genie nennt, das würde ich nicht behaupten, aber doch wohl ein Experte.« »F&E?« »Forschung und Entwicklung. Ich habe eine Nase für Talente und bin innerhalb meines bescheidenen Wirkungskreises ziem­ lich bekannt. Auf meinem Gebiet. Mein Name ist Haast. Mit zwei a.« »Doch nicht General Haast? Der damals die Pazifikinsel er­ obert hat?« Ich nahm natürlich an, daß mich die Armee jetzt doch geschnappt hatte! (Und ich halte das noch immer für mög­ lich.) Er fixierte die Schreibtischplatte. »Das ist lange her. Ich bin schon ziemlich alt, wie Sie ja bereits festgestellt haben, nicht wahr?« Ein beleidigter Blick. »Zu bejahrt … für die Armee.« Er sprach »bejahrt« wie ein Wort mit mindestens drei a aus. »Aber 20

ich habe noch ein paar Uniformschlipse und einige Kameraden, die noch immer etwas auf meine Meinung geben, obwohl ich bejahrt bin. Es überrascht mich, daß Sie meinen Namen mit Auaui in Verbindung bringen. 1944 waren Sie doch noch ein kleines Kind.« »Ich habe ein Buch gelesen, das … wann denn gleich … 1955 erschienen ist.« Haast wußte sofort, daß ich Fred Berri­ gans Mars in Konjunktion meinte, einen leicht fiktiven Bericht über das Unternehmen Auaui. Jahre nach Erscheinen des Bu­ ches begegnete ich Berrigan auf einer Party. Ein fabelhafter, hellwacher Bursche, dem gleichwohl das Unglück im Gesicht geschrieben stand. Einen Monat später beging er Selbstmord. Doch das ist eine andere Geschichte. Haast sah finster vor sich hin. »Auch damals hatte ich eine Nase für Talente. Manchmal allerdings gehen Talent und Verrat Hand in Hand. Aber es ist sinnlos, mit Ihnen über den Fall Ber­ rigan zu diskutieren, da Ihre Meinung darüber offenbar fest­ steht.« Dann fing er wieder mit seinem Willkommensgefasel an: Ich könnte die Bibliothek benutzen und würde wöchentlich fünfzig Dollar Taschengeld(!) erhalten – für die Kantine. Kino jeden Dienstag- und Donnerstagabend, Kaffee im Aufenthaltsraum usw. usw. Vor allem aber sollte ich mich frei fühlen, frei! Auch diesmal weigerte er sich, mir zu sagen, wo ich mich befand, warum ich hier war und wann ich entlassen oder nach Spring­ field zurückgeschickt würde. »Schreiben Sie ein gutes Tagebuch, Mr. Sacchetti. Mehr wollen wir nicht von Ihnen.« »Sie können mich Louie nennen, General Haast.« »O vielen Dank … Louie. Nennen Sie mich doch einfach H.H. So nennen mich meine Freunde.« »H.H.« »Abkürzung von Humphrey Haast. Aber der Name ›Hum­ 21

phrey‹ weckt in unserer weniger liberalen Zeit falsche Assozia­ tionen. Also – Ihr Tagebuch. Ich schlage vor, daß Sie sich jetzt zurückziehen und genau dort fortfahren, wo wir Sie kürzlich unterbrochen haben. Wir möchten, daß Ihr Tagebuch so minu­ ziös wie möglich ist. Tatsachen, Sacchetti – Verzeihung, Louie – Tatsachen! Genialität, sagt man, sei die unbegrenzte Fähigkeit, sich anzustrengen. Schreiben Sie so, als wollten Sie jemandem außerhalb dieses Lagers … berichten, was Sie hier erleben. Und ich erwarte brutale Ehrlichkeit von Ihnen. Schreiben Sie, was Sie denken. Nehmen Sie keine Rücksicht auf meine Gefühle.« »Will ich gern versuchen.« Ein mattes Lächeln. »Aber etwas sollten Sie stets beherzigen: Drücken Sie sich nicht zu … zu obskur aus. Denken Sie immer daran, daß wir an Tatsachen interessiert sind. Nicht an …« Er räusperte sich. »Dichtung?« »Wissen Sie, ich persönlich habe nichts gegen Dichtung. Sie können hier so viel dichten, wie Sie wollen – Sie sollen es sogar! Dafür werden Sie hier ein aufgeschlossenes Publikum finden. Aber in Ihrem Tagebuch müssen Sie sich verständlich aus­ drücken.« Dieser Scheißkerl! (Hier muß ich eine Kindheitserinnerung einfügen. Als ich ungefähr dreizehn war, trug ich Zeitungen aus, und unter mei­ nen Abonnenten war ein Offizier im Ruhestand. Jeden Don­ nerstagnachmittag kam ich zum Kassieren, aber der alte Major Youatt bezahlte immer erst, wenn ich ihm in seinem düsteren, mit Souvenirs vollgestopften Wohnzimmer eine Zeitlang zuge­ hört hatte. Die Hauptthemen seiner Monologe waren Frauen und Autos. Seine Einstellung zu ersteren war zwiespältig: Neu­ gierig-lüsterne Fragen nach meinen kleinen Freundinnen wech­ selten mit orakelhaften Warnungen vor Geschlechtskrankheiten. Autos sagten ihm mehr zu: hier war seine Erotik frei von Furcht. 22

Er trug Fotos von allen Autos, die er je besessen hatte, in der Brieftasche mit sich herum und zeigte sie mir immer wieder; er weidete sich daran – ein alter Lüstling, der die Trophäen seiner vergangenen Eroberungszüge liebkoste. Daß ich erst mit 29 Jahren autofahren lernte, habe ich stets auf meinen Horror vor diesem Menschen zurückgeführt. Ich erzähle diese Geschichte, weil Haast das Ebenbild von Youatt ist. Ein und dieselbe Schablone. Fit zu bleiben ist ihr höchstes Ziel. Ich vermute, daß Haast noch immer jeden Mor­ gen zwanzig Kniebeugen macht und einige imaginäre Meilen auf einem Trainingsgerät radfährt. Die rissige Kruste seines Gesichts ist von der Höhensonne knusprig braun geröstet. Sein schütteres graumeliertes Haar ist kurz geschoren. Er ist die per­ fekte Verkörperung des irrwitzigen Glaubens der Amerikaner an ein Leben ohne Tod. Und dabei ist er wahrscheinlich eine einzige große Krebskultur. Stimmt’s, H.H.?) Später Ich habe mich gefügt: Ich ging zur Bibliothek (die Kongreß­ bibliothek? Sie ist so riesig!) und lieh etwa drei Dutzend Bü­ cher aus, die jetzt die Regale in meinem Zimmer zieren. Es ist wirklich ein Zimmer, keine Zelle. Die Tür ist Tag und Nacht unverschlossen – falls man in dieser fensterlosen, labyrinthi­ schen Welt überhaupt von Tag und Nacht sprechen kann. Der Mangel an Fenstern soll offenbar durch den Überfluß an Türen wettgemacht werden: Es gibt hier unzählige weiße, an Alpha­ ville erinnernde Gänge mit numerierten, zumeist verschlosse­ nen Türen. Ein richtiges Blaubartschloß. Die einzigen unver­ schlossenen Türen, die ich bisher entdeckt habe, führen in Zimmer, die meinem aufs Haar gleichen, anscheinend aber un­ bewohnt sind. Bin ich eine Art Vorhut? Das stetige Surren der 23

Klimaanlage klingt durch die Gänge und singt mich »nachts« in Schlaf. Ist das hier eine Hohlwelt? Als ich die leeren Gänge erkundete, schwankte ich zwischen stummem Entsetzen und stummem Vergnügen – wie bei einem nicht ganz überzeugen­ den, aber doch recht gelungenen Horrorfilm. Mein Zimmer (Sie wollen Tatsachen, Sie sollen sie haben): Ich liebe es. Sieh, welch dunkler Ort!

»Stockdunkel« ist wohl das richtige Wort.

Einst ließt ihr’s mit weißer Farbe streichen

Jetzt kann man sie eher dem Mondlicht vergleichen.

Bei ihrem Anblick wird mir ganz schwach:

Ich glaub’ sie ist gelb,

Doch ich weiß es nicht – ach!

H.H. wird das bestimmt nicht goutieren. »Wirklich, H.H. das ist mir einfach in die Feder geflossen!« Als Gelegenheitsgedicht erreicht es nicht das Niveau von Ozymandias, aber ich will mich auch mit weniger zufriedengeben. Jawohl. Mein Zimmer (noch ein Versuch): Schmutziges Weiß (hier haben Sie in aller Kürze den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit); echte abstrakte Gemälde an den schmutzigwei­ ßen Wänden, ganz dem unfehlbaren Geschmack entsprechend, mit dem auch das New Yorker Hilton-Hotel ausgestattet ist, Gemälde, die so nichtssagend sind wie leere Wände oder Ror­ schachtest-Tafeln; teure, wuchtige Kirschbaummöbel im däni­ schen Stil, etwas aufgelockert durch lustig gestreifte Kissen; ein schmutzigbrauner Acrilanteppich; der Luxus unausgenutzten Platzes und leerer Ecken. Meiner Schätzung nach fast fünfzig Quadratmeter. Das Bett steht in einer Nische, vor die man duf­ tige, geblümte Vorhänge ziehen kann. Man hat das Gefühl, daß die Wände von außen durchsichtig und daß in den milchweißen runden Lampen Mikrophone verborgen sind. 24

Was soll das? Eine Frage, die jedem Versuchskaninchen auf der Zunge liegt. Der Mann, der die Bücher für die Bibliothek auswählt, hat einen viel besseren Geschmack als der Innenarchitekt. Beweis: Hier gibt es nicht nur ein oder zwei, sondern drei Exemplare von Die Hügel der Schweiz. Und, kaum zu glauben, sogar ein Exemplar von Gerard Winstanley, puritanischer Utopist. Ich habe Die Hügel durchgelesen und zu meiner Freude keine Druckfehler gefunden; allerdings stimmt die Reihenfolge der Fetisch-Gedichte nicht. Noch später Ich habe zu lesen versucht, aber kaum nehme ich mir ein Buch vor, verliere ich schon das Interesse daran. So habe ich nacheinander Palgrave, Huizinga, Lowell, Wilenski, ein Chemiebuch, Pascals Provinzialbriefe und Time Magazine aus der Hand gelegt. (Wie ich nicht anders erwartet habe, setzen wir jetzt taktische Kernwaffen ein. Zwei Studenten wurden bei einer Protestdemonstration in Omaha getötet.) So ruhelos wie jetzt war ich nicht mehr seit damals, als ich am Bard College zu stu­ dieren begann und im ersten Semester dreimal das Hauptfach wechselte. Diese Nervosität wirkt sich auch körperlich aus: Ich fühle mich wie ausgehöhlt, meine Kehle ist trocken, und mir ist selt­ samerweise ständig nach Lachen zumute. Was ist denn so komisch? 4. Juni Ein vergleichsweise nüchterner Morgen. Haasts Wunsch entsprechend, werde ich berichten, was sich zwischen dem 19. Mai und dem 2. Juni ereignet hat. 25

Am Tag nach dem Lied der Seidenraupe, also am 20. Mai, war ich noch krank und blieb allein in der Zelle; Donny und Peter (bereits wieder versöhnt) und der von der Mafia waren zur Arbeit abkommandiert worden. Dann wurde ich zu Smede ins Büro gerufen, und er übergab mir das Paket mit meinen persön­ lichen Habseligkeiten. Auf der Liste, die sie bei meiner Einlie­ ferung angelegt hatten, mußte ich jeden einzelnen Posten ab­ zeichnen. Die Flamme der Hoffnung: Hatte mir, o Wunder, eine Protestaktion oder vielleicht gar das schlechte Gewissen der Richter zur Freiheit verholfen? Smede schüttelte mir die Hand, und außer mit vor Freude dankte ich ihm, Tränen in den Augen. Dieser Saukerl muß sich amüsiert haben! Dann übergab er mich (und einen Umschlag, der die gleiche widerlich gelbe Farbe hatte wie meine Gefangenenhaut und bestimmt die Sacchetti-Akte enthielt) zwei Wärtern, deren schwarze Uniformen Silberlitzen hatten, sehr deutsch und, wie man so sagt, schnieke wirkten. Wadenhohe Stiefel, lederne Schulterriemen (ein wahrer Harnisch!), spiegelnde Sonnenbril­ len, alles, was dazugehört. Peter hätte vor Neid, Donny vor Be­ gierde gestöhnt. Die Wärter machten sich schweigend ans Werk. Handschellen. Eine Limousine mit Vorhängen. Ich saß zwischen den beiden und bombardierte ihre steinernen Gesich­ ter und unsichtbaren Augen mit Fragen. Ein Flugzeug. Schlaf­ mittel. Und so gelangte ich, ohne Brotkrumen auf den Weg streuen zu können, in meine gemütliche Bleibe, ins Lager Ar­ chimedes, wo mich die Knusperhexe gut füttert. (Ich brauche nur zu klingeln.) Wie man mir sagte, traf ich am 22. hier ein. Am nächsten Tag erstes Gespräch mit H. H. Herzlicher Zuspruch und hart­ näckige Mystifikationen. Wie bereits berichtet, blieb ich bis zum 2. Juni einsilbig. Neun Tage lang befand ich mich auf dem Höhepunkt geistiger Verwirrung, doch wie alle großen Erre­ gungen flaute auch diese ab und machte einer ganz gewöhnli­ 26

chen Angst und schließlich einer bohrenden Neugier Platz. Soll ich gestehen, daß man einer solchen Situation sogar etwas ab­ gewinnen kann; daß ein unbekanntes Schloß tatsächlich interes­ santer ist als ein längstvertrautes Verlies? Aber wem soll ich das eigentlich gestehen? H. H.? Oder Louie II. der mich jetzt fast täglich aus dem Spiegel ansieht? Nein, ich will so tun, als schriebe ich dieses Tagebuch nur für mich selbst. Mein Tagebuch. Wenn Haast einen Durch­ schlag will, muß er mir Kohlepapier geben. Später Ich habe noch einmal Das Lied der Seidenraupe gelesen und frage mich, ob die fünfte Zeile so bleiben kann. Ich will damit eine auf hinterhältige Weise ergreifende Wirkung erzielen, aber vielleicht habe ich nur ein Klischee benutzt. 5. Juni Haast hat mir schriftlich mitgeteilt, daß meine elektrische Schreibmaschine an einen Apparat angeschlossen ist, der alles, was ich tippe, automatisch ablichtet. Vier Kopien. H. H. be­ kommt das Tagebuch also »frisch aus der Presse« – und spart das Geld fürs Kohlepapier. Habe heute den ersten Beweis dafür erhalten, daß hier wirk­ lich aufzeichnenswerte Dinge vor sich gehen: Auf dem Weg zur Bibliothek, wo ich mir Tonbänder für mein (ausgezeichnetes) HiFi-Gerät holen wollte, begegnete ich einer der Geistererscheinungen, die diesen Kreis meiner neuen Hölle bewohnen – den ersten Kreis, Limbo, um Dantes Reihen­ folge einzuhalten; und wenn ich den Vergleich noch weiter treibe, müßte diese Gestalt der Homer unserer dunklen Gefilde sein. 27

Es war dunkel, denn in diesem Korridor hatte man die Neon­ röhren entfernt, und wie in offenen Gefilden wehte in dem streng geometrischen Raum unablässig ein kühler Wind – wahrscheinlich auf eine unregelmäßig arbeitende Entlüftungs­ anlage zurückzuführen. Er stand mitten im Gang, hatte das Ge­ sicht in die Hände vergraben und weizenblonde Haarsträhnen um die zuckenden Finger gewickelt. Er schwankte und schien vor sich hinzuflüstern. Ich ging auf ihn zu, und da er seine Me­ ditation nicht unterbrach, sagte ich laut: »Guten Tag!« Als er wieder nicht reagierte, wagte ich mich weiter vor. »Ich bin hier fremd. Ich war in Springfield eingesperrt. Kriegsdienst­ verweigerer. Man hat mich widerrechtlich hierher gebracht. Weiß Gott warum.« Er nahm die Hände vom Gesicht und sah mich mit zusam­ mengekniffenen, hinter wirr herabhängendem Haar halbverbor­ genen Augen an. Ein breites junges Gesicht, slawisch und ein­ fältig wie die Gesichter der heldenhaften Nebenfiguren in einem Filmepos von Eisenstein. Seine breiten Lippen zogen sich zu einem unsicheren Lächeln auseinander – es war wie ein frostiger Mondaufgang im Theater. Er hob die rechte Hand und berührte meine Brust mit drei Fingern, als wollte er sich vergewissern, daß ich wirklich da war. Dann wurde sein Lächeln zutraulicher. »Wissen Sie, wo wir sind?« fragte ich hastig. »Und was sie mit uns vorhaben?« Die fahlen Augen bewegten sich hin und her – aus Verwir­ rung, aus Angst? »In welcher Stadt sind wir? In welchem Staat?« Wieder dieses frostige Lächeln des Verstehens, als meine Worte endlich sein Bewußtsein erreicht hatten. »Wir wissen nur, daß es einer der Gebirgsstaaten sein muß. Wegen Time, wissen Sie.« Er deutete auf die Zeitschrift in meiner Hand. Er hatte einen schauderhaft nasalen mittelwestlichen Tonfall, der offenbar nie 28

durch Erziehung oder Reisen gemildert worden war. Nach Spra­ che und Aussehen war er ein typischer Bauernjunge aus Iowa. »Wegen Time?« fragte ich verständnislos. Ich betrachtete das Titelbild (General Phee Phi Pho Phum aus Nordmalaysia oder irgendeine andere gelbe Gefahr), als könnte ich dort eine Erklä­ rung finden. »Es ist eine Regionalausgabe. Time erscheint in verschiede­ nen Ausgaben. Wegen der Annoncen. Und wir bekommen die Ausgabe für die Gebirgsstaaten. Dazu gehören Idaho, Utah, Wyoming, Colorado …« In seiner Aussprache hörte sich das an wie der nasale Klang angerissener Gitarrensaiten. »Ach so! Endlich ist bei mir der Groschen gefallen!« Er seufzte tief. Ich hielt ihm die Hand hin, und er reagierte mit unverhohlener Zurückhaltung. (In diesem Land gibt es Gegenden, besonders an der Westküste, wo man es aus Furcht vor Bakterien nicht mehr für angebracht hält, einander die Hand zu schütteln.) »Mein Name ist Sacchetti. Louis Sacchetti.« »Ach Sie sind’s!« Er umkrampfte meine Hand. »Mordecai hat gesagt, daß Sie kommen. Ich bin so froh, Sie kennenzulernen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen …« Er unterbrach sich, wurde rot und zog seine Hand zurück. »Wagner«, murmelte er verlegen. »George Wagner.« Dann, mit einer gewissen Bitterkeit: »Sie haben natürlich nie von mir gehört.« Diese seltsame Form der Vorstellung habe ich anläßlich von Lese- und Diskussionsabenden sowie bei anderen Autoren klei­ ner literarischer Zeitschriften und bei Collegeassistenten, also bei noch unbedeutenderen Typen als ich es bin, so oft erlebt, daß ich fast automatisch antwortete: »Nein, leider nicht, George. Tut mir wirklich leid. Aber es überrascht mich, daß Sie von mir gehört haben.« George gluckste. »Es überrascht ihn …« näselte er, »daß ich … von ihm gehört habe!« 29

Was ich ziemlich beunruhigend fand. George schloß die Augen. »Entschuldigen Sie«, sagte er fast flüsternd. »Das Licht. Das Licht ist zu hell.« »Dieser Mordecai, von dem Sie eben gesprochen haben …?« »Ich komme gern hierher, weil hier Wind ist. Hier kann ich wieder atmen. Den Wind atmen. Ja.« Aber vielleicht hatte er »Da« gesagt, denn er fuhr fort: »Da – wenn man sehr still ist, kann man ihre Stimmen hören.« Es war wirklich sehr still, aber zu hören war nichts als die Klimaanlage – ein Rauschen, wie es aus Muscheln an unser Ohr dringt. Und die Windstöße, die kalt und drohend durch den Gang mit den vielen Türen fegten. »Was für Stimmen?« fragte ich etwas verstört. George runzelte die hellen Brauen. »Die Stimmen der Engel natürlich.« Verrückt, dachte ich – und dann begriff ich, daß George aus einem meiner Gedichte zitiert hatte – meiner Paraphrase-cumParodie der Duineser Elegien. Daß George, dieser einfältige Bursche aus Iowa, mir so leichthin eine Zeile aus einem meiner unveröffentlichten Gedichte hinwarf, beunruhigte mich mehr als meine anfängliche Vermutung, er habe nicht alle Tassen im Schrank. »Kennen Sie das Gedicht?« George nickte, und die weizenblonden Strähnen fielen ihm über die fahlen Augen, als wollten sie seine Verlegenheit ver­ bergen. »Es ist kein sehr gutes Gedicht«, sagte ich. »Nein, das ist es wohl nicht.« Georges Hände, die sich bis dahin hinter seinem Rücken miteinander beschäftigt hatten, be­ wegten sich wieder auf sein Gesicht zu. Sie schoben das herab­ hängende Haar hoch und blieben dann wie festgenagelt auf sei­ nem Hinterkopf liegen. »Aber trotzdem ist es wahr, man kann ihre Stimmen hören. 30

Die Stimmen des Schweigens. Oder den Atem, das ist das gleiche. Mordecai sagt, daß auch der Atem Poesie ist.« Die Hände bewegten sich langsam auf die Augen zu. »Mordecai?« wiederholte ich gespannt. Ich hatte – und habe noch immer – das Gefühl, als hätte ich diesen Namen schon irgendwo, irgendwann gehört. Aber es war, als spräche ich zu jemandem in einem Boot, das von der Strömung immer weiter hinausgetrieben wird. George zitterte. »Gehen Sie«, flüsterte er. »Bitte!« Aber ich ging nicht, nicht sofort. Ich blieb vor ihm stehen, obwohl er mich nicht mehr zu bemerken schien. Er wiegte sich sanft auf den Sohlen, vor, zurück, vor, zurück. Seine feinen Haare bewegten sich im zischenden Luftstrom des Ventilators. Er sprach laut mit sich selbst, aber ich konnte nur wenig ver­ stehen. »Gelenke des Lichts, Gänge, Treppen …« Die Worte klangen vertraut, aber mir fiel nicht ein, woher sie stammten. »Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne …« Plötzlich nahm er die Hände vom Gesicht und starrte mich an. »Sind Sie immer noch da?« Und obwohl es keiner Antwort bedurft hätte, sagte ich: »Ja, ich bin noch da.« Im Halbdunkel des Korridors hatten sich seine Pupillen er­ weitert, und vielleicht erschien mir deshalb sein Gesicht so trau­ rig. Wieder legte er drei Finger auf meine Brust. »Denn das Schöne«, sagte er ernst, »ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen.« Und mit diesen Worten würgte George Wagner sein ganzes reichhaltiges Frühstück hoch und spie es mitten hinein in den streng geometrischen Raum. Im nächsten Moment waren wir von Wärtern umringt, die, einer Schar schwarzer Gluckhennen gleich, George den Mund ausspülten, die Bescherung aufwisch­ 31

ten, uns voneinander trennten und abführten. Sie gaben mir et­ was zu trinken. Es muß ein Beruhigungsmittel gewesen sein, denn sonst wäre ich jetzt nicht fähig, diese Begegnung zu schil­ dern. Was für ein seltsamer Mensch! Ein Bauernjunge, der Rilke zitiert. Bauernjungen können vielleicht Whittier zitieren, viel­ leicht sogar Carl Sandburg. Aber die Duineser Elegien? 6. Juni Zimmer 34: Nüchterne Lettern aus rostfreiem Metall auf einer schlichten Tür aus hellem Holz, und auf einem kleinen schwarzen Kunst­ stoffschild (in der Art der an Bankschaltern üblichen Namen­ schilder, die auf der Rückseite die Aufschrift tragen: BITTE ZUM NÄCHSTEN SCHALTER!) in weißen Lettern eingestanzt: Dr. A. BUSK Meine Wärter führten mich hinein und vertrauten mich den beiden Stühlen an, die – schwarze Lederstreifen um Chromstahl gewickelt – lediglich eine Abstraktion (sozusagen die Essenz) der Wärter waren. Stühle von Harley-Davidson. Kantige Ge­ mälde (ausgewählt, damit diese Stühle sich daran ergötzen konnten) preßten sich gegen die Wände und sehnten sich da­ nach, unsichtbar zu sein. Dr. A. Busk marschiert ins Zimmer und geht mit ausge­ streckter Hand auf mich los. Soll ich sie schütteln? Nein, es be­ deutet nur, daß ich mich setzen soll. Ich sitze, sie sitzt, schlägt klipp-klapp die Beine übereinander, zieht den Rocksaum runter, lächelt. Es ist ein deutliches, wenn auch kein gütiges Lächeln, ein wenig zu dünn, ein wenig zu steif. Die hohe, klare Stirn und die gewölbten Augenbrauen einer elisabethanischen Lady. Vierzig Jahre? Eher fünfundvierzig. »Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht die Hand gebe, Mr. 32

Sacchetti, aber wir werden besser miteinander auskommen, wenn wir von Anfang an auf Heuchelei verzichten. Schließlich verbringen Sie nicht gerade Ihre Ferien hier, nicht wahr? Sie sind ein Gefangener, und ich bin … ich bin das Gefängnis. Un­ sere Beziehung wird also von Anfang an ehrlich, wenn auch nicht gerade erfreulich sein.« »Meinen Sie mit ›ehrlich‹, daß ich Sie ebenfalls beleidigen darf?« »Ungestraft, Mr. Sacchetti; wie du mir, so ich dir. Sie kön­ nen es hier tun oder in aller Ruhe in Ihrem Tagebuch. Da ich die zweite Ablichtung bekomme, können Sie sicher sein, daß Sie unangenehme Dinge nicht umsonst zu schreiben brauchen.« »Ich werd’s mir merken.« »Aber zuvor sollten Sie einiges über unsere Arbeit hier wis­ sen. Gestern sind Sie dem jungen Wagner begegnet, aber in Ihrem Tagebuch haben Sie es bewußt vermieden, Überlegungen darüber anzustellen, warum er sich so seltsam benommen hat. Obwohl anzunehmen ist, daß Sie sich darüber Gedanken ge­ macht haben.« »Ist anzunehmen.« Dr. A. Busk kräuselte die Lippen und trommelte mit dem ris­ sigen Fingernagel auf einem Umschlag herum, der an ihre Schreibunterlage geklammert war. Die Sacchetti-Akte. »Seien Sie doch aufrichtig, Mr. Sacchetti. Sie dürften be­ merkt haben, daß Georges Verhalten etwas zwiespältig war, und bestimmt haben Sie seine Unsicherheit in Zusammenhang gebracht mit gewissen Andeutungen, die mein Kollege, Mr. Haast, über Ihre Aufgabe hier bei uns gemacht hat. Und ich darf wohl sagen, nicht zufällig gemacht hat. Kurz und gut, Sie müs­ sen zu der Vermutung gelangt sein, daß George – und nicht nur er – als Versuchsperson für ein Experiment dient, nicht wahr?« Sie zog fragend die Brauen hoch. Ich nickte. »Was Sie nicht wissen konnten – und das wird Sie vielleicht 33

beruhigen – ist, daß George sich freiwillig hier aufhält. Er ist während eines Urlaubs in Taipeh aus der Armee desertiert. Die übliche schmutzige Affäre zwischen einem Soldaten und einer Prostituierten. Natürlich wurde er erwischt und vors Kriegsge­ richt gestellt. Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, wie Sie zugeben müssen ein mildes Urteil. Hätten wir uns offiziell im Krieg befunden, wäre er vielleicht erschossen worden. Höchstwahrscheinlich sogar.« »Dann bin ich also von der Armee entführt worden?« »Nicht direkt. Das Lager Archimedes wird von einer privaten Stiftung finanziert, obwohl wir aus Gründen der Geheimhaltung weitgehend selbständig arbeiten. Nur ein einziger leitender An­ gestellter der Stiftung weiß über den wahren Charakter unserer Forschungen Bescheid. Die andern, auch die Armee, halten un­ sere Arbeit für eines von vielen Waffenentwicklungsprojekten. Ein großer Teil des Personals – die meisten Wärter und auch ich selbst – wurde von den Streitkräften zur Verfügung ge­ stellt.« Nach dieser Information konnte ich alle ihre auffallenden Ei­ genschaften – ihr wie geschrubbt wirkendes Gesicht, ihr steifes Gehabe, ihre unweibliche Stimme – auf einen Nenner bringen. »Sie sind vom Frauenhilfskorps!« Sie salutierte spöttisch. »Wie gesagt, George kam ins Mili­ tärgefängnis und fühlte sich dort gar nicht wohl. Er konnte sich, wie mein Kollege Haast sagen würde, der Gefängnisumwelt nicht anpassen. Als ihm die Chance geboten wurde, sich frei­ willig für das Lager Archimedes zu melden, ergriff er sie sofort. Schließlich werden heutzutage die meisten Experimente auf dem Gebiet der Infektionsverhütung gemacht. Einige dieser neuen Krankheiten sind nämlich äußerst unangenehm. Das ist also die Geschichte des jungen George. Die anderen Versuchs­ objekte haben ähnliche Vorgeschichten.« »Dieses Versuchsobjekt nicht.« 34

»Sie sind, genaugenommen, kein Versuchsobjekt. Aber um zu verstehen, warum Sie hier sind, müssen Sie den Zweck des Experiments kennen. Es handelt sich um die Erforschung von Lernprozessen. Von welch fundamentaler Bedeutung die Erzie­ hung für die nationale Verteidigung ist, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Die Intelligenz ist letztlich das wichtigste Po­ tential einer Nation, und den Erziehungsprozeß kann man als eine Maximierung der Intelligenz betrachten. Als solche ist er aber fast immer ein Fehlschlag, da dieser primäre Zweck zu­ meist der Anpassung an die Gesellschaft geopfert wird. Gelingt es aber, die Intelligenz tatsächlich zu maximieren, so geschieht das auf Kosten der gesellschaftlichen Anpassung – Sie selbst sind ein Beispiel dafür. Das bedeutet, daß damit vom Stand­ punkt der Gesellschaft aus wenig erreicht wird. Ein grausames Dilemma. Vielleicht ist es die Hauptaufgabe der Psychologie, dieses Dilemma zu lösen, indem sie die Intelligenz maximiert, ohne ihre soziale Utilität zu reduzieren.« »Selbst Cicero sprach kein so reines Latein.« Die Busk runzelte die gewölbten, ungefärbten Brauen. Sie verstand meine ironische Bemerkung nicht und hielt sie offen­ bar für das übliche Geschwätz eines Nonkonformisten. »Deshalb experimentieren wir hier mit neuen Erziehungs­ techniken, und zwar auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung. Im Erwachsenen ist der Sozialisierungsprozeß abgeschlossen. Nur wenige lassen nach dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr eine ausgeprägte Charakterentwicklung erkennen. Wenn man also in diesem Alter mit der Intelligenzmaximierung beginnen kann, das heißt, wenn es gelingt, die nachlassenden schöpferi­ schen Kräfte gewissermaßen zu reaktivieren, dann hat man die Möglichkeit, jenes wertvollste Potential, den Geist, auszubeuten wie nie zuvor. Leider hat man uns Arbeitsmaterial geliefert, das ich als mangelhaft bezeichnen muß. Wenn man auf Versuchs­ personen aus Militärgefängnissen angewiesen ist, führt man 35

systematisch Fehlerquellen in das Experiment ein, denn bei die­ sen Leuten hat es mit der gesellschaftlichen Anpassung ganz offensichtlich nicht geklappt. Und um ehrlich zu sein – meiner Meinung nach hat sich das bereits ungünstig auf unsere Arbeit ausgewirkt. Ich hoffe, Sie vermerken das in Ihrem Tagebuch.« Ich nickte. Und obwohl ich ihr nicht verraten wollte, wie sehr sie meine Neugier angestachelt hatte, konnte ich mir eine Frage nicht verkneifen: »Wenn Sie von neuen Lernprozessen sprechen, meinen Sie dann die Verwendung von Drogen?« »Aha! Sie haben also über die Sache nachgedacht. Ja natür­ lich, Drogen. Wenn auch nicht in dem Sinn, wie Sie es vermuten. Wie heute jeder Student im ersten Semester weiß, können unter Umgehung der Gesetze Drogen beschafft werden, die das Erin­ nerungsvermögen vorübergehend bis zu zweihundert Prozent steigern, beziehungsweise den Lernprozeß entsprechend be­ schleunigen. Aber bei fortgesetzter Verwendung solcher Drogen wird die Lernkurve zunehmend flacher, so daß man immer unbe­ friedigendere Ergebnisse und schließlich überhaupt keine mehr erhält. Einige dieser Drogen erzeugen, wie etwa auch LSD, ein berauschendes Gefühl der Allwissenheit. Aber über diese Dro­ gen brauche ich Ihnen ja nichts zu erzählen, Mr. Sacchetti.« »Hat man auch das herausgefunden? Sie sind wirklich sehr gründlich.« »Es gibt kaum etwas, das wir nicht über Sie wissen, Sir. Be­ vor Sie hierher gebracht wurden, haben wir jede noch so kleine, noch so schmutzige Ritze ihrer Vergangenheit durchleuchtet, das dürfen Sie mir glauben. Wir können hier nicht jeden Kriegsdienstverweigerer gebrauchen. Wir mußten uns verge­ wissern, daß Sie harmlos sind. Wir kennen Sie aus- und inwen­ dig. Die Schulen, die Sie besucht haben, Ihre Verwandten und Freunde. Wir wissen, was Sie gelesen und an welchen Orten Sie sich aufgehalten haben. Wir wissen, welche Hotelzimmer Sie in 36

der Schweiz und in Deutschland bewohnt haben, als Sie das Fulbright-Stipendium hatten. Wir wissen über alle Mädchen Bescheid, mit denen Sie während des Studiums in Bard und später befreundet waren, und wir wissen, wie weit sie bei jeder einzelnen gegangen sind. Und ich muß sagen, daß unser Ein­ druck nicht gerade gut war. Wir wissen ziemlich genau, wieviel Sie während der letzten fünfzehn Jahre verdient und wofür Sie Ihr Geld ausgegeben haben. Die Regierung kann Sie jederzeit wegen Steuerhinterziehung nach Springfield zurückschicken. Und außerdem haben wir die Unterlagen über Ihre zweijährige psychotherapeutische Behandlung.« »Und in die Beichtstühle haben Sie Mikrophone eingebaut, was?« »Erst in Springfield. Daher wissen wir, daß Ihre Frau das Kind abgetrieben hat und daß Sie jene häßliche kleine Affäre mit Miss Webb hatten.« »Ein hübsches Mädchen, was?« »Wenn man etwas für schwächliche Typen übrig hat. Um zum eigentlichen Thema zurückzukommen: Ihre Aufgabe hier ist ganz einfach. Es ist Ihnen erlaubt, sich unter den Versuchs­ personen zu bewegen, mit ihnen zu sprechen und, soweit mög­ lich, an ihrem täglichen Leben teilzunehmen. Und in kurzer Form zu berichten, worüber die Leute sich Gedanken machen, womit sie sich die Zeit vertreiben, und wie Sie selbst das … wie soll ich es nennen … das geistige Klima hier einschätzen. Ich nehme an, daß diese Arbeit Ihnen Freude machen wird.« »Vielleicht. Aber warum gerade ich?« »Eine der Versuchspersonen hat Sie empfohlen. Unter den verschiedenen Kandidaten, die wir in Erwägung zogen, schienen Sie für diese Aufgabe am besten geeignet – und außerdem waren Sie gerade greifbar. Um ehrlich zu sein – wir haben mit den Versuchspersonen … Verständigungsschwierigkeiten. Übrigens war es ihr Anführer, Mordecai Washington, der uns vorschlug, 37

Sie hierher bringen zu lassen und als eine Art Verbindungs­ mann oder dolmetschen einzusetzen. Erinnern Sie sich an Mor­ decai? Er war Schüler in dem Gymnasium, das Sie ein Jahr lang besucht haben. 1955.« »Im Zentralgymnasium? Sein Name kommt mir bekannt vor, aber an ihn selbst kann ich mich nicht erinnern. Möglicherweise kenne ich den Namen nur vom Hörensagen oder aus einer Anwe­ senheitsliste. Zu meinen Freunden hat er bestimmt nicht gehört. So viele hatte ich nicht, daß ich ihre Namen vergessen würde.« »Sie werden hier genug Gelegenheit haben, dieses Versäum­ nis nachzuholen. Haben Sie weitere Fragen?« »Ja. Was bedeutet das A?« Sie sah mich verständnislos an. »Dr. A. Busk.« »Ach so. Aimée.« »Und wie heißt die private Stiftung, die dieses Projekt finan­ ziert?« »Ich könnte es Ihnen sagen, aber wirklich, Mr. Sacchetti, glauben Sie nicht auch, daß es besser für Sie ist, wenn Sie es nicht wissen? Die Versuchspersonen wurden instruiert, in Ihrem eigenen Interesse über bestimmte Dinge nicht mit Ihnen zu sprechen. Denn Sie wollen uns doch sicher irgendwann wieder verlassen, nicht wahr?« Dr. Aimée Busk ließ mit einem leisen Nylonknistern das übergeschlagene Bein hinabgleiten und stand auf. »Die Wärter werden gleich kommen und Sie in Ihr Zimmer führen. Wir werden uns spätestens nächste Woche wiedersehen. Aber Sie können auch schon vorher kommen und mir Fragen stellen, die Sie unbedingt beantwortet haben wollen. Guten Tag, Mr. Sacchetti.« Drei Stechschritte, und sie war draußen. In dieser Runde hat­ te sie alle Punkte gemacht.

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Später Eine Stunde, nachdem ich diesen Bericht getippt hatte, kam ein Zettel von H. H.: »Sie ist siebenunddreißig. H. H.« Innerbetriebliche Rivalität? (Diese Frage brauchen Sie nicht zu beantworten!) 7. Juni Ich hatte geglaubt, meine Migräne, die zweifellos psychisch bedingt war, sei durch die psychotherapeutische Behandlung endgültig kuriert worden, aber seit der vergangenen Nacht mar­ tert sie mich schlimmer als je. Wo ich früher nur einen Stich gespürt habe, spüre ich jetzt sieben. Vielleicht hat die Busk, die ja in die Geheimwissenschaft eingeweiht scheint, mit irgendei­ nem Gegenzauber Dr. Mieris’ Heilerfolg zunichte gemacht. Vielleicht aber liegt es einfach daran, daß ich in einem Anfall von Dichteritis bis nach zwei Uhr aufgeblieben bin. Ich habe noch nicht genug Abstand zu meinem Gedicht, um sagen zu können, ob es die Schmerzen wert ist. Aber wer weiß – viel­ leicht ist das Gedicht eine Folge der Migräne. Soviel zu meinem Geistesleben. Das Ereignis des Tages war der Besuch des legendären Mordecai Washington. Von keinem Wärter angemeldet, erschien er kurz nach dem zweiten Frühstück. Er klopfte, wartete aber mein »Herein!« nicht ab. »Darf ich?« fragte er, obwohl er schon im Zimmer stand. Selbst als ich ihn vor mir sah und seine Stimme hörte – eine laute Stimme, die gegen meine Migräne anhämmerte –, erkannte ich in ihm weder jenen angeblichen Schulfreund noch sonst jemand aus meiner Vergangenheit. Mein erster Eindruck: Er ist kein gutaussehender Mann. Ich gebe zu, daß mein Schönheits­ begriff ethnozentrisch ist, aber ich glaube, daß auch die meisten Neger Mordecai Washington nicht als gutaussehend bezeichnen 39

würden. Er ist sehr dunkel, beinahe blauschwarz. Langes Ge­ sicht, vorspringendes Kinn, breite Lippen (die jedoch eher flach ans Gesicht gepreßt als aufgeworfen wirken), eine winzige Nase und gekräuseltes Maori-Haar. Ein Brustkorb, den man vor hun­ dert Jahren schwindsüchtig genannt hätte, kaum vorhandene Schultern, Säbelbeine, Füße wie Kindersärge. Eine krächzende Stimme, wie Kasperle im Puppentheater. Aber schöne Augen (die gesteht man häßlichen Menschen freilich immer gern zu). Trotzdem – er hat wirklich außergewöhnliche Augen; sie sind feucht und zugleich lebhaft, sie lassen Tiefen ahnen, ohne sie je zu enthüllen. Doppeldeutige Augen. »Nein, bleiben Sie liegen«, sagte er, als ich aus dem Bett steigen wollte. Er zog einen Stuhl quer durchs Zimmer an mein Bett. »Was lesen Sie da? O ein Bildband! Jetzt sind Sie schon eine ganze Weile hier, und keiner hat’s mir gesagt. Ich habe es erst von George erfahren. Es ist ein Jammer, aber ich war eine Zeit­ lang …« Er machte über seinem Kopf eine vage Handbewegung. (Wie seine Füße sind auch seine Hände unverhältnismäßig groß. Seine Fingerkuppen sind breit wie die eines Arbeiters, die Finger selbst jedoch sehr geschmeidig, fast nervös. Mit seiner theatrali­ schen Gestik scheint er von seinem ausdruckslosen Gesicht ab­ lenken zu wollen) »… eine Zeitlang außer Aktion. Energielos. Moribund. Im Koma. Aber das ist jetzt vorbei. Und Sie sind hier. Ich freu’ mich. Wirklich. Ich bin Mordecai Washington.« Ernst streckte er mir die Hand hin. Ich hatte das Gefühl, als käme dieser Geste eine ironische Bedeutung zu, als würde ich, wenn ich sie erwiderte, sein Handlanger werden. Er lachte – ein schrilles Papageienlachen, zwei Oktaven höher als seine normale Sprechstimme. Es war, als ob ein anderer für ihn lachte. »Sie können mir ruhig die Hand geben. Ich werde Ihnen keine von diesen verdammten Bakterien aufhängen. Auf diese Weise jedenfalls nicht, Boss.« 40

»Auf diesen Gedanken wäre ich gar nicht gekommen, Mor­ decai.« (Es ist mir nie leicht gefallen, Fremde mit dem Vorna­ men anzureden.) »Ich habe nicht erwartet, daß Sie sich an mich erinnern wür­ den. Das braucht Ihnen aber nicht peinlich zu sein. Und lassen Sie sich bitte Zeit mit dem ›tutoyer‹.« (Schauderhafte französi­ sche Aussprache!) »Aber ich habe mich an Sie erinnert. Eide­ tisch, wissen Sie, genau so, wie man sich an einen bestimmten Moment aus einem Gruselfilm erinnert. Psycho zum Beispiel. Erinnern Sie sich an Psycho?« »Ja, die Badewannenszene. War ich damals ein zweiter Tony Perkins? Gott bewahre!« »Sie waren auf Ihre Art entsetzlich. Für mich. Wir waren damals in derselben Klasse. Bei Miss Squinlin, wissen Sie noch?« »Miss Squinlin! Die hab’ ich gehaßt!« »Die dicke alte Vettel mit ihrem roten Gesicht – ich hab’ sie noch tausendmal mehr gehaßt, Kamerad. In der 10c hatte ich sie in Englisch. Silas Marner, Julius Caesar, Rhyme of the Ancient Mariner. Herrgott noch mal, ich hab’s mir damals fast abge­ wöhnt, diese Scheißsprache zu sprechen, so verekelt hat sie sie mir!« »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum ich Sie an Psycho erinnere.« »Na, sagen wir lieber an Donovans Gehirn. Ein Gehirn in ei­ nem Glastank. Eine Intelligenz, die ihre Krakenarme nach Sti­ pendien ausstreckt, die alle Antworten weiß und jeden Mist ver­ schlingt, den die Squinlins in sie hineinschaufeln. Das Zere­ brum als Zerberus.« Er verdarb das Wortspiel durch die falsche Aussprache bei­ der Wörter. »Und wenn Sie wollten, konnten Sie Leute wie die alte Squinlin zum Schweigen bringen. Während ich dasitzen und 41

ihren Mist anhören mußte. Ich wußte, daß es Mist war, aber was konnte ich schon tun? Ich mußte diesen Leuten nach der Pfeife tanzen. Besonders ein Vorfall ist mir unvergeßlich – Teufel noch mal, er hat mein Leben verändert! Es war im Frühjahr 1955. Sie und zwei von den jüdischen Flittchen, mit denen Sie sich rumtrieben, quasselten nach der Schule über das Problem, ob Gott-h existiert oder nicht. So nannten Sie ihn, Gott-h. Sie hatten da­ mals eine schrecklich gezierte Aussprache, sicher haben Sie sich zu viele Laurence-Olivier-Filme angesehen. Ich war auch im Klassenzimmer, ganz hinten, mußte nachsitzen. Mürrisch und unsichtbar, wie es meine Art war. Erinnern Sie sich denn an gar nichts?« »Nicht an den Tag, von dem Sie sprechen. Ich habe damals viel über Gott-h geredet. Ich hatte gerade das sogenannte Zeit­ alter der Aufklärung entdeckt. Aber ich erinnere mich an die beiden Mädchen. Barbara und … wie hieß die andere doch gleich?« »Ruth.« »Was für ein phantastisches Gedächtnis Sie haben!« »Damit ich dich besser fressen kann, mein Täubchen. Also – die beiden Flittchen brachten die üblichen altersschwachen Ar­ gumente vor. Zum Beispiel: Das Universum funktioniert wie eine Uhr, und eine Uhr setzt einen Uhrmacher voraus. Oder: Die Erste Ursache kann von nichts verursacht sein. Mir war damals sogar die Sache mit dem Uhrmacher neu, und als die beiden damit rausrückten, dachte ich: ›Na endlich, das setzt so­ gar Donovans Gehirn schachmatt!‹ Aber keine Spur! Sie haben diese blödsinnigen Syllogismen …« (wieder falsch ausgespro­ chen) »… einfach in der Luft zerfetzt. Die beiden begriffen nichts und kamen immer wieder mit dem gleichen Quatsch an. Aber ich hab’s begriffen! Sie haben mich damals aus dem guten alten Glauben gerissen.« 42

»Tut mir leid, Mordecai. Sehr leid. Man macht sich nie klar, wie vielen Menschen man mit den eigenen Irrtümern das Leben vergiften kann. Ich weiß nicht, wie …« »Es tut Ihnen leid? Ich wollte damit sagen, daß ich Ihnen dankbar bin. Sie werden das seltsam finden, weil Sie ja schließ­ lich auf meine Veranlassung in dieses Erdloch verschleppt wor­ den sind. Aber Sie werden es hier besser haben als in Spring­ field. Haast hat mir das Tagebuch gezeigt, das Sie dort geführt haben. Diese Misere haben Sie hinter sich. Ich muß allerdings zugeben, daß ich Haast nicht nur aus altruistischen Gründen gebeten habe, Sie hierher bringen zu lassen. Für mich war es die Chance, einem erstklassigen, echten, gedruckten Dichter zu begegnen. Sie haben es wirklich geschafft, Sacchetti, was?« Unmöglich, alle Empfindungen zu definieren, die in dieser einzigen Frage mitschwangen. Bewunderung, Verachtung, Neid und etwas, das ich fast aus allem, was er bisher zu mir gesagt hatte, spüren konnte: eine Art arrogante Heiterkeit. »Ich nehme an, Sie haben Die Hügel der Schweiz gelesen?« fragte ich zurück. Gibt es einen Schriftsteller, den die Eitelkeit nicht dazu verführt, bei der ersten Gelegenheit eine solche Fra­ ge zu stellen? Mordecai zuckte die kaum vorhandenen Achseln. »Stimmt.« »Dann wissen Sie auch, daß ich über die unausgegorenen materialistischen Vorstellungen von damals hinaus bin. Gott existiert, auch ohne Aquinas. Glaube ist mehr als die Kunst der Beweisführung.« »Ich pfeif auf den Glauben, ich pfeif auf Ihre epigrammati­ schen Weisheiten! Sie sind nicht mehr mein großer Bruder! Jetzt bin ich Ihnen um zwei Jahre voraus, Freundchen. Und was Ihre neue Frömmigkeit betrifft – ich habe Sie trotzdem hierher bringen lassen und trotz einiger verdammt schlechter Gedich­ te.« Dieser Hieb saß. 43

Mordecai lächelte; sein Zorn war nach diesem Ausbruch ver­ raucht. »Ich bin auch auf einige verdammt gute Gedichte gesto­ ßen. George gefiel das Buch im ganzen besser als mir, und er versteht mehr von diesen Dingen. Immerhin ist er schon länger hier. Was halten Sie von ihm?« »Von George? Er wirkt sehr … angespannt. Ich fürchte, für mich war das alles zu viel auf einmal. Mit euch hier unten kann ich’s noch nicht aufnehmen, zumal ich in Springfield in einem geistigen Vakuum gelebt habe.« »Reden Sie keinen Mist! Wie hoch ist Ihr I. Q.?« »Sollte man in meinem Alter überhaupt noch vom I. Q. spre­ chen? 1957 kam ich einmal auf 160; ich weiß allerdings nicht, welchen Punkt der bewußten Lernkurve ich damit erreicht hätte. Aber was bedeutet schon ein schriftlicher Test? Es kommt ein­ zig darauf an, wozu man seine Intelligenz gebraucht.« »Ich weiß, was Sie meinen. Ist sie nicht ein Biest?« Er sagte das leichthin, aber ich hatte zum ersten Mal den Eindruck, daß er ein Thema einigermaßen ernst nahm. »Was tun Sie hier, Mordecai? Und was ist das hier über­ haupt? Was wollen Haast und Busk von euch?« »Das hier ist die Hölle, Sacchetti, haben Sie das nicht ge­ wußt? Oder der Vorhof der Hölle. Die versuchen, unsere Seelen zu kaufen, damit sie aus unseren Leibern Hackfleisch machen können.« »Sie dürfen mir also nicht die Wahrheit sagen, stimmt’s?« Mordecai wandte sich ab und ging hinüber zum Bücherregal. »Wir sind Gänse, und Haast und Busk mästen uns mit der abendländischen Kultur. Mit Naturwissenschaft, Kunst, Philo­ sophie, mit allem, was sie in uns hineinstopfen können. Und trotzdem – Ich bin nicht satt, ich bin nicht satt.

