Die Tochter der Himmelsscheibe

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Wolfgang Hohlbein

Die Tochter der Himmelsscheibe Roman

ISBN3-492-70068-3 © Piper Verlag GmbH, München 2005 Vorsatzkarte: Erhard Ringer Satz: EDV-Fotosatz Huber / Verlagsservice G. Pfeifer Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany

Das Buch Feuer, Sturm und Siebengestirn - in Arris Träumen vermischt sich alles: die Katastrophe, die ihre Heimat verschlang, die Geheimnisse um ihre Mutter Lea, der Tod des Vaters, der sein Leben opferte, um das ihre zu retten… In dem Dorf, das Mutter und Tochter wie Schiffbrüchige aufgenommen hat, fühlt sich Arri als Fremde. Und doch kann sie sich nicht vorstellen, anderswo als in der Hütte am Rand des Verbotenen Walds zu leben. Die vermeintliche Idylle schlägt um, als der Hohepriester von Goseg erscheint und Arri unter Druck setzt - und damit die kämpferische Mutter in die Knie zwingen will. Seinen Drohungen zum Trotz reift in Lea ein gewagter Plan, der sich der Tochter erst nach und nach erschließt. Doch da ist es fast zu spät. Die Jäger des Dorfs werden angegriffen, und die Kunde von den Fremden, die über die Berge kommen, um sich das Land Untertan zu machen, greift wie ein Lauffeuer um sich. Sarn, der Schamane, beschuldigt Lea des Komplotts mit den Fremden - und in Arri keimt der Verdacht, dass diese Anschuldigung nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Als ihre Mutter in aller Hast zu einem weit entfernten Handelsplatz aufbricht, heftet sie sich ihr an die Fersen - und erlebt eine böse Überraschung. Die Menschen, zu denen die beiden gelangen, halten sich Wölfe als Haustiere und pflegen Umgang mit Kriegern, die es nicht nur auf Leas Zauberschwert abgesehen haben, sondern auch auf Arri selbst…

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1 »Es wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.« Die Worte ihrer Mutter hallten in Arris Kopf wider, während sie aus der alten, halb zerfallenen Schmiedehütte trat und zu der rotgolden glitzernden Zella zurückblickte, in deren ruhig dahingleitenden Fluten sich die Abendsonne spiegelte. Sie wusste nicht, was plötzlich in ihre Mutter gefahren war. Sie ohne ein weiteres Wort zum Fluss zu schicken, um dem eigensinnigen Rahn einen fangfrischen Fisch abzuschwatzen, obwohl sie noch genug zu essen im Haus hatten, war schon ungewöhnlich genug. Doch die Hast, in der es geschehen war, und das ungeduldige Stirnrunzeln, mit dem sie beobachtet hatte, wie ihre Tochter mit den schnell zusammengeklaubten Essensresten die schmale Holzstiege hinabgeeilt war, hatten Arris Verwunderung in ein banges Vorgefühl umschlagen lassen. »Sag deiner Mutter, sie soll mir demnächst etwas Anständiges zu essen schicken«, keifte der blinde Schmied hinter ihr her. »Das Fladenbrot ist steinalt, und die Pilze schmecken, als hätte eine Wildschweinfamilie ihre Notdurft darüber verrichtet.« Arri stieß einen leisen Seufzer aus und umklammerte die fangnasse Äsche so fest, als könne sie ihr aus der Hand flutschen wie in dem Moment, in dem sie den zappelnden Fisch in Empfang genommen hatte. Sie hätte dem Schmied erklären können, dass ihre Mutter es zwar duldete, wenn sie ein wenig Essen für ihn abzweigte, ihm aber niemals von sich aus regelmäßig mehr als die karge Ration hätte zukommen lassen, welche die Dorfgemeinschaft ihm zugestanden hatte. Ein blinder Schmied war ein nutzloser Schmied, und wenn Achk nicht vor dem ersten Schnee irgendeine Tätigkeit fand, drohte ihm, dass ihn Sarn mit Schimpf und Schande aus dem Dorf vertreiben ließ. Dabei machte es keinen Unterschied, dass Achk sein Augenlicht verloren hatte, während er damit beschäftigt gewesen war, nach den Anweisungen von Arris Mutter für die Gemeinschaft eine ganz neue Art von Metall zu schmelzen, das angeblich viel härter und widerstandsfähiger war als Kupfer oder Bronze. Das Dorf konnte keine

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nutzlosen Esser brauchen, selbst jetzt nicht, wo die Ernte eingefahren wurde und die Jäger so reiche Jagdbeute wie schon lange nicht mehr mit nach Hause brachten. Arri konnte das zwar verstehen, aber sie fand es ungerecht; vielleicht umso mehr, weil sie wusste, dass ihre Mutter nicht ganz unschuldig an dem Unglück war, das Achks Gesicht verheert und ihn fast getötet hatte. Das Schimpfen des undankbaren Alten ging in ein unverständliches Brabbeln über. In letzter Zeit geschah das immer öfter. Im gleichen Maße, in dem der blinde Schmied sonderbarer und streitlustiger wurde, schien nicht nur seine Hütte zu verfallen, die er ohne Augenlicht nicht mehr instand halten konnte, sondern auch sein Geist. Gewiss würde ihm jetzt kein einziges vernünftiges Wort mehr zu entlocken sein, und so machte Arri, dass sie von hier wegkam. Sie hatte sich den Umweg über die Schmiede für den Rückweg aufgespart, um von hier aus den schmalen, nach Süden führenden Pfad zu wählen, vorbei an wuchernden Bärentrauben, Haselnuss- und Gagelsträuchern, die von den Feuchtwiesen her dem Wald entgegenwuchsen und die wenigen Felder einrahmten, die die Sippe auf dieser Dorfseite dem Boden abgetrotzt hatte. Es war der alte, abseits gelegene Steinkreis, der Arri geradezu unwiderstehlich anzog, vielleicht, weil etwas Düsteres, Geheimnisvolles von ihm ausging. Nur ganz flüchtig blitzte in ihr der Gedanke auf, dass ihre Mutter ihr streng verboten hatte, je allein und ohne ihre ausdrückliche Aufforderung diesen geheimnisumwitterten Ort aufzusuchen. Arri sah nicht die geringste Veranlassung, dieses Verbot ernst zu nehmen. Schließlich hatte ihre Mutter sie ja sogar selbst letzten Vollmond mit hierher genommen. Nachdem sie ganz in der Nähe, am Saum der Sumpfwiesen, Kräuter gesammelt hatten, hatten sie sich gemeinsam an den Rand des Kreises gesetzt, und ihre Mutter hatte zu erzählen begonnen, von den alten und neuen Zeiten im Dorf und was das alles mit ihr zu tun hätte. Arri hatte kaum mehr als die Hälfte davon verstanden, aber es war ein Gefühl vager Beunruhigung in ihr verblieben, das sich jetzt beinahe zu etwas wie Furcht steigerte. Trotzdem ging sie weiter, getrieben von einer Neugier, die stärker war als ihre Vernunft.

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Es dauerte nicht lange, bis Arri den Steinkreis erreicht hatte, der wie verzaubert in dem von den Wiesen aufsteigenden Dunst lag. Wie immer, wenn sie hierher kam, überlief sie ein kalter, fast ehrfürchtiger Schauder beim Anblick der mannshohen behauenen Steine, die aussahen, als hätte sie ein Riese im Vorbeigehen achtlos niederfallen lassen. Es war kein regelrechter Kreis, auf dessen Eingang sie jetzt mit langsamer gewordenen, fast verhaltenen Schritten zuging; die massigen, blaugrauen Ungetüme waren eher wie die Krallen einer offen daliegenden Bärentatze angeordnet, welche Arri zu umschließen schien, kaum dass sie ihren Fuß über die Brandspur der letzten Zeremonie gesetzt hatte. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, ein Geräusch, das ihr lauter vorkam als das ferne Blöken der Schafe und das Rauschen des Windes, der in die wenigen dürren Bäume fuhr, die den Kreis umstanden. Das hier war der Ort, an dem Sarn und seine Sippe den alten Göttern huldigten, ein Platz voller Erinnerungen an alte Riten und Zeremonien, dessen beeindruckender Ausstrahlung sich Arri noch nie hatte entziehen können, fest umfasst von den stummen Steinriesen, die nur im Norden, Südwesten und Südosten einen Spalt ließen, welcher groß genug war, um dort hindurchzugehen. Schon sehr bald würde sich das ganze Dorf hier auf Geheiß des Schamanen versammeln, um das Jagd-Ernte-Fest zu feiern und den Göttern den ihnen zustehenden Anteil der Ernte zu opfern. Arri dachte voller Unbehagen an den letzten Herbst und das zwei Tage dauernde Fest zurück, an die mit frischem Ochsenblut bemalten Gesichter der Männer und Frauen, die im Rhythmus der Trommeln mit nackten Oberkörpern das Feuer umtanzt hatten, an den dumpfen Singsang der vom Pilzgenuss Berauschten, an die Selbstvergessenheit, mit der sich die Menschen ihren Göttern hingegeben hatten. Gleichgültig, wie alt sie waren und ob sie zuvor auf den Feldern gearbeitet, Rinder oder Schafe gehütet, Braunbären, Elche, Auerochsen, Hasen und Wildgeflügel gejagt, Äschen, Rotaugen und Forellen gefischt hatten; in diesen zwei Tagen waren sie alle eine verschworene Gemeinschaft gewesen, in der es keine Unterschiede gegeben hatte. Vielleicht war es ihr damals zum ersten Mal aufgefallen, wie anders sie und ihre Mutter

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waren, wie wenig sie im Grunde mit den Menschen gemein hatten, die sie in ihren Kreis aufgenommen hatten, ohne sie je wirklich willkommen zu heißen. Mit langsamen, fast zögerlichen Schritten ging sie nun zu der Stelle hinüber, an der sie erst vor kurzem mit ihrer Mutter gesessen hatte. Der Boden unter ihren nackten Füßen war feucht und kalt, aber sie merkte es kaum. Inmitten des aufkommenden Abendnebels war da etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und ihren Herzschlag abermals beschleunigte. Ein einzelner Sonnenstrahl brach zwischen zwei wie drohend aufgerichteten Steinen hervor und brachte den Dunst, durch den er flirrte, scheinbar zum Kochen. Arri hatte davon gehört, dass die Sonne an ganz bestimmten Tagen ein verwirrendes Spiel in dem Steinkreis spielte, einen strahlenden Finger zu dem Heiligtum ausstreckte und ihn durch einen Spalt wandern ließ, bis er über ein eigens dafür hergerichtetes Blutopfer strich. Aber sie war noch nie Zeuge eines solchen Schauspiels geworden. Es stand allein dem Schamanen und seinen Helfern zu, die Zeremonie einzuleiten, die dann nötig war, um böse Geister zu beschwichtigen und den blutrünstigen Göttern zu huldigen, die Arri mit all ihren harten Gesetzen fremd blieben, obwohl sie fast ihr ganzes Leben in ihrer Obhut zugebracht hatte. Der Sonnenstrahl war kaum breiter als ihr Arm, aber er glitzerte und leuchtete so stark, dass es Arri fast in den Augen wehtat. Sie blieb stehen und folgte dem Lichtfinger, der wie von dem zornigen Nachtgott Mardan herabgeschickt auf den Boden fiel, fast genau auf die Stelle, wo sie vor einer knappen Mondwende gesessen hatte. Ihr Atem stockte, als sie begriff, was sie da außerdem noch vor sich sah. Wie gebannt hing ihr Blick an dem kleinen Stofffetzen, der in einer Steinspalte eingeklemmt war, von dem einzelnen Strahl auf geradezu unnatürliche Weise beleuchtet. Im ersten Augenblick konnte sie die Farbe und Beschaffenheit des Fetzens kaum erkennen, doch als sie sich ihm näherte, wurde ihr mit jähem Schrecken klar, dass er dem Stoff verdächtig ähnlich sah, aus dem ihr eigener Wickelrock gefertigt war. Sie legte den Fisch beiseite, ging in die Hocke und zog den Fetzen hervor. Er fühlte sich ganz fein und trotzdem fest zwischen

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ihren Fingern an, genau so, wie es von den Fasern zu erwarten war, die ihre Mutter aus Brennnesseln gesponnen hatte. Noch immer in der Hocke und mit zitternden Fingern zog sie den Saum ihres Rockes hoch und begutachtete ihn, bis sie fand, wonach sie Ausschau gehalten hatte: die zerrissene Stelle, aus der der Fetzen zweifellos stammte. Ihre Mutter würde mit ihr schimpfen, dass sie so unaufmerksam gewesen war. Aber viel schlimmer als die Tatsache, dass sie sich den kostbaren Rock eingerissen hatte, war, dass es hier im Steinkreis geschehen war und dass der Fetzen - ein Teil von ihr fast für die Dauer eines Mondwechsels hier verblieben war… auf diesem den alten Göttern geweihten und mit dem Blut unzähliger Opfertiere getränkten Grund, von dem es hieß, dass er in den alten Zeiten auch das Blut menschlicher Götteropfer zu trinken bekommen hatte. Ein Geräusch schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf, und sie wollte hochfahren, aber es war zu spät. Eine knorrige Hand griff nach ihr, packte ihr Handgelenk und hielt es fest umklammert. Arri stieß gegen ihren Willen einen spitzen Schrei aus und wollte sich unwillkürlich aus dem Griff lösen, bis sie begriff, mit wem sie es zu tun hatte: mit Sarn, dem Schamanen des Dorfes und Oberhaupt der Gemeinschaft, die er selbst seine Sippe nannte - und der ihre Mutter im gleichen Maße hasste, wie sein Einfluss seit ihrem Auftauchen im Dorf geschrumpft war. Der Alte stand schräg hinter ihr, sodass sie nicht mehr als den Schatten seiner dürren, altersgebeugten Gestalt sehen konnte, aber sie fragte sich verzweifelt, wie es ihm überhaupt gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern. Sie musste stärker in Gedanken versunken gewesen sein, als ihr lieb sein konnte. »Was machst du hier, du dummes Gör?«, herrschte er sie mit seiner unangenehm schrillen Stimme an, und sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Nacken. »Weißt du nicht, dass es euresgleichen verboten ist, hier unerlaubt hinzukommen? Und noch dazu an einem Tag wie diesem!« Arri wollte sich zu ihm umdrehen, aber der Alte ließ ihr Handgelenk los und versetzte ihr gleichzeitig einen so heftigen Stoß in den Rücken, dass sie ein paar Schritte vorwärts stolperte und fast gestürzt

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wäre. »Mach, dass du nach Hause kommst.« In Arris Kopf herrschte heller Aufruhr. Sie verfluchte sich dafür, dass sie hinter dem Rücken ihrer Mutter hierher gekommen war und nicht gleich wieder kehrtgemacht hatte, als sie den einzelnen Sonnenstrahl bemerkt hatte, der durch den Dunst gebrochen war. Und dann ihre Unvorsichtigkeit! Sarn war vielleicht schon hier gewesen, verborgen hinter einem der alten heiligen Steine, und wenn er zuvor noch nicht gewusst hatte, wem der Stofffetzen gehörte, den auch ihm der Lichtfinger offenbart haben musste, dann hatte sie es ihm mit ihrer unbedachten Handlung offenbart. Sie hatte keine Ahnung, welche Folgen es haben würde, wenn der Schamane wusste, dass sie hier schon einmal gewesen war. So aufgewühlt, wie sie war, war sie nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie wollte einfach weg hier. Ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, lief sie los, auf den Pfad zu, der zur Hütte ihrer Mutter führte. Aber sie kam nicht weit, ohne von Sarn nicht noch einen Gruß hinterher geschickt zu bekommen. »Und hier, dass du mir das nicht vergisst!«, schrie er. Etwas sauste durch die Luft und klatschte ein paar Schritte vor ihr in den Dreck. Es war der Fisch, den sie nahe der Stelle hatte liegenlassen, an der sie den Stofffetzen gefunden hatte. Arri bückte sich rasch und hob die Äsche auf, und ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, hetzte sie weiter, dem gewundenen Pfad folgend, der sie weg von dem Heiligtum und dem alten Schamanen brachte und hin zu der Hütte, die ihr Schutz war, so lange sie denken konnte. Erst nachdem sie eine Wegkehre zwischen sich und den Steinkreis gebracht hatte, wurde sie langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Mit der rechten Hand fuhr sie sich durch die Haare, während sie mit der Linken den verdreckten Fisch umklammert hielt, als fürchtete sie, er werde sich sonst selbstständig machen. Sie hörte keine Schritte hinter sich, weder Sarn noch irgendjemand anderer schien ihr gefolgt zu sein. Ob das gut war oder nicht, vermochte sie nicht zu beurteilen. Jedenfalls wusste sie, dass sie ihrer Mutter nicht in einem solch aufgelösten Zustand unter die Augen

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treten durfte - zumindest nicht, wenn sie keine misstrauischen Blicke und bohrenden Nachfragen riskieren wollte, denen sie kaum würde standhalten können, so tief, wie ihr der Schreck in den Gliedern steckte und der Nachhall des ekelhaften Gefühls, von Sarns dürrer Greisenhand umklammert worden zu sein. Ihrer Mutter auch nur irgendetwas zu verbergen war fast unmöglich, und sie wollte es ihr nicht auch noch leichter machen. Vor allem hatte sie überhaupt keine Lust, ihr zu erklären, was sie bei dem Steinkreis gewollt hatte - und was das alles mit dem Riss in ihrem Rock zu tun hatte. In einer vollkommen sinnlosen Geste glättete sie erst ihren Sommerrock und zupfte dann die von einer Bronzenadel zusammengehaltene Bluse zusammen, bevor sie sich noch einmal mit der Hand durchs Haar fuhr und dann den Fisch sorgfältig im feuchten Gras abwischte. Die ganze Zeit ging ihr der Lichtfinger nicht aus dem Kopf, der auf den Stofffetzen gedeutet hatte. Arri war sich sicher, dass dies etwas zu bedeuten hatte, aber so aufgewühlt wie sie immer noch war, kam sie auf keine vernünftige Erklärung. Ein Fingerzeig, den einer von Sarns Göttern dem alten Schamanen hatte geben wollen? Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Mutter würde sie auslachen, wenn sie ihr mit einer solchen Deutung käme. Sie ging langsam weiter, ohne diese Frage aus dem Kopf zu bekommen - und das unangenehme Gefühl, dass ihr die Begegnung mit Sarn bei anderer Gelegenheit noch sauer aufstoßen würde. Wahrscheinlich wäre es das Beste, ihrer Mutter doch davon zu erzählen. Arri wälzte diesen Gedanken im Kopf hin und her und klopfte ihn aus allen Richtungen ab, um zu einer Antwort zu kommen, aber es gelang ihr nicht. Schließlich hatte sie den Fuß der schmalen Stiege erreicht, die zum Eingang ihrer auf kräftigen Pfählen ruhenden Hütte hinaufführte, und brach die Grübelei ab, ohne zu einem endgültigen Ergebnis gekommen zu sein. Vielleicht hatte sie ja Glück, und ihre Mutter erfuhr nichts von ihrem Zusammenstoß mit Sarn, und wenn doch, dann konnte sie immer noch behaupten, ein verirrtes Schaf habe sie zum Steinplatz gelockt. Das wäre zwar eine glatte Lüge, und es widerstrebte Arri zutiefst, ihre Mutter ohne Not anzulügen, auf der

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anderen Seite - warum sollte sie ihr unnötig Kummer bereiten? Als sie den Fuß auf die obere der ohnehin nur aus fünf Stufen bestehenden Stiege setzte, hörte sie Stimmen aus dem Haus. Ihre Mutter hatte Besuch. Das war an sich nichts Besonderes. Ihre Mutter bekam oft Besuch. Meist von Männern und Frauen aus dem Dorf, die ihren Rat in all den praktischen Dingen suchten, von denen Lea so viel verstand, oder weil ein Familienangehöriger krank geworden war und sie ihre Hilfe benötigten. Manchmal kamen sogar - zumeist weibliche - Abgesandte anderer, weiter entfernt lebender Sippen, die Ähnliches von ihr wollten, und zwei oder drei Mal allein in diesem Sommer war auch Nor angereist, der weit über die Grenzen seines Einflussbereiches gefürchtete Hohepriester und Herrscher von Goseg. Arris anfängliche Erleichterung, dass ihre Mutter beschäftigt war und gar keine Zeit hätte, ihr Vorhaltungen wegen des eingerissenen Rocks oder der Begegnung mit Sarn zu machen, wich einer geradezu trüben Stimmung, als sie die zweite Stimme tatsächlich als Nors erkannte. Auch wenn ihre Mutter es niemals laut ausgesprochen hatte, so wusste Arri doch, dass sie den Hohepriester noch sehr viel mehr ablehnte als Arri selbst, weshalb sie nach jedem seiner Besuche regelmäßig schlecht gelaunt und reizbar war. Arri hatte nicht hingehört und wusste daher nicht, worum es in dem Gespräch zwischen ihrer Mutter und dem Herrscher von Goseg ging, doch allein der Tonfall der durcheinander redenden Stimmen machte klar, dass es sich um einen Streit handelte - oder zumindest um etwas, das dem sehr, sehr nahe kam. Sie zögerte kurz, den kunstvoll geflochtenen Muschelvorhang beiseite zu schlagen und einzutreten, begriff aber im nächsten Augenblick, dass ihre Mutter sie längst gesehen haben musste. Ganz gleich, wer zu Besuch kam und worum es ging - ihre Mutter saß stets mit dem Gesicht zum Eingang, und da es in der Hütte weit dunkler war als draußen, musste sich ihre Gestalt deutlich hinter dem Vorhang abzeichnen. Jetzt kehrtzumachen wäre verhängnisvoll gewesen und hätte ihrer Mutter allerhöchstens Anlass zu weiterem Ärger gegeben, denn ob sie Nor nun mochte oder nicht: Er war der mächtigste Mann

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weit und breit, mit dem man es sich besser nicht verdarb. So schob Arri nach einem letzten Zögern sowohl ihre Bedenken als auch das ungute Gefühl beiseite und öffnete den Vorhang; die zahllosen Muschelstückchen, die in die Baststränge eingeflochten waren, klimperten hörbar und kündigten auf diese Weise jeden Besucher an, auch wenn es diesem vielleicht gar nicht recht war. Es fiel ihr nicht schwer, einen Ausdruck von Überraschung auf ihr Gesicht zu zaubern, als sie neben dem groß gewachsenen greisen Hohepriester von Goseg einen weiteren Besucher erblickte - einen in das dunkle, fast schwarze Wickelgewand der Krieger Gosegs gekleideten Mann, dessen Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, als er ihrer ansichtig wurde. Ihre Mutter saß nicht auf dem Korbstuhl mit der hohen Lehne, auf dem sie Besucher gewöhnlich empfing, sondern stand an dem schmalen, nach Süden gerichteten Guckloch, hatte das Gesicht aber trotzdem dem Eingang zugewandt. Der kurze, fast schon mürrische Blick, den sie Arri zuwarf, machte klar, dass es um ihre Selbstbeherrschung vielleicht nicht ganz so gut bestellt war, wie sie bisher geglaubt haben mochte. Auch Nor, der offensichtlich gerade dazu angesetzt hatte, etwas zu sagen, unterbrach sich und wandte sich zum Eingang um. Der Anblick seines von Runzeln und Falten übersäten, aber vollkommen haarlosen Gesichtes, bei dem nicht nur Kopf- und Barthaar, sondern selbst die Augenbrauen fehlten und anstelle der Wimpern nur zwei Reihen kaum wahrnehmbarer, verkümmerter schwarzer Striche zu erkennen waren, jagte Arri einen kalten Schauer über den Rücken. Nor maß Arri mit einem wenig freundlichen Blick, was aber nichts Außergewöhnliches war. Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter nach einem Besuch des Hohepriesters nicht gereizt oder besorgt gewirkt hatte, hatte der alte Mann Arri niemals anders als unfreundlich angesehen. Aber vielleicht lag das auch an seinem nackten Schädel, dessen Anblick in all seiner abstoßenden Nacktheit für Arri fast unerträglich war, vielleicht um so mehr, weil sie gewohnt war, dass Männerköpfe weitaus haariger waren als die von Frauen, denn schließlich trugen alle anderen Männer, die sie kannte,

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lange Haare und dichte Bärte. In der Tiefe ihres Herzens war Arri jedoch sicher, dass Nors abweisender Blick einen ganz anderen Grund hatte, einen Grund, der mit ihr selbst zusammenhing. Dass Nor ein gleichermaßen gefährlicher wie mürrischer Mann war, würde wohl kaum jemand, der es wagte, hinter seinem Rücken über ihn zu tuscheln, ernsthaft bestreiten wollen. Und doch glaubte sie in seinen Augen mitunter etwas zu lesen, das weit darüber hinaus ging; eine Mischung aus Zorn und… ja, beinahe Furcht, als sähe er in ihr sehr viel mehr als nur die Tochter ihrer Mutter, etwas, das für ihn gleichermaßen hassenswert wie fürchtenswert war. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie so hässlich war. Zwar gewiss nicht seinem Alter, sehr wohl aber seinem Rang angemessen, hatte Nor drei Frauen, von denen zwei kaum älter als Arri und alle drei wahre Schönheiten waren, während sie sich selbst nicht im Entferntesten mit ihnen messen konnte. Es hatte schon Tage gegeben, an denen sie sich geweigert hatte, zum Fluss zu gehen und Wasser zu holen, aus Angst, ihrem Spiegelbild mit dem viel zu schmalen Gesicht zu begegnen. Zumindest ersparte sich Nor an diesem Tag eine entsprechende Bemerkung - auch die hatte sie aus seinem Munde schon vernommen - und beließ es bei einem verächtlichen Runzeln seiner Stirn, bevor er sich mit einem unwilligen Laut wieder zu Arris Mutter umwandte. »Die Zeit ist nun endgültig gekommen, Lea, und es wird dir nichts nutzen, wenn du noch einmal versuchst hinauszuzögern, was schon vor zwei Jahren hätte geschehen müssen. Tu deine Pflicht. Das bist du den Menschen hier schuldig.« Leas Lippen wurden schmal, was Nor vielleicht entging, für Arri aber ein untrügliches Anzeichen dafür war, wie schwer es ihrer Mutter fiel, noch die Fassung zu bewahren. In ihren dunklen, eine Spur zu großen Augen - die ebenso wie die ihrer Tochter gerade eine Winzigkeit zu weit auseinander standen, als dass die Dorfbewohner ihr Gesicht länger als ein paar Augenblicke ansehen konnten, ohne verunsichert den Blick zu senken - blitzte es zornig auf. Als sie antwortete, klang ihre Stimme jedoch kühl, fast schon teilnahmslos.

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»Wollt Ihr mir drohen, Nor?« Der Hohepriester hob abwehrend die Hände. Für Arri sah es aus, als hebe ein Raubvogel seine dürren Klauen, um sich auf sein Opfer zu stürzen. »Nichts läge mir ferner. Du lebst nun schon so lange bei uns, Lea, und du hast so viel für die Menschen hier getan… auch für mich, das will ich gar nicht abstreiten. Denk an deine Tochter, wenn schon nicht an dich. Nicht alle meinen es so gut mit euch wie ich. Selbst in Goseg mehren sich die Stimmen, die meinen, dass du das Wissen, das dir die Götter geschenkt haben, nicht länger für dich behalten darfst.« Lea wollte widersprechen, doch Nor fuhr mit einem heftigen Kopfschütteln und leicht erhobener Stimme fort: »Ich weiß, dass all das nicht gerecht ist. Mancher in eurem Dorf wäre in den letzten Wintern verhungert ohne die Gaben, die du uns gebracht hast, und nicht nur hier. Deswegen will ich dir auch nicht befehlen, sondern appelliere an deine Einsicht. Aber ich muss dich auch warnen: Verspiele nicht meine Gunst, und reize nicht die Götter Gosegs, unter deren Schutz du hier bislang unbeschadet gelebt hast!« Leas Gesicht verhärtete sich. Der Zorn war aus ihren Augen gewichen, aber er hatte einer Kälte Platz gemacht, die eindeutig schlimmer war. Bevor sie antwortete, löste sie sich von ihrem Platz am Fenster, trat mit drei raschen Schritten hinter Arri und legte ihr in einer ganz gewiss nicht zufälligen Geste beide Hände beschützend auf die Schultern. Arri war verwirrt und sogar ein bisschen erschrocken. Was sich draußen wie ein Streit angehört hatte, war tatsächlich einer; ja, sie war sogar sicher, dass sich die beiden einzig ihretwegen noch beherrschten, um nicht noch viel schlimmere Dinge zu sagen. Was ging hier nur vor? »Ihr habt eine sehr seltsame Art, Eure Dankbarkeit zu zeigen, Hohepriester«, fuhr ihre Mutter fort. »Oder ist es bei Eurem Volk üblich, diejenigen zu bedrohen, die Euch helfen, wo sie nur können?« »Es tut mir Leid, wenn du meine Worte so verstanden hast, Lea«, antwortete Nor, wenn auch in einem Ton, der zumindest in Arris Ohren nach dem genauen Gegenteil klang. »Ich sage es gern noch einmal, und ich sage es auch laut, vor den Ohren des ganzen Dorfes, wenn du es willst: Ich weiß, was wir dir zu verdanken haben. Aber

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nicht alle denken so wie ich. Und jetzt, wo die Zeit mehr als überfällig ist und du endlich in unsere Gebräuche einwilligen musst, ob du es nun einsiehst oder nicht, werde selbst ich dich und deine Tochter nicht mehr beschützen können.« Als er die Worte deine Tochter aussprach, verkrampften sich Leas Hände für einen Moment so fest auf Arris Schultern, dass es schon fast wehtat. Nor blieb das nicht verborgen. Ein Ausdruck von schlecht vertuschter Verletztheit huschte über sein nacktes, faltiges Gesicht, und plötzlich trat er näher, streckte die Hand aus und fuhr Arri damit flüchtig über das bis auf den Rücken reichende, glatte helle Haar. Er brachte es sogar fertig, dabei zu lächeln, aber es kostete ihn sichtliche Anstrengung. Nicht nur Arri spürte, dass er ihr ungefähr mit dem gleichen Vergnügen über den Kopf gefahren war, mit dem er eine hässliche Spinne oder ein missgestaltet geborenes Schwein gestreichelt hätte. Lea reagierte entsprechend, indem sie einen hastigen Schritt zurücktrat und ihre Tochter beinahe grob aus der Reichweite des Hohepriesters zerrte. »Meine Antwort ist nein«, sagte sie, machte eine winzige, aber bedeutsame Pause und fuhr dann mit leicht erhobener Stimme und unmissverständlicher Betonung fort: »Richte das nur denen aus, die nicht so denken wie du. Und was deine Sorge um meine Zukunft und vor allem die meiner Tochter angeht, so kann ich dich beruhigen. Ich bin keine junge Frau mehr, aber ich bin auch noch nicht zu alt, um nicht zusammen mit meiner Tochter an einen anderen Ort zu gehen. Vielleicht an einen, an dem man unsere Gaben mehr zu würdigen weiß.« Nor lächelte unerschütterlich weiter. Möglicherweise waren seine Züge aber auch einfach eingefroren - bei dem, was er da hörte. Etwas in seinen Augen erlosch jedenfalls. Er brachte es irgendwie fertig, die Wut in seinem Blick niederzukämpfen, aber weniger gut als sein Gesicht und seine Augen hatte er seinen Körper unter Kontrolle. Nor war ein uralter Mann, aber er war nach wie vor eine beeindruckende Persönlichkeit, was nicht nur an der Ausstrahlung von Macht und Autorität lag, sondern auch daran, dass er wesentlich größer als jeder andere Mann war und zudem ihre ungewöhnlich hoch gewachsene