Man hat mir oft den Magen ausgespült,

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Und doch kann ich das Essen nicht behalten – es nicht einmal berühren. Ach! Ich bin nicht satt.« Das Gedicht war von mir. Daß er es zitierte, löste zwiespältige Empfindungen in mir aus. Einerseits fühlte ich mich geschmei­ chelt, daß er gerade diese Stelle auswendig wußte (denn auf sie bin ich besonders stolz), andrerseits war ich ergriffen von der Bitterkeit seiner Worte, auch wenn sie ursprünglich meine ei­ genen waren. Ich antwortete nicht darauf und stellte auch keine Fragen mehr. Mordecai ließ sich schwer auf die Couch fallen. »Sacchetti, das Zimmer hier ist der letzte Dreck. Unsere haben am Anfang genau so ausgesehen, aber das brauchen Sie sich nicht gefallen zu lassen. Sagen Sie Haast, daß Sie etwas Eleganteres wollen. Sagen Sie, daß die Vorhänge Ihrer Gehirntätigkeit abträglich sind. Wenn es um Dinge wie Zimmereinrichtung geht, haben wir hier Carte blanche. Nützen Sie das aus!« »Verglichen mit Springfield ist das hier recht komfortabel. Und übrigens auch verglichen mit allen Zimmern, in denen ich früher gewohnt habe, ausgenommen mein eintägiger Aufenthalt im Ritz.« »Hm, Dichter verdienen nicht so schrecklich viel, was? Wetten, daß ich mir mehr leisten konnte als Sie? Ich meine, bevor ich eingezogen wurde. Diese Scheißkerle! Ein großer Fehler, daß ich mich einziehen ließ!« »Sind Sie auch aus dem Militärgefängnis ins Lager Archi­ medes gekommen? Genau wie George?« »Ja. Hab’ einen Offizier verprügelt. Der Schweinehund hat’s verdient. Sie verdienen’s alle, aber sie bekommen’s nie heim­ gezahlt. Ausgenommen dieses Schwein. Ich hab’ ihm zwei Zähne eingeschlagen. Üble Szene. Aber im Bau war’s noch schlimmer, da machen sie dich fertig, wenn du dir sowas gelei­ 45

stet hast. Also hab’ ich mich freiwillig gemeldet. Das war vor sechs oder sieben Monaten. Manchmal denke ich, ein so großer Fehler war das eigentlich gar nicht. Ich denke dabei an den ›Stoff‹, den sie uns hier geben. LSD ist nichts dagegen. Wenn man das nimmt, bildet man sich nur ein, alles zu wissen, aber mit dem Zeug hier weiß man wirklich alles. Aber ganz so high bin ich danach leider nicht oft. Meist ist es schmerzhaft. Wie H. H. sagt: ›Genialität ist die unbegrenzte Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen.‹« Ich lachte – teils, weil seine schnelle, sprunghafte Redeweise mich schwindlig machte, teils weil ich das Bonmot komisch fand. »Aber ich habe trotzdem einen Fehler gemacht. Ich hätte dumm bleiben sollen.« »Dumm? Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie das jemals gewesen sind.« »Mit einem I.Q. von 160 habe ich nie aufwarten können! Ich Waschlappen bestimmt nicht!« »Ach wissen Sie, diese Tests sind auf uns Waschlappen aus der Mittelklasse zugeschnitten. Die Intelligenz zu messen ist nicht so einfach, wie eine Blutprobe zu entnehmen.« »Nett, daß Sie das sagen, aber ich war wirklich ein dummes Schwein. Vielleicht eher unwissend als dumm. Daß ich heute mehr weiß und mich mit Ihnen unterhalten kann, ist ausschließ­ lich auf das Pa…, auf das Zeug, das sie mir gegeben haben, zu­ rückzuführen.« »Ausschließlich? Nein.« »Leck mich am Arsch, ja!« Er lachte, ein ausgeglicheneres Lachen als zuvor. »Es macht Spaß, sich mit Ihnen zu unterhal­ ten, Sacchetti. Sie zucken bei jedem ordinären Wort zusam­ men.« »Wirklich? Das kommt sicher von meiner bürgerlichen Er­ ziehung. Ich habe mich daran gewöhnt, solche Ausdrücke zu 46

lesen, aber wenn sie jemand in den Mund nimmt … Es ist ein Reflex.« »Der Bildband, den Sie sich da anschauen – haben Sie den Text dazu gelesen?« Ich hatte im zweiten Band von Wilenskis Flämische Maler geblättert, der die Abbildungen enthält. Der erste Band besteht nur aus Text. »Ich habe versucht, ihn zu lesen, aber ich bin nicht weit ge­ kommen. Ich habe mich noch nicht genug eingewöhnt, um mich auf etwas zu konzentrieren.« Mordecai nahm diese Bemerkung mit ungewöhnlichem Ernst auf. Er ging allerdings nicht darauf ein, sondern kam nach einer Pause auf sein Thema zurück: »Eine Stelle darin ist großartig. Darf ich sie Ihnen vorlesen?« Er hatte den ersten Band schon aus dem Regal genommen. »Über Hugo van der Goes. Kennen Sie ihn?« »Ich weiß nur, daß er zu den frühen flämischen Malern ge­ hört. Ich glaube nicht, daß ich schon etwas von ihm gesehen habe.« »Können Sie auch gar nicht. Es ist nichts erhalten. Jedenfalls nichts mit seiner Signatur. Er soll um 1470 wahnsinnig gewor­ den sein und sich eingebildet haben, er sei verdammt und der Teufel würde ihn holen und lauter solch schreckliches Zeug. Damals lebte er bereits in einem Kloster bei Brüssel, und die Mönche versuchten, ihn zu beruhigen, indem sie für ihn musi­ zierten, wie David für Saul. Einer von ihnen schrieb etwas über seinen Wahnsinn – alles sehr lesenswert, aber ein Abschnitt gefällt mir besonders … Hier ist er: ›Bruder Hugo, dessen Phantasie überreizt war, neigte zu Tagträumen und Halluzinationen, und dies bewirkte, daß sein Gehirn erkrankte. Es befindet sich nämlich, wie ich erfahren habe, nahe beim Gehirn ein kleines, empfindliches Organ, das den schöpferischen und imaginativen Kräften zugeordnet ist. 47

Wird unsere Vorstellungskraft zu lebhaft und unsere Phantasie zügellos, dann wird dieses kleine Organ in Mitleidenschaft ge­ zogen, und wenn die Anspannung die äußerste Grenze erreicht hat, beginnt der Wahnsinn oder die Raserei. Wenn wir uns vor dieser unaufhaltsamen Dissoziation …« Mordecai stolperte über dieses Wort. »… bewahren wollen, müssen wir unserer Phantasie, unserer Vorstellungskraft und desgleichen unseren Ängsten Zügel anle­ gen und alle eitlen und unnützen Gedanken, die unser Gehirn erregen könnten, daraus verbannen. Wir sind alle nur Men­ schen, und das Unheil, das unseren Bruder auf Grund seiner Phantastereien und Halluzinationen befallen hat – kann es nicht eines Tages auch uns heimsuchen?‹ Ist das nicht großartig? Ich kann mir genau vorstellen, mit welcher Befriedigung dieser alte Kerl das niedergeschrieben hat. ›Hab ich’s Euch nicht gesagt, Hugo? Hab’ ich Euch nicht immer gesagt, daß Eure Bilder gefährlich sind?‹ Aber was mei­ nen Sie dazu? Warum ist er wahnsinnig geworden?« »Jeder kann wahnsinnig werden. Das ist kein Vorrecht der Maler. Oder der Dichter.« »Hm. Wenn man sich’s genau überlegt, ist wahrscheinlich jeder verrückt. Meine Familie war’s bestimmt. Mammy – so haben wir sie weiß Gott genannt! – Mammy war verrückt mit­ samt ihrem Heiligen Geist, und unser Alter war’s ohne ihn. Meine beiden Brüder waren Junkies, also auch verrückt. Ver­ rückt und verrückt und verrückt und verrückt.« »Was haben Sie denn?« Ich stand vom Bett auf und ging hinüber zu Mordecai, der immer erregter geworden war, schließlich am ganzen Körper bebte, die Augen zusammen­ kniff, die Hand aufs Herz preßte und bei den letzten Worten wie ein Erstickender nach Luft rang. Als ihm das schwere Buch entglitt und auf dem Boden aufschlug, öffnete er die Au­ gen. 48

»Es geht … schon wieder … Muß mich einen Moment hin­ setzen. Kleiner Schwindelanfall.« Ich half ihm zur Couch und brachte ihm, da ich nichts anderes hatte, ein Glas Wasser, das ihm offenbar guttat. Aber seine Hände zitterten noch immer. »Und doch …« sagte er leise, während er mit den plumpen Fingerkuppen die Rillen des Glases nachzeichnete, »und doch hat van der Goes etwas Besonderes an sich gehabt. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Etwas Besonderes hat natürlich jeder Künstler an sich. Eine Art Zauber, im wörtlichen Sinn. Er ent­ schlüsselt die Chiffren der Natur und dann verschlüsselt er sie von neuem. So ist es doch, oder nicht?« »Ich weiß nicht. Bei mir ist das, glaube ich, nicht so, aber es gibt viele Künstler, die das sehr gern von sich sagen würden. Die Sache mit dem Zauber ist allerdings problematisch. Er funktioniert nämlich nicht.« »Und ob!« sagte Mordecai leise. »Kann man sich über Gott lustig machen und gleichzeitig an Dämonen glauben?« »Was sind Dämonen? Ich glaube an Elementargeister: Syl­ phen, Salamander, Nixen, Gnome – alles Verkörperungen der Elemente. Sie lächeln spöttisch und fühlen sich geborgen in dem jesuitischen Kosmos, von dem man Ihnen im College er­ zählt hat. Die Elemente sind für Sie nicht mehr geheimnisvoll, o nein! Genausowenig wie der Geist. Alles erforscht und hübsch eingeordnet, wie in Mutters Wäscheschrank. Na ja, Maulwürfe fühlen sich im Kosmos auch wohl, wenngleich sie ihn nicht sehen können.« »Mordecai, glauben Sie mir, ich wäre glücklich in einer Welt der Sylphen und Salamander; jeder Dichter wäre das. Worüber jammern wir denn seit zweihundert Jahren? Darüber, daß man uns aus dieser Welt vertrieben hat.« »Und trotzdem lächeln Sie spöttisch, wenn man nur die Na­ 49

men nennt. Sie denken dabei nur an russisches Ballett und an Glöckchengeklingel. Aber ich habe die Salamander gesehen, inmitten der Flammen!« »Mordecai! Das Feuer für ein Element zu halten ist reiner Unsinn. Um sich das abzugewöhnen, genügen zwei Monate Chemieunterricht. Im Gymnasium, wohlgemerkt!« »Feuer ist das Element der Verwandlung, der Transsubstan­ tion«, sagte er in exaltiert-feierlichem Ton. »Es ist die Brücke zwischen Materie und Geist. Was ist es denn, das in den Herzen unserer Riesenzyklotronen lebt? Oder im Herz der Sonne? Sie glauben doch an Engel – die Boten zwischen dieser und der fernsten Sphäre, nicht wahr? Ich habe mit ihnen geredet.« »Die fernste Sphäre – dort wo Gott wohnt?« »Gott-h, Gott-h! Mir sind vertraute Geister lieber, Geister, die antworten, wenn man mit ihnen spricht. Meine Sylphen und Salamander. Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Aber es hat keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu dis­ kutieren. Noch nicht. Warten Sie, bis Sie mein Laboratorium gesehen haben. Wenn wir unser Vokabular nicht auf die gleiche Wellenlänge bringen, werden wir bis zum Jüngsten Tag anein­ ander vorbeireden.« »Tut mir leid. Ich bin sonst gar nicht so stur. Wahrscheinlich geht es mir Ihnen gegenüber weniger um durchdachte Gegenar­ gumente als um geistige Selbsterhaltung. Ich könnte mich na­ türlich leicht von Ihrem rhetorischen Schwung mitreißen lassen. Das soll ein Kompliment sein!« »Es stinkt Ihnen, daß ich klüger bin als Sie, was?« »Hat es Ihnen nicht gestunken, daß es damals in der Schule genau umgekehrt war, Mordecai? Übrigens …« – ich versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen – »… bin ich gar nicht so sicher, daß Sie wirklich klüger sind.« »Und ob! Und ob! Darauf können Sie Gift nehmen! Oder wollen Sie mich vielleicht testen? Jederzeit, mein Kleiner! Mit 50

welcher Waffe wollen Sie kämpfen? Suchen Sie irgendein Wis­ sensgebiet aus. Oder wäre Ihnen eine formelle Debatte lieber? Wissen Sie die Regierungszeiten der Könige von England, Frankreich, Spanien, Schweden, Preußen? Oder wie wär’s mit einem Gewaltmarsch durch Finnegans Wake? Oder vielleicht Haikus?« »Hören Sie auf! Ich glaub’s Ihnen ja. Aber verflucht noch mal, ein Gebiet gibt es, auf dem ich Sie noch immer schlagen kann, Sie Übermensch!« Mordecai riß herausfordernd den Kopf hoch. »Welches?« »Die Orthoepie.« »Okay, ich passe. Was ist Orthoepie?« »Die Lehre von der richtigen Aussprache.« Selbst Luzifer kann nicht so bestürzt gewesen sein, als er aus dem Himmel verstoßen wurde. »Hm, das stimmt. Aber verdammt noch mal, ich habe nicht genug Zeit, um bei jedem Fremdwort nachzuschlagen, wie es ausgesprochen wird. Wenn ich Fehler mache, würden Sie mich dann korrigieren?« »Wenigstens etwas, wozu ein Dichter gut ist.« »Oh, wir haben eine ganze Menge mit Ihnen vor! Sie müssen sich wieder mit George unterhalten. Nicht heute; er ist in der Krankenstation. Er hat sich in den Kopf gesetzt, hier den Doktor Faustus von Marlowe aufzuführen, aber wir wollten damit auf Sie warten. Und da ist noch etwas …« Erstaunlicherweise schien Mordecai diesmal seiner Sache nicht sicher. »Ja?« »Ich hab’ etwas geschrieben. Eine Erzählung. Ich dachte, Sie würden sie vielleicht lesen und mir sagen, was Sie davon hal­ ten. Haast hat mir versprochen, daß ich sie an eine Zeitschrift schicken darf, sobald das BSA sie freigegeben hat. Ich weiß aber nicht, ob sie gut genug ist, ich meine objektiv gesehen. Hier gefällt sie allen, aber wir sind inzwischen ein richtiger 51

Klüngel geworden. Inzucht. Sie dagegen können noch unab­ hängig denken.« »Ich bin gern bereit, die Geschichte zu lesen, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich ein erbarmungsloser Kritiker sein werde. Wovon handelt sie?« »Eine verdammt komische Frage von einem Lyriker! Sie handelt von van der Goes.« »Und was bedeutet BSA?« »Bundessicherheitsamt. Die Burschen von der Dechiffrierab­ teilung. Sie überprüfen alles, was wir sagen – es wird nämlich alles mitgeschnitten –, um sich zu vergewissern, daß wir keine … Geheimsprache benutzen.« »Tun Sie das?« Mordecai, der Alchimist, blinzelte mir zu. »Abrakadabra«, sagte er bedeutungsvoll. Dann huschte er hinaus, flink wie eine Sylphe. Später Fazit meiner Empfindungen? Kann man aus einem Wirbel­ sturm ein Fazit ziehen? Auf jeden Fall bedrückt mich ein Schuldgefühl, weil ich den Anstoß zu Mordecais Glaubensverlust gegeben habe. Es ist immer wieder erstaunlich, welch große Wirkung kleine Ursa­ chen haben können. Ein Mönch in seiner Zelle denkt über einen theologischen Irrtum nach und glaubt, das sei nur ihm selbst gefährlich, aber hundert Jahre später kann seine Ketzerei ganze Nationen in Aufruhr gebracht haben. Vielleicht haben die Kon­ servativen recht, vielleicht ist Gedankenfreiheit wirklich gefähr­ lich. Aber wie mein alter Adam, Louie II. dagegen protestiert! Ich kann ihn einfach nicht zum Schweigen bringen. Es bedarf manchmal meiner ganzen Willenskraft, um ihn daran zu hin­ 52

dern, laut mit mir zu reden. In meinem Herzen kauernd, ver­ sucht er ständig, Macht über meinen Verstand zu gewinnen. Schuldbewußtsein ist freilich nur eine von vielen Empfindun­ gen, die mich überfallen haben: Staunen, Bestürzung und noch viel mehr als das. Wie wenn einer den Himmel beobachtet – und plötzlich erscheint in seinem Blickfeld ein neuer Planet. Der Morgenstern Luzifer, Fürst der Finsternis. Verführer. 8. Juni Zu viel, zu viel! Ich habe den ganzen Tag geredet, geredet. Mein Gehirn ist wie eine Schallplatte, die man statt auf 33 auf 78 eingestellt hat. Ich habe, bis auf drei oder vier, sämtliche Gefangene (im ganzen sind es zwanzig) kennengelernt. In der Gruppe wirken sie noch beängstigender als allein. Die vielen Begegnungen hallen unablässig in mir nach wie musikalische Reminiszenzen nach einer Opernaufführung. Es begann damit, daß ein Wärter mir heute morgen George Wagners noch tintenfeuchte Einladung überbrachte, ihn in der Krankenstation zu besuchen. Kein Krankenhaus, nicht einmal Wrens Chelsea-Hospital, kann prächtiger ausgestattet sein. Georges Bett könnte von Tiepolo stammen. Und die Blumen vom Zöllner Rousseau. Wir unterhielten uns wieder über Rilke, den George weniger wegen seiner dichterischen Leistung als wegen seiner ketzerischen Ideen bewundert. Er hat einiges von ihm übersetzt. Ausgefallene Versmaße! Ich habe mit meiner Kritik zurückgehalten. Unterhielt mich mit ihm über seine Pläne bezüglich Faustus und erfuhr dabei von seinem Projekt eines vollkommenen Theaters. Es soll für ihn gebaut werden, hier unten! (Inzwischen ist mir völlig klar, daß das Lager A tief unter der Erdoberfläche liegt.) Ich kann mich weder an alle Namen noch an alles, was ge­ sprochen wurde, erinnern. Nur ein einziger aus der Gruppe, 53

Murray Sowieso, ein manieriertes Bürschchen, war mir ausge­ sprochen unsympathisch, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. (Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet; wahr­ scheinlich hat er mich überhaupt nicht bemerkt.) Er ereiferte sich über allerlei alchimistischen Unsinn. Was ich davon behal­ ten habe, klang ungefähr so: »Zwei Hähne paaren sich in der Dunkelheit. Ihre Nachkommen sind Küken mit Drachenschwänzen. Nach siebenmal sieben Tagen werden sie ver­ brannt, und ihre Asche wird in Gefäßen aus geweihtem Blei zermahlen.« Dazu kann ich nur sagen: Blabla! Aber wie ernst er sein Blabla nahm! Später erfuhr ich, daß Mordecai ihn dazu bewogen hat, sich mit Alchimie zu beschäftigen. Am besten gefiel mir Barry Meade. Ich bin gern mit Leuten zusammen, die noch dicker sind als ich. Sein Hobby ist das Filmemachen. Um zwei Uhr, als George ein Schlafmittel be­ kommen hatte (es geht ihm sehr schlecht, aber ich weiß nicht, woran er erkrankt ist, und wenn ich die andern frage, bekomme ich die verschiedensten Antworten), führte mich Meade in den drei Stockwerke tiefer gelegenen Vorführraum und zeigte mir eine Filmmontage: Regierungserklärungen McNamaras und Bilder von schreienden Frauen aus einem alten Gruselfilm. Komik wurde zur Raserei. Barry, kühl und gelassen, wies im­ mer wieder entschuldigend auf kaum wahrnehmbare technische Mängel hin. 4 Uhr 30. George war aufgewacht, ignorierte mich aber und vertiefte sich in ein Mathematikbuch. Allmählich komme ich mir vor wie ein kleiner Junge, der seine Ferien bei kinderlosen Verwandten verbringt, die sich in die Aufgabe teilen, für seine Unterhaltung zu sorgen. Im Lauf des Nachmittags kam einer an die Reihe, der mir als »Der Bischof« vorgestellt wurde. Diesen Spitznamen dürfte er seiner ausgefallenen Kleidung zu verdan­ ken haben. Er erläuterte die Gesellschaftsordnung, die sich hier herausgebildet hat. Kurz zusammengefaßt: Mordecai herrscht 54

auf Grund seiner starken persönlichen Ausstrahlung unange­ fochten über gutmütige Anarchisten. Der »Bischof« ist nicht aus dem Militärgefängnis ins Lager Archimedes gekommen, sondern aus der Nervenheilanstalt für Armeeangehörige, wo er wegen totalen Gedächtnisschwundes zwei Jahre verbracht hat. Er hielt mir einen faszinierenden, halb komischen, halb schau­ rigen Vortrag über seine zahlreichen Selbstmordversuche. Ein­ mal hat er einen Liter Bleifarbe getrunken. Irr! Später hat er mich beim Schachspielen völlig überfahren. Und danach veranstaltete Murray Sowieso ein Konzert mit elektronischer Musik. (Eigene Kompositionen? Jemand sagte ja, jemand sagte nein.) In meinem verrückten Zustand fand ich sogar daran Gefallen. Und so ging’s weiter. Eins türmte sich aufs andere. Ossa auf Pelion. Zu viel! Zu viel! Und wozu das alles? Wozu dient diese grandiose Ungeheuerlichkeit? Schalten Sie morgen wieder ein! 9. Juni O Gott, wieder eins von jenen »morgen«, die mich mir selbst immer mehr entfremden! Ich fühle mich hohl wie eine Maske aus Pappmaché, ein grinsendes, blinzelndes, faltiges Etwas. Aber die Wahrheit, die volle Wahrheit, ist vielleicht, daß die Maske gar nicht hohl ist, sondern daß ich nicht hinter sie blicken will, nicht das irre Flackern des Bildes, Bildes, Bildes sehen will, das vom Unterbewußtsein gesendet und vom defekten Bewußtsein empfangen wird. Ich fühle mich schlecht, dumm und geschlagen. Ich bin krank. Ich hatte Besuch (Mordecai, Meade) und ein paar Zeilen von George W. aber ich habe mich unter dem Vorwand, der Selbst­ besinnung zu bedürfen, abgekapselt. Wenn ich nicht mehr ich bin, wer bin ich dann? 55

Ich habe das lebenspendende Sonnenlicht zu lange entbehren müssen. Das ist die Erklärung. Und ich kann nicht mehr zusammenhängend denken. Ahimé 10. Juni Danke, es geht mir besser. Wirklich, ich fühle mich ganz wohl. Jetzt bin ich wieder fähig, der Niederlage gute Seiten ab­ zugewinnen. Tatsachen: Wieder bei H. H. Da ich mich inzwischen an die kalkweißen Gesichter der Gefangenen und Wärter gewöhnt habe, kommt mir die Höhensonnenbräune seines Gesichts (es erinnert mich an Toast!) erst recht wie ein Verstoß gegen die natürliche Ord­ nung vor. Wenn das Gesundheit ist, soll Krankheit mich ver­ derben! Wir sprachen über dies und jenes. Er lobte die Faktorizität (sie!) meines Tagebuchs, tadelte aber meine gestrige Eintra­ gung. Sie sei zu subjektiv. Sollte ich wieder einmal in eine sol­ che Stimmung verfallen, könnte ich mir vom Wärter jederzeit ein Beruhigungsmittel geben lassen. Wir können es uns nicht leisten, kostbare Zeit zu vergeuden, stimmt’s? Und so ließ er die gut geschmierten Ventile seiner Banalität unaufhörlich auf- und zuklappen und bewegte sich auf ausgetre­ tenen Pfaden ständig im Kreis – bis er plötzlich sagte: »Sie haben also Siegfried kennengelernt.« »Siegfried?« Vielleicht ein Spitzname für Mordecai? Er blin­ zelte mir zu. »Dr. Busk.« »Wieso Siegfried?« fragte ich verwirrt. »Sie wissen doch – die ›Siegfried-Linie‹, der Westwall. Un­ einnehmbar. Ich habe Busk für dieses Projekt angefordert, weil ich überzeugt bin, daß sie kalt wie ein Fisch ist. Normalerweise wären Frauen in einer Umgebung wie dieser fehl am Platz. Ich 56

meine, weil sie mit einer Horde geiler G.I.s arbeiten müßten – und noch dazu mit etlichen Farbigen. Aber bei Siegfried spielt das keine Rolle.« »Sie sprechen wohl aus Erfahrung?« »Armeehelferinnen!« sagte Haast und schüttelte den Kopf. »Es gibt welche, die können nicht genug davon kriegen, und andere, die …« Er beugte sich zu mir und sagte vertraulich: »Schreiben Sie das nicht in Ihr Tagebuch, Sacchetti. Die Busk hat noch keinen drübergelassen. Tatsache!« »Nicht möglich!« »Verstehen Sie mich nicht falsch – Siegfried leistet ausge­ zeichnete Arbeit. Sie versteht ihr Geschäft besser als andere und sie würde sich nie durch Gefühle davon abhalten lassen, ihre Pflicht zu tun. Wissen Sie, die meisten Psychologen neigen zu Sentimentalität – sie wollen den Menschen helfen. Die Busk nicht. Wenn sie überhaupt eine schwache Seite hat, dann ist es ihr Mangel an Vorstellungskraft. Ihre Denkweise ist manchmal etwas beschränkt … zu konventionell. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich respektiere die Wissenschaft durchaus …« Ich nickte. Ich verstand ihn keineswegs falsch. »Ohne die moderne Wissenschaft hätten wir keine Strahlen­ technik, keine Computer, kein Krebiozen, keine Mondflüge. Aber die Wissenschaft ist nur eine von vielen Möglichkeiten, den Dingen auf den Grund zu kommen. Natürlich gestatte ich der Busk keine direkte Auseinandersetzung mit den Jungs …« (so nennt Haast seine Versuchskaninchen) »… aber ich glaube, sie spüren ihre Feindseligkeit. Zum Glück haben sie dadurch noch nichts von ihrem Enthusiasmus eingebüßt. Das Wichtigste ist, und darüber ist sich sogar die Busk klar, daß man sie ihren eigenen Kurs steuern läßt. Sie müssen ihr bisheriges Denken aufgeben, neue Wege suchen, auf Forschungsreise gehen.« »Womit ist denn die Busk nicht einverstanden?« Er wurde wieder vertraulich, und um seine Augen erschienen 57

die verästelten, braunen Blinzelfältchen. »Warum sollen Sie es eigentlich nicht von mir erfahren, Sacchetti? Früher oder später hätte es Ihnen einer der Jungs ja doch erzählt. Mordecai wird uns das Magnum Opus bescheren.« »Nein wirklich?« Ich weidete mich an Haasts Gutgläubig­ keit. Er zuckte zurück. Auf meine skeptische Frage reagierte er so empfindlich wie Farn auf Sonnenlicht. »Jawohl, das wird er! Ich weiß, was Sie denken, Sacchetti. Das gleiche, wie die Busk. Daß Mordecai mich an der Nase herumführt, daß ich hereinge­ legt werden soll.« »Es wäre zum mindesten denkbar.« Und um ihn zu beschwich­ tigen: »Sie wollen doch, daß ich aufrichtig bin. Oder soll ich mich verstellen?« »Nein, auf keinen Fall!« Er lehnte sich seufzend im Sessel zurück, und sein gefurchtes Gesicht entspannte sich. Ein Wind­ hauch auf dem seichten Tümpel seiner Einfalt. »Ihre Einstellung überrascht mich nicht. Aus Ihrem Bericht über Ihr Gespräch mit Mordecai hätte ich schließen können … Wissen Sie, die meisten Leute reagieren zuerst genau wie Sie. Sie halten die Alchimie für eine Art schwarze Magie. Sie wissen nicht, daß auch sie eine Wissenschaft ist. Und sogar die erste Wis­ senschaft und noch heute die einzige, die sich nicht scheut, alle Tatsachen zu berücksichtigen. Sind Sie Materialist, Sacchetti?« »N … nein, würde ich nicht sagen.« »Das ist heute aus der Wissenschaft geworden – Materialis­ mus und sonst gar nichts. Versuchen Sie mal, den Leuten etwas von übernatürlichen Dingen zu erzählen! Sofort verschließen sie Augen und Ohren. Sie haben keine Ahnung, wieviel wissen­ schaftliche Arbeit, wie viele Hunderte von Bänden, wie viele Jahrhunderte der Forschung …« Ich glaube, er war drauf und dran, »und Entwicklung« zu sagen, aber er verschluckte es rechtzeitig. 58

»Es fiel mir auf«, sagte er etwas unsicher, »daß Sie in Ihrem Tagebuch des öfteren Thomas Aquinas erwähnen. Ist Ihnen je­ mals der Gedanke gekommen, daß auch er ein Alchimist gewesen sein könnte? Er war es, und sein Lehrer, Albertus Magnus, war sogar ein noch größerer! Jahrhundertelang haben die bedeutend­ sten Geister Europas Geheimwissenschaft betrieben, aber heute kommen Leute wie Sie und die Busk daher und bezeichnen das alles, ohne auch nur das Geringste darüber zu wissen, als lächer­ lichen Aberglauben. Wer ist denn in Wirklichkeit abergläubisch? Wer urteilt denn, ohne Beweise zu haben? Wer denn? Haben Sie jemals etwas über Alchimie gelesen? Ein einziges Buch?« Ich gab zu, daß ich noch nichts darüber gelesen hatte. Haast triumphierte. »Und trotzdem fühlen Sie sich qualifiziert, ein Urteil zu fällen über Generationen von Gelehrten und Theejo­ logen?« Nicht nur seine Aussprache dieses Wortes, auch Ton und Thema seines Exkurses erinnerten mich irgendwie an Mordecai. »Sacchetti, nehmen Sie einen Rat von mir an!« »Sie können mich Louie nennen, Sir.« »Jaja, ich wollte auch … Louie sagen. Seien Sie vorurteilslos und aufgeschlossen für neue Ideen! Alle Erkenntnisse, die ent­ scheidend zum Fortschritt der Menschheit beigetragen haben, von Galilei …« – wieder ein schauerlich schöner Ausrutscher im Stil Mordecais – »… bis hin zu Edison, stammen von Men­ schen, die den Mut hatten, anders zu sein.« Ich versprach, aufgeschlossen zu sein, aber H. H. konnte sich nicht von seinem Thema trennen. Er vernichtete ganze Batail­ lone von imaginären Gegnern und führte mit der Logik eines Traumtänzers die deprimierenden Ereignisse, die sich in den letzten drei Jahren in Malaysia abgespielt haben, darauf zurück, daß gewisse (ungenannte) Schlüsselfiguren in Washington für neue Ideen nicht aufgeschlossen seien. Wenn ich ihm gezielte Fragen stellte, hielt er sich vorsichtig zurück und deutete an, daß er mich noch nicht für würdig be­ 59

fand, in seine Geheimnisse eingeweiht zu werden. Er hat sich vom Militärdienst her den unumstößlichen Glauben an die Wirksamkeit der Geheimhaltung bewahrt: Wissen verliert an Wert, wenn es von zu vielen geteilt wird. Ich zweifle nicht mehr an der Wirklichkeitstreue von Berri­ gans Porträt des »Generals Uhrlick« in Mars in Konjunktion (das Buch ist übrigens nicht in der Lagerbibliothek), und ich kann jetzt verstehen, warum Haast, obwohl er überall ausposaun­ te, es sei eine üble Verleumdung, und obwohl er alles tat, um Berrigan zu ruinieren, niemals Anklage gegen ihn erhoben hat. Der gutgläubige alte Narr hat sich tatsächlich bei dem ganzen verdammten, ein volles Jahr dauernden Unternehmen Auaui auf die Astrologie verlassen! Wollen wir hoffen, daß die Geschichte sich nicht haargenau wiederholen und der listige Mordecai nicht unversehens Berri­ gans fatale Rolle übernehmen wird! Später Beachten Sie bitte: Ich lese ein Buch über Alchimie. Kaum hatte ich Haast verlassen, da ließ er mir das Buch schon über­ bringen. Aspects de l’alchimie traditionnelle von Rene Alleau. Beigelegt ist eine maschinengeschriebene Übersetzung in einem Umschlag mit der Aufschrift STRENG GEHEIM. Erfreulicherweise ist es fast so unterhaltsam wie gewisse spleenige Leserbriefe, die meist mit den Worten beginnen: »Sehr geehrter Herausgeber, Sie werden es wahrscheinlich nicht wagen, diesen Brief zu veröffentlichen, aber …« 11. Juni Die Faustus-Probe: eine Enttäuschung, ein Vergnügen und dann der entsetzliche Sturz in die Wirklichkeit. 60

Ich kann nicht genau sagen, was ich eigentlich von George Wagners Regie erwartet hatte. Vermutlich so etwas wie die sa­ genhaften Underground-Inszenierungen von Genet-Stücken, die es Ende der sechziger Jahre gegeben haben soll (was allerdings sehr zweifelhaft ist). Tatsächlich aber war Georges Regiekon­ zept nur ein schwacher Abklatsch des Arena-Theaters und der bemühten Verschwommenheit von Wieland Wagners Bayreuther Inszenierungen. Wenn das Publikum, wie in unserem Fall, nur aus den gerade nicht auf der Bühne benötigten Mitwirkenden besteht (und aus mir selbst als Souffleur, was sich als überflüs­ sig erwies, da sie bereits bei dieser ersten Probe jede Zeile aus­ wendig wußten), wirkt das Proszenium sowieso störend. Aber die Auffassung, daß dichter Nebel die Wirkung einer Tragödie erhöht, ist reiner Blödsinn und ausgesprochen altmodisch. In der Hölle ist’s dunstig, einverstanden, aber in Schottland muß es das nicht unbedingt sein. Es scheint also (und das stelle ich mit Vergnügen fest), daß sich unsere jungen Genies auch einmal irren können. Dies ist allerdings das Urteil eines Theaterbesuchers, der zwanzig Jahre lang wahllos von Aufführung zu Aufführung gerast ist und meist enttäuscht wurde. Das Erstaunliche an diesem Faustus ist, daß George und die anderen Gefangenen noch nie ein Drama auf der Bühne gesehen haben. Dagegen kennen sie Dramenver­ filmungen, und die Inszenierung ging nicht zuletzt deshalb schief, weil George des öfteren Filmtechniken nachzuahmen versuchte. Aber genug der Krittelei! Sobald sie zu spielen begannen, ver­ gaß ich den Nebel und empfand nur noch Bewunderung. Um mit Mordecai zu sprechen: »Die Schauspieler waren phänemonal«! Ich habe es vor Jahren versäumt, mir Burton als Faustus an­ zusehen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er sehr viel besser als George Wagner war. Sicher hat Burtons Stimme im letzten Monolog nobler geklungen, aber gelang es ihm ebenso 61

gut, den Zuschauern zu suggerieren, daß hier wirklich ein mit­ telalterlicher Gelehrter vor ihnen stand, von Gott besessen, Gott lästernd, von heroischer und verhängnisvoller Liebe zur Wis­ senschaft getrieben? Erschien die Wissenschaft ähnlich furcht­ bar, geheimnisvoll und alptraumartig, als Burton bei Fausts erstem Auftritt seufzte: »Du, süßer Wissensdrang, verzehrst mich ganz …«? Als George diese Worte sprach, spürte ich mein Herz klopfen und jede Faser in mir nach dem Gift dürsten, das auch mich verzehren würde. Mordecai spielte den Mephistopheles. Bei Marlowe ist diese Gestalt bei weitem nicht so eindrucksvoll wie bei Goethe, aber Mordecais Darstellung ließ das fast vergessen. Die Stelle, die mit den Worten beginnt: »Hier ist die Hölle, ich entkam ihr nicht«, sprach er mit kühler Eleganz, so, als wäre dieses Einge­ ständnis ewiger Verdammnis und Verzweiflung nicht mehr als ein triviales Epigramm von Sheridan oder Wilde. Ich könnte noch vieles erwähnen – Nuancen der Interpretati­ on und Deklamation –, aber meine Gedanken kehren immer wieder zu jenen letzten, qualvollen Minuten zurück, als Fau­ stus, kurz bevor die Hölle sich seiner bemächtigt, plötzlich auf­ hörte, Faustus zu sein. Denn wieder einmal wurde George Wagner von einem erschreckend heftigen Brechreiz befallen und gab alles, aber auch alles, was er im Magen hatte, von sich. Er schluchzte und würgte, er wand sich wie in einem Anfall auf dem glatten Bühnenboden, bis die Wärter erschienen und ihn zurück in die Krankenstation trugen, während die Darsteller der Teufel mit leeren Händen in den Kulissen standen. »Mordecai, was ist mit ihm los?« fragte ich. »Ist er immer noch krank? Was fehlt ihm?« Und Mordecai, noch nicht aus seiner Rolle geschlüpft, sagte eisig: »Das ist der Preis, den alle guten Menschen für das Wissen bezahlen müssen. Das kommt davon, wenn man Zauberäpfel ißt.« 62

»Meinen Sie damit, daß die … Droge, die man Ihnen gegeben hat und durch die Sie so … Sie meinen, auch das kommt von der Droge?« Er lächelte gequält, hob langsam die Hand und zog sich die Teufelshörner vom Kopf. »Verdammt noch mal«, sagte Murray Sandeman (denn so heißt der begeisterte Alchimist), »warum sagst du diesem Arschloch nicht die Wahrheit?« »Halt’s Maul, Murray!« sagte Mordecai. »Keine Angst! Ich sag’s ihm nicht. Schließlich hab’ nicht ich ihn hergeholt. Aber da er nun einmal hier ist – ist es nicht etwas zu spät dafür, ihm die Unschuld zu bewahren?« »Halt’s Maul!« »Wer hat sich denn darüber aufgeregt, daß wir die Zauberäp­ fel essen mußten?« Mordecai sah mich an. Im düsteren Bühnenlicht war sein dunkles Gesicht kaum zu erkennen. »Wollen Sie wirklich eine Antwort auf Ihre Frage, Sacchetti? Wenn nicht, dann sollten Sie von jetzt an nie mehr fragen.« »Antworten Sie!« Ich fühlte mich gezwungen, mehr Mut zu zeigen, als ich hatte. (Ist Adam auf diese Weise der Versuchung erlegen?) »Ich möchte es wissen.« »George stirbt. Er hat noch zwei Wochen zu leben, wenn er Glück hat. Wahrscheinlich kürzer, nach allem, was wir heute erlebt haben.« »Wir alle werden bald sterben«, sagte Murray Sandemann. Mordecai nickte. Wie stets war sein Gesicht unbewegt. »Wir alle werden bald sterben. An der Droge, die sie uns gegeben haben. Pallidin. Es zerstört das Gehirn. Bis es soweit ist, dauert es neun Monate, manchmal etwas länger, manchmal etwas kür­ zer. Und je mehr man zerfressen wird, desto klüger wird man. Bis man …« Mordecai zeigte mit einer eleganten Handbewe­ gung auf die Stelle, wo George sich erbrochen hatte. 63

12. Juni Habe die ganze Nacht gekritzelt, gekritzelt, gekritzelt. Meine Reaktion auf Mordecais Enthüllung ist typisch für mich: Ich will nichts wahrhaben, stecke den Kopf in den Sand – und schreibe. Großer Gott, und wie ich geschrieben habe! Da die dumpfe Luft noch von Marlowes Pentametern geschwängert war, konnte auch ich nur in Blankversen schreiben. Habe ihnen seit meiner Schulzeit nicht mehr gefrönt. Da mir jetzt nichts mehr einfällt, genieße ich es geradezu, die Verse breitspaltig aufs Blatt zu tippen. Ein luxuriöses Gefühl – wie wenn man einen Pelz streichelt. Schlachtopfer wie die Tauben: Sklavenknabe. Tonscherben klappern laut bei jedem Schritt. Das Salböl stinkt, und rittlings auf der Ziege … Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll (der Nebel ist zu dicht), obwohl ich dem Gedicht den (obskuren) Titel Der Hierodule gegeben habe. Das ist, wie ich vorige Woche im Ox­ ford English Dictionary entdeckt habe, ein Tempelsklave. Ich komme mir wie ein zweiter gottverdammter Coleridge vor, aber zu mir ist niemand aus Porlock gekommen, um mich aus dem Trancezustand aufzuschrecken. Es begann ganz harm­ los damit, daß ich die vor einem Jahr entstandenen und längst ad acta gelegten Zeremonie-Gedichte wieder aufleben ließ. Aber das einzige, was diese frommen Nichtigkeiten mit dem neuen Gedicht verbindet, sind dessen Anfangszeilen mit dem Bild des Priesters, der das Tempellabyrinth betritt: Er wendet sich nach rechts und links, er greift

nach Augen, göttlich schön. Blut fließt ins Becken …

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In den folgenden zehn Zeilen aber entwickelt es sich zurück (oder vorwärts?) zu einem Etwas, das ich mit dem besten Wil­ len nicht nacherzählen und noch weniger analysieren kann. Es ist heidnisch, zweifellos, und vielleicht auch ketzerisch. Ich würde nie wagen, es unter meinem Namen zu veröffentlichen. Veröffentlichen! Mir ist noch so schwindlig zumute, daß ich nicht einmal beurteilen kann, ob das Versmaß stimmt. Wie sollte ich da wissen, ob das verdammte Ding druckreif ist? Aber wie immer, wenn mir ein gutes Gedicht gelungen ist, habe ich das Gefühl, daß im Vergleich damit alles, was ich je geschrieben habe, wertloses Zeug ist. Da ist zum Beispiel eine Stelle – die Beschreibung des Götzenbildes: O sieh das schwarze, porenlose Fleisch, sieh das Scharnier des Rachens, von Juwelen bedeckt, die unserm Blick es fast entlehn. Und drinnen flüstert jetzt der Hierodule am Gifte sterbend, was der Gott gemeint. Ich wollte, er hätte es mir zugeflüstert. 110 Zeilen! Mir ist, als sei bereits eine Woche vergangen, seit ich gestern nachmittag daran zu arbeiten begann. 13. Juni George Wagner ist tot. Der versiegelte Sarg mit den Fleischfetzen, die die Ärzte nicht gebrauchen können, wurde in einen schmalen Schacht geschoben, den man in den Naturfels dieser unserer Gruft gehauen hatte. Ich, die andern Gefangenen und drei Wärter nahmen teil, Haast und Busk fehlten, und nicht einmal ein Geistlicher war erschienen. Ob es in Ravensbrück 65

Geistliche gegeben hat – was meinen Sie? So peinlich es mir selbst und den andern auch war – ich rang mir ein paar Gebete ab. Die Worte klangen dumpf und fielen schwer wie Blei in die Stille. Wahrscheinlich liegen sie noch immer auf dem rauhen Boden der Krypta. Dieses unterirdische, schwachbeleuchtete Grabgewölbe mit den rund zwanzig leeren Nischen übte auf die Gefangenen die unwiderstehliche Faszination eines Memento mori aus (ver­ gleichbar den Sargnischen in den Gängen eines Kartäuserklo­ sters). Wahrscheinlich sind sie aus diesem makabren Grund, und nicht, weil sie um den Toten trauern, zur Bestattung ge­ kommen. Als die andern hinausgegangen waren in die geometrische Stille unserer Korridorwelt, legte Mordecai die Hand auf die Felswand (die sich nicht kalt wie Stein, sondern warm wie Fleisch anfühlte) und sagte: »Sedimentgestein«. Ich hatte er­ wartet, er würde »Leb wohl« sagen. »Kommen Sie!« sagte einer der Wärter. Ich bin jetzt lange ge­ nug hier, um die Wärter unterscheiden zu können; der gespro­ chen hatte, war »Felsauge«, seine Kameraden waren »Furzer« und »Emsig«. Mordecai bückte sich und hob einen faustgroßen Gesteinsbrocken auf. Emsig nahm die Pistole aus dem Etui. Mordecai lachte. »Ich plane keinen Aufstand, Herr Wachtmeister, wirk­ lich nicht. Ich möchte nur dieses hübsche Stück Breccie für meine Steinsammlung haben.« Er steckte es ein. »Mordecai«, sagte ich, »was Sie mir nach der Probe erzählt haben … Wie lang wird es noch dauern … Wie lang glauben Sie, daß Sie noch …?« Mordecai, schon an der offenen Tür, blickte zurück – eine dunkle Silhouette vor dem Neonlicht des Korridors. »Ich habe bereits sieben Monate hinter mir. Sieben Monate und zehn Tage. Mir bleiben also noch fünfzig Tage – falls ich nicht frühreif bin.« 66

Er ging über die Schwelle, wandte sich nach links und war ver­ schwunden. »Mordecai!« Ich wollte ihm nachlaufen. Felsauge versperrte mir den Weg. »Nicht jetzt, Mr. Sacchetti! Sie haben eine Verabredung mit Dr. Busk.« Furzer und Emsig nahmen mich in die Mitte. »Folgen Sie uns bitte!« »Das war sehr töricht von Ihnen, sehr unklug und sehr unbe­ dacht.« Dr. Aimée Busk wiederholte sich im ernsten Ton eines Erziehungsberaters. »Nein, ich meine nicht Ihre Fragen den armen jungen George betreffend. Sie sagen ja selbst, daß es uns nicht mehr lange gelungen wäre, diesen Aspekt des Experi­ ments vor Ihnen geheimzuhalten. Sehen Sie, wir hatten gehofft, ein … Gegenmittel zu entdecken. Bedauerlich. Nein, diesen Vorfall habe ich nicht gemeint, denn wenn Sie auch noch so sehr gegen das protestieren, was Sie unsere Unmenschlichkeit nennen, so können wir uns doch auf genug Präzedenzfälle beru­ fen. Seit es medizinische Forschung gibt, ist ihr Fortschritt mit dem Blut von Märtyrern bezahlt worden.« Sie genoß die Wir­ kung ihrer Worte. »Aber wenn das nicht der Grund ist, warum wollen Sie mir dann eigentlich eine Gardinenpredigt halten?« »Wegen Ihrer sehr törichten, sehr unklugen, sehr unbedachten kleinen Entdeckungsreise in die Bibliothek.« »Sie passen aber genau auf!« »Ja, natürlich. Stört es Sie, wenn ich rauche? Nein? Danke.« Sie steckte eine zerdrückte Camel in einen kurzen Kunststoff­ halter, der früher einmal durchsichtig gewesen war, jetzt aber die gleiche dunkelbraune Färbung hatte wie ihr Zeige- und Mittelfinger. »Ob ich hier im Who’s Who nachschlage oder erst nach meiner Entlassung – Sie müssen doch zugeben, daß man sich die Information leicht beschaffen kann.« 67

Was ich im Who’s Who gefunden hatte (jetzt kann ich es wohl offen sagen), ist der Name der Stiftung, die Haast zum Vizepräsidenten der Abteilung Forschung & [Hier wurden zwei Zeilen der Aufzeichnungen Louis Sacchettis unleserlich gemacht. – Der Herausgeber.] »Ist das Mangel an Vertrauen? Oder wollten Sie uns irrefüh­ ren?« fragte Dr. Busk in sanft-vorwurfsvollem Ton.» Wenn hier überhaupt von Irreführung die Rede sein kann, dann trifft der Vorwurf allerdings auch mich selbst. Aber ist das im Grund nicht ein moralisches Problem? Wir haben lediglich versucht, Sie bei guter Laune zu halten, damit Ihre Arbeit nicht durch unnötige Angstgefühle behindert wird.« »Das heißt, daß Sie von Anfang an vorhatten, mich nie aus dem Lager Archimedes zu entlassen?« »Nie? Jetzt dramatisieren Sie die Angelegenheit. Natürlich werden wir Sie rauslassen. Früher oder später. Sobald die Stimmung draußen günstiger sein wird. Sobald unsere P. R.­ Abteilung von dem Experiment überzeugt ist. Dann werden wir Sie nach Springfield zurückschicken. Und da wir ziemlich si­ cher in spätestens fünf Jahren so weit sein werden, vielleicht sogar schon in fünf Monaten, sollten Sie dankbar sein, daß Sie diese Zeit hier verbringen dürfen, wo Sie Zeuge des Fortschritts sind, und nicht in Springfield, wo Sie sich so gelangweilt ha­ ben.« »Jawohl, ich sollte dankbar dafür sein, daß ich Zeuge Ihrer Morde sein darf. Stimmt’s?« »Wenn Sie es allerdings so sehen wollen … Aber Sie sollten inzwischen gelernt haben, daß die Welt die Dinge anders sieht als Sie, Mr. Sacchetti. Sollten Sie versuchen, wegen des Lagers Archimedes einen Skandal zu machen, dann werden Sie wahr­ scheinlich auf ebensowenig Verständnis stoßen wie damals bei 68

Ihrer Gerichtsverhandlung. Natürlich werden Sie ein paar andere Paranoiker finden, die Ihren mutigen Reden zuhören werden, aber die meisten Leute nehmen Kriegsdienstverweigerer und ihre Gewissensgründe einfach nicht ernst.« »Die meisten Leute nehmen ihr eigenes Gewissen nicht ernst.« »Das ist zwar eine andere These, aber sie läuft auf das gleiche hinaus, nicht wahr?« Dr. Busk wölbte ironisch die dünnen Brauen und erhob sich im gleichen Moment von dem niedrigen Sitz. Ihr steifes graues Kleid knisterte, als sie es nervös glatt­ strich. »Sonst noch was, Mr. Sacchetti?« »Als wir zum ersten Mal darüber sprachen, sagten Sie, Sie würden mir die Wirkung der Droge, sprich Pallidin, näher er­ klären.« »Also gut.« Sie nahm wieder auf dem schwarzen Ledergitter Platz, setzte ein Lehrerinnenlächeln auf und begann ihren Vor­ trag. »Der auslösende Faktor dieser Krankheit, die man eigentlich gar nicht so nennen sollte, da sie so viel Gutes bewirkt, ist ein Virus, eine Spirochäte, die der Treponema pallida verwandt ist. Hier wird sie, wie Sie wissen, als ›Pallidin‹ bezeichnet, womit man freilich an der Tatsache vorbeigeht, daß die Krankheit kei­ neswegs durch ein Pharmazeutikum hervorgerufen wird, son­ dern durch einen zellenbildenden Organismus. Kurz, durch ei­ nen Virus. Vielleicht haben Sie schon von Treponema pallida gehört? Man spricht auch von Spirochaeta pallida. Nein? Die Wirkung kennen Sie aber bestimmt. Die Treponema pallida ist der Erreger der Syphilis. Aha, jetzt geht Ihnen ein Licht auf! Der Virus, mit dem wir es bei unserem Experiment zu tun haben, ist gewissermaßen eine Spielart, ein später ›Ableger‹ der soge­ nannten Nicols-Variante, die 1912 aus dem Gehirn eines Syphi­ litikers isoliert und im Blutplasma von Kaninchen am Leben 69

erhalten wurde. Die unzähligen Generationen von NicolsSpirochäten, die sich in diesen Versuchstieren entwickelten, waren Gegenstand intensivster und geradezu enthusiastischer Forschungsarbeit. Besonders seit 1949. In diesem Jahr entwickel­ ten unsere Landsleute Nelson und Mayer die sogenannte T.P.I., den verläßlichsten Test für die Früherkennung der Syphilis. Das ist aber nur die Vorgeschichte. Der Virus, der George den Rest gegeben hat, ist so verschieden von der Nicols-Variante wie diese von der guten alten Treponema pallida. Es wird Sie kaum überraschen, daß die Erforschung der kleinen Welt der Spirochäten am eifrigsten von der Armee betrieben wurde. Viele gute Soldaten sind von diesem mikroskopisch kleinen Feind besiegt worden, bevor man im Zweiten Weltkrieg aus der Entdeckung des Penicillins Nutzen zog. Aber auch dann wurde weitergeforscht. Vor etwa fünf Jahren beschäftigte sich ein Team von Wissenschaftlern im Auftrag der Armee mit der Frage, ob in den Fällen, in denen Penicillin entweder nicht an­ gewandt werden kann oder nicht anspricht – letzteres traf damals auf etwa drei Prozent der Patienten zu –, eine Strahlentherapie möglich ist. Für die Versuche wurden natürlich Kaninchen be­ nutzt. Zu ihrem Staunen stellten die Wissenschaftler fest, daß dabei neue Abarten entstanden. Diese Entwicklung hatte nichts mit Fortpflanzung zu tun, sondern wurde bewirkt durch fortge­ setzte Bluttransfusionen, also durch die ständige Übertragung von Spirochäten. Für eine dieser Abarten war es charakteristisch, daß die Tiere an Orchitis erkrankten, gleichzeitig aber – trotz ihres körperlichen Verfalls – erstaunlich schlau wurden. Mehr­ mals gelang es ihnen, aus den Käfigen zu fliehen. Ihr Verhalten in den Skinner Boxes übertraf alles, was der Forschung bis dahin bekannt war. Ich habe diese Versuche geleitet, und Sie können mir glauben, daß die Ergebnisse absolut verblüffend waren. So also wurde das Pallidin entdeckt. Es dauerte drei Jahre, bis man aus dieser Entdeckung Nutzen zu ziehen begann. Drei Jahre! 70

Unter dem Mikroskop unterscheidet sich das Pallidin kaum von anderen Spirochäten. Es ist, wie schon der Name sagt, spiral­ förmig und hat sieben Windungen. Die gewöhnliche Treponema pallida hat mehr, obwohl hie und da auch eine mit nur sechs Windungen zu finden ist. Wenn Sie gern mal eine sehen möch­ ten … Nicht? Die Dinger sehen nämlich ausgesprochen hübsch aus. Sie bewegen sich vorwärts, indem sie sich der Länge nach ausdehnen und sich dann wieder in Korkenzieherform zusam­ mendrehen. Sehr graziös. Die Lehrbücher nennen es ›sylphen­ haft‹. Ich habe stundenlang zugesehen, wie sie im Plasma her­ umschwimmen. Wir haben eine Menge Unterschiede zwischen der Treponema pallida und dem Pallidin festgestellt, aber woraus dessen er­ staunlich starke Wirkung resultiert, konnten wir noch nicht endgültig klären. Im letzten Stadium zerstört die Syphilis das Zentralnervensystem. Wenn die Spirochäten zum Beispiel bis zum Rückenmark vorgedrungen sind, was oft erst zwanzig Jahre nach der Ansteckung der Fall ist, setzt die Tabes dorsalis ein, von Laien ›Rückenmarksschwindsucht‹ genannt. Eine sehr bös­ artige Krankheit. Sie haben noch nicht davon gehört? Nun, heutzutage kommt sie nicht mehr so häufig vor. Es beginnt da­ mit, daß die Beine wacklig werden, dann schwellen die Gelenke und werden allmählich gebrauchsunfähig, und dann folgt in zehn von hundert Fällen die Erblindung. Soviel zu Tabes. Aber wenn die Spirochäten das Gehirn erreichen, d.h. wenn sie durch Osmose im Rückenmark nach oben gelangen, etwa so, wie der Saft im Baum hochsteigt, dann setzt die progressive Paralyse ein, für die es besonders spektakuläre Beispiele gibt. Einige berühmte Fälle dürften Sie als Künstler besonders interessieren: Donizetti, Gauguin, Hugo Wolf und natürlich Nietzsche, der sei­ ne letzten Briefe aus der Heilanstalt mit ›Dionysos‹ zeichnete.« »Keine berühmten Dichter?« »O doch. Übrigens verdankt die Krankheit sogar ihren Namen 71

einem Dichter: Fracastoro, der 1530 ein lateinisches Lehrgedicht über den Hirten Syphilis, einen liebeskranken Jüngling, schrieb. Ich habe es nicht gelesen, aber falls es Sie interessiert … Und dann wären noch die Brüder Goncourt und der Abbé Galiani zu nennen. Aber das schlagendste Beispiel für die ungeheure Wir­ kung der Treponema pallida ist Adolf Hitler. Wenn die Spirochäten im Gehirn nur diese vernichtende Wirkung hätten, also nur zu Delirium und Auflösung führten, würde das Lager Archimedes überhaupt nicht existieren. Aber einige angesehene Fachleute, die keineswegs alle Mediziner waren, haben darauf hingewiesen, daß sich die Neurosyphilis ebenso oft positiv wie negativ auswirken kann und daß die Ge­ nies, die ich erwähnt habe, und viele andere mehr, nicht nur Opfer, sondern auch Nutznießer dieser Krankheit waren. Letztlich kommt es darauf an, wie man Genialität definiert. Die Definition, die ich für die beste halte, weil sie nämlich die meisten uns bekannten Fakten berücksichtigt, stammt von Koestler. Er sagt, die Genieleistung bestehe darin, daß zwei bisher getrennt voneinander existierende Ideen, oder Gedan­ kenmuster, in Zusammenhang gebracht werden, d.h. daß eine Juxtaposition erfolgt. Archimedes im Bad ist ein Beispiel dafür: Bis dahin hatte noch niemand das Problem der Gewichtsbe­ stimmung mit dem allgemein bekannten Phänomen der Was­ serverdrängung in Zusammenhang gebracht. Entscheidend für den modernen Forscher ist die Frage, was in dem Moment, als beispielsweise Archimedes ›Heureka!‹ rief, tatsächlich im Ge­ hirn vor sich geht. Heute ist man ziemlich sicher, daß es sich um eine Art Zusammenbruch – im wörtlichen Sinn – handelt. Der Betreffende kann nicht mehr zusammenhängend denken, die altgewohnten Grenzen zwischen den Kategorien verwischen sich, und diese können nun neu definiert werden.« »Aber diese Neudefinition entleerter Kategorien ist ja gerade die Genieleistung!« warf ich ein. »Entscheidend ist nicht der 72

Zusammenbruch des Denkens, sondern der neue Zusammen­ hang. Bei Verrückten kann der Zusammenbruch genau so spek­ takulär sein wie bei Genies, aber …« Hinter einem Schleier aus Zigarettenrauch lächelte Dr. Busk rätselhaft. »Vielleicht existiert der vielzitierte kleine Schritt zwischen Genie und Wahnsinn nur in der Einbildung; vielleicht hat der Wahnsinnige nur das Pech, nicht recht zu bekommen. Aber ich kenne jetzt Ihre Meinung und will Ihnen antworten. Sie glauben also, daß Genialität nur zu einem Prozent aus Inspi­ ration besteht und daß der Denkvorgang, der zu jenem ›Heure­ ka!‹ führt, das Entscheidende ist. Kurz gesagt, der Erziehungs­ prozeß, der das Genie mit der Realität bekannt macht. Aber damit bestätigen Sie doch nur, was ich gesagt habe. Er­ ziehung ist, wie das Gedächtnis selbst, nichts anderes als die Rekapitulation aller Genieleistungen in einem bestimmten Kul­ turkreis. Erziehung bedeutet immer, daß überkommene Katego­ rien aufgebrochen und mit neuen Inhalten gefüllt werden. Und wer hat, genau genommen, ein besseres Gedächtnis als der Ka­ tatoniker, der einen Teil der Vergangenheit bis in alle Einzel­ heiten nacherlebt und dabei den gegenwärtigen Augenblick völ­ lig auslöscht? Ich könnte sogar noch weiter gehen und behaup­ ten, daß das Denken selbst eine Krankheit des Gehirns ist, eine physische Verfallserscheinung. Wenn das Genie das Produkt eines kontinuierlichen Vorgangs wäre und nicht das, was es wirklich ist, ein Zufallsprodukt, dann wäre es für uns völlig wertlos. Mathematische Genies sind in der Regel spätestens mit dreißig Jahren verbraucht. Das Ge­ hirn wehrt sich gegen die zersetzende Wirkung schöpferischen Denkens; es beginnt steril zu werden. Ideen erstarren zu Be­ griffssystemen, die keinerlei Veränderung dulden. Denken Sie zum Beispiel an Owens, den großen Anatomen der viktoriani­ schen Ära, der Darwin einfach nicht verstehen wollte. Das ist reiner Selbsterhaltungstrieb! 73

Aber denken Sie auch daran, was geschieht, wenn ein Genie sich nicht zu zügeln weiß, sondern sich immer von neuem ins Chaos der freien Assoziation stürzt. Ich meine den von euch Literaten so vergötterten James Joyce. Ich kenne zahlreiche Psychiater, die Finnegans Wake mit gutem Gewissen als Do­ kument des Wahnsinns bezeichnen und den Autor, wäre er noch am Leben, allein wegen dieses Buches in eine Anstalt schicken würden. Ein Genie? Sicher. Aber wir gewöhnlichen Sterblichen haben genug gesunden Menschenverstand, um einzusehen, daß Genialität eine Gefahr für die Gesellschaft ist, eine Krankheit wie der Tripper, und wir ergreifen die notwendigen Maßnah­ men. Wir fassen unsere Genies sozusagen in Isolierstationen zusammen, um uns vor Ansteckung zu schützen. Wenn Sie noch mehr Beweise wollen, brauchen Sie sich nur hier umzusehen. Lauter Genies – und was ist ihre Hauptbe­ schäftigung? Für welchen edlen Zweck setzen Sie dieses unge­ heure Intelligenzpotential ein? Für Hirngespinste! Für das Stu­ dium der Alchimie! Natürlich weiß ich, daß vor ihnen noch niemand, nicht ein­ mal Doktor Faustus, sich mit einer derart scharfen Intelligenz, mit soviel Urteils- und Erkenntnisfähigkeit der Geheimwissen­ schaft gewidmet hat. Mordecai weist ja immer gern darauf hin, daß viele Jahrhunderte lang die raffiniertesten Rätselerfinder und die verschlagensten Dunkelmänner an diesen Verschlüsse­ lungen gearbeitet haben. Der Versuch, ihnen auf den Grund zu kommen, könnte selbst für die größten Geister den Untergang bedeuten. Daß trotzdem alles schrecklicher Unsinn ist, wissen Sie und ich und Mordecai Washington ganz genau.« »Haast scheint anders darüber zu denken.« »Daß Haast ein verdammter Idiot ist, wissen wir alle.« Sie drückte den Zigarettenstummel aus. »Da bin ich nicht so sicher.« »Das sagen Sie nur, weil er Ihr Tagebuch liest. Ich übrigens 74

auch. Aber was Sie bereits geschrieben haben, können Sie nicht gut ableugnen. Sie haben geschrieben, was Sie von Mordecais Ideen halten und daß er Ihrer Meinung nach Haast etwas vor­ macht.« »Vielleicht bin ich aufgeschlossener, als Sie denken. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, werde ich mit meinem endgültigen Ur­ teil über Mordecais Theorien noch etwas warten.« »Sie sind ein größerer Heuchler, als ich dachte, Sacchetti. Von mir aus können Sie jeden Unsinn glauben und lügen, soviel Sie wollen. Ist mir egal. Aber diesen Scharlatan werde ich sehr bald entlarven!« »Darf man fragen wie?« »Ist schon alles geplant. Ich werde dafür sorgen, daß Sie einen Logenplatz bekommen!« »Und wann soll das stattfinden?« »Natürlich in der Johannisnacht! Wann sonst?« Später Eine handschriftliche Mitteilung von Haast: »Gut gemacht, Louie! Lassen Sie sich von der nichts gefallen! Nächste Woche werden wir’s diesem eingebildeten Biest zeigen! Verlassen Sie sich drauf! Beste Grüße! H.H.« 15. Juni Hier spricht euer alter Freund Louie Nummer zwei (oder, allgemeinverständlich ausgedrückt, Louis der Doppelgänger), und er hat wunderbare Nachrichten für euch, die ihr an Angst und Angina leidet, für euch, die ihr vom Gewissen und von Gott geplagt seid, für euch, die ihr kranke Körper und Seelen habt, und für euch, bei denen es mit dem Sehen nicht recht klappt; ihr könnt das ganze Sorgenbündel wegwerfen! Weil 75

nämlich – mein Ebenbild, mon frère! – im Mittelpunkt der Din­ ge nichts ist als quälende Leere, halleluja! Und sie ist nicht einmal mehr quälend, im Gegenteil, sie tut bereits wohl! Das ist das Geheimnis, von dem die alten Heiden wußten, das ist die Wahrheit, die uns frei macht, euch und mich. Sagt es dreimal am Morgen und dreimal am Abend: Es gibt keinen Gott, hat ihn nie gegeben, wird ihn nie geben, in Ewigkeit, Amen. Willst du’s bestreiten, alter Adam Louie I.? Dann lies doch dein eigenes Gedicht, das, von dem du gesagt hast, du kannst’s selbst nicht verstehen. Ich verstehe es: das Götzenbild ist hohl, seine Stimme ist nachgemacht. Es gibt keinen Baal, mein Freund, nur den Menschen, der in Seinem Abbild flüstert und Ihm deine Worte in den Mund legt. Ein Mischmasch aus An­ thropomorphismen! Leugne es doch! Deine ganze Frömmigkeit und dein ganzer Verstand reichen dazu nicht aus, mein Kleiner! Und meine Güte, meine Güte – diese preziösen, speichel­ leckerischen Gedichte, mit denen du deinem angeblichen Pappi im Himmel in den goldenen Hintern kriechst! Alles Scheiße, stimmt’s? Jahrelang hast du eins aufs andere gehäuft, wie der komische kleine Vogel (bei Augustinus, nicht wahr?), der ver­ suchte, einen Berg zu versetzen, Steinchen um Steinchen, Jahr­ tausend um Jahrtausend, und als er das letzte Körnchen bewegt hatte, war nicht einmal ein Augenblick der Ewigkeit vergangen. Aber du Spatzenhirn hast dich gar nicht an Berge herangewagt! Die Hügel der Schweiz – und wie soll die Fortsetzung heißen? Die Aborte des Vatikans? Haha, aus weiter Entfernung höre ich dich sanft protestieren: »Der Narr denkt, es gibt keinen Gott.« Und der Weise spricht es aus. Später, viel später: Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß es mir seit gestern 76

ziemlich schlecht geht. Ich habe, glaube ich, in diesem Tage­ buch schon einmal erwähnt, daß ich der Meinung war, Dr. Mieris habe mich von der Migräne befreit. Ich hatte auch geglaubt, er habe mich von Zwischenspielen wie dem obigen geheilt. Glauben. Glaubte. Geirrt. Der Boden unter mir schwankt noch. Ich habe mich zwar wieder einigermaßen gefangen, weiß aber nicht, wie lange meine Selbstbeherrschung dauern wird. Ich bin übernächtigt, ausge­ laugt von seinen Exzessen; mein Kopf schmerzt; es ist spät. Ich bin durch die Gänge, Gänge, Gänge gelaufen. Habe über das, was Dr. Busk gesagt hat, nachgedacht, bis Louie II. mich gezwungen hat, ernstere Dinge zu bedenken. Ihm habe ich nicht geantwortet, weil dieser Teufel ein ebenso guter Theologe ist wie ich. (Eine Tautologie.) Dann also Schweigen. Aber bedeutet schweigen nicht fast das gleiche wie eine Niederlage zugeben? Allein und unbehaust mangelt es mir an Würde; das ist das ganze Problem. O Gott, vereinfache diese Gleichungen! 16. Juni »Morituri te salutamus«, sagte Mordecai, als er grinsend die Tür öffnete, und ich, völlig geistlos, fand darauf keine bessere Antwort, als mit dem Daumen nach oben zu zeigen. »Quid nunc?« fragte er, als er die Tür zumachte, und ich wußte darauf erst recht keine Antwort. Denn ich besuchte ihn eigentlich nur, um mich nicht mit dem »Was nun?« beschäftigen zu müssen. »Nächstenliebe«, sagte ich. »Aus welchem anderen Grund sollte ich Licht in Ihre düstere Zelle bringen wollen?« Eine poetische Note, die, da sie nicht ankam, die Düsternis nur noch verstärkte. 77

»Ein Schuß Nächstenliebe neutralisiert die Säure des Selbst­ zweifels« sagte Mordecai. »Bekommen Sie denn auch eine Ablichtung meiner Auf­ zeichnungen?« »Nein, aber ich unterhalte mich oft mit Haast, und wir ma­ chen uns Sorgen um Sie. Da Sie aber sowieso nichts in Ihr Ta­ gebuch schreiben, was Sie wirklich geheimhalten wollen, braucht Sie das nicht zu stören. Ihr Problem, Sacchetti, ist Ihr geistiger Hochmut. Sie gefallen sich darin, aus jedem Gefühl­ chen, das Sie irgendwo juckt, eine spirituelle Haupt- und Staatsaktion zu machen. Verdammt noch mal, wenn Ihr Glaube wackelt, dann gehen Sie doch zum Zahnarzt und lassen Sie ihn sich ganz rausziehen. Weh tut es nur, wenn Sie damit spielen.« »Mordecai, ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihre Probleme kennenzulernen. Meine eigenen möchte ich vergessen.« »Schon gut. Also, machen Sie sich’s bequem. Meine Proble­ me reichen für uns beide.« Er ließ einen schrillen Pfiff ertönen und rief: »Opsi! Mopsi! Wuschelschwanz! Kommt her und gebt eurem neuen kleinen Bruder das Händchen!« Und zu mir ge­ wandt: »Darf ich Ihnen meine drei Schutzgeister vorstellen? Meine feuerspeienden Drachen?« Aus der schwülen Dunkelheit des Zimmers (es war nur von drei Kerzen beleuchtet, zwei auf dem Tisch hinten an der Wand, eine in Mordecais Hand) hoppelten drei Kaninchen, eins reinweiß, die andern gefleckt. »Opsi«, sagte Mordecai, »gib meinem Freund Donovan das Pfötchen.« Ich kauerte mich auf den Boden, und das weiße Kaninchen hoppelte etwas näher, schnupperte eifrig, machte Männchen und streckte mir die rechte Vorderpfote hin, die ich mit Dau­ men und Zeigefinger schüttelte. »Sehr erfreut, Opsi!« Opsi zog die flaumige Pfote zurück und sprang zur Seite. 78

»Wieso ›Opsi‹?« fragte ich. »Abkürzung für Opsimat. Einer, der erst spät im Leben zu lernen beginnt. Mopsi, jetzt bist du dran!« Das zweite Kaninchen, schwarz und braun gefleckt, kam nä­ her. Als es sich auf die Hinterbeine stellte, fielen mir an seinem Unterkörper unverhältnismäßig große euterähnliche Gebilde auf. Auf meine Frage sagte Mordecai: »Orchitis. Hodenentzün­ dung. Das ist der Preis, den sie für ihre Klugheit zahlen.« Ich ließ Mopsis Pfote so rasch los, daß die drei Kaninchen vor Schreck in ihre Verstecke flohen. »Sie brauchen sich nicht vor Ansteckung zu fürchten. Nur Ihre Finger dürfen Sie jetzt nicht in den Mund stecken … Spi­ rochäten brauchen Wärme und Feuchtigkeit. Deshalb sind die venerischen Krankheiten so venerisch. Sie können mein Desin­ fektionsmittel verwenden. Aber zuerst möchte ich Ihnen Wu­ schelschwanz vorstellen. Er muß sich ja ganz verunsichert füh­ len, wenn Sie ihn derart schneiden.« Widerstrebend begrüßte ich Wuschelschwanz, dann wusch ich mir die Hände mit Seife und kaltem Wasser. »Wo ist Peter?« fragte ich, während ich mich zum zweiten Mal einseifte. »Freund Hein hat ihn erwischt«, sagte Mordecai aus der Dunkelheit. »Die Kaninchen halten nicht so lang durch wie wir. Zwei, drei Wochen, und weg sind sie!« Als ich aus dem Neonlicht im Bad zurück ins Zimmer ging, konnte ich eine Weile überhaupt nichts erkennen. »Sie sollten’s mal mit Gaslicht probieren, Mordecai. Eine großartige Erfin­ dung unseres modernen Zeitalters.« »Ich verwende es tatsächlich. Immer dann, wenn’s mir nicht vor den Augen flimmert. Aber an Tagen wie heute tut mir jeder Lichtschein weh. Als ob tausend Nadeln meine Augäpfel durchbohrten. Soll ich Ihnen von meinen andern Krankheiten erzählen? Werden Sie mich bemitleiden?!« 79

»Wenn es Ihnen wohltut.« »O ja, es wird mir eine Wohltat sein, ein Luxus geradezu! In den ersten zwei Monaten geschah nichts, was besonders erzäh­ lenswert wäre. Ein paar Zahngeschwüre, ein bißchen Aus­ schlag, ein paar Schwellungen – nichts Außergewöhnliches für einen notorischen Hypochonder. Im dritten Monat bekam ich Laryngitis, und gleichzeitig entwickelte ich ein ungeheures In­ teresse für Mathematik. Als Hobby für Stumme sehr geeignet, was? Kurz danach begann meine Leber zu verrotten, und das Weiße in meinen Augen wurde gelb. Seitdem lebe ich von Kar­ toffelbrei, gekochtem Obst, raffinierten Süßspeisen und ähnli­ chem Fraß. Kein Fleisch, kein Fisch, kein Alkohol. Nicht daß ich auf Alkohol scharf wäre. Geistige Anregung habe ich auch so genug, nicht wahr? Während der Leberentzündung bekam ich meinen ersten großen Literaturfimmel und lernte Franzö­ sisch und Deutsch. Damals schrieb ich auch die Geschichte, die ich Ihnen schon lange zeigen wollte. Gehen Sie nicht ohne das Manuskript weg, Sacchetti! Haben Sie gehört?« »Ich wollte Sie sowieso darum bitten.« »Im vierten Monat bestand ich nur noch aus Krankheiten. Wenn man rückblickend davon spricht, wird’s problematisch, weil man dazu neigt, sie einzeln zu beschreiben. In Wirklichkeit haben die verschiedenen Phasen der verschiedenen Krankheiten einander überlagert. Die Zahngeschwüre und der Ausschlag hörten nicht auf, bloß weil irgend etwas Neues sich ausbreitete, und außerdem traten seltsame Krämpfe und Zuckungen und Schüttelfrost auf, die jeweils nicht länger als einen Tag oder auch nur eine Stunde anhielten. Um mich über sämtliche Symp­ tome zu informieren, habe ich Hastings Enzyklopädie der Patho­ logie fast ganz durchlesen müssen.« »Ich kenne nur Hastings Enzyklopädie der Religion und Ethik.« »Da bin ich auch schon durch.« 80

»Aber wann haben Sie denn das alles gelesen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie Sie in diesen sieben Monaten so viel lernen konnten.« »Setzen Sie sich hin, Sacchetti, dann werde ich Ihnen erzählen, wie. Aber tun Sie mir vorher einen Gefallen – holen Sie mir die Thermosflasche drüben auf dem Schreibtisch. Nett von Ihnen!« Meine Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt, und ich ging ohne zu stolpern hinüber zum Schreibtisch. Eine be­ schlagene Thermosflasche stand auf einem Umschlag, der die Aufschrift ›STRENG GEHEIM‹ trug und dem mir von Haast übersandten Umschlag glich. Die feuchte Flasche hatte einen Rand darauf hinterlassen. »Danke.« Mordecai öffnete den Verschluß. Er saß weit zu­ rückgelehnt, von kleinen weichen Kissen gestützt, auf der nied­ rigen gestreiften Couch. Ein geflecktes Kaninchen kuschelte sich an ihn. Er trank geräuschvoll aus der Thermosflasche. »Ich würde Ihnen gern etwas davon anbieten, aber …« »Sehr freundlich, aber ich habe keinen Durst.« »Also, das Problem ist nicht, wie man das alles schafft, son­ dern wie man damit aufhören kann. Könnte ich’s, dann wäre ich nur halb so elend. Auch wenn mir so schlecht ist, daß ich den Kopf ins Klo hängen muß und nur noch speie, arbeitet mein Gehirn weiter, als hätte es meine körperliche Schwäche völlig vergessen. Nein, ›vergessen‹ ist nicht das richtige Wort, mein Gehirn ist in diesen Augenblicken eine Art unbeteiligter Zu­ schauer. Dann ist mir die gelbbraune Farbe des Erbrochenen oder die chemische Zusammensetzung der Magensäure viel wichtiger als mein miserabler Zustand. Ich muß immer denken, immer über Probleme nachsinnen. Sie arbeitet immer, diese graue Masse, wie das Herz, wie die Lunge. Sogar jetzt, während ich hier sitze und rede, schweifen meine Gedanken vom Thema ab, überschlagen sich und versuchen, alle Rätsel des Univer­ 81

sums auf einmal zu lösen. Und ich verdammter Idiot kann und kann damit nicht aufhören. Nachts brauche ich Spritzen, um einzuschlafen, und wenn ich endlich schlafe, habe ich Alpträume in Technicolor, Schreckensbilder, wie sie wahrscheinlich nie zuvor geträumt wurden. Die reinsten Trauerschäume. Das war eine Art Schüttelreim!« »Ich hab’s bemerkt.« »Etwas hört allerdings auf, für kurze Zeit jedenfalls: Nach einem Anfall habe ich glücklicherweise eine Stunde lang eine völlige Leere im Kopf.« »Anfälle haben Sie also auch?« »Ziemlich oft sogar. Das sind die Wehen, die dem Augen­ blick vorausgehen, indem ich meinen Verstand ins Nichts hin­ ausstoße. ›Aoritis‹ nennen’s die Eingeweihten. Jetzt hat die Entzündung offenbar die Aortenklappe erfaßt. Bei jedem Herz­ schlag dringt Blut in die linke Herzkammer zurück, und die gute alte Pumpe, wie wir zu sagen pflegen, reagiert darauf mit immer schnelleren Stößen, und bald – aus! Wieder ein Kaninchen mehr in den Annalen der Wissenschaft!« Er legte die großen schwarzen Hände auf das Kaninchen in seinem Schoß und schloß die Augen. »Ist das nicht traurig?« Ich blieb auf dem Hocker sitzen und nutzte die Zeit (die plötzlich leer geworden war wie eine durchlöcherte Geminikap­ sel, aus der die Luft mit einem einzigen Pffft! entwichen ist), indem ich mich in Mordecais Zimmer umsah. Es war nicht grö­ ßer als meines, wirkte aber, in Dunkelheit gehüllt, wie ein un­ endlicher Raum, in dem sich hier und dort Umrisse von Möbeln abhoben. Deckenhohe Bücherregale (wie in Fausts Studier­ zimmer) an allen Wänden, ausgenommen dort, wo die Couch stand, über der eine riesige Reproduktion des Genter Altarge­ mäldes hing. Ihre Mängel deckte die Dunkelheit wohltätig zu. In der Nähe des überladenen Arbeitstisches (der den meiner Bettnische entsprechenden Teil des Zimmers fast ausfüllte) 82

stand ein Apparat. Oder war es eine moderne Plastik? Er war über einen Meter hoch und bestand aus mehreren vertikalen Stäben, an deren Enden kleine Kugeln befestigt waren, die im Kerzenlicht metallisch glänzten und um eine größere, gold­ schimmernde Kugel angeordnet waren. Durch zwei starke Me­ tallreifen wurde der Eindruck erweckt, als befänden sich alle diese Teile in einem kugelförmigen Körper. »Das ist mein Planetarium«, sagte Mordecai. »Genau nach meinen Angaben gebaut. Die Bewegung jedes dieser kleinen Monde und Planeten wird durch winzige eingebaute Radioele­ mente reguliert. Wie man’s aus Popular Electronics lernen kann, nicht wahr?« »Und wozu brauchen Sie das?« »Es spiegelt die Natur wider, genügt das nicht? Ich habe mich vor langer Zeit ein wenig mit Astrologie beschäftigt, aber für mich hatte sie immer nur symbolische Bedeutung. Für ast­ ronomische Studien gibt es droben ein Observatorium. Sieh da, das scheint Sie auf eine Idee gebracht zu haben! Sie träumen wohl vom großen Ausbruch, was? Keine Chance, Sacchetti! Wir kommen nie über das kleine Planetarium hinaus, in das durch unser lagereigenes Fernsehsystem alles übertragen wird, was droben im Teleskop zu sehen ist.« »Sie sagten ›vor langer Zeit‹. Heißt das, daß Sie die Astrolo­ gie aufgegeben haben?« Mordecai seufzte: »Das Leben ist so kurz. Man kann nicht alles tun. Denken Sie doch an die vielen leichten Mädchen, mit denen ich nie schlafen, und an die vielen Songs, nach denen ich nie tanzen werde. Und nach Europa wäre ich auch gern gefah­ ren, um einen Blick auf all die Dinge zu werfen, von denen ich gelesen habe. Kultur. Aber das steht eben nicht in meinen Ster­ nen. Ich werde Sie immer um Ihre Europareise beneiden. Es gibt dort so vieles, das ich auch gern gesehen hätte. Rom, Flo­ renz, Venedig. Englische Kathedralen, Mont-Saint-Michel. Der 83

Escorial. Brügge und …« Er zeigte auf das goldgerahmte Bild des blutenden Lammes. »… Gent. Eigentlich alles. Und was haben Sie sich angesehen, Sie verdammter Idiot? Nur die Schweiz und Deutschland! Du lieber Himmel, warum haben Sie sich ausgerechnet dort herumgetrieben? Was sind denn schon Berge? Warzen auf dem Gesicht der Erde! Und was nördlich der Alpen liegt … Sehen Sie, ich war vier Jahre lang in Heidel­ berg stationiert, und wenn Sie mich fragen, hört Europa am Rhein auf. Der beste Beweis dafür ist, daß ich jeden Urlaub mit Biertrinken und Knödelessen verbracht und bis zur letzten Mi­ nute genossen habe. Außer wenn die Einheimischen mich we­ gen meiner ach so erstaunlichen Hautfarbe derart anstarrten, daß ich mir wie ein Überbleibsel aus Buchenwald vorkam. Deutschland!« Mordecai hatte sich in eine solche Erregung ge­ steigert, daß das Kaninchen erschrocken von seinem Schoß sprang. »Ebensogut könnte ich auf Urlaub nach Mississippi fah­ ren.« Ich kramte daraufhin ein paar Erinnerungen an mein Ful­ bright-Jahr aus, die zwar angenehm waren, aber nicht hierher gehörten, und erklärte ihm schuldbewußt, welche Gründe (Lite­ ratur, Musik) mich bewogen hatten, Europa zu verlassen und nach Deutschland zu fahren (eine Unterscheidung, die ich schweigend hinnahm). »Rilke, Schmilke!« sagte Mordecai, als ich fertig war. »Bücher können Sie hier auch lesen. Geben Sie’s doch zu – die Faszina­ tion, die Deutschland in diesem Jahrhundert ausübt, ist die Fas­ zination des Grauenhaften. Man fährt hin, um ein Fetzchen von dem Rauch zu erhaschen, der noch immer in der Luft hängt. Es würde mich interessieren – haben Sie einen Abstecher nach Dachau gemacht oder nicht?« Ja, ich war hingefahren. Er bat mich, die Stadt und das Lager zu beschreiben. Sein Interesse an Einzelheiten war so groß, daß mein Gedächtnis nicht mithalten konnte. Trotzdem überraschte 84

es mich, an wie viele Details ich mich nach so langer Zeit noch erinnern konnte. Als er merkte, daß aus mir nichts mehr herauszuholen war, sagte Mordecai: »Ich habe Ihnen diese Fragen gestellt, weil ich in letzter Zeit von Todeslagern träume. Verständlich, nicht wahr? Zugegeben, der Vergleich mit unserer gemütlichen Bleibe hier im Westen hinkt. Abgesehen davon, daß ich ein Gefange­ ner und zur Ausrottung bestimmt bin, kann ich nicht klagen. Aber eigentlich ist das jeder Mensch, nicht wahr?« »Ein Gefangener? Ja, das Gefühl habe ich auch oft.« »Nein, ich meine zum Abschlachten bestimmt. Der Unter­ schied ist nur, daß ich das Pech hatte, schon vorher einen Blick auf den Hinrichtungsbefehl zu werfen. Die meisten andern glauben, sie sollen sich duschen, wenn man sie zu den Öfen führt …« Mit einem rauhen Lachen wandte er sich mir zu. (Ich war inzwischen zu seinem mechanischen Planetarium hinüber­ gegangen.) »Es ist ja nicht nur Deutschland«, sagte er. »Und nicht nur das Lager Archimedes. Es ist die ganze Welt. Die ganze gott­ verdammte Welt ist ein Konzentrationslager.« Er lehnte sich wieder gegen die aufgestapelten Kissen, hustete und lachte gleichzeitig, stieß die halbvolle Thermosflasche vom Tisch auf den Perserteppich, der über die Fliesen gebreitet war. Als er sie aufhob und leer fand, schleuderte er sie mit einem Fluch quer durchs Zimmer gegen einen bemalten Wandschirm, der dabei einen Riß abbekam. »Sacchetti, würden Sie bitte auf den Knopf neben der Tür drücken? Ich brauche dieses widerliche Zuckerwasser, das man hier Kaffee nennt. Nett von Ihnen!« Kaum hatte ich geklingelt, da erschien auch schon ein Schwarzuniformierter (es war Furzer) mit einem Servierwagen: Kaffee und Gebäck. Mordecai bediente sich. Ein anderer Wär­ ter reichte mir drei Porzellanschälchen mit Karottenstücken. 85

Mordecai schob einen Bücher- und Papierhaufen von der Tischkante zurück, um Platz für Geschirr und Gebäck zu ma­ chen. Als er in ein großes Schokoladeneclair biß, schwappte die Schlagsahne heraus und fiel auf ein Blatt Papier, das mit ma­ schinengeschriebenen Zahlen bedeckt war. »Ich wollte, das Zeug wäre aus Fleisch«, sagte er mit vollem Mund. Inzwischen waren die drei Kaninchen auf den Tisch ge­ sprungen und knabberten an den Karotten herum. Selbst bei Kerzenlicht konnte ich deutlich die Schleimspur sehen, die sie auf den Buchseiten und Geheimakten hinterlassen hatten. »Greifen Sie zu!« sagte Mordecai und nahm sich ein Stück Käsekuchen. »Danke, aber ich hab’ wirklich keinen Hunger.« »Ich schon. Aber lassen Sie sich dadurch nicht stören.« Um ihm zu zeigen, daß es mich nicht störte, mußte ich mich mit irgend etwas beschäftigen. Während er zwei Tassen Kaffee trank und vier weitere Gebäckstücke vertilgte, sah ich mir bei­ läufig an, was zuoberst auf seinem Arbeitstisch lag. In der fol­ genden Aufzählung sind also weder die Gegenstände, die sich außerhalb des Lichtscheins der drei Kerzen befanden, noch die möglicherweise der Ausgrabung harrenden Schätze enthalten. Ich sah: Mehrere Bücher über Alchimie, darunter Tabula smargdina, Benedictus Figulus’ Goldne und segensreiche Schatzkammer der Wunder der Natur, Gebers Werke und Poissons Nicolas Flamel, die meisten in malerisch zerfleddertem Zustand. Blätter mit wahllos aneinandergereihten Zahlen. Drei oder vier Arbeiten über Elektronik; die umfangreich­ ste, DNA-Technik von Kurt Vreden, dem Wunderkind der TH von Kalifornien, war ein maschinengeschriebener Text, dessen Pappumschlag die einladende Aufschrift VERTRAULICH trug. 86

Mehrere Farbreproduktionen aus Skira-Bildbänden, vor allem Werke der flämischen Meister, aber auch ein Bildausschnitt aus Raffaels Schule von Athen und ein abgegriffener Druck der Dü­ rerschen Melancholie. Einen Totenschädel aus Kunststoff, sehr dekorativ, mit rubin­ roten Glasaugen. Enid Starkies Rimbaud-Biographie und die Pleiade-Ausgabe der Werke Rimbauds. Hostings Enzyklopädie Band IV; über die aufgeschlagenen Seiten hatte Mordecai (oder eins der Kaninchen?) ein Tintenfaß gekippt. Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, dessen Leder­ einband ebenfalls Tintenflecke aufwies. (Während ich das schreibe, fällt mir ein, wozu Luther Tintenfässer benutzt hat.) Getrocknete Schafgarbe. Aktenordner in verschiedenen Farben (orange, hellbraun, grau, schwarz), deren Beschriftung ich im düsteren Licht nicht entziffern konnte – bis auf eine: »G. Wagner – Ausgabenkonto«. Eine Seite schien sich gelöst zu haben (vielleicht war auch nur ein Blatt Papier als Buchzeichen verwendet worden): Auf Per­ gamentpapier eine unbeholfene farbige Tuschzeichnung, kaum besser als die Kritzeleien an Klosettwänden. Ich konnte nur ei­ nen Teil der Zeichnung sehen, einen bärtigen Mann mit einer Krone, der ein großes Zepter hielt, auf dem übereinander sechs weitere Kronen angebracht waren. Dieser König stand auf ei­ nem eigenartigen Podest: Es sah aus wie eine Blüte am Ende einer nach oben gebogenen Ranke, die sich über dem Kopf des Königs gitterartig verzweigte. An den sechs Gabelungen waren sechs Männerköpfe zu sehen, offenbar weniger wichtige Per­ sönlichkeiten, und neben jedem Kopf stand ein Buchstabe, in alphabetischer Folge von D bis I. Die linke Seite der Zeichnung steckte in Georges Ausgabenkonto. Und schließlich, über den ganzen Tisch verstreut, Mordecais 87

stenographische Notizen und dazwischen einige Zeichnungen, die noch unbeholfener wirkten als die eben beschriebene. Ende der Aufzählung. Abgesehen von ein paar zärtlichen Worten, die er den Ka­ ninchen hinwarf (sie hatten ihre Mahlzeit beendet und be­ schnupperten jetzt die Kuchenplatte), schwieg Mordecai, wäh­ rend er das Gebäck in sich hineinstopfte. Erst nach dem letzten Erdbeertörtchen wurde er redselig, um nicht zu sagen redewü­ tig: »Ist es Ihnen hier zu warm? Ich sollte eigentlich die Heizung niedriger stellen, wenn ich Besuch habe, aber dann würde ich sofort frieren. Soll ich Ihnen ein echtes ›Ei der Weisen‹ zeigen? Kein Alchimist kann darauf verzichten. Das wird Sie bestimmt interessieren! Kommen Sie – heute werde ich Sie in die Ge­ heimnisse einweihen.« Während ich ihm zum Wandschirm folgte, spürte ich, daß es immer heißer wurde. Rings um den dahinter verborgenen nied­ rigen Kachelofen herrschte eine Temperatur wie in der Sauna. »Sehet und staunet«, deklamierte Mordecai, »der Athanor!« Aus einem Wandregal zog er zwei Schutzmasken. »Die braucht man, wenn das Brautgemach geöffnet wird«, erklärte er mit unbewegter Miene. »Sie müssen übrigens Nachsicht mit meinem Athanor haben. Es ist ein elektrischer Ofen, und das ist natürlich nicht ganz comme il faut …« (das sprach er »kommil­ foht« aus) »… aber damit kann man viel leichter ein ›Feuer‹ in Gang halten, das gleichmäßig heizt, Dampf entwickelt, nie aus­ geht, immer unter Kontrolle gehalten werden und trotzdem seine zersetzende Wirkung ausüben kann. Wir verfolgen hier zwar die traditionellen Ziele der Alchimie, aber bei der Wahl der Ar­ beitsmittel habe ich mir einige Freiheiten erlaubt. Setzen Sie die Maske auf, dann werde ich Sie einen Blick in den Mutterleib werfen lassen, wie die Eingeweihten das zu nennen pflegen.« Da die Augenschlitze der Maske durch getöntes Glas ge­ 88

schützt waren, konnte ich in dem dunklen Zimmer überhaupt nichts mehr erkennen. »Ecce!« sagte Mordecai. Die Deckplatte des Ofens schob sich automatisch zur Seite und gab den Blick ins glühende Innere frei, wo ein dunkelschimmernder, oben und unten abgeplatteter, etwa 60 cm hoher Behälter stand – das »Ei des Weisen« (oder, prosaisch ausgedrückt, eine Retorte). Er sah nicht besonders interessant aus – fast wie ein ganz gewöhnlicher Kanonenofen. Der Deckel surrte wieder zu, und ich zog mir die schweiß­ nasse Maske ab. »Ein Holzfeuer hätte tatsächlich unheimlicher gewirkt«, sagte ich. »Der Zweck heiligt die Mittel. Und es wird gelingen!« »Hm.« Ich ging wieder zu meinem Hocker hinüber, wo »nur« eine Temperatur von etwa 32 Grad herrschte. »Ich sage Ihnen, es wird gelingen!« Er kam zu mir herüber. »Was kochen Sie eigentlich in Ihrem großen Topf? Verwan­ deln Sie unedles Metall in Gold? Und wozu, wenn wir mal von den rein poetischen Assoziationen absehen? Heutzutage kennt man viel kostbarere Elemente als Gold. Im Zeitalter nach Key­ nes käme das doch beinahe einer Donquichotterie gleich!« »Genau das habe ich Haast vor ein paar Monaten auch ge­ sagt, damals, als wir das Experiment planten. Aber die Metall­ verwandlung ist nur ein Schritt auf dem Weg zu unserem ei­ gentlichen Ziel, nämlich zur Destillation eines Elixiers, das uns allen von Nutzen sein wird.« Er lächelte. »Ein Mittel zur Ver­ längerung des Lebens.« »Nennt man das nicht Verjüngungselixier?« »Dieser Aspekt fasziniert Haast natürlich besonders.« »Und wie wird dieser Trank gebraut? Aber wahrscheinlich ist Ihr Rezept streng geheim, oder?« »In Einzelheiten ja, obwohl die Grundlagen bei Geber und Paracelsus zu finden sind. Aber ehrlich, Sacchetti, interessiert 89