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Mutter um einen halben Kopf überragte. Für einen Moment strahlte er einen solchen Zorn und eine solche Angriffslust aus, dass Arri erschrocken die Luft anhielt. Sie wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn der Hohepriester ihre Mutter gepackt und so lange geschüttelt hätte, bis sie ihm gab, was er von ihr wollte. Was immer es sein mochte. Der Augenblick verging jedoch so schnell, wie er gekommen war. Der brodelnde Zorn, der dem alten Mann etwas von der Wildheit und Kraft zurückgegeben hatte, die vor unendlich vielen Sommern vielleicht einmal tatsächlich in ihm gewesen waren, erlosch, und Nor sackte regelrecht in sich zusammen. Sein nacktes Gesicht, eine Landschaft aus Falten, Runzeln und zahllosen, tief eingegrabenen Narben, erschlaffte ebenso wie seine Schultern, und er stützte sich schwer auf den knorrigen Stock, den er bisher eher lässig in der linken Hand gehalten hatte, als führe er ihn nur zur Zierde und als Zeichen seiner Macht mit sich - und nicht, um sich darauf zu stützen. »Ich wünschte, du würdest Vernunft annehmen, Frau. Nach all der Zeit, die wir uns nun kennen, mache ich mir nun langsam Sorgen um dich. Ich bin ein alter Mann, und ich weiß nicht, wie lange ich noch meine schützende Hand über dich und deine Tochter halten kann. Die jüngeren Männer bedrängen mich. Männer, die nicht so geduldig sind wie ich und sich womöglich mit Gewalt nehmen werden, wonach ihnen der Sinn steht - und wozu sie die alten Gesetze der Götter nicht nur berechtigen, sondern geradezu auffordern.« Arris Mutter lachte leise; ein glockenheller Laut, in dem mehr Verachtung und Herablassung lagen, als hätte sie Nor eine schallende Ohrfeige versetzt. Der Krieger neben Nor spannte sich und machte einen Schritt in seinen aus Lederriemen gewickelten Gamaschen vorwärts, verhielt jedoch mitten in der Bewegung, als Nor mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung abwinkte. Obwohl Arri nicht zu ihr hochsah, spürte sie, wie der Blick ihrer Mutter an dem Krieger vorbei über die dem Eingang gegenüberliegende Wand tastete, wo das Zauberschwert hing - das Einzige, was sie außer ihrer Tochter und ihren Erinnerungen aus ihrer Heimat mitgebracht hatte. »Ich weiß Eure Sorge um mich zu schätzen, Nor«, sagte sie müh-

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sam beherrscht, »aber ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Dennoch danke ich Euch für Eure Warnung. Ich werde in Zukunft noch vorsichtiger sein und mir noch sorgfältiger überlegen, mit wem ich rede und worüber.« Diesmal sah der Hohepriester aus, als hätte sie ihn geohrfeigt. Und irgendwie - obwohl sie kaum etwas von dem verstand, was sie gerade gehört hatte - hatte Arri das Gefühl, dass sie es tatsächlich getan hatte. Nor starrte ihre Mutter für die Dauer von drei endlosen, schweren Atemzügen an, dann fuhr er auf der Stelle herum und verließ die Hütte ohne ein Wort des Abschieds und so schnell er konnte, dicht gefolgt von dem Krieger, der zu Arris Verblüffung ihr selbst und nicht ihrer Mutter einen letzten, merkwürdig abschätzenden Blick zuwarf. Arri wartete, bis der Muschelvorhang hinter ihnen zugefallen war, und ein ganz kleiner, boshafter Teil von ihr hoffte, dass der alte Mann auf den schmalen Stufen das Gleichgewicht verlieren würde und kopfüber hinunterstürzte; aber sie wusste zugleich auch, dass das nicht geschehen würde. Alt und gebrechlich mochte Nor ja sein, aber alles andere als ungeschickt oder gar unvorsichtig. Das bewies allein die Tatsache, dass er sich trotz seines hohen Alters nicht gescheut hatte, den weiten und anstrengenden Weg von Goseg über die Hügel hierher zurückzulegen, einen Weg, der sich auch auf kürzester Strecke nicht an einem einzigen Tag zurücklegen ließ, sondern ihn zwei, vielleicht sogar drei Tage gekostet haben mochte. Als die schlurfenden, vom dumpfen Klock, Klock seines Stockes begleiteten Schritte auf der Stiege abbrachen, glitt Arri unter den Händen ihrer Mutter hindurch und trat ans Guckloch. Sie war schneller gewesen als Nor, denn es vergingen noch ein paar Momente, bis er in ihrem Blickfeld auftauchte. Er bewegte sich langsam und dennoch auf eine Art, die ebenso große Zielsicherheit wie Kraft verriet. Sein unzweifelhaft hohes Alter und das, was Arri sah, passten nicht zusammen. Obwohl er spüren musste, dass sie hier oben am Guckloch stand und ihn beobachtete, hob er kein einziges Mal den Blick, während er mit hängenden Schultern und schwer auf seinen Stock gestützt den gewundenen Weg zum Dorf hinaufging,

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den Arri vorhin so leichtfüßig heruntergehüpft war; ein zu groß geratener Vogel in seinem Umhang aus Federn und gefärbten Tierfellen, der komisch gewirkt hätte, hätte er nicht zugleich auch wie ein Raubvogel ausgesehen. Arri blieb am Guckloch stehen, bis er zwischen den Bäumen am Dorfrand verschwunden war. Auf dem Gesicht ihrer Mutter lag ein Ausdruck tiefer Bestürzung, als Arri sich schließlich zu ihr umwandte - oder war es Furcht? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie ihre Mutter selten zuvor so aufgewühlt erlebt hatte; wenn sie es recht bedachte, eigentlich noch nie. »Was wollte er von dir?«, fragte sie. »Nichts«, antwortete ihre Mutter. Sie versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber es misslang und geriet zu einem Ausdruck, der ihre Unsicherheit nur noch unterstrich. Dennoch schüttelte sie bekräftigend den Kopf und sagte noch einmal: »Nichts. Jedenfalls nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die Arri ebenso wenig überzeugte wie das kläglich misslungene Mienenspiel. »Er ist ein alter Dummkopf, das weißt du doch. Ich glaube, er hat Recht mit dem, was er gesagt hat: Er wird nicht nur allmählich alt, sondern auch sonderbar.« Als alten Dummkopf hatte sie ihn schon öfter bezeichnet, und doch war diesmal etwas anders: In Arris Ohren klang das Wort sonderbar ganz eindeutig so, als hätte ihre Mutter in Wahrheit gefährlich gesagt. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Mutter fragend an - und noch etwas Neues geschah, das sie vielleicht nach allem Sonderbaren der letzten Augenblicke am allermeisten verwirrte: Ihre Mutter senkte den Kopf und wich ihrem Blick aus. Das war ganz eindeutig noch niemals geschehen. »Warum gibst du ihm nicht einfach, was er von dir will?«, fragte Arri. Für einen kurzen Moment las sie nichts als Verwirrung auf dem Gesicht ihrer Mutter, als hätte sie die Worte zwar verstanden, wüsste aber nicht wirklich etwas damit anzufangen. Darauf folgte - ganz kurz, aber Arri sah es trotzdem - ein Ausdruck von Erschrecken, den sie jedoch ebenso schnell niederkämpfte, wie er gekommen war, und

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der dann einem milden, verstehenden Lächeln Platz machte, das Arri wie ein Faustschlag traf. »Ich fürchte, dass das nicht geht.« »Und warum nicht?«, hakte Arri nach, fast schon ein bisschen frech. Das gönnerhafte Lächeln verblieb auf dem Gesicht ihrer Mutter und machte sie noch wütender. »Ich habe nicht alles gehört, aber ich weiß, dass er dich bedroht hat. Er wird dir Ärger machen, wenn du ihm nicht gibst, was er von dir will. Was ist es denn überhaupt?« »Keine Sorge«, antwortete ihre Mutter. Sie hatte offensichtlich beschlossen, den letzten Teil von Arris Frage zu überhören. »Er wird mir nichts tun. Er weiß genau, dass er das, was er von mir will, dann erst recht nicht bekäme.« Sie machte eine kleine, aber befehlende Geste mit der linken Hand, als Arri Luft holte, um erneut nachzuhaken. »Es ist jetzt gut. Geh zur Kochstelle und setz das Feuer in Gang. Ich werde uns etwas zu essen machen.« »Jetzt schon?«, fragte Arri verblüfft. »Soll ich nicht erst noch in den Garten? Ich müsste dringend Unkraut zupfen.« »Das Unkraut läuft dir nicht davon. Und außerdem möchte ich nicht, dass du dich heute Abend noch am Waldrand herumtreibst. Die Jäger haben erst gestern wieder Wolfsspuren im Wald gefunden. Gar nicht weit von hier.« Als ob Wölfe so dumm wären, sich in die Nähe einer Hütte zu wagen, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. So etwas taten Wölfe nicht, die jagten eher verirrten Schafen hinterher. Aber Arri war klug genug, den gereizten Tonfall ihrer Mutter zu bemerken und diesen Gedanken für sich zu behalten. Wenn sie jetzt nicht gehorchte, dann würde es gleich wirklich unangenehm werden, und für einen einzigen Nachmittag, fand Arri, hatte sie schon genug in dieser Hinsicht erlebt. Es fehlte ihr noch, dass sie eine Abreibung bekam, nur weil ihre Mutter ihre schlechte Laune an niemand anderem als an ihrer Tochter auslassen konnte. Als Arri immer noch keine Anstalten machte, ihrem Befehl nachzukommen, sondern einfach weiter dastand und sie anstarrte, wedelte ihre Mutter ungeduldig mit der Hand. »Geh endlich. Und beeil dich mit dem Feuermachen.« Das war die unwiderruflich letzte Warnung, und nun beeilte sich

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Arri, fuhr auf der Stelle herum und trat so schnell durch die Türöffnung, dass sie um ein Haar die oberste Stufe verfehlt hätte und sich nur im allerletzten Moment an dem aus Eschenholz gefertigten Geländer festhalten konnte, das die Stiege zierte. Sie selbst hatte Tage damit zugebracht, nicht nur einen besonders gerade gewachsenen Stamm des seltenen Baumes zu suchen, sondern auch seine Rinde abzuschälen und ihn so lange mit feinem Sand und Blättern zu polieren, bis er so hart und glänzend wie ein sorgfältig abgekochter Knochen aussah und ihre Hände ganz rot und an manchen Stellen schon blutig gewesen waren. Und sie hatte ihre Mutter mehr als einmal in Gedanken dafür verflucht, ihr diese Arbeit aufgehalst zu haben, und sich gefragt, was sie sich eigentlich hatte zu Schulden kommen lassen, um derart bestraft zu werden. Keine andere Hütte im Dorf hatte ein Geländer, das zu nichts nutze war und nicht einmal schön aussah! Während sie jetzt mit klopfendem Herzen dastand und darauf wartete, dass ihre Knie zu zittern aufhörten, nahm sie in Gedanken alles zurück und bedankte sich im Stillen bei ihrer Mutter. Dieses nutzlose, hässliche Ding hatte sie gerade vor einem üblen Sturz bewahrt. Ein Rascheln hinter dem großen Holunderstrauch, aus dessen Früchten ihre Mutter einen schweißtreibenden, stärkenden Tee zu bereiten pflegte, schreckte sie aus den Gedanken auf. Schlich sich dort vielleicht gerade einer der Wölfe an, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte? Arri war schon drauf und dran, wieder kehrtzumachen und die Stiege hinaufzueilen, als sie das bärtige Gesicht eines ihr nur flüchtig bekannten Mannes entdeckte und dann die dunklen Kleider zwischen den verkrüppelten Stämmen hindurchschimmern sah. Es war der Krieger aus Goseg, der Mann, den Nor zu der Unterredung mit ihrer Mutter mitgebracht hatte. Er starrte sie noch eine Weile schweigend an, drehte sich dann um und verschwand mit weit ausgreifenden, fast ärgerlich wirkenden Schritten in Richtung Dorf.

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2 Schweigend half Arri ihrer Mutter, den Fisch auszunehmen und die Kräuter, Wurzeln und frischen Karotten aus ihrem kleinen Gärtchen vorzubereiten, die sie dazu essen würden. Ihre Mutter hatte bereits am Vormittag frisches Fladenbrot gebacken, sodass es keiner allzu langen Vorbereitungen mehr bedurfte. Die Sonne war kaum untergegangen, da erfüllte der köstliche Geruch von gebratenem Fisch die Hütte, der Arri nicht nur das Wasser im Munde zusammenlaufen, sondern auch ihren Magen hörbar knurren ließ. Ihre Mutter beantwortete dies mit dem ersten, flüchtigen Lächeln, das sie ihr an diesem Tag zeigte, bestand aber wie üblich darauf, dass sie sich gründlich das Gesicht und vor allem die Hände wusch, bevor sie aßen. Auch das war etwas, das Arri nicht verstand und das sie für ziemlich unsinnig hielt; niemand im Dorf tat so etwas, und Arri hatte schon ein paar Mal gegen diese vermeintliche Willkür aufbegehrt, aber ohne Erfolg. Heute erschien es ihr noch weniger ratsam als sonst, ihre Mutter noch mehr zu verärgern, und so ergab sie sich in ihr Schicksal und wusch sich gehorsam mit dem eiskalten Wasser, das wie jeden Abend in einer flachen hölzernen Schale bereitstand. Sie musste zugeben, dass es gut roch und sie auch ein wenig erfrischte; ihre Mutter pflegte das Wasser mit Kräutern zu versetzen, die sie im Wald sammelte - aber das kalte Nass jagte ihr auch einen kribbelnden Schauer über den Rücken. Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es schnell kalt. Auch wenn die Tage noch lang waren und die Sonne manchmal bis weit in den Abend hinein heiß vom Himmel brannte, so neigte sich der Sommer doch bereits deutlich dem Ende entgegen, was man gerade nach Einbruch der Dunkelheit jeden Tag ein bisschen mehr spürte. Sie aßen schweigend. Der Fisch war köstlich, und auch die Beilage aus Möhren, Ackerbohnen und Hundspetersilie, die ihre Mutter bereitet hatte, schien heute deutlich besser zu schmecken als sonst; zudem kam Arri ihre Portion spürbar größer vor als gewöhnlich. Neben etlichem anderen, was ihr Leben von dem der Dorfbewohner unter-

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schied, achtete ihre Mutter streng darauf, dass sie nicht zu viel aß was nur zu oft darauf hinauslief, dass sie nicht wirklich satt wurde. Heute aber schien es ihr gleich zu sein, und so langte Arri nicht nur kräftig zu, weil es ihr außergewöhnlich gut schmeckte und sie tatsächlich sehr hungrig war, sondern sie aß auch noch eine ganze Weile weiter, wie um ihrer Mutter im Nachhinein zu beweisen, dass sie recht daran getan hatte, die größte Äsche von Rahn zu verlangen. Dennoch blieb mehr als die Hälfte des Fisches übrig, selbst als Arri so viel gegessen hatte, dass sie befürchtete, platzen zu müssen, wenn sie auch nur noch einen einzigen Bissen hinunterschluckte. Als sie schließlich lustlos an einem Stück Fladenbrot herumknabberte, von dem sie sich viel zu viel auf den Teller gehäuft hatte, nahm ihre Mutter das übrig gebliebene Stück Fisch, wickelte es sorgfältig in ein großes Blatt und verschwand mit den beiden hölzernen Tellern und der schweren Bronzepfanne nach draußen, um es in dem hölzernen Trog, den sie einzig zu diesem Zweck neben der Sommerkochstelle am Ende der Hütte aufgestellt hatte, sorgfältig abzuwaschen. Obwohl sie dies jeden Abend tat, kam Arri doch heute ganz besonders zu Bewusstsein, wie seltsam dieses Verhalten war. Niemand hier im Dorf aß von Tellern. Ihre Mutter hatte die beiden dünnen, leicht gewölbten Holzteller in mühevoller Arbeit aus einer Baumscheibe herausgeschnitzt, bearbeitet und poliert, und obwohl Arri, die es nicht anders kannte, wie selbstverständlich davon aß, hatte sie sich doch schon mehr als einmal gefragt, was eigentlich der Sinn dieses umständlichen Benehmens war. Es erschien ihr ebenso rätselhaft wie das Beharren ihrer Mutter darauf, sich vor dem Essen und auch morgens nach dem Aufwachen mit kaltem Wasser das Gesicht und die Hände zu waschen - und wie so viele andere Dinge, die sie tat und zu denen es im Dorf nichts Vergleichbares gab. All das musste etwas mit ihrem früheren Leben zu tun haben. Bestimmt nicht heute - nicht nach all dem, was geschehen war - , aber doch bald, das nahm sich Arri vor, würde sie ihre Mutter wieder nach dem Land fragen, aus dem sie gekommen war, und dem Leben, das die Menschen dort geführt hatten. Und diesmal, das nahm sie sich fest vor, würde sie sich nicht mit ein paar Ausflüchten und

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Gemeinplätzen abspeisen lassen! Nach einer Weile kam ihre Mutter zurück, stellte die Pfanne und die beiden Teller an ihren Platz und bedeutete Arri mit einer wortlosen Geste, dass es Zeit war, sich zum Schlafen niederzulegen. Damit hatte sie Recht. Draußen war es längst dunkel geworden, die Nachtkälte kroch ins Haus, und unter dem dicken Bärenfell, das auf ihrer dünnen Grasmatratze lag, würde es wenigstens warm sein, auch von unten; schließlich war der über der klammen Erde schwebende Holzboden zusätzlich mit einer fest gestampften Lehm- und Rindenschicht gegen die Feuchtigkeit abgeschirmt. Arri war auch tatsächlich müde, denn sie hatte an diesem Tag zwar nicht schwer arbeiten müssen, aber all die Aufregung hatte sie doch angestrengt. Zugleich war sie enttäuscht; sie hätte gern noch mit ihrer Mutter geredet, ihr Fragen gestellt und sich vor allem für ihr ungehöriges Benehmen entschuldigt, denn obwohl ihre Mutter ihr keine weiteren Vorwürfe gemacht hatte, spürte sie doch den tiefen Kummer, der sie plagte. Sie war nicht sicher, ob sie selbst der alleinige Grund dafür war, aber sie hatte zumindest das ihre dazu beigetragen. Also zog sie sich gehorsam auf ihr Lager zurück und kroch unter das warme Fell, doch als ihre Mutter sich ebenfalls auf ihrer Grasmatratze ausstreckte und die viel dünnere, aus mehreren kleinen Fellen zusammengenähte Decke über sich zog, sagte sie: »Es tut mir wirklich Leid.« Sie bekam nicht sofort eine Antwort. Tatsächlich schwieg ihre Mutter lange genug, dass Arri schon glaubte, sie werde gar nichts mehr sagen, dann aber hörte sie, wie sie sich wieder aufrichtete und halb zu ihr umdrehte. »Was tut dir Leid?« Auch Arri setzte sich nun auf, wobei sie allerdings sorgsam darauf achtete, dass das Bärenfell nicht von ihren Schultern glitt. Es war erstaunlich, wie schnell es nach Einbruch der Dunkelheit kalt in der Hütte geworden war. Das Gesicht ihrer Mutter war nur als etwas hellerer Fleck in dem trüben Zwielicht zu erkennen, das die Hütte erfüllte. Es war nahezu Neumond, und selbst durch die beiden offenen Gucklöcher, die allzu bald mit Biberfellen verhangen und dann mit einer dicken Schicht aus Stroh, Bast und Lehm für den Winter abgedichtet werden würden, drang keine nennenswerte Helligkeit herein.

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Arri fand keine Ruhe, unzählige verrückte Erinnerungsfetzen und Fragen schossen ihr durch den Kopf. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte: »Was wollte Nor jetzt eigentlich von dir?« Als ihre Mutter nicht gleich antwortete, stützte sie sich auf dem Ellbogen auf, sah zu ihr hinüber und fügte noch hinzu: »Er klang so ungehalten wie noch nie. Dabei müsste er dir doch eigentlich zu Dank verpflichtet sein - nach allem, was du für das Dorf getan hast und damit letztlich auch für Goseg.« »Menschen sind undankbar«, erwiderte ihre Mutter leise. »Manche mehr und manche weniger, aber tief in sich sind sie es alle. Man nimmt Hilfe gern an, wenn man sie nötig hat, aber sobald man sie nicht mehr braucht, ist sie schnell wieder vergessen. So ist das nun einmal.« »Überall?«, fragte Arri. Sie zögerte einen winzigen Augenblick, raffte dann all ihren Mut zusammen und fügte hinzu: »Auch dort, wo du herkommst?« Diesmal verging deutlich mehr Zeit, bevor ihre Mutter antwortete. Ihre Stimme hatte sich verändert, aber Arri hätte nicht sagen können, wie. »Ich glaube schon. Vielleicht nicht ganz so wie hier, aber das ist nur natürlich.« »Wieso?« »Weil Dankbarkeit etwas ist, das man sich leisten können muss«, antwortete ihre Mutter, und das verstand Arri noch viel weniger als alles andere. Aber sie spürte auch, dass es keinen Sinn hätte, jetzt weiterzubohren. Mit ihrer Frage hatte sie gegen ein unausgesprochenes Tabu verstoßen, das zwischen ihnen galt, so lange sie sich erinnern konnte, und das besagte, dass sie niemals über die Vergangenheit ihrer Mutter sprachen. Schon, dass sie die Frage überhaupt beantwortet hatte, war außergewöhnlich. Ihre Mutter ließ sich wieder zurücksinken, und Arri konnte im trüben Zwielicht sehen, wie sie unter der dünnen Decke die Knie an den Leib zog, damit ihr nicht zu viel von ihrer kostbaren Körperwärme verloren ging. Im Winter, wenn es wirklich kalt wurde, schliefen sie für gewöhnlich gemeinsam auf einer einzigen Matratze aus getrocknetem und sorgfältig geflochtenem Gras und teilten sich das warme

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Bärenfell ebenso, wie sie sich gegenseitig wärmten, doch solange es die Temperaturen zuließen, bestand ihre Mutter darauf, dass jeder auf seinem eigenen Lager blieb. Dabei wusste Arri, wie kalt es selbst jetzt schon unter der dünnen Decke ihrer Mutter werden konnte. Sie besaßen nur dieses eine Fell. Ein Bärenfell war etwas unvorstellbar Kostbares. Nicht einmal Sarn, der Dorfälteste und Schamane, besaß eines. Die einzigen anderen Menschen, die Arri kannte und die Bärenfelle als Kleidung oder Decken besaßen, waren Nor und die Krieger seines Heiligtums, und selbst die nicht alle; der Mann, der ihn heute begleitet hatte, hatte jedenfalls keines getragen. »Schlaf jetzt«, sagte ihre Mutter. »Morgen wird ein anstrengender Tag.« Eine weitere rätselhafte Bemerkung, die eher dazu angetan war, Arris Gedanken weiter zu beschäftigen und sie wach zu halten, denn schließlich war jeder Tag anstrengend, gerade im Sommer, wenn die Nächte kurz waren und sie demzufolge weniger Schlaf bekam. Arri verkniff sich aber jede entsprechende Frage und schloss sogar die Augen, wohl wissend, dass sie ganz bestimmt keinen Schlaf finden würde - mit dem Ergebnis, dass sie beinahe augenblicklich einschlief… … und sich übergangslos in einem Albtraum wiederfand. Sie war nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Albtraum war, aber sie wusste, dass sie träumte, denn sie träumte diesen Traum sehr oft und seit sie sich erinnern konnte; nicht jede Nacht, aber doch oft genug, dass das Wissen, sich in einer fremden Welt zu befinden, die es nur in den tiefsten Tiefen ihrer Gedanken gab, ganz allmählich seinen Weg in jene bedrückenden Gefilde zurückgefunden hatte, und sie schon wusste, was kam, als die ersten Bilder in ihrem Kopf auftauchten. Nicht genau. Der Traum war nicht immer gleich, und er erzählte auch keine Geschichte, jedenfalls keine, die sie zu erkennen vermocht hätte oder die irgendeinen Sinn ergab. Im Großen und Ganzen änderte sich jedoch nicht viel. Sie träumte von Feuer, das vom Himmel regnete, und da waren Schreie, ein dumpfes Poltern und Tosen und Krachen, wie das Dröhnen zusammenstürzender Berge, und der allgemeine Geruch von

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Panik und Flucht lag in der Luft. Verzerrte Gesichter tauchten rings um sie herum auf und erloschen wieder, bevor sie sie erkennen konnte, und irgendwie war da auch Wasser, aber eine ganz andere Art von Wasser als die, welche sie kannte. Schwarze Wellen, die sich höher als die höchsten Bäume auftürmten und schaumige weiße Kronen hatten, Wasser, das so hart wie Stein war und Boote und Häuser und Menschen gleichermaßen zerschlug, und immer wieder Schreie und grellblaue, tausendfach verästelte Blitze, die den schwarz gewordenen Himmel zerrissen. Ihr Herz begann zu rasen. Dass sie um die Tatsache wusste zu träumen, beschützte sie nicht vor der Furcht, mit der dieser Traum sie erfüllte. Sie glaubte Schmerz zu fühlen, nicht nur den eigenen Schmerz, sondern den eines anderen, von dem sie mit unerschütterlicher Gewissheit wusste, dass es ihre Mutter war, und Angst und eine so allumfassende Verzweiflung, dass sie im Schlaf ein leises, gequältes Wimmern ausstieß. Noch immer regnete Feuer vom Himmel, zitterte und bebte die Erde, über die sie liefen, wie der Leib eines riesigen Tieres, das sich in Todeskrämpfen wand, zerschmetterten himmelhohe Wellen, die plötzlich härter waren als der Stein, gegen den sie anrannten, die Küste, ließen kleine Boote und mächtige Schiffe mit hundert Rudern und haushohen Masten samt ihren Besatzungen gleichermaßen hilflos durch die Luft wirbeln, bevor sie im kochenden Wasser versanken oder an den Klippen zerschmettert wurden, und überall rings um sie herum waren Menschen, die schrien und jammerten und um ihr Leben rannten. Manche brannten. Die Häuser der leicht abschüssigen Straße, die sie entlangrannten - seltsame Häuser, die es nur in diesem Traum gab und die so hoch waren wie Bäume und aus Stein gebaut, nicht aus Weidenzweigen und Holz und Lehm -, wankten wie biegsames Schilf im Sturm, und manche stürzten in sich zusammen, sodass der Stein ihrer Wände die Menschen erschlug, die sich in ihrer Nähe aufhielten. »Arri!« Ihre Angst wurde übermächtig. Etwas war heute anders. Der Traum schien wirklicher, auf eine durchaus körperliche Art bedroh-

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lich, und zum allerersten Mal hatte sie das Gefühl, dass es vielleicht gar kein Traum war, sondern etwas anderes, ohne dass sie hätte sagen können, was. Etwas engte sie ein, ein Gefühl des Verlorenseins, das mit jedem Atemzug schlimmer wurde. »Arri!« Sie musste weg aus dieser Hölle, aber es gab kein Wohin. Über ihr war nichts als der schwarze Himmel, aus dem abwechselnd und manchmal auch gleichzeitig gleißende Blitze und riesige Bälle aus purem, loderndem Feuer herabregneten, vor ihr das Wasser, eine unendliche, kochende schwarze Fläche, die bis ans Ende der Welt reichte und dort mit dem schwarzen Himmel verschmolz, und hinter ihr hatte sich die Erde zu einem neuen Berg aufgetürmt und erbrach flüssiges Feuer und tödlichen schwarzen Rauch, der jeden Atemzug zu einer brennenden Qual machte. »Arianrhod! Wach auf!« Es war die vertraute Stimme ihrer Mutter, die den Bann brach. Von einem rasenden Herzschlag auf den nächsten befand sich Arri wieder in der Wirklichkeit, auch wenn der Albtraum ihr noch einen letzten, bösen Gruß mitgegeben hatte. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, und auf ihrer Zunge war der süßliche Geschmack von Blut. Sie hatte sich auf die Lippen gebissen. Erst nach zwei, drei schnellen Atemzügen wurde sie sich der schlanken, aber kräftigen Hände ihrer Mutter bewusst, die ihre Handgelenke gepackt hatten und festhielten; offensichtlich hatte sie im Schlaf um sich geschlagen. Wahrscheinlich hatte sie auch geschrien, denn ihr Hals tat weh. »Alles wieder in Ordnung?«, fragte ihre Mutter. »Ja«, log Arri. Das war lächerlich. Rein gar nichts war in Ordnung. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, sie zitterte am ganzen Leib, und wenn sie die Augen schloss, dann sah sie noch immer Flammen, die vom Himmel regneten, und schwarzes Wasser, das die Erde verschlang. Trotzdem nickte sie noch einmal, um ihre Behauptung zu bekräftigen, und versuchte sich aufzusetzen, doch der Traum hatte sie so geschwächt, dass ihre Mutter ihr dabei helfen musste. »Du hattest wieder den Traum, nicht wahr?«, fragte sie mitfühlend.