Sie das wirklich? Würden Sie Ihr Seelenheil aufs Spiel setzen, um es zu erfahren? Oder würden Sie meines aufs Spiel setzen? Raymundus Lullus hat gesagt: ›Ich schwöre bei meiner Seele, daß du verdammt sein wirst, wenn du es verrätst.‹ Ihnen wird bestimmt eine allgemeine Erklärung auch genügen.« »Was immer Isis zu enthüllen bereit ist!« »Das Ei des Weisen – der große Topf im Athanor – enthält eine in Wasser aufgelöste Latwerge, die seit vierundneunzig Tagen der Hitze tellurischer Feuer – jeweils tagsüber – und dem Licht des Sirius – bei Nacht – ausgesetzt ist. Genaugenommen ist Gold kein Metall sondern Licht. Bei Experimenten dieser Art hat man dem Sirius immer eine besonders starke Wirkung zugeschrieben, aber früher war es schwierig, sein Licht unver­ fälscht einzufangen, da es sich leicht mit dem Licht benachbar­ ter Sterne vermischt. Wir verwenden hier ein Radioteleskop, das die Reinheit des Lichts gewährleistet. Haben Sie die Linse bemerkt, die oben in das Ei eingelassen ist? Sie lenkt den reinen Strahl auf Braut und Bräutigam im Innern des Eies, d. h. auf Schwefel und Quecksilber.« »Ich dachte, Sie wollen das Licht des Sirius einfangen! Was Sie empfangen sind Radiowellen.« »Um so besser! Es ist ein Zeichen menschlicher Schwäche, daß Radio- und Lichtwellen als verschiedene Phänomene gel­ ten. Wenn wir unsere spirituellen Fähigkeiten besser entwickelt hätten, könnten wir auch die Radiowellen sehen. Aber bleiben wir beim Thema: Nach neunundneunzig Tagen, in der Johan­ nisnacht, wird der Schrein geöffnet und das Elixir abgefüllt. Sie sollten jetzt wirklich nicht lachen! Das verdirbt die ganze Wir­ kung!« »Verzeihen Sie, aber ich konnte mir’s einfach nicht verknei­ fen. Sie reden wie ein echter Alchimist. Ich muß ständig an Ben Jonson denken.« »Sie nehmen mich nicht ernst.« 90

»O doch, schrecklich ernst! Und die Bühnenrequisiten sind besser als alles, was George zu Doktor Faustus eingefallen ist: die Gefäße mit den Embryos, die Sie ins Bücherregal gestellt haben, und der Kelch … Er ist doch geweiht, nicht wahr?« Mordecai nickte. »Hab’ ich mir gedacht. Und die Ringe, die Sie angesteckt haben … sind das Freimaurerringe?« »Ja, und sogar sehr alte.« Voller Stolz spreizte er die Finger. »Sie planen eine Superschau, Mordecai, aber was werden Sie tun, wenn eine Wiederholung nötig ist?« »Wenn es diesmal nicht klappt, brauche ich mir wegen wei­ terer Vorstellungen keine Sorgen zu machen. Die Frist wird bald um sein. Aber verdammt noch mal, es wird klappen! Daran zweifle ich nicht im geringsten!« Ich war verblüfft. Mir war nicht klar, ob Mordecai auf seine eigene brillante Scharlatanerie hereingefallen war, oder ob seine Beteuerungen nur zu einem großen Täuschungsmanöver gehör­ ten, gewissermaßen als Beiwerk. Ich hielt es sogar für möglich, daß er mich allmählich dazu bekehren könnte, an seine Phanta­ stereien zu glauben – wenn nicht durch vernünftige Argumente, so doch durch seine Beharrlichkeit und seinen unerschütterli­ chen Ernst. »Warum kommt Ihnen das alles so lächerlich vor?« fragte er unnachgiebig. »Weil es eine Mischung aus Phantasie und Wirklichkeit, aus Irrwitz und nüchterner Forschung ist. Die Bücher auf Ihrem Schreibtisch zum Beispiel – Wittgenstein und Vreden. Sie lesen das tatsächlich, nicht wahr?« Er nickte. »Sie lesen diese Bücher, umgeben sich aber gleichzeitig mit der Aura Byronischer Diabolik, mit lächerlichen Kochtöpfen und Embryos in Spiritus.« »Ich bemühe mich, alchimistische Verfahrensweisen auf den 91

neuesten Stand zu bringen, aber meine Einstellung zur exakten Naturwissenschaft entspricht ganz der Einsicht, die vor einem Jahrhundert ein anderer Alchimist, Arthur Rimbaud, so formu­ liert hat: Science est trop lente. Sie ist zu langsam! Und für mich ist sie noch viel langsamer als für ihn! Wieviel Zeit habe ich noch? Einen Monat. Oder zwei. Und wenn ich noch ein oder zwei Jahre hätte – sähe es dann anders aus? Fatalerweise gehorcht die Naturwissenschaft dem zweiten thermodynami­ schen Gesetz. Die Magie dagegen darf ihm den Gehorsam ver­ weigern. Tatsache ist, daß ich mich einfach nicht für ein Uni­ versum interessiere, in dem ich sterben muß.« »Mit anderen Worten: Sie haben sich für die Selbsttäuschung entschieden.« »Aber nein! Ich habe mich für die Flucht entschieden. Für die Freiheit!« »Und ausgerechnet hier wollen Sie die finden?« Mordecai, der sich wieder auf der Couch niedergelassen hatte, wurde immer unruhiger. Er stand auf und begann gestikulierend im Zimmer herumzulaufen. »Aber gerade hier habe ich doch die größte Freiheit! Das beste, was wir uns in dieser vergänglichen, unvollkommenen Welt erhoffen können, ist Freiheit des Geistes, und das Lager Archi­ medes ist in einzigartiger Weise geeignet, mir diese Freiheit, und nur diese, zu gewähren. Vielleicht mit Ausnahme des For­ schungsinstituts in Princeton, das, soviel ich weiß, nach einem sehr ähnlichen Prinzip aufgebaut ist. Wissen Sie, hier kann ich alles um mich herum verabscheuen. Überall sonst beginnt man früher oder später, die Verhältnisse schweigend zu akzeptieren, hört man auf, zu kämpfen und sich gegen jedes neue Unrecht und jede neue Scheußlichkeit zu wehren, wird man hoffnungs­ los kompromißbereit.« »Das ist unsinnig und spitzfindig. Sie schneidern sich nur ir­ gendwelche Theorien zurecht.« 92

»Sie können wirklich in meinem Herzen lesen, Sacchetti! Aber an diesem Unsinn, an diesen Spitzfindigkeiten ist trotz­ dem etwas dran. Wenn Sie Ihren katholischen Gott-h zum Wär­ ter dieses Gefängnisuniversums machen, trifft für Sie Aquinas’ unsinnige und spitzfindige These zu, daß wir nur in der Unter­ werfung unter Seinen Willen frei sein können. In Wirklichkeit aber wird man, wie Luzifer sehr wohl wußte, wie ich weiß und wie Sie bereits ahnen, nur dadurch frei, daß man Ihm Verach­ tung zeigt.« »Und Sie wissen auch, welchen Preis man dafür zahlt.« »Der Preis der Sünde ist der Tod, aber der Tod ist auch der Preis der Tugend. Sie müssen sich also eine bessere Ab­ schreckung ausdenken. Die Hölle vielleicht? Hier ist die Hölle, ich entkam ihr nicht! Dante konnte sich keine Schrecken für die Gefangenen von Buchenwald ausdenken. Warum hat euer heilig­ gesprochener Papst Pius nicht gegen die Krematorien der Nazis protestiert? Nicht etwa aus Vorsicht oder Feigheit, sondern aus instinktiver Loyalität gegenüber der Firma: Pius hat geahnt, daß die Menschheit dem Plan des Allmächtigen noch nie so weit entgegengekommen war wie durch die Errichtung der Todeslager. Gott ist Eichmann in Großbuchstaben geschrieben.« »Also wirklich, das geht zu weit!« protestierte ich. Schließ­ lich gibt es gewisse Grenzen. »Ach wirklich?« Mordecai lief immer schneller hin und her. »Betrachten wir doch mal die Grundregel, nach der in den Lagern verfahren wurde: Ob ein Gefangener geschont oder be­ straft wird, hängt nicht von seinem Verhalten ab. In Auschwitz wurde man bestraft, wenn man gegen die Befehle handelte, aber man konnte genauso bestraft werden, wenn man sie befolgte oder wenn man sich völlig passiv verhielt. Offensichtlich hat Gott Seine Lager nach dem gleichen Muster eingerichtet. Um einen Vers aus dem Prediger Salomo zu zitieren, den meine Mutter auf ihr Leben bezog: Gott muß richten den Gerechten 93

und den Gottlosen. Und Weisheit ist nicht mehr wert als Ge­ rechtigkeit, denn der Weise stirbt ebenso wie der Narr. Wir wenden den Blick ab, wenn wir vor den Krematorien die verkohlten Knochen von Kindern liegen sehen, aber was ist das für ein Gott, der kleine Kinder – oft sogar eben diese Unglück­ lichen – zum Fegefeuer verdammt? Und immer nur deshalb, weil sie sich die falschen Eltern ausgesucht haben? Glauben Sie mir, eines Tages wird man Himmler heilig sprechen. Bei Pius hat man’s ja bereits getan. Sie wollen gehen, Sacchetti?« »Ich will nicht mit Ihnen streiten, aber Sie lassen mir keine andere Wahl. Was Sie da gesagt haben, ist …« »Gotteslästerung. Für Sie vielleicht, für mich nicht. Aber wenn Sie noch ein wenig hierbleiben, verspreche ich Ihnen, mich zu mäßigen. Und zur Belohnung zeige ich Ihnen, wo sich das Lager Archimedes befindet. Nicht auf dem großen Plan des Allmächtigen werde ich’s Ihnen zeigen, sondern auf einer Landkarte.« »Wie haben Sie das herausgefunden?« »Mit Hilfe der Sterne, wie ein Navigator. Wissen Sie, man kann ein Planetarium, sogar ein ferngesteuertes, zu sehr prosai­ schen Dingen verwenden. Wir sind in Colorado. Sehen Sie sich das an!« Er nahm einen Folioband vom Regal und legte ihn aufge­ schlagen auf den Tisch. Eine zweiseitige Landkarte des Staates Colorado. »Wir sind hier. Der Ort Telluride war um die Jahrhundert­ wende eine große Bergwerkssiedlung. Meiner Meinung nach gelangt man ins Lager Archimedes durch einen stillgelegten Schacht.« »Aber wenn das, was Sie im Lagerobservatorium sehen, via Bildschirm übermittelt ist, können Sie doch nicht sicher sein, daß das Teleskop direkt über dem Lager aufgestellt ist. Viel­ leicht ist es hundert oder tausend Meilen entfernt.« 94

»Ganz genau kann man überhaupt nichts wissen, aber warum sollten die sich unsertwegen soviel Mühe machen? Und außer­ dem ist da noch der Brocken Sedimentgestein, den ich vorge­ stern aus der Katakombe mitgenommen habe. Er enthält Spuren von Sylvanit, d. h. von goldführendem Tellur. Wir sind also in irgendeinem alten Goldbergwerk.« Ich lachte. »Hier unten das Magnum Opus zu vollbringen bedeutet also, Eulen nach Athen zu tragen.« Mordecai lachte nicht. (Der Witz war offenbar nicht so um­ werfend, wie ich gedacht hatte). »Still!« sagte er. »Ich höre etwas.« Nach langem Schweigen flüsterte ich: »Was?« Mordecai, das Gesicht hinter den übergroßen Händen verborgen, gab keine Antwort. Er erinnerte mich jetzt an George Wagner, damals, als er mir, in Wahnvorstellungen versponnen, auf dem langen dunklen Korridor zum ersten Mal begegnet war. Mordecai zit­ terte plötzlich am ganzen Körper. Dann beruhigte er sich und sagte lächelnd: »Ob das ein Erdbeben war? Nein, wahrscheinlich ist meine Phantasie etwas überreizt, wie die von Bruder Hugo. Aber jetzt müssen Sie mir ganz ehrlich sagen, was Sie von meinem Labo­ ratorium halten. Genügt es den Ansprüchen?« »O ja, es ist großartig.« »Kann sich ein Gefangener eine bessere Zelle wünschen?« »Wenn er ein Alchimist ist, bestimmt nicht.« »Und es fehlt wirklich nichts, wirklich gar nichts?« Vorsichtig (denn mir war nicht klar, worauf seine drängende Frage abzielte) sagte ich: »Ich habe gelesen, daß einige Alchi­ misten des 16. und 17. Jahrhunderts in ihren Laboratorien Or­ geln mit sieben Pfeifen stehen hatten. Musik im Kuhstall fördert die Milchproduktion. Vielleicht würde sie auch Ihre Arbeit günstig beeinflussen.« »Musik? Ich hasse Musik. Mein Vater war Jazzmusiker, und 95

meine beiden älteren Brüder auch. Allerbescheidenstes Kaliber, aber die Musik war ihr Leben. Wenn sie nicht übten, hörten sie sich Schallplatten an oder ließen das Radio spielen. Wenn ich nur den Mund auftat oder das geringste Geräusch machte, wur­ den sie wild. Erzählen Sie mir bloß nichts von Musik! Es heißt, Nigger hätten ein natürliches Gefühl für Rhythmus, also mußte ich mit drei Jahren Unterricht im Steptanz nehmen. Der Lehrer zeigte uns Bilder aus alten Filmen mit Shirley Temple, und wir mußten sie nachäffen – jedes Lächeln, jedes Augenzwinkern. Als ich sechs war, ließ mich Mammy in der DonnerstagabendNachwuchsvorstellung auftreten. Sie hatte mich in ein stinkfei­ nes Engelkostüm gesteckt, lauter Flitter und Chintz. Meine Nummer hieß: Ich bau’ eine Treppe ins Paradies. Kennen Sie den Schlager?« Ich verneinte. »Er geht so …« Er begann in krächzendem Papageienfalsett zu singen und auf dem Teppich zu tanzen. »Verdammter Mist! Wie soll ich das auf diesem Scheißtep­ pich hinkriegen?« Er griff nach der Kante des gemusterten Teppichs, zog ihn über die Fliesen und schleifte umgefallene Möbelstücke mit. Dann setzte er, lauter als zuvor, seinen grotesken Gesang und Tanz fort: »Ich bau’ eine Treppe ins Paradies, jeden Tag eine Stufe mehr …« Er begann, die Arme taktwidrig zu schwenken. Seine Tanz­ schritte gingen in wüstes Gestampfe über. »Und ich werd’ es erreichen, das Paradies«, schrie er gellend. Dann riß er beide Beine hoch und fiel auf den Rücken. Das Lied zerbarst in Schmerzensschreie. Noch am Boden um sich schlagend, häm­ merte er mit dem Kopf wild gegen die Fliesen. 96

Der Anfall hatte kaum begonnen, als auch schon die Wärter mit einem Sanitäter erschienen. Sie bändigten Mordecai und gaben ihm ein Schlafmittel. »Sie müssen ihn vorläufig allein lassen«, sagte der Oberauf­ seher. »Moment, ich sollte etwas mitnehmen.« Ich ging zu Mordecais Arbeitstisch und holte den Umschlag mit der Aufschrift STRENG GEHEIM, der mir aufgefallen war, als Mordecai den Atlas aufgeschlagen hatte. »Sind Sie dazu ermächtigt?« fragte der Aufseher. »Es handelt sich um eine Erzählung, die er geschrieben hat.« Ich zog die Manuskriptseiten aus dem Umschlag und zeigte ihm den Titel – Porträt des Pompanianus. »Er bat mich, sie zu lesen.« Er sah rasch weg. »Okay, okay. Aber um Himmels willen, zeigen Sie mir so was nicht!« Dann ging ich mit dem Sanitäter und den Wärtern hinaus. Woher kommt es, daß ich nach jedem Zusammensein mit Mor­ decai ein Gefühl habe, als sei ich soeben durch ein wichtiges Examen gefallen? Später Eine Mitteilung von Mordecai. Er behauptet, er fühle sich wohler als je. 17. Juni Es bereitet ein starkes Lustgefühl und einen entsprechend Starken Schmerz (die einzige Metapher, die mir dazu einfällt, ist schrecklich anal), ein neues Œuvre auszustoßen (die Meta­ pher wagt sich schon etwas hervor!). Wunderbares Wort, Œuvre! 97

Daß Louie II. kürzlich in diese Aufzeichnungen eindrang, könnte sich in gewisser Hinsicht günstig auswirken: Es hat mich bewogen (oder besser gezwungen), meine bisherigen Werke kritischer zu betrachten und einzusehen, wie gekünstelt sie waren … und sind. In dieses Urteil beziehe ich übrigens auch jene Sturzflut von verstiegenden Ideen, den Hierodule, ein. Außer den bereits im Entstehen begriffenen Werken schwebt mir etwas Größeres vor, mein Magnum Opus vielleicht. Die Anregung dazu verdanke ich zum Teil Mordecais Gottesläste­ rungen … Habe Porträt des Pompanianus gelesen. Es ist besser, als ich erwartet hatte, und doch seltsam enttäuschend. Ich glaube, es paßt mir nicht recht, daß die Geschichte so souverän erzählt, die Fabel so raffiniert erfunden und die Sprache so schön und ele­ gant ist. Ich hatte einen cri de cœur erwartet, eine subjektive Schilderung von Ereignissen, die mir etwas von dem wahren Mordecai Washington zeigen würde. Statt dessen könnte das Porträt als Gegenstück zu Ein Quartier für die Nacht von R. L. Stevenson geschrieben sein (wenn es mit seinen 40000 Wörtern nicht den Umfang eines Romans hätte). Es lohnt sich, davon zu berichten, zumal ich heute von nichts anderem zu schreiben wüßte als von meiner wachsenden Ver­ wirrung. Hier also die »Fakten«: Porträt beginnt mit einer rührseligen Szene im RougeCloître, wo der irrsinnige van der Goes von den Klosterbrüdern betreut wird. Die Mittel, mit denen sie seinen »entzündeten Geist« kurieren wollen, sind abwechselnd mild und grausam, aber sie helfen alle nichts. Angesichts der Unabwendbarkeit seiner Ver­ dammnis von Furcht und Schrecken gepackt, erleidet van der Goes einen Anfall und stirbt. In der Nacht nach der Beisetzung (bei der eine sehr schöne 98

Predigt gehalten wurde) erscheint ein Fremder, gräbt den Sarg aus, öffnet ihn und haucht dem Leichnam Lebensodem ein. Jetzt erst erfährt der Leser, daß Hugo seine Seele verkauft und dafür zwei Dinge eingehandelt hatte: 1. Eine Reise durch ganz Italien, um alle berühmten Gemälde zu sehen (die Werke von Masoccio, Uccelo, della Francesca u. a.), die man damals in Flandern nur vom Hörensagen oder durch Holzschnitte und Stiche kannte. 2. Drei Jahre höchster Meisterschaft als Maler. Er wollte nicht nur die Meister des Nordens und Südens über­ treffen, sondern seine Schöpfungen sogar mit denen des All­ mächtigen messen. Der Hauptteil der Erzählung handelt von van der Goes’ Be­ suchen in Mailand (eine kurze, eindrucksvolle Szene zeigt seine Begegnung mit dem jungen Leonardo da Vinci), in Siena und Florenz. Es kommt zu langen Diskussionen zwischen Hugo, seinem höllischen Begleiter und zeitgenössischen Künstlern über das Wesen und den Sinn der Kunst. Van der Goes’ geht von der damals üblichen Auffassung aus, daß die Kunst die Wirklichkeit widerspiegeln solle. Er ist sich nicht klar darüber, wie das am besten zu erreichen sei – ob durch die mikrosko­ pisch genaue Wiedergabetechnik und die warmen Farbtöne der Flämischen Schule oder durch die souveräne Behandlung von Raum und Form bei den italienischen Malern. Doch im glei­ chen Maß, wie er zu der ihm versprochenen Meisterschaft und zu einer Synthese der beiden Stile gelangt, wandelt sich seine Auffassung, und schließlich will er, angestachelt vom Teufel, die Wirklichkeit nicht mehr widerspiegeln, sondern bezwingen. Kunst wird zur Magie. Nur in seinem Meisterwerk (das gegen Ende des dritten Jahres entsteht), dem »Porträt des Pompanianus«, gelingt ihm der Vor­ stoß ins Übernatürliche. Aber noch in dem Augenblick, als der Teufel ihn aus dem Grab in die Hölle holt, wird der Leser im Zweifel darüber gelassen, ob es durch Hugos magische Kräfte 99

oder nur durch die List des Teufels zur Katastrophe gekommen ist. In diese Fabel ist eine ziemlich banale Faust-GretchenRomanze verwoben. Die Beschreibung der Heldin brachte mich zum Lachen: Sie gleicht, zum mindesten äußerlich, Dr. Aimée Busk. Kein Wunder, daß die Liebesgeschichte nicht überzeugt! Fazit: Die Erzählung gefällt mir und würde, glaube ich, je­ dem gefallen, der gern etwas über Maler und Teufel liest. Später Mit Ausnahme der einen Stunde, die ich zusammen mit den Gefangenen beim Abendessen im Speisesaal verbrachte (der Chefkoch scheint von einem Luxusdampfer der Cunard-Linie zu kommen!), habe ich den ganzen Tag und die halbe Nacht gearbeitet – an dem »größeren Werk«, das mir seit heute vor­ schwebt. Es ist mein erster Versuch auf dem Gebiet des Dra­ mas, und wenn rascher Fortschritt allein schon auf Qualität schließen ließe, müßte es ein großartiges Werk werden: Der erste Akt liegt bereits zur Hälfte im Entwurf vor! Ich habe fast Angst davor, den Titel zu nennen. Ein Teil meiner selbst scheut noch vor der ganzen Sache zurück (wie Bowdler, als er ein Exemplar von The Naked Lunch in der Hand hielt), der andere Teil ist fasziniert von der unerhörten Kühnheit der Idee. Wahre Tantalusqualen! Aber ich sehe schon, jetzt muß ich entweder schweigen oder Farbe bekennen: AUSCHWITZ Eine Komödie Mordecais »Entzündung des Geistes« muß ansteckend sein. Engel und Heilige, steht mir bei! Ich bin besessen!

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18. Juni Kennzeichen unseres unterirdischen Alltags: Die Uhren. Die Uhren in den Gängen: Überdimensional, für die Herstellerfirma werbend, um Neutralität bemüht, ängstlich besorgt, keine Besorgnis zu erregen – wie die Uhren in öffentli­ chen Gebäuden. Aber ihre Minutenzeiger bewegen sich nicht – wie die anderer elektrischer Uhren – mit langsamer, unmerkli­ cher Regelmäßigkeit, sondern springen, die Zeit zerschneidend, jede halbe Minute abrupt, enervierend weiter. Der Zeiger ist ein Pfeil, der aus der geraden Flugbahn in eine Kreisbahn gezwungen wurde. Zuerst hört man ihn schwirren, dann trifft er todsicher ins Ziel, in dem er noch einen Augenblick lang vibriert. Man scheut sich, die Zeit von solchen Apparaturen abzulesen. Das Fehlen jeglicher Naturerscheinung. Keine Sonne, keins der von ihr bewirkten Phänomene. Keine Farben, außer denen, die wir selbst auf die Wände gestrichen haben, und denen, die wir an uns tragen; alle anderen existieren nur noch in unserer Vorstellung. Keine Autos oder Schiffe oder Karren oder Ballons oder andere sichtbare Transportmittel (wir benutzen immer nur Fahrstühle). Kein Regen, kein Wind, kein Anzeichen dessen, was man »Klima« nennt. Keine Landschaft (wie herrlich würde uns jetzt sogar die Prärie von Nebraska erscheinen oder auch nur eine endlose Wüste!); keine Meeresküste, kein Himmel! Keine Bäume, kein Gras, kein Erdreich – nur unsere eigene, verkümmernde Existenz. Sogar die einfachen, natürlichen Dinge, mit denen wir noch umgehen – Türen, Stühle, Schalen mit Obst, Wasserkrüge, ausgezogene Schuhe –, werden allmählich unwirklich. Irgendwann, so scheint es, wird sich das alles ver­ flüchtigen. (Dieser Gedanke stammt übrigens nicht von mir, sondern von Barry Meade.) Das Diktat der Mode. Als wollten sie die relativ große Freiheit, die man uns hier zugesteht, parodieren, huldigen die Gefangenen 101

einem maßlosen, absurden Dandytum, das sich weniger darin äußert, daß sie gut gekleidet sein wollen, als vielmehr in ihrem Bestreben, allem voraus zu sein, was in His oder Time als letzter Schrei bezeichnet wird; Perücken, Sporen, Puder, Duftwässer­ chen, Strand- und Skikleidung – was man sich nur denken kann. Aber so plötzlich diese seltsamen Blumen aufblühen, so rasch verwelken sie wieder; der morgendliche Ästhet wird am Nach­ mittag zum Asketen in einem zusammengewürfelten Gefangenen­ habit, wie es kein anständiges Zuchthaus seinen Insassen zumuten würde. Ich glaube, ihr Dandytum ist eine wehmütige Solidari­ tätserklärung gegenüber der Außenwelt und der Vergangenheit, während die gegenteilige Reaktion die Verzweiflung über die Unerreichbarkeit dieser Solidarität darstellt. Das Essen. Hier wird unglaublich gut gekocht. Heute zum Beispiel hatte ich zum Frühstück folgendes ausgewählt: gebra­ tene Bananen, mit Semmelbröseln überbackene Eier in scharfer Tomatensauce, Bratwürstchen, heiße süße Brötchen und Ca­ puccino. Zum Mittagessen, das ich mit Barry Meade und dem Bischof in dessen Zimmer einnahm, ließ ich mir servieren: ein halbes Dutzend Austern, Kressensalat, Krammetsvögel auf Wildreis, kalten Spargel und zum Nachtisch dame blanche mit gesäuerter Schlagsahne und Grenadine. Es war ein Mahl, das geradezu nach Champagner schrie, da aber meine beiden Ge­ fährten nichts trinken wollten (oder konnten), begnügte ich mich mit Oulmes, einem marokkanischen Mineralwasser. (Wenn ich schon auf Champagner verzichten muß, will ich we­ nigstens unseren »Gastgebern« recht viel Mühe machen.) Das Abendessen ist für die meisten Gefangenen das gesellschaftliche Ereignis des Tages, und alle nehmen sich viel Zeit dafür. Aus dem hervorragenden Angebot bestellte ich Schildkrötensuppe, Kalbsbries als Vorspeise, römischen Salat, Forelle vom Holz­ kohlengrill, Rehmedaillons mit Johannisbeerkompott, geschmorte Karotten, grüne Bohnen mit Mandeln, ein merkwürdig schau­ 102

miges Kartoffelgericht und zum Nachtisch zwei Portionen Kai­ serschmarren. (Ich habe zugenommen wie nie zuvor, denn nie zuvor hatte ich Gelegenheit, Tag für Tag so zu schlemmen, und nie zuvor weniger Grund, um meine »Figur« besorgt zu sein. Die anderen Gefangenen bestaunen mich wie ein Wunderwesen, da sie selbst wenig Appetit haben – kein Wunder bei zum Tod Verurteilten, die zudem todkrank sind. Daß sie auf diesen Ban­ ketten bestehen, ist eine Art Perversität: »Wir wollen die guten Sachen wenigstens sehen!«) Die Zellen. Das einzige, was sie gemeinsam haben, ist die Extravaganz und Kostspieligkeit der jeweiligen Ausstattung. Seiner priesterlichen Rolle entsprechend, bevorzugt der Bischof Kirchenmobiliar. Meades Zimmer ist vollgestopft mit Klapp­ tischen aus der Heilsarmee (er dreht einen Film darüber). Murray Sandeman hat echte Bauhausmöbel. Und ich habe endlich Mor­ decais Rat befolgt, mein Zimmer nach meinem Geschmack ein­ richten zu lassen. Bis auf ein Feldbett, einen Tisch und einen Stuhl ist alles entfernt worden, und jetzt lasse ich meine Phanta­ sie spielen. Aber immer, wenn ich glaube, die richtige Idee zu haben, stelle ich fest, daß mir die nackten Wände am liebsten sind. Besuchszeiten. Entgegen dem Eindruck, den meine Auf­ zeichnungen erwecken, verbringen die Gefangenen nicht viel Zeit miteinander. Im Speisesaal und einigen anderen Räumen sind Unterhaltungen erlaubt, aber es ist gegen die »Etikette«, jemanden anzusprechen, dem man zufällig in der Bibliothek oder in den Gängen begegnet. Das »gesellschaftliche« Leben spielt sich ziemlich formell ab. Gewöhnlich überbringen die Wärter Einladungen mit genau festgesetzten Anfangs- und Schlußzeiten. Jeder Gefangene denkt ständig daran, wie kurz die Frist ist, die ihm noch bleibt. Jeder sieht bereits den Pfeil der Zeit im Ziel vibrieren. Morgen vielleicht mehr darüber. 103

Später Erster Akt von Auschwitz fertig. Zweiter Akt macht Fort­ schritte. 19. Juni Kennzeichen unseres unterirdischen Alltags (Fortsetzung): Filme. Jeden Dienstag- und Donnerstagabend. Die Auswahl erfolgt durch Abstimmung auf einer Titelliste, auf der alle (außer mir) ihre Wünsche ankreuzen können. Gewöhnlich wer­ den wöchentlich ein neuer und ein alter Film gezeigt. Programm dieser Woche: Fellinis erstaunliches Fragment Commedia, das endlich die Hürde des Bundesgerichtshof genommen hat, und Griffiths Verfilmung von Ibsens Gespenstern. Der liederliche Vater und der kranke Sohn wurden vom selben Schauspieler dargestellt. Gegen Schluß wird offenbar ein Gelbfilter in den Projektor eingesetzt (vielleicht ist aber auch der Film selbst ge­ tönt), und dann läuft die Szene ab, in der der Held unter Bewe­ gungsstörungen leidet – melodramatisch, aber ziemlich enervie­ rend. Als Beiprogramm ein paar Zeichentrickfilme aus den vierziger Jahren und ein entsetzlich langweiliger Reisebericht (Forellenfang im schottischen Hochland). Warum sehen sie sich so was an? Wohl kaum, um eine Lagerpsychose abzureagieren (kein einziger hat gelacht). Vielleicht ist auch dies nur ein ver­ geblicher Versuch, sich mit der Welt der stummen Zuschauer draußen solidarisch zu fühlen. Anderer Zeitvertreib: Seit George tot ist, hat niemand mehr Interesse an Theateraufführungen (allerdings ist es möglich, daß Auschwitz einstudiert wird, sobald ich damit fertig bin), aber gelegentlich liest einer der Gefangenen aus seinem jüngsten Werk oder führt irgend etwas vor oder veranstaltet eine Art 104

Happening. Ich bin bisher nur einmal hingegangen und fand es noch langweiliger als Ferien in Schottland. Eines der jungen Genies las einen in Reimpaaren verfaßten alchimistischen Text. Blabla. Teamsport. Jawohl, so unglaublich es klingt! Vor einigen Monaten erfand Mordecai eine raffinierte Krocket-Variante (zum Teil auf dem von Lewis Carroll beschriebenen Spiel ba­ sierend). Die gegnerischen Mannschaften bestehen aus jeweils drei bis sieben Spielern. Jeden Freitagabend findet ein Match zwischen den »Kolumbianern« und den »Unitariern« statt. Diese Mannschaftsnamen klingen harmloser als sie sind. Sie beziehen sich auf die gegensätzlichen Meinungen, die in der Forschung über Wesen und Ursprung der Syphilis herrschen: Die kolum­ bianische Schule behauptet, der Erreger sei von den Seeleuten des Kolumbus aus der Neuen Welt nach Europa eingeschleppt worden (was die große Epidemie von 1495 erklären könnte), die Unitarier dagegen glauben, daß die anscheinend so ver­ schiedenen Geschlechtskrankheiten in Wirklichkeit ein und die­ selbe sind, die sie »Treponematose« nennen und deren zahlrei­ che Erscheinungsformen sie mit den unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, Lebensgewohnheiten und klimatischen Bedin­ gungen erklären. Einzelgängertum. Nicht verwunderlich, da ja gerade der Mangel an engen gesellschaftlichen und familiären Bindungen bei der Auswahl der Gefangenen eine Rolle gespielt hat. Gewiß, es gibt hier eine Art Gruppengeist, eine Art Gemeinschaft – aber es ist eine Gemeinschaft der Ausgestoßenen, ein Zusam­ menleben in kaltem Komfort. Die Ekstase der Liebe, die stille­ ren, aber dauerhafteren Freuden geistigen Schaffens und das normale, normative Glück, Jahr für Jahr die eigene Lebensform weiterentwickeln und mit Sinn erfüllen zu können – alle diese fundamentalen menschlichen Erfahrungen, ja selbst die Hoff­ nung, sie später doch noch machen zu dürfen, sind ihnen ver­ 105

wehrt. Wie Meade gestern voller Bedauern sagte: »Die vielen Mädchen dort oben, die mir nicht nachweinen werden! Ein Jammer!« Ihre Genialität mag sie für manches entschädigen, aber sie vertieft die Kluft zwischen ihnen und der großen Masse. Selbst wenn sie geheilt würden und das Lager Archimedes ver­ lassen dürften, würden sie sich in der Welt da droben nicht mehr zu Hause fühlen. Hier, in der Unterwelt, haben sie gelernt, die Sonne zu sehen; dort, in der Welt des Lichts, blicken die Menschen noch immer auf die Schatten an den Höhlenwänden. Später Der zweite Akt ist fertig. Mordecai hatte heute einen noch heftigeren Anfall. Mögli­ cherweise muß das Magnum Opus (oder, wie Murray S. re­ spektvoll sagt, der große Coup) verschoben werden. 20. Juni Mordecai fühlt sich wieder wohl, und der Termin wird ein­ gehalten. Ich bin jetzt nicht mehr fähig, von Lappalien zu be­ richten. Nur noch das große Warten. Später Dritter Akt halb fertig. Das Stück ist phantastisch! 21. Juni Es ist phantastisch, und ich hab’s geschafft! Natürlich ist noch viel zu korrigieren, aber es ist geschafft! Ich danke … Wem? Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen (I, 1): »Es kann geschehen, daß der um Erhörung Flehende einen ganz 106

anderen heraufbeschwört als jenen, den er rief – und er selbst ist sich dessen nicht einmal bewußt.« In der Kunst besteht diese Gefahr ebenso wie in der Magie. Nun denn, wenn dem Teufel Dank für Auschwitz gebührt, sei hiermit erklärt, daß ich ihm danke und ihm gebe, was des Teufels ist. Ich schreibe dies am späten Nachmittag. Da mir vor dem Abendessen noch etwas Zeit bleibt, möchte ich jetzt schon ein paar Vorbemerkungen zu dem machen, was mich – falls der Abend auch nur halb so ereignisreich wird wie erwartet – später mit enormer Schreibarbeit belasten wird. Als ich die letzten Worte von Auschwitz niedergeschrieben hatte, war ich wie betäubt. Ich konnte die kahlen Wände nicht mehr ertragen, die schrecklichere Assoziationen auslösten als beispielsweise die Kleckstafeln beim Rorschachtest (denn auf diese Wände hatte ich alle Bilder meiner traurigen Komödie projiziert). So schleppte ich mich hinaus in das unterirdische Labyrinth und gelangte bald zu seinem geheimen Mittelpunkt, beziehungsweise zu seinem Minotaurus: Haast. In Erwartung der phantastischen Ereignisse ebenfalls erregt, forderte er mich auf, ihn in das vier Stockwerke tiefer gelegene Gewölbe zu be­ gleiten, das kürzlich der Schauplatz von Doktor Faustus gewe­ sen war und wo heute abend das große Geheimnis feierlich ent­ hüllt werden sollte. »Aufgeregt?« Es klang wie eine Frage, war aber eine Fest­ stellung. »Sie etwa nicht?« fragte ich zurück. »In der Armee gewöhnt man sich an Aufregungen. Und außer­ dem bin ich mir völlig sicher über den Ausgang …« Er lächelte bemüht und winkte mich zum Fahrstuhl. »Nein, wirklich aufregend wird die Sache erst, wenn gewisse Offiziere in gewissen Büros im Pentagon erfahren, was mir ge­ lungen ist. Namen zu nennen ist unnötig. Jeder weiß, daß eine kleine, aber mächtige Clique in Washington seit zwanzig Jahren 107

Millionen und aber Millionen von Steuergeldern für Weltraum­ abenteuer vergeudet. Und dabei ist der innere Raum noch gar nicht erforscht.« Da ich auf diesen Köder nicht anbiß, fuhr er fort: »Sicher wollen Sie wissen, was ich damit meine – der innere Raum.« »Es klingt sehr … Es regt zum Nachdenken an.« »Es stammt von mir selbst und bezieht sich auf das, was ich Ihnen bei unserem Gespräch über den materialistischen Cha­ rakter der modernen Naturwissenschaft gesagt habe. Sehen Sie, die Naturwissenschaft läßt nur materielle Fakten gelten. Die Natur jedoch hat stets zwei Seiten, eine materielle und eine spirituelle, genau wie jedes menschliche Wesen einen Körper und eine Seele hat. Der Körper ist ein Produkt der dunklen, verschatteten Erde und daher für die Alchimie ein Produkt, das ›albiniert‹ werden muß. Mit anderen Worten: das so hell wer­ den muß wie ein nacktes, strahlendes Schwert.« Dabei fuchtelte er mit den Händen, als haschte er nach dem Griff dieses Schwertes. »Und da dem materialistisch orientierten Wissenschaftler diese fundamentale Erkenntnis fehlt, gilt sein ganzes Interesse dem Weltraum. Der Alchimist dagegen, der sich stets der Be­ deutung des Zusammenwirkens von Körper und Seele bewußt ist, widmet sich vor allem der Erforschung des inneren Raumes. Ich könnte darüber ein ganzes Buch schreiben … wenn ich Ihre schriftstellerische Begabung hätte.« »Bücher, Bücher!« sagte ich wegwerfend, um seine Begei­ sterung zu dämpfen. »Es gibt viel wichtigere Dinge als Bücher. Schon in der Bibel steht: ›Und ist des Büchermachens kein Ende.‹ Ein tätiges Leben kann für die Gesellschaft viel nützlicher sein als …« »Ausgerechnet Sie glauben, mir das sagen zu müssen, Sacchet­ ti! Ich habe mein Leben nicht in einem Elfenbeinturm vergeudet! Aber glauben Sie mir, das Buch, das mir vorschwebt, wäre etwas 108

ganz anderes als das übliche Geschwafel. Ich könnte viele jener Fragen beantworten, mit denen sich denkende Menschen heut­ zutage herumschlagen. Falls Sie einen Blick auf meine Auf­ zeichnungen werfen wollen …« Ich resignierte zähneknirschend und sagte höflich: »Würde mich sehr interessieren.« »Und vielleicht könnten Sie Verbesserungsvorschläge ma­ chen, das heißt, mich beraten, wie man die Probleme auch dem Durchschnittsleser erklären könnte.« Ich nickte widerwillig. »Und vielleicht …« Dieser letzten Daumenschraube entging ich nur, weil wir in diesem Moment am Eingang des Heiligtums ankamen – gleich­ zeitig mit Dr. Aimée Busk. »Sie sind etwas zu früh dran«, sagte Haast zu ihr. Seine über­ strömende Kameradschaftlichkeit war plötzlich verflogen. Er zog sich in sein Schneckenhaus zurück, sobald er sich der Busk gegenüber sah, die, in ihrem mausgrauen Kostüm geschlechtslos wirkend, mit grimmiger Miene und in kampfbereiter Haltung hier unten aufgekreuzt war. »Ich will den technischen Apparat inspizieren, der für diese Seance benutzt wird. Sie gestatten?« »Alle Stromkreise werden bereits von zwei Experten überprüft. Aber wenn Sie meinen, daß Ihr Rat benötigt wird …« Er verbeugte sich steif, sie salutierte äußerst korrekt und ging ihm in den Theaterraum voraus. Die Kulissen für Doktor Faustus waren noch nicht entfernt; die hohen Bücherregale und das düstere Stiegenhaus dienten jetzt als Hintergrund für ein neues Spektakel. Auf einem Steh­ pult in der Form eines Adlers – oder eines Engels? – lag ein dicker Lederband, ein echtes Buch, nicht ein auf Leinwand ge­ maltes. Die aufgeschlagenen Seiten waren mit kabbalistischen Zeichen bedeckt, die mich an das Blatt auf Mordecais Schreib­ 109

tisch erinnerten. Ob sie nur als theatralischer Effekt gedacht waren oder irgendeine praktische oder symbolische Bedeutung hatten, konnte ich nicht beurteilen. So weit stand die Ausstattung in Einklang mit den üblichen Faustus-Inszenierungen. Alles andere schien eher in einen mo­ dernen Gruselfilm zu passen, in irgendeinen Mischmasch, viel­ leicht in eine japanische Frankenstein-Version. Da waren Ku­ geln aus verschiedenfarbigem Glas, eine Art riesiger Christ­ baumschmuck, und da war ein Gerät, das einem ausgedienten Teleskop aus dem letzten Krieg glich und dessen längeres Ende auf den Fußboden gerichtet war. Da war eine ganze Batterie von Skalen, Signallämpchen und rotierenden Bandspulen – Zugeständnisse an den Kybernetik-Kult. Der lustigste Einfall des Bühnenbildners war jedoch die Verwendung zweier an Haartrockner erinnernder Gebilde, aus denen unzählige Kabel wie ein Haufen Spaghetti hervorquollen. Zwei Techniker vom Sicherheitsdienst überprüften gerade die Eingeweide dieser orangefarbenen Todeswerkzeuge aus Kunststoff und Chrom, und der Bischof sah ihnen dabei auf die Finger, offenbar um jede Entweihung der Apparate zu verhindern. Die Techniker nickten Dr. Busk zu. »Na, sind unsere Zauberkästen in Ordnung?« fragte sie. »Werden sie alles, was mit ihnen in Berührung kommt, in Gold verwandeln?« Einer der Techniker lachte verlegen. »Soviel wir festgestellt haben, können die Dinger bloß summen.« Haast geflissentlich übersehend, sagte Dr. Busk zu mir: »Für die Vorführung von Zauberkunststücken sollten meiner Mei­ nung nach ein Kreidekreis und ein totes Huhn genügen. Im Höchstfall ein Reichscher Orgon-Akkumulator.« »Ihre dreckigen Bemerkungen können Sie sich sparen«, sagte Haast beleidigt. »Sie werden schon sehen, was die Jungs fertig­ bringen. Auch Isaac Newton wurde verspottet, weil er sich mit 110

Astrologie beschäftigte. Wissen Sie, was er darauf geantwortet hat? ›Sir, ich habe mich damit befaßt, Sie nicht …‹« »Newton war, wie die meisten Genies, verrückt. Zu einem Genie paßt der Irrsinn, aber es überrascht mich, daß ein Durch­ schnittsmensch wie Sie sich so etwas einfallen läßt, nur um seine Neurose zu kultivieren. Vor allem, wenn ich an das alte Sprichwort denke: ›Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.‹« Sie wollte nicht sachlich argumentieren, sondern ihn durch Stiche reizen wie ein Picador den Stier. »Spielen Sie auf Auaui an? Was man allgemein zu vergessen scheint, ist, daß ich diesen Feldzug gewonnen habe. Trotz der dort grassierenden Krankheiten, trotz des Verrats meiner Offi­ ziere habe ich ihn gewonnen! Trotz der Lügner, von denen ich umgeben war, und übrigens auch trotz des ungünstigsten Horos­ kops, das mir jemals gestellt worden ist, habe ich ihn gewon­ nen!« Sie witterte Blut und überlegte mit sichtlichem Vergnügen, wo sie ihm den nächsten Stich versetzen sollte. »Ich war unfair«, sagte sie sanft. »Denn ich bin sicher, daß für alles, was damals geschah, Bearrigan weit mehr Verantwortung trug als Sie. Jedenfalls nach heutigen Maßstäben. Ich muß Sie also um Ent­ schuldigung bitten.« Sie hatte wahrscheinlich, genau wie ich, erwartet, ihn damit völlig konsterniert und gewissermaßen den Bandilleros ausge­ liefert zu haben. Aber weit gefehlt! Er ging zum Lesepult und betrachtete die Geheimzeichen wie ein Kenner. »Sagen Sie, was Sie wollen …« Die Busk zog fragend eine Augenbraue hoch. »Sagen Sie, was Sie wollen – an der Sache ist was dran!« Er schlug mit der Faust gegen das Pult und zitierte dann in seiner unnachahmlich oberlehrerhaften Art das Motto von Berrigans Buch: »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.« 111

Kein Wunder, daß Haast alle Schlachten gewinnt: Er erkennt seine Niederlagen nicht! Die Busk biß sich auf die Lippen und stiefelte zur Tür. Als sie draußen war, sagte Haast lächelnd zu mir: »Jetzt haben wir’s Siegfried aber gegeben, was? Beherzigen Sie meinen Rat, Louie – lassen Sie sich nie mit einer Frau auf Diskussionen ein!« Der Theatertradition entsprechend gehen komische Episoden schrecklichen Ereignissen voraus: Hamlet macht sich über Po­ lonius lustig, der Narr gibt Rätsel zu lösen auf, der betrunkene Pförtner stolpert über die Bühne, um dem, der ans Tor klopft, zu öffnen. Später So bald hatte ich die Katastrophe nicht erwartet! Das Drama ist fast beendet, und ich dachte, wir befänden uns erst ungefähr in der Mitte des zweiten Akts. Jetzt bleibt nichts mehr zu tun, als die Leichen von der Bühne zu tragen. Wie stets hatte ich mich sehr frühzeitig im Theater eingefunden, aber Haast war noch vor mir da. Als ich eintraf, beschimpfte er gerade das technische Personal, weil die Ventilatoren plötzlich verrückt spielten. Sein am Nachmittag von weißen Stoppeln geziertes Gesicht war jetzt glattrasiert. Er trug einen schwarzen Zweireiher, der, obwohl funkelnagelneu, an ihm irgendwie alt­ modisch wirkte. Als ich Anfang der sechziger Jahre Stuttgart besucht hatte, war mir aufgefallen, daß viele Geschäftsleute Anzüge trugen, wie sie in ihrer Jugend modern gewesen waren. Für sie – und für Haast – ist die Zeit 1943 stehengeblieben. Als nächste erschienen die wenigen Gefangenen, die bei dem Ritual keine aktive Rolle zu spielen hatten. Einige trugen Abendanzüge, einige ihre – nicht weniger nüchterne – Alltags­ 112

kleidung. Da sich die Gruppe über sämtliche Stuhlreihen ver­ teilte, wirkte der kleine Zuschauerraum fast so leer wie zuvor. Dr. Busk, angezogen als ob sie Trauer hätte, setzte sich hinter mich und begann, eine Camel nach der andern zu rauchen. Nach kurzer Zeit waren wir beide eingequalmt, wozu die man­ gelhafte Entlüftungsanlage das ihre tat. Mordecai, der Bischof und eine Horde von Sicherheitsbeamten, Wärtern und anderem Personal (ein Auftritt, der mich an den ersten Akt von Tosca im Amato-Theater erinnerte), erschienen als letzte – treffender gesagt: hielten ihren bombastischen Ein­ zug. Der Bischof hatte ein goldenes Gewand mit symbolischen Figuren im Stil von Matisse angelegt, doch fehlte auch in seiner Ausstattung das Element der Trauer nicht: Seine Mitra war pechschwarz. Mordecai hatte sich bei der Auswahl seines Fest­ kostüms einer fast makabren Sparsamkeit befleißigt: Er erschien in dem schwarzen Samtgewand mit dem goldenen Spitzenkragen, das George Wagner als Faustus getragen hatte. Es schrie gerade­ zu nach chemischer Reinigung, aber auch wenn es sauber ge­ wesen wäre, hätte es in seiner Schwärze an dem schwarzen Mordecai unkleidsam gewirkt. Zudem betonte es seine schmale Brust, seinen runden Rücken, seine staksigen Beine und seine eckigen Bewegungen. Er erinnerte an die jammervollen Zwerge des Velasquez. Das prachtvolle Kostüm ließ seine Figur nur noch grotesker erscheinen. Aber zweifellos war diese Wirkung beabsichtigt. Ein stolzer Mensch trägt seine Häßlichkeit zur Schau, als sei er mit Schönheit gesegnet. Haast eilte auf diesen verunglückten Hamlet zu und faßte ihn beinahe zärtlich bei der Hand. »Das ist ein historisches Ereignis, mein Junge.« Seine Stimme war rauh vor Rührung und Wichtigtuerei. Mordecai nickte und zog die Hand zurück. Seine Augen ver­ rieten eine innere Spannung, deren Intensität selbst bei diesem ständig in Spannung lebenden Menschen überraschen mußte. 113

Ich dachte an van der Goes’ »qualvolle Augen« in Porträt des P.: »Nach Licht dürstend, wandte er das Gesicht immer wieder der Sonne zu.« Würdevoll, begleitet von zwei Statisten, die seine schim­ mernde Schleppe trugen, stieg der Bischof vor Haast die vier Stufen zur Bühne hinauf. Mordecai stand noch unten im Mittel­ gang und betrachtete die Zuschauer. Als sich unsere Blicke tra­ fen, huschte ein belustigtes Lächeln über sein Gesicht. Er kam herüber, beugte sich zu mir und flüsterte: »Zum Zaubern fehlt mir jetzt die Kunst; Kein Geist, der mein Gebot erkennt; Verzweiflung ist mein Lebensend, Wenn nicht Gebet mir Hilfe bringt …« Er richtete sich auf, verschränkte die Arme über der fleckigen Samtjacke und fragte selbstgefällig: »Wissen Sie, wer das sagt? Offenbar nicht – aber Sie sollten es wissen.« »Wer?« Er ging auf die Stufen zu, stellte sich auf die erste und sagte zu mir gewandt: »So brech ich meinen Stab, Begrab ihn manche Klafter in die Erde …« Ich unterbrach ihn und sprach Prosperos Abschiedsworte an die Zauberkunst zu Ende: »Und tiefer als ein Senkblei je geforscht, Will ich mein Buch ertränken.« »Aber nicht sofort«, sagte Mordecai mit einem Augenzwin­ kern. 114

Haast, der am Lesepult auf Mordecai wartete und einige be­ schriebene Blätter in der Hand hielt, rief uns ungeduldig zu: »Was habt ihr zwei denn noch zu schwatzen? Dies ist nicht der Augenblick dafür! Wir sollten uns jetzt von allen anderen Ge­ danken frei machen und uns ganz auf das bevorstehende geistige Erlebnis konzentrieren. Sie scheinen nicht zu begreifen, daß wir an einer entscheidenden Schwelle stehen!« »Doch, das weiß ich sehr wohl!« Mordecai nahm unsicher drei Stufen auf einmal, stakste eilig quer über die Bühne und setzte sich unter eine der medusenähnlichen Trockenhauben. Sofort begann Sandemann, ihm die Drähte mit Isolierband an der Stirn zu befestigen. »Ich bin wirklich ein Esel«, sagte Mordecai. »Fangen Sie an!« Haast lachte vergnügt. »Das wollte ich damit bestimmt nicht sagen. Aber trotzdem …« Er wandte sich an sein spärliches Publikum: »Meine Damen und Herren, bevor wir beginnen, möchte ich einige Bemerkungen machen. Über das große Er­ eignis, das uns bevorsteht.« Dann begann er von seinem Manu­ skript abzulesen. Dr. Busk flüsterte mir ins Ohr: »Wetten, daß der alte Jugend­ anbeter eine halbe Stunde quatschen wird? Er hat Angst vor dem Experiment. Er fürchtet sich vor seiner blöden ›Schwelle‹.« Er übertraf ihre Schätzung um fünfzehn Minuten. Obwohl ich auf die Faktizität dieser Aufzeichnungen stolz bin, möchte ich Haasts Rede nur ganz kurz zusammenfassen. Zuerst erklärte er, daß ihn seine Rolle als Wohltäter der Menschheit zutiefst befriedige. Dann skizzierte er Leben und Verdienste früherer Menschheitsbeglücker; er sprach von Christus, Alexander dem Großen, Henry Ford und dem »bedeutenden modernen Astrolo­ gen« Carl Jung. Dann schilderte er eindrucksvoll Elend und Schrecken des Alterns und ließ sich darüber aus, wie schädlich es für die Gesellschaft sei, daß sie durch kurzsichtige Pensionie­ 115

rungsvorschriften und durch den Tod ständig ihrer erfahrensten und nützlichsten Mitglieder beraubt werde. Er verriet das Re­ zept, wie man seine Seele ewig jung erhalten könne (»Seien Sie vorurteilslos und aufgeschlossen für neue Ideen«), bekannte aber, daß seine Jahre der Reife überschattet gewesen seien von dem verzweifelten und vergeblichen Versuch, eine Möglichkeit zu entdecken, wie man auch dem Körper ewige Jugend verlei­ hen könnte. In den vergangenen Monaten jedoch sei es ihm in Zusammenarbeit mit seinen jungen Kollegen (ein knappes Nicken in Mordecai Richtung) gelungen, ein Geheimnis zu lüften, das vor Jahrhunderten nur wenige Auserwählte kann­ ten, das aber bald, wenn nicht der ganzen Welt, so doch allen verantwortungsbewußten Mitgliedern der menschlichen Ge­ sellschaft enthüllt werden könnte: das Geheimnis des ewigen Lebens. Als er die Rede beendet hatte, war mir von Dr. Busks Ziga­ rettenqualm und der zunehmenden Hitze im Raum ziemlich schwummrig geworden. Auf der Bühne schien es noch heißer zu sein, denn Haast und der Bischof waren bereits schweißüber­ strömt. Während Haast unter dem zweiten »Trockner« an den Stromkreis angeschlossen wurde, ging der Bischof zum Pult und forderte uns auf, gemeinsam mit ihm ein speziell für diesen Anlaß verfaßtes Gebet zu sprechen. Die Busk stand auf. »Von mir aus können Sie bis Mitternacht beten! Es ist schließlich Ihre Veranstaltung. Aber darf ich Sie, da wir ja offenbar so viel Zeit haben, nach dem Zweck Ihrer Apparate fragen? Die klassischen Alchimisten sind doch be­ stimmt mit einfacheren Requisiten ausgekommen! Als ich heute nachmittag zwei Techniker fragte, konnten sie weder mir noch sich selbst erklären, was das alles soll. Ich hoffe, daß Sie …« »Ihre Frage ist nicht leicht zu beantworten«, sagte der Bischof in übertrieben ernstem Ton. »Sie wollen von einer Minute zur 116

andern etwas verstehen, wozu die Menschheit ungezählte Jahr­ hunderte gebraucht hat. Wahrscheinlich wundern Sie sich über die anachronistische Verwendung elektronischer Geräte. Aber wären wir nicht dumm, wenn wir uns nicht alle Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zunutze machten? Daß wir die Weisheit vergangener Jahrhunderte respektieren, bedeutet nicht, daß wir die technischen Errungenschaften unserer Zeit verab­ scheuen.« »Gewiß, gewiß – aber was ist der Zweck dieser Apparate?« »Im wesentlichen …« Er zog die Stirn in Falten. »Im wesent­ lichen sollen sie die Wirkung verstärken. Oder, von einem an­ deren Gesichtspunkt aus, beschleunigen. In seiner traditionellen Form, also in der, die Paracelsus kannte, wirkt das Elixier lang­ sam. Sobald es in den Blutkreislauf gelangt ist, beginnt es, in die drei Meningen einzudringen, in die Dura mater, die Arach­ noidea und die Pia mater. Erst wenn es diese völlig verändert hat, was bei alten oder kranken Menschen entsprechend länger dauert, kann der körperliche Verjüngungsprozeß beginnen. Aber wir konnten es uns natürlich nicht leisten, mit philosophi­ scher Gelassenheit darauf zu warten. Wir mußten versuchen, die Wirkung des Elixiers zu beschleunigen, und diesem Zweck dienen unsere Apparate.« »Und wie wird dieser Zweck erreicht?« »Sehen Sie, das ist sehr viel schwerer zu erklären. Zuerst tritt der Alpha-Abtaster in Aktion, also das Gerät, das gerade auf Mr. Haast eingestellt wird. Es zeichnet die elektroenzephalo­ graphischen Muster auf und analysiert sie. Diese Aufzeichnung wird dann vom …« »Schluß mit dem Gequassel!« schrie Haast und stieß Sande­ man zur Seite, der ihm gerade die Drahtkrone an der schweißbedeckten Stirn befestigte. »Sie hat bereits mehr erfahren, als die Sicherheitsbestimmungen erlauben. Herrgott noch mal, ihr habt wirklich keine blasse Ahnung von Geheimhaltung! Wenn 117

sie noch ein Wort sagt, wird sie von den Wärtern hinausgeführt, verstanden? Los jetzt, macht weiter!« Wieder begann Sandeman, die Drähte an Haasts Kopf zu be­ festigen, wobei er die gleiche Mischung aus Ungeduld und Pe­ danterie an den Tag legte wie ein Frisör, der einen zappligen Kunden rasiert. Mordecai, dessen Augen unter dem Haartrock­ ner verborgen waren, stocherte mit dem Fingernagel in seinen Zähnen. Langeweile? Gespielte Gelassenheit? Spannung? Ich wußte es nicht, weil ich seine Augen nicht sehen konnte. Der Bischof begann mit forciert feierlicher Stimme sein Gebet zu sprechen, das, wie er erklärte, auf dem Gebet des Alchimi­ sten Nicholas Flamel aus dem 14. Jahrhundert basierte: »Allmächtiger Gott, Vater der Lichtwellen, von dem aller Segen ausgeht wie vom schlagenden Herzen das Blut, wir er­ flehen Deine unendliche Gnade: Gib, daß wir teilhaben dürfen an der ewigen Weisheit, die um Deinen Thron ist, die alle Dinge geschaffen und vollkommen gemacht hat, die sie zur Erfüllung oder zur Vernichtung führt. Dein ist die Weisheit, welche die himmlischen und okkulten Künste regiert. Gib, Abbas, daß der Abglanz dieser Weisheit auf unser Werk falle, daß wir unbeirrt in dieser edlen Kunst fortschreiten dürfen, der wir unseren Geist weihen, auf daß wir den geheimnisvollen Stein …« An dieser Stelle ließ ein am Bühnenrand kniender Statist ein Glöckchen ertönen. »Den Stein der Weisen …« Zwei Glöckchen. »Den unvergleichlich kostbaren Stein, den Du vor der telluri­ schen Erde verborgen hast und den Du enthüllen kannst denen, die Du erwählt.« Drei Glöckchen – und bei ihrem feierlichen Klingklang öffne­ ten sich die Türen, und herein rollte, auf einem kleinen batteriege­ triebenen Wagen, das Ei der Weisen, das jetzt tatsächlich wie ein großer Kochtopf aussah. Vier Statisten hoben es auf die Bühne. 118

Die Busk beugte sich vor und riskierte eine zynische Bemer­ kung: »Ein ›Ritual‹! Da ist mir eine ehrliche Zwangsneurose zehnmal lieber!« Aber ihre bemühte Ironie verriet, daß der selt­ same Auftritt des Bischofs sogar auf sie gewirkt hatte – ja viel­ leicht gerade auf sie. Vom Zigarettenqualm halb betäubt und von Bauchschmerzen gequält, ertappte ich mich dabei, daß ich, anstatt dem Gebet des Bischofs zuzuhören, auf das »Ei« starrte, das jetzt direkt vor mir auf der Bühne aufgebrochen wurde. Erst danach drangen die monotonen Beschwörungen des Bischofs nicht mehr als gedämpfte lateinische Geräuschkulisse, sondern wieder als the­ atralischer Humbug in mein Bewußtsein. »… und so wie Dein eingeborener Sohn zugleich Gott und Mensch ist; wie Er, geboren ohne Sünde und dem Tod nicht Untertan, freiwillig gestorben ist, auf daß wir uns, befreit von Sünde, in Seiner Gegenwart des ewigen Lebens erfreuen kön­ nen; wie er am dritten Tage siegreich auferstanden ist: so ist auch Carnot, das Gold der Weisen, ohne Sünde, unwandelbar und strahlend, unsterblich und dennoch bereit, für seine kranken und unvollkommenen Brüder zu sterben. Carnot, siegreich auf­ erstanden, erlöst und verwandelt sie zum ewigen Leben und verleiht ihnen die vollkommene Wesenseinheit des reinen Gol­ des. Und so erflehen wir im Namen Jesu Christi von Dir dieses Brot der Engel, diesen geheimnisvollen Grundstein des Him­ mels, der für alle Ewigkeit gelegt worden ist, um mit dir zu herrschen und zu regieren, denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.« Sogar Dr. Busk stimmte in das »Amen« ein. Der Bischof übergab seinen Krummstab einem Statisten, ging auf das geöffnete Ei zu und nahm die Tonflasche heraus, die vierzig Tage und Nächte der Gluthitze ausgesetzt war. Gleichzeitig wurden alle Lampen ausgeschaltet; nur aus dem teleskopähnlichen Gerät, das mir schon am Nachmittag aufge­ 119

fallen war, drang ein Lichtschein. (Wie ich später erfuhr, soll es sich um Licht vom Sirius gehandelt haben, das man in einem nicht näher bezeichneten Verfahren abgeleitet hatte.) Der Bi­ schof goß den trüben Inhalt der Flasche in einen Kelch und hob diesen, randvoll, ins reine Licht des Sirius. Jetzt begingen die Gefangenen auf und neben der Bühne eine himmelschreiende Geschmacklosigkeit: Sie begannen, Aquinas’ Eucharistische Hymne zu singen: O esca viatorum, O panis angelorum, O manna caelitum. Auf dem Höhepunkt dieser imitierten Zeremonie hielt der Bischof zuerst Haast, dann Mordecai den Kelch an die Lippen. Von Kabeln förmlich eingewickelt, konnten sie sich kaum vor­ beugen. Während sie tranken, rezitierte der Bischof seine schauderhafte Übersetzung der knappen lateinischen Verse: »O Nahrung der Wanderer! Brot der Engel! Manna, von dem der ganze Himmel ißt! Komm herbei und sättige mit deiner Süße das Herz, das ewig nach dir hungert.« Jetzt verschwand auch jener letzte Lichtschein, und in dem Dunst, der schwer im Raum hing, warteten wir auf das Fiasko, das wohl sogar die Optimistischsten und Unrealistischsten unter uns für unabwendbar hielten. Dann zerbarst die Stille und eine Stimme (Haasts Stimme, wenngleich seltsam verändert) schrie: »Macht das Licht an! Licht! Es funktioniert, ich spür’s – ich spüre die Verwandlung!« Die Scheinwerfer leuchteten auf. Als meine Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, sah ich Haast in der Mitte der Bühne stehen. Er hatte sich die Drahtkrone vom Kopf gerissen. Blut rann ihm von den Schläfen übers schwitzende, gebräunte Gesicht, das im Scheinwerferlicht glänzte wie mit Butter bestri­ 120

chener Toast. Am ganzen Körper zitternd, breitete er die Arme aus und rief exaltiert: »Schaut her, ihr Hundesöhne! Schaut her – ich bin wieder jung! Mein Körper ist springlebendig! Schaut her!« Aber wir blickten nicht auf Haast, sondern auf Mordecai. Er hatte sich bisher nicht bewegt, jetzt aber hob er furchtbar lang­ sam die rechte Hand in Augenhöhe. Er gab einen Laut von sich, der abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit ausdrückte und zugleich die Empfindungsskala von Leid zu tödlichem Schrecken durch­ lief. Und als sein starrer Körper diese Qual nicht länger ertragen konnte, schrie Mordecai: »Schwarz! Diese Schwärze! Alles schwarz!« Im nächsten Moment war alles vorbei. Sein Körper sackte im Stuhl zusammen, die verschlungenen Kabel verhinderten, daß er zu Boden fiel. Ein Arzt von der Krankenstation, der sich im Gang bereitgehalten hatte, ging zu ihm. Er gab den Befund ebenso schnell bekannt, wie Mordecai gestorben war. »Aber wie ist das möglich?« schrie Haast. »Wieso ist er ge­ storben?« »Wahrscheinlich eine Embolie. Mich wundert das nicht. In seinem Zustand war die geringste Erregung gefährlich.« Der Arzt beugte sich über Mordecai, der jetzt, im Tod genau so un­ gefüg wie im Leben, auf dem Boden lag, und schloß ihm die weit aufgerissenen Augen. Auf Haasts Gesicht erschien ein ungläubiges Lächeln. »Nein! Sie lügen! Er ist nicht tot, er kann nicht tot sein! Er hat das Elixir doch auch getrunken! Er ist dem Leben wiedergege­ ben, er ist wiedergeboren – albiniert! Das Leben ist ewig!« Dr. Busk erhob sich und lachte zynisch. »Jugend! Und ewiges Leben, was? So also wirkt Ihr Verjüngungstrank!« Und nun, da sie dem Stier den Todesstoß versetzt hatte, stolzierte sie in der Überzeugung, sich die Trophäe – Ohren und Schwanz – reichlich verdient zu haben, aus der Arena. 121

Haast stieß den Arzt von der Leiche weg. Seine Stimme klang anfangs wie die eines Schlafwandlers, wurde dann aber immer schriller: »Schafft ihn weg! Tragt ihn hinaus! Äschert ihn ein! Tragt ihn sofort zum Ofen und verbrennt ihn! Ver­ brennt ihn zu Asche! O Gott, dieser schwarze Verräter! Ich werde sterben, und es ist seine Schuld. Ich bin nicht jünger ge­ worden – es war Betrug. Es war von Anfang an nichts als Be­ trug. Dieser verdammte schwarze Bastard! Gott verdamm’ ihn, verdamm’ ihn, verdamm’ ihn!« Und bei jedem »verdamm’ ihn«, versetzte er Kopf und Oberkörper der Leiche einen Tritt. »Beruhigen Sie sich, Sir. Denken Sie an Ihre Gesundheit!« Erschrocken machte Haast ein paar Schritte rückwärts. Er stolperte, hielt sich am Rednerpult fest und berührte das Buch. Langsam, aber systematisch riß er Seite um Seite heraus und warf sie auf den Boden. »Lügen«, sagte er, während er das steife Papier zerknitterte. »Lauter Lügen. Verrat. Täuschung. Lügen.« Seltsamerweise schienen die Gefangenen keine Notiz davon zu nehmen, daß die herbeigerufenen Wärter Mordecais Leiche auf den Wagen geworfen hatten, auf dem vorhin das Ei des Weisen hereingerollt war. Es hatte sich letzten Endes als nichts anderes entpuppt als ein gewöhnlicher Kanonenofen. Ich nahm mein Taschentuch, um das Blut von Mordecais Gesicht zu wi­ schen, aber die Wärter hielten meinen Arm fest. Als sie mich hinausführten, riß Haast noch immer Seiten aus dem Buch, dem so tief, so tief ertränkten Buch. 22. Juni Ich erwachte mitten in der Nacht, zeichnete in schläfriger Kurzschrift den Alptraum auf, aus dem ich hochgeschreckt war, sank wieder ins Bett, sehnte den Augenblick herbei, in dem der Schlaf das Denken auslöscht, lag da, ausgehöhlt und ohne Trä­ 122

nen, und starrte in die mitleidlose Dunkelheit. Hier ist, nach jenen Notizen rekonstruiert, mein Traum: Zuerst war da ein widerlich süßer Geruch, wie von faulen­ dem Obst. Ich merkte, daß er aus dem großen Loch in der Mitte des Zimmers drang. Unter diesem Loch stand inmitten eines Haufens Sedimentgestein ein sehr dicker Mann. Er hatte eine Tonsur: ein Mönch. Seine Kutte und seine Kapuze waren weiß: ein Dominikaner. Er griff nach seinem Gürtelstrick und warf mir das eine Ende zu. Es war fast unmöglich, ihn heraufzuziehen. Schließlich aber saßen wir beide, schwer atmend, auf dem Rand des Loches. »Normalerweise kann ich natürlich schweben«, sagte er. »Oft sogar eine Elle hoch.« Bei aller Fettleibigkeit wirkte er seltsam unkörperlich. Fast gasförmig. Die dicken Hände glichen prall aufgeblasenen Gummihandschuhen. (»Louie«, sagte ich zur mir, »wenn du nicht aufpaßt, wirst du bald genauso aussehen.«) »Und das ist nur eines von vielen Wundern, das können Sie mir glauben. Quantam sufficit, wie Augustinus sagt. Können Sie mir keine Sitzgelegenheit anbieten?« »Ich fürchte, meine Stühle sind zu … unbequem. Vielleicht das Bett?« »Und was zu essen. Etwas Brot, ein paar Heringe.« Mit seiner Ballonfaust probierte er die Matratze aus. »Ich soll Ihnen nur eine Botschaft überbringen. Ich werde also nicht lange blei­ ben.« Ich drückte auf die Klingel neben der Tür. »Eine Botschaft?« »Eine Botschaft von Gott.« Er ließ sich auf das zerwühlte Bett nieder. Die Kapuze verbarg sein Gesicht bis auf den Teil, wo normalerweise der Mund hingehört. »Das bezweifle ich«, sagte ich so höflich wie möglich. »Sie zweifeln an Gott? An seiner Existenz? Was für ein Un­ 123

sinn! Natürlich glauben Sie an Gott – wie jeder andere auch. Ich persönlich habe drei verschiedene Beweise für Seine Existenz erbracht. Erstens: Wenn Er nicht existiert, wäre alles ganz an­ ders. Oben wäre unten, rechts wäre links. Wir sehen aber, daß es nicht so ist. Ergo muß Gott existieren. Zweitens: Wenn Gott nicht existierte, säßen wir beide jetzt nicht hier und warteten auf etwas zu essen. Drittens: Wir brauchen nur auf die Uhr zu se­ hen, um zu erkennen, daß er existiert. Wie spät ist es?« »Kurz nach drei.« »Ach du liebe Güte, die brauchen aber sehr lang! Wollen wir Rätsel raten? Was hat die Hyperdulie mit der Pia mater zu tun?« »Was hat ein Rabe mit einem Schreibtisch zu tun?« murmelte ich, bereits etwas verärgert über meinen Gast. Doch er hatte entweder meine Bemerkung nicht gehört oder die Anspielung nicht verstanden. »Sie wissen es also nicht! Hier ist noch ein Rätsel: Einer meiner Lehrer sagte: ›Ihr nennt ihn einen dummen Ochsen, aber ich sage euch, dieser Ochse wird so laut brüllen, daß die Welt davon widerhallen wird.‹ Wer bin ich?« »Thomas Aquinas?« »Der heilige Thomas Aquinas. Das hätten Sie sofort merken müssen! Sind Sie dumm?« »Im Vergleich mit den meisten anderen wohl nicht.« »Naja, aber im Vergleich mit mir? Haha! Und Gott ist sogar noch klüger als ich! Er ist das höchste aller Wesen, er ist das erste Wesen und er ist reiner Geist. Und da die Intelligenz aus dem Geist kommt, folgt daraus, so sicher wie die Nacht dem Tag folgt, daß Er das erste intelligente Wesen ist. Haben sie Dionysius gelesen?« »Leider nicht.« »Sie sollten ihn aber lesen! Er war es, der geschrieben hat, daß die irdische Hierarchie von den reinen Geistern der himmli­ schen Hierarchie erleuchtet wird. Wie zum Beispiel Sie von 124

mir. Abt Suger hielt besonders viel von Dionysius. Was habe ich eben gesagt?« »Wie bitte?« »Sie sollen wiederholen, was ich eben gesagt habe! Sie kön­ nen’s nicht? Wenn Sie nicht einmal bei einfachen Dingen zuhö­ ren, wie soll ich Ihnen dann die Botschaft übermitteln?« Jemand klopfte an die Tür. Dann rollte der Kaffeewagen her­ ein, aber anstatt aus matt gewordenem Chrom war er aus glän­ zendem Gold und reich mit Edelsteinen verziert. Drei kleine Engel, etwa im Kindergartenalter, brachten ihn herein, zwei zogen, einer schob. Es wunderte mich, daß sie nicht flogen, und mir kam der Gedanke, daß ihre kleinen Flügel vielleicht den aerodynamischen Gesetzen nicht entsprachen. (Von solchen Defekten habe ich einmal in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift gelesen.) Ein Engelchen nahm eine Platte mit kleinen fauligen Fischen vom Wagen, füllte ein hübsches Porzellan­ schälchen und reichte es dem Heiligen, der wie in Verzückung die Hände danach ausgestreckt hatte. Als der kleine Cherub an mir vorbeiging, streifte eine Flügelspitze mein Gesicht: Ich spürte nicht Federn, sondern zartes weißes Fell. »Wieder ein Wunder! Glauben Sie mir, jede Mahlzeit ist ein kleines Wunder. Vor allem Heringe. Ich bin an solchen wunder­ baren Heringen gestorben.« Mit seinen schwabbligen Fingern ließ er drei Fische auf einmal im Schatten seiner Kapuze ver­ schwinden. »Ein Händler mit einer ganzen Ladung Sardinen kam am Kloster vorbei. Ich bin nicht besonders scharf auf Sar­ dinen, aber auf Heringe um so mehr! Und wissen Sie, was dann geschah? Er schaute in sein letztes Faß …« (im Nu war noch eine Handvoll fauliger Fische verschwunden) »… und es war mit Heringen gefüllt! Wenn das kein Wunder war! Allerdings stellte sich später heraus, daß sie verdorben waren. Ich bekam die entsetzlichsten Magenkrämpfe und starb drei Tage später. Ist das nicht phantastisch? Die Geschichte meines Lebens – das 125

wäre ein Buch! Einige Dinge würden Sie einfach nicht glauben! Allerdings würde es nur sehr wenig über …« Er räusperte sich und reichte dem Engel die leere Schale. »… über Erfahrungen fleischlicher Natur enthalten. Denn seit meinem zwanzigsten Lebensjahr haben mich solche Anfechtungen nicht mehr ge­ plagt. Kein einziges Mal. Meine geistige Arbeit wurde dadurch unendlich erleichtert.« Nun brachte der zweite Cherub eine goldene Platte mit Gebäck. Aquinas nahm ein Schokoladeneclair. Erst jetzt fiel mir auf, daß das winzige Skrotum den Engels furchtbar entzündet war und daß er sich deshalb so breitbeinig fortbewegte. Mein Gast be­ merkte, daß ich hinsah. »Orchitis natürlich«, sagte er und biß in das Eclair, an dessen anderem Ende die Schlagsahne herausspritzte. »Hodenentzün­ dung. Im Griechischen heißen die Hoden δρχιζ. Danach ist üb­ rigens auch die Orchidee benannt – wegen der Form ihrer Knol­ len. Es geht eben alles auf das gleiche zurück, auf Sex, S-E-X. Das Gebäck ist wirklich hervorragend!« Er nahm ein Stück Käsekuchen. »Sie haben natürlich darüber gelesen, daß mein Bruder Ray­ naldo mich auf Geheiß unserer Mutter entführen und im Turm von Rocca-secca einsperren ließ, damit ich meiner Berufung nicht folgen könnte. Raynaldo war entschlossen, die Rolle des Verführers zu übernehmen. Er schickte eine junge Dame zu mir in die Zelle, ein blondes Mädchen, dessen Reize mir nicht ent­ gingen, obwohl ich es mit einer brennenden Fackel hinausjagte. Um es am Wiederkommen zu hindern, brannte ich das Zeichen des Kreuzes in die Tür, und das war der Moment, in dem mir durch göttliche Gnade jene Erleuchtung zuteil wurde, von der ich vorhin gesprochen habe. Diese Geschichte wird immer wieder erzählt, aber sie hat eine Fortsetzung, die nicht so bekannt ist. Raynaldo versuchte meine Standhaftigkeit mit den verschieden­ sten Mitteln zu untergraben. Damals galt meine äußere Erschei­ 126

nung als keineswegs unansehnlich. Ich war so schlank, wie sogar Sie es einmal waren, Sacchetti! Gertenschlank. Und ich bewegte mich geschmeidig wie ein Leopard. Aber in der engen Zelle konnte ich mich überhaupt nicht bewegen. Ich las – die Bibel und den Meister der Sentenzen – und ich schrieb – ein oder zwei unwichtige Werke – und ich betete. Aber notgedrungen mußte ich auch essen. Hunger ist ein ebenso mächtiger Trieb wie Sexualität und für unser körperliches Dasein sogar von noch fundamentalerer Bedeutung. Ich aß täglich vier, manch­ mal sogar fünf Mahlzeiten. Leckere Fleischgerichte und pikante Saucen und herrliches Gebäck – viel besser als das hier! – wur­ den ausschließlich für mich zubereitet. Ein- oder zweimal ver­ weigerte ich die Nahrung und warf die Speisen aus dem Fenster oder zertrat sie, aber dann begann Raynaldo mich auszuhun­ gern. Er ließ mir kein Essen bringen, drei, vier, fünf Tage lang, bis der Freitag oder ein anderer Fastentag herangekommen war. Und dann, o jemine, kam das herrlichste, reichlichste Essen! Ich konnte einfach nicht widerstehen, damals nicht und später auch nicht. Als ich Raynaldo entkommen war, mußte ich feststellen, daß ich an sämtlichen Fastentagen von entsetzlichem Hunger gequält wurde. Dann konnte ich weder beten noch lesen noch denken, bis ich diesen Hunger gestillt hatte. Und während sich in den folgenden Jahren meine geistige Existenz mit göttlicher Erleuchtung vollsog wie ein Schwamm mit Wasser, quoll meine leibliche Existenz, mein Körper, immer mehr auf. Hier!« Die Kapuze abwerfend, enthüllte er das, was einmal sein Gesicht gewesen war. Die Völlerei hatte nichts davon zurückgelassen als die ausladende Kiefer- und Kinnpartie, in der der vom Essen verschmierte Mund klaffte. Der schwabblige Fleischkloß ähnelte einer riesigen Hinterbacke; die Augen wirkten darin wie zwei winzige Grübchen. »Und jetzt möchten Sie sicher auch etwas von dem Kuchen. Doch, doch, ich habe bemerkt, wie gierig Sie die Platte angestarrt haben. 127

Mopsi, der Augenblick ist da – bring Mr. Sacchetti die Bot­ schaft!« Während seine beiden Gefährten mich an den Armen packten und auf die Knie zwangen, ging der dritte kaninchen­ köpfige Cherub auf mich zu. Das rosige Näschen schnupperte erwartungsvoll, die Fellflügel klappten ruckartig auf und zu. Die mollige Hand legte sich auf die blütenförmige, eiternde Wunde am Skrotum und zog eine dünne weiße Hostie mit unle­ serlichen Schriftzeichen hervor. »Ich … ich weiß nicht, was das … zu bedeuten hat.« »Sie müssen sie natürlich essen«, sagte Thomas Aquinas. »Dann werden Sie alles verstehen – wie ein Gott!« Der Cherub zwang mir die Hostie in den Mund, die den glei­ chen Geruch ausströmte, wie er vorhin aus dem Loch im Boden gedrungen war. Dann ließen mich die Engel los und begannen zu singen: O esca viatorum, O panis angelorum, O manna caelitum Esurientes ciba Dulcedine nonpriva, Corda quaerentium. Als ich die widerliche Süße schmeckte, drang die Botschaft wie das Licht einer von geheimnisvollem Öl gespeisten Lampe zu mir und blendete mich mit ihrer unerträglichen Wahrheit. »Ich hätte es längst wissen müssen!« So deutlich wie in einem Buch sah ich unsere Namen ge­ schrieben, in riesigen blauen und goldenen Lettern: Zuerst George Wagners Namen, dann Mordecais, dann die der anderen Gefangenen, einen nach dem andern, und ganz unten auf der Seite meinen eigenen. Nicht daß er da stand, peinigte mich, sondern daß ich es im 128

Grund längst gewußt hatte. Fast schon seit meiner Ankunft im Lager Archimedes. Aquinas brach in schallendes Gelächter aus – ein arm- und beinloser Schmerbauch, der Blut in einen großen, gehörnten Kürbiskopf pumpte. Sein Lachen dröhnte gegen die Wände, erstickte den sanften Engelsgesang – und ich erwachte. Später Auf mein Drängen gab Haast zu, was sich jetzt ohnehin nicht mehr verschweigen läßt und was mir nur durch meine eigene verzweifelte, gewollte Blindheit verborgen geblieben war. Jetzt, da ich es weiß, jetzt, da ich weiß, daß ich es weiß, fühle ich mich tatsächlich erleichtert, wie ein Mörder, dessen Prozeß sich lange hingezogen hat und der endlich den Spruch der Geschwo­ renen hört, an dem er im Grund nie gezweifelt hat – »Schuldig« – und dann das ebenfalls erwartete Urteil – »Tod«. Es war kein Traum, und die Botschaft stimmt. Seit dem 16. Mai bin ich mit Palladin infiziert. Alle, außer mir selbst, haben es gewußt, und ich, der ich nicht auf das Flüstern hören wollte, bis es zum Brül­ len wurde, von dem die Welt widerhallte, ich habe es auch ge­ wußt.

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ZWEITER TEIL

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Die folgenden, durch Sternchen voneinander abgehobenen Aufzeichnungen sind so wiedergegeben, wie sie in Louis Sacchet­ tis Tagebuch stehen. Die Reihenfolge wurde beibehalten. Datie­ rungshinweise können wir nur dem Text selbst entnehmen. So deutet zum Beispiel die erste Erwähnung des Namens »Skilliman« (unter Ziffer 12) darauf, daß diese und die folgenden Eintragungen nicht vor dem 9. August gemacht wurden. Aus den letzten drei Eintragungen (beginnend mit: »Immer öfter ist es sein Garten, in dem wir wandeln«), die den Hauptteil dieses Tagebuchabschnittes ausmachen, geht hervor, daß Sacchetti sie kurz vor der Periode niedergeschrieben haben muß, in der seine Aufzeichnungen wieder regelmäßig (und, wenn ich so sagen darf, verständlich) wurden. Das bedeutet, daß seine »Fieber­ phantasien« (wie er selbst es später nannte) am 28. September aufhörten. Viele der im folgenden wiedergegebenen Gedanken stammen nicht von Sacchetti selbst. Wo er die Quelle nicht an­ gegeben hat (und zumeist hat er es nicht getan), haben wir nicht versucht, sie zu finden; es wäre zu mühselig gewesen und dürfte ohnehin nur den Experten interessieren. Trotzdem seien wenig­ stens einige seiner Quellen genannt: die Bibel, Aquinas, die Kabbala, verschiedene alchimistische Texte, darunter der zweite Teil des Rosenromans, Richard (und George) Wagner, Bunyan, Milton, de Lautreamont, Rilke, Thomas Mann, Rimbaud und zahlreiche moderne englische Dichter. – Der Herausgeber.

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»Zu viel Grübeleien. Nicht genug Fakten. Konzentrieren Sie sich auf die plastische Beschreibung der Wirklichkeit!« Er hat recht, ich weiß es. Meine einzige Entschuldigung: In der Hölle ist’s düster. *

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»Im Innern des Wales – oder des Ofens?« *

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»Er hörte klagende Stimmen und hin und her hastende Schritte, so daß er manchmal glaubte, in Stücke gerissen oder wie Kot auf der Straße zertreten zu werden.« Und etwas später: »In dem Augenblick, da er sich dem flammenden Schlund nä­ herte, schlich sich der Bösen einer von hinten an ihn heran und redete ihm mit flüsternder Stimme viele fürchterliche Gotteslä­ sterungen ein, so daß er wahrhaftig glaubte, sie seien seinem eigenen Gehirn entsprungen … Er war weder fähig, seine Oh­ ren zu verschließen, noch vermochte er, den Ursprung dieser Gotteslästerungen zu erkennen.« Bunyan *

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Wir behaupten, die Kunst überdaure die Zeit. In Wirklichkeit vertreibt sie sie nur. *

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»Alles was Er will, das tut Er.« Eine bittere Wahrheit. *

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»Sein Leben begann jetzt, einem mit Wasser gefüllten Glas zu gleichen, wie er es zum Ausspülen seiner Pinsel benutzte: die verschiedenen Farben vermischten sich und wurden zur Farbe des Schmutzes.« Porträt des P. *

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Es ist der Anblick der hölzernen Wanne, der bewirkt, daß wir so bereitwillig an den Engel neben ihr glauben, den Engel mit dem Cello. *

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Mordecai sagte über das Porträt: »Es ist langweilig, aber das macht einen Teil seiner Wirkung aus. Ich schreibe langweilige Passagen nicht absichtlich, aber wenn sie mir in die Feder ge­ flossen sind, lasse ich sie stehen.« Und ein andermal sagte er: »Die Kunst muß der Langeweile den Hof machen. Des einen Stilleben ist des anderen nature morte.« *

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Der Kies, der unter meinem eisernen Absatz knirscht – das sind die verkohlten Knochen von Kindern. *

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Verdiene nichts, verbrauch kein Geld, Vergiß, mein Freund, was dich gequält, Denn Zeit muß enden wie die Welt. Eile! Eile! 134

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Hier in der Hölle bleibt nur die Wahl zwischen extremer Kälte und extremer Hitze. »Zwischen diesen beiden Zuständen flüchten sie brüllend hin und her, denn in dem einen erscheint der andere immer als himmlisches Labsal.« *

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Skilliman sagt über Haast: »Ihm ist ein so wirrer Verstand angeboren, daß es ihm schwerfallen würde, die Buchstaben des Alphabets in die richtige Reihenfolge zu bringen.« *

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Da haben wir’s! Sogar das Alphabet bricht zusammen. Wie wenn ein kreischendes, unartiges Kind eine Burg aus bemalten Holzklötzchen umstößt. Skillimans infantiles Gesicht. *

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Die Parabel vom Kürbis und den Malven In jenem Frühling wuchs mitten unter den Malven ein intel­ lektueller Kürbis heran. Die Malven waren schön, er aber wußte, daß ein Kürbis nützlicher war: Er würde erst im Oktober reif sein, wenn die Malven längst aufgegessen waren. *

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»Ich kannte einen Mann, der an einem einzigen Abend sieben gute Gedichte schrieb.« 135

»Sieben in einer Nacht! Kaum zu glauben!« *

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Ohne die Wissenschaft hätten wir jene Reihen ragender Stelen nicht. Sie (die Wissenschaft) ist ein Schleier über geöffneten Lippen, ist das ungesprochene Wort. Selbst die Verdammten stehen ehrfürchtig vor diesem Altar. *

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Amfortas’ Klage ist auch meine geworden: Nie zu hoffen, daß je ich könnte gesunden. *

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Ein Sebastian, vom Pfeil der Zeit verwundet. *

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Meade sagte: »Aber in mancher Hinsicht ist Skilliman gar nicht so übel. Er hat zum Beispiel ganz hübsche Augen – wenn man was für Augen übrig hat.« Das ist ein Scherz, der mich bis an die Grenze meines Erin­ nerungsvermögens führt – in die Schulzeit. Armer Barry! Er zerfällt vor unseren Augen. Als ob sein Körper die Autopsie nicht erwarten könnte. Und später sagte er: »Meine fünf Sinne trennen sich vonein­ ander.« *

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Heute begann Skilliman in einer Anwandlung von guter Laune zu dichten: Die Erde Als Kugel wär’ sie erst wirklich perfekt, Hätte Gott sie mit nichts als Meer bedeckt. *

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»Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, standen im Seichten und blickten unbeweglich zur Seite.« Mann *

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»Das ist nicht Demokratie, das ist ein Scherz.« Vito Battista *

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Eine neue Inschrift für die Höllenpforte: Hier hört alles auf. *

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Eines Tages wird man sich in unseren Hochschulen dem Studium Himmlers, des letzten der großen Chiliasten, widmen. Die Landschaft seines Inneren wird nur noch angenehmen Schrecken hervorrufen. (Ein schönes Gefühl also.) Man halte sich nur vor Augen, daß uns schon seit vielen Jahren die Proto­ kolle der KZ-Prozesse im Theater zur Unterhaltung präsentiert werden. Denn das Schöne ist nichts als … 137

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Immer öfter ist es sein Garten, in dem wir wandeln. Wer, wenn ich dann schriee, hörte mich denn? Stummes Überwäl­ tigtsein! (Chirico). Das Entsetzen lächelte den Engeln zu, schenkte ihnen allen sein schreckliches Lächeln. Wir, die wir auf diesen Augenblick gewartet haben, können das Trugbild bewundern. »Aber das sieht ja genau wie Feuer aus!« Wer ist denn da, der dem Himmel antworten könnte? Eine Seele: es ist vollbracht: es geschieht. Krank vom Phantasieren, vom Argumentieren, vom bedeutungsvollen Schweigen. Es geschieht in alle Ewigkeit. Täglich rufen sie, rufen einander. Lippen, jedem Anstand zum Trotz gezwungen, sich der Gehirne zu bedienen. Verdächte und falsche Schwüre – oh, die falsche­ sten von allen! Ja, der Morgen endet! Oh, und die Nächte – die Nächte quälen und erregen. Eine schändliche Begierde erfüllt uns. Dann nagen und knabbern wir am scheußlichsten Unflat. Es verflüchtigt sich, wie vom Wind verweht … aber es weht kein Wind. Es windet sich die kalten, dunklen Straßen hinunter. (Das Pflaster brodelt vor Hitze.) Sie flüchten brüllend hin und her auf goldenen Straßen, dem ge­ wölbten Horizont entgegen. Eine Sinnestäuschung! Der Dschungel in uns, der Dschungel der Arterien, aus dem der Geist hervorbricht. Die Verzauberung stürzt in sich zusam­ men, verendet mit einem lauten Niesen. Die Jungs warten, einer neben dem andern, aufs Sterben, murrend, geduldig. Ihr Blut dringt in meine Adern. Schluchten, aus denen der Geist ent­ weicht wie ein vollgefressener Kondor. Wachtposten dieser Gefängniswelt; Truppen, die vorpreschen, um (vorzugsweise) jedem Schrecken ins Auge zu sehen. Wovon Luzifer flüstert, manchmal am Morgen. 138

Die Sünde des Todes verschont die Söhne Davids. Die Hoff­ nung ist ein Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel. Eine Urweltwildnis aus Inselnächten. Der Anblick von Zellsaft. Die Hölle wächst freudlos aus den Hoden der Sterbenden. (Ein Flü­ stern: Oh, die geilen Dickichte des Todes!) O Mephistopheles! Die Todeslager: fett, gequollen, abenteuerlich blühendes Pflanzenwerk. Wurzeln, versenkt in den Boden, der nach dem Plan des Allmächtigen bereitet ist. (Nur Er hat die Macht dazu.) Gott? Gott ist unser V – er. Und hier, zwischen schwimmen­ den Blumen, die Organisationsprinzipien des Geistes. Sie, Vö­ gel von fremder Art, existieren zwischen Verhalten und Beloh­ nung. Im Seichten stehend, auf etwas Falsches blickend, mit leicht schräggestellten Augen, wie auf einem alten Holzschnitt. »Man wird euch mit Bambusstöcken züchtigen«, sagt er. Tut, wie euch befohlen wird … Er fühlte sein Herz pochen gegen den Gott, der dieses Lager geplant hatte. Prediger Salomo *

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Meine Eingeweide werden zertreten wie Kot auf der Straße. Meine Gliedmaßen verformen sich und werden lahm. Ich höre hastende Schritte, hin und her, auf und ab! »Ich schluckte eine ungeheure Dosis …!« Entsetzliche Geräusche gleiten wie »Fische« an mir vorbei. Dies ist die Hölle, die ewige Verdammnis. Er glaubte, Liebes­ dämonen zu hören, rhythmisch hervorgestoßene Sätze: Über den Ursprung der Existenz aller Dinge. Er hielt ein, verloren in Dünsten, die seinen Sinn bedrängten, versuchte zu denken: Also doch! Wir existieren! Gottes Liebe endet nicht dort, wo die Flüsse enden. Die Kruste weicht auf. Die Flagge sinkt, dem hö­ heren Plan gehorchend. Hör auf zu existieren; geh leise aus die­ sem Leben. Was tut not? Wir werden Gold machen, Heilmittel erfinden, 139

Eide schwören. Wir werden von den drei Meningen träumen. O Pia mater, Schoß der Natur, laß dir unsere Hyperdulie gefal­ len! (Der Stein der Weisen wird durch Rektifikation gefunden – ein unhörbarer, verstohlener Vorgang. Vitriol tröpfelt in den After der Erde.) *

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Die Parabel von Sonne und Mond Der König erscheint ohne Begleitung und dringt ins Paren­ chym ein. Danach nähert sich mir kein Mensch mehr, ausge­ nommen der Wärter R. M. ein bescheidener Mann. Der Tau der Pia befeuchtet es, löst Schichten zerstampften Goldes auf. Er gibt es den giftigen Pilzen. Er entledigt sich seiner Haut. Es steht geschrieben: Ich bin Saturn, der Herr. Das Hautgewebe der Sünde. Saturn nimmt es und taumelt. Sobald er es empfan­ gen hat, geht er in Materie über. O dieser Sturz! Und seine ab­ gefallene Nase: die samtigen Flügel, die aufgeblähten Nüstern. Sei’s drum! Jupiter behält sie zwanzig Tage lang. Der dritte Geliebte ist der Mond. Geliebtes Leben. Er behält die Nase zwanzig Tage lang. Drinnen ist die ganze Sippschaft. Verwandte Mikroben, weiß wie Salzblumen. Und so steigt, liebevoll, der Geist in einem schönen weißen Hemd herab. Wir blicken in den Abgrund seiner Nüstern. Einen Tag weniger als vierzig, und manchmal vierzig Tage, aber vielleicht ist Er vierzig. Seine Sonne ist gelb. Dann kommt eine Sonne von herrlichster Schönheit. Siehe (Weisheit): Heil! Ein Land, wo das Gutsein nicht von dumpfem Überfluß abhängt. Isenheim! Durch seinen Abglanz wird diese Umgebung vertrauter als durch Geräusche oder Entfernungen. Ein Cello! Die haarigen Schäfte der Welt bannen die Nacht. Es beginnt. Die Sonne ist’s, die fremden Tönen Harmonie verleiht, wenn auch das Jahr vom Jahre singt. Laßt eure (Runen) 140

nie in trübe Gewässer gleiten, wo kein Leben ist. Vernichter! Sie haben von der »Milch« drinnen im Park getrunken (dem Park Gottes), als sie zwischen Verharren und Selbsterkenntnis wählen mußten. Die geflügelten Drachen werden nicht mehr schuppenäugig sein. Klagende, klagende Stimmen. Wir kommen jetzt zu Artikel 3: »Erstes Argument: Es scheint, als habe (Gott) dieses schreck­ liche wuchernde Grün nie erblickt. Wir werden in Zweifel ge­ stürzt durch Augustinus’ Behauptung, daß (Gott) eine Strecke Weges in Begleitung eines Aussätzigen zurückgelegt habe, ge­ gen den Sein »Gift« nichts ausrichten konnte. Frage: Was sollen wir tun, wenn Er erstickt?« »Zweites Argument: Kraft seiner Frömmigkeit, die den Zweifel besiegt hat, ist einer der Bösen gut. Hier ist niemand (und hier ist jemand), der uns Negerlieder einflüstert. Der Ur­ sprung der Frömmigkeit. Der reine Tor, der sagt: ›Das Böse sei mein Gott.‹ Oder im Ring. (›Nach Gold nur sollt ihr noch gie­ ren.‹)« »Drittes Argument: Wenn (Gott) zu Recht zu lästern wäre, würde er dann die (ihm so großzügig dargebotenen) Geschenke so sehr lieben? Würde er Anbetung fordern? Mit Korruption ist das nicht zu erklären, denn Er bewirkt, daß ein Ding das andere hervorbringt. Non placet! Der Körper eines ›Schweines‹ kann gar nichts vernichten. Frage?« »Ich werde antworten. Einige haben den Pinsel in trübes Wasser getaucht. Das muß zugegeben werden. Doch wie sich zwangsläufig erweist, ist Er es, der auf mich speit. (Täglich.) Dünne goldne Schorfschichten werden entfernt, aber Sein We­ sen wandelt sich nicht. Und wie steht’s mit uns? Ich kenne die Osmose, ich weiß, daß der Zellsaft mit den ›Rosinen der Sym­ 141

bolik‹ versüßt wird. Sie brechen in mich ein und bahnen den Weg für die doldenblütigen Fesseln, die (Gott) geschaffen hat. Siehe – die Abgründe und Fallgruben gefallen dem Herrn. Er behält es vierzig Tage und vierzig Nächte. Ich bin ER SELBST. Sie hatten ein Recht auf Eden, aber Er durfte es ihnen nicht ge­ ben.« Komm’ und sieh: – das Rankenwerk inneren Erlebens!