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Arri nickte. Sie versuchte Speichel unter der Zunge zu sammeln, um den widerlichen Blutgeschmack loszuwerden, und schluckte ein paar Mal, was es aber eher schlimmer zu machen schien. Spielte ihr die Erinnerung einen Streich, oder hatte ihre Mutter sie tatsächlich bei ihrem richtigen, geheimen Namen genannt, einem Namen, den außer ihr selbst und ihrer Mutter doch niemand wissen durfte, sodass sie ihr so lange eingeschärft hatte, ihn niemals zu gebrauchen, bis sie beinahe angefangen hatte, ihn zu vergessen? »Habe ich dich geweckt?«, fragte sie, noch immer mit leicht schleppender Stimme und unentwegt schluckend. Die Erinnerung ließ sie einfach nicht mehr los. Immer mehr Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge, sodass sie immer schneller schlucken musste und es dadurch nur immer schlimmer machte, und nun breitete sich auch ein leises Gefühl von Übelkeit in ihrem Magen aus. Diesmal hatte ihr der Traum wirklich zugesetzt, und das war seltsam, denn in gewisser Beziehung war er wie ein guter, alter Freund, der in leicht veränderter Form immer wiederkehrte und der seinen Schrecken auf diese Weise doch eigentlich verlieren sollte. »Nein«, antwortete ihre Mutter. Arri brauchte einen Moment, um die Antwort der Frage zuzuordnen, die sie selbst gerade gestellt hatte. Auch ihre Gedanken waren irgendwie… durcheinander. Es schien, als wäre der Traum noch da. Sie hatte Mühe, sich von den schrecklichen Bildern zu lösen, die sie zum allerersten Mal nun auch im Wachsein sah; nicht als Erinnerung an den durchlittenen Traum, sondern als Erinnerung an etwas, das sie wirklich erlebt hatte. Aber konnte das sein? »Hier«, sagte ihre Mutter. »Trink das.« Der verschwommene Schatten, als den sie die Gestalt ihrer Mutter in der Dunkelheit erkannte, bewegte sich leicht, und dann spürte Arri, wie ihr etwas Hartes an die Lippen gesetzt wurde. Gehorsam schluckte sie, verzog angewidert das Gesicht, denn der Trank war nicht nur eiskalt, sondern schmeckte auch schlecht; sie wollte den Kopf wegdrehen und gab ihren Widerstand im Grunde sogleich wieder auf, als ihre Mutter ihr mit einer entsprechenden Bewegung klarmachte, dass sie den Becher ganz leeren sollte. Als sie es getan hatte, war in ihrem Mund ein Ge-

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schmack, als hätte sie versehentlich etwas gegessen, was schon seit längerer Zeit tot war, aber die Übelkeit war verschwunden, und auch ihr hämmerndes Herz beruhigte sich zusehends. »Es tut mir Leid, wenn ich dich geweckt habe«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das wollte ich nicht.« »Das hast du auch nicht«, antwortete ihre Mutter. »Ich hätte dich ohnehin gleich geweckt. Steh auf.« Arri warf dem schwarzen Schatten neben sich einen schrägen Blick zu und zögerte. Es war eiskalt in der Hütte. Es musste tief in der Nacht sein. Allein der Gedanke, das warme Fell abzustreifen, ließ ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Dennoch tat sie, wie ihr geheißen, erhob sich - nun vor Kälte leicht zitternd - zuerst auf die Knie und dann vollends, und sah mit wachsender Verwirrung zu, wie auch ihre Mutter aufstand und mit schleppenden Schritten zur Türöffnung ging, die sie für die kühle Spätsommernacht mit einem Vorhang aus Biberfellen verhängt hatten, die an einigen Stellen schon kahl geworden und mit groben Stichen zusammengenäht waren. »Wohin gehen wir?«, fragte Arri. »Ich will dir etwas zeigen«, antwortete ihre Mutter. »Sei leise. Niemand darf uns hören.« Der Moment verlor etwas von seiner Unheimlichkeit - wenn auch nicht viel -, als Arri hinter ihr aus der Hütte trat und die Stiege hinunterging, denn es war draußen zumindest eine Spur heller als in dem Pfahlbau und erstaunlicherweise sogar spürbar wärmer. Aus dem Schatten, der mit einer körperlosen Stimme zu ihr sprach, wurde wieder der vertraute Anblick ihrer Mutter, und ihre Hände und Knie hörten ganz allmählich auf zu zittern. Dennoch wuchs ihre Verwirrung ins Unermessliche, als sie sah, dass ihre Mutter nicht den Weg zum Dorf hinauf einschlug, sondern sich in die entgegengesetzte Richtung wandte, weg von den Hütten und dem Fluss und tiefer hinein in den Wald. Hatte ihre Mutter sie nicht unzählige Male davor gewarnt, nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald zu gehen? Auch wenn sie immer noch daran zweifelte, dass hier Wölfe ihr Unwesen trieben, so bestand doch die Gefahr, sich in der fast völligen Schwär-

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ze zu verirren, in einen Kaninchenbau zu treten und sich den Fuß zu brechen, sich an einem Ast zu stechen, der sich in der Dunkelheit verbarg, oder sich auf zahllose andere Arten zu verletzen. Ihre Mutter glitt mit einem Geschick, das selbst Arri überraschte, zwischen dem Unterholz am Waldrand hindurch, ohne dabei auch nur den mindesten Laut zu verursachen, und für einen winzigen, aber schlimmen Augenblick war die Angst wieder da, als die vollkommene Schwärze, die zwischen den Baumstämmen lauerte, sie einfach aufzusaugen schien wie der Nebel des Steinkreises, der Sarn Schutz geboten hatte, als er sich an sie angeschlichen hatte, um sie mit seiner dürren Greisenhand zu packen. Um ein Haar hätte Arri kehrtgemacht und wäre einfach wieder zur Hütte zurückgelaufen, um sich unter ihrer Decke zu verkriechen und darauf zu warten, dass es hell wurde. Vielleicht geschah das alles hier ja gar nicht wirklich. Vielleicht schlief sie ja noch, und ihr Traum hatte sich in etwas völlig anderes verwandelt, das sie lediglich glauben ließ, wach zu sein. Dann aber nahm sie allen Mut zusammen und folgte ihrer Mutter (wenn auch weitaus weniger geräuschlos), während sich ihre Augen an die Dunkelheit hinter den Baumwipfeln gewöhnten. Obgleich ihre Mutter nur drei oder vier Schritte vor ihr stand, war sie nicht mehr als ein schwarzer Schatten zwischen anderen schwarzen Schatten, den sie nur erkannte, wenn er sich bewegte, aber sie war da, und das allein war wichtig. Arris Herz klopfte immer noch wie verrückt, und sie hatte immer noch Angst, aber es war nun eine andere Art von Furcht, die auf schwer zu beschreibende Weise leichter zu ertragen war. »Wohin gehen wir?«, fragte sie. Ihre Mutter machte eine unwillige Handbewegung, als wäre sie zwar nicht verärgert über die Frage an sich, wohl aber darüber, dass ihre Stimme die fast heilig anmutende Stille zwischen den Bäumen gestört hatte. Trotzdem antwortete sie. »Zur Quelle. Bleib immer dicht bei mir. Und sei still.« Zur Quelle? Arris Verwirrung wuchs. Das war ein Fußmarsch, der selbst bei hellem Tageslicht nicht nur eine Weile in Anspruch nahm, sondern auch alles andere als ungefährlich war. Was wollten sie dort,

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mitten in der Nacht und ganz allein? Arri folgte ihrer Mutter gehorsam, und sie hätte wahrscheinlich auch ohne ihre Warnung kein Wort gesagt, denn dieser schwarz daliegende Wald erfüllte sie, zusammen mit der Erinnerung an ihren grässlichen Traum, mit einer Furcht, die ihr wortwörtlich die Kehle zuschnürte. Ihre Gedanken überschlugen sich, aber sie taten es auf eine Weise, die sie den Weg auf der einen Seite als endlos empfinden ließ, als wollte die Strecke einfach kein Ende nehmen oder würde vor ihnen jeweils um das gleiche Stück länger, das sie gerade zurückgelegt hatten; auf der anderen Seite aber hatte sie zugleich auch das Gefühl, wie durch einen plötzlichen Zauber am Ziel zu sein. Als die Bäume vor ihnen zurückwichen und die kleine Waldlichtung unversehens vor ihnen lag, konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern, was sie während der gesamten Wegstrecke gedacht hatte. Niemals zuvor war sie so verwirrt und so verunsichert gewesen wie heute. Ihre Mutter hielt auch jetzt noch nicht an, sondern ging mit schneller werdenden Schritten bis zur Mitte der Lichtung, wo sich eine Anzahl fast mannshoher, zerschrundener Felsblöcke erhob. Das leise Plätschern von schnell fließendem Wasser war zu hören, und es kam Arri so vor, als wäre es der erste Laut, der seit Ewigkeiten bis zu ihnen drang. »Was wollen wir hier?«, fragte sie. Ihre Mutter verhielt zwar nicht im Schritt, bedeutete ihr aber mit einer raschen, unwilligen Geste, still zu sein, und kletterte, ohne sichtlich langsamer zu werden, geschickt auf den größten der wie sorgsam angeordnet daliegenden Findlinge. Ohne zu verstehen, was sie sah, beobachtete Arri, wie sie sich oben aufrichtete und dann langsam einmal im Kreis drehte, wobei sich ein Ausdruck angespannter Konzentration auf ihren Zügen breit machte. Dann begriff sie, dass ihre Mutter lauschte. Offenbar wollte sie ganz sichergehen, dass auch niemand in der Nähe war, der sie beobachten konnte. Als Arri sich dem Felsen näherte, kletterte ihre Mutter ebenso geschickt und lautlos wieder zu ihr herunter und machte eine auffordernde Geste. »Zieh deinen Rock aus.« »Wie?«, murmelte Arri verwirrt und mit einem Anflug von schlech-

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tem Gewissen; sie dachte an den Riss im Saum, den sie sich im Steinkreis geholt hatte, und an die unheimliche Begegnung mit dem Schamanen, von der sie immer noch nichts erzählt hatte. »Zieh deinen Rock aus«, wiederholte ihre Mutter. »Ich will nicht, dass du ihn zerreißt oder schmutzig machst.« Arri verstand immer weniger, was hier eigentlich vorging, aber sie gehorchte und löste den Dorn aus der Gürtelscheibe, um dann den ledernen Gürtel abzulegen und anschließend aus dem Wickelrock zu schlüpfen. Ihre Mutter konnte ihrem Beispiel nicht folgen, denn sie selbst trug ein Kleid aus fein gesponnenem Flachs, das sie in einem Stück von den Schultern bis zu den Knöcheln verhüllte - etwas, das ihren schlanken, hohen Wuchs auf ganz besondere Weise betonte. Jetzt nahm sie den Kleidersaum hoch, schlug ihn mehrmals um und stopfte die so gewonnene Wulst sorgfältig in ihren breiten Gürtel aus bestem Hirschleder, wodurch ihre nackten, fast weißen Beine bis zu den Oberschenkeln entblößt wurden. Dann nahm sie Arri den Rock ab. Wenn sie den feinen Riss im Saum bemerkte, den sich ihre Tochter im Steinkreis zugezogen hatte, dann ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Arris Erleichterung hielt allerdings nur so lange, bis sie ihn zu einem der Felsen trug und sorgfältig darauf ablegte. Wieso legte sie so viel Wert darauf, den Rock in Sicherheit zu bringen? Eine Weile stand ihre Mutter einfach so da und blickte Arri an, und Arri ihrerseits stand frierend und mit klopfendem Herzen da und sah ihre Mutter an, und etwas sehr Seltsames geschah. Abgesehen von ihr selbst war ihre Mutter der wohl hässlichste Mensch, den Arri kannte. Alle sagten das, und es stimmte auch, denn nichts an ihrem Köper war irgendwie richtig. Sie war nicht etwa verkrüppelt oder von Narben entstellt, aber ihre Haut war zu hell, ihr Gesicht zu schmal, und sie hatte Haare in einer Farbe, wie sie außer Arri kein anderer Mensch auf der Welt hatte und die sie jetzt, im blassen Licht der Sterne und der kaum fingerbreiten Mondsichel, an die Farbe ihres Zauberschwertes erinnerte. Wie Arri selbst war auch ihre Mutter viel zu dünn. Je nach dem, wie sie sich bewegte, konnte man die Rippen unter ihrer Haut erkennen, was bei den anderen Menschen im Dorf höchstens der Fall war,

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wenn sich der Winter dem Ende entgegenneigte; zweifellos eine Folge ihres sinnlosen Beharrens darauf, niemals genug zu essen und sogar streng darauf zu achten, keinen Speck anzusetzen. Aber das war es nicht allein. Ihre Arme waren zu kurz, die Schultern zu schmal und ihre Körpermitte viel zu dünn - ein wirklich großer Mann, wie der Fischer Rahn etwa, hätte sie vermutlich mit beiden Händen umfassen können (wenn auch Arri nicht daran zweifelte, dass er hinterher keine Hände mehr gehabt hätte, sollte er es je versuchen). Dafür waren ihre Beine geradezu aberwitzig lang. Von den viel zu schmalen Hüften bis zum Boden beanspruchten sie nahezu die Hälfte ihrer gesamten Erscheinung. So wie auch an Arri war alles an ihr im Verhältnis zueinander irgendwie falsch und abstoßend, und doch kam sie ihr in diesem Moment, und vielleicht zum allerersten Mal in ihrem Leben, unglaublich schön vor. Vielleicht war es das silberfarbene Licht, das ihrer sonderbaren Figur schmeichelte, vielleicht war es der Aufruhr, der noch immer in Arris Gedanken herrschte, doch aus welchem Grund auch immer mit einem Male wusste sie, dass das, was sie sah, richtig war, und alles andere falsch. Trotz der schrecklichen Magerkeit, der viel zu bleichen, viel zu glatten Haut, des schmalen Gesichts mit den sonderbaren Augen und den zu dünnen Lippen, hatte Arri plötzlich das Gefühl, niemals einen schöneren Menschen gesehen zu haben, niemals einen Menschen, der richtiger war, und niemals einen Menschen, dessen Gestalt mehr Kraft und Energie ausstrahlte, selbst jetzt, wo sie ganz ruhig und in entspannter Haltung vor ihr stand. Der Augenblick verging so schnell, wie er gekommen war, aber er ließ etwas zurück. Sie konnte das Gefühl nicht in Worte kleiden, ganz einfach, weil es in ihrer Sprache kein Wort dafür gab; es war, als hätte Arri zeit ihres Lebens eine schmerzende Wunde mit sich herumgetragen, die noch immer da war und noch immer schmerzte, nun aber endlich zu heilen begann. »Und was… was tun wir jetzt hier?«, fragte sie schüchtern, als ihre Mutter auch nach einer geraumen Weile keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder ihr gar eine Erklärung für diesen nächtlichen Ausflug zu liefern.

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»Wir reden über deinen Traum«, antwortete ihre Mutter mit sonderbarer Betonung und einem angedeuteten, noch sonderbareren Lächeln. »Aber nicht jetzt. Uns bleibt nicht sehr viel Zeit. Wir müssen zurück sein, bevor es hell wird und die anderen aufwachen.« »Aha«, sagte Arri. Sie verstand kein Wort. Das Lächeln ihrer Mutter wurde noch eine Spur wärmer. Einen kurzen Moment lang sah sie Arri noch auf dieselbe, irritierende Weise an, dann ging sie mit wenigen Schritten zum Waldrand, und noch einmal - wenn auch nur für einen Augenblick - kehrte das sonderbare Gefühl zurück, als Arri auffiel, wie anmutig und mühelos ihre Bewegungen wirkten. Sie schien vollkommen lautlos über den mit Gras und dem ersten, trockenen Laub des bevorstehenden Herbstes bedeckten Boden der Lichtung zu gleiten, und sich dann einfach aufzulösen, als ihre Gestalt mit den Schatten des Waldrandes verschmolz. Etwas raschelte, dann ertönte ein helles, trockenes Knacken, und als ihre Mutter zurückkam, hielt sie einen armlangen und doppelt daumendicken Ast in der Hand, den sie von einem Baum abgebrochen hatte. Während sie sich Arri näherte, befreite ihn Lea sorgsam von Blättern und dünneren Zweigen, wog ihn schließlich prüfend in der Hand und warf ihn ihr dann mit einer so überraschenden Bewegung zu, dass sie ihn nur noch im allerletzten Moment auffangen konnte. Arri stellte sich alles andere als geschickt dabei an und hätte den Ast, der sich plötzlich wie eine widerspenstige Schlange in ihren Händen zu winden schien, um ein Haar fallen gelassen, aber trotzdem schien das, was sie sah, ihrer Mutter zu gefallen. Sie sagte zwar nichts, nickte aber beifällig. »Und… jetzt?«, fragte Arri verständnislos, während ihr Blick zwischen dem Ast in ihrer Hand und dem Gesicht ihrer Mutter hin und her wanderte. Wenn das ein Spiel war, dann eines, das sie nicht verstand. »Schlag mich!«, sagte ihre Mutter. Arri starrte sie an. »Wie?« »Schlag mich!«, wiederholte ihre Mutter und nickte heftig, um ihre Aufforderung zu unterstreichen. »Nur keine Angst.« »Du machst dich über mich lustig«, vermutete Arri.

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Ihre Mutter schüttelte heftig den Kopf. »Keineswegs. Jetzt tu, was ich dir gesagt habe, und versuche, mich mit dem Stock zu treffen.« Arri rührte sich noch immer nicht. »Aber warum?«, murmelte sie hilflos. »Weil heute deine Ausbildung beginnt«, antwortete ihre Mutter. »Ich hätte schon viel früher damit anfangen müssen, aber es ist sehr leicht, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.« Das verstand Arri noch viel weniger als alles andere, aber schließlich zuckte sie mit den Schultern und hob den Stock. Wenn ihre Mutter dieses seltsame Spiel mit ihr spielen wollte, warum nicht? Sie holte mit dem Stock aus und versuchte, ihre Mutter damit an der linken Schulter zu treffen; natürlich nicht besonders fest, denn sie wollte ihr schließlich nicht wehtun. Offenbar war das jedoch nicht das, was ihre Mutter erwartet hatte, denn sie machte nicht einmal eine Bewegung, um dem Schlag auszuweichen, sondern seufzte nur und bedachte Arri mit einem geradezu mitleidigen Kopfschütteln. »Versuch es noch einmal. Aber diesmal richtig.« »Aber warum denn?«, murmelte Arri verstört. Warum, um alles in der Welt, sollte sie ihrer Mutter wehtun! »Versuch dir einfach vorzustellen, ich wäre einer der Jungen aus dem Dorf«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe dich gerade geärgert. Ich habe dich gedemütigt, dich geschlagen und dich in den Morast gestoßen. Ich bin viel stärker als du, aber jetzt hast du den Stock und kannst dich wehren.« Abgesehen von dem Teil mit dem Stock, war die Vorstellung für Arri eher nahe liegend. Sie hatte dergleichen oft genug erlebt, auch wenn es letztlich meist die anderen gewesen waren, die den Kürzeren gezogen hatten. Dennoch wuchs ihre Verwirrung angesichts dessen, was ihre Mutter von ihr forderte. »Aber was hast du eigentlich vor?«, murmelte sie. Diesmal schwang ein leicht unwilliger Ton in den Worten ihrer Mutter mit. »Ich will dir zeigen, wie man sich wehrt. Zum einen. Zum anderen…« »Zum anderen?« »Ist es an der Zeit, dir zu sagen, was Nor von mir wollte«, antwor-

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tete Lea unbehaglich. »Nor?«, fragte Arri, als hätte sie nicht recht verstanden, was ihre Mutter gerade gesagt hatte. Doch das Gegenteil war der Fall. Schon als ihre Mutter sie so hastig weggeschickt hatte, hatte sie geahnt, dass etwas Schlimmes passieren würde. Und als sie dann Nor im Streit mit ihr angetroffen hatte, war aus der Ahnung Gewissheit geworden. »Was ist mit ihm? Was wollte er von dir?« Lea kniff die Augenbrauen zusammen, und Arri konnte ihr ansehen, dass sie heftig mit sich rang. »Ich fürchte, ich habe dich viel zu lange geschont«, sagte sie dann leise. Und erst als Arri nicht darauf antwortete, fuhr sie beinahe hastig fort: »Das Schlimme ist, dass Nor Recht hat. Du hättest schon längst einem Mann versprochen werden müssen.« »Was?«, entfuhr es Arri entsetzt. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, als sie begriff, was ihre Mutter gerade gesagt hatte. »Du hast dich daran gewöhnt, größer als alle Gleichaltrigen zu sein, nicht wahr?« Lea räusperte sich, als hätte sie einen Kloß im Hals, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme ungewöhnlich rau und heiser. »Du weißt natürlich, dass du mir im Wuchs nacheiferst, und bist deshalb gar nicht darauf gekommen, dass es noch einen anderen Grund geben könnte, warum du größer als alle anderen noch unvermählten Mädchen bist.« »Welchen Grund?«, fragte Arri entgeistert. »Der Grund ist, dass du zwei Jahre älter bist, als ich es dir und allen anderen gesagt habe«, antwortete ihre Mutter leise. Sie versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. »Ich wollte es dir sagen. Immer wieder, den ganzen Sommer schon, das musst du mir glauben, Arianrhod. Aber ich habe mir einzureden versucht, dass es nicht nötig wäre, dass ich genug für das Dorf und Goseg täte und dass sie mich und dich in Ruhe ließen. Doch das stimmt nicht. Heute ist Nor gekommen, um einzufordern, was der Gemeinschaft nach altem Recht zusteht.« »Und das wäre?«, fragte Arri in fassungslosem, ängstlichem Ton, als ihre Mutter nicht weitersprach. Lea biss sich auf die Unterlippe und schüttelte leicht den Kopf, als

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könne sie sich so vor einer Antwort drücken. »Dich und deine Mitgift«, flüsterte sie schließlich. Arri war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, dass etwas mit ihr nicht stimmte, und sie kannte die alten Bräuche mittlerweile gut genug, dass sie nicht hätte überrascht sein dürfen über das, was ihre Mutter ihr gerade offenbart hatte. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Ihre Hütte stand so weit abseits vom Dorf, und ihre Mutter und sie lebten so anders als alle anderen, dass sie nie auf den Gedanken gekommen war, dass ihr gewohntes Leben schon bald zu Ende gehen könnte, nur weil plötzlich nicht mehr Leas, sondern Gosegs Gesetz über sie bestimmen sollte. »Deshalb hast du gesagt, dass wir auch weggehen könnten«, sagte sie schließlich tonlos. Ihre Mutter nickte. »Ja. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst. Natürlich… wenn du willst… wenn dir das Leben an der Seite eines Mannes…« Arri schüttelte heftig den Kopf. »Nein!« Sie schrie fast. »Ich will nicht.« Die Vorstellung, von einem dieser widerwärtigen bärtigen Männer aus dem Dorf zur Frau genommen zu werden, um ihm von da an für den Rest ihres Lebens treu und ergeben zu dienen, war ihr unerträglich. »Ich will weiter mit dir zusammenleben«, fuhr sie nicht minder heftig fort. »So, wie wir die ganzen Jahre zusammengelebt haben.« Ihre Mutter lächelte traurig. »Ich fürchte, das wird nicht gehen. Für eine Weile kann ich Nor und die anderen noch hinhalten. Aber nicht mehr lange. Nor hat mir unmissverständlich klargemacht, dass er meine Entscheidung erwartet, noch bevor der erste Schnee gefallen ist. Und natürlich hat er diesen Zeitpunkt mit Bedacht gewählt. Niemand verlässt freiwillig ausgerechnet vor Wintereinbruch sein Dorf, um zu versuchen, irgendwo anders unterzukommen. Selbst jetzt wäre es schon zu spät, eine Sippe außerhalb des Einflussbereichs von Goseg zu finden, die uns gestattet, bei ihr zu siedeln. Wer das Recht erwerben will, sich an den Wintervorräten eines Dorfes zu bedienen, muss auch geholfen haben, sie aufzufüllen. Deswegen ist der einzig vernünftige Zeitpunkt für einen Ortswechsel das Frühjahr. Und wir

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müssen sehen, dass wir hier irgendwie so lange durchhalten, wenn wir in diesem Winter nicht Gefahr laufen wollen zu verhungern.« Arri starrte ihre Mutter fassungslos an. Tief in ihrem Herzen stieg eine kalte Form der Empörung hoch, ein beißender Zorn, der sich nicht auf Nor richtete, sondern auf ihre Mutter, die ihr gerade beiläufig eröffnet hatte, dass sie sie die ganze Zeit über belogen hatte - und dass sie schon in zwei, drei Mondwenden vom Hungertod bedroht sein könnten! »Um mir das zu sagen, führst du mich mitten in der Nacht an diesen entlegenen Ort?« »Aber nein, Kind.« Lea fuhr sich mit einer fast verloren wirkenden Geste durch die Haare. »Ich habe dich hierher geführt, um dich auf etwas vorzubereiten, was uns beiden möglicherweise schon allzu bald bevorsteht: auf einen Kampf. Nor und die anderen werden es nicht hinnehmen, dass ich mich gegen ihre Tradition ausspreche. Sie verlangen als Mitgift mein Wissen und meine Fertigkeiten. Und die kann ich ihnen nicht geben, selbst wenn ich es wollte.« Arri hatte das Gefühl, als werde ein rot glühender Stachel durch ihr Herz getrieben. »Dann habe ich also nie vor einer freien Entscheidung gestanden? Dann hättest du niemals erlaubt, dass ich mir einen Mann aus dem Dorf nehme?« Leas Mine gefror zu etwas, das ein eisiges Lächeln hätte sein können, aber auch etwas ganz anderes, vielleicht der Nachhall einer fernen Erinnerung. »Doch, das hätte ich. Und ich hätte einen Weg gefunden, um dennoch das Geheimnis meines Wissens zu wahren, dessen wahre Existenz niemand anderer kennt, noch nicht einmal du.« Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. »Noch ist es nicht zu spät. Du kannst dich noch entscheiden. Wenn du von deiner Seite aus Nors Drängen nachgeben willst…« Arri hob unwillkürlich den Stock ein Stück höher, als wollte sie damit zuschlagen. »Ja, was dann?« »Dann werde ich dir nicht im Weg stehen«, antwortete ihre Mutter mit fester Stimme. »Du bist kein Kind mehr. Es ist deine Entscheidung.« Arri umklammerte den Stock so fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen. Ihre Gefühle wirbelten wild durcheinander. Zu dem Zorn

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auf ihre Mutter hatte sich Verwirrung, ja, fast schon Verstörtheit gesellt. Bislang hatte ihre Mutter über alles bestimmt, was ihr Leben ausmachte. Und das sollte ausgerechnet jetzt anders sein, wo sie gleichzeitig zugegeben hatte, sie all die Jahre über belogen zu haben? »Du darfst mir glauben«, fuhr Lea fort, als spüre sie ganz genau, was in Arri vorging. »Im Dorf mag es nicht üblich sein, die Mädchen um ihr Einverständnis zu bitten, wenn sie einem Mann versprochen werden sollen. In meiner Heimat war das anders. Und ich sehe nicht ein, warum ich in deinem Fall anders verfahren sollte, als es mir meine Tradition vorschreibt.« Arri schwieg. Es hätte vieles gegeben, was sie ihrer Mutter in diesem Moment an den Kopf hätte werfen können. Aber nichts davon hätte etwas an ihrer Lage geändert wie auch an der körperlichen Abneigung, die sie bei dem Gedanken empfand, ihr Leben fortan mit jemandem wie dem nach Fisch stinkenden Rahn teilen zu müssen. »Also gut«, sagte ihre Mutter schließlich, als hätte sie auch diesmal wieder ihre Gedanken gelesen. »Wenn du deine Entscheidung getroffen hast, dann schlag zu. Und keine Angst. Ich werde dir nicht böse sein, wenn du triffst.« Irgendwie, fand Arri, klang das so, als wäre es ganz und gar ausgeschlossen, dass sie traf. Das fand Arri in einer Lage wie dieser mehr als leichtsinnig. Sie rang noch einen Augenblick lang mit sich selbst, dann aber holte sie aus und schlug noch einmal - und diesmal deutlich kräftiger - zu. Ihre Mutter machte sich weder die Mühe, dem Schlag auszuweichen, noch ihn wirklich abzuwehren. Das musste sie auch nicht. Sie hob nur beinahe gemächlich den Arm und packte mit zwei Fingern den Stock, den Arri im letzten Moment zurückgerissen hatte, als ihr klar geworden war, dass sie tatsächlich im Begriff stand, ihre Mutter zu treffen. Arri hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Ausdruck auf ihrem Gesicht dabei ein Lächeln oder mühsam unterdrückter Ärger war. »Bitte, Arri, das ist kein Spiel«, sagte sie. »Nicht, nachdem Nor mich und dich so herausgefordert hat. Ich will, dass du versuchst, mich zu treffen. Tu mir weh!«

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Das war mit Sicherheit das Letzte, was Arri wollte, trotz des Zorns, den sie darüber empfand, dass ihre Mutter ihr neben vielem anderen sogar ihr richtiges Alter verschwiegen hatte, und trotz der klitzekleinen Tatsache, dass sie in diesem Winter verhungern könnten, obwohl sie für Sarns Sippe mehr als genug getan hatten, um sich einigermaßen durchfüttern zu lassen. Aber wenn sie darauf bestand… Als Arri das nächste Mal ausholte, legte sie zwar noch nicht ihre ganze Kraft, aber doch einen guten Teil davon in den Schlag und zielte wieder auf den Oberarm ihrer Mutter. Falls sie traf, würde es vermutlich wehtun, aber mehr auch nicht. Ihre Sorgen waren jedoch überflüssig. Sie traf nicht. Ihre Mutter duckte sich im allerletzten Moment und sprang zugleich einen halben Schritt zurück; der Stock schnitt mit einem pfeifenden Geräusch dort durch die Luft, wo sie eigentlich stehen sollte. Der Schwung ihres eigenen Schlages riss Arri nach vorn, sodass sie um ihr Gleichgewicht kämpfen musste. Als sie sich schließlich gefangen hatte, stand ihre Mutter wieder genau da, wo sie zuvor gewesen war, und bedachte sie mit einem eindeutig mitleidigen Blick. »Das war schon besser. Aber nicht gut genug. Versuch es noch einmal.« Und das tat Arri. Sie schlug noch einmal zu und dann noch einmal und noch einmal, und ohne es selbst zu merken, legte sie immer mehr Kraft in ihre Hiebe und wurde dabei auch immer schneller. Nach dem fünften oder sechsten Schlag, der ins Leere ging, versuchte sie nicht nur tatsächlich ihre Mutter zu treffen, sondern spürte auch eine wachsende Wut in sich aufsteigen, die ihr noch mehr Kraft verlieh. Sie schlug jetzt nicht mehr nur nach ihrer Schulter, sondern nach ihrer Hüfte, ihrem Arm, einmal sogar nach ihren Waden - damit hätte sie sie beinahe erwischt, denn dieser Angriff kam offensichtlich vollkommen unerwartet, aber eben nur beinahe -, und versuchte am Ende sogar, mit dem Stock nach ihr zu stechen. Ihre Mutter wich jedem Angriff mit einer spielerischen Leichtigkeit aus, die Arri noch mehr ärgerte, und als wäre das alles noch nicht genug, begann sie schließlich sogar zu lachen. »Das war gar nicht so schlecht«, sagte sie, als Arri endlich innehielt und den Stock sinken ließ. Sie war völlig erschöpft. Ihr Atem raste,

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und der Stock in ihrer Hand kam ihr plötzlich so schwer vor, dass sie alle Mühe hatte, ihn überhaupt noch zu halten. »So«, keuchte sie atemlos, »aber ich habe dich nicht getroffen.« »Und weißt du auch, warum?« Obwohl sich Lea mehr und deutlich hektischer bewegt hatte als Arri, ging ihr Atem nicht einmal schneller. »Nein«, antwortete Arri, schüttelte den Kopf und verbesserte sich: »Oder doch, ja. Du hast nicht still gehalten.« Wieder lachte ihre Mutter, aber diesmal klang es nicht abfällig. »Das wäre auch äußerst dumm von mir gewesen, oder?« »Aber was tun wir hier eigentlich?«, fragte Arri. »Glaubst du etwa, ich müsste bei nächster Gelegenheit mit einem Stock auf Nor losgehen?« »Ich hoffe bei allen Göttern, dass es nie zu einer Auseinandersetzung zwischen dir und Nor kommen wird«, sagte ihre Mutter ernst. »Und trotzdem ist es an der Zeit, dir das Kämpfen beizubringen. Fürs Erste zeige ich dir, wie du verhinderst, dass dir jemand wehtut.« »Und später?« »Zeige ich dir, wie man anderen wehtut. Aber das hat Zeit. Noch ist kein Geruch nach Schnee in der Luft.« Sie hob auffordernd die Hände. »Versuch es noch einmal. Diesmal werde ich mich nicht bewegen.«

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3 Obwohl sie sich beeilt hatten, war die Dämmerung nicht nur bereits angebrochen, als sie ihre Hütte wieder erreichten, sondern schon fast vorbei. Nicht mehr lange, und die Sonne würde über dem Horizont auftauchen und die Dunkelheit vertreiben, die die Menschen hier mehr fürchteten als alles andere. Arris Mutter hatte sich schon oft über die Dorfbewohner lustig gemacht, die glaubten, der Sonnenwagen müsse Tag für Tag von dem riesigen, vom Boden aus unsichtbaren Pferd Trund mühsam über das Firmament gezogen werden, und dass es jederzeit geschehen könnte, dass das Pferd lahmte oder vollständig aus dem Tritt kam und es dann für ewige Zeiten finster bliebe. Arri war sich nicht sicher, ob dies wirklich nur dummes Gerede war. Auch sie hatte in den langen Wintern oft mit klopfendem Herzen darauf gewartet, dass die ersten zaghaften Sonnenstrahlen durch den Nebel brachen, und wenn das mehrere Tage hintereinander nicht geschehen war, die tiefe Furcht gespürt, die in ihr Herz Einzug gehalten hatte, während das Dorf wie in einem Todesschlaf dagelegen hatte. Im Augenblick war es jedoch nicht nötig, sich Sorgen um den Sonnenwagen zu machen. Es herrschte bereits ein trübes Zwielicht, Nebel stieg vom Boden auf und griff wie mit grauen Geisterfingern nach ihren Beinen, und nur ein einzelner Vogel war schon wach genug, um dem bevorstehenden Tag ein verfrühtes Willkommen entgegenzurufen; ein Laut, der Arri sonderbar verloren und traurig erschien. Sie zitterte vor Kälte am ganzen Leib, denn die dünne Bluse, die sie mittlerweile wieder übergestreift hatte, klebte jetzt schweißnass an ihrer Haut und bot ihr keinen Schutz vor der Kälte, sondern schien sie nur noch zusätzlich auszukühlen, und der Nebel tat ein Übriges, um ihr das Gefühl zu geben, durch pure Feuchtigkeit zu waten. Arri hatte während des gesamten Weges keinen Laut der Klage von sich gegeben, und indem sie die Kiefer so fest aufeinander presste, dass es schon wehtat, gelang es ihr sogar, nicht mit den Zähnen zu klappern. Dennoch schien ihrer Mutter ihr Zustand nicht zu entge-