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HIMMLISCHE LABSAL Unerträgliches Vorwort! Daß er nichts mit einem Schlag vernichten kann! Das Warten vor dem Beginn des Nicht-Seins. Der stachelschwänzige Skorpion kann, wie Meister Dürer uns gezeigt hat, nichts vernichten. Kommt denn, ihr kleinen Zarten – beginnt wieder zu schwimmen! Verscharrt euch Eingang in meinen Blutkreislauf! Ach, wie schön ich jetzt brenne! Vorwärts, meine Gäste, durchdringt alle meine Talente! Jetzt aber lausche und vernimm der Geißelschwärmer unter­ sichtig winzige Leiden. Ich würde meine Lampen und mein Öl nicht verschwenden. Ich würde mir’s wohl sein lassen wie die »Toten«. Bleiche Venus, Pia mater, nimm diese wenigen Spirochäten gnädig an! Weinend erblickte ich eine Satanserscheinung aus »Gold« – fascinariorum. Metall der Osmose; und dennoch glaubt man irgendwie an seine magische Kraft. (Er fordert dich auf, zu schweigen.) Pulsierend stieg die Liquorsäule der Gottesläste­ rung in seinem Rückenmark hoch, das rasch zersetzt wurde. Der Eiter ist schwer zu extrahieren. Wie schmutzig ich geworden bin! Die Läuse beißen mich. 142

Der Schweinegott, Liebe, der solchen Kreaturen Leben verleiht, entfernt die Leprakrätze. Wahrheit: Unwahrheit. Kann er Seine Gnade »annihilieren«? Nein, und die Wasserwege auch nicht. Aber wie gesagt, solches Zellgewebe auf einem Misthaufen steht in eklatantem Widerspruch zum katholischen Glauben. Der Weg der Pilger führte über eine »Straße«. Aus Psalm 135,6 ist zu entnehmen, daß Sein ewiger Zorn mit gleichmäßi­ ger Flamme brennt. Das lehrt auch A–: siehe seine Abhandlung De annihilatione. »Alles was Er will, das tut Er.« Das »Nichts« ist hier der (höchstpersönliche) Beweggrund. Ursprung und Zweck Seines Handelns. Mächtiges Labyrinth, Anastomose, Ur-Wald des wahren Seins, das wir »Herzblut« nennen. Schwer senkt er sich nieder auf alles, das dem »Nicht-Sein« zuneigt; er senkt sich nieder, und neben ihm lauert das Schreckliche, das aus dem Nichts ge­ boren ist und im Jetzt-und-Hier wohnt. Dies ist der milchige Geist, dem wir unsere Fragen stellen. Die Sphynx blinzelt ihm zu. Sein Garten ist bereit, sie aber verschließt sich. Und dann wieder. Es ist gewaltig, doch ohne die üblichen Merkmale. Unbe­ schadet der Untadeligkeit des Schöpfers aller Dinge, könnte man es als Schneckenschleim bezeichnen. Wir müssen es wa­ gen, tiefer einzudringen, um hinter Gottes Geschlecht zu den »Vätern« (vgl. Faust) zu gelangen. Und unbeschadet seiner haarigen Handflächen bersten wir vor Haß und Wut. Wir zeigen ihm unsere Verachtung. Flora, Wasserwege, Zuckungen, Entnervung. Das Grüne spiegelt das Werk des Grausamsten wider (Gott). Seine Macht läßt die Wurzeln verkalken. Er fügt ihre unförmigen Schnäbel wieder zusammen. O Marionette des Bösen, vernichte! Ver­ nichte alles und uns. Zerreiß mich in Fetzen. Faulige Fische in giftigen Netzen. 143

Dreimal gesegnet sei die (Ursache). Vernichtungswut der Schwärme von lebenden Korkenziehern. Trunken vor Durst in deutschen Landen, unter den jubelnden Flagellanten … Büßerzünfte ziehen zum Sühnefest. Weil, wie A– sagt, Gott alt geworden ist, wandeln sich die Dinge. Er zieht nur noch Nieten. Ist er gut? Nein, er tanzt. Wenn es Ihm gefiele, würde er Ursache und Bewegung vernichten, Ereignis und Folge … Der Büßer. Es handelt sich um den Proliferationsvorgang. Ihr habt da den faulenden Lumbaisack – auf daß Ihr zur Erkenntnis »Gottes« gelangt! Dann greift Er mit dem schmutzigen, runzligen Finger ins Cerebrum, und – Gra netiglluk ende firseiglie blears. Gra netiglluk ende firsei­ glie blears. (Gott) 1. Die Tatsachen also. Haast hat gedroht, er würde mich, falls ich mich nicht auf Tatsachen, reine Tatsachen und nichts als Tatsachen beschränkte, vom Speisesaal und von der Bibliothek aussperren. Auf die Bibliothek könnte ich verzichten. 2. Ich habe mich allerdings entschieden geweigert, datierte Ta­ gebuchaufzeichnungen zu machen. Obwohl meine Tage gezählt sind, will ich nicht der Helfershelfer dessen sein, der sie gezählt hat.

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3.

Mir geht es viel schlechter. Ich habe stechende Schmerzen in der Leistengegend und in den Gelenken. Ich erbreche mich oft nach den Mahlzeiten. Ich blute aus Mund und Nase. Meine Au­ gen schmerzen, und seit einigen Tagen läßt meine Sehkraft nach. Ich muß eine Brille tragen. Außerdem werde ich allmäh­ lich kahl, aber ich bin nicht sicher, daß daran das Pallidin schuld ist. Ich nehme an, daß ich klüger geworden bin. Aber ich fühle mich nicht klüger. Ich fühle mich abwechselnd träge und auf­ gekratzt, manisch und depressiv, heiß und kalt. Ich fühle mich abscheulich. Aber in Dr. Busks Büro (sie selbst benützt es nicht mehr) habe ich bei psychometrischen Tests Erstaunliches gelei­ stet. 4. Dr. Busk arbeitet nicht mehr im Lager Archimedes. Man sieht sie überhaupt nicht mehr. Seit dem Abend, als Mordecai starb, ist sie nicht mehr in Erscheinung getreten. Ich habe Haast gefragt, warum sie verschwunden ist, aber er hat mit einem Ple­ onasmus geantwortet: »Sie ist weg, weil sie weg ist.« 5. Alle Gefangenen, von denen ich bisher berichtet habe, sind tot. Als Letzter ist Barry Meade gestorben, der es fast zehn Monate lang durchhielt. Er verlor nie den Humor und lachte sich zu Tode, als er die letzten Worte berühmter Männer las. Kurz nach seinem Tod schrieb ich die erste jener drei Passagen in mein Tagebuch, die Haast so bekümmert haben und ihn schließlich zu der ener­ gischen Forderung veranlaßten, ich solle Tatsachen berichten. 145

6. »Was ist eine Tatsache?« fragte ich ihn. »Eine Tatsache ist, was sich ereignet. Dinge, von denen Sie früher geschrieben haben – die Leute hier, und das, was Sie über diese Leute denken.« »Ich denke gar nicht über diese Leute nach. Nicht über sie! Ich will es nicht.« »Verdammt, Sacchetti, Sie wissen genau, was ich meine! Schreiben Sie etwas, das ich verstehe! Nicht diesen … diesen … Das Zeug, das Sie schreiben, ist eindeutig antireligiös. Ich bin kein religiöser Mensch, aber das … Sie gehen zu weit! Es ist antireligiös, und ich verstehe kein Wort von dem Zeug. Entwe­ der Sie schreiben jetzt wieder ein vernünftiges, verständliches Tagebuch, oder Sie können mir gestohlen bleiben! Haben Sie verstanden? Sie können mir gestohlen bleiben!« »Skilliman will mich wohl wegbringen lassen?« »Er will sie umbringen lassen. Weil Sie einen verderblichen Einfluß ausüben. Sie können wohl kaum bestreiten, daß das stimmt.« »Und was nützt Ihnen mein Tagebuch? Warum wollen Sie mich hierbehalten? Skilliman will mich nicht. Seine Schäfchen wollen nicht von mir verdorben werden. Ich verlange nichts als einen Krug Wein, einen Laib Brot und ein Buch.« Das hätte ich nicht sagen sollen, denn damit lieferte ich Haast ein Druckmittel. Trotz gesteigerter Gehirntätigkeit bin ich eben immer noch die gleiche Ratte, die in der gleichen Box auf den gleichen Hebel drückt. 7. Haast hat sich verändert. Seit dem großen Fiasko ist er gelas­ 146

sener geworden. Die aufgesetzte Jungenhaftigkeit, die so kenn­ zeichnend ist für Amerikaner in leitender Stellung, ist von ihm gewichen, und übrig geblieben ist das Wrack eines Stoikers. Er sitzt stundenlang am Schreibtisch und starrt ins Leere. Was sieht er vor sich? Zweifellos seinen eigenen Tod, an den er vor­ her nicht glauben wollte. 8. Das über Haast weiß ich von den Wärtern. Sie zählen mich jetzt zur ersten Garnitur. Sie machen mir vertrauliche Mitteilun­ gen. Emsig fühlt sich bei der Ausübung seiner Pflichten nicht wohl. Er hat den Verdacht, daß hier nicht immer das Rechte geschieht. Wie Hans in meinem Stück ist er ein guter Katholik. 9. Auschwitz ist veröffentlicht worden. Seit das Stück fertig ist, halte ich es abwechselnd für wertlos, ja übel, und für hervorra­ gend (wie damals im Schaffensrausch!). In einem solchen Mo­ ment der Begeisterung sandte ich es mit Haasts Erlaubnis an Youngerman von »Dial-Tone«, der den halben Inhalt der druck­ fertigen Nummer opferte, um mein Stück zu bringen. Schrieb mir einen sehr freundlichen Brief, berichtete von Andrea und anderen. Sie hatten die schlimmsten Befürchtungen, da alle Briefe, die sie mir nach Springfield schrieben, mit dem Stempel UNZUSTELLBAR zurückkamen. Als sie telefonisch anfragten, sagte man ihnen nur: »Mr. Sacchetti ist nicht mehr hier.« Einige kürzere Sachen wurden ebenfalls gedruckt, allerdings nichts von meinen Fieberphantasien, da die DechiffrierComputer des B.S.A. ständig mit BEDEUTUNG UNGEWISS antworten. Haast ist also nicht der einzige.

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10.

St. Denis ist der Schutzpatron der Syphilitiker – und der Stadt Paris. Das ist eine Tatsache. 11. Was ist eine Tatsache? Diese Frage ist ernst gemeint. Wenn 10. eine Tatsache ist, dann deshalb, weil sich alle einig sind, daß St. Denis der Schutzpatron der Syphilitiker ist. Tatsache durch Übereinstimmung. Äpfel fallen zu Boden, was sich jeder­ zeit durch Demonstrationen beweisen läßt. Tatsache durch Be­ weis. Ich fürchte allerdings, daß Haast dergleichen Tatsachen nicht von mir erwartet. Über etwas zu berichten, worüber sich alle einig sind, wäre zwecklos. Und Tatsachen, die beweisbar sind und gleichzeitig Neuigkeitswert haben, sind so selten, daß die Entdeckung einer einzigen die lebenslange Suche danach lohnt. (Aber nicht in meinem Fall!) Was bleibt also übrig? Dichtung – die inneren Tatsachen – meine Tatsachen. Genau das habe ich ihm bereits geboten. In gutem Glauben und vollem Ernst. Was also wollen Sie haben? Lügen? Halbdichtung aus Halbwahrheiten? 12. Haast schreibt mir: »Klare Antworten auf klare Fragen. H.H.« Also bitte, fragen Sie! 13. Haast fordert mich auf, mehr über Skilliman zu schreiben. Zweifellos weiß H.H. daß mir jedes andere Thema lieber wäre. 148

Die Fakten also. Er ist Anfang fünfzig, von wenig einneh­ mendem Aussehen und beträchtlicher natürlicher Intelligenz. Er ist Atomphysiker, einer von denen, die Liberale wie ich am liebsten für Deutsche halten möchten. In Wirklichkeit ist dieser Typ international. Vor ungefähr fünf Jahren war Skilliman in ziemlich wichtiger Position für die Atomenergie-Kommission tätig. Dort entwickelte er die Theorie, daß Atomversuche ge­ heimgehalten werden könnten, falls sie in speziell konstruierten Eishöhlen stattfänden. Damals war gerade wieder ein Teststopp vereinbart worden. Die Versuche wurden nach Skillimans Plan durchgeführt – und entdeckt. Von Rußland, China, Frankreich, Israel und (Schmach und Schande!) von Argentinien. Es stellte sich heraus, daß Skillimans Eishöhlen die Detonation nicht dämpften, sondern verstärkten. Dieser Irrtum löste die jüngste und katastrophalste Testserie aus und kostete Skilliman seinen Job. Er fand sehr rasch einen neuen – in derselben Gesellschaft, in der Haast die F&E-Abteilung leitete. Obwohl die Sicherheits­ vorschriften denen des Vatikans nicht nachstanden, begannen damals unter den leitenden Angestellten Gerüchte über das Lager Archimedes zu kursieren. Skilliman bestand auf genaueren Informationen, wurde abschlägig beschieden, bohrte aber so lange weiter, bis man sich bereit erklärte, ihn in diese besondere Art von Greueltaten einzuweihen, vorausgesetzt, daß er im Lager wohnen würde. Bei seiner Ankunft waren Meade und ich die einzigen überlebenden Gefangenen. Sobald er über die Wirkung des Pallidins Bescheid wußte, bestand er darauf, es an sich selbst auszuprobieren. 14. Eine interessante Tatsache aus der Vergangenheit, die in die­ sem Zusammenhang von Bedeutung ist. 149

Aurias-Turenne, ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, entwickelte die Theorie, daß Schanker und Syphilis ein und dieselbe Krankheit seien und daß man sich als Schutzmaßnahme der »Syphilisierung« bedienen müsse. Dadurch würde die Heilung beschleunigt und die Möglichkeit des Rückfalls oder der erneuten Ansteckung ausgeschaltet. Bei Aurias-Turennes Tod im Jahr 1878 stellte man fest, daß die Leiche mit Narben bedeckt war: Er hatte seine »Syphilisierungs«-Methode an sich selbst aus­ probiert, d.h. er hatte syphilitischen Eiter in offene Wunden seines Körpers eingeführt. 15. Durch Skillimans Initiative ist das Experiment in seine zweite Phase eingetreten. Jetzt erst ist der Punkt erreicht, auf den man von Anfang an hingearbeitet hat. Jetzt kann man mit den ver­ schiedenen Forschungen im apokalyptischen Bereich dessen, was wir »reine Wissenschaft« nennen, beginnen. Er hat zwölf Helfer mitgebracht, die er als »Holzköpfe« bezeichnet (in einem so grandios verächtlichen Ton, daß selbst seine Opfer ihm ihre Bewunderung nicht versagen können). Es sind einstige Studenten oder Assistenten, die sich freiwillig für den Pallidin-Test gemeldet haben. So begierig sind wir darauf, die höchsten Aufschwünge des Geistes zu erleben – wir, die wir diesseits des Jordans einhalten! Ich bin froh, daß man mich nicht in Versuchung geführt hat. Ob ich ihr erlegen wäre? Auf einem hohen Berg inmitten endlos sich dehnender Rei­ che aus Gold … Noch jetzt kann ich die Stimme des Verführers hören: »Alle diese Macht will ich dir geben.« Dichtung. Schluß damit!

150

16.

Eine andere Tatsache also, und sogar eine mit Seltenheits­ wert. Um herauszufinden, ob es sich in allen auftretenden Fällen um ein und dieselbe Geschlechtskrankheit handelte (man ver­ wechselte damals den Tripper mit der Syphilis), injizierte Benjamin Bell, ein Edinburgher Wissenschaftler, im Jahre 1793 seinen Studenten den Krankheitserreger. Ein vorsichtigerer, aber keineswegs sympathischerer Mensch als Aurias-Turenne. 17. Mitteilung von H.H.: »Warum zum Teufel befassen Sie sich mit Aurias-Tureen?« Außerdem will er wissen, was »diesseits des Jordans« zu bedeuten hat. Auf Aurias-Turenne (wie auch auf Dr. Bell) habe ich hinge­ wiesen, weil er offenbar von dem gleichen faustischen Drang nach Wissen um jeden Preis erfüllt war, den wir auch an unse­ rem Dr. Skilliman beobachten können. Faust war bereit, dem Himmel abzusagen; Dr. Skilliman, der wohl kaum an den Himmel glaubt, ist bereit, einen noch höheren Preis zu zahlen: sein Leben auf Erden. Und das alles, um einen pathologischen Zustand kennenzulernen! In A-T.s Fall: Syphilis, in Skillimans Fall: Genialität. Was den Jordan betrifft, verweise ich Sie auf das Fünfte Buch Mose (Kap. 34) und auf Josua (Kap. 1). 18. Etwas über Skillimans Charakter. Er beneidet andere um ihre Berühmtheit. Jedesmal, wenn er über Persönlichkeiten des 151

öffentlichen Lebens spricht, denen er irgendwann einmal be­ gegnet ist, merkt man sofort, daß er ihnen ihre Fähigkeiten und Leistungen mißgönnt. Nobelpreisträger machen ihn rasend. Die Lektüre einer wissenschaftlichen Studie aus seinem eigenen Fachgebiet ist ihm nahezu unerträglich, weil ein anderer sie geschrieben hat. Je mehr Bewunderung ihm wertvolle Erkennt­ nisse abnötigen, desto wütender knirscht er (insgeheim) mit den Zähnen. Seit die Droge auf ihn zu wirken begonnen hat (vor un­ gefähr sechs Wochen wurde sie injiziert), hebt sich seine Stim­ mung zusehends. Er erinnert an einen Bergsteiger, der in freudi­ ger Erregung die Markierungen hinter sich läßt, die seine Vor­ gänger dort angebracht haben, wo sie ihren Aufstieg abbrachen. Ich kann mir vorstellen, wie er ihre Namen aufzählt: »Jetzt hab’ ich Van Allen eingeholt! Jetzt geht’s an Heisenberg vorbei!« 19. Skillimans Charisma. Dies ist wohl oder übel das Zeitalter des Teamworks. Eine Generation später wird sich nach Skillimans Überzeugung die Kybernetik so weit entwickelt haben, daß das einsame Genie wieder in Mode kommen wird – vorausgesetzt, daß man ihm genügend Geld für die Anschaffung einer ganzen Batterie von automatisch programmierten Computern zur Verfügung stellt. Skilliman mag seine Mitmenschen nicht, aber da er sie braucht, hat er gelernt, mit ihnen umzugehen – ungefähr so, wie ich mir einst, widerstrebend, das Autofahren beigebracht habe. Ich habe das Gefühl, daß er sich in seinen »zwischenmenschlichen Beziehungen« auf ein Lehrbuch der Psychologie stützt. Wenn er einen seiner Untergebenen wütend beschimpft, denkt er wahr­ scheinlich: »Ein wenig negative Anspornung kann nie schaden!« Wenn er jemanden lobt, denkt er bestimmt an den Belohnungs­ effekt. 152

Die beste Belohnung, die er zu bieten hat, ist die Chance, sich mit ihm unterhalten zu dürfen. Die Kunst, andere niederzu­ schmettern, beherrscht er wie kein zweiter. Seine eigentliche Stärke liegt aber darin, daß er unweigerlich die Schwächen anderer erkennt. Seine zwölf Marionetten hält er deshalb so souverän in Schach, weil er sich sorgfältig Leute ausgesucht hat, die manipuliert werden wollen. Jeder Diktator weiß, daß an solchen Typen nie Mangel herrscht. 20. Offenbar habe ich Haast stärker beeindruckt, als ich jemals für möglich gehalten habe. Seine letzte Mitteilung erinnert mich an Ablehnungsschreiben von Zeitschriftenredaktionen: »Ihr Porträt Skillimans ist nicht konkret genug. Wie sieht er aus? Wie spricht er? Was für ein Mensch ist er?« Wenn ich’s nicht besser wüßte, könnte ich fast glauben, daß auch Haast Pallidin genommen hat. 21. Also: Wie sieht er aus? Obwohl eigentlich ein schlanker Typ, ist er sich selbst zum Trotz dick. Hätte er mehr als zwei Arme und zwei Beine, könnte man ihn mit einer Spinne vergleichen: ein aufgeblasener Körper und dünne Gliedmaßen. Seine Kahlheit versucht er vergeblich zu verbergen, indem er dünne seitliche Haarsträhnen quer über seine glänzende Glatze kämmt. Blaugesprenkelte, durch dicke Brillengläser vergrößerte Augen. Verkümmerte Ohrläppchen. Ich ertappe mich immer wieder dabei, daß ich sie anstarre – auch weil ich weiß, daß es ihn ärgert. Im Grund wirkt er nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, eher wie ein Butterkloß, von dem man Scheiben abschneiden kann, ohne daß man den 153

wahren Skilliman, den aus Metall, im geringsten beschädigt. Scheußlicher Körpergeruch (als sei die Butter ranzig geworden). Schlimmer Raucherhusten. Ein hartnäckiger Pickel unten am Kinn, den er als »Leberfleck« bezeichnet. 22. Wie spricht er? Nasal: Texas, gemildert durch Kalifornien. Das Näseln ver­ stärkt sich, wenn er mit mir spricht. Ich glaube, er hält mich für einen Vertreter des Ostküsten-Establishments, jener bösen Clique von Liberalen, die ihm vor vielen Jahren Stipendien für Harvard und Swarthmore verweigerten. Aber eigentlich wollten Sie fragen: Was spricht er?, nicht wahr? Ich würde seine Äußerungen in verschiedene Kategorien unterteilen: A. Äußerungen, mit denen er sein Interesse an der eigenen Arbeit oder an der Arbeit anderer ausdrückt. (Beispiel: »Wir müssen uns von der veralteten Vorstellung des Bombenabwer­ fens freimachen, d. h. von der Vorstellung der einzelnen ›Bombe‹. Statt dessen sollten wir zur umfassenderen Vorstellung der ›Bombigkeit‹ als einer Art Aura gelangen. Ich stelle mir das manchmal wie einen Sonnenaufgang vor.«) B. Äußerungen, mit denen er seine Verachtung des Schönen ausdrückt und zugleich – ziemlich offen – sein Bestreben, es zu vernichten, wo immer es ihm begegnet. (Das beste Beispiel dafür ist der Ausspruch des Nazifunktionärs Hanns Johst, den er, auf eine Holztafel eingebrannt, über seinem Schreibtisch hängen hat: »Wenn ich das Wort ›Kultur‹ höre, entsichere ich meine Revolver«.)

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C. Äußerungen, mit denen er seine Verachtung gegenüber Kol­ legen und anderen ausdrückt. (Skillimans Meinung über Haast habe ich bereits früher zitiert. Hinter dem Rücken seiner loyalsten »Holzköpfe« schimpft er über sie – und wenn sie nicht spuren, sagt er ihnen die gleichen Beschimpfungen ins Gesicht. Als Schipansky, ein junger Programmierer, einmal versagt hatte und sich mit den Worten entschuldigte: »Ich hab’ alles ver­ sucht, wirklich alles!«, antwortete Skilliman: »Aber es hat sich einfach nicht hochkitzeln lassen, was?« An sich ein harmloser Scherz, aber in Schipanskys Fall wahrscheinlich nur allzu wahr. Wenn Skilliman überhaupt einen tragischen Charakterzug hat, dann ist es, wie bei de Sade, das Unvermögen, dem Drang, an­ dere zu verletzen, zu widerstehen.) D. Äußerungen, mit denen er seine Selbstverachtung und seinen Haß auf alles Fleischliche ausdrückt. (Beispiel: ein Witz, den er über die Wirkung des Pallidins auf den »Rube-GoldbergMechanismus des Soma« machte. Ein besseres Beispiel: Seine Vorliebe für skatologische Ausdrücke. Einmal saßen im Speise­ saal alle auf Kohlen, weil er behauptete, er habe Essen und Scheißen verwechselt.) E. Äußerungen und Ideen, die ihm seine ungezügelte und weit­ gespannte Intelligenz eingibt. So sehr ich mich auch bemühe – es gelingt mir nicht, alle seine Äußerungen zu seinen Ungun­ sten auszulegen. (Ein letztes Beispiel, ohne Hintergedanken: Er versuchte, den eigenartigen Reiz zu erklären, den natürliche Seen, Stauseen und andere Binnengewässer auf den Betrachter ausüben. Er erklärte, daß die Natur uns nur hier die Idee der euklidischen Fläche vermittle. Das bedeute die endgültige Un­ terwerfung unter das Gesetz der Schwerkraft, das ständig auf unsere Zellen einwirke. In diesem Zusammenhang sprach er davon, daß die große Leistung der Architektur darin bestehe, 155

daß sie die Idee der euklidischen Fläche übernommen und auf die Vertikale übertragen habe. Eine Mauer sei ein faszinieren­ des Phänomen, weil sie nichts anderes als eine … senkrechte Wasserfläche sei.) 23. Was für ein Mensch ist er? Ich fürchte, daß ich hier den Bereich des Tatsächlichen end­ gültig verlassen muß. In meinem bisherigen Bericht über Skil­ liman hat ohnehin nicht das Faktische, sondern seine Interpreta­ tion vorgeherrscht – und sie war nicht gerade objektiv. Mir ist dieser Mensch so unsympathisch wie kaum jemand in meinem ganzen Leben. Ich würde sagen, daß ich ihn hasse, wenn es nicht unchristlich und unhöflich wäre. Ich sage also, daß er ein schlechter Mensch ist, und lasse es dabei bewenden. 24. Haasts Antwort: »Das genügt nicht.« Was wollen Sie eigent­ lich hören, H.H.? Ich habe bereits mehr Wörter an die bloße Beschreibung dieses Bastards verschwendet, als ich in diesem Tagebuch über irgend jemand sonst geschrieben habe. Wenn Sie wollen, daß ich meine Begegnungen mit ihm dramatisiere, müssen Sie ihn fragen, ob ich etwas mehr Zeit in seiner Gesell­ schaft verbringen darf. Er kann mich so wenig leiden wie ich ihn. Außer beim Abendessen im Speisesaal (die Küche hat übrigens sehr nachgelassen!) sehen wir uns kaum, und Gespräche führen wir noch seltener. Wollen Sie, daß ich Geschichten über Skilli­ man erfinde? Haben Sie Ihren Glauben an die Fakten schon verloren? Möchten Sie wirklich eine Geschichte haben?

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25. Mitteilung von H.H.: »Ist mir recht.« Er ist schamlos! Also gut – eine Geschichte: SKILLIMAN oder

Die Bevölkerungsexplosion

Eine Erzählung von

Louis Sacchetti

Obwohl das Baby strampelte, war es Skilliman gelungen, die Beine des Kleinen in die dafür vorgesehenen Löcher des Auto­ stühlchens zu stecken. Dabei erinnerte er sich an ein besonders schwieriges Holzklötzchen-Problem, das Schimpansen beim Intelligenztest lösen müssen. »Es gibt zu viele von diesen verdammten Dingern«, murmelte Skilliman. Mina stieg von rechts ins Auto und half ihm, den kleinen Bill, ihr viertes Kind, mit Sicherheitsgurten festzuschnallen. Die Gurte überkreuzten sich auf Bills Lätzchen, die Schnalle war unter dem Sitz, wo er nicht hinlangen konnte. »Zu viele was?« fragte sie gleichgültig. »Babys. Es gibt zu viele von diesen verdammten Babys.« »Natürlich. In China, nicht wahr?« Er lächelte seiner hochschwangeren Frau wohlwollend zu. Vom ersten Augenblick an hatte er sich von ihr angezogen ge­ fühlt, weil sie absolut nichts von dem verstand, was er sagte. Aber nicht ihre Unwissenheit gefiel ihm so gut (obwohl sie wirklich köstlich unwissend war), sondern ihre Art, weder von ihm noch von irgend etwas sonst Notiz zu nehmen, wenn es nicht ihren momentanen animalischen Bedürfnissen diente. Er nannte sie seine Jo. Eines Tages, so hoffte er, würde sie genau wie ihre Mutter 157

sein, die in Dachau lebte und aus der alles spezifisch Menschli­ che – Intelligenz, Nächstenliebe, Schönheit, Willenskraft – entwichen war, als hätte man irgendwo einen Stöpsel herausge­ zogen: die untote Frau Kirschmayer. »Mach die Tür zu!« sagte er. Sie machte die Tür zu. Er fuhr den roten Mercury aus der Garage, deren Tür sich au­ tomatisch schloß. Skilliman hatte die elektronische Anlage selbst entworfen. »Mina« nannte er seine bescheidene Erfindung. Als sie auf der Hauptstraße waren, wollte Mina automatisch das Radio anstellen. Er umklammerte ihr grobknochiges Handgelenk. »Ich will jetzt nicht Radio hören.« Die Hand mit dem protzigen Zirkonring wich zurück. »Ich wollte nur das Radio anstellen«, sagte Mina sanft. »Du bist ein Roboter.« Er beugte sich hinüber und küßte ihre weiche Wange. Sie lächelte. So schwierige Ausdrücke gehörten nicht zu ihrem Wortschatz. »Ich habe eine Theorie«, sagte er. »Ich glaube, daß die Waren­ knappheit nicht nur durch den Krieg zu erklären ist, wie es die Regierung uns gegenüber tut. Aber natürlich wird das Problem durch den Krieg noch gravierender.« »Gravierender?« wiederholte sie unsicher. Sie starrte auf die weißen Linien, die unter der Kühlerhaube verschwanden, immer schneller, bis sie schließlich wie eine einzige, unaufhörliche, nicht mehr so leuchtend weiße Linie erschienen. Er schaltete den Autopiloten ein, und die Geschwindigkeit steigerte sich. Der Wagen wechselte hinüber auf die stark be­ fahrene dritte Spur. »Nein, die Warenknappheit ist die unvermeidliche Folge der Bevölkerungsexplosion.« »Fang nicht wieder mit dem Grübeln an, Jimmy!« »Sie haben gedacht, daß sich das von selbst ausgleichen würde. Daß die Kurve S-förmig verlaufen würde.« 158

»Sie«, sagte Mina deprimiert, »wer ist ›sie‹?« »Riesman zum Beispiel. Aber sie haben sich getäuscht. Die Kurve steigt immer weiter. Exponential.« »Wirklich?« Sie hatte das vage Gefühl, daß er etwas an ihr auszusetzen hatte. »420 Millionen«, sagte er. »470 Millionen. 690 Millionen. 1,09 Milliarden. 2,5 Milliarden. 5 Milliarden. Und bald schon 10 Milliarden. Die Kurve schießt hoch wie eine RangerRakete.« »Bürokram«, dachte sie. »Wenn er bloß nicht immer den Bü­ rokram mit nach Hause brächte!« »Es ist eine gottverdammte Hyperbel!« »Jimmy, bitte!« »Entschuldige.« »Es ist wegen Billyboy. Er sollte solche Ausdrücke nicht von seinem eigenen Vater hören. Wirklich, Jimmy, du solltest dir über diese Dinge nicht so viel Sorgen machen. Im Fernsehen haben sie gesagt, daß der Wassermangel im nächsten Frühjahr behoben sein wird.« »Du weißt immer, wie du mich wieder in bessere Stimmung bringen kannst.« Er beugte sich über den Kopf des Babys zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuß. Billyboy begann zu schreien. »Kannst du ihn nicht zum Schweigen bringen?« fragte Skil­ liman nach einer Weile. Mina redete beruhigend auf ihren einzigen Sohn ein (die drei andern Sprößlinge waren Mädchen: Mina, Tina und Despina) und versuchte, seine wild fuchtelnden, flanellbedeckten Ärmchen zu tätscheln. Entmutigt zwang sie ihm schließlich eine gelbe Beruhigungstablette (für Kleinkinder bis zu zwei Jahren) in den Mund. »Es läuft einfach auf Malthus hinaus«, fuhr Skilliman fort. »Du und ich, wir vermehren uns in geometrischer Progression, während die uns zur Verfügung stehende Nahrungsmenge nur 159

nach dem Gesetz der arithmetischen Reihe zunimmt. Die Tech­ nologen geben sich alle Mühe, aber gegen den Fortpflanzungs­ trieb können sie nichts ausrichten.« »Sprichst du immer noch von den Babys in China?« »Dann hast du also doch zugehört!« sagte er überrascht. »Was die dort brauchen, ist ein Geburtenregelung, wie wir sie haben. Sie müssen sich an die Pille gewöhnen. Und an Homos. Stell dir vor, das soll jetzt bald gesetzlich erlaubt sein! Ich hab’s in den Nachrichten gehört. Was sagst du dazu?« »Vor zwanzig Jahren wäre das eine gute Idee gewesen. Aber jetzt kann die Kurve durch nichts mehr ausgeglichen werden. Das hat der große Computer im Massachusetts Institute of Technology ausgerechnet. Im Jahr 2003 werden 20 Milliarden Menschen auf der Erde leben, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und darauf bezieht sich meine Theorie.« Mina seufzte. »Erklär sie mir.« »Also, die richtigen Maßnahmen müssen zwei Vorausset­ zungen erfüllen: Sie müssen im richtigen Verhältnis zu dem zu lösenden Problem, also zu den heute lebenden 10 Milliarden Menschen, stehen, und sie müssen überall gleichzeitig durchge­ führt werden. Für Experimente wie etwa in Österreich, wo man zehntausend Frauen sterilisiert hat, ist jetzt keine Zeit mehr. Das nützt nämlich so gut wie nichts.« »Weißt du, daß eine meiner Schulkameradinnen sterilisiert wurde? Ida Strauss. Sie sagte, es hat nicht weh getan und sie hat genauso viel Spaß an … du weißt schon was … gehabt wie zu­ vor. Der einzige Unterschied war, daß sie nicht mehr … du weißt schon … geblutet hat.« »Willst du meine Theorie nicht wissen?« »Ich hab’ gedacht, du hast sie mir schon erklärt.« »Mir kam die Idee Anfang der sechziger Jahre, als ich eines Tages eine Luftschutzsirene hörte.« »Eine Luftschutzsirene?« 160

»Nun sag bloß nicht, daß du in Deutschland keine Sirenen gehört hast!« »Doch, doch. Als kleines Mädchen ständig. Jimmy, du wolltest doch zuerst zu Mohammeds Eisbar fahren!« »Du willst also unbedingt einen Eisbecher haben?« »Es ist die letzte Gelegenheit. Das Essen im Krankenhaus ist fürchterlich.« »Also gut.« Er dirigierte den Wagen auf die langsame Fahr­ spur, schaltete wieder auf Handsteuerung und bog in den Pas­ saic Boulevard ein. Mohammeds Eisbar lag in einer schmalen Seitenstraße, am obersten Punkt einer kurzen, steilen Steigung. Skilliman kannte den Laden aus seiner Kindheit; er gehörte zu den wenigen, die sich in den letzten dreißig Jahren unverändert erhalten hatten, wenn auch manchmal, aufgrund der Waren­ knappheit, das Eis nicht mehr ganz so hervorragend war. »Nehmen wir das Baby mit?« fragte sie. »Nein, es fühlt sich hier wohler«, sagte Skilliman. »Wir sind ja auch gleich zurück«, sagte sie. Seufzend hievte sie sich aus dem Wagen. Sie legte die Hand auf ihren dicken Bauch. »Es bewegt sich«, flüsterte sie. »Wird nicht mehr lang dauern«, sagte er. »Mach die Tür zu, Mina!« Sie machte die Tür zu. Er sah auf die Handbremse und dann auf Billyboy, der zufrieden das kleine orangefarbene Plastik­ lenkrad betrachtete, das sein Autostühlchen zierte. »Bis gleich, Schnucki«, flüsterte Skilliman seinem Sohn zu. Als sie gerade die Glastür des Ladens geöffnet hatten, schrie der Mann hinter der Theke: »Ist das Ihr Wagen? Ihr Wagen, Sir!« Ein Küchentuch aufgeregt schwenkend, deutete er auf den rollenden Mercury. »Was ist los?« Skilliman tat, als wüßte er es nicht. »Ihr Mercury!« schrie der Mann. 161

Der rote Mercury rollte im Leerlauf die schmale Seitenstraße hinunter und landete auf dem verkehrsreichen Passaic Boulevard. Ein Dodge rammte den rechten vorderen Kotflügel und schob sich über die Kühlerhaube. Ein Corvair, der hinter dem Dodge gefahren war, scherte nach links aus, krachte auf das Heck des Mercury und drückte es wie eine Ziehharmonika zusammen. Vor der Eisbar sagte Skilliman zu seiner Frau: »Ungefähr das habe ich gemeint.« »Ich versteh’ nicht.« »Als ich von der Lösung des Problems sprach.« Ende 26. Immer wieder läuft alles auf die eine, unweigerliche Tatsa­ che hinaus: die Tatsache des Todes. Wenn die Zeit doch kein so flüssiges Element wäre! Dann könnte man sie mit dem Verstand festhalten und zum Stillstand zwingen. Dann müßte der Engel seine ewigen Züge enthüllen! Aber mitten in solchen faustischen Momenten überwältigen mich die Schmerzen, und ich wünsche mir nur noch, die Zeit möge noch rascher verstreichen. Und so geht’s weiter, ein Ha­ sten hin und her, auf und ab, von heiß zu kalt, und dann wieder der Rückschlag. Ich weiß nicht, wie viele Tage oder Stunden vergangen sind, seit ich die kleine Geschichte für Haast geschrieben habe. Ich liege noch in der Krankenstation. Ich bin noch sehr krank. 27. Kurz nachdem ich die Geschichte über Skilliman beendet hatte, wurde es am schlimmsten. Ich hatte einen leichten Anfall, 162

in dessen Verlauf ich plötzlich nichts mehr sehen konnte, wohl eine Folge meiner Hysterie. Ich habe mir immer vorgestellt, daß ich, falls ich erblinden würde, Selbstmord begehen müßte. Wovon, wenn nicht vom Licht, soll sich der Geist nähren? Musik ist bestenfalls eine Art Suppe für Ästheten. Ich bin kein Milton und kein Joyce. Wie Youngerman einmal »gedichtet« hat: Das Auge ist mächtiger als das Ohr; das Auge kann sehen, das dumme Ohr kommt sich, nur weil’s hören kann, wichtig vor. Dazu möchte ich, mit einem Hoffnungsschimmer, folgendes beisteuern: Doch einer, der das Augenlicht verloren, wird anders denken über seine Ohren. Mir scheint, mein Freund, daß du nicht weißt, wie seltsam es steht um den menschlichen Geist. Ich bin zu krank zum Denken, zu krank, um irgend etwas zu tun. Ich glaube zu spüren, daß jeder Gedanke die Nähte meines schmerzenden Gehirns zu sprengen droht. Vielleicht sollten sie mir den Schädel aufbohren! 28. Der Haufen von Haast-Mitteilungen auf meinem Nachttisch ist wirklich imponierend! Entschuldigen Sie, H.H. daß ich das jetzt nicht lesen möchte. Ich verbringe die Zeit damit, den Wasserkrug oder die Webfäden der Bettwäsche anzustarren und mich nach Sonnenlicht zu sehnen. Oh, die gespannten Sinne des auf Genesung Hoffenden!

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29.

Haast hatte viele Einwände gegen Skilliman oder Die Bevöl­ kerungsexplosion. Vor allem wirft er mir verleumderische Ab­ sicht vor. H.H. hat tatsächlich die Mentalität eines Verlegers! Daß die Geschichte einige Wahrheiten enthält (Skilliman hat ein deutsches Schulmädchen namens Mina geheiratet; ihre Mutter lebt in Dachau; er hat vier Kinder), macht in Haasts Augen meinen Verstoß nur noch gravierender. (»Gravierender …?« wiederholt Haast unsicher.) Verehrter Kerkermeister, denken Sie bitte daran, daß Sie eine Geschichte haben wollten und daß ich sie nur schrieb, um meiner Behauptung, Skilliman sei ein schlechter Mensch, größeren Nach­ druck zu verleihen. Er ist der schlechteste, der mir je begegnet ist. Er sucht den Gral von Armageddon. Ein Mensch von solcher Lieblosigkeit müßte in den allertiefsten Kreis von Dantes Inferno verbannt werden, jenseits des flammenden Flusses, tiefer als die Selbstmörder, tiefer als die Zauberer, hinab zu den Verrätern. 30. Haast hat mich besucht. Irgend etwas scheint ihn zu bedrücken. Oft hält er mitten in einer seiner Platitüden inne und starrt in die plötzliche Stille, als fühlte er sich durch sie ausweglos einge­ schlossen. Was ist mit ihm los? Fühlt er sich schuldig? Nein, solche Empfindungen liegen H.H. noch immer fern. Vielleicht hat er nur Magenkrämpfe. (Dabei fällt mir ein, daß Eichmann einmal gesagt haben soll: »Mein Leben lang habe ich mich vor etwas gefürchtet, aber ich weiß nicht, wovor.«) Ich habe ihn scherzhaft gefragt, ob er sich vielleicht auch freiwillig mit Pallidin infiziert habe. Obwohl er versuchte, mir ebenso scherzhaft zu antworten, habe ich bemerkt, daß er mir 164

die Frage übel nahm. Kurz danach fragte er: »Wieso? Komme ich Ihnen klüger vor als früher?« »Etwas schon. Möchten Sie nicht gern klüger sein?« »Nein, bestimmt nicht!« 31. H.H. hat mir endlich gesagt, warum Aimée Busk nicht mehr im Lager A. arbeitet. Er hat sie nicht entlassen, sondern sie ist davongelaufen! »Ich kann einfach nicht verstehen, warum sie das getan hat«, jammerte er. »Als sie damals erfuhr, daß man sie für die Arbeit hier ausgewählt hatte, war sie begeistert. Ihr Gehalt wurde ver­ doppelt, und Wohnung und Essen kosteten sie nichts!« Ich wies darauf hin, daß das Leben in einem Gefängnis für die Aufseher ebenso bedrückend sein kann wie für die Gefan­ genen, aber Haast ließ sich nicht überzeugen. »Sie hätte jederzeit nach Denver fahren können, aber sie hat’s nie getan. Sie hat ihre Arbeit geliebt. Und deshalb kann ich einfach nicht verstehen, warum sie sie aufgegeben hat.« »Sie hat sie wahrscheinlich nicht ganz so geliebt, wie Sie an­ nehmen.« Haast seufzte. »Die Sicherheitsbestimmungen! Wir haben uns so bemüht, das Lager abzuschirmen, und jetzt passiert uns das! Weiß Gott, was sie vorhat! Vielleicht verkauft sie Informationen an China! Sind Sie sich klar darüber, was diese Hundesöhne mit dem Pallidin anstellen würden? Die sind doch völlig skrupellos! Die schrecken vor nichts zurück!« »Sie haben doch sicher versucht, Dr. Busk zu finden?« »Wir haben alles versucht. FBI, CIA. Bei der Polizei aller Bundesstaaten liegt die Personenbeschreibung vor. Und in allen großen Städten hat man private Detektivagenturen auf sie ge­ hetzt.« 165

»Sie könnten ihr Foto an Zeitungen und Fernsehstationen schicken.« Haast lachte nur. Fast hysterisch. »Also noch nicht die geringste Spur von ihr?« »Absolut nichts! In dreieinhalb Monaten – nichts! Ich kann vor lauter Aufregung nicht mehr schlafen. Sind Sie sich klar darüber, daß diese Person das Projekt vernichten kann?« »Wenn sie das in dreieinhalb Monaten nicht getan hat, be­ steht immerhin die Möglichkeit, daß sie es auch in Zukunft nicht tun wird. An eine ähnliche Hoffnung hat sich seinerzeit sicher auch Damokles geklammert.« »Wer?« »Ein alter Grieche.« Er verabschiedete sich mit einem vorwurfsvollen Blick, weil ich ihm einen griechischen Namen an den Kopf geworfen hatte. Was soll man inmitten einer Welt von Sorgen mit alten Grie­ chen anfangen? Wie verwundbar die Leute sind, die über diese Welt von Sorgen herrschen! Ich erinnere mich an das traurige Hundege­ sicht des alten Eisenhower und an die Empfindlichkeit Johnsons, dieser von Anfang an unglücklichen Figur. Ich bin heute wirklich in einer seltsamen Stimmung! Wenn ich so weitermache, werde ich auch noch König Charles bemit­ leiden. Und warum eigentlich nicht? 32. Jetzt flimmern die Wände wirklich! Und mein Atem ist kurz. In einem solchen Zustand weiß ich nicht, ob sich die Genialität oder die Krankheit meiner bemächtigt hat. Unentrinnbares Walten des Unsichtbaren!

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33. Es geht wieder aufwärts, oder sollte ich sagen abwärts? Seit einigen Tagen plane ich, eine kleine Aktualitätensamm­ lung zu gründen, im Stil von Ripley. Während meines letzten Aufenthalts in der Krankenstation habe ich einen Heißhunger nach Zeitungen entwickelt. Ich habe Ausschnitte gesammelt, eine ganze Mappe voll. Hier sind ein paar davon in wahlloser Folge: 34. Kaum zu glauben: Pfarrer Augustus Jacks, früher in Watts ansässig, erfreut sich in Los Angeles nach wie vor außergewöhnlicher Popularität. Die staatlichen Fernsehgesellschaften weigern sich noch immer, die »Rede an das weiße Gewissen« zu senden, die den früheren evangelischen Pfarrer über Nacht berühmt gemacht hat. Sie be­ gründen ihre Weigerung mit dem »aufrührerischen« Charakter dieser Rede. Trotzdem haben die meisten Amerikaner die Rede bereits gehört, entweder im Radio oder über örtliche, unabhän­ gige Fernsehstationen. Der Student der Universität von Mary­ land, der letzte Woche versuchte, Jacks’ Haus in Beverly Hills (Wert 90000 Dollar) in Brand zu stecken, hat Jacks’ Angebot, ihm einen Anwalt zur Verfügung zu stellen, angenommen, nachdem ihn der Negergeistliche in seiner Zelle im Kreisge­ fängnis von Los Angeles besucht hatte. 35. Wirklich passiert: Das »Trip-Trap« und andere Spielkasinos in Las Vegas haben bekanntgegeben, daß sie Blackjack und Poker nicht 167

mehr zulassen. Damit bestätigen sie die Gerüchte, sie seien durch unerhörte Gewinnserien schwer geschädigt worden. William Butler, Besitzer des »Trip-Trap«, erklärte, daß sei­ nen Angestellten keines der dabei benutzten Systeme bekannt sei. »Jeder Gewinner scheint nach einem anderen System zu spielen.« 36. Seltsam, aber wahr: Adrienne Leverkühn, die ostdeutsche Komponistin »harter« Musik, kehrte nach Aspen, Colorado, zurück, um sich vor Gericht zu verantworten. Mehrere Personen haben Klage gegen sie erho­ ben, weil, wie sie behaupten, die Uraufführung ihrer Weltraumfugen am 30. August dieses Jahres die direkte Ursache für kör­ perliche und geistige Schäden gewesen sei, die sie erlitten ha­ ben. Richard Sard, einer der Kläger, hat ausgesagt, die Musik habe seine beiden Trommelfelle zerrissen und seine unheilbare Taubheit bewirkt. 37. Im Alleingang: Will Saunders, Vizepräsident der Northwest Electronics Company und bereits als ihr nächster Präsident im Gespräch, zog sich sofort nach dem kürzlich erfolgten Splitting des Aktien­ kapitals aus dem Unternehmen zurück. Er gab seinen Entschluß bekannt, eine eigene Firma zu gründen, über deren Charakter er keine Angaben machen wollte. Er wies jedoch die im Wall Street Journal veröffentlichten Vermutungen nicht zurück, daß er im Besitz eines Patents für eine neue holographische Methode auf dem Gebiet des Films sei.

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38. Unsere verrückte Welt: Noch immer hat man den (oder die) Mörder von Alma und Clea Vaizey nicht entdeckt. Die Polizei von Minneapolis hat der Presse noch nicht alle Einzelheiten dieses bizarren und ab­ stoßenden Verbrechens bekanntgegeben. Es ist zu befürchten, daß sich als wahr erweisen wird, womit der Mörder in seinem »offenen Brief« an alle Zeitungen des Landes geprahlt hat: Niemand, so schrieb er, würde es jemals für möglich halten, auf welch raffinierte Weise er die Morde begangen habe. Inzwi­ schen haben mehrere Autoren von Kriminalromanen der Polizei ihre Mithilfe angeboten. 39. Spannender als ein Roman: Nachdem bereits drei Modezeitschriften Jerry Breens Traje-de­ luces, oder »Lichtanzug«, auf ihren Titelseiten gezeigt haben (und zwar Modelle für den Herrn und für die Dame), dürfte der Erfolg dieser Modeneuheit gesichert sein. Der »Lichtanzug« besteht aus einem durchsichtigen, phosphoreszierenden Gewebe, das entsprechend den Bewegungen oder der Stimmung des Trägers ständig wechselnde Muster aus mehr oder weniger hellem Licht zeigt. Bei bestimmten Gesten intimer Natur kann durch vorherige Programmierung eine »Verdunklung« eintre­ ten, während der der Träger des Anzugs ganz auf seine eigene Phantasie angewiesen ist. In einem Interview, das in Vogue erscheinen wird, erklärte Mr. Breen, er werde seinen Wohnsitz in Cheyenne, Wyoming, beibehalten, wo er seit vielen Jahren Kleidung im Western Look für die Firma I.W. Lyle entworfen hat, die jetzt auch den Traje-de-luces herstellt.

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40. Unglaublich, aber wahr: Die Mannschaft von SMU hat durch ihren überwältigenden 79:14-Sieg über Georgia ihre völlig unerwartete Gewinnserie fortgesetzt. Quarterback Antony Strether wurde von der begei­ sterten Menge im Triumphzug aus dem Stadion und durch die Stadt getragen. In diesem vierten Spiel der Saison entdeckten die Experten sieben neue Varianten in Strethers neuer, raffinierter »Backlash-Strategie«, wodurch sich die Zahl der jeweils ver­ schiedenartigen Backlash-Spiele im Repertoire von SMU auf 31 erhöht. Im letzten Spielviertel schickte Trainer Olding sein aus Studenten im ersten Semester bestehendes Team aufs Feld, das Salz in Georgias bereits sehr schmerzhafte Wunden streute. 41. Nicht zu fassen: Auf Betreiben des Aufsichtskomitees der Tulane-Universität wurde ein Steinmetz fristlos entlassen. Er war beauftragt, über dem Eingang der neuen Bibliothek folgenden Spruch in Marmor zu hauen: THE PEN IS MIGHTIER THAN THE SWORD Das Aufsichtskomitee behauptet, der Steinmetz habe absicht­ lich zwischen dem zweiten und dritten Wort keinen Abstand gelassen. 42. Ich werde getestet. Das Lager A. hat endlich Ersatz für die davongelaufene Busk gefunden: Robert (»Bobby«) Fredgren, 170

einen Betriebspsychologen von typisch kalifornischer Munter­ keit. Mit Sonnenschein vollgesogen wie reife Beeren! Braunge­ brannt, forsch und herrlich jung, ist er genau der Typ, der Haast gern sein möchte. Es wird ein Vergnügen sein, diese Bräune in unserer Unterwelt verblassen zu sehen. Aber ich verabscheue nicht nur sein blendendes Aussehen, sondern noch viel mehr sein Benehmen – ein Mittelding zwi­ schen dem eines Diskjockeys und dem eines Zahnarzts. Wie ein Diskjockey besteht er nur aus Lächeln und Geschwafel, läßt er unaufhörlich Schnulzen ertönen, die eine problemlose Welt mit ewig blauem Himmel und zuckersüßen Gefühlen vorspiegeln; wie ein Zahnarzt behauptet er, auch wenn der Patient vor Schmerz schreit, daß es überhaupt nicht wehtut. Seine Unauf­ richtigkeit hält den heftigsten Angriffen stand. Sie ist gerade zu heldenhaft. Gestern zum Beispiel: Bobby: »Also, wenn ich ›jetzt‹ sage, blättern Sie um und be­ ginnen, die Fragen zu beantworten. Jetzt!« Ich: »Ich habe Kopfschmerzen.« Bobby: »Sie wollen nicht mitarbeiten, Louie! Ich weiß genau, daß Sie diesen Test glänzend bestehen werden, wenn Sie Ihre Gedanken zusammennehmen.« Ich: »Aber das Denken tut weh! Ich bin krank, Sie blöder Hund! Ich brauche Ihre verdammten Tests nicht zu machen, wenn ich so krank bin. Das ist gegen die Vorschrift!« Bobby: »Wissen Sie noch, was ich Ihnen gestern gesagt habe, Louie? Über die Auswirkung von Stimmungen?« Ich: »Sie haben gesagt, daß ich immer nur so krank bin, wie ich selbst es sein will.« Bobby: »Na prima, das klingt schon viel besser! Also, wenn ich ›jetzt‹ sage, blättern sie um und beginnen, die Fragen zu beantworten. Okay?« (Ein strahlendes Pepsodent-Lächeln). »Jetzt!« Ich: »Sie können mich mal!« 171

Bobby, ohne seine Stoppuhr aus den Augen zu lassen: »Ver­ suchen wir’s noch mal, ja? – Jetzt!« 43. Bobby wohnt in Santa Monica und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Er nimmt aktiv am öffentlichen Le­ ben der Stadt teil und ist Schatzmeister des Bezirksverbands der Demokratischen Partei. Seine politische Einstellung bezeichnet er als »eher liberal als andersherum«. Er ist mit der gegenwärtigen Kriegführung nicht ganz einverstanden (er glaubt, wir sollten das russische Angebot akzeptieren, über eine Beendigung des Einsatzes bakteriologischer Waffen – zumindest gegen die so­ genannten neutralen Länder – zu verhandeln), aber er ist der Meinung, daß die Kriegsdienstverweigerer »zu weit gehen«. Er hat gute Zähne. Er ist der Prototyp des »Sonnlich« in meinem Stück. Manchmal habe ich das beunruhigende Gefühl, daß meine dich­ terische Phantasie diesem lächelnden Ungeheuer zum Leben verholfen hat. 44. Bobby, Idealtyp des jungen Managers und daher überzeugter Anhänger des Teamworks, hat für seine Versuchskaninchen Gruppentests (jeweils für zwei Personen) ausgearbeitet. Heute habe ich dieses geistige Kettensträflingssystem zum ersten Mal miterlebt, und ich muß gestehen, daß ich es auf geradezu naive Art genoß. Bobby selbst war außer sich vor Begeisterung und fühlte sich wie ein Quizmaster im Fernsehen. Wenn einer von uns besonders tiefsinnige Fragen beantwortete, brach er in Jubel aus: »Das ist phantastisch, Louie! Das ist absolut phantastisch! Ist das nicht phantastisch, liebe Zuhörer?« 172

Schipansky, mein Partner bei diesen Veranstaltungen, fand nicht das mindeste Vergnügen daran. »Wofür hält der mich ei­ gentlich?« sagte er erbost zu mir. »Für einen Zirkusaffen?« Von seinen Kollegen wird Schipansky »Cheeta« genannt. Er hat nämlich ein Schimpansengesicht. 45. Bin wieder gemeinsam mit Schipansky getestet worden. Während ich gestern abend Abschnitt 44 schrieb, wurde mir klar, wie sehr ich mir eine Fortsetzug dieses Quizprogramms wünsche. Gerade jetzt, wo mich andere Dinge viel mehr inter­ essieren (ich plane, eine echte Aktualitätensammlung in Georges ungenutztem Theaterraum anzulegen; ich arbeite an einigen Gedichten in deutscher Sprache; ich tüftle an Argumen­ ten gegen Levi-Strauss herum), gerade jetzt berichte ich hier von der einen Stunde am Tag, die ich an dieses erzwungene Frage-und-Antwort-Spiel verschwende! Warum? Die Antwort ist einfach: Ich bin einsam. Nur im Speisesaal kann ich mich mit den andern unterhalten. 46. Zwischen zwei Tests habe ich heute Schipansky gefragt, auf welchem Gebiet er zusammen mit Skilliman gearbeitet habe. Er antwortete mit ein paar doppeldeutigen technischen Floskeln und glaubte wohl, mich damit ins Bockshorn jagen zu können. Als ich ihm eine Retourkutsche verpaßte, strömte er plötzlich vor Vertraulichkeit über. Es scheint, daß Skilliman sich mit dem Projekt einer »geolo­ gischen Bombe« befaßt hat, die etwas Ähnliches, allerdings in viel größerem Ausmaß, bewirken soll, wie es seinerzeit unbeab­ sichtigt am Mohole passiert ist. Er will damit neue Gebirgsmas­ 173

sive entstehen lassen. Der faustische Drang strebt stets in schwindelerregende Höhen. Nachdem ich eine Weile geschwiegen und in Gedanken dort oben Edelweiß gepflückt hatte, versuchte ich vorsichtig, die möglichen moralischen Einwände gegen solche Forschungs­ projekte zur Sprache zu bringen. Steht, so fragte ich, jedem Studenten das Recht zu, in die Geheimnisse des Kataklysmus eingeweiht zu werden? Schipansky war wie vom Schlag ge­ rührt. Um einzulenken, versuchte ich Bobby ins Gespräch zu zie­ hen, indem ich mich auf seine früher geäußerte Ansicht über bakteriologische Waffen bezog. Wäre, so fragte ich, der Einsatz geologischer Waffen nicht noch schlimmer und verantwor­ tungsloser? Bobby wußte darauf keine Antwort. Das sei nicht sein Forschungsgebiet. Schließlich befasse man sich hier im Lager Archimedes mit der »neuen Wissenschaft«; moralische Probleme hätten etwas mit der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu tun, nicht mit der Wissenschaft selbst. (Und ähnliches Geschwätz!) Schipansky taute währenddessen kein bißchen auf. Bei ihm hatte ich tatsächlich den falschen Knopf gedrückt. Damit waren die Tests für heute vorbei. Als Schipansky das Büro verlassen hatte, wurde Bobby so ärgerlich, wie es ihm seine Frohnatur überhaupt erlaubt. »Da haben Sie wirklich etwas Schreckliches angerichtet! Sie haben den armen Jungen völlig verstört!« »Hab’ ich nicht!« »Doch, haben Sie!« »Regen Sie sich wieder ab!« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Sie sehen immer nur die Schattenseiten.« »Ich weiß«, sagte er düster. »Ich wehre mich dagegen, aber manchmal kann ich eben nicht anders.«

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47.

Beim Mittagessen kam Schipansky an meinen reichbelade­ nen Tisch. »Ich möchte wirklich nicht stören, aber …« Diese Bescheidenheit! Als ob er bei der geringsten ablehnenden Geste meinerseits vor Scham über seine Kühnheit in die Erde versin­ ken wollte. »Sie stören überhaupt nicht, Schipansky. Ich freue mich, wenn ich mit jemand sprechen kann. Ihr Neuen seid nicht halb so gesellig wie die letzte kleine Schafherde.« Das war mehr als eine höfliche Bemerkung. Ich bin beim Essen jetzt oft allein. Heute waren außer Schipansky noch drei seiner Kollegen im Speisesaal, aber sie blieben unter sich und murmelten Zahlen in ihre recht bescheidene Pizza. »Sie empfinden sicher nur noch Verachtung für mich«, sagte Sch. während er unlustig in der kalten Spinatsuppe herumrührte. »Sie müssen mich für blöd halten.« »Nach unseren gemeinsamen Tests bestimmt nicht!« »Tests, Tests! Da hab’ ich immer gut abgeschnitten. Ich mei­ ne etwas anderes. Sehen Sie, im College sind Leute wie Sie, ich meine Leute, die geisteswissenschaftliche Fächer studieren, immer der Meinung, jemand, der sich für die Naturwissenschaft ent­ schieden hat, hätte keine …« Er schob die trübe Suppe zurück. »Keine Seele?« Er nickte und starrte noch immer die Suppe an. »Aber das ist nicht wahr. Wir haben Gefühle wie jeder andere auch. Viel­ leicht zeigen wir sie nur nicht so offen. Für Leute Ihres Faches ist es leicht, von Gewissen und dergleichen zu sprechen. Schließlich wird Ihnen nach dem Examen niemals ein Jahres­ gehalt von 25 000 Dollar geboten.« »Da muß ich Ihnen aber widersprechen. Viele meiner Studien­ kameraden, die eigentlich Schriftsteller oder Maler werden wollten, verdienen heute doppelt so viel in der Werbung oder 175

beim Fernsehen. Heutzutage hat jeder die Möglichkeit, sich zu prostituieren. Wenn alle Stricke reißen, kann man immer noch Gewerkschaftsfunktionär werden.« »Hm. Was essen Sie da eigentlich?« »Truite braisée au pupillin.« Er winkte einem schwarzuniformierten Kellner und bestellte eine Portion. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Sie nur das Geld gereizt hat«, sagte ich und goß ihm Chablis ein. »Ich trinke keinen Alkohol. Nein, es war eigentlich nicht das Geld.« »Welches Hauptfach hatten Sie, Schipansky? Biophysik, nicht wahr? Haben Sie dieses Fach niemals um seiner selbst willen gemocht?« Jetzt stürzte er doch ein halbes Glas Wein hinunter. »Und ob! Es gibt nichts, was ich mehr liebe! Manchmal kann ich einfach nicht verstehen, daß nicht jeder so empfindet wie ich. Manchmal lasse ich mich davon so überwältigen, daß ich … daß ich …« »Mir geht es mit der Dichtung genauso. Eigentlich mit allen schönen Künsten, aber besonders mit der Dichtung.« »Und was bedeuten Ihnen die Menschen?« »Die kommen danach.« »Gilt das auch für Ihre Frau? Ich meine, wenn Sie sich ent­ scheiden müßten.« »Es gilt sogar für mich selbst, wenn ich mich entscheiden müßte. Jetzt fragen Sie sich bestimmt, wieso ich mir dann an­ maße, Ihnen Moralpredigten zu halten.« »Ja.« »Sehen Sie, ich habe jetzt nur von Empfindungen gesprochen. Moralische Kriterien gelten für das, was man tut. Fühlen und handeln sind zwei verschiedene Dinge.« »Ist dann die Kunst eine Sünde? Und die Naturwissenschaft auch?« 176

»Jede maßlose Liebe, ausgenommen die Liebe zu Gott, ist sündhaft. Dantes Höllenkreise oberhalb von Dis wimmeln von Verdammten, die angenehme Dinge ein wenig mehr als erlaubt geliebt haben.« Schipansky wurde verlegen. »Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Sacchetti, aber ich glaube nicht an Gott.« »Ich auch nicht mehr. Aber da ich ziemlich lang an ihn ge­ glaubt habe, werden Sie verstehen, daß er sich manchmal in meine Argumente einschleicht.« Schipansky gluckste. Einen Augenblick lang sah er mir in die Augen, dann senkte sich sein Blick wieder auf den Teller. Jetzt wußte ich, daß er angebissen hatte. Welche Karriere hätte ich gemacht, wenn ich Jesuit gewor­ den wäre! Abgesehen von einer waschechten Verführung ist nichts reizvoller, als einen anderen Menschen zu bekehren. Später Ich muß jetzt den größten Teil des Tages damit verbringen, im Dunkeln Musik zu hören. Wie lästig mir dieses körperliche Versagen ist! 48. Unaufgefordert erschien er heute in meinem düsteren Zim­ mer und erzählte mir seine Lebensgeschichte. Ich hatte den Eindruck, daß er nie zuvor darüber gesprochen hatte. Wahr­ scheinlich hat sich noch nie jemand dafür interessiert. Und es ist tatsächlich eine ziemlich langweilige Geschichte – genauso farblos, wie man sie allein schon nach den Krawatten, die er trägt, von ihm erwartet. Als Kind geschiedener Eltern hatte Sch. eine unstete Jugend. Er blieb fast nie länger als zwei Jahre in derselben Schule. 177

Obwohl er ohne Zweifel intelligent war, hatte er das Pech, im­ mer nur der Zweitbeste in der Klasse zu sein. So wurde er über­ trieben ehrgeizig und arbeitete hart, um das zu erreichen, was seinen Rivalen mühelos zufiel. Freundschaften gab es für ihn nicht, weil sie Waffenstillstand bedeutet hätten. Sch. ist sich bewußt, daß er seine Jugend falschen Idealen geopfert hat. Aber jetzt, nachdem er seine Jugend vergeudet hat, opfert er auch den Rest seines Lebens falschen Idealen. Er ist 24, erweckt aber, wie alle naturwissenschaftlich orien­ tierten Streber, den Eindruck, als sei er nie über die Entwick­ lungsjahre hinausgekommen. Er ist dünn und schlaksig, hat ein blasses Gesicht voller Pickel, und sein Haar ist etwas zu lang, als daß man von Bürstenschnitt sprechen könnte, und etwas zu kurz, um glatt am Kopf anzuliegen. Seine wäßrigen Augen wir­ ken melancholisch, erwecken aber kein Mitleid, vielleicht des­ halb nicht, weil er eine Brille im McNamara-Stil trägt. Er hat die Angewohnheit, den Mund zu spitzen, bevor er redet. Dann sieht er richtig sauertöpfisch aus – kein Wunder, denn gegen alles, was natürliche Lebensfreude ausstrahlt, ist er so allergisch wie Savonarola. Kraft, Schönheit, Gesundheit, ja sogar Ausge­ wogenheit empfindet er als persönliche Beleidigung. Wenn sich seine Kollegen Sportsendungen ansehen, geht er aus dem Zimmer. Auf Typen wie Fredgren, die überhaupt nur »Lebens­ freude« ausstrahlen, reagiert er mit so abgrundtiefem Abscheu und Neid, daß er sich augenblicklich mit einer Mauer umgibt (wozu er sowieso neigt). Während ich das schreibe, fallen mir meine boshaften Be­ merkungen über Fredgren ein, und ich frage mich, ob ich mit Schipanskys Porträt nicht vielleicht mein eigenes gezeichnet habe. Sch. erscheint mir immer mehr wie mein gespenstisches Ebenbild, das Ebenbild jenes Louis Sacchetti, dem Mordecai damals in der Schulzeit den Beinamen »Donovans Gehirn« gab. 178

Kann ich an Sch. wirklich keinen einzigen versöhnlichen Charakterzug entdecken? Er ist zum Beispiel witzig. Ich habe oft über seine Scherze gelacht, aber wenn ich mir’s genau über­ lege, macht er sich immer nur über sich selbst lustig, manchmal überdeutlich, manchmal versteckt. Das ist im Grund genauso deprimierend, wie wenn er nur dasitzt und schweigt. Diese un­ ablässige Herabsetzung der eigenen Person (oder sollte ich »Selbstbeschimpfung« sagen?) hat etwas Ungesundes, Narziß­ tisches. Das Tragische an solchen Menschen ist, daß ihre einzige (und für manche Mitmenschen unwiderstehliche) Wirkung darin besteht, daß sie absolut nichts Liebenswertes an sich haben. Die Lippen solcher Aussätzigen zu küssen – das müßten die Heiligen lernen! 49. Korrektur! Ich habe einen versöhnlichen Zug entdeckt! Er gestand mir heute verlegen: »Ich liebe Musik.« Sein ganzes Leben hat er mir erzählt, aber daß er in seiner Freizeit aus­ schließlich seiner Musikbegeisterung frönt, hat er vergessen. Auf seinem Interessengebiet (Messiaen, Boulez, Stockhausen u.a.) weiß er sehr gut Bescheid, wenngleich er – bezeichnen­ derweise – sämtliche Werke nur von Schallplatten kennt. Er war noch nie in einem richtigen Konzert, noch nie in einer Opernaufführung! Schipansky ist eben kein geselliger Typ! Aber als er hörte, daß ich Et expecto resurectionem nicht kannte, entwickelte er einen geradezu missionarischen Eifer und schleppte mich zum Plattenspieler in der Bibliothek. Und welch wundervolle neue Klangwelt tat sich mir auf! Nach Et expecto hörte ich Couleurs de la Cite Celeste, Chrono­ chromie und Sept Haikais. Wo habe ich nur die ganze Zeit gelebt? (In Bayreuth wahrscheinlich!) Messiaen soll für die Musik so 179

wegweisend sein wie Joyce für die Literatur. Da kann ich nur sagen: Hört, hört! Inzwischen setze ich mein Bekehrungswerk fort. Sch. er­ wähnte, daß Malraux Et expecto zum Gedächtnis der Toten der beiden Weltkriege in Auftrag gegeben hatte. Da die Mu­ sik selbst geradezu dazu auffordert, sprach ich mit Sch. auch über ihren Anlaß. Wie die meisten seiner Altersgenossen rea­ giert er, wenn er an historische Ereignisse erinnert wird, mit Unwillen und Ungeduld. Die furchtbare Sinnlosigkeit dieser Kriege wird von seiner Generation nicht mehr als warnendes Beispiel empfunden. Aber wenn einer Pallidin in den Adern hat, dürfte es ihm schwerfallen, den Kopf im Sand stecken zu lassen. 50. Schriftliche Aufforderung von Haast, ihn zu besuchen. Als ich zur vereinbarten Zeit in sein Büro ging, war er noch ander­ weitig beschäftigt. Ich wartete im Vorzimmer und blätterte, da ich sonst nichts Interessantes zu lesen fand, in einem auf dem Tisch liegenden Buch von Valery. Mir fiel sofort eine dick un­ terstrichene Stelle auf: »Getrieben von dem Ehrgeiz, einzigartig zu sein, angesta­ chelt von dem Verlangen nach Allwissenheit, schreitet der mit großer Geisteskraft begabte Mensch über alles bisher Geschaf­ fene, ja sogar über seine eigenen hochfliegenden Pläne hinweg; gleichzeitig aber muß er jede auf ihn selbst bezogene Empfin­ dung und jede Rücksicht auf persönliche Wünsche aufgeben. Von einem Moment zum andern opfert er seine Individualität … Vorher hat der Stolz seinen Verstand geleitet, jetzt aber ist der Stolz dahin … Der Verstand erkennt sich selbst als nackt und bloß, als reduziert auf jenen Zustand äußerster Armut, der darin besteht, eine Kraft ohne Ziel zu sein … Das Genie existiert ohne 180

Instinkte und fast ohne Phantasie; es hat kein Ziel mehr; es hat mit nichts mehr Ähnlichkeit.« An den Rand hatte jemand diesen Satz gekritzelt: »Das voll­ kommene Genie hat endlich aufgehört, menschlich zu sein.« Als Haast mich empfing, fragte ich ihn, ob er wüßte, wer das Buch draußen liegengelassen hatte. (Ich hatte Skilliman in Ver­ dacht.) Haast verneinte und sagte, ich sollte mich in der Biblio­ thek erkundigen. Dort erfuhr ich, daß der letzte, der das Buch ausgeliehen hatte, Mordecai gewesen war. Jetzt erst erkannte ich seine Handschrift. Armer Mordecai! Gibt es etwas Entsetzlicheres (oder Menschlicheres) als das Gefühl, nicht mehr zur Spezies Mensch zu gehören? Wie jammervoll, wie unbeschreiblich jammervoll ist das, was hier mit uns geschieht! 51. Der einzige Grund, warum Haast mich zu sich bestellt hatte, war sein Bedürfnis, sich ein paar Minuten mit mir zu unterhalten. Wahrscheinlich war auch Eichmann in seinem Auswande­ rungsbüro für Juden »einsam«. Während ich Haasts Geplauder zuhörte, überlegte ich, ob er lange genug leben würde, um für seine Verbrechen verurteilt zu werden. Ich versuchte, ihn mir in Eichmanns Glaskäfig vorzustellen. Die Busk haben sie noch nicht geschnappt. Gut gemacht, Busk! 52. Schipansky hat eine bezeichnende Anekdote über Skilliman erzählt, aus der Zeit vor sechs Jahren, als er im MIT einen vom Sicherheitsamt geförderten Sommerkurs bei ihm absolvierte. 181

Den Teilnehmern wurde ein Überblick über den Stand der Atomtechnik gegeben, und eines Tages demonstrierte Skilli­ man den Vorgang, der im Fachjargon »den Drachen am Schwanz kitzeln« heißt. Er schob zwei Blöcke radioaktiven Materials langsam aufeinander zu und erklärte, daß sie bei ei­ nem bestimmten Abstand die kritische Menge erreichen wür­ den. Das Spiel mit der Gefahr machte ihm offenbar großes Vergnügen. Als er im Verlauf der Demonstration den Abstand (angeblich unabsichtlich) so verringerte, daß der Geigerzähler wild ausschlug, rannten die Zuhörer zu den Ausgängen, aber Skillimans Sicherheitsbeamte ließen niemand hinaus. Skilli­ man erklärte, sie alle hätten eine tödliche Dosis Strahlen abbe­ kommen. Zwei Studenten erlitten auf der Stelle einen Nerven­ schock. Aber das ganze war nur ein »Scherz«. Die Blöcke wa­ ren überhaupt nicht radioaktiv, und der Geigerzähler war prä­ pariert. Dieser exquisite Spaß war gemeinsam mit den Psychologen vom Sicherheitsamt arrangiert worden, um das Verhalten der Studenten in einer echten Paniksituation zu testen. Der Vorfall bestärkt mich nur in meiner Ansicht, daß die Psychologie die Inquisition unserer Zeit ist. Eine Folge dieses Scherzes war, daß Schipansky bei Skilli­ man zu arbeiten begann. Er hatte den Test bestanden: Keine Spur von Panik, Angst oder Unruhe – nichts als freundliches Interesse an dem »Experiment«. Noch mehr Unbewegtheit hätte man höchstens von einem Toten erwarten können. 53. Eine Unterhaltung mit dem spinnenbeinigen Schmerbauch, bei der ich leider den kürzeren zog. Vorher war Schipansky zu mir gekommen, in dem sich jetzt offenbar die Neugier regt: Er fragte, warum ich so töricht gewe­ 182

sen sei, mich als Kriegsdienstverweigerer einsperren zu lassen, anstatt mich aus anderen Gründen (Alter, Körpergewicht, Pflichten als verheirateter Mann) vom Wehrdienst zu drücken. Ich kenne niemanden, der mir nicht bei der ersten Gelegenheit die gleiche Frage gestellt hätte. (Es gehört zu den Problemen dessen, der für seine Überzeugung leidet, daß er, durchaus un­ gewollt, das schlechte Gewissen der anderen weckt und in ihren Augen zum Ankläger wird.) Skilliman trat ein, begleitet von Felsauge und Emsig. »Hof­ fentlich störe ich«, sagte er vergnügt. »Nicht im geringsten. Machen Sie sich’s bequem.« Schipansky stand auf. »Entschuldigen Sie, aber ich wußte nicht, daß Sie …« »Hinsetzen, Cheeta!« befahl Skilliman. »Ich bin nicht hier, um Sie fortzujagen, sondern um mit Ihnen und Ihrem neuen Freund ein bißchen zu plaudern. Ein Symposium. Unser Spiel­ platzaufseher Haast hat mir geraten, etwas mehr Zeit mit unserem Freund hier zu verbringen, damit er seine Beobachtungsgabe besser ausnutzen kann. Ich fürchte, daß ich Mr. Sacchetti bisher fast übersehen habe, was er bestimmt nicht verdient. Mir ist nämlich klar geworden – und das habe ich Ihnen zu verdanken, Cheeta –, daß er nicht ganz ungefährlich ist.« Ich zuckte verächtlich die Achseln. »Lob von Cäsar …« Schipansky stand noch immer unentschlossen vor seinem Stuhl. »Ich glaube, Sie brauchen mich hier wirklich nicht …« »Ob Sie’s glauben oder nicht, ich brauche Sie. Also setzen Sie sich endlich!« Die beiden Wärter bezogen zu beiden Seiten der Tür Stel­ lung. Skilliman nahm Platz. Zwischen ihm und mir saß – gleichsam sein eigenes Dilemma demonstrierend – Schi­ pansky. »Also, wo waren wir stehengeblieben?«

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54.

Während ich diese Szene zu rekonstruieren versuche, beginnt alles um mich herum – die Schreibmaschine, der Wirrwar auf dem Tisch, die Wände, auf die ich meine Phantasien projiziert habe – abwechselnd zu schrumpfen und sich auszudehnen. In einem Augenblick scheint alles in einer Nußschale Platz zu ha­ ben, im nächsten sprengt es alle Grenzen. Meine Augen schmerzen. Mir ist übel, als wäre ich vollgestopft mit verdorbe­ nem Essen und unfähig, es zu erbrechen. Ein Stoiker, aber nicht stoisch genug, um nicht ein bißchen zu jammern, um sich nicht ein wenig Mitleid zu wünschen. Mach weiter, Sacchetti, mach weiter! Skilliman war heute auch krank. Seine sonst so unberedten Hände zitterten fieberhaft. Der »Leberfleck« an seinem Kinn hat sich purpurrot verfärbt. Wenn Skilliman hustet, strömt er einen fauligen Geruch aus. Es stinkt, wie wenn man einen fah­ ren läßt; oder wie verdorbene Mayonnaise. Sein körperlicher Verfall scheint ihm ein perverses Vergnügen zu bereiten. Er macht den Eindruck, als verwende er die Symptome als Be­ weismittel in einem Prozeß gegen einen Verräter (seinen eige­ nen Körper!). 55. Sein Monolog: »Los, Sacchetti, moralisieren Sie mal schön! Diese Zurück­ haltung paßt gar nicht zu Ihnen. Erzählen Sie uns, warum es gut ist, gut zu sein! Führen Sie uns mit einem Paradox auf den Weg der Tugend – oder in den Himmel! Sie wollen nicht? Ein Lä­ cheln ist keine Antwort. Lächeln, Paradoxe, Argumente, Tugend, Himmel – das kauf ich Ihnen einfach nicht ab! Zum Teufel damit! Aber die Hölle kauf ich Ihnen ab. Es ist zum mindesten 184

denkbar, daß man an die Hölle glauben kann. Die Hölle, das ist das berühmte blutende Loch in der Mitte aller Dinge. Sie schei­ nen mich nicht zu verstehen, obwohl die Sache sonnenklar ist. Mit anderen Worten: Die Hölle ist das zweite thermodynami­ sche Gesetz; sie ist das starre, ewige Gleichgewicht, das aus einer endlosen Misere das sogenannte Leben macht. Eine uni­ versale Fehlkonzeption; alles wird abgespult, aber ein Zweck steckt nicht dahinter. Aber die Hölle ist mehr als nur das. Sie ist etwas, das wir selbst machen können. Und eben darin besteht ihre Faszination. Sie halten mich für frivol, Sacchetti. Sie verziehen den Mund, aber Sie sagen nichts. Weil Sie genau wissen, daß Sie sich damit aufs Glatteis begeben würden, stimmt’s? Wenn Sie nämlich ganz ehrlich wären, würden Sie sich auf meiner Seite wiederfinden. Sie versuchen, es hinauszuschieben, aber es starrt Ihnen bereits ins Gesicht. Na was wohl? Der Sieg von Louie II.! Ja natürlich, ich lese Ihr Tagebuch. Vor einer Stunde habe ich wieder mal darin geblättert. Wo sonst könnte ich dieses Wortgeklingel gefunden haben? Einige Abschnitte sollten Sie übrigens Cheeta lesen lassen; vielleicht regt es ihn dazu an, sei­ nen engen Horizont etwas zu erweitern. Unter uns gesagt, ich bezweifle, daß Sie nur Verachtung für ihn empfinden. Die Lip­ pen solcher Aussätzigen zu küssen – das müßten Heilige wie Louis lernen! Du liebe Güte, Ihre Vergleiche strotzen von Freud! Aber wir sind alle nur Menschen, nicht wahr? Sogar Gott ist nur ein Mensch, wie unsere Theologen zu ihrem Ärger entdeckt haben. Erzählen Sie uns doch von Gott, Sacchetti, von dem Gott, an den Sie zugegebenermaßen nicht mehr glauben. Erzäh­ len Sie uns etwas von den Werten und erklären Sie uns, warum wir sie anerkennen sollen. Wir beide, Cheeta und ich, haben nämlich einen ziemlichen Mangel an Werten. Ich neige dazu, sie für ebenso willkürlich zu halten wie die Gesetze der Archi­ 185

tektur oder der Volkswirtschaft. Willkürlich oder, noch schlimmer, nur dem eigenen Interesse dienend. Sehen Sie, ich esse auch gern, aber das ist für mich kein Grund, die Erdnuß­ butter in den Himmel der Unsterblichen zu heben. Sie machen sich lustig über Erdnußbutter, aber ich kenne Sie, Sacchetti! Ih­ nen läuft bei anderen Dingen das Wasser im Mund zusammen. Pâté de foie gras, truite braisée, truffes. Sie bevorzugen die französischen ›Werte‹, aber im Magen ist alles der gleiche Brei. Sagen Sie doch was, Sacchetti! Zeigen Sie mir ein paar blei­ bende Werte! Ist kein bißchen Glanz mehr um den Thron Ihres verstoßenen Gottes? Wie wär’s mit der Macht? Mit dem Wissen? Mit der Liebe? Wollen Sie sich nicht wenigstens für eins von den dreien einsetzen? Ich gebe zu, daß es für Moralisten etwas problematisch ist, die Macht zu verteidigen. Wie Gott in Seiner väterlichen Eigen­ schaft oder wie einer Bombe wohnt der Macht eine gewisse Rücksichtslosigkeit inne. Macht muß mittels anderer Werte qualifiziert und, wenn nötig, begrenzt werden. Und was sind diese anderen Werte? Louis, warum antworten Sie nicht? Wissen – wie steht’s damit? Davon wollen Sie offenbar auch nichts hören. An diesem Apfel überißt man sich leicht, was? Es bleibt also nur noch die Liebe übrig, das Bedürfnis, für jemand anderen eine Art Erdnußbutter zu sein. Wie leiden­ schaftlich das Ich danach verlangt, seine engen Grenzen zu sprengen und sich wie eine Paste über andere zu verteilen. Be­ achten Sie bitte, daß ich mich sehr allgemein ausdrücke. Wenn man über Liebe spricht, ist es immer ratsam, nicht auf bestimmte Erscheinungsformen einzugehen, weil man sonst nicht objektiv bleiben könnte. Nehmen Sie zum Beispiel die Liebe, die man gegenüber der Mutter empfindet. Sie gilt als Musterbeispiel menschlicher Liebe, aber man kann nicht an sie denken, ohne sich zugleich vorzustellen, daß man an der Mutterbrust saugt. Und auch bei der Erörterung der Gattenliebe kommt man nicht 186

um Pawlows gräßliche Belohnungstheorie herum. Wenngleich es sich hier bei der Belohnung nicht mehr um Erdnußbutter handelt. Es gibt natürlich kompliziertere Arten der Liebe, aber auch für die exaltierteste und ebenso für die selbstloseste gilt, daß sie in unserer allzumenschlichen Natur wurzelt. Denken Sie an die Verzückungen, die die hl. Theresa hinter Klostermauern erlebte, wenn sich der himmlische Bräutigam auf sie herabsenkte. Wenn Freud nicht gewesen wäre, wären wir alle viel glücklicher! Sagen Sie etwas zur Verteidigung der Liebe, Sacchetti! Warten Sie nicht, bis es zu spät ist! Werte! Das also sind Ihre Werte! Kein einziger davon dient einem andern Zweck, als uns in der Tretmühle des Lebens fest­ zuhalten und das Räderwerk wie eh und je weiterlaufen zu lassen. Der unablässige Kreislauf der Nahrung, der ständige Wechsel von Tag und Nacht, der unabänderliche Weg vom Ei zur Henne, von der Henne zum Ei, vom Ei zur Henne! Wollen Sie denn nicht manchmal ausbrechen? 56. Sein Monolog. Fortsetzung. Es schadet gar nichts, daß Gott endlich tot ist. Er war so selbstgefällig! Einige Literaturwissenschaftler haben es seltsam gefunden, daß Milton nicht mit Gott, sondern mit dem Satan sympathisiert hat, aber das ist doch gar nicht verwunderlich! Selbst der Evangelist stiehlt das Feuer seiner Überzeugungs­ kraft öfter aus der Hölle als aus dem Himmel. Ihr widmet er jedenfalls viel mehr Aufmerksamkeit. Sie ist eben viel interes­ santer, um nicht zu sagen wichtiger. Die Hölle kommt der Wirklichkeit näher, als wir denken. Und um noch ehrlicher zu sein: Die Hölle ist nicht nur dem Himmel vorzuziehen, sie ist auch die einzige klare Vorstellung von einem Leben nach dem Tod (also von einem erstrebenswer­ 187

ten Ziel), die sich der Mensch bisher gemacht hat. Die Stamm­ väter unserer Kultur, die Ägypter, die Griechen, die Römer, haben die Erde mit Göttern bevölkert und, ihrem chthonischen Weltbild entsprechend, auch ein unterirdisches Götterreich er­ richtet. Ketzerische Juden wurden die Erben dieser Kultur, ver­ wandelten die Götter in Dämonen und ihr unterirdisches Reich in die Hölle. Sicher, sie taten so, als gäbe es irgendwo (dort oben unterm Dach) einen neuen Himmel, aber das war kein sehr überzeugender Trick. Jetzt, wo wir die Treppe dort hinauf entdeckt haben und überall in diesem leeren, endlosen Raum herumkurven können, ist das Spiel aus, ein für allemal. Ich be­ zweifle, daß der Vatikan dieses Jahrhundert überleben wird, obwohl man natürlich die Macht der Ignoranz nicht unterschät­ zen darf. Keine Sorge, ich meine natürlich nicht die Ignoranz des Vatikans! Der hat immer gewußt, was gespielt wird. Aber genug vom Himmel, genug von Gott! Beide existieren nicht. Was uns von jetzt an interessiert, sind die Hölle und die Teufel. Nicht Macht, Wissen und Liebe, sondern Impotenz, Ignoranz und Haß, die drei Gesichter Satans. Meine Offenher­ zigkeit überrascht Sie, nicht wahr? Sie glauben, ich lasse mir in die Karten sehen, aber da täuschen Sie sich. Alle Werte verkeh­ ren sich unmerklich in ihr Gegenteil. Jeder gute Hegelianer weiß das. Krieg ist Frieden, Ignoranz ist Macht, Freiheit ist Sklaverei. Und man kann hinzufügen, daß Liebe Haß ist, wie Freud so ausführlich bewiesen hat. Was das Wissen betrifft, so kann ich nur auf den skandalösen Niedergang der Philosophie hinweisen, die, nachdem sie zur bloßen Erkenntnistheorie ge­ worden war, heutzutage nur noch als Agnoiologie bezeichnet werden kann. Habe ich einen Terminus gebraucht, den sogar Sie nicht kennen, Louis? Agnoiologie ist die Philosophie der Ignoranz, eine Philosophie für Philosophen. Was die Impotenz angeht, so sollte ich es eigentlich Cheeta überlassen, darüber zu berichten. Sehen Sie nur, wie verlegen er 188

wird! Wie er mich haßt und wie unfähig er ist, seinem Haß Ausdruck zu verleihen! Im Haß und in der Liebe gleich impo­ tent! Regen Sie sich nicht auf, Cheeta, im Grund trifft das nämlich auf uns alle zu. Und am Ende aller Dinge wird es nur noch das einzelne Atom geben – kalt, unbeweglich, isoliert, wirkungslos. Kaputt! Aber wird das wirklich ein so schrecklicher Zustand sein? Ich glaube nicht, denn wenn’s einmal soweit ist, wird das Uni­ versum zum mindesten geordneter sein als jetzt. Alles wird homogen, gleichgewichtig und still sein. Dieser Zustand erinnert mich an den Tod, und das gefällt mir. Und da haben wir also einen Wert, den ich vorhin vergessen habe, den Tod. Da haben wir etwas, das uns hilft, aus der lang­ weiligen Routine auszubrechen. Da haben wir ein ›Danach‹, an das wir leicht glauben können. Diesen Wert gebe ich Ihnen, Cheeta, und auch Ihnen, Sac­ chetti, falls Sie den Schneid haben, ihn anzunehmen. Den Tod. Nicht nur ihren eigenen, wahrscheinlich unwichtigen Tod, son­ dern einen von universaler Bedeutung. Ich meine nicht gerade den Wärmetod am Ende aller Zeiten, das wäre zu viel verlangt, aber immerhin einen Tod, der diese Entwicklung fast sichtbar vorantreiben würde. Das Ende der ganzen beschissenen Menschheit, Sacchetti. Was sagen Sie dazu, mein Lieber? Kaufen Sie mir das ab? Oder kommt Ihnen dieses Angebot zu plötzlich? Sie hatten wohl nicht vor, alle Bände dieser Enzyklopädie auf einmal zu kaufen? Dann lassen Sie sich doch Zeit damit, machen Sie sich erst mal mit dem Gedanken vertraut! Ich komme gern nächste Woche wieder, wenn Sie’s mit Ihrer Frau besprochen haben. Aber etwas möchte ich zum Schluß noch sagen: Jeder, der auch nur eine Spur von Selbsterkenntnis besitzt, ist sich be­ wußt, daß er sich nichts sehnlicher wünscht, als das alles hinter sich zu bringen. Endgültig! Wir wünschen uns, wie Freud es so 189

beredt formuliert hat, tot zu sein. Oder in Ihren eigenen Worten: O Marionette des Bösen, ver­ nichte! Vernichte alles und uns! Was diese Idee so erregend macht, ist, daß sie tatsächlich verwirklicht werden kann. Es ist möglich, Waffen von absolut gottähnlicher Kraft herzustellen. Wir können diese kleine Welt zerbersten lassen, wie wir als Kinder Tomaten mit Knallfrö­ schen zerplatzen ließen. Wir brauchen nur die Waffen zu ent­ wickeln und sie unseren hochgeschätzten Regierungen zu geben. Alles weitere können wir ihnen getrost überlassen. Warum sagen Sie nicht endlich, daß Sie uns dabei helfen wollen? Oder daß wir wenigstens mit Ihrer moralischen Unter­ stützung rechnen können? Sie bleiben auch jetzt noch stumm? Wirklich, Sacchetti, es macht keinen Spaß, sich mit Ihnen zu unterhalten. Cheeta, ich möchte bloß wissen, was Sie an ihm finden! Kommen Sie, wir haben wichtigere Dinge zu tun!« 57. Sie gingen zusammen hinaus, gefolgt von den Wärtern, aber Skilliman kam noch einmal zurück, um mir einen letzten Stich zu versetzen. »Nehmen Sie’s nicht allzu tragisch, Louis. Es war vorauszusehen, daß Sie den kürzeren ziehen würden. Ich habe nämlich das Universum auf meiner Seite.« Da der beklagenswerte Schipansky nicht mehr anwesend war, erlaubte ich mir, zurückzuschlagen: »Gerade deswegen finde ich Sie so vulgär.« Das traf ihn hart, denn er hatte erwartet, daß ich mein Schwei­ gen auch jetzt nicht brechen würde. Plötzlich war nichts Satani­ sches mehr an ihm. Plötzlich war er nur noch ein Verwaltungs­ beamter in mittleren Jahren, kahlköpfig, schäbig, zweitklassig.

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58.

Wie bequem es ist, daß wir unsere Feinde bemitleiden kön­ nen! Es erspart uns die Anstrengung, sie zu hassen. Anstrengung … Es ist sogar zu anstrengend, zu sagen: »Es tut weh.« 59. Ich habe es noch nicht verwunden. Ich werfe mir vor, bei der Konfrontation versagt zu haben. Das Schweigen war, obwohl es Gott immer sehr gut gedient hat, eben doch nicht mein Schutz und Schild. Es tut weh. Aber was hätte ich antworten sollen? Skilliman hat gewagt, das auszusprechen, wovor wir uns alle fürchten, weil es die Wahrheit sein könnte. Selbst Christus wußte am Ende zum Ver­ führer nichts Besseres zu sagen als: »Hebe dich hinweg!« Daß du immer wieder darauf zurückkommen mußt, Sacchetti! Die Imitatio Christi. 60. Es geht abwärts, abwärts. Die Wasser der Krankheit steigen höher. Es gibt keine Sand­ säcke mehr. Vom Dach meines Hauses blicke ich auf die leeren Straßen, die die Flut erwarten. (Gott, hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele. Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ertränken.) Ich bin wieder in der Krankenstation. Ich starre wieder auf ein Wasserglass. Jetzt muß ich ständig schmerzstillende Tablet­ ten nehmen. Niemand besucht mich. 191

61. Es wird immer schlimmer. Länger als eine Stunde kann ich nicht mehr lesen. Dann be­ komme ich Augenstechen. Haast kam (vielleicht weil ich über meine Einsamkeit geklagt habe?), und ich bat ihn, mir jemand zum Vorlesen zu schicken. Er will sehen, was sich tun läßt. 62. Milton, das solltest du miterleben! Oder noch besser deine drei Töchter! Der arme Emsig kann keine Gedichte vorlesen. Er versteht keine Fremdsprache und stolpert über lange Wörter. Jetzt sind wir bei Wittgenstein gelandet. Wenn Emsig unsicher und holprig diese sibyllinischen Sätze liest, entsteht eine fast musikalische Kontrastwirkung. Die Wittgenstein-Ausgabe stammt aus Mordecais Bücherre­ gal und enthält viele handschriftliche Anmerkungen. Die Hälfte davon ist mir völlig unverständlich. 63. Geht es mir besser oder schlechter? Ich weiß kaum mehr, nach welchen Symptomen ich das beurteilen soll. Ich kann wie­ der herumlaufen, bin aber noch benommen. Emsig richtet unter meiner Anleitung und nach meinen Entwürfen die Aktualitäten­ sammlung ein. Im unbenutzten Theaterraum standen noch die MagnumOpus-Apparate. Haast ließ sie in einen anderen Raum bringen, achtete aber darauf, daß sie mit äußerster Vorsicht behandelt wurden. Der Aberglaube verfolgt uns noch im Tod.