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hen, und obwohl auch sie während des gesamten Rückwegs geschwiegen hatte, zog sie Arri, kaum dass sie die Hütte betreten hatten, kurzerhand Bluse und Rock aus und steckte sie unter das warme Bärenfell. Arri protestierte schwach, wenn auch eigentlich nur, weil sie das Gefühl hatte, es tun zu müssen, rollte sich dann aber so eng in die warme Decke ein, wie sie nur konnte. Ihre Mutter bedachte sie mit einem Blick, in dem sich echte Sorge spiegelte, doch als Arri diesen Blick falsch deutete und die Decke wieder zurückschlagen wollte, um aufzustehen, schüttelte sie heftig den Kopf. »Bleib liegen. Wenigstens so lange, bis dir wieder warm ist. Du bist vollkommen durchgefroren. Es tut mir Leid. Es ist meine Schuld. Ich habe ganz vergessen, wie kalt es jetzt morgens noch ist. Ganz anders als…« Sie sprach nicht weiter. Ein seltsames Flackern erschien in ihrem Blick und erlosch beinahe ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Vielleicht hatte Arri es sich auch nur eingebildet. Ihre Zähne klapperten jetzt wirklich, und obwohl sie die Knie an den Leib gezogen und sich so eng in das Bärenfell eingewickelt hatte, wie es überhaupt nur ging, zitterte sie vor Kälte am ganzen Leib. Bevor sie sich auf den Rückweg von der Lichtung gemacht hatten, hatten sie ausgiebig von dem eiskalten, klaren Wasser aus der Quelle getrunken, die neben ihr entsprang, doch in ihrem Mund war trotzdem ein schlechter Geschmack. Sie würde Fieber bekommen, das spürte sie. »Aber es ist schon spät«, widersprach sie trotzdem und auch jetzt nicht aus Überzeugung, sondern abermals aus dem Gefühl heraus, es tun zu müssen. Ihre Mutter bestand sonst unerbittlich darauf, dass sie mit dem ersten wirklichen Licht des Tages aufstand, selbst im Winter, wenn es nicht unbedingt etwas zu tun gab und sie sich manchmal so sehr gewünscht hätte, nur noch eine kleine Weile unter dem kuschelig warmen Fell liegen zu bleiben. »Ich muss aufstehen und…« »Heute nicht«, unterbrach sie ihre Mutter. »Wenigstens nicht sofort. Ich mache dir einen Sud aus Kräutern, damit du nicht krank wirst. Bis er fertig ist, kannst du noch liegen bleiben und dich aufwärmen.« Arri hütete sich, ihrer ersten Regung nachzugeben und zu widersprechen. Sie gab ganz im Gegenteil endlich den Kampf gegen ihre

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Augenlider auf, die plötzlich unerträglich schwer zu werden schienen. Sie fror noch immer erbärmlich, spürte aber jetzt, wie die Wärme ganz allmählich in ihren Körper zurückströmte, und beschloss, die unerwartete Großzügigkeit ihrer Mutter auszunutzen und sich möglicherweise sogar noch ein paar Augenblicke Schlaf zu stehlen, bis der wärmende Kräutersud zubereitet war. Sosehr sie den Sommer mit seiner Wärme und seinen langen Tagen genoss, sosehr hasste sie die allzu kurzen Nächte, in denen sie so wenig Schlaf bekam. Und diese Nacht war nicht nur deutlich kürzer als alle anderen gewesen; die Zeit, die sie zusätzlich wach gelegen war, hatte sie auch überaus angestrengt. Und als wäre das alles noch nicht genug, spürte sie nun jeden einzelnen Kratzer, jeden einzelnen blauen Fleck und jede einzelne Prellung, die sie bei ihrer ersten Unterweisung davongetragen hatte, mit quälender Intensität. Sie sollte ihre Mutter nicht nach einem Trank gegen das Fieber, sondern lieber nach einer Salbe gegen blaue Flecke fragen. Mit diesem Gedanken schlief sie ein und erwachte erst, als helles Sonnenlicht durch ihre geschlossenen Lider drang und so heftig in ihren Augen kitzelte, dass sie niesen musste. Unwillkürlich hob sie die Hand vor das Gesicht - eine weitere Eigentümlichkeit, auf die ihre Mutter beharrte und die ihr schon so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass sie sie nicht einmal mehr wahrnahm, obwohl sie ihren Sinn niemals eingesehen hatte; niemand im Dorf tat so etwas -, nieste noch einmal und noch heftiger, fuhr dann mit einer erschrockenen Bewegung hoch und riss die Augen auf. Helles Sonnenlicht erfüllte das Haus. Es war warm, und als sie erschrocken den Kopf in Richtung der Helligkeit wandte, musste sie die Augen zusammenkneifen, denn die Sonne schien genau durch das nach Süden hin offene Guckloch hindurch. Das bedeutete, dass es fast Mittag war. Sie hatte verschlafen! Ihre Mutter würde ihr tagelang Vorhaltungen machen und… »Bleib noch einen Moment liegen«, drang Leas Stimme in ihre Gedanken. »Ich hole Wasser, damit du dich waschen kannst.« Überrascht riss Arri den Blick vom Guckloch los und sah gerade noch die Gestalt ihrer Mutter hinter dem Muschelvorhang ver-

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schwinden. Sie war ihr nicht böse, dass sie verschlafen hatte? Arri war vollkommen verwirrt. So etwas war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, vor drei oder vier Sommern, als sie wirklich krank gewesen war und tagelang dagelegen und mit einem schweren Fieber gerungen hatte. Hinterher hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass sie um ein Haar gestorben wäre. Aber heute war sie nicht krank. In ihrem Mund war immer noch ein schlechter Geschmack, und sie hatte tatsächlich leichtes Fieber, aber es war nicht schlimm. Als sie sich noch weiter unter ihrer Decke aufrichtete, biss sie zwar die Zähne zusammen, denn sie hatte das Gefühl, den allerschlimmsten Muskelkater ihres ganzen Lebens zu haben, aber nichts davon hätte ihre Mutter unter gewöhnlichen Umständen als Grund anerkannt, bis Mittag im Bett liegen zu bleiben und zu schlafen. Arris Verwirrung wuchs ins Unermessliche. Vorsichtig, weil ihr jede Bewegung Unbill und manche sogar wirkliche Schmerzen bereitete, setzte sie sich noch weiter auf, streifte die Decke ab und bemerkte erst in diesem Moment Rock und Bluse, die ordentlich zusammengelegt unmittelbar neben der Grasmatratze auf dem Boden lagen. Ihre Mutter musste sie gewaschen und zum Trocknen aufgehängt haben, während sie schlief, denn sie rochen gut und waren nur noch ein bisschen feucht, wie Arri bemerkte, als sie mit der Hand darüber strich. Nach kurzem Zögern schlüpfte sie in den Rock und zog die Bluse darüber, bevor sie den Gürtel anlegte und den Dorn durch die Gürtelscheibe schob, und sie kroch auch nicht wieder unter das Bärenfell zurück, sondern nahm mit untergeschlagenen Beinen auf der Grasmatratze Platz. Ein sachter, aber durchaus angenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Ihre Mutter hatte Suppe gekocht, und auch das überraschte sie. Sie liebte Suppe, vor allem, wenn ihre Mutter sie nach dem Rezept aus ihrer alten Heimat zubereitete, mit ordentlich Gemüse und Wurzeln darin und - wann immer die Bauern Schlachttag oder die Jäger Jagdglück gehabt hatten und ihrer Mutter noch etwas schuldeten mit einer überaus großzügig bemessenen Portion Fleisch. Aber sie hatten vom vergangenen Abend noch genug Fladenbrot und Fisch übrig, sodass Arri niemals auch nur auf die Idee gekom-

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men wäre, heute könnte es irgendetwas anderes zu essen geben. Wenn ihre Mutter etwas mehr hasste als einen knurrenden Magen und Hunger, wie sie ihn in jedem Winter, aber mitunter auch in anderen Jahreszeiten litten, dann war es Verschwendung. Und was war überhaupt gestern Nacht geschehen? Einen Moment lang fragte sich Arri ganz ernsthaft, ob sie ihren Ausflug zur Quelle und das, was sie dort getan hatten, vielleicht nur geträumt hatte. Ihre Mutter kam zurück. Sie trug eine Wasserschale aus zweifach gebranntem Ton in der einen Hand und in der anderen den kostbaren kupfernen Kessel, aus dem es sichtbar dampfte. Wortlos stellte sie den Suppentopf gerade ein winzig kleines Stück außerhalb von Arris Reichweite auf den Boden, platzierte die Wasserschale direkt vor ihr und machte eine stumme, auffordernde Geste. Arri reagierte mit einem ebenso stummen, vorwurfsvollen Blick, der von ihrer Mutter natürlich ohne die allermindeste Wirkung abprallte, gab dann aber auf und schöpfte sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, um sich zu waschen. Erst als sie fertig war und ihre noch nicht einmal ganz trockene Bluse schon wieder zu einem gut Teil durchnässt hatte, zog ihre Mutter die Waschschüssel zurück, reichte ihr den hölzernen Löffel und machte eine auffordernde Geste. »Iss.« Das musste man Arri nicht zweimal sagen. Es war bereits Mittag. Die vergangene Nacht war anstrengend gewesen, und sie spürte schon nach dem ersten Löffel, wie hungrig sie tatsächlich war. Sie langte kräftig zu und bemerkte überhaupt erst, nachdem sie eine ganze Weile gegessen hatte, dass ihre Mutter ein kleines Stück weiter auf den Knien neben ihr saß und keinen Finger rührte, um ebenfalls zuzugreifen. Arri warf ihr einen fragenden Blick zu und erntete ein Kopfschütteln und den Anflug eines milden Lächelns als Antwort. »Ich habe schon gegessen. Nimm ruhig, so viel du willst.« Das war so ungewöhnlich, dass Arri tatsächlich für einen Moment mit dem Essen innehielt und zuerst ihrer Mutter und dann dem Inhalt des Topfes einen schrägen Blick zuwarf. Der bauchige Kessel war nur zu einem kleinen Teil gefüllt; vielleicht eine halbe Hand breit über dem Boden, aber die Suppe war dick und kräftig, und es schwammen nicht nur Wurzeln und Knollen, sondern auch jede

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Menge köstlich schmeckender Fleischbrocken darin. Eine Portion wie diese zu essen hätte ihre Mutter ihr gewöhnlich niemals gestattet. Arri beschloss, vorsichtshalber keine Frage zu stellen, sondern die Gunst des Augenblicks zu nutzen und den gesamten Topf zu leeren, wie schwer es ihr auch fallen sollte. Nach gestern Abend war dies das zweite Mal, dass ihre Mutter sich so ungewöhnlich großzügig zeigte, und selbstverständlich würde sie sie nach dem Grund dieses unerwarteten Verhaltens fragen - aber erst, nachdem sie den Topf bis auf den letzten Rest geleert hatte. Sie tat wirklich ihr Bestes, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder warf sie ihrer Mutter scheue Blicke zu und wartete darauf, dass sie ihr den Löffel wegnahm und sagte, dass es nun genug sei. Stattdessen musterte ihre Mutter sie mit einem mühsam zurückgehaltenen, belustigten Ausdruck in den Augen, der schließlich zu eindeutigem (wenn auch gutmütigem) Spott wurde, als Arri endlich den hölzernen Löffel sinken ließ und japsend erklärte, dass sie einfach nicht mehr könne. »Und ich habe schon gedacht, du wirst überhaupt nicht mehr satt«, sagte sie spöttisch. Aber war das wirklich nur Spott in ihrer Stimme, fragte sich Arri, oder hörte sie da einen verkappten Vorwurf? »Wie fühlst du dich?« »Gut«, sagte Arri - was nicht einmal wirklich gelogen war. Sie fühlte sich immer noch ein wenig benommen. Jede Bewegung bereitete ihr Mühe, und sie hatte auch noch ein ganz kleines bisschen Fieber, aber sie fühlte sich auf eine köstliche, nie gekannte Weise satt und zufrieden, und was gab es Wichtigeres, als keinen Hunger zu haben in einer Welt, in der es oft tagelang nichts zu essen gab? Ihre Mutter schüttelte den Kopf, als hätte sie das genaue Gegenteil gesagt. »Es tut mir Leid. Ich glaube, ich habe zu viel von dir verlangt. Bitte entschuldige.« Falls sie vorgehabt hatte, Arris Verwirrung ins Unermessliche zu steigern, so war es ihr mit diesen Worten gelungen. Arri konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sich jemals bei ihr entschuldigt hatte, selbst wenn sie ihr wirklich Unrecht getan hatte, was selten genug vorkam. Sie zögerte eine ganze Weile, aber dann stellte sie die Frage, die ihr die ganze Zeit schon auf der Zunge brannte: »Und wie geht es

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jetzt weiter? Was werden wir machen, um…« »Um zu verhindern, dass du den Rest deines Lebens einem stinkendem Schwachkopf von Ehemann gehorchen musst?« Ihre Mutter lächelte müde und sah zu dem Gegenstand hin, der sie mit ihrer alten Welt verband, ihr Zauberschwert, das an seinem angestammten Platz an der Wand hing. Eine ganze Weile saß sie einfach reglos so da, dann stand sie mit einer fließenden Bewegung auf, nahm das Schwert von der Wand und legte es zwischen sich und Arri auf den Boden, sobald sie sich wieder gesetzt hatte. »Dieses Schwert birgt weitaus mehr Antworten, als du dir vorstellen kannst, Arianrhod. Du wirst einen langen Weg gehen müssen, um seine wahre Macht zu begreifen.« Sie schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Geh jetzt den ersten Schritt zu seinem Verständnis. Fass es an.« Arri riss ungläubig die Augen auf. Ihre Mutter gestattete niemandem, dieses Schwert zu berühren, auch ihr nicht. Arri hatte es ein einziges Mal versucht, vor vielen Sommern. Sie war damals noch so klein gewesen, dass sie nicht nur auf den wackligen Stuhl, sondern auch auf seine Lehne hatte hinaufklettern müssen, um das Schwert überhaupt zu erreichen, und sie erinnerte sich noch jetzt daran, wie aufgebracht und wütend ihre Mutter gewesen war, als sie gerade noch im letzten Moment hereingekommen war, bevor ihre Finger das sonderbar gefärbte Metall hatten berühren können. Sie selbst hatte es nicht mitbekommen und auch niemals gewagt, ihre Mutter danach zu fragen, aber sie wusste von den anderen aus dem Dorf, dass Lea zwei Männer getötet hatte, die versucht hatten, ihr das Schwert zu stehlen. »Du meinst…?« »Fass es an«, wiederholte ihre Mutter und bekräftigte ihre Worte mit einem Nicken. »Aber sei vorsichtig. Es ist sehr scharf.« Auch dessen war sich Arri bewusst, aber es war nicht der Grund, weswegen ihre Hand zitterte, als sie den Arm nach dem Schwert ausstreckte. Obwohl sie sich zahllose Male gefragt hatte, was an diesem Schwert wohl so Besonderes sein mochte, dass ihre Mutter es wie ihren Augapfel hütete, und sie fast ebenso oft mit dem Gedanken gespielt hatte, es heimlich doch einmal von der Wand zu nehmen oder wenigstens zu berühren, kostete es sie jetzt fast alle Willens-

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kraft, die sie nur aufbringen konnte, die Hand weiter auszustrecken und schließlich die Fingerspitzen auf die Klinge zu legen - genau in der Mitte und sorgsam darauf bedacht, der so gefährlich scharfen Schneide ja nicht nahe zu kommen. Ihr Herz pochte. Das Erste, was ihr auffiel, war, wie kalt das Metall war. Ihre Mutter hatte das Schwert nicht durch Zufall genau so aufgehängt, dass die Sonnenstrahlen, die durch das Guckloch drangen, genau darauf fielen. Es hätte warm sein müssen, doch das war es nicht. Und es fühlte sich ganz anders an, als sie erwartet hatte, viel glatter als jedes andere Metall, das sie kannte, und viel härter. Härter noch als Eis. Aber das war nicht alles. Auch, wenn sie das Gefühl nicht begründen konnte, so spürte sie doch ganz deutlich, dass diesem Schwert ein Geheimnis innewohnte. Eine große Macht. Scheu hob sie den Blick und sah ihre Mutter fragend an, und als diese auffordernd nickte, glitten ihre Finger behutsam an der Klinge empor, strichen über den wuchtigen, aus dem gleichen Metall gefertigten Griff, und hielten schließlich inne, bevor sie den bunten, kunstvoll gestalteten Knauf berührten. So sonderbar das Schwert an sich schon war, die runde Metallscheibe an seinem oberen Ende war noch viel sonderbarer. Sie hatte den Durchmesser von drei oder vier nebeneinander gelegten Fingern und bestand aus einem dunkelgrünen Material, bei dem es sich weder um Metall noch um Stein zu handeln schien, auch wenn es mindestens ebenso hart war. In die glatte Oberfläche waren verwirrende Symbole eingelassen; Radkreise, Punkte und Linien, die ein bestimmtes Muster zu bilden schienen, das Arri zwar nicht erkennen konnte, von dem sie aber ganz deutlich spürte, dass es da war. Und allein der Blick ihrer Mutter machte ihr klar, dass es sich dabei nicht nur um ein Schmuckstück oder Zierrat handelte. Jeder Kreis aus grünem und gelbem Metall, welches die Sonne manchmal so grell widerspiegelte, dass der Anblick in den Augen schmerzte, bedeutete etwas. Und da sie spürte, dass ihre Mutter ganz genau diese Frage von ihr erwartete, hob sie schließlich abermals den Kopf und stellte sie ihr. »Was bedeutet das?« »Das«, antwortete ihre Mutter ernst, »ist es, was Nor als Mitgift

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von mir fordert.« »Dein Schwert?«, fragte Arri verwundert. Lea schüttelte heftig den Kopf, antwortete aber trotzdem: »Ja. Er will auch das Schwert. Aber viel mehr noch will er das, was es bedeutet. Es ist das Geheimnis meiner Macht. Dein Erbe, Arianrhod.« Arri schauderte. Es war das zweite Mal binnen kurzer Zeit, dass ihre Mutter sie mit ihrem wirklichen Namen ansprach, und dass sie es gerade jetzt und in diesem Moment tat, war ganz gewiss kein Zufall. Plötzlich spürte sie, dass sie einen sehr wichtigen Augenblick erlebte, vielleicht den wichtigsten überhaupt bisher, und auch wenn sie immer noch nicht verstand, was hier eigentlich vor sich ging, ließ sie doch allein diese Erkenntnis noch einmal und viel heftiger erschauern. »Hast du mich deshalb gestern mit… mit in den Wald genommen?«, fragte sie zögernd. »Ich werde dich lehren, dieses Schwert zu gebrauchen«, antwortete ihre Mutter. Seltsam - Arri war beinahe sicher, dass sie damit mehr meinte, als diese Klinge wie ein Krieger zu führen und sich damit ihrer Feinde zu erwehren. »Ich hätte längst damit beginnen müssen. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Ich habe wirklich geglaubt, es könne immer so weitergehen. Aber es geht nie immer so weiter. Die Welt dreht sich, und die Götter und ihre Hohepriester treiben ihr Spiel mit uns.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Arri. »Und wie auch?«, gab ihre Mutter zurück. Plötzlich hörte sie sich traurig an. »Ich hätte dir längst so vieles sagen sollen, aber manchmal tun Erinnerungen weh, weißt du, und manchmal ist es leichter, einfach die Augen zu schließen und sich selbst einzureden, dass alles nur ein böser Traum ist, aus dem man irgendwann schon noch erwachen wird.« Betroffen von der sonderbaren Mischung aus Trauer und quälenden Selbstzweifeln in der Stimme ihrer Mutter, wagte es Arri nicht, auch nur eine der zahllosen Fragen zu stellen, die ihr plötzlich auf der Seele brannten. Stattdessen griff sie - sehr vorsichtig - mit beiden Händen nach dem Schwert und hob es auf die gleiche Weise hoch, wie ihre Mutter es zu tun pflegte; ihre Rechte schloss sich um den leder-

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bezogenen Griff, der sich ganz anders als die Klinge anfühlte, zwar ebenso hart, zugleich aber so anschmiegsam, als wäre er eigens für sie angefertigt worden. Ihre Linke umfasste vorsichtig die rasiermesserscharfe Schneide, und sie spürte einen dünnen, brennenden Schmerz, obwohl das Metall ihre Haut nicht einmal ritzte. Erneut glaubte sie das gewaltige Geheimnis zu spüren, das diesem Schwert innewohnte und das weit über seine bloße Zerstörungskraft und Gefährlichkeit hinausging. »Sei vorsichtig damit«, mahnte ihre Mutter, nun aber in jenem sanften, mütterlichen Ton, der Arri meist wütend machte, gab er ihr doch das Gefühl, ein kleines Kind zu sein, dem man bei jedem Handgriff sagen musste, was gut für es war und was nicht. Unendlich behutsam hob sie das Schwert hoch. Es war viel leichter, als sie erwartet hatte - die schweren, großen Klingen, die Nors Krieger trugen, waren um einiges kürzer, dafür aber mindestens dreimal so dick und plump, und mussten das Doppelte wiegen, wenn nicht mehr -, und als sie auf ein weiteres aufforderndes Nicken ihrer Mutter hin die Linke von der Klinge löste und das Schwert nur noch am Griff hielt, erlebte sie eine weitere Überraschung: Plötzlich störte sie sein trotz allem enormes Gewicht kaum noch. Der Griff schmiegte sich so selbstverständlich in ihre Hand, dass sie das Gefühl hatte, die Waffe wäre plötzlich zu einer natürlichen Verlängerung ihres Armes geworden. Erstaunt sah sie zu ihrer Mutter hoch, und wieder reagierte diese ganz anders, als Arri vermutet hatte. Trauer und Schmerz verschwanden aus ihrem Blick und machten einer wohlwollenden Zufriedenheit Platz. Sie hatte etwas gesehen, was sie nicht zu erwarten gewagt, wohl aber gehofft hatte. Ohne ein Wort zu sagen, stand ihre Mutter auf, nahm ihr behutsam das Schwert aus der Hand und trug es zu seinem Platz an der Wand zurück. »Wenn du irgendwann einmal vor der Wahl stehst, dieses Schwert zu retten oder mein Leben«, sagte sie, »dann entscheide dich für das Schwert.« Das war so verrückt, dass Arri im ersten Moment fast sicher war, sich verhört zu haben. Aber dann drehte sich ihre Mutter zu ihr um, und was sie in ihren Augen las, fegte jeden Zweifel davon. Sie hatte

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es ganz genau so gemeint, und es war ihr bitter ernst damit. »Aber warum?«, murmelte sie hilflos. »Ich erwarte nicht, dass du es jetzt schon verstehst. Du wirst alles erfahren, bis deine Ausbildung abgeschlossen ist.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nor fordert meine Entscheidung zwar bis zum ersten Schnee, aber er wird sie auch keinen Tag früher bekommen. Uns bleibt also noch etwas Zeit, keine Sorge.« Zeit wofür?, fragte sich Arri. Etwa, sich in Gedanken schon einmal mit dem Hungertod anzufreunden? Dass ihre Mutter - auch vor ihr Geheimnisse hatte, das war inzwischen keine neue Erkenntnis mehr für sie. Aber allmählich wurde ihr klar, dass diese Geheimnisse wohl unendlich viel größer waren, als sie bisher auch nur angenommen hatte. »Und… was geschieht, wenn der erste Schnee früher fällt als gewöhnlich?«, fragte sie stockend. »Wirst du ihm dann das Schwert geben - und mich… mich irgendeinem dummen Kerl als Zugabe?« »Nein, ich denke ja gar nicht daran.« Lea zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich weiß mich meiner Haut zu wehren, aber Nors Streitmacht wäre auch ich nicht gewachsen. Zumindest nicht mit der Waffe in der Hand.« Plötzlich erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie blinzelte Arri verschwörerisch zu. »Mach dir keine Sorgen. So lange er nicht weiß, wo unser Geheimnis wirklich verborgen ist, kann er uns nichts anhaben. Ich bin sicher, ich kann ihn noch länger hinhalten als bis zum Wintereinbruch, wenn es sein muss.« Jetzt hatte sie zum allerersten Mal unser Geheimnis gesagt, dachte Arri, und der kleine Unterschied gab ihr den Mut, eine Frage zu stellen, die ihr sonst niemals über die Lippen gekommen wäre. »Und wo ist es verborgen?« Ihre Mutter schüttelte lachend den Kopf. »So lange du nicht weißt, wo es ist, kann er es auch nicht aus dir herauspressen.« Sie schnitt Arri mit einer knappen Handbewegung das Wort ab, als diese eine weitere Frage stellen wollte. »Genug jetzt. Für einen Tag hast du schon fast zu viel erfahren. Mit neuem Wissen ist es wie mit Essen, weißt du? Allzu viel auf einmal davon, und dir wird schlecht.« Dieser Meinung war Arri ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil

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fand sie, dass es sich genau umgekehrt verhielt. Ihr Hunger schien mit jedem Bissen, den ihre Mutter ihr hinwarf, noch zuzunehmen. »Ich habe Nors Krieger gestern gesehen«, sagte sie. »Ich weiß«, antwortete Lea. »Ich war dabei.« Arri schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Nicht hier oben in der Hütte. Später, als ich das Feuer auf der Sommerkochstelle anmachen sollte. Er stand hinter dem Holunder und hat mich beobachtet.« Leas Gesicht verfinsterte sich. »Hat er etwas gesagt?« »Nein. Er hat mich nur ganz merkwürdig angestarrt.« »Mehr möchte ich ihm auch nicht geraten haben«, sagte Lea düster. »Nor hat nicht nur einen, er hat gleich zwei Krieger mitgebracht. Als ich heute Morgen im Dorf war, habe ich sie mit Sarn und ein paar anderen zusammenstehen sehen.« Arri dachte an die unheimliche Begegnung mit Sarn am Steinkreis, die ihr jetzt, mit etwas Abstand, fast wie ein ferner Traum vorkam. »Vielleicht planen sie das Jagd-Ernte-Fest«, sagte sie leise. »Immerhin ist Sarn der Schamane.« »Und mindestens genauso närrisch wie Nor«, versetzte ihre Mutter. »Wenn du die beiden zusammen in einen Sack stopfst und mit einem Stock darauf schlägst, dann triffst du ganz bestimmt immer den Richtigen.« Sie winkte ab, als Arri etwas dazu sagen wollte. »Lass es gut sein, Arri. Du hast noch einiges zu tun. Der Regenwasservorrat ist fast aufgebraucht, und die Pflanzen in deinem Garten brauchen frisches Wasser, wenn sie nicht in der Sonne verdorren sollen.« »Wasser?« Arri blickte missmutig auf die Schale, in der sie sich vor dem Essen das Gesicht und die Hände gewaschen hatte. »Ich müsste nicht einmal halb so oft zum Fluss gehen, wenn wir das Wasser dazu benutzten, wofür es da ist: zum Wässern«, nörgelte sie. »Stattdessen verschwenden wir unendlich viel Wasser mit Waschen. Niemand im Dorf wäscht sich so oft. Das ist verrückt. Es ist nicht einmal gesund.« »Wer sagt das?«, fragte Lea in leicht belustigten Ton. »Alle«, behauptete Arri. »Alle?«, vergewisserte sich ihre Mutter. Das spöttische Funkeln in ihren Augen nahm noch zu. »Du meinst, alle deine Freunde? Sprichst du jetzt von denen, die ständig Grind und Schorf im Gesicht haben

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und auf deren Köpfen mehr Läuse zu finden sind als Haare, oder von denen, die so übel riechen, dass man gut daran tut, immer den Wind im Rücken zu haben, wenn man mit ihnen spricht?« Arri blickte sie finster an, aber es war natürlich zu spät. Sie verfluchte sich selbst in Gedanken dafür, überhaupt davon angefangen zu haben, denn wenn ihre Mutter einmal Gefallen an einem bestimmten Thema gefunden hatte, dann pflegte sie so schnell nicht wieder damit aufzuhören. »Vielleicht meinst du ja auch diejenigen«, fuhr sie fort, »die ständig zu mir kommen und sich einen Kräutertee oder einen Sud aus Pilzen geben lassen, weil sie Bauchgrimmen haben oder einen hässlichen Ausschlag, der so juckt, dass sie sich die Haut vom Leib kratzen. Ist dir so etwas schon einmal passiert?« Widerwillig schüttelte Arri den Kopf, und obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war, antwortete sie in trotzigem Ton: »Nein. Aber das liegt bestimmt nicht daran, dass ich mich so oft wasche.« »Es liegt an demselben Grund«, antwortete Lea, »aus dem wir auch von Tellern essen und Fleisch und Fisch nicht roh verspeisen, und aus dem ich deine Kleider jeden dritten Tag wasche, ob sie nun schmutzig sind oder nicht.« »Und was soll das für ein Grund sein?«, erkundigte sich Arri missmutig. »Man nennt es Zivilisation«, antwortete ihre Mutter spöttisch. »Aha«, sagte Arri. Ihre Mutter hatte dieses Wort schon mehrmals gebraucht, wenn auch nie im direkten Gespräch mit ihr, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, was es bedeutete. Dennoch fiel ihr ein Unterschied auf, denn die wenigen Male, da sie es vorher gehört hatte, hatte immer ein sonderbarer Unterton von Trauer in Leas Stimme mitgeschwungen, als spräche sie über etwas, was sie vor langer Zeit unwiderruflich verloren hatte. Nun glaubte sie beinahe so etwas wie Hoffnung in ihrer Stimme zu hören. »Ich nehme an, du wirst mir später erklären, was es bedeutet. Irgendwann, noch bevor der Winter kommt und der erste Schnee fällt.« »Ich hoffe, das wird dann nicht mehr nötig sein.« Ihre Mutter winkte erneut ungeduldig, und Arri begriff, dass der seltene Moment der

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Langmut vorbei war. Wortlos stand sie auf und wandte sich zum Ausgang. Ihre Mutter hatte den großen Tonkrug, den sie zum Wasserholen verwendete, schon unten an der Stiege bereitgestellt, und als Arri ihn hochhob, verzog sie schon einmal vorbeugend das Gesicht, wobei sie daran dachte, wie schwer er auf dem Rückweg sein würde, wenn er randvoll mit Wasser wäre. Ihr Protest, was ihren täglichen Verbrauch an Wasser anging, war durchaus ernst gemeint gewesen, und das nicht nur in einer Beziehung. Sie verbrauchten nicht nur sehr viel mehr Wasser als alle anderen im Dorf, von allen Häusern der Ansiedlung lag das ihre auch am weitesten vom Fluss entfernt. Der Weg, den Hügel hinauf und an der anderen Seite des Dorfes wieder hinunter zum Flussufer, war zwar kein mühsamer, aber auf dem Rückweg würde sie einen Krug mit sich schleppen, der fast so schwer war wie sie selbst, falls sie ihn ganz voll machte - oder immerhin halb so schwer, falls sie sich entschloss, den Weg zweimal zu gehen. Wenn das die viel gepriesene Zivilisation ihrer Mutter war, dachte sie missmutig, dann konnte sie gern darauf verzichten. Das Dorf schmorte in der Mittagshitze, als sie den Hügel erklommen hatte und auf den großen Platz in seiner Mitte zusteuerte. In der vergangenen Nacht hatte sie am eigenen Leib gespürt, wie nahe die kalte Jahreszeit bereits war, im Augenblick aber brannte die Sonne so unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel, als wolle sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um sie für die Unbill zu entschädigen. In den letzten Jahren hatte sich das Dorf stark verändert, und das nicht nur, weil sich die Bevölkerung fast verdoppelt hatte. Die einfachen kleinen Pfahlbauten mit ihren lehmverputzten Flechtwänden und Schilfdächern waren durch größere Gebäude ergänzt worden, in denen getöpfert, Flachs gesponnen, Körbe geflochten oder Werkzeuge und Schmuck hergestellt und aufbewahrt wurden. Aber noch hatte sich die neue Zeit nicht vollständig durchgesetzt, noch wurde der innere Dorfkreis durch eine in sich geschlossene Reihe alter Hütten geprägt. Wie eine Herde verkrüppelter Tiere hockten sie am Rand des Platzes, seltsame Lebewesen, die sich im Licht der allmählich sinkenden Sonne hier zusammengefunden hatten, um in ihrer Ge-

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meinschaft Schutz vor der bevorstehenden Nacht zu suchen. Von ihren Bewohnern war bis auf eine Hand voll kleiner Kinder, die im Morast unter den Pfahlbauten herumtobten, nichts zu sehen. Die Erwachsenen und größeren Kinder waren wohl außerhalb des Dorfes bei der Arbeit, die allermeisten sicherlich auf den neu gerodeten Feldern, die mit Hilfe der von Ochsen gezogenen Pflüge in wertvolles Ackerland verwandelt worden waren. Andere hatten auf den Waldwiesen Rinder und Schafe zu hüten, manche streiften für gewöhnlich auf der Suche nach Wurzeln, Beeren oder essbaren Früchten, Pilzen und Blüten durch die Wälder, und nun, wo sich der Sommer allmählich dem Ende zuneigte, gingen auch die Jäger verstärkt auf die Pirsch, um Vorräte für den bevorstehenden Winter einzubringen. Und trotzdem war es seltsam. Auch wenn die meisten Bewohner außerhalb des Dorfes ihren schweißtreibenden Beschäftigungen nachgingen, gab es doch sonst immer etliche, die hier am Dorfplatz und damit im Zentrum des täglichen Lebens mit allerlei alltäglichen Verrichtungen beschäftigt waren. Beunruhigt lief Arri zum jenseitigen Rand des Dorfplatzes, hinter dem sich eine sanft zum Flussufer hin abfallende Wiese befand, auf der zweifellos eine große Zahl bunter Wildblumen wüchse, wäre sie nicht von einer noch größeren Anzahl beharrlicher Füße niedergetrampelt worden, die sich unentwegt zum Fluss hinab und wieder zum Dorf heraufbewegten. Hier sah sie doch noch einige Erwachsene. Auch wenn sie auf deren Anblick gern verzichtet hätte. Sie hatte den Dorfplatz gut zur Hälfte überquert, als sie Stimmen hörte. Sie konnte weder heraushören, wem sie gehörten, noch, was gesprochen wurde, aber sie klangen aufgeregt, und sie drangen ganz eindeutig vom Flussufer herauf und damit genau von der Stelle, zu der sie unterwegs war. Einen Moment lang spielte sie ganz ernsthaft mit dem Gedanken, kehrtzumachen und das Dorf an seinem anderen Ende zu verlassen, auch wenn dies einen großen Umweg bedeutete und einen sehr anstrengenden Rückweg, wenn sie den gefüllten Wasserkrug auf der Schulter trug. Dann aber siegte ihre Neugier. Etwas an diesen Stimmen war… anders als sonst. Sie war nicht ganz sicher,

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wirklich das Echo eines Streits zu hören, aber zumindest war es kein friedliches Gespräch, das an ihr Ohr drang. Arri, die kurz inne gehalten hatte, ging nun umso schneller weiter. Sie hatte sich getäuscht. Das Dorf wirkte nicht wie ausgestorben, weil all seine Bewohner bei der Arbeit auf den mühsam gerodeten Feldern oder vor der Mittagshitze in ihre Häuser geflohen waren, ganz im Gegenteil. Nahezu die gesamte Einwohnerschaft des Ortes hatte sich am Ufer der Zella versammelt, gar nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie gestern Rahn die Äsche abgeluchst hatte. Doch nicht der Fischer stand im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit, sondern Grahl, der Jäger. Arri wusste, dass er vor drei Tagen zusammen mit seinen Brüdern losgezogen war, um weitab vom Dorf auf die Jagd zu gehen, ein Vorhaben, das zwar gefährlich, aber überaus lohnenswert war, wenn es erfolgreich verlief (und alle Beteiligten überlebten). Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass die Männer so bald zurückkehren würden. Das Gebiet, das Wildschweine und Hirsche durchstreiften oder auf dem Wisente weideten, war riesig, und die Jäger blieben selten weniger als sieben oder noch mehr Tage fort. Als Arri näher kam, bemerkte sie auch Kron, Grahls jüngeren Bruder; von Ans, dem ältesten der drei, war keine Spur zu sehen. Sie konnte bis auf das Wort Wildschwein immer noch nicht verstehen, was dort unten gesprochen wurde, was zum allergrößten Teil allerdings daran lag, dass alle wild durcheinander schnatterten und riefen, sodass Grahl Mühe hatte, sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Aber ihr ungutes Gefühl wuchs, als sie sah, dass Kron verletzt war. Er presste den linken Arm fest gegen den Leib und trug einen flüchtig gefertigten Verband aus Blättern um das Handgelenk und den Unterarm, der von dunkelbraunen, hässlich eingetrockneten Flecken verunziert war. Obwohl sein struppiges Haar weit ins Gesicht hing und er den verfilzten Bart das letzte Mal vermutlich vor zwei oder drei Sommern geschnitten hatte, konnte Arri erkennen, wie blass er war. Anscheinend, dachte sie, war die Jagd diesmal nicht so glatt verlaufen, wie Grahl und seine Brüder es vor ihrem Aufbruch vollmundig verkündet hatten. Sie selbst war nur ein einziges Mal auf ein

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angriffslustiges Wildschwein gestoßen, und sie hatte diese Begegnung nur überlebt, weil sie sich mit einer Schnelligkeit auf einen Baum geflüchtet hatte, die sie sich selbst bis zu diesem Moment niemals zugetraut hätte. Wildschweine waren weder besonders groß, noch sahen sie außergewöhnlich beeindruckend oder gar schnell aus, und doch waren allein in der Zeit, in der ihre Mutter und sie jetzt in diesem Dorf lebten, schon zwei Jäger von ihnen getötet worden, und es verging kein Sommer, in dem nicht wenigstens einer eine schwere Verletzung davontrug. »Was ist geschehen?«, fragte sie. Die Frage war an niemand Besonderen gerichtet, und sie bekam auch keine Antwort. Die Blicke aller hingen wie gebannt an Grahls Lippen, der mit aufgeregter Stimme und noch aufgeregter gestikulierend erzählte, wobei er immer wieder in Richtung des Sonnenaufgangs deutete, wo er und seine Brüder die Wildschweinherde verfolgt hatten. Arri setzte den Krug ab, legte die letzten Schritte schneller zurück und fragte noch einmal: »Was ist geschehen?« Diesmal bekam sie eine Antwort, wenn auch nicht von Grahl oder einem der anderen Erwachsenen, sondern von Osh, einem Jungen aus dem Dorf, der zwei oder drei Sommer jünger war als sie, dennoch aber erstaunlich groß. Arri hatte kein gutes Verhältnis zu ihm - was allerdings auf nahezu alle Kinder aus dem Dorf zutraf -, und er ließ seinerseits gewöhnlich keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen, sie zu ärgern oder sich über sie lustig zu machen. Jetzt aber drehte er sich eilfertig zu ihr um und antwortete in einem Ton, als wäre die Neuigkeit, die er ihr mitzuteilen hatte, sein alleiniger Verdienst. »Sie sind angegriffen worden! Feinde, die über die Berge gekommen sind! Eine ganze Horde!« Arri sah ihn einen Moment lang zweifelnd an. Osh war ein Dummkopf und ein Angeber dazu, dem man nicht glauben konnte. Aber Grahls Stimme klang mehr als aufgeregt, und obwohl sie viel zu verwirrt war, um wirklich hinzuhören, glaubte sie doch Worte wie Riesen, Feinde und Schlacht zu vernehmen. »Wo ist Ans?«, fragte sie. Oshs Gesicht nahm einen gewichtigen Ausdruck an. »Tot.«

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Arri erschrak. »Tot?« Der Tod gehörte zum Leben im Dorf dazu wie der tägliche Sonnenaufgang und der immer gleiche Wechsel von Sommer und Winter, und er konnte jeden jederzeit treffen, sodass er zwar stets ein Anlass zur Trauer war, aber selten überraschend kam. In diesem Augenblick aber, in dem Grahl mit schriller Stimme erzählte und sein sichtlich schwer verwundeter Bruder mit totenbleichem Gesicht die eine oder andere Ergänzung dazu gab, erschreckte dieses Wort Arri zutiefst. Was, wenn Osh sich nicht nur wichtig machte, sondern die Wahrheit sprach? Ohne auf die heftig durcheinander schnatternden Männer und Frauen zu achten, bahnte sich Arri einen Weg zu den beiden Jägern und zupfte Grahl am Ärmel seines Umhangs, der grob aus unterschiedlich großen Stücken Wildschweinfell zusammengenäht war und weder bequem noch wirklich warm sein konnte, dafür aber hervorragend zu der schweren Kette aus Bärenkrallen und Hauern passte, die der Jäger um den Hals trug. Grahl genoss zu Recht den Ruf eines hervorragenden Jägers, war darüber hinaus aber ein ziemlicher Dummkopf und Angeber. Arri musste zwei oder drei Mal an seinem Arm zerren, bis es ihr gelang, seine Aufmerksamkeit zu erregen, und er wenigstens für einen Moment sein heftiges Fuchteln mit den Armen einstellte. »Was?«, fauchte er. »Dein Bruder«, antwortete Arri. »Er ist verletzt. Bring ihn zu meiner Mutter.« In Grahls eng beieinander stehenden, unter buschigen Brauen verborgenen Augen blitzte ein Ausdruck auf, den Arri nur als reine Wut bezeichnen konnte, obgleich sie dieses Gefühl nicht im Mindesten verstand. Dann presste er die Lippen aufeinander, und sie konnte regelrecht sehen, wie er eine Menge wenig freundlicher Worte herunterschluckte, die für sie bestimmt gewesen waren. »So schlimm ist es nicht«, antwortete Kron an seiner Stelle, und das mit einer Stimme, die sich so anhörte, als kämpfe er mit aller Macht darum, sich noch auf den Beinen zu halten. Wahrscheinlich kam das der Wahrheit auch ziemlich nahe, wie Arri jetzt, wo sie unmittelbar vor ihm stand, erkannte. Sie sah, dass er den verletzten Arm nicht

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wirklich gegen den Leib presste, sondern mit einem groben Strick daran festgebunden hatte. »Was mischst du dich ein?«, fauchte eine Stimme hinter ihr, die sie als die des Fischers Rahns erkannte, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen. »Vielleicht hat sie ja Recht«, murmelte Grahl zu ihrer Überraschung. Diese unerwartete Zustimmung hinderte ihn nicht daran, Arri noch einmal mit einem kurzen, fast angewiderten Blick zu streifen. Dann jedoch wandte er sich direkt an seinen Bruder. »Geh mit ihr. Ihre Mutter soll sich um deine Wunde kümmern. Wenn sie hierher kommen, brauchen wir jeden Mann, um zu kämpfen.« Kämpfen?, dachte Arri alarmiert. »Aber was ist denn geschehen?«, murmelte sie. »Das geht dich nichts an«, sagte Grahl grob. »Wir bringen meinen Bruder jetzt zu deiner Mutter. Sie muss ihn schnell gesund machen. Wir sind alle in großer Gefahr.« »Ich helfe dir«, sagte Rahn. Ungeduldig drängte er sich an Arri vorbei, wobei er natürlich die Gelegenheit nutzte, ihr einen so derben Stoß zu versetzen, dass sie fast gestürzt wäre, und streckte Kron die Hände entgegen, doch der Jäger schlug diese mit dem unversehrten Arm beiseite. »Ich kann schon noch allein gehen«, knurrte er. Rahn trat beleidigt zurück, und auch die anderen machten dem groß gewachsenen Jäger hastig Platz. Kron war dafür bekannt, manchmal ohne wirklichen Grund die Fäuste fliegen zu lassen, und dass er verletzt war und sichtlich Mühe hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, machte ihn eher noch reizbarer. Arri trat gehorsam an seine Seite und wandte sich ab, um vorauszugehen, blieb aber nach zwei Schritten wieder stehen und drehte sich noch einmal zu dem jungen Fischer um. Rahn trug wie die meisten Männer im Dorf Beinkleider, lief aber bis weit in den Winter hinein mit nacktem Oberkörper herum, damit auch jeder sehen konnte, wie muskelbepackt und breit gebaut er war - nach Arris Empfinden eindeutig ein Ausgleich dafür, dass sein Verstand nur mit Mühe und Not mit den Fischen mithalten konnte, denen er tagein, tagaus mit dem unterschiedlichsten Fangge-

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rät nachstellte. »Du kannst uns helfen«, sagte sie und deutete auf den leeren Krug. »Wir brauchen Wasser. Meine Mutter braucht immer viel Wasser, um eine Wunde zu versorgen.« Rahns Augen wurden schmal. Arri war fast sicher, dass er sich in diesem Moment einfach auf sie gestürzt hätte, hätte nicht das ganze Dorf um sie herumgestanden; aber auch so konnte sie ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, es nicht zu tun. Dennoch fuhr sie mit einem zuckersüßen Lächeln fort: »Ich kann ihn auch selbst tragen, aber dann dauert es länger, bis wir bei meiner Mutter sind und Kron von seinen Schmerzen erlöst wird.«

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4 Kaum hatten sie das letzte, abschüssige Stück des Weges in Angriff genommen, da kam ihnen auch schon Lea entgegen. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie sah, wer sich in Begleitung ihre Tochter befand. Mit großen Schritten und kampflustiger Miene erreichte sie die vier, bevor sie den halben Weg zur Hütte zurückgelegt hatten. Sie sagte nichts, aber zwischen ihren silberfarbenen Brauen entstand angesichts des Wasserkrugs, den der vorneweg gehende Rahn trug, eine steile Falte, und der Blick, mit dem sie Arri maß, enthielt eine unausgesprochene Frage, auf die sie zwar in diesem Moment sicherlich keine Antwort haben wollte, später dafür aber umso gewisser. »Was ist geschehen?«, fragte Lea, wobei ihr Blick bereits kundig über Krons Gestalt und vor allem den verbundenen linken Arm tastete und dann seine Augen suchte. Aus einem Grund, den Arri nie wirklich verstanden hatte, sah ihre Mutter den Leuten, die mit einer Krankheit oder einer Verletzung zu ihr kamen, immer zuallererst und sehr lange in die Augen. »Mein Bruder ist verletzt«, antwortete Grahl. »Sein Arm.« »Das sehe ich.« Arris Mutter trat zur Seite und vollführte eine auffordernde Geste. »Bring ihn ins Haus.« Mit der anderen Hand hielt sie gleichzeitig Arri und Rahn zurück, als auch diese beiden sich in Bewegung setzen wollten. »Gib Arri den Krug«, wandte sie sich an den Fischer. »Und dann geh zur Zella und hole Nachschub. Ich brauche noch mehr Wasser.« Rahn sah sie aus seinen braunen Augen eindeutig trotzig an, nahm aber ohne ein Wort den Krug von der Schulter und reichte ihn Arri. »Darüber reden wir später«, zischte ihre Mutter Arri zu, während sie sich bereits umdrehte und den beiden Jägern mit schnellen Schritten folgte. Arri wankte ihnen unter der Last des Kruges gebückt hinterher, fiel aber rasch zurück, sodass die drei bereits in der Hütte verschwanden, als sie gerade die Stiege erreicht hatte. Ächzend setzte sie den schweren Krug ab, gab sich selbst einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen, und setzte ihren Weg dann mit zusam-

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mengebissenen Zähnen fort. Obwohl sie sehr vorsichtig war, verschüttete sie einen gut Teil des Wassers, bis sie endlich durch den Muschelvorhang trat, was ihr einen weiteren ärgerlichen Blick ihrer Mutter einbrachte. Grahl hatte seinen Bruder mittlerweile zu einer Grasmatratze geführt (ihre Matratze, wie Arri mit einem ärgerlichen Zusammenzucken feststellte) und ihm den Umhang abgenommen. Leas Gesicht blieb vollkommen unbewegt, aber Arri fuhr noch einmal und noch heftiger zusammen, als sie sah, dass Krons Arm auch oberhalb des Verbandes dunkel verfärbt war, an manchen Stellen fast schwarz. Sie verstand nicht annähernd so viel von der Heilkunst wie ihre Mutter, aber das musste sie auch nicht, um zu begreifen, dass es ernst war. »Was ist passiert?«, wandte sich Lea an Grahl. Bevor er jedoch antworten konnte und ohne den Blick von Krons verbundenem Arm zu nehmen, fuhr sie, an ihre Tochter gewandt, fort: »Mach ein Feuer. Ich brauche heißes Wasser. Und bring mir meine Werkzeuge.« Arri wankte gehorsam mit ihrer Last zum anderen Ende des Raumes, stellte den Krug mit einem unnötig lauten Knall ab und ging dann zu dem schmalen Durchgang, der ins Nebenzimmer führte. In den ersten Jahren, in denen sie hier gelebt hatten, war ihr Haus das einzige im weiten Umkreis gewesen, das nicht nur aus einem Raum bestanden hatte. Mittlerweile hatten auch etliche Dorfbewohner ihre Pfahlbauten um einen Raum erweitert oder neue Gebäude mit gleich zwei Räumen errichtet, vor allem wenn sie neben der schweren Feldarbeit noch ein Handwerk ausübten und einen Lagerplatz für ihre Vorräte und Waren brauchten oder im Winter ihr Vieh mit ins Haus nahmen. Es lag wohl nur an der alten Tradition und Sarns Starrsinn, dass man die größeren Gebäude hier weiterhin Hütten und nicht Häuser nannte, beinahe so, als sei es eine Schande, mehr als nur den allernotwendigsten Platz für Mensch und Tier zur Verfügung zu stellen. Ihre eigene Hütte - ihr eigenes Haus, verbesserte sich Arri in Gedanken - war bei weitem nicht mehr das größte in der Umgebung, in dem Menschen ohne Vieh lebten, und ihr zweites Zimmer verdiente diesen Namen kaum. Es war ein winziger Verschlag, in dem ihre

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Mutter alles aufbewahrte, was nicht tagtäglich gebraucht wurde oder was von besonderem Wert für sie war. Durch die schmalen Ritzen des unverputzten Weidengeflechts drang nur sehr wenig staubiges Licht, doch Arri hätte selbst bei vollkommener Dunkelheit gefunden, wonach sie suchte. Der aus grobem Leder gefertigte Beutel lag auf dem kleinen Tischchen unmittelbar neben dem Eingang. Sein Inhalt klimperte leise, als Arri ihn hochhob und ihrer Mutter brachte. Lea beachtete sie gar nicht, sondern bedeutete ihr nur mit einer Geste weiterzumachen, sodass sie sich rasch zu der Feuerstelle in der Mitte des Raumes begab, wo sie sich auf die Knie herabsinken ließ. Während sie bedächtig trockene Blätter und Reisig herunterrieseln ließ, blies sie behutsam in die nahezu erloschene Glut, um das Feuer neu anzufachen. Im allerersten Moment wollte es ihr nicht richtig gelingen, und sie bekam schon fast Angst, es übertrieben zu haben und das Feuer aus- statt anzublasen, was nichts anderes als die zeitraubende und mühsame Prozedur für sie bedeutet hätte, es völlig neu zu entzünden. Dann aber fing eines der trockenen Blätter an zu schwelen, und kurz darauf leckte ein erstes, noch winziges Flämmchen an dem dürren Reisig empor. Arri atmete innerlich auf. Sie hasste es, Feuer zu machen. Die sicherste Methode war, einen runden Holzstab so lange zwischen den Handflächen schnell hin und her zu rollen, bis durch die Reibung ein winziger Glutfunke auf einem Feuerschwamm entstand, und es gelang ihr auch fast immer auf Anhieb. Aber auf Anhieb konnte dennoch eine geraume Zeit bedeuten, und manchmal schmerzten ihre Hände hinterher so sehr, dass sie sie einen halben Tag lang nicht richtig benutzen konnte. Inzwischen hatte ihre Mutter ihre Frage noch einmal wiederholt, während sie Grahl dabei half, seinen Bruder vollends aus dem schweren Fellumhang zu schälen und mit mehr oder weniger sanfter Gewalt auf die Matratze hinabzudrücken. Kron wehrte sich schwächlich; vielleicht aus einem ebenso absurden wie falschen Stolz heraus, vielleicht fieberte er aber auch bereits so stark, dass er gar nicht mehr richtig begriff, was er tat. »Wir sind angegriffen worden«, wiederholte Grahl.

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»Das weiß ich«, antwortete Lea unwillig. »Was ist mit seinem Arm? Wann ist es passiert und wo?« »Ein Schwerthieb«, antwortete Grahl. Arri fuhr so erschrocken herum, dass sie eine unbedachte Bewegung machte und das Feuer um ein Haar tatsächlich erstickt hätte. Geradezu entsetzt starrte sie den Jäger an, und auch ihre Mutter hatte mit einem Ruck den Kopf gehoben und bedachte Grahl mit einem Ausdruck, von dem Arri nicht sicher war, ob er Zweifel oder tiefes Erschrecken bedeutete. »Ein Schwerthieb?« Arris Herz begann zu klopfen. Die einzigen Schwerter, die sie außer dem Zauberschwert ihrer Mutter je gesehen hatte, gehörten Nors Kriegern - aber die Wächter Gosegs waren ihre Verbündeten! »Es waren Fremde«, antwortete Grahl. »Zwei Tage von hier, im Osten. Wir waren hinter Wildschweinen her und hatten gerade einen besonders großen Keiler erlegt, als sie auftauchten. Zuerst war es nur einer. Ans wollte ihn verjagen, weil wir dachten, er sei von einem anderen Stamm und wolle uns unsere Beute streitig machen.« Lea sagte nichts dazu, sondern legte nur fragend den Kopf ein wenig mehr auf die Seite, und auch ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Arri konnte sich gut vorstellen, was hinter ihrer Stirn vorging. Vermutlich das Gleiche wie hinter ihrer eigenen. Grahl und seine Brüder waren nicht unbedingt dafür bekannt, ein freundliches Wesen zu haben. Ganz bestimmt hatte Grahls Bruder diesen Fremden nicht einfach nur freundlich aufgefordert, wieder zu gehen. »Und?«, fragte Lea, als der Jäger nicht von sich aus weitersprach, sondern auf seinen Bruder herabblickte und dabei die rechte Hand im Schoß zur Faust ballte. »Er ist gegangen«, antwortete Grahl, »und wir haben angefangen, den Keiler auszunehmen. Aber nach einer Weile ist er zurückgekommen, und mit ihm fünf oder sechs andere. Sie haben uns sofort angegriffen. Wir haben uns gewehrt, so gut wir konnten, aber es waren zu viele, und sie hatten Schwerter.« »Schwerter?«, vergewisserte sich Lea. Grahl nickte düster. »Es waren Krieger, keine Jäger. Ans haben sie

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erschlagen. Und auch ich wäre tot, wenn mein Bruder sich nicht dazwischengeworfen hätte. Der Hieb, der ihn getroffen hat, galt mir. Danach sind wir geflohen. Sie haben uns verfolgt, aber wir waren schneller und konnten ihnen entkommen.« Leas Gesichtsausdruck ließ noch immer nicht erkennen, ob sie diese Geschichte nun glaubte oder nicht. Arri jedenfalls fiel es schwer. Sie zweifelte nicht daran, dass sie im Kern der Wahrheit entsprach, aber ihr war ebenso klar, dass Grahl das eine oder andere wohl nicht ganz so darstellte, wie es sich tatsächlich abgespielt hatte. Fünf oder sechs Krieger mit Schwertern gegen drei Jäger, die nur Speere und einfache Messer hatten? Kaum. »Was waren das für Männer?«, fragte Lea schließlich. »Konntest du erkennen, zu welchem Stamm sie gehören?« Grahl schüttelte heftig den Kopf. »Keinem, den ich kenne«, antwortete er. »Sie sahen nicht aus wie…« Er suchte sichtlich nach Worten. »Wie Leute von hier«, sagte er schließlich. »Es waren Riesen. Der Kleinste von ihnen war größer als ich, und sie trugen Fellkleider, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, und sonderbaren Schmuck.« Ja, und gleich wird er erzählen, dass Blitze aus ihren Augen geschossen sind und die Erde zittert, wenn sie laufen, dachte Arri spöttisch. Sie hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen oder sich ihre Zweifel auch nur anmerken zu lassen, aber sie glaubte dennoch zu spüren, dass es ihrer Mutter bei Grahls Worten nicht sehr viel anders erging als ihr. Sonderbarerweise wirkte sie zugleich aber auch sehr besorgt. Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern öffnete den Lederbeutel, den Arri ihr gebracht hatte, und kramte ein kleines Messer mit einer Bronzeklinge hervor, die kaum länger als ein Fingernagel war, dafür jedoch so scharf geschliffen, dass man sich fast schon daran schneiden konnte, wenn man sie nur ansah. »Das war vor zwei Tagen, sagst du?«, fragte sie, während sie sich über Kron beugte und mit einem raschen Schnitt die grobe Schnur durchtrennte, mit der er seinen verletzten Arm am Leib festgebunden hatte. Der Jäger stöhnte und warf den Kopf hin und her, und Lea gab seinem Bruder mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, dass er ihn festhalten solle.

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»Drei, wenn die Sonne untergeht«, antwortete Grahl. »Seither waren wir auf der Flucht vor ihnen. Wir hatten Angst, dass sie uns noch weiter verfolgen könnten.« »Und da habt ihr euch gedacht, es ist das Beste, ihr kommt hierher zurück und lockt diese gewaltigen fremden Krieger direkt ins Dorf«, seufzte Lea kopfschüttelnd. Grahl wirkte betroffen, sagte aber nichts dazu, und auch Arri konnte plötzlich nur hoffen, dass seine Schilderung der unheimlichen Angreifer tatsächlich so hoffnungslos übertrieben war, wie sie vermutete. Ein halbes Dutzend Krieger, wie Grahl sie beschrieben hatte, noch dazu mit Schwertern und womöglich anderen, gefährlicheren Waffen ausgestattet, konnte es leicht mit dem gesamten Dorf aufnehmen. Arris Blick streifte das Schwert, das hinter ihrer Mutter an der Wand hing, und sie berichtigte sich in Gedanken. Na gut: fast mit dem gesamten Dorf. »Sie haben uns nicht verfolgt.« »Bist du da sicher?«, fragte Lea. Grahl druckste herum, während sich Arris Mutter tiefer über seinen Bruder beugte und mit ihrem winzigen Messer den Verband aus Blättern aufschnitt. »Ja«, gestand er schließlich. »Hätten sie es getan, dann hätten sie uns wahrscheinlich auch erwischt. Wir sind nicht gut vorangekommen. Kron hat viel Blut verloren und konnte nicht sehr schnell laufen, und schon in der ersten Nacht hat er Fieber bekommen. Ein Stück des Weges musste ich ihn tragen. Ich hatte Angst, dass er auch stirbt. Du… du wirst ihm doch helfen, oder?« Lea antwortete nicht. Sie hatte den Verband mit einem Schnitt der Länge nach geteilt. Jetzt legte sie das Messer aus der Hand, griff aber noch nicht nach der Masse aus blutdurchtränkten Blättern und Moos, sondern wandte sich mit einem ungeduldigen Blick an ihre Tochter. »Komm her.« Arri zögerte. »Aber das Feuer…« »Wird schon nicht ausgehen, in dem kurzen Augenblick«, unterbrach sie ihre Mutter. »Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Und außerdem wäre es ganz gut, wenn du lernst, wie man mit Verletzungen umgeht. Komm.« Unsicher stand Arri auf, trat an ihre Seite und ließ sich zögernd auf

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die Knie sinken. Abgesehen davon, ihr die Werkzeuge, Heilkräuter und das Wasser zu bringen und sich um das Feuer zu kümmern, konnte sich Arri nicht vorstellen, wie sie ihrer Mutter helfen sollte. Sie verstand nicht besonders viel von den Künsten ihrer Mutter, die sie vor ihr fast ebenso eifersüchtig hütete wie vor allen anderen. »Halte seinen Arm«, befahl Lea. Wahrscheinlich hatte die Aufforderung Grahl gegolten, doch bevor der Jäger zugreifen konnte, hatte Arri bereits Krons Handgelenk umschlossen und hielt es so fest wie sie konnte. Es kostete sie eine Menge Überwindung. Krons Haut fühlte sich heiß an und so trocken wie altes Leder, das über die ganze Mittagszeit in der Sonne gelegen hatte, und sie konnte spüren, wie rasend schnell sein Herz schlug. »Haltet ihn gut fest«, sagte Lea noch einmal. »Wenn der Verband an der Wunde festklebt, wird es sehr wehtun.« Arri spannte die Muskeln an, und auch Grahls Griff um die Schultern seines Bruders verstärkte sich, als Lea unendlich behutsam den Blätterverband auseinander bog. Trotzdem stöhnte Kron leise, und Arri musste nun fast ihre gesamte Kraft aufwenden, um seinen Arm weiter ruhig zu halten. Ein erbärmlicher Gestank begann sich in der Hütte auszubreiten, als Lea das zusammengebackene Gemisch aus Blättern, Blut und Moos vorsichtig von Krons Arm streifte; es roch nach Eiter und altem Blut und Schmutz, aber auch noch nach etwas anderem, Schlimmerem. Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und musste gegen ein leises Gefühl von Übelkeit ankämpfen, als sie Krons Arm das erste Mal wirklich sah. Das Gesicht ihrer Mutter aber nahm einen deutlich besorgten Ausdruck an. »Das sieht nicht gut aus«, sagte sie, und allein die Tatsache, dass sie das sagte, alarmierte Arri über die Maßen, denn gewöhnlich gehörte es zu den ehernen Grundsätzen ihrer Mutter, den Leuten, die zu ihr kamen, stets Mut zu machen. Andererseits, dachte Arri und wagte einen zweiten, etwas längeren Blick auf Krons Arm, nachdem ihr Magen wirklich zu revoltieren begann, wäre alles andere einfach nur lächerlich gewesen. Der Arm des Jägers hatte sich schwarz verfärbt und war nahezu auf das Doppelte seines normalen Umfangs angeschwollen. Die Wunde reichte bis auf den Knochen, der zwar nicht

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ganz gebrochen, aber auf der Länge einer Handspanne gesplittert war, und der üble Geruch, den sie verströmte, schien mit jedem Moment schlimmer zu werden. Es war nicht zu erkennen, was auf seiner schwarz verfärbten Haut faulendes Fleisch und was Reste des drei Tage alten Verbandes waren, aber Arri wunderte sich im Grunde, dass der Mann überhaupt noch lebte. »Bring mir eine Schale Wasser«, verlangte ihre Mutter, »und etwas von dem gepressten Mohn.« Arri stand gehorsam auf, verschwand im Nebenzimmer und kam mit einer flachen hölzernen Schale zurück, die ein grobkörniges, schwarzes Pulver enthielt. Das Allermeiste davon waren tatsächlich getrocknete Mohnsamen, aber sie wusste, dass ihre Mutter auch noch einige andere, geheime Ingredienzien darunter gemischt hatte, und hätte sie nicht schon der Anblick von Krons Arm alarmiert, so hätte es spätestens die Tatsache getan, dass ihre Mutter nach diesem Pulver verlangte. Seine Herstellung war sehr aufwändig und zeitraubend, und ihre Mutter hatte ihr oft genug eingeschärft, dieses Pulver niemals - niemals - zu berühren oder ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis herauszugeben, denn es versetzte denjenigen, der es nahm, nicht nur in einen tiefen Schlaf, in dem er weder Schmerz noch sonst etwas spürte, sondern konnte den Schlaf auch übergangslos in den Tod übergehen lassen, wenn man nur eine Winzigkeit zu viel davon verabreichte. Umso überraschter war Arri nun, als sie die großzügige Menge sah, die ihre Mutter in die Schale mit Wasser einrührte, welche sie ihr gebracht hatte. Sie beruhigte sich selbst damit, dass Kron auch ein außergewöhnlich großer und starker Mann war, und sah schweigend zu, wie Lea die Schale an seine Lippen setzte und ihm gut die Hälfte des Wassers einflößte. »Wir müssen warten, bis der Trank wirkt«, sagte sie und reichte Arri die Schale zurück. »Hier. Stell das gut weg. Wir brauchen es vielleicht später noch einmal.« Während Arri gehorchte, wandte Lea sich wieder an Grahl. »Wo genau habt ihr diese Fremden getroffen?« »Im Osten«, antwortete der Jäger.

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»Drei Tage weit im Osten?«, erwiderte Lea. Der Zweifel in ihrer Stimme war unüberhörbar. Niemand ging so weit, um ein Wildschwein zu jagen. Das sprach sie zwar nicht laut aus, aber sowohl Arri als auch Grahl hörten es irgendwie trotzdem heraus. »Keine drei Tage«, antwortete er. »Aber auf der anderen Seite des großen Flusses. Allein und ohne Kron wären es weniger als zwei Tagesmärsche gewesen.« »Das ist trotzdem weit«, sagte Lea. Sie klang besorgt. »Wieso habt ihr den Fluss überquert?« Was geht dich das an?, antwortete Grahls Blick. Er presste trotzig die Lippen zusammen und schwieg, aber er musste ebenso gut wie Arri wissen, dass er diese Frage würde beantworten müssen. Wenn nicht ihnen, dann spätestens Sarn. Der große Fluss im Osten stellte nicht nur eine beinahe unüberwindliche Barriere dar, an der die bekannte Welt endete, sondern markierte zugleich auch die Grenze, bis zu der der Einflussbereich Gosegs und der mit dem Heiligtum verbündeten Sippen und Dörfer reichte. Was dahinter lag, war Niemandsland, über dessen Bewohner man wenig wusste, um das sich dafür aber umso mehr Gerüchte rankten. Aber noch nie hatte jemand etwas von Riesen erzählt, die sonderbare Kleidung trugen und mit Schwertern auf harmlose Jäger losgingen. Soviel Arri wusste, gab es dort eben andere Dörfer, andere Sippen und vielleicht andere Heiligtümer, in denen andere Götter angebetet wurden, dennoch aber Menschen. »Wir haben die Schweine zwei Tage lang verfolgt«, sagte Grahl schließlich in trotzigem Ton. »Ich lasse keine Beute entkommen, nur, weil sie durch einen Fluss flieht.« »Aber du hast die Gerüchte gehört«, sagte Lea ruhig. »Über die fremden Krieger aus dem Osten. Du und deine Brüder, ihr wolltet nicht einfach einmal nachsehen, was an diesen Gerüchten dran ist?« »Gerüchte«, sagte Grahl abfällig. »Dummes Gerede, mit dem man Kindern Angst macht, damit sie sich abends nicht vom Feuer entfernen.« Lea seufzte. »Ja, und jetzt ist einer deiner Brüder tot, und der andere…« Sie schüttelte den Kopf, sah auf Kron hinab und hob dann mit

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einem neuerlichen Seufzen die Schultern. »Aber das geht mich nichts an. Was immer ihr getan habt oder auch nicht, ist geschehen, und ihr habt einen ziemlich hohen Preis dafür bezahlt.« Sie stand auf. »Gib Acht, dass er den Arm nicht bewegt«, sagte sie, an Arri gewandt, während sie sich umdrehte und mit schnellen Schritten im Nebenzimmer verschwand. Grahl starrte ihr nach. Er hatte die Kiefer so fest zusammengepresst, dass Arri meinte, seine Zähne knirschen zu hören. Vermutlich war ihre Mutter mit ihrer Frage der Wahrheit näher gekommen, als sie selbst ahnte. Arri hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass es kaum einen sichereren Weg gab, sich den Hass eines anderen zuzuziehen, als ihm einen Fehler nachzuweisen. Als hätte er ihre Gedanken gelesen - vielmehr hatte er aber wahrscheinlich ihren Blick gespürt -, starrte Grahl sie nun so hasserfüllt an, dass sie rasch die Augen senkte und es allemal vorzog, auf Krons verheerten Arm zu starren. Ihr Magen krampfte sich prompt wieder zusammen, jetzt aber schon nicht mehr ganz so schlimm wie zuvor, und auch der Gestank schien bereits weniger schlimm zu sein, obwohl Arri nicht ganz sicher war, ob sie sich nicht einfach nur daran gewöhnt hatte. Vielleicht half ihr auch die wachsende Gewissheit, dass ihre Mutter sie wohl nicht zu dieser grässlichen Hilfe zwang, um sie zu quälen, vielleicht brauchte sie sie ja tatsächlich bei dem, was sie nun tun musste. Wahrscheinlich aber kam es ihr vor, dass auch dies Teil der geheimnisvollen Ausbildung war, von der sie in der vergangenen Nacht gesprochen hatte. Allerdings gefiel ihr dieser Teil weit weniger als die Unterweisung im Wald. Ihre Mutter rumorte einige Augenblicke im Nebenraum, und als sie zurückkam, trug sie eine ganze Anzahl kleiner Tongefäße und lederner Beutel auf den Armen. Geschickt balancierte sie mit ihrer Last heran, sank wieder auf die Knie und verteilte alles so um sich herum auf dem Boden, dass sie es ohne Mühe erreichen konnte. »Das Feuer«, erinnerte sie Arri. Froh, Krons Arm endlich loslassen zu können, stand Arri auf und ging zu dem flachen Stein in der Mitte des Zimmers, auf dem das kurzlebige Reisigfeuer seinen Zenit mittlerweile schon wieder über-

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schritten hatte und erneut zu erlöschen drohte. Diesmal kostete es sie jedoch nur wenige Handgriffe, die Flammen neu anzufachen und einige etwas dickere Äste nachzulegen, die das Feuer länger in Gang halten würden. Es war sehr warm im Raum. Warum ihre Mutter ein so großes Feuer brauchte, verstand sie nicht wirklich - was hieß: Sie hatte einen Verdacht. Aber der war so unangenehm, dass sie den Gedanken rasch wieder von sich schob. Sie legte weiteres Holz nach und bröselte schließlich eine Hand voll trockenen Torf in die Flammen, der nicht annähernd so hell brannte wie die Zweige, aber heißer und sehr viel länger. Als sie fertig war und wieder an Leas Seite zurückkehrte, begann der Schlaftrunk seine Wirkung zu tun. Kron hatte die Augen geschlossen; er atmete noch immer schnell und hektisch, und an beiden Seiten seines Halses pochte eine Ader, die verriet, wie rasend sein Herz schlug. Doch als Lea vorsichtig die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen die Wundränder berührte, reagierte er nicht. Was nun kam, hatte Arri schon oft genug beobachtet, aber sie hatte noch nie dabei mithelfen müssen, und sie war überrascht, dass es so ein großer Unterschied war. Ihre Mutter mischte Kräuter und Pulver, die sie aus den verschiedensten Pflanzen und Pilzen gewonnen hatte, in einer Wasserschale, in die sie anschließend ein sauberes Tuch tauchte, mit dessen Hilfe sie die grässliche Wunde in Krons Arm säuberte, so gut es ging; wobei so gut es ging ganz und gar nicht gut bedeutete. Das brandig gewordene Fleisch schien sich an manchen Stellen regelrecht aufzulösen, wenn sie mit dem Tuch darüber strich, an anderen wiederum war es hart wie Stein geworden oder begann heftig zu bluten, wenn sie es auch nur berührte. Der Gestank nach Eiter wurde so übermächtig, dass Arri zweimal schrecklich übel wurde, und auch aus Leas Gesicht war sämtliche Farbe gewichen, als sie endlich fertig war. Die Schale, in die sie immer wieder ihr Tuch getaucht hatte, war nun mit einer braunroten Flüssigkeit gefüllt, die kaum weniger übel roch als Krons Arm. Erschöpft ließ sich Lea zurücksinken. »Das hat keinen Sinn«, wandte sie sich an Grahl. »Ich kann den Arm nicht retten.« Grahls Blick machte klar, dass er das gewusst hatte. Trotzdem

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flammte eine Mischung aus Wut und Entsetzen in seinen Augen auf. »Was soll das heißen?«, fuhr er sie an. »Du kannst alle Verletzungen heilen! Hilf ihm!« »Das soll heißen«, antwortete Lea leise, fast traurig, zugleich aber auch sehr entschieden, »dass die Wunde brandig geworden ist. Wenn du es schon nicht siehst, dann solltest du es zumindest riechen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er ist dein Bruder. Ich weiß, was er dir bedeutet. Wärt ihr gestern hierher gekommen, hätte ich vielleicht noch etwas tun können. Aber so ist es zu spät. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.« Noch einmal - diesmal aber nur für einen ganz kurzen Moment blitzte blanker Hass in Grahls Augen auf, aber das Gefühl hielt nicht einmal lange genug an, um Arri erschrecken zu können. Dann machte es einer dumpfen Verzweiflung und einem Schmerz Platz, die sie bei diesem großen, streitlustigen Mann niemals erwartet hätte. »Also… also wird er sterben?« Lea ließ eine geraume Weile verstreichen, bevor sie antwortete, und sie sah Grahl dabei auch nicht direkt in die Augen. »Das wissen nur die Götter, Grahl. Ich kann seinen Arm nicht retten.« Sie schwieg kurz und fügte dann noch leiser hinzu: »Aber vielleicht ihn.« Grahls Augen wurden groß. Das Entsetzen, das Arri darin las, war offensichtlich noch größer als das bisherige, aber von einer vollkommen anderen Art. »Du… du willst seinen… seinen Arm abschneiden?«, flüsterte er. »Er wird mit Sicherheit sterben, wenn ich es nicht tue. Noch heute, spätestens aber morgen. Vielleicht wird er auch sterben, wenn ich es tue, doch wenn nicht, stirbt er bestimmt.« Arri spürte ein kurzes, aber eisiges Frösteln. Sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte. Kron gehörte mit zu den stärksten Männern im ganzen Dorf. Die meisten anderen an seiner Stelle hätten nicht einmal den Rückweg hierher lebend überstanden. Dennoch schnürte ihr die bloße Vorstellung dessen, was ihre Mutter gerade vorgeschlagen hatte, die Kehle zu. »Aber… mit einem Arm wird er… ein Krüppel sein«, stammelte Grahl. Arri sah, dass er unter all dem eingetrockneten Schmutz und

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der Sonnenbräune blass geworden war. »Er wird nie mehr auf die Jagd gehen können. Wovon soll er leben? Wie soll er sich und seine Familie ernähren?« »Wenn die Götter entscheiden, dass er lebt, dann werden sie auch dafür sorgen, dass er es kann«, antwortete Lea. »Er wird eine andere Arbeit finden. Seine Frau und seine Kinder können ihn versorgen, und Ans’ Familie ebenfalls, jetzt, wo er nicht mehr am Leben ist.« Sie hob müde die Schultern. »Er ist dein Bruder. Es ist deine Entscheidung.« Grahl schwieg eine lange, schier endlos lange Weile. Er blickte auf seinen bewusstlosen Bruder herab, doch Arri war sicher, dass er etwas ganz anderes sah. Schließlich flüsterte er: »Er wird mich dafür hassen.« »Nicht so sehr wie mich«, sagte Lea. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, aber ein wenig schon. Besprich es mit seiner Familie oder auch mit Sarn, wenn du willst. Aber komm schnell zurück. Jeder Moment, den wir noch warten, verschlechtert seine Aussicht, am Leben zu bleiben.« Zuerst schien es, als hätte Grahl ihre Worte gar nicht gehört. Sein Blick flackerte unstet über das Gesicht seines bewusstlosen Bruders, wanderte dann zu seinem Arm und saugte sich an der schwärenden Wunde fest. Im ersten Augenblick dachte Arri, dass seine Lippen zitterten, dann aber wurde ihr klar, dass sie lautlose, gestammelte Worte formten, vielleicht in einer Sprache, die nur er allein verstand. »Nein«, sagte er schließlich. »Tu es. Jetzt.« »Bist du sicher?«, fragte Lea. »Du hast Recht, weißt du? Er wird dich dafür hassen.« »Nicht so sehr wie dich.« Grahl versuchte zu lachen. Es misslang. »Waren das nicht deine eigenen Worte?« »Alle hier hassen mich.« Lea schüttelte ernst den Kopf. »Aber du bist sein Bruder.« Grahls Blick löste sich von Krons Gesicht, bevor er antwortete, strich mit sonderbarer Kälte über Leas Gestalt und blieb dann an der Klinge des schimmernden Zauberschwertes an der Wand hinter ihr hängen, bevor er antwortete. »Ich habe schon einen Bruder verloren.

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Ich will nicht schuld am Tod eines zweiten sein. Du hast Recht. Wenn die Götter es wollen, wird er weiterleben, und wenn es so kommt, dann werde ich es als Zeichen nehmen, unsere Kraft nicht mehr mit der Jagd auf Schweine zu verschwenden. Ein Mann kann ein Schwert auch mit einer Hand führen. Wir werden Ans’ Mörder suchen und töten.« Ein flüchtiger Ausdruck von Trauer huschte über Leas Gesicht und erlosch wieder, bevor Grahl ihn sehen konnte. Arri jedoch entging er keineswegs. Das war ganz eindeutig nicht die Antwort, auf die ihre Mutter gewartet hatte, aber sie schien auch nicht wirklich überrascht. Allerhöchstens enttäuscht. »Wenn du es so willst. Trotzdem möchte ich, dass du gehst und Sarn holst. Ich brauche noch ein wenig Zeit, um alle Vorbereitungen zu treffen, und auch die Hilfe eines zweiten Mannes. Und wer wäre besser geeignet als euer Schamane?« Grahl setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Augenblick hörte Arri das Muschelklappern des Vorhanges, und als sie überrascht den Kopf wandte, sah sie niemand anderen als den Mann die Hütte betreten, von dem ihre Mutter soeben gesprochen hatte: Sarn. Grauhaarig, mit verfilztem Bart und trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer mit breiten Schultern, die wie unter dem unsichtbaren Gewicht der Jahre, die auf ihnen lasteten, weit nach vorn gebeugt waren, wirkte er übellaunig und angriffslustig wie immer, als er sich wieder aufrichtete, zugleich aber auch ein wenig verunsichert, und das war etwas, das Arri noch nie an ihm beobachtet hatte. Trotzdem wich sie ganz unwillkürlich ein Stück zurück, und ihr war, als spüre sie noch jetzt den festen Griff seiner Greisenhand, mit der er sie im Steinkreis umklammert hatte. »Du brauchst nicht nach mir zu schicken«, sagte er. »Ich habe alles gehört.« »Ich weiß«, antwortete Lea. »Ich hoffe, es war nicht zu unbequem für dich, die ganze Zeit draußen zu stehen und zu lauschen.« Arri runzelte überrascht die Stirn. Wann immer sie allein waren, pflegte ihre Mutter nie einen Hehl daraus zu machen, was sie von Sarn wirklich hielt, nämlich so wenig wie Sarn umgekehrt davon,

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dass er die fremde Frau und ihr Kind nur in seinem Dorf duldete, weil ihr Nutzen für die Gemeinschaft größer war als der Schaden, den sein Stolz durch ihre Anwesenheit davontrug; nun gut, und vielleicht auch, weil sie trotz allem unter Nors persönlichem Schutz stand. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass ihre Mutter Sarn so unverblümt herausforderte. Der Dorfälteste anscheinend auch noch nicht, denn er starrte Lea einfach nur fassungslos an, und Arri wäre nicht weiter erstaunt gewesen, hätte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft geschnappt. Dann jedoch fing er sich wieder und setzte ein möglichst grimmiges Gesicht auf. »Deine Entscheidung ist richtig«, sagte er, direkt an Grahl gewandt, nicht etwa mitfühlend, sondern ganz im Ton eines Herrschers, der die Entscheidung eines unbedeutenden Untergebenen im Nachhinein gutheißt. »Unser Stamm ist zu klein, um auch nur auf ein einziges Leben verzichten zu können. Wenn die Götter es wollen, wird Kron wieder gesund, und ihr könnt den Mord an eurem Bruder rächen.« Er wandte sich mit verächtlichem Gesichtsausdruck an Lea. »Du brauchst meine Hilfe?« Ohne zu antworten, griff Lea in ihren Beutel und kramte ein zweites Messer heraus, dessen Klinge ebenso übertrieben breit war wie die des ersten lächerlich klein. Es hatte einen langen, mit Lederstreifen umwickelten Griff, den sie nun sorgsam in eine zweite Lage aus dickem Stoff wickelte, bevor sie aufstand und damit zum Feuer ging. Der bittere Klumpen in Arris Hals wurde größer, als sie sah, dass ihre Mutter die bronzene Messerklinge ins Feuer legte und sorgsam so platzierte, dass sie möglichst viel Glut abbekam. Noch immer ohne etwas zu sagen, verschwand sie abermals im Nebenzimmer und kam nach einem Augenblick mit zwei unterschiedlich langen Lederriemen in der Hand zurück. Der eine war geflochten, bestand aus mehreren dünnen Schnüren und war doppelt so lang wie Arris Arm. Mit wenigen geschickten Bewegungen knotete sie ihn um Krons Handgelenk und zog ihn stramm. Mit dem anderen, dünneren Riemen beugte sie sich über Krons Schulter und band den Arm dicht über dem Gelenk so fest ab, dass das Blut gestaut wurde. Sie bedeutete Grahl mit einer Kopfbewegung, seinen Bruder festzu-

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halten, und winkte dann Sarn herbei. »Du musst seinen Arm ausgestreckt halten«, sagte sie, während sie ihm das Ende der geflochtenen Schnur in die Hand drückte. »Zieh so fest wie du kannst. Keine Sorge. Er wird nichts spüren.« Der Dorfälteste betrachtete den Lederriemen ungefähr so begeistert, wie er eine giftige Schlange angesehen hätte, die Lea ihm gereicht hätte, dann bedachte er sie selbst mit einem vielleicht noch angewiderteren Blick. Doch Lea ließ sich weder von dem einen noch dem anderen beeindrucken, sondern nahm das Schwert von der Wand, ergriff es mit beiden Händen und berührte mit der Klinge vorsichtig Krons Arm an einer Stelle nur zwei Finger breit unterhalb des Riemens, mit dem sie ihn abgebunden hatte. Der Kloß in Arris Hals war mittlerweile so dick geworden, dass sie kaum noch atmen konnte. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte - die Vorstellung von dem, was ihre Mutter gleich tun würde, oder die Kälte, mit der sie ihre Vorbereitungen traf. »Es könnte sein, dass er aufwacht«, sagte Lea leise und in ernstem Ton, an Grahl gewandt. »Wenn das geschieht, musst du ihn auf jeden Fall festhalten, hast du verstanden? Er wird verbluten, wenn er sich die Riemen abreißt.« Grahl nickte. Er war sehr blass, wirkte aber zugleich auch entschlossen, ganz anders als Sarn, der allenfalls so tat, als hielte er den Riemen, mittels dessen er Krons Arm strecken sollte, tatsächlich fest. Seine Hände zitterten sichtbar. Als es dann geschah, ging alles so schnell, dass Arri nicht einmal wirklich Zeit fand zu erschrecken. Ihre Mutter suchte mit leicht gespreizten Beinen nach festem Stand, hob das Schwert in einer fließenden Bewegung so hoch über den Kopf, dass die Klinge raschelnd das mit Gras gedeckte Dach über ihr streifte, und ließ es dann mit einer sonderbar mühelos wirkenden Bewegung niedersausen. Das schimmernde Metall durchtrennte Fleisch und Knochen so leicht, als wäre es auf keinen wirklichen Widerstand gestoßen, und fuhr mit einem dumpfen Laut fast fingertief in die Fußbodenbretter. Grahl gab einen leisen, wimmernden Laut von sich, der so gequält klang, als hätte das tödliche Metall in seinen eigenen Arm gebissen,

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Kron ächzte im Schlaf und lag dann wieder still, und Sarn, der ganz offensichtlich im letzten Moment doch noch tat, was Lea von ihm verlangt hatte und den Riemen straff zog, taumelte mit zwei eindeutig lächerlich wirkenden Schritten rückwärts und wäre sicherlich äußerst unsanft zu Boden gefallen, wäre er nicht mit dem Rücken gegen die Wand neben dem Guckloch geprallt. So rutschte er nur ungeschickt daran entlang nach unten - was für Arri fast genauso komisch aussah. Das Lachen blieb Arri allerdings im Halse stecken, als der Riemen in seinen Händen der Bewegung mit einer kurzen Verzögerung folgte und inmitten eines nach allen Seiten spritzenden Blutschwalls wie eine Peitschenschnur auf ihn zuschnellte. Krons abgetrennter Arm, der daran hing, platschte mit einem dumpfen Laut direkt neben Sarns Füßen auf den Boden, und das Blut, das aus ihm schoss, ergoss sich über seine Sandalen und besprenkelte sein Gewand. Lea legte das Schwert aus der Hand und war mit zwei schnellen Schritten beim Feuer. Mit einer sonderbaren Mischung aus blankem Entsetzen und einem seltsam teilnahmslosen Interesse sah Arri zu, wie sie das Messer aus der Glut nahm, sich zu Kron hinabbeugte und die mittlerweile glühende Klinge auf seinen Armstumpf presste, aus dem nur sehr wenig und unnatürlich hell aussehendes Blut quoll. Es zischte, und der durchdringende Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte den Raum, als Lea den Stumpf mit wenigen, sehr schnellen Bewegungen ausbrannte. Arri wurde nun endgültig schlecht. Irgendwie schaffte sie es, sich nicht vor die Füße ihrer Mutter zu übergeben, aber erstaunlicherweise gelang es ihr nicht, sich von dem furchtbaren Bild loszureißen. Kron warf im Schlaf den Kopf hin und her. Sein ganzer Körper bebte so stark, dass sein Bruder all seine Kraft aufwenden musste, um ihn niederzuhalten. Seine Beine strampelten wild. Schnell, dennoch aber mit sehr ruhigen, sicheren Bewegungen führte Lea ihre Arbeit zu Ende, legte das Messer anschließend wieder ins Feuer und sah dann mit nachdenklich gerunzelter Stirn auf ihren Patienten hinab. Kron stöhnte leise im Schlaf, hatte aber aufgehört, sich hin und her zu werfen und mit den Beinen zu strampeln. Sein Arm-

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stumpf blutete nicht mehr, und der Gestank von Eiter und Fäulnis war einem Geruch gewichen, als hätte man ein Stück Wildbret zu lange im Feuer gelassen. Sarn saß noch immer in unveränderter Haltung unter dem Fenster und starrte abwechselnd den bewusstlosen Jäger und den Lederriemen in seinen Händen an, an dessen Ende immer noch Krons abgetrennter Arm hing; seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wäre er nicht besonders überrascht gewesen, wäre dieser plötzlich zum Leben erwacht und hätte nach seiner Kehle gegriffen. Lea bückte sich nach einem der kleinen Lederbeutel, die sie geholt hatte, und reichte ihn Grahl. »Bestreicht die Wunde mit einem dicken Sud aus diesen Kräutern. Ich komme später und lege ihm einen Verband an, aber im Moment sind Licht und Luft das Beste für die Wunde. Ihr müsst ihm Wasser geben, so viel es nur geht. Wenn er nicht trinken will, dann zwingt ihn.« Grahl blickte den kleinen Beutel in seiner Hand vollkommen verständnislos an. Er wusste offensichtlich nicht, was er damit anfangen sollte. »Aber was, wenn…« »Mehr kann ich im Augenblick nicht für deinen Bruder tun«, unterbrach ihn Lea. Plötzlich klang sie ungeduldig, fast zornig. Sie wedelte mit der Hand. »Jetzt bringt ihn nach Hause. Wenn er aufwacht und seine Schmerzen zu schlimm werden, dann kommt zu mir, aber wahrscheinlich wird er schlafen.« »Aber… aber er wird… leben?«, murmelte Grahl. Es klang flehend. »Ich hoffe es.« Lea fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und verbesserte sich dann mit einem abgehackten, aber nur angedeuteten Nicken: »Wahrscheinlich. Wenn er die Nacht übersteht, sind seine Aussichten gut. Jetzt bringt ihn weg.« Nicht nur Arri war verwirrt. Bisher hatte ihre Mutter die gleiche Mischung von Sicherheit und Zuversicht ausgestrahlt wie sonst auch. Nun aber wirkte sie erregt, ungeduldig und zornig und schien Kron und die beiden anderen gar nicht schnell genug loswerden zu können. Was bedeutete das nur? Hinter ihr richtete sich Sarn ächzend wieder auf. Arri wandte flüchtig den Kopf und sah, dass er den Lederriemen immer noch in beiden

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Händen hielt; ein Angler, der einen ganz besonders grausigen Fisch gefangen hatte. Auch in seinen Augen las sie pures Entsetzen, aber nicht nur. Da war noch etwas, und auch wenn sie es nicht richtig zu deuten vermochte, machte es ihr Angst. Grahl schob den Beutel, den Lea ihm gegeben hatte, unter seinen Umhang, dann hob er seinen bewusstlosen Bruder anscheinend ohne die mindeste Mühe hoch und wandte sich zum Ausgang »Und du kommst täglich und… und sorgst dich um ihn?«, vergewisserte er sich, bevor er die Hütte verließ. Lea nickte. Sie sagte nichts. Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt. »Und wenn nicht, dann werden die Götter sein Leben erhalten«, sagte Sarn. »Ich werde ihre Gunst erflehen, und der ganze Stamm wird ihnen opfern, damit sie Krons Leben verschonen.« »Ja«, flüsterte Lea, so leise, dass Arri bezweifelte, dass Sarn die Worte überhaupt verstand. »Tu das.« Etwas lauter und mit einem Lächeln, das so falsch war, wie es nur sein konnte, fügte sie hinzu: »Geh mit ihm, Sarn. Er wird alle Hilfe brauchen, die er bekommen kann. Was ich tun konnte, habe ich getan. Jetzt sind eure Götter an der Reihe.« Sarn starrte sie mit eisigem Blick an und wollte Grahl dann folgen, doch Lea hielt ihn noch einmal zurück und deutete auf Krons abgetrennten Arm. »Hast du nicht etwas vergessen? Das hier gehört Kron, glaube ich.« Arri stockte der Atem, und auch der Stammesälteste japste nun tatsächlich nach Luft. Dann aber drehte er sich mit einem Ruck herum, hob Krons abgetrennten, schon fast vollständig ausgebluteten Arm auf und stürmte regelrecht damit aus der Hütte. Arri war mit zwei schnellen Schritten am Guckloch und sah, dass er heftig auf Grahl einzureden begann, der seinen bewusstlosen Bruder die Anhöhe zum Dorf hinauftrug. Die beiden waren nicht allein. Nicht nur Rahn, sondern nahezu alle männlichen Dorfbewohner hatten sich - ohne dass Arri es bisher auch nur bemerkt hätte - vor ihrer Hütte versammelt und offensichtlich darauf gewartet, dass er und die beiden Jäger wieder herauskamen. Arri wartete, bis Grahl und seine Begleiter aus

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ihrem Blickfeld verschwunden waren, dann drehte sie sich wieder zu ihrer Mutter um und sah sie fassungslos und aus großen Augen an. »Warum hast du das getan?«, murmelte sie. Lea schnaubte. »Was?«, stieß sie hervor. »Sein erbärmliches Leben gerettet? Ich weiß es nicht.« »Sarn«, antwortete Arri kopfschüttelnd. »Warum hast du ihn so gereizt?« »Gereizt?«, erwiderte Lea mit einem neuerlichen, durch und durch humorlosen Lachen. »Ich habe ihn nicht gereizt, Arri. Ich habe ihm einen Gefallen getan. Jetzt hat er endlich den Grund, nach dem er schon so lange sucht.« »Wie meinst du das?« »Ich hätte diesen Dummkopf sterben lassen sollen. Es war ein Fehler, ihm zu helfen, ganz gleich, wie es ausgeht.« »Aber hast du mir nicht immer selbst gesagt, dass es niemals ein Fehler ist, einem Menschen zu helfen?«, fragte Arri. »Und vielleicht war gerade das mein größter Fehler«, antwortete Lea düster. Sie biss sich auf die Lippen. Bevor sie weitersprach, hob sie das Schwert auf und wischte die Klinge sorgfältig mit Buchenblättern sauber. Ihre Stimme wurde leiser. »Es ist gleich, was jetzt passiert, weißt du? Wenn er stirbt, dann ist es meine Schuld, jedenfalls für Sarn, und er wird dafür sorgen, dass alle anderen das auch glauben. Und wenn er lebt, dann ist es meine Schuld, dass sich der Stamm mit einem weiteren Krüppel herumplagen muss, der nicht mehr arbeiten kann und an den man wertvolles Essen verschwenden muss.« »Das meine ich nicht.« Arri war verwirrt, aber auch traurig, denn sie spürte den Aufruhr, der hinter der Stirn ihrer Mutter tobte, und sie fühlte sich so hilflos, da sie nichts für sie tun konnte. »Das mit dem Arm. Warum hast du das getan? Es war grausam.« Lea fuhr mit einer zornigen Bewegung herum, und in ihren Augen funkelte es so wütend, dass Arri fast sicher war, nunmehr selbst zur Zielscheibe ihres Zorns zu werden. »Wieso grausam?«, fragte sie böse. »Vielleicht brauchen sie ihn ja, um ihn ihrem Nachtgott Mardan zu opfern.« Sie lachte hart auf. »Vielleicht essen sie ihn ja auch.«

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Arri war schockiert. So etwas hatte sie noch niemals aus dem Mund ihrer Mutter gehört. Doch die harsche Antwort, die ihr auf der Zunge lag, wollte nicht kommen. Stattdessen fragte sie ganz leise: »Du hasst diese Menschen?« »Hassen?« Lea schien einen Moment ernsthaft über diese Frage nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf. Plötzlich schimmerten ihre Augen feucht. »Nein.« Dann hob sie die Schultern und verbesserte sich: »Ja. Du hast Recht. Ich hasse sie. Aber nicht, weil sie so sind, wie sie nun einmal sind. Ich hasse sie, weil unser Volk sterben musste und sie leben.« »Aber das ist doch nicht ihre Schuld«, widersprach Arri. Sie war nicht einmal sicher, ob das stimmte. Sie wusste so wenig über das, was geschehen war, bevor sie hierher gekommen waren. »Nein. Es ist nicht ihre Schuld. Aber das macht es nicht besser, weißt du?« Plötzlich fing sie an zu weinen. Ihr Gesicht blieb fast unbewegt, doch über ihre Lippen kam ein leiser, klagender Laut, und die Tränen malten glitzernde Spuren in den Schweiß auf ihrem Gesicht. Der bloße Anblick brach Arri schier das Herz. Nie zuvor hatte sie ihre Mutter weinen sehen. Es war ein Schock, denn wenn es einen Menschen auf der Welt gab, dessen Stärke und Unbesiegbarkeit ihr vollkommen erschienen waren, dann war es ihre Mutter. Etwas, das sie zum Weinen brachte, das musste… unvorstellbar sein. Mit einem Male fühlte sie sich so hilflos, dass auch sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. Sie wollte sich von ihrem Platz am Fenster lösen und zu ihrer Mutter gehen, um sie in die Arme zu schließen, doch kaum hatte sie den ersten Schritt getan, da fuhr Lea auf dem Absatz herum und stürmte so schnell aus dem Haus, wie sie nur konnte.

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5 Drei Tage und drei Nächte lang rang Kron mit dem Tod und mit ihm das ganze Dorf; schließlich gewann er diesen Kampf, auch wenn er nie wieder derselbe Mann sein sollte, als der er zusammen mit seinen Brüdern weggegangen war. Für Arri war es, als wollten diese Tage kein Ende nehmen. Unentwegt hallte das Dorf vom dumpfen Dröhnen der Trommeln wider, die Sarn schlagen ließ, um Mardan gnädig zu stimmen, und je nachdem, wie der Wind stand, konnte man die schrille Altmännerstimme des Schamanen hören, dessen Singsang so wenig eine Pause fand wie das Trommelschlagen und die gemurmelten Gebete der anderen, die nicht auf den Feldern waren und die überreiche Ernte dieses Sommers einbrachten. Auch Arri fand kaum Schlaf in dieser Zeit. Zwei oder drei Mal jeden Tag schickte ihre Mutter sie mit frischen Kräutern und Heiltränken zur Hütte des Jägers, wo sie darauf achtete, dass ihm die Tinkturen auch zuverlässig eingeflößt, sein Verband ebenso regelmäßig erneuert wie die Wunde sauber gehalten wurde. Die ersten ein oder zwei Mal konnten sich Sarn - und vor allem natürlich Rahn! - eine böse Bemerkung nicht verkneifen. Einmal erntete sie sogar eine wütende Beschimpfung des jungen Fischers, die sie aber ebenso wenig zur Kenntnis nahm, wie sie so tat, als fielen ihr das Getuschel und die verstohlenen Blicke der anderen nicht auf, die sie ihr immer dann zuwarfen, wenn sie glaubten, sie merke es nicht. Bald jedoch verstummten die boshaften Kommentare, und Sarn beließ es dabei, sie mit eisigen Blicken zu messen und die Gaben ihrer Mutter wortlos entgegenzunehmen. Arri glaubte jedoch nicht, dies könne etwa daran liegen, dass sich Sarns Groll ihrer Mutter und auch ihr gegenüber allmählich legte. Vielmehr verfiel der Schamane immer stärker in einen Zustand vollkommener körperlicher und geistiger Erschöpfung, denn er schien sich vorgenommen zu haben, so lange über Krons Lager zu wachen, bis dieser entweder starb oder die Augen aufschlug. Am Ende des dritten Tages hätte Arri nicht mehr darauf gewettet, welcher der beiden zuerst die beschwerliche Reise in das ewige Reich des Todes

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antreten würde. Sie erlebte jedoch noch etwas anderes, was ihr neu und auf erschreckende Weise unangenehm war: Zum allerersten Mal, solange sie sich zurückerinnern konnte, brach ihre Mutter ihr Wort. Sie hatte versprochen, sich selbst um den verletzten Jäger zu kümmern, doch sie verließ ihre Hütte kein einziges Mal, und als Grahl am Mittag des zweiten Tages zu ihr kam und sie bat, sich um seinen Bruder zu kümmern, dessen Zustand sich offenbar dramatisch verschlechtert hatte, schickte sie ihn mit ein paar groben Worten und der Bemerkung fort, dass es nichts in ihrer Macht Stehendes mehr gab, was Sarn und seine Götter, die er ununterbrochen anwimmerte, nicht besser könnten. Arri verstand diese Äußerung ihrer Mutter nicht, auch wenn sie sie kaum noch überraschte. Seit dem Tag, an dem sie den Streit zwischen ihr und Nor belauscht hatte, hatte sich ihre Mutter verändert, und diese Veränderung war weder abgeschlossen, noch war es eine Veränderung zum Guten. An dem Abend, der der Rückkehr der Jäger folgte, gingen sie nicht wieder hinaus in den Wald, und auch nicht an dem danach, doch in der dritten Nacht wurde Arri von ihrer Mutter weit vor Sonnenaufgang mit den Worten geweckt, dass sie sich nun genug ausgeruht habe und es an der Zeit sei, ihre Ausbildung fortzusetzen. Obwohl Arri noch immer jeder Knochen im Leib wehtat und ihr Muskelkater eher schlimmer als besser geworden war, freute sie sich innerlich darauf, war zugleich aber auch beinahe erschrocken; nach allem, was durch den Angriff auf die Jäger geschehen war und vielleicht noch geschehen würde, kam es ihr irgendwie unangemessen vor, jetzt einfach so weiterzumachen, als wäre nichts passiert; und sie fühlte sich auch ein bisschen schuldig, weil ihr allein der Gedanke, wieder mit ihrer Mutter hinaus in den Wald zu gehen, Freude bereitete, wo doch über das Dorf ein so großes Unglück gekommen war. Dennoch folgte sie Lea widerspruchslos, als sie sie zu der kleinen Lichtung im Wald führte, in deren Mitte die Quelle entsprang. Dort angekommen, wollte sie den Rock abstreifen und sich nach dem Ast bücken, der noch immer genau dort lag, wo sie ihn fallen gelassen hatte, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf und zog einen drei Finger

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breiten Streifen aus gegerbtem Leder aus dem Ausschnitt ihres Kleides. »Heute üben wir etwas anderes«, sagte sie. »Dreh dich um.« Arri sah sie verwirrt und auch etwas beunruhigt an, gehorchte dann aber, und ihre Mutter trat hinter sie, verband ihr mit dem Lederstreifen die Augen und knotete ihn nachlässig an ihrem Hinterkopf fest. »Jetzt zähl langsam bis dreißig.« »Dreißig?«, wiederholte Arri verständnislos. Ihre Mutter seufzte. »Ja, das habe ich wohl auch versäumt«, murmelte sie. »Also gut: Zähl bis zehn, so weit, wie du Finger an beiden Händen hast, und das dreimal hintereinander. Kannst du das?« »Natürlich«, antwortete Arri. »Und… dann?« Darauf bekam sie keine Antwort. Die Schritte ihrer Mutter entfernten sich rasch und waren kurz darauf gar nicht mehr zu hören. Arri bekam es ein bisschen mit der Angst zu tun, beruhigte sich aber selbst damit, dass ihre Mutter schon wissen würde, was sie tat, und zählte schließlich in Gedanken langsam bis zehn und dann noch einmal und noch einmal, bis sie schließlich die Hände hob und den Streifen von ihren Augen riss. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Sie war nicht überrascht festzustellen, dass ihre Mutter verschwunden war, aber aus dem unangenehmen Gefühl, das sie die ganze Zeit über gehabt hatte, wurde nun eindeutig Furcht, ganz gleich, wie angestrengt sie auch versuchte, sich selbst zu belügen und das Gegenteil zu behaupten. Dabei war es nicht einmal besonders schwer zu erraten, was ihre Mutter nun von ihr erwartete. Ganz offensichtlich hatte sie die Zeit genutzt, sich irgendwo versteckt, und sie, Arri, sollte sie nun suchen. Das war zwar möglicherweise eine echte Herausforderung, aber Arri war nicht nach Versteckspielen zumute; sie überlegte sogar ganz ernsthaft, ob sie jetzt einen Grund hatte, eingeschnappt zu sein. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr. Dann aber zuckte sie mit den Schultern und machte sich auf die Suche. Anfangs war es nicht einmal besonders schwer. Bis zum Sonnenaufgang musste es noch eine gute Weile hin sein, wenn nicht mehr, aber das Gras war trotzdem schon feucht vom Tau, sodass ihre Schritte deutlich sichtbare Abdrücke darin hinterließen - und die ih-

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rer Mutter natürlich auch. Von der Stelle hinter ihr, an der sie gestanden hatte, führten sie zur Quelle, bogen dann scharf nach rechts ab und verschwanden geradewegs im Wald, und das wortwörtlich. Neumond war erst seit einem Tag vorbei, doch der Himmel war wolkenlos, und das Licht der Sterne reichte aus, um Leas Fußspuren im Gras deutlich erkennen zu können. Zwischen den Bäumen jedoch herrschte fast vollkommene Dunkelheit, und auch nachdem sie die Augen geschlossen und ein gutes Dutzend Herzschläge lang abgewartet hatte, dass sie sich an die veränderten Lichtverhältnisse hier im Wald gewöhnten, wurde es nicht viel besser. Sie erkannte ihre Umgebung jetzt zumindest schemenhaft, doch es war trotzdem viel zu dunkel, um der Fährte eines Menschen zu folgen. Ganz davon abgesehen, dass es hier zwischen den Bäumen kein Gras gab, sondern nur Moos und Flechten und dürres Unterholz. Arris Mut sank, aber nur für einen Moment. Ihre Mutter verlangte oft Dinge von ihr, die schwer waren und mit denen sie sich nicht selten überfordert fühlte, aber sie hatte nie etwas Unmögliches von ihr erwartet. Die Aufgabe musste also zu lösen sein. Dieser Gedanke half. Furcht und Niedergeschlagenheit verschwanden, und eine kribbelnde Erregung ergriff von Arri Besitz. Zweifellos stand ihre Mutter irgendwo gut verborgen in den Schatten des Waldes und beobachtete sie, und sie hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, tastete mit den Fingerspitzen über den von der Sommerhitze ausgetrockneten und rissig gewordenen Boden und strengte die Augen an, um in dem schwachen Licht so viel wie nur möglich zu erkennen. Nach einer Weile hatte sie Erfolg. Nur ein kleines Stück vom Waldrand entfernt entdeckte sie einen Ast mit einer frischen Bruchstelle und in gerade Linie dahinter ein niedergetretenes Mooskissen. Mit einem zufriedenen Lächeln richtete sie sich auf, folgte der Spur und entdeckte weitere, verräterische Hinweise darauf, dass jemand kurz vor ihr hier gewesen war: noch mehr geknickte Äste, noch mehr niedergetretenes Moos und eine frische Schleifspur im trockenen Laub, das den Waldboden bedeckte. Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf Arris Zügen aus, als ihr klar wurde, wie wenig Rücksicht ihre

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Mutter auf ihrem Weg zwischen den Bäumen hindurch genommen hatte; aber die Erkenntnis ärgerte sie auch ein wenig. Sie kannte ihre Mutter nun wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie es ihr nicht absichtlich leicht machen würde. Vielmehr bewies die schon fast überdeutliche Spur, der sie tiefer in den Wald hinein folgte, wie gering ihre Mutter ihre Fähigkeiten einschätzte. Plötzlich verhielt sie im Schritt. Im allerersten Moment wusste sie selbst kaum, warum, dann wurde ihr klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Die Spur aus geknickten Ästen und achtlos beiseite gefegtem Laub führte geradeaus weiter, was nichts anderes bedeutete, als dass ihre Mutter sich irgendwo dort vorne verbarg, und doch hatte sie für einen winzigen Moment das eindringliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam drehte sie sich einmal im Kreis, sah sich dabei aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen um und setzte ihren Weg schließlich fort, als sie nichts anderes als Schatten und Dunkelheit gewahrte. Sie hatte noch keine drei Schritte getan, als es über ihr in der Baumkrone raschelte. Erschrocken fuhr Arri herum, aber ihre Bewegung kam zu spät. Ein Schatten stürzte aus den Ästen des Baumes herab, unter dem sie gerade hindurchgegangen war, und ihr blieb nicht einmal Gelegenheit für einen überraschten Ausruf, da wurde sie auch schon getroffen und so wuchtig zu Boden gerissen, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Als sie wieder sehen konnte, lag sie lang ausgestreckt auf dem Rücken, und ihre Mutter kniete auf ihr und drückte ihr einen fingerlangen, abgebrochenen Stock gegen die Kehle. »Wenn das hier ein Messer wäre, dann wärst du jetzt tot«, sagte sie ernst. Arri hätte ihr gern geantwortet, aber sie wagte es nicht. Lea hielt zwar eindeutig kein Messer in der Hand, aber das zersplitterte Ende des Astes war kaum weniger scharf als eine Klinge, und sie drückte es mit solcher Kraft gegen ihren Hals, dass es wirklich wehtat. Alles, was sie als Reaktion wagte, war ein angedeutetes Kopfnicken. Ihre Mutter hielt die Astspitze gerade lange genug gegen ihre Kehle, dass es wirklich unangenehm wurde, dann stand sie mit einer fließenden Bewegung auf, ließ den Ast fallen und streckte ihr die Hand

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hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Ganz instinktiv wollte Arri danach greifen, aber dann siegte ihr Stolz, und sie erhob sich aus eigener Kraft. Lea sah ihr mit unbewegtem Gesicht zu, aber Arri meinte trotzdem, so etwas wie einen zufriedenen Ausdruck in ihren Augen zu erkennen. »Weißt du, warum es mir gelungen ist, dich zu überraschen?«, fragte sie. »Du hast dich in den Ästen versteckt.« »Und du hast es gemerkt«, antwortete Lea. »Habe ich Recht?« Arri erinnerte sich an das Gefühl, beobachtet zu werden, und antwortete mit einer Bewegung, die eine Mischung aus einem widerwilligen Nicken und einem Schulterzucken war. »Mmm.« »Du hast es gemerkt«, beharrte ihre Mutter. »Warum bist du trotzdem weitergegangen?« »Weil deine Spur in den Wald hineingeführt hat«, erwiderte Arri. Sie bemühte sich, ein möglichst zerknirschtes Gesicht zu machen. »Ah ja, meine Spur.« Lea schüttelte den Kopf. »Eine ziemlich auffällige Spur, findest du nicht? Ich musste mir richtig Mühe geben, um sicher zu sein, dass du sie auch siehst. Du bist nicht auf die Idee gekommen, dass niemand, der nicht wie ein blindwütiger Ochse durch den Wald trampelt, eine so auffällige Spur hinterlassen würde? Es sei denn, er will, dass du sie siehst?« »Nein«, gestand Arri zerknirscht. »Und du bist auch nicht auf die Idee gekommen, dass ich genau auf dieser Spur zurückgehen und mich im Hinterhalt auf die Lauer legen könnte?«, fuhr Lea fort. Diesmal antwortete Arri gar nicht, sondern sah sie nur betroffen an. »Du musst wirklich noch viel lernen«, seufzte ihre Mutter. »Deine Sinne sind scharf, sonst hättest du nicht gespürt, dass ich dich beobachte, aber du weißt so erbärmlich wenig darüber, wie du sie benutzen musst.« »Ich verstehe das nicht!«, begehrte Arri auf. »Was tun wir hier? Warum soll ich das alles lernen? Ich werde es ja trotzdem nie auch nur mit einem einzigen von Nors Kriegern aufnehmen können, wenn sie kommen sollten, um mich zu holen!«

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»Darum geht es auch gar nicht. Ich will dir beibringen, am Leben zu bleiben. Ich…« Lea brach ab, biss sich auf die Unterlippe und schüttelte dann heftig den Kopf, als hätte sie sich selbst eine Frage gestellt und auch beantwortet. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme deutlich sanfter. »Bitte verzeih. Ich weiß, ich verlange zu viel von dir. Es ist nicht deine Schuld, dass ich zu lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen habe. Aber ich fürchte, uns bleibt nur noch wenig Zeit, und da ist so viel, was du noch lernen musst.« Plötzlich erschien ein fast mildes Lächeln auf ihren Zügen. »Sag es ruhig, wenn ich wieder zu viel von dir verlange.« »Du verlangst nicht zu viel«, antwortete Arri, Worte, die schon allein ihr Stolz ihr gebot. »Ich würde nur gern verstehen, was wir überhaupt hier tun. Ist es wirklich wegen Nor? Oder doch eher wegen der fremden Krieger, von denen Grahl erzählt hat?« Wieder antwortete ihre Mutter nicht gleich, sondern sah sie abschätzend an. Dann hob sie die Schultern. »Grahl ist ein Dummkopf und ein Großmaul. Es würde mich nicht wundern, wenn die Krieger, von denen er erzählt hat, in Wahrheit auf vier Hufen laufen und Hauer im Gesicht tragen.« »Krons Arm sah nicht aus, als wäre er von einem Wildschwein verletzt worden«, gab Arri zu bedenken, doch ihre Mutter lachte nur leise. »Du hast noch nie gesehen, wozu ein wütender Keiler wirklich fähig ist, wie?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Aber wahrscheinlich hast du Recht. Ich vermute, sie sind tatsächlich angegriffen worden - auch wenn ich eher glaube, dass es Jäger eines anderen Stammes waren, in deren Gebiet Grahl und seine Brüder gewildert haben.« »Und warum dann das alles hier?«, fragte Arri. »Weil Nor nicht mehr zurück kann und mich zu einer Entscheidung zwingen muss, wenn er nicht vor seinen Priestern das Gesicht verlieren will. Selbst wenn wir es bis zum Frühling herauszögern können: Irgendwann müssen wir hier weg.« »Und du glaubst, wir werden wie Männer kämpfen müssen, dort, wo wir hingehen?«, fragte Arri besorgt. »Als ich damals hierher kam, musste ich es«, antwortete ihre Mut-

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ter ernst. »Ich hoffe, du wirst nichts von alledem brauchen, was ich dir beibringen werde, aber…« Sie brach abermals mitten im Wort ab, legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment lang mit halb geschlossenen Augen. Arri wollte eine Frage stellen, doch Lea hob rasch und erschrocken die Hand und gebot ihr zu schweigen. Ein konzentrierter, aber auch leicht erschrockener Ausdruck lag plötzlich auf ihren Zügen. Für eine kleine Ewigkeit, wie es schien, stand sie vollkommen reglos da, atmete nicht einmal, und drehte sich schließlich einmal um sich selbst. Der Anteil an Sorge in ihrer Miene schien größer geworden zu sein, als sie sich wieder zu ihrer Tochter umwandte. »Was hast du?«, fragte Arri beunruhigt. »Nichts«, antwortete ihre Mutter. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich muss mich wohl getäuscht haben. Vielleicht ein Tier«, fügte sie mit wenig überzeugend gespielter Leichtigkeit hinzu. Bei dem Tier, dachte Arri, das ihrer Mutter solch unübersehbare Angst machte, musste es sich um einen ausgewachsenen Bären handeln oder um ein Rudel Wölfe. Plötzlich begann auch ihr Herz schneller zu schlagen. Hatte ihre Mutter sie nicht erst vor ein paar Tagen vor Wölfen gewarnt, die sich angeblich genau in dieser Gegend herumtreiben sollten? Beinahe als hätte sie ihre Gedanken gelesen und versuchte sie nun mit aller Macht zu beruhigen, machte ihre Mutter eine besänftigende Geste und deutete mit der anderen Hand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich glaube, du hast deine Lektion für heute gelernt«, sagte sie lächelnd. »Morgen zeige ich dir, wie man auch Spuren findet, die der andere nicht absichtlich hinterlassen hat, aber jetzt sollten wir zurückgehen.« Ihr Versuch war gut gemeint, bewirkte aber eher das Gegenteil. Sie war voll innerer Unruhe, und sie hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, dass Arri es nicht gemerkt hätte. Was immer sie gehört hatte, es musste sie überaus beunruhigen. Arri sagte jedoch nichts dazu, sondern drehte sich gehorsam um und ging los, und sie tat auch so, als falle ihr nicht auf, dass ihre Mutter ein paar Mal fast unmerklich stockte und sich immer wieder hastig umsah, während sie sich dem

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Waldrand näherten. Auch sie lauschte konzentriert, doch alles, was sie hörte, war das Geräusch des Windes, der in den Baumkronen über ihren Köpfen spielte, und das Schlagen ihres eigenen Herzens, das so wild wie ein Trommelwirbel klang. Erst als sie den Waldrand erreicht hatten und auf die Lichtung heraustraten, wurde ihr klar, dass sie tatsächlich den Klang einer Trommel hörte. Der Wind hatte sich gedreht und trug nun das Trommeln vom Dorf heran, und sie glaubte darunter den monotonen Singsang zu hören, den die Sippe auf Sarns Befehl hin angestimmt hatte, um Mardan und die anderen Götter gnädig zu stimmen. Mitten im Schritt blieb sie stehen und wandte den Kopf, um in das Gesicht ihrer Mutter hinaufzusehen, und sie war nicht besonders überrascht, als sie ihr ärgerliches Stirnrunzeln bemerkte. »Sie beten noch immer«, sagte sie. »Ja«, antwortete Lea. »Und das Schöne ist, dass die Götter am Ende immer Recht behalten, weißt du? Wenn Kron stirbt, dann hat er sich ihrer Gnade als nicht würdig erwiesen, und wenn er es übersteht, dann haben sie ein Wunder bewirkt und ihm das Leben geschenkt.« Ihre Stimme war ganz leise, aber so voller Verachtung, dass Arri schon wieder ein kaltes Frösteln verspürte, das ihr über den Rücken lief. »Warum hasst du ihre Götter so?«, fragte sie. »Ihre Götter?«, wiederholte Lea mit einem sonderbaren, bitteren Lächeln. »O nein, du irrst dich. Ich hasse sie nicht. Es gibt keine Götter, weißt du? Weder hier noch sonst wo auf der Welt. Sollte es sie geben, dann wäre es besser für sie, sie gingen mir aus dem Weg.« Ganz gewiss, dachte Arri, meinte ihre Mutter das nicht so. Sie selbst glaubte nicht an Nors oder Sarns Götter - und wie auch? -, und trotzdem war ihr klar, dass es Götter geben musste. Die Welt mit all ihren unvorstellbaren Wundern und Schrecknissen und ihrer schier endlosen Größe konnte schließlich nicht von selbst entstanden sein, und es musste auch jemanden geben, der die Geschicke der Menschen lenkte. Vielmehr war sie sicher, mit ihrer Frage etwas in ihrer Mutter berührt zu haben, vielleicht den Grund, aus dem sie so selten über dieses Thema sprach, einen alten Schmerz, den sie schon un-

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endlich lange mit sich herumtrug, der aber offensichtlich noch immer nicht vernarbt war. »Gibt es dort, wo du herkommst…« Sie biss sich auf die Lippen und verbesserte sich, als sie neu ansetzte: »Gibt es dort, wo wir herkommen, keine Götter?« Sie hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, aber sie bekam eine. »Doch.« Die Stimme ihrer Mutter wurde noch leiser und bitterer. »Es gab sie. Wir haben ihnen gehuldigt, ihnen Tempel gebaut und ihnen Opfer dargebracht. Sie waren nicht so grausam wie Sarns. Unsere Götter waren weise und gütig, und wir mussten ihren Zorn nicht fürchten, sondern glaubten ganz im Gegenteil, dass sie uns beschützen und über uns wachen würden.« »Aber das haben sie nicht getan«, vermutete Arri. »Nein«, sagte ihre Mutter. »Wenn es sie gab, dann haben sie all die Jahre über nur mit uns gespielt. Sie haben uns das Paradies gezeigt. Sie haben uns wissen lassen, wie Menschen wirklich leben können, nur, um es uns dann in einem einzigen Augenblick wieder wegzunehmen. Aber ich glaube nicht, dass es sie wirklich jemals gegeben hat.« Tief in sich, das spürte Arri, glaubte sie es doch. Sie spürte den Schmerz ihrer Mutter, und sie fühlte sich wieder schuldig, weil sie mit ihrer Frage an diese alte Wunde gerührt und sie aufgerissen hatte, und dennoch raffte sie all ihren Mut zusammen und fragte: »Was ist passiert? Du hast mir niemals erzählt, was mit unserer Heimat geschehen ist.« »Sie ist untergegangen«, antwortete Lea. Plötzlich wurde ihre Stimme hart und spröde. »In einer einzigen Nacht. Und das ist alles, was du darüber wissen musst.« »Aber warum?«, fragte Arri. »Wenn es dort so anders war als hier und… und so viel besser, warum erzählst du mir dann nichts davon?« »Weil es nicht mehr existiert«, erwiderte ihre Mutter. »Warum soll ich dir von etwas erzählen, das du niemals sehen wirst? Ich könnte dir von Wundern berichten, die über alles hinausgehen, was du dir überhaupt vorstellen kannst. Von Menschen, die glücklich und ohne Angst vor dem Morgen gelebt haben, die keinen Hunger kannten und

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keinen Schmerz. Aber wozu? Das wäre so, als berichtete ich dir von einem Traum, den wir niemals erreichen können.« »Aber warum denn nicht?«, fragte Arri. Plötzlich musste sie an ihren eigenen Traum denken, den sie träumte, so lange sie sich erinnern konnte und der immer wiederkam. Nur, dass es kein schöner Traum war. »Vielleicht können wir ja dorthin zurückkehren. Ich meine… auch, wenn der Weg weit ist und gefährlich, wir könnten…« »Nein, das können wir nicht«, unterbrach sie ihre Mutter. Arri hörte das Zittern in ihrer Stimme, und ihr entging auch nicht das Aufblitzen von Zorn und Schmerz in ihren Augen - doch dann wurde Leas Stimme plötzlich ganz weich, und auch die Härte in ihrem Blick erlosch. Sie lächelte traurig. »Nein«, sagte sie noch einmal, jetzt aber in verändertem, nicht einmal mehr bitteren, sondern nur noch auf eine verzeihende Art traurigen Ton. »Das können wir nicht. Unsere Heimat existiert nicht mehr. Du und ich, wir sind die Letzten unseres Volkes. Es ist untergegangen, so wie das Land, in dem es gelebt hat, und mit mir wird auch die Erinnerung daran verschwinden.« »Aber wie kann ein ganzes Land untergehen?«, fragte Arri zweifelnd. »Was ist denn passiert?« »Ich weiß es nicht«, gestand ihre Mutter. »Vielleicht waren es tatsächlich die Götter. Vielleicht haben wir sie erzürnt, ohne es zu wissen. Aber vielleicht haben wir auch einfach nur Pech gehabt.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was geschehen ist. Die Erde brach auf und spie Feuer, aus dem Himmel regneten Flammen, und wer dem Feuer und dem Rauch entkam, den verschlang das Meer.« »Ich weiß«, sagte Arri. Einen Moment lang sah ihre Mutter sie erstaunt an, aber dann nickte sie. »Dein Traum«, sagte sie. »Es ist kein Traum, habe ich Recht?«, flüsterte Arri. »Nein«, gestand Lea. »Es ist kein Traum. Es war die letzte Nacht. Die Nacht, in der ich dich zum Hafen getragen habe. Alle sind dorthin gelaufen, ohne zu ahnen, dass auch dort nur der Tod auf sie wartete. Du warst noch zu klein, um zu laufen, und dein Vater und ich haben dich abwechselnd getragen, bis…« Ihre Stimme versagte, und

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ihre Augen füllten sich mit Tränen. Welch einen unvorstellbaren Verlust musste sie erlitten haben, dachte Arri, dass der Schmerz sie selbst nach all den Jahren noch so überwältigte? »Mein Vater?«, murmelte sie. Sie hasste sich selbst dafür, diese Frage zu stellen. Ihre Mutter hatte nie über ihren Vater geredet, und den Grund dafür sah Arri jetzt nass in ihren Augen schimmern, und dennoch konnte sie nicht anders, als fortzufahren: »Wer war er?« Ein sonderbares Gefühl überkam Arri, als sie Lea so vor sich stehen sah. Niemals zuvor hatte sie ihre Mutter so ernst erlebt; zornig, ja, aufbrausend, übellaunig und nachtragend und oft genug auf eine verletzende Art vorwurfsvoll, die ihr das Gefühl gegeben hatte, ganz allein die Schuld an allem zu tragen, was ihrer Mutter in ihrem Leben widerfahren war. Aber niemals auf eine so… nein, es gelang ihr nicht, das Gefühl wirklich in Worte zu kleiden. Sie antwortete auch nicht gleich. Ein einziges, schlichtes Ja, ein Kopfnicken, und ihre Mutter würde ihr die Antwort auf all die unzähligen, quälenden Fragen geben, die sie zeit ihres Lebens beschäftigt hatten, ohne dass sie es jemals gewagt hätte, auch nur eine einzige davon auszusprechen. Sie würde endlich erfahren, wer sie war, wer ihre Mutter war und woher sie kam. Und dennoch zögerte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich das Recht hatte, diese Fragen zu stellen. Noch vor wenigen Tagen hätte sie es getan, ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern, aber nun blickte sie in die Augen ihrer Mutter und las einen Schmerz darin, der nichts mit den Tränen zu tun hatte, die ihr noch immer über das Gesicht liefen, sondern der all die Jahre über in ihr geschwelt hatte, mühsam unterdrückt und verborgen, aber niemals besiegt. Sie fragte sich, ob sie das Recht hatte, in der alten Wunde zu rühren. »Erzähl mir von meinem Vater«, bat sie. Wieder schwieg ihre Mutter eine ganze Weile, und auch danach antwortete sie nicht sofort, sondern wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf die kleine Felsgruppe in der Mitte der Lichtung zu. Arri folgte ihr. Das Echo der Trommelschläge wurde im Rhythmus des böigen Windes lauter und leiser, ohne jemals ganz abzubrechen, und auch ihr Herz schlug jetzt immer rascher, als wolle

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es sich dem Takt der Trommeln anpassen. Als sie die Quelle erreicht hatten, nahm ihre Mutter auf einem kniehohen Felsen Platz und schlug mit der flachen Hand auf den Stein neben sich. Arri gehorchte und setzte sich neben sie, ihre Mutter aber schlang den Arm um sie und drückte sie an sich. Das war etwas, was Arri nicht gewohnt war und von dem sie bisher selbst angenommen hatte, dass sie es gar nicht mochte. Sie hatte schon früh begriffen, dass ihre Mutter die körperliche Nähe anderer Menschen scheute, selbst die Nähe ihrer eigenen Tochter, und daraus geschlossen, dass daran irgendetwas Unangenehmes sein musste. Umso überraschter war sie, als sie nach einem allerersten Moment des Widerstandes spürte, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Außer den wirren Träumen, in denen die starken Arme ihrer Mutter sie vor dem Feuer beschützten, das vom Himmel fiel, hatte sie sich noch niemals so behütet und sicher gefühlt wie jetzt. »Dein Vater war ein Seemann«, begann ihre Mutter mit leiser Stimme, in der noch immer ein sonderbar trauriger Unterton mitzuschwingen schien, aber nun kein Schmerz mehr und auch keine Bitterkeit. »Fast alle unsere Männer fuhren zur See. Wir lebten auf einer Insel, weißt du? Einer sehr großen Insel, aber trotzdem einer Insel, die an allen Seiten vom Meer umgeben war. Unsere Männer waren Händler und Entdecker, und ein paar von ihnen sicher auch insgeheim Abenteurer, auch wenn sie das niemals laut zugegeben hätten.« Sie lachte leise. »Ich glaube, dein Vater war auch ein Abenteurer. Er hat oft von seinen Reisen erzählt, und so, wie er es getan hat, hat es sich stets wie ein einziges großes Spiel angehört. Aber er war noch mehr. Von manchen seiner Fahrten hat er Narben zurückgebracht, ohne jemals zu erzählen, wie er sie sich zugezogen hat.« »Dann war er ein großer Krieger?«, vermutete Arri. Da sie den Kopf an die Schulter ihrer Mutter gelegt hatte, konnte sie den Ausdruck auf deren Gesicht nicht erkennen, aber sie spürte, wie sie heftig und fast erschrocken den Kopf schüttelte. »Nein. Wir waren kein Volk von Kriegern. Wir verstanden uns zu verteidigen, das ist wahr, und viele unserer Schiffe waren mächtig und gefürchtet, aber nur bei denen, die dumm genug waren, in ihnen eine vermeint-

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lich leichte Beute zu sehen und sie anzugreifen. Unsere Flotte ist auf allen Meeren gefahren und hat Handel mit den Völkern hinter dem Horizont getrieben, aber wir waren keine Krieger.« So, wie sie das sagte, musste diese Feststellung für sie von großer Bedeutung sein, auch wenn ihre Worte nicht recht zu dem zu passen schienen, was Arri erlebt und zum Teil mit eigenen Augen gesehen hatte. So hervorragend, wie ihre Mutter mit dem Schwert umzugehen verstand, konnte sie es ohne Mühe selbst mit dem stärksten Mann im Dorf, ja selbst mit Nors bestem Krieger aufnehmen. Sie schwieg und wartete darauf, dass ihre Mutter weitersprach, doch dann fiel ihr etwas ein, das noch viel weniger zu dem passen wollte, was sie erzählte. »Du hast gesagt, wir wären die Letzten unseres Volkes«, sagte sie. »Nur du und ich. Aber wie kann das sein? Wenn unsere Schiffe alle Meere befahren haben, dann muss es doch noch andere Überlebende geben.« Lea nickte. »Schiffe, die auf Reisen waren, die in fremden Häfen vor Anker lagen oder durch unbekannte Gefilde kreuzten, meinst du.« Wieder lachte sie, aber diesmal klang es eindeutig bitter, fast wie ein Schluchzen. »Ja. Wäre es an irgendeinem anderen Tag geschehen, dann hättest du Recht. Wenn es die Götter tatsächlich gibt, dann haben sie sich einen ganz besonders grausamen Tag für ihre Rache an uns ausgesucht.« »Und wieso?« Der Wind drehte, und das Dröhnen der Trommeln wurde wieder lauter; es kam Arri auch so vor, als würde der Klang plötzlich hektischer und bedrohlicher, wie um den Worten ihrer Mutter den gebührenden Nachdruck zu verleihen. »Es war der Tag der Sommersonnenwende«, sagte Lea leise. »Unser größtes und heiligstes Fest, das unser ganzes Volk immer gemeinsam gefeiert hat. An diesem einen Tag im Jahr kehrten alle Schiffe in den Hafen zurück, kamen alle Reisenden nach Hause und unterbrachen alle Abenteurer das, was sie gerade taten, um das Fest mit ihrer Familie zu begehen.« Sie lächelte; Arri konnte es spüren, obwohl sie sie immer noch nicht ansah. »In der Nacht der Sommer-

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sonnenwende zwei Jahre zuvor wurdest du gezeugt, Arianrhod. Am Tag danach verließ das Schiff deines Vaters den Hafen und kam erst zurück, als du schon drei Mondwenden alt warst.« »Dann hat er mich nur ein einziges Mal gesehen?« Der Gedanke bekümmerte Arri, obwohl sie selbst nicht genau sagen konnte, warum. Ihre Mutter schüttelte jedoch den Kopf. »Zweimal. Sein Schiff kehrte am Abend des Sonnenwendfestes zurück, als allerletztes. Uns blieb nicht einmal mehr Zeit, ein letztes Mal…« Sie brach ab, schwieg einen Moment und setzte dann neu und in verändertem, um Sachlichkeit bemühtem Ton an. »Er hatte mir versprochen, nicht wieder zur See zu fahren, wenigstens in der nächsten Zeit. Ich war so glücklich an diesem Abend. Sein Schiff war schwer beladen mit Handelsgütern und Reichtümern aus fernen Ländern, und da war so viel, was er mir erzählen und zeigen wollte, doch wir dachten ja, wir hätten Zeit. Er wollte bleiben, um dabei zuzusehen, wie du heranwächst, aber dann…« Ihre Stimme versagte endgültig, und diesmal war Arri nicht in der Lage, eine weitere Frage zu stellen. Auch ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Obwohl sie sich um Fassung bemühte, war der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter so stark, dass er etwas in ihr berührt und ausgelöst hatte, wie die Erinnerung an ein Gefühl, das sie noch nicht kannte. Erst jetzt begriff sie wirklich, was ihre Mutter vorhin gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass es nichts Schlimmeres gebe, als einem Traum nachzujagen, den man niemals erreichen könnte. Anders als ihre Mutter hatte sie selbst diese untergegangene Welt niemals gesehen, und dennoch empfand auch sie plötzlich ein Gefühl von Verlust, das fast unerträglich war. Mit einem Mal war sie fast froh, nach ihrem Vater gefragt zu haben und nicht nach ihrer Heimat. Ihre Mutter versuchte es noch einmal, aber auch jetzt reichte ihre Kraft nur für wenige Worte, bevor die Stimme ihr endgültig den Dienst versagte. »Alles ging so schnell. In dem einen Augenblick waren wir alle zusammen und glücklich. Wir haben gefeiert und Pläne geschmiedet, und im nächsten…«

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Sie sprach nicht weiter, und sie musste es auch nicht, denn Arri wusste, was geschehen war. Ihr Traum war plötzlich wieder da, diesmal im Wachen, und vielleicht dadurch umso schlimmer. Sie wurde durch die Straßen einer brennenden, untergehenden Stadt getragen, eingekeilt in eine gewaltige, panisch flüchtende Menschenmenge, unter einem schwarzen Himmel, aus dem es Steine und Blitze und Feuer regnete, sie hörte die Schreie und spürte die Angst der Menschen, fühlte, wie sich die Straße unter ihr hob und senkte, und vernahm das furchtbare Geräusch, mit dem Häuser einstürzten und ihre Bewohner unter sich begruben… das Heulen des Sturms, der mit jedem Atemzug an Gewalt zunahm und dem sie trotzdem entgegenrannten, das dumpfe Donnern der Wellen, die sich an der Küste brachen und Menschen und gewaltige Schiffe gleichermaßen durch die Luft schleuderten und am Ufer zerbersten ließen. Da sie nun wach war und nicht träumte, hätte sie sich gegen diese Bilder wehren können, doch so schrecklich sie auch waren, so wollte sie zum ersten Mal wirklich sehen, was da geschah. Es war kein Traum. Es waren ihre frühesten Erinnerungen, mit Sicherheit verfälscht durch die lange Zeit, die vergangen war, und dennoch unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. »Und wie…« Sie schluckte mühsam und musste sich mehrfach mit der Zunge über die Lippen fahren, bevor sie weiter sprechen konnte, »wie sind wir entkommen?« »Dein Vater hat uns gerettet«, antwortete Lea. »Sein Schiff war das Letzte, das an diesem Abend in den Hafen eingelaufen war, und lag somit am weitesten draußen vor den Klippen, fast noch im Meer. Ein Teil der Besatzung war an Bord geblieben, und irgendwie… haben wir es geschafft, es zu erreichen. Wir konnten den Hafen verlassen, trotz des Sturms und der Wellen, die doppelt so hoch waren wie unser Mast. Aber dann…« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist. Plötzlich war ich im Wasser und hielt dich in den Armen, und überall rings um uns herum waren Trümmer und ertrinkende Menschen. Ich war sicher, dass auch wir sterben würden. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist eine Planke, an die ich mich geklammert habe. Als der Sturm endlich vorüber war und es hell

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wurde, waren wir allein. Dein Vater war fort, und alle anderen auch, und da war nur das endlose Meer und dieses Stück Holz, an das ich mich klammern konnte. Irgendwann hat mich die Strömung ergriffen und mit sich getragen. Wir sind viele Tage auf dem Meer getrieben. Ich weiß nicht mehr, wie viele, aber ich weiß, dass wir fast verdurstet wären, obwohl rings um uns herum nichts als Wasser war. Ich wollte nicht mehr leben, damals. Meine Heimat war untergegangen, jeder einzelne Mensch, den ich kannte, und auch dein Vater war mir genommen worden. Wozu sollte ich noch leben? Alles, was ich wollte, war loslassen und ertrinken. Es ist ein schneller Tod, weißt du? Man sagt, er sei qualvoll, aber es geht schnell.« »Aber du hast es nicht getan«, sagte Arri. »Warum?« Sie wusste die Antwort, aber es erfüllte sie dennoch mit einem warmen Gefühl, die Worte zu hören. »Deinetwegen. Du warst noch am Leben. Ich habe dich mit einem Fetzen meines Kleides auf der Planke festgebunden und dich tagsüber mit meinem Körper vor der Sonne geschützt. Ich war sicher, dass du sterben würdest. Du warst so klein und zart, und so schwach, und du hast die ganze Zeit keinen Laut von dir gegeben. Ich wollte sterben, aber wie konnte ich das, so lange du am Leben warst?« »Du hast darauf gewartet, dass ich sterbe.« Die Worte erschreckten Arri, aber zugleich hörte sie selbst, dass kein Vorwurf oder gar Zorn darin war. Es war eine reine Feststellung. Ihre Mutter nickte, und ihre Hand schloss sich fester um Arris Schulter. »Ja. Ich war dumm, damals. Der Schmerz war zu groß, um ihn zu ertragen, und ich glaubte, kein Recht zu haben, als Einzige weiter zu leben. Ich meinte es den anderen schuldig zu sein, ebenfalls zu sterben. Es brauchte ein kleines Kind, um mir zu zeigen, wie dumm das war. Du warst so tapfer, und du hast dich mit solcher Macht an dieses Leben geklammert, dass ich es nicht über mich gebracht habe, einfach aufzugeben. Irgendwann hat uns die Strömung an die Küste gespült, und barmherzige Menschen haben uns aus dem Wasser gezogen und gesund gepflegt.« »Hier?«, fragte Arri. Ihre Mutter lachte ganz leise. »Nein, nicht hier. Weit oben im Nor-

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den, an einem Ort, dessen Namen ich vergessen habe. Ich bin geblieben, bis ich wieder gesund und bei Kräften war, und dann habe ich mich auf die Suche nach anderen Überlebenden unseres Volkes gemacht. Doch ich habe keine gefunden, weil es keine gab.« »Und warum sind wir dann hier geblieben?«, wollte Arri wissen. »Wenn dieser Ort so schlimm ist und Nor und Sarn und all die anderen auch, warum bist du dann nicht weiter gezogen?« »Weiter?«, wiederholte ihre Mutter. Sie nahm den Arm von Arris Schulter und straffte sich, bevor sie den Kopf schüttelte. »Wohin? Hier ist es so gut oder so schlecht wie überall. Es ist nicht die Schuld dieser Menschen. Sie sind nun einmal, wie sie sind. Die Menschen fürchten das, was sie nicht kennen, und je einfacher sie sind, desto größer ist ihre Angst vor dem Unbekannten. Ich wusste stets, dass wir nicht für immer hier bleiben können, aber für eine Weile war es nicht der schlechteste Ort, trotz Nor und aller anderen. Ich fürchte nur, dass diese Zeit jetzt zu Ende geht.« Sie erhob sich und sah mit einem aufmunternden Lächeln auf Arri herab. »Keine Sorge«, sagte sie, »noch nicht heute und auch nicht morgen. Vielleicht tatsächlich, kurz bevor der erste Schnee fällt, aber wenn wir Glück haben, noch nicht einmal dann. Ich glaube, der Winter wird hart, und wenn er gleich mit voller Kraft einsetzt, wird sich für uns vielleicht alles noch einmal zum Guten wenden.« »Ein harter Winter soll gut für uns sein?«, fragte Arri fassungslos. »Aber dann ist doch die Gefahr umso größer, dass wir verhungern, oder sogar erfrieren, wenn wir das Dorf verlassen müssen!« »Das ist das Druckmittel, das Nor in der Hand zu haben glaubt«, sagte ihre Mutter ungerührt. »Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er sich in solch einem Punkt täuscht. Gosegs Einfluss sinkt im Winter mit jeder Handbreit Schnee, der auf das Land fällt. Wenn die Wege erst einmal unpassierbar sind, entscheidet nur noch Sarn über unser Schicksal. Auch wenn er uns aus tiefstem Herzen hasst, wird er sich doch hüten, uns unter Druck zu setzen. Je länger die dunkle Jahreszeit dauert, desto dringender wird das Dorf das brauchen, was ich ihm zu bieten habe, und die Menschen hier wissen das. Wir müssen nur irgendwie die Zeit des ersten Schnees überstehen.« Sie schnitt

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Arris nächste Frage, die ihr unwillkürlich über die Lippen kommen wollte, mit einer Geste ab, mit der sie sie zugleich auch aufforderte, ebenfalls aufzustehen. »Ich werde die Zeit bis dahin nutzen, um dir alles beizubringen, was ich weiß, aber für heute ist es genug. Lass uns ins Dorf zurückgehen und…« Die Trommeln verstummten, und auch Lea brach erschrocken mitten im Wort ab und wandte mit einem Ruck den Kopf in die Richtung, aus der der Wind plötzlich nur noch Schweigen zu ihnen trug. Noch vor einem Atemzug hatte sich Arri nichts mehr gewünscht, als dass dieser quälende, unheimliche Trommelrhythmus endlich aufhörte. Aber die Stille, die sie nun umgab, war schlimmer. »Was mag passiert sein?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht.« Auch ihre Mutter klang besorgt, fast alarmiert. »Vielleicht ist Kron gestorben. Wir müssen zurück. Schnell.« Obwohl sie sich beeilten und es bis Sonnenaufgang noch eine Weile hin sein musste, als sie das Dorf erreichten, kamen sie dennoch zu spät. Über dem kleinen, auf fast mannshohen Pfählen stehenden Haus, das Arri und ihre Mutter bewohnten, lastete noch immer die Dunkelheit der nahezu mondlosen Nacht, und über dem Fluss zeigte sich noch nicht einmal die Ahnung des ersten grauen Schimmers, der die Dämmerung ankündigen würde. Es war so still, als wären ihrer beider Atemzüge und die Geräusche, die Arris Schritte im Gegensatz zu den lautlosen Bewegungen ihrer Mutter auf dem Boden verursachten, die einzigen Laute auf der ganzen Welt, und dennoch schien ihre Mutter irgendetwas gehört zu haben, denn sie waren kaum aus dem Wald herausgetreten, da blieb sie stehen und hob erschrocken die Hand, sodass auch Arri mitten im Schritt verharrte. Dann sah sie ihre Mutter an, aber sie war auch geistesgegenwärtig genug, nichts zu sagen und keine Frage zu stellen, und sie bemühte sich darüber hinaus sogar, möglichst flach zu atmen. Für einen winzigen Moment war es ihr, als hätte das Schlagen der Trommeln wieder eingesetzt, aber es war nur das Hämmern ihres eigenen Herzens, das sie hörte. So schwer es ihr auch fiel, gelang es ihr dennoch, sich zu gedulden, bis sie den Blick ihrer Mutter einfing, und ihre Augen stellten eine lautlose Frage, die Lea auf die gleiche Weise beantwor-

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tete. Sie hatte etwas gehört, auch wenn die Stille für Arris Ohren nach wie vor vollkommen schien. Das unheimliche Schweigen schien sogar noch zugenommen zu haben, seit sie die Lichtung verlassen hatten; als hätte der seit drei Tagen anhaltende Trommelschlag über dem Dorf alle anderen Geräusche vertrieben. Es vergingen noch einige weitere, endlose Augenblicke, dann drang ein leises Klimpern an Arris Ohr, und unter der Stiege ihrer Hütte erschien ein Schatten, der vorsichtig mit dem Fuß nach der obersten Stufe tastete und mit beiden Händen nach sicherem Halt an der darüber liegenden Wand suchte, bevor er sich aufrichtete. Rahn?, dachte Arri überrascht. Es war zu dunkel, um selbst auf die geringe Entfernung das Gesicht der Gestalt zu erkennen, doch es gab nur einen Mann seiner Statur im Dorf. »Was tust du da?«, schnitt Leas Stimme scharf durch die Dunkelheit. Der junge Fischer fuhr so erschrocken zusammen, dass er auf dem schmalen halbierten Baumstamm um ein Haar das Gleichgewicht verloren und die Stiege heruntergestürzt wäre; er fing sich dann aber im letzten Moment wieder, bevor er Arri diesen Gefallen tun konnte, und aus der anderen Richtung sagte eine dünne, aber scharfe Stimme: »Rahn hat mich hierher begleitet. Es war mein Wunsch.« Lea drehte betont langsam den Kopf und sah der zweiten, deutlich kleineren und gebückt gehenden Gestalt entgegen, die nun aus dem Schatten des Hauses auf sie zukam. Es war Sarn. Er musste vollkommen lautlos und womöglich sogar mit angehaltenem Atem dort in der Dunkelheit gestanden und sie belauert haben. »Und warum geht ihr in mein Haus, wenn ich nicht da bin, und ohne meine Erlaubnis?«, fragte Lea kühl. Der Stammesälteste kam mit langsamen Schritten näher. Die Kette aus Muschelschalen und Tierzähnen, die er um den Hals trug, klimperte leise im Takt seiner schleppenden Schritte. »Eure Stiege ist steil und gefährlich. Und ich bin ein alter Mann und habe keine Lust, mir den Hals zu brechen.« Arri spürte, dass ihre Mutter in diesem Moment dafür umso mehr Lust hatte, ihm diese Mühe abzunehmen, aber sie beherrschte sich

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mit bewunderungswürdiger Kraft und deutete nur eine Kopfbewegung an, die Sarn als zustimmendes Nicken deuten konnte, wenn ihm danach war - oder auch als alles andere. Sie machte einen halben Schritt zur Seite und zurück, sodass sie wie zufällig genau zwischen ihr und dem hünenhaften Fischer stand, der sich mit ungelenken Bewegungen mittlerweile die Stiege heruntergearbeitet hatte, und wollte dann etwas zu Sarn sagen, doch der alte Schamane kam ihr zuvor. »Wo wart ihr, mitten in der Nacht?«, fragte er. Die Blicke, mit denen Lea ihn bisher gemustert hatte, waren ohnehin schon nicht besonders freundlich gewesen, jetzt aber verdüsterte sich ihr Gesicht noch mehr. Wer glaubte Sarn zu sein, ihr eine solche Frage stellen zu dürfen, und noch dazu in diesem Ton? Umso erstaunter war Arri, als ihre Mutter sie beantwortete. »Arri und ich waren im Wald. Kräuter sammeln.« »Kräuter?« Sarns Blick glitt betont langsam an Leas Gestalt entlang und verharrte dabei einen ganz kurzen, aber bezeichnenden Moment auf ihren leeren Händen. »Nachts?« »Es gibt Kräuter, die man nur im Mondlicht pflücken sollte. So wie du auch manche Pilze nur nachts sammelst.« »Aber ihr wart nicht erfolgreich?« »Wie gesagt«, wiederholte Lea, »sie sind schwer zu finden.« Sie machte eine unwillige Handbewegung. »Was willst du hier? Es ist spät, und ich bin müde. Meine Tochter und ich würden gern noch ein wenig schlafen, bevor die Sonne aufgeht.« »Kron verlangt nach dir«, antwortete Sarn. »Kron?« Es gelang Lea nicht völlig, ihre Überraschung zu verbergen, und auch Arri riss ungläubig die Augen auf und starrte den greisen Schamanen an. Nachdem die Trommeln verstummt waren, hatte auch sie ganz selbstverständlich angenommen, dass das nur eines bedeuten konnte. »Er lebt?« »Unsere Gebete und Opfer wurden erhört«, antwortete Sarn. »Er lebt, und er will mit dir reden. Ich weiß nicht, warum. Aber er verlangt unentwegt nach dir.« Eine Spur von Misstrauen erschien in Leas Blick. »Warum?« »Warum fragst du ihn das nicht selbst?«, mischte sich Rahn ein.

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»Nach allem, was du ihm angetan hast, wärst du ihm das vielleicht schuldig.« Seine Worte empörten Arri, aber ihre Mutter machte sich nicht einmal die Mühe, den Fischer anzusehen. Ihr Blick blieb unverwandt auf Sarn gerichtet, der seinerseits sie anstarrte, und das auf eine Art, die Arri immer weniger gefiel. Rahn und er waren nicht nur hierher gekommen, um dem Wunsch eines sterbenden Mannes zu entsprechen. »Also gut«, sagte Lea schließlich. »Wahrscheinlich hast du Recht, und ich sollte nach ihm sehen. Arri, geh und hol meinen Lederbeutel. Den großen braunen.« Arri trat zwar gehorsam hinter ihrer Mutter hervor und eilte die Stiege hinauf, aber sie tat es mit einem schlechten Gefühl, und sie sah sich allein auf dem kurzen Stück in die Hütte dreimal nach ihrer Mutter und den beiden anderen um. Ihr war nicht wohl dabei, sie allein in Sarns Gesellschaft zurückzulassen, und schon gar nicht in der Rahns, obgleich sie spätestens seit der Nacht vor drei Tagen wusste, dass ihre Mutter sich auch ohne ihr Schwert nicht vor einem Mann wie Rahn fürchten brauchte. Rasch durchquerte sie den Raum, tastete in vollkommener Dunkelheit nach dem Lederbeutel, nach dem ihre Mutter verlangt hatte, und machte sich auf den Rückweg, blieb jedoch dann noch einmal stehen und sah sich verwirrt um. Irgendetwas war hier nicht so, wie es sein sollte, auch wenn sie zuerst nicht sagen konnte, was. Es verging ein kurzer Augenblick, bis sie es bemerkte: Es war das Schwert. Es hing an seinem angestammten Platz an der Wand, aber nicht so, wie es sollte. Jemand hatte es von der Wand genommen und offensichtlich in aller Hast wieder zurückgehängt, ohne sich seine genaue Position gemerkt zu haben. Rahn! Arri war nicht einmal überrascht, dass Rahn der Verlockung, das berühmte Schwert ihrer Mutter zu berühren, nicht hatte widerstehen können, sie war nur einigermaßen empört - ein Gefühl, das nahezu augenblicklich in ein schadenfrohes Grinsen überging, als sie näher trat und die frischen dunklen Flecken erkannte, die im blassen Sternenlicht hier drinnen fast schwarz auf der Klinge glitzerten. Möglicherweise würde sich Rahn länger an diese Tat erinnern, als ihm

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recht war. Sie hörte ihre Mutter draußen rufen und beeilte sich, zu ihr zu kommen. Rahn starrte ihr finster entgegen, und selbstverständlich sorgte Arri dafür, dass ihm das schadenfrohe Funkeln in ihren Augen nicht entging, ebenso wie sie gerade eine Winzigkeit zu lange auf seine rechte Hand starrte, die er, auf der Hüfte aufgestützt, zur Faust geballt hatte. Rahns Augen wurden noch schmaler, aber er schluckte herunter, was ihm so sichtlich auf der Zunge lag, und bedeutete ihr mit einer groben Kopfbewegung, vor ihm herzugehen. Ihre Mutter und Sarn hatten mittlerweile schon den halben Weg den Hang hinauf hinter sich gebracht, sodass Arri kräftig ausschreiten musste, um zu ihnen aufzuschließen. Trotzdem holte sie sie erst ein, als sie die Hütte des Schmieds schon passiert hatten und auf den Dorfplatz traten. Vollkommen anders, als zu dieser frühen Tageszeit üblich, war das lang gestreckte Oval von einem halben Dutzend Feuer fast taghell erleuchtet. Ein sonderbarer, süßlicher Geruch lag in der Luft, bei dem nicht nur Arri überrascht die Stirn runzelte, sondern sich auch der Blick ihrer Mutter viel sagend noch weiter verfinsterte. Es war nicht nur der Geruch nach brennendem Holz und Torf, sondern auch nach etwas, das einen leicht schwindelig machte, wenn man es zu tief einatmete; ein Gemisch aus Kräutern und Blütenpollen, das Sarn gern benutzte, um sich in den Zustand zu versetzen, in dem er mit seinen Göttern sprechen konnte. Es hatte eine berauschende Wirkung, aber die Visionen, zu denen es führte, waren nicht immer angenehm, und von ihrer Mutter wusste sie, dass dieser Rauch auch nicht ungefährlich war. Sie selbst hatte ihn einmal - versehentlich - eingeatmet und noch Tage danach unter heftigen Kopfschmerzen gelitten. Gewöhnlich verwendete Sarn diesen Rauch nur in seinem eigenen Haus, und auch das erst, nachdem er sich mit schier endlosem Gesang und Tanz bereits an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs gebracht hatte; jetzt aber schlug ihnen der süßliche Geruch aus jeder einzelnen Feuerstelle entgegen, die am Rand des Dorfplatzes brannte. Was hatte der Schamane vor?, fragte sich Arri verstört. Wollte er die ganze Sippe in einen Rauschzustand versetzen, und

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warum dann ausgerechnet hier und nicht im Steinkreis, wie es den alten Sitten gemäß schon sehr bald zum Jagd-Ernte-Fest der Fall sein würde? Sie stellte diese Frage nicht laut, aber sie konnte ihrer Mutter ansehen, dass es ihr ebenso erging, und wäre es nach den Blicken gegangen, die sie Sarn zuwarf, hätte der greise Schamane das andere Ende des Platzes wohl nicht mehr lebend erreicht. Das Haus, in dem Kron lebte, lag ein gutes Stück jenseits des Dorfplatzes und schon fast unten an der Zella, und es war größer als die meisten anderen, denn Kron hatte eine große Familie und nicht nur gleich zwei Frauen, sondern auch fast ein Dutzend Kinder, mit denen er sich die Hütte teilte. Vielen im Dorf erging es so. Arri wusste es natürlich nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, doch es musste wohl so sein, dass früher sehr viele Kinder gleich nach der Geburt oder spätestens im ersten Winter, der darauf folgte, gestorben waren, und nur zu oft ihre Mütter gleich mit ihnen. Seit Lea und sie hier lebten, hatte sich das geändert. Es starben viel weniger Kinder, was die Frauen im Dorf aber nicht davon abhielt, sich (nach den Worten ihrer Mutter) weiter wie die Karnickel zu vermehren. Mit dem Ergebnis, dass sämtliche Häuser im Dorf allmählich zu klein wurden. Vor dem des Jägers hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt; sicherlich nicht das gesamte Dorf, aber doch nahezu jeder erwachsene Mann und eine Menge Kinder und Halbwüchsige. Die Gesichter, die sich in ihre Richtung wandten, als die Menge auseinander wich, um dem Schamanen und ihnen Platz zu machen, wirkten zum größten Teil übernächtigt und grau, und der Ausdruck darauf war eher der von Erschöpfung als von Misstrauen oder Zorn. Manches Augenpaar wirkte trüb, was Arri auch gut verstehen konnte, als sie hinter ihrer Mutter durch den Eingang trat. Allein der Geruch, der ihr entgegenschlug, löste wiederum ein leises, aber sehr unangenehmes Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn aus. Im Innern der Hütte herrschte ein solches Gedränge, dass Arri Mühe hatte, Kron überhaupt zu entdecken. Der Jäger lag auf einem aus kostbaren Bären- und Wolfsfellen errichteten Bett, das nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seinem Bruder und dessen gesam-

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ter Familie umlagert wurde. Der Geruch nach betäubenden Dämpfen war hier drinnen fast übermächtig, wurde aber auch von etwas anderem, Unangenehmerem durchdrungen. Es roch nach Krankheit und Fieber und Schmutz und nach dem Schweiß zu vieler Menschen, die zu lange hier drinnen gewesen waren. Wenn schon nicht vor ihnen, so wichen die Menschen doch zumindest vor dem Schamanen respektvoll zur Seite - so weit das in der Enge des Raumes möglich war, hieß das -, sodass es ihnen schließlich irgendwie gelang, sich an Krons Krankenlager heranzuschieben. Wie Sarn gesagt hatte, war der Jäger wach. Er saß halb aufgerichtet auf seinem Lager. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und war sehr bleich, und er starrte ebenso vor Schmutz wie der von braun eingetrocknetem Blut durchtränkte Verband um seinen Armstumpf. Arri verzog angewidert das Gesicht, als ihr klar wurde, dass die Quelle des üblen Geruchs vor allem Kron selbst war, während sich der Blick ihrer Mutter schlagartig verdüsterte. Einen Moment lang starrte sie auf Kron herab, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und maß Arri mit einem Blick, unter dem das Mädchen sich am liebsten zwischen den Ritzen der Fußbodenbretter verkrochen hätte. Sie sagte nichts, aber das war auch nicht nötig - schließlich hatte sie Arri eindringlich eingeschärft, dem Schamanen ihre Kräuter und Salben nicht nur zu bringen, sondern sich auch mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass Krons Verband mindestens zweimal am Tag gewechselt und die Wunde gesäubert wurde. Die Wahrheit war, dass Arri nur ein einziges Mal den Mut aufgebracht hatte, Krons Hütte tatsächlich zu betreten. »Hatte ich euch nicht aufgetragen, die Wunde unbedingt sauber zu halten?«, wandte sich Lea in scharfem Ton an Sarn. »Dieser Verband ist mindestens drei Tage alt. Wozu habt ihr nach meinen Salben verlangt, wenn ihr sie nicht benutzt?« Sarns vor Erschöpfung gesprungene und vereiterte Lippen verzogen sich zu einem überheblichen Lächeln. »Wir brauchen deine Hexenkunst nicht, wie du siehst«, stieß er hervor. »Mardan hat unsere Opfer angenommen und meine Gebete erhört.« Arri sah, dass ihre Mutter zu einer geharnischten Antwort ansetzte,

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es sich dann aber im letzten Moment doch anders überlegte und es bei einem ärgerlichen Blick und einem angedeuteten Achselzucken beließ, bevor sie neben Krons Lager auf die Knie herabsank und gebieterisch die Hand ausstreckte. Arri hatte es plötzlich sehr eilig, ihr den Beutel mit ihren Utensilien auszuhändigen, und ihre Mutter griff hinein und zog ein in getrocknete Blätter eingewickeltes Päckchen heraus, ohne auch nur hinzusehen. »Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät«, murmelte sie düster. »Haltet ihn fest. Diesen eingetrockneten Dreck von seinem Arm zu entfernen wird ihm bestimmt wehtun.« Sie wollte die Hände nach Kron ausstrecken, aber der Jäger prallte heftig zurück und fuhr sie an: »Rühr mich nicht an! Wenn du mich noch einmal berührst, töte ich dich. Ich habe zwar nur noch eine Hand, aber die wird schon reichen, um dir das Genick zu brechen!« Lea blinzelte. »Wie?« »Rühr mich nicht an«, wiederholte Kron. Sein Blick flackerte irr. »Du hast mir den Arm abgeschnitten! Du… du hast mich zum Krüppel gemacht!« »Ich habe dir das Leben gerettet, Kron«, antwortete Lea, nicht nur in erstaunlich ruhigem Ton, sondern auch mit einem nahezu mütterlichen, verständnisvollen Lächeln, das Arri fast noch mehr überraschte als die Ruhe in ihrer Stimme. »Hätte