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64.

Ein Nachtrag: Pfarrer Augustus Jacks mußte wegen einer nicht näher be­ zeichneten, aber ernsten Krankheit seinen Besuch im Weißen Haus verschieben. 65. Ein neuer Zeitungsausschnitt: Lee Harwood, der bekannte angloamerikanische Lyriker, hat zum ersten Mal Werke in einer von ihm selbst erfundenen Sprache veröffentlicht. Linguisten, die sich mit diesen »Neolo­ gismen« befaßt haben, bestätigen Harwoods Behauptung, daß diese Sprache im wesentlichen nicht aus einer anderen abgeleitet ist, auch nicht aus einer der nicht schriftlich fixierten Sprachen. Harwood plant, am Stadtrand von Tucson, Arizona, eine Art Utopia zu errichten: ein Gemeinwesen, in dem seine Sprache gesprochen und »eine ihr gemäße Kultur« entwickelt werden soll. Für dieses Projekt haben sich bereits dreihundert Interes­ senten aus zwölf Staaten angemeldet. 66. Ich habe Einladungen verteilen lassen. Mein »Museum« soll morgen vormittag um elf eröffnet werden. Die Einladungen waren nur noch eine Formsache, denn Haast hatte mir bereits gesagt, daß alle kommen werden. 67. Das Museum ist eröffnet und bereits wieder geschlossen worden. Aber es hat seinen Zweck durchaus erfüllt. 193

Der erste, der seine Schlüsse aus meiner Sammlung zog, war Skilliman. Als er die Fotos vom Schauplatz der Vazey-Morde sah, die der Täter so großzügig den Zeitungen zur Verfügung gestellt hatte, bekam er einen Hustenanfall. Dann fragte er mich wütend: »Wie lange haben Sie das schon gewußt, Sacchetti?« »Es handelt sich dabei doch nicht um geheimes Material, Doktor. Das sind alles Zeitungsausschnitte.« Natürlich hatte ich mich vorher bei Schipansky erkundigt und erfahren, daß Skilli­ man selten Zeitungen liest. Inzwischen hatte es bei den meisten von Schipanskys Kolle­ gen gedämmert. Sie drängten sich um uns und flüsterten mit­ einander. Haast sah das Flammenzeichen an der Wand und ver­ suchte hilflos, es von irgend jemand erklärt zu bekommen. Skilliman bemühte sich sichtlich, seine Erregung zu bezäh­ men. Bemüht höflich sagte er: »Darf ich fragen, von wann der erste dieser Ausschnitte stammt?« »Die Erstaufführung von Adrienne Leverkühns Weltraumfugen fand am 30. August statt. Das ist allerdings einer der kompli­ zierteren Fälle. Ich habe die Meldung in meine Sammlung auf­ genommen, weil Aspen so nahe beim Lager liegt und weil die Dame bestimmt lesbisch veranlagt ist.« »Jetzt verstehe ich!« Skilliman zeigte seinen Ärger wieder offen. »Was bin ich für ein blödes Arschloch!« »Sie also auch?« sagte ich freundlich. Aber zu solchen Scherzen war er nicht aufgelegt. Hätte er über seinen eigenen Körper etwas besser Bescheid gewußt, dann hätte er mir für diese Bemerkung bestimmt eine runtergehauen. »Wovon sprecht ihr beiden?« Haast drängte sich zu uns vor. »Was bedeutet das alles? Warum regt ihr euch wegen ein paar … Zeitungsausschnitten so auf? Natürlich war das ein schreckli­ ches Verbrechen, aber die Polizei wird den Mörder bestimmt bald haben. Seid ihr deswegen so erregt? Habt ihr vielleicht herausgefunden, wer der Mörder ist?« 194

»Der Mörder sind Sie, H.H.! Seit Monaten versuche ich, Ihnen das klarzumachen. George Wagners Mörder, Mordecais Mörder, Meades Mörder – und bald auch meiner!« »Das ist doch Unsinn, Louis.« Er wandte sich hilfesuchend an Skilliman. »Er ist verrückt geworden. Sie werden am Schluß offenbar alle verrückt.« »Wenn das stimmt, wird bald die ganze Welt verrückt werden«, sagte Watson, einer der mutigeren »Holzköpfe«. »Weil nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit bereits die ganze verdammte Welt, bestimmt aber dieses Land, mit Ihrem Pallidin infiziert ist.« »Ausgeschlossen!« Haast wiegte sich noch immer in Sicher­ heit. »Völlig ausgeschlossen! Unser Sicherheitssystem ist …« Und endlich begriff auch er. »Sie meinen, daß die …« »Genau!« sagte ich. »Aimée Busk. Ohne jeden Zweifel.« Er lachte nervös. »Aber doch nicht Siegfried? Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß sie einen drübergelassen hat? Da kann ich nur lachen!« »Wenn sie keinen drübergelassen hat«, sagte Skilliman, »ist die Siegfried-Linie vielleicht von hinten attackiert worden.« Das Faltenmuster auf Haasts verblüfftem Gesicht wurde engmaschig wie ein Sieb. Als er begriffen hatte, sagte er voller Abscheu: »Aber wer sollte denn so etwas … Unvorstellbar!« Ich zuckte die Achseln. »Es könnte jeder von uns gewesen sein. Denn in ihrem Büro war jeder von uns mit ihr allein. Aber Sie können sich darauf verlassen, daß ich es nicht war. Höchst­ wahrscheinlich war’s Mordecai. Vielleicht erinnern Sie sich, daß die Heldin seiner Erzählung unserer lieben Dr. Busk nach­ gebildet war. Und außerdem war da eine ganz leise Anspielung, der man entnehmen konnte, daß die Heldin, Lukrezia, auf unüb­ liche Weise mißbraucht worden war. Ich muß allerdings zugeben, daß mir das erst jetzt eingefallen ist.« »Dieses verdammte Schwein! Und ich habe diesem schwar­ zen Bastard wie meinem eigenen Sohn vertraut!« 195

68.

Es dauerte eine Zeitlang, bis Haast sich darüber klar wurde, daß es um mehr als einen persönlichen Vertrauensbruch ging. Währenddessen brütete Skilliman vor sich hin und malte sich die Folgen aus. Ich bin sicher, daß seine erste und heftigste Re­ aktion Enttäuschung war. Er fühlte sich betrogen. Er hatte sich so sehr gewünscht, der Welt eigenhändig den Garaus zu ma­ chen. 69. Haast bat mich um genauere Erklärung. Ich gab ihm meine Notizen und verschiedene Berechnungen, die ich über die mög­ liche Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie angestellt hatte. Geht man davon aus, daß Dr. Busk sich sofort nach ihrem Verschwinden aus dem Lager (22. Juni) in Abenteuer gestürzt hat, dann hätten sich die ersten Zeichen der Ansteckung etwa ab Mitte oder Ende August bemerkbar machen müssen. Meine Schätzungen basieren auf der neuen Ausgabe des KinseyReports und sind daher wahrscheinlich zu konservativ. Außer­ dem dürfte sich auch die Tatsache, daß es unter den Homosexu­ ellen mehr Promiskuität (und mehr Geschlechtskrankheiten) gibt, als Beschleunigungsfaktor erweisen, besonders im frühen Stadium, in dem die rasche Ausbreitung das entscheidende Moment ist. Die Zeitungsausschnitte in meiner Sammlung haben gezeigt, daß die typischen Symptome vor allem dort auftreten, wo die Homosexualität grassiert: im Bereich der Kunst, des Sports, der Mode, der Religion und des Sexualverbrechens. In spätestens zwei Monaten werden zwischen 30 und 55 Pro­ zent der erwachsenen Bevölkerung auf dem besten Weg sein, sich in Genies zu verwandeln. Falls die Regierung nicht sofort 196

alle Einzelheiten bekanntgibt! Allgemeine Warnungen vor Ge­ schlechtskrankheiten würden das Sexualverhalten ebensowenig beeinflussen, wie es die Aufklärungsfilme getan haben, die man seit dreißig Jahren unseren jungen Soldaten zeigt, ja, sie würden sogar noch wirkungsloser sein, weil man sich heutzutage mehr auf Penicillin als auf Präservative verläßt. Aber unglücklicher­ weise kann Penicillin nicht das geringste gegen Pallidin aus­ richten. 70. Ich glaube, Haast hat endlich begriffen, daß nur etwas er­ reicht werden kann, wenn die Öffentlichkeit in alles eingeweiht wird. Nach meiner Schätzung ist bereits die Hälfte aller ge­ werbsmäßigen Dirnen infiziert. Die Epidemie wird sich in geo­ metrischer Progression ausbreiten. 71. Die Abstände zwischen meinen Aufenthalten in der Kran­ kenstation werden immer kürzer. Das Denken geht inzwischen seine eigenen Wege. »Worüber habe ich gerade gesprochen? Ach ja …« Ich unterhalte mich mit Spekulationen darüber, wer nun ei­ gentlich diese unwahrscheinliche »Romanze« begonnen hat – und warum. Mordecai? Und wenn er es war, hat er es dann nur aus persönlichem Haß getan? Hat er darin seine letzte Chance gesehen, sich an der Großen Weißen Hure Amerika zu rächen? Oder hat er irgendwie geahnt, wie Busk reagieren würde, und sich an der ganzen Welt gerächt? Und die Busk selbst? Warum sollte sie bereit gewesen sein, die widerlichen Spirochäten aufzunehmen? Hat vielleicht ein Teil ihrer selbst (ihr Hintern zum Beispiel) seit Jahren auf den 197

Tag gewartet, an dem irgendein kräftiger schwarzer Bock sie bespringen und in sie eindringen würde? Oder hat sie viel weiter gesehen? War Mordecai nur ein Instrument für sie, nur der Vermittler zwischen der ersehnten Krankheit und ihrem Blut? In ihrer Unterwerfung ist gewiß ein faustischer Zug zu erken­ nen. Hat sie schon damals geplant, im Besitz ihrer promethei­ schen Gaben aus dem Lager Archimedes zu fliehen? Hat diese Pandora die Büchse des Fremden nur genommen, um sie, als er gegangen war, sofort zu öffnen? Schalten Sie nächste Woche wieder ein. 72. Haast war gestern den ganzen Tag nicht zu sprechen. Und heute (es ist jetzt Vormittag) weigert er sich immer noch, sich mit mir zu unterhalten. Im Fernsehen gibt es noch kein Anzeichen dafür, daß eine Bekanntmachung bevorsteht. (Im Weißen Haus rührt sich nichts, Wall Street scheint noch nicht zu erbeben, und nicht einmal Gerüchte machen sich breit.) Begreift die Regierung nicht, daß diese Bekanntmachung nicht verschoben werden darf? Wenn 30 Prozent der Bevölkerung plötzlich ausfallen, kann eine Industriegesellschaft einfach nicht intakt bleiben. Und das ist noch nicht einmal die größte Gefahr. Man muß sich einmal die Zerstörungskraft vorstellen, die von so viel plötzlich losgelassener, unkontrollierter Intelligenz ausgehen kann. In den öffentlichen Institutionen zeigen sich schon die ersten Risse. Ich bezweifle sehr, daß beispielsweise unser Uni­ versitätssystem diese Entwicklung überleben wird. (Aber viel­ leicht ist in diesem Fall der Wunsch der Vater des Gedankens!) Die verschiedenen Kirchen splittern sich bereits auf. (Siehe Jacks!) Der katholischen dürfte es allerdings gelingen, wenigstens die Geistlichen bei der Stange zu halten, dank dem Zölibat. 198

Aber in den anderen Institutionen werden gerade die für die Stabilität unentbehrlichen Personen mit großer Wahrscheinlich­ keit infiziert werden, sei es im Bereich der Massenmedien, in Managerkreisen, im Rechts-, Gesundheits- und Erziehungswesen oder in der Regierung selbst. Was für ein spektakulärer Zusammenbruch das sein wird! 73. Das Licht ist erloschen; das lange Warten beginnt. Emsig wird seiner ungewohnten Aufgabe müde, und ich möchte seine Gutwilligkeit nicht überfordern. Braille? Aber meine Hände zittern. Es bleiben noch die Bilder der Erinnerung: Spaziergänge im Schweizer Hügelland (es ist wirklich reizvoller als die Alpen), der Tag am Kiesstrand, als ich mit Andrea Muscheln und Steine sammelte, die dunkelroten Äderchen unter ihren Augen, und die unzähligen leuchtenden Stilleben auf den Tischen der Alltags­ welt. 74. Laforgue schrieb: Ah, que la vie est quotidienne! Aber gerade das ist das Schöne daran. 75. Auch die Erinnerung hat ihre Musik (kein Wunder, denn sie war die Mutter der Musen), hörbare und unhörbare Mu­ sik. Die unhörbare ist schöner. Ich liege im Dunkeln und flüstere:

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Das helle Licht sinkt tief hinab; Manch junge Königin mußte ins Grab; Und Helenas Lippen sind längst schon kalt. Ich bin krank, ich sterbe bald. Herr erbarme Dich unser! 76. Ich glaube, ich habe es noch nicht ausgesprochen. Nicht mit vielen Worten, nicht mit diesem einem Wort: blind. 77. Ich schreibe ganz langsam, meine Gedanken schweifen stän­ dig ab. Die Tasten meiner Schreibmaschine sind mit Kerben versehen worden, damit ich diese Aufzeichnungen fortsetzen kann. Jetzt kann ich es ja zugeben: Mir ist mein Tagebuch lieb geworden. Wenn man so einsam geworden ist wie ich, empfindet man es als tröstlich, daß überhaupt noch etwas weiterbesteht. 78. Haast hat mich noch nicht besucht, und weder die Wärter noch die Ärzte wollen mir sagen, ob etwas gegen die weitere Ausbreitung der Epidemie unternommen worden ist. Emsig sagt, in der Krankenstation seien Radio und Fernsehen verboten worden. Notgedrungen muß ich’s ihm glauben. 79. Ich weiß nie, wann er mich beobachtet und wann nicht. Wenn er’s jetzt tut, werde ich diesen Abschnitt wohl kaum be­ enden können. 200

Aus dem distanziert freundlichen Emsig, der sich meine Kla­ gen gutwillig angehört hat, ist jetzt mein Peiniger geworden. Von Tag zu Tag denkt er sich neue grausame Scherze aus; für ihn ist das wahrscheinlich eine Art Experiment. Als ich zu Be­ ginn meiner Blindheit versuchte, auch weiterhin die Gemein­ schaftsräume – Bibliothek, Speisesaal usw. – zu benutzen, be­ kam ich anzügliche Bemerkungen und unterdrücktes Lachen zu hören oder mußte vergeblich nach meiner Gabel tasten. Diese Vorfälle haben Emsig offenbar zu seinen Quälereien ermutigt. Als ich mich heute hinsetzen wollte, um meinen Frühstückstee zu trinken, zog Emsig den Stuhl weg. Lautes Gelächter. Ich glaube, ich habe mich am Rücken verletzt. Ich habe mich bei den Ärzten beschwert, aber die Furcht hat Automaten aus ihnen gemacht. Sie halten es für ratsam, nur noch mit mir zu sprechen, wenn es sich um Krankheitssymptome handelt. Immer wenn ich mich bei Haast anmelden will, sagt man mir, er habe keine Zeit. Die Wärter nehmen sich jetzt, wo sie wissen, daß ich nicht mehr für Experimentierzwecke tauge, ein Beispiel an Skilliman, der sich offen über meine Hilflosigkeit lustig macht, mich »Simson« nennt und mich am Haar zieht. Er weiß, daß mein Magen ständig revoltiert, und stellt mir mit Vorliebe Fragen wie diese: »Weißt du eigentlich, was für ein Scheißzeug du da ißt, Simson? Was hat man dir denn da auf den Teller gelegt?« Emsig scheint entweder nicht im Zimmer zu sein oder nicht mitzulesen. Ich habe fast den ganzen Tag französische Gedichte getippt, um ihn loszuwerden. Meine Beschwerden habe ich üb­ rigens auch in anderen Sprachen formuliert, aber da Haast nicht darauf reagiert hat, nehme ich an, daß er sich solche Aufzeich­ nungen gar nicht mehr übersetzen läßt oder daß ihn mein Schicksal nicht mehr interessiert. Seltsam, daß ich Haast fast für einen Freund gehalten habe!

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89.

Heute hat mich Schipansky besucht, zusammen mit zwei an­ deren »Holzköpfen«, Watson und Quire. Obwohl die Angele­ genheit mit keinem Wort erwähnt wurde, merkte ich, daß bei der Konfrontation mit Skilliman mein Schweigen den Sieg da­ vongetragen hat. (Sogar der Teufel kann sich im eigenen Netz fangen!) Man hat Schipansky gestern und vorgestern gesagt, ich sei zu krank, um Besuch zu empfangen. Daß er heute hereingelassen wurde, hat er nur mit Fredgrens Hilfe und mit der Drohung, in Streik zu treten, erreicht. Skilliman hat ein Besuchsverbot über mich verhängt. Die Genehmigung für Schipansky mußte sich Fredgren über Skillimans Kopf hinweg bei Haast holen. So sehr ich mich über den Besuch gefreut habe – im Grund hat er mir nur meine wachsende Entfremdung bewußt gemacht. Die drei saßen, schweigend oder Banalitäten murmelnd, an meinem Bett, als besuchten sie ihren sterbenden Vater, dem sie nichts mehr erzählen und von dem sie nichts mehr erwarten können. 81. Ich wagte nicht, sie nach dem Datum zu fragen. Ich habe die Orientierung verloren. Ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt. Ich will es nicht wissen. Ich bin so elend, daß ich auf ein rasches Ende hoffe. 82. Fühle mich etwas besser. 202

Aber nur etwas. Schipansky brachte mir eine Schallplatte: Sargents Neuaufnahme von Messiaens Chronochromie. Wäh­ rend ich zuhörte, spürte ich, wie meine kreisenden Gedanken wieder Kontakt zur Wirklichkeit fanden. Währenddessen sagte Schipansky kaum ein Wort. Für den Blinden gibt es so wenig Anhaltspunkte, um das Schweigen anderer zu deuten! 83. Schipansky ist nicht mein einziger Besucher. Obwohl ich Em­ sigs Dienste nicht mehr in Anspruch nehme, findet er immer wie­ der Gelegenheit, mir Streiche zu spielen, vor allem während der Mahlzeiten. Ich erkenne ihn jetzt bereits am Schritt. Schipansky hat mir gesagt, daß Haast versprochen hat, etwas dagegen zu tun, aber wie soll man sich gegen seine »Beschützer« schützen? 84. Oft folgt auf heftige Schmerzen ein visionärer Augenblick, in dem ich durch den Schleier des Irdischen zu dringen glaube. Aber wenn ich mir danach die Goldklumpen betrachte, die ich aus jenen Fernen mitgebracht habe, merke ich, daß sie aus Glimmer sind. Falls Sie nicht sicher sind, auf wen sich dieser Scherz bezieht: auf mich! Ein Jammer, daß das Gehirn sogar jetzt nichts anderes als ein Gefäß voller Chemikalien ist, und der Augenblick der Wahrheit nur das Resultat eines Oxydationsprozesses. 85. Noch immer gehen mir die Verse von Thomas Nashe nach. Ich zähle sie wie die Perlen eines Rosenkranzes. 203

Verwelken müssen Leib und Leben; Das Ende ist allem vorgegeben; Schnell schwindet selbst der Pest Gewalt; Ich bin krank, ich sterbe bald. Herr, erbarme Dich unser! 86. Schipansky, Watson, Quire und ein neuer Bekehrter, Ber­ ness, haben abwechselnd bei mir Wache gehalten. Und das (obwohl sie es bestreiten) trotz Skillimans ausdrücklichem Verbot. Meist beschäftigen sie sich mit irgend etwas, manch­ mal lesen sie mir vor, manchmal unterhalten wir uns. Watson fragte mich, ob ich nach all diesen Erfahrungen wieder den Kriegsdienst verweigern würde, wenn ich mich noch einmal vor die Entscheidung gestellt sähe. Ich konnte weder ja noch nein sagen. Wahrscheinlich bedeutet das, daß ich es letztlich doch wieder tun würde. Was tun wir nicht alles, um konse­ quent zu erscheinen! 87. Schipansky hat endlich seine fast krankhafte Zurückhaltung aufgegeben. Er hat seit dem Abend, an dem Skilliman unser Gespräch unterbrach, über jene seltsame Auseinandersetzung zwischen der beredten Macht des Bösen und der stummen Macht des Guten nachgedacht. »Ich wollte einfach nicht locker lassen, bis ich eine überzeu­ gende Antwort gefunden hätte. Aber wie immer gab es ein Pro und ein Kontra, eine These und eine Antithese. Und dann gab plötzlich ein völlig irrationales Argument den Ausschlag. Ich hörte mir gerade Vickers mit der Jagdarie aus Die Frau ohne 204

Schatten an. Nur diese Arie. Und plötzlich hab’ ich gedacht: So möchte ich auch singen können! Natürlich weiß ich, daß das unmöglich ist – in meinem Alter und überhaupt … Aber trotz­ dem hab’ ich mir’s so sehr gewünscht wie nie etwas in meinem ganzen Leben. Und das scheint die Antwort gewesen zu sein, denn von da an gab es kein Dilemma mehr. Wenn ich hier jemals rauskomme und nicht sterben muß, dann weiß ich, was ich tun werde. Ich werde Gesang studieren. Und seit ich mich dafür entschieden habe, fühle ich mich ein­ fach … glücklich. Das Schlimme ist nur, daß ich jetzt, wo ich so gern leben möchte, nicht leben darf!« »Was werden Sie mit der Zeit, die Ihnen jetzt noch bleibt an­ fangen?« »Ich habe mich hier bereits mit Medizin befaßt. Ausreichende biologische Kenntnisse bringe ich sowieso mit. Es fällt mir nicht schwer. Vieles, was die Medizinstudenten lernen müssen, ist sowieso unnötig.« »Und wie steht’s mit Watson und Quire und Berness?« »Es war Watsons Idee. Ich beneide ihn darum, daß er immer, wenn er eine Idee hat, überzeugt davon ist, daß sie die einzig richtige und moralisch vertretbare ist. Skilliman kommt gegen ihn nicht an, und für uns ist seine Dickköpfigkeit eine große Hilfe. Jetzt, wo wir zu viert sind – und mit Ihnen zu fünft –, kann uns Skilliman mit seinem Gerede und seinen Drohungen nicht mehr so leicht einschüchtern.« »Glauben Sie, daß es noch eine Chance gibt?« Minutenlanges Schweigen. Dann: »Entschuldigen Sie, Mr. Sacchetti, ich vergaß, daß Sie mein Kopfschütteln nicht sehen können. Nein, ich sehe eigentlich keine Chance. Ein Heilmittel zu finden, setzt unzählige Experimente voraus. Das kostet Zeit und Geld. Vor allem Zeit.«

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88.

Wie H. H. mir gesagt hat, wollen die Manager jener schänd­ lichen Stiftung nicht zugeben, daß es zu einer Epidemie ge­ kommen ist. Einige Ärzte, die, unabhängig voneinander, der Krankheit auf die Spur gekommen sind, hat man mit Geld oder mit drastischeren Methoden zum Schweigen gebracht. Indessen werden die Zeitungsschlagzeilen immer absonderli­ cher. In Dallas und Fort Worth hat eine neue Welle von Super­ morden eingesetzt. In einer einzigen Woche wurden drei Museen beraubt, und der Stadtrat von Kansas City hat Andy Warhol als Verwalter der Parkanlagen angestellt. Die Welt scheint unter­ zugehen. Nicht durch Eis und nicht durch Feuer, sondern durch Zentrifugalkraft. 89. Ein Schlaganfall. Meine linke Hand ist gelähmt, und ich tippe mit dem rechten Zeigefinger. Mühsam. Die meiste Zeit denke ich darüber nach, wie ungeheuerlich diese Dunkelheit ist. Oder ich rede mit ihr. Wie Milton es getan hat. Das heilige Licht. 90. Gedichte spenden jetzt ebenso wie die Musik keinen Trost mehr, weder die von Nashe noch meine eigenen. Die hochflie­ gendsten Gedanken stürzen, durchbohrt von dieser Angst, durch brechendes Gezweig zur Erde hinab. Der Jäger nähert sich der Beute. Noch nicht tot, noch nicht ganz tot. Ein Flügel zuckt noch, sinkt herab, zuckt wieder. Noch nicht ganz tot.

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91.

Der Körper löst sich auf. Das Atmen fällt schwer, der Magen streikt. Nach jeder Mahlzeit wird mir übel. Habe 30 Pfund ab­ genommen. Laufen ist zu mühsam. Unregelmäßiger Herzschlag. Das Sprechen tut weh. Und trotzdem fürchte ich mich noch immer vor der Dunkelheit. Vor dem dunklen Kasten. 92. Wenn ich mich nur einspinnen könnte wie eine Seidenraupe! Wenn man sich nur in die alten tröstlichen Vorstellungen flüchten könnte! Wenn ich wenigstens in diesen letzten Tagen wieder etwas dümmer sein dürfte! 93. Skilliman ist hinausgegangen, um die Wärter zu holen, Quire ist auf dem Weg zu Haast. Es ist zu einer Konfrontation ge­ kommen. Kurz zusammengefaßt: Schipansky und seine 3 Freunde besuchten mich und brachten zwei weitere Kollegen mit. Das bedeutet, daß Sk.s Assist, jetzt 6:6 gegeneinander stehen. Das Gespräch drehte sich wie immer um die Mögl. einer Heilung. Aber offenbar haben wir heute die »kritische Menge« erreicht, denn plötzlich brachen wir aus den alten Geleisen aus und beschränkten uns nicht mehr auf den mediz. Bereich. Wir diskutierten einen undurchführbaren Plan nach dem andern, in der Hoffnung, daß einer davon vielleicht doch der Schlüssel zur Rettung sein könnte. (Zweifellos waren es ähnlich verzweifelte Überlegungen, die M. damals zu seinem alchimistischen Experiment bewogen haben.) Wir sprachen über Forschungen auf dem Gebiet der mechan. Aufzeichnung 207

und Speicherung vom Gehirnwellen; über Joga; über Methoden (z. B. Gefriertrocknung), durch die der körp. Verfall so lange aufgehalten werden könnte, bis ein Heilmittel entdeckt wäre; ja sogar über die Idee der Zeitreise(!) und im Zusammenhang da­ mit über interstellare Reisen, mit denen vielleicht ein ähnlicher Zweck erreicht werden könnte: die Rückkehr auf die bereits in der Zukunft lebende Erde. Sch. verstieg sich sogar zu der Idee, daß ein weltweiter Versuch gemacht werden sollte, Gott irgend­ eine Antwort abzuringen, da wir im Grund ja doch nur auf ein Wunder warteten! Der kühne Berness schlug vor, zu fliehen (!!!), wogegen ich einwandte, wir hätten so wenig Mögl. zur gehei­ men Vorbereitung, daß wir gezwungen wären, unter den Augen des Aufsichtspersonals einen Plan auszuhecken. Die Zeit ist abgelaufen. Und ich hätte so gern bis 100 weitergeschrieben. 94. Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten! Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen! So die Bösen, meine Widersacher und Feinde, an mich wollen, mein Fleisch zu fressen, müssen sie anlaufen und fallen. Wenn sich schon ein Heer wider mich legt, so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht. Wenn sich Krieg wider mich erhebt, so verlasse ich mich auf Ihn. Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: daß ich im Hau­ se des Herrn bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die schö­ nen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu betrachten. Ich bin so unbeschreiblich, so maßlos, so wider alle Erwartun­ gen glücklich! Das Glücksgefühl schlägt wie eine riesige Woge über mir zusammen, die Gnade Gottes überwältigt mich. Ich kann sehen. 208

Mein Körper ist gesund. Das Leben ist mir wiedergegeben, und die Welt, die schöne, wieder zur Heimat gewordene Welt, wird sich nicht nach Armageddon schicken lassen, ohne Wider­ stand zu leisten. Ich bin jetzt wohl eine Erklärung schuldig. Aber eigentlich möchte ich nur noch singen! Zusammenhängend berichten, Sacchetti, zusammenhängend! Anfang, Mitte, Schluß, ganzen Raum verteilt), denn bevor ich mich mit gespielter Ruhe Beim Schreiben des 93. Abschnitts wurde ich von Skilliman unterbrochen, der mit einigen Wärtern, darunter Emsig, in die Krankenstation zurückkehrte. »Los, schert euch weg, ihr Dreckskerle! Mr. Sacchetti ist viel zu krank, um Besuch zu empfangen.« »Nein, Doktor, wir bleiben hier. Entschuldigen Sie, aber Mr. Haast hat’s uns erlaubt«, sagte Schipansky mit unsicherer Stimme. »Wenn ihr nicht alle sechs – wo ist Quire? – auf der Stelle hinausgeht, wird man euch hinausbefördern! Ich habe die Wär­ ter ermächtigt, euch so in die Zange zu nehmen, wie sie es für angebracht halten. Würde vielleicht jemand dafür sorgen, daß das Schreibmaschinengeklapper aufhört?« Es war natürlich Emsig, der dafür sorgte. Er stand offenbar ganz nahe bei mir (wahrscheinlich hatten sich die Wärter über den ganzen Raum verteilt), denn bevor ich mich mit gespielter Ruhe auf dem Stuhl umwenden konnte, packte er mein Handge­ lenk, drehte es mit dem sicheren Griff eines Folterknechts nach außen und zog mich hoch. Dann stieß er einen leisen, selbstzu­ friedenen Seufzer aus. Ich spürte den Schmerz minutenlang, eigentlich bis zum Ende. »Danke«, sagte Skilliman. »Und jetzt meine Herren, werde ich Ihnen zeigen …« In diesem Augenblick erschienen Haast und Quire. H. H. s Stimme klang erstaunt: »Man hat mir gerade gesagt, daß …« 209

»Ein Glück, daß Sie kommen, General!« rief Skilliman gei­ stesgegenwärtig. »Noch ein paar Minuten, und Sie hätten mit einer regelrechten Meuterei fertigwerden müssen! Ich kann Ihnen die gefährliche Situation erst erklären, wenn Sie diese jungen Leute in ihre Zimmer zurückgeschickt haben.« Die sechs begannen laut zu protestieren und Erklärungen ab­ zugeben, aber über das Durcheinander erhob sich Skillimans schrille Stimme wie eine zischende Rakete über der aufgewühl­ ten See: »General, ich warne Sie! Wenn Sie diese Verschwörer nicht sofort voneinander trennen, ist die Sicherheit des Lagers Archimedes in größter Gefahr! Folgen Sie meinem Rat, wenn Ihnen Ihre Karriere und Ihr guter Name etwas wert sind!« Haast murmelte etwas Unverständliches, schien aber gleich­ zeitig eine Handbewegung gemacht zu haben, denn die Wärter führten Skillimans Befehl aus und zerrten meine protestierenden Besucher aus dem Zimmer. »Ich glaube«, sagte Haast, »daß Sie aus einem Elefanten einen Floh gemacht haben …« Er hielt inne. Offenbar hatte er gemerkt, daß mit diesem Satz etwas nicht stimmte. »Bevor wir die Angelegenheit besprechen, General, möchte ich vorschlagen, daß wir Sacchetti der Obhut der Ärzte überlas­ sen. Es gibt da … gewisse Dinge, die ich nicht in seiner Gegen­ wart erörtern möchte.« »Nein, tun Sie das nicht, Haast!« rief ich. »Er hat bei diesem Vorschlag Hintergedanken! Entscheiden Sie sofort und in meiner Gegenwart über mein Schicksal! Nachher könnte es zu spät sein! Ich habe einen ganz bestimmten Verdacht!« »Kümmern Sie sich nicht um sein Geschwätz! Es geht um die Sicherheit! Aber wenn Sie schon Rücksicht auf dieses Wrack nehmen wollen, dann lassen Sie es mit hinaufbringen!« »Hinauf? Was meinen Sie damit?« »Hinauf! Sie haben mir oft genug erlaubt, hinaufzufahren. Wieso weichen Sie mir jetzt aus?« 210

»Ich weiche Ihnen nicht aus. Ich verstehe nicht, was Sie vor­ haben.« »Ich möchte die Angelegenheit nicht hier erörtern.« (Noch jetzt ist mir nicht klar, warum Skilliman auf dieser Forderung bestand, die sich dann auf so unerwartete Weise als entscheidender Faktor erwies. Und unerwartet war es doch, oder? Vielleicht glaubte er, daß er sich in diesem Augenblick gegen Haast durchsetzen müßte, ganz gleich, in welcher Frage, um später freie Hand zu haben.) »Also gut«, sagte Haast in dem bei ihm allmählich zur Ge­ wohnheit gewordenen resignierten Ton, der den alternden Mann verriet. Und an die Wärter gewandt: »Bitte stützen Sie Sacchetti! Und holen Sie ihm einen Mantel! Oder Decken. Droben ist’s kalt.« Es war die weitaus längste Fahrt, die ich jemals in einem un­ serer Fahrstühle zurückgelegt hatte. Keiner von uns sechsen (Emsig und zwei weitere Wärter kamen mit, offenbar um meine Flucht zu verhindern) sprach ein Wort. In der lähmenden Stille hörte ich, wie es in meinen Ohren knackte. Als wir aus dem Fahrstuhl traten, sagte Haast zu Skilliman: »Hören Sie jetzt bitte mit Ihrer Geheimnistuerei auf und sagen Sie mir endlich, was los ist. Was hat Louis verbrochen?« »Er hat eine Meuterei geplant und beinahe Erfolg damit ge­ habt. Aber ich will darüber nicht hier sprechen. Lassen Sie uns … ins Freie gehen, es ist sicherer.« Ihre Pistolen griffbereit, führten mich die Wärter durch einen Raum, in dem kein Teppich lag, dann durch eine Tür, durch eine zweite – und dann spürte ich Atem auf meinem Gesicht. Es war wie der Atem eines geliebten Menschen, den man für tot gehalten hat. Ich stolperte drei Stufen hinunter. Die Wärter lie­ ßen mich los. Wind! 211

Und unter meinen Füßen nicht mehr die öde Gleichmäßigkeit des Betons, sondern die lang vermißte Ungleichmäßigkeit des Erdbodens. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich reagiert habe. Habe ich aufgeschrien, haben meine blinden Augen Tränen vergossen? Wie lange stand ich da, das Gesicht an den kalten Fels gepreßt? Ich war außer mir. Nie zuvor war ich so unsinnig glücklich gewesen: Dieser Wind und dieser Fels gehörten zu der Welt, der man mich vor vielen Monaten entrissen hatte! Sie hatten bereits eine Zeitlang miteinander gesprochen. Ich weiß nicht mehr, ob ich durch Haasts erstauntes »Was?!« auf­ geschreckt wurde oder durch die beißende Kälte oder durch die plötzlich wieder in mir aufsteigende Angst. »Sie sollen ihn töten!« sagte Skilliman unbewegt. »Deutlicher kann ich es wohl kaum ausdrücken.« »Ich soll ihn töten?« »Jawohl. Beim Fluchtversuch. Sie sehen doch, daß er uns den Rücken wendet. Er hat seine Decken bei der Flucht verloren. Sie sind also gezwungen, zu schießen. Die altbekannte Situation, geradezu klassisch!« Haast schien noch immer zu zaudern. »Töten Sie ihn! Sie müssen es tun! Ich habe Ihnen erklärt, wozu seine weitere Anwesenheit im Lager Archimedes führen wird. Seine Intelligenz nimmt ständig zu, und bald wird es ihm gelingen, uns so raffiniert in seine Pläne einzubeziehen, daß wir selbst es nicht mehr merken. Ich habe Ihnen erzählt, wovon er heute mit den andern gesprochen hat. Von Flucht! Er hat gesagt, daß sie unter unseren Augen einen Plan aushecken müßten! Sind Sie sich bewußt, welche Verachtung er für uns empfindet? Und wie er uns haßt?« Ich konnte mir vorstellen, wie Haast hilflos den Kopf schüt­ telte. »Aber ich kann ihn nicht … ich kann ihn nicht …« »Sie müssen! Hören Sie, Sie müssen! Wenn Sie es nicht selbst 212

tun wollen, dann muß es ein Wärter tun. Fragen Sie, ob einer freiwillig dazu bereit ist! Einer wird sich bestimmt melden.« Emsig machte seinem Namen Ehre. Er fragte sofort: »Soll ich das übernehmen, Sir?« »Nein, das sollen Sie nicht!« sagte Haast mit erstaunlich fester Stimme. Dann wandte er sich, wieder in gedämpfterem Ton, an Skilliman: »Ich kann doch einem Wärter nicht erlauben, ihn …« »Dann ziehen Sie Ihre Pistole, Sir! Wenn Sie’s nicht sofort tun, werden Sie sich immer fragen müssen, ob Sie ihm nicht bereits ins Netz gegangen sind. Sie haben dieses Frankenstein­ sche Ungeheuer geschaffen, und Sie müssen es vernichten!« »Ich kann es nicht selbst tun. Ich kenne ihn seit … seit vielen Monaten, und kann ihn nicht … Vielleicht Sie selbst? Könnten Sie es tun? Wenn Sie eine Waffe hätten?« »Her damit! Die Antwort können Sie sofort haben!« »Wärter, geben Sie Dr. Skilliman Ihre Pistole!« Während des langen Schweigens, das diesen Worten folgte, stand ich auf und ließ mir den rauhen Wind ins Gesicht blasen. »Also, Sacchetti, wie hätten wir’s denn? Wollen Sie uns zum Schluß nicht noch etwas sagen? Wie wär’s mit einem Gedicht, als Hinterlassenschaft? Oder mit einer letzten Unverschämtheit?« Seine Worte klangen seltsam bemüht. Er schien sich seiner Sache doch nicht ganz sicher zu sein. »Ja, etwas möchte ich noch sagen. Ich möchte Ihnen danken. Es war so schön, wieder hier heraufzukommen. So unbeschreib­ lich schön. Der Wind. Und … bitte sagen Sie mir, ist es Nacht … oder Tag? « Schweigen. Dann ein Schuß. Und noch einer. Und noch einer. Sieben im ganzen. Nach jedem empfand ich ein immer über­ wältigenderes Glücksgefühl! Ich lebe, dachte ich, ich lebe! Nach dem siebten Schuß war es lange still. Dann sagte Haast: »Es ist Nacht.« 213

»Warum hat Skilliman …?« »Er hat … auf die Sterne geschossen.« »Auf die Sterne? Meinen Sie das wörtlich?« »Ja. Er scheint auf den Orion gezielt zu haben.« »Ich verstehe das alles nicht.« »Im entscheidenden Moment haben Sie ihm als Zielscheibe für seinen maßlosen Haß nicht mehr genügt, Louis.« »Und der letzte Schuß? Hat er … Selbstmord begangen?« »Vielleicht wollte er’s, aber dann hat ihm der Mut dazu ge­ fehlt. Ich habe den letzten Schuß abgefeuert.« »Ich verstehe noch immer nicht.« Mit verschnupfter Baritonstimme begann Haast zu summen: »Ich bau’ eine Treppe ins Paradies.« »Haast«, sagte ich, »sind Sie …« »Mordecai Washington«, sagte er. Er legte mir zwei Decken über die Schultern. Ich begann nachzudenken. »Ich glaube, wir sollten jetzt wieder hinunterfahren.« 95. Enthüllungen: Haast Mordecai führte mich in den Raum, der gleich neben dem Theatersaal lag und in dem man, als ich meine Aktualitä­ tensammlung einrichtete, die Magnum-Opus-Apparate gebracht hatte. Die Wärter waren mehr mit Emsig beschäftigt als mit mir. Emsig protestierte laut gegen die rauhe Behandlung. Die Apparate waren so aufgestellt wie an dem Abend, als das geschehen war, was ich für ein großes Fiasko gehalten hatte. Wo damals Haast und Mordecai gesessen hatten, saßen jetzt Emsig und ich. Benommen und zugleich erleichtert darüber, daß ich nicht mehr fähig war, logisch zu denken, ließ ich mich anschnallen. Als die Drähte befestigt würden, muß mir, wenn auch vage, bewußt geworden sein, was sich ereignen würde und 214

daß ich die Verantwortung dafür zu tragen hätte. Ich weiß noch, daß ich das Bewußtsein verlor, als der Strom eingeschaltet wurde. Dann öffnete ich die Augen und sah … Schon das war ein Wunder: Ich sah! … meinen eigenen Körper, ein Bündel Krankheit und ver­ rottetes Fleisch, fast schon tot. Dieser Körper zuckte; die Augen öffneten sich – und konnten nicht sehen; die Hände tasteten nach dem Gesicht; das Gesicht schrie. Fast hingerissen betrachtete ich den Körper, der jetzt mir ge­ hörte. Darf ich ihn meinen Körper nennen? Oder gehört das meiste davon noch immer Emsig? 96. Weitere Enthüllungen: Mordecai hat mir erzählt, daß er und die anderen Gefangenen während der ersten Monate im Lager A. einen Code entwickelt haben, mit dessen Hilfe sie sich verständigen konnten, ohne Verdacht zu erregen. Ihr ganzes »alchimistisches« Geschwafel war eine Geheimsprache, komplizierter als ägyptische Krypto­ gramme und zusätzlich verschleiert durch ständige Improvisa­ tionen, die nichts anderes bewirken sollten, als die Computer des Sicherheitsamtes noch mehr zu verwirren. Sobald sie diese Sprache entwickelt hatten, stellten die Gefangenen weitere For­ schungen an, wobei sich jenes Gebiet als das aussichtsreichste erwies, das auch Schipansky und seine Kollegen kürzlich bei unserer verzweifelten Gedankenakrobatik gestreift hatten: die mechanische Aufzeichnung und Speicherung von Gehirnwel­ len, basierend auf Frawleys Experimenten in Cambridge. Wir waren bei der Diskussion über die Folgerung gestolpert, daß für die Reaktivierung der gespeicherten Gehirnwellen ein anderer menschlicher Körper am besten geeignet wäre. Mordecai und seine Leidensgenossen gelangten ebenfalls zu 215

dieser Erkenntnis. Sie zogen daraus den Schluß, daß sie ihren Zweck nur mit Hilfe einer Apparatur erreichen würden, die Aufzeichnung und Playback in einem einzigen Arbeitsgang bewältigen konnte. Sie mußten also einen IntelligenzReziprokator konstruieren. Daß sie trotz der äußerst geringen Möglichkeit zu Experimenten und trotz der Notwendigkeit, ständig die Fiktion vom »Magnum Opus« aufrechtzuerhalten, dazu fähig waren; daß die raffinierte Konstruktion sogar den Elektronikexperten, die die Apparate kontrollieren mußten, harmlos erschien; daß es den Gefangenen gelang, bereits beim ersten Versuch einen vollen Erfolg zu erzielen – das ist für mich der bisher erstaunlichste Beweis für die ungeheure Wir­ kung des Pallidins. (Eine ironische Pointe möchte ich nicht verschweigen: Den Schaltplan für den wichtigsten Teil des Reziprokators hatte ich damals vor mir, als ich die Zeichnung entdeckte, die, dem Rezept Poes entsprechend, inmitten des Durcheinanders auf Mordecais Schreibtisch in George Wagners Ausgabenkonto versteckt war: das Bild eines Königs und eines mit Männerköpfen dekorierten, rankenartigen Gatters.) 97. Letzte Enthüllungen: Es war ein glücklicher Zufall, daß Haasts Intellekt in dem Augenblick, als er sich in Mordecais todkrankem Körper wie­ derfand, sich in panischem Entsetzen aufbäumte und daß dieser Schock zu einer Embolie führte. Mordecai behauptet, der Ge­ danke, ein Neger zu sein, habe Haast den Todesstoß versetzt. Kaum vorstellbar, daß ich mich monatelang mit einem Men­ schen unterhalten habe, der gar nicht mehr existierte! In der Rückschau wird mir klar, daß ich aus vielen Veränderungen, die mir an Haasts Verhalten auffielen, die Wahrheit hätte ablesen 216

können. Im großen und ganzen jedoch spielte Mordecai seine Rolle unerhört gut. Warum aber spielte er diese Rolle? Er hat mir erklärt, daß der große Plan nur ganz allmählich verwirklicht werden konnte und daß er sich dazu der Autorität Haasts bedienen mußte, die er natürlich nur ausüben konnte, wenn er sich nach außen hin wie Haast benahm. Er war also noch als Kerkermeister ein Ge­ fangener! Nach und nach unterzogen sich auch die anderen Gefange­ nen (der Bischof, Sandeman usw.) dem Experiment, um das Lagerpersonal zu unterwandern, wobei sie entweder medizini­ sche Angestellte oder Wärter als »Ersatzkörper« benutzten. Eine der erstaunlichsten Auswirkungen meiner Anwesenheit im Lager Archimedes war, daß sich drei Gefangene, unter ihnen Barry Meade, meine Philosophie der Gewaltlosigkeit zum Beispiel nahmen und auf ihre »Auferstehung« verzichteten. Sie wollten lieber ihren eigenen Tod sterben als einen anderen Menschen zum Tod verurteilen. Weil Mordecai fürchtete, daß auch ich mich so entscheiden würde, weihte er mich nicht in den Plan ein, und so erfuhr ich das Geheimnis erst, nachdem mir der Körper meines Opfers als unwiderrufliches Erbe zugefallen war. Ob ich wirklich darauf bestanden hätte, ein Märtyrer zu werden? Ich bin jetzt so ver­ liebt in diesen Körper, in das Leben, ins Gesundsein, daß ich es mir nicht mehr vorstellen kann. Doch, ich glaube, ich hätte dar­ auf bestanden! 98. Aber denken wir an die Zukunft! Es werden bereits alle An­ strengungen unternommen, einen Impfstoff zu finden. Das Licht der Hoffnung schimmert von zwanzig bezwingbaren Berggipfeln. Und wenn wir dennoch zum Untergang bestimmt 217

sind, dann werden wir uns wenigstens bis zuletzt dagegen wehren. Also mit Mut voran! 99. Nein, ganz so heiter ist es nicht. Noch lauert das Entsetzen. Hinter der Haast-Maske verbirgt Mordecai das Wissen um eine andere, weiter entfernte Zukunft, um eine Bergspitze jenseits der schimmernden Gipfel, um eine tödliche Kälte und Einsam­ keit. Valery hat recht! Am Ende ist der Verstand nackt und bloß. Am Ende ist er reduziert auf jenen Zustand äußerster Ar­ mut, der darin besteht, eine Kraft ohne Ziel zu sein. Ich existiere ohne Instinkte und fast ohne Phantasie; und ich habe kein Ziel mehr. Ich habe mit nichts mehr Ähnlichkeit. Das Gift hat nicht zwei Dinge – Genialität und Tod – bewirkt, son­ dern nur eins. Nennt es, wie ihr wollt. 100. Eine schöne runde Zahl zum Abschluß. Und zudem ist heute der 31. Dezember. Heute hat Mordecai gesagt: »Es gibt viel Schreckliches, von dem wir nichts wissen. Es gibt viel Schönes, das wir noch entdecken werden, Laß uns den Weg zu Ende gehen.«

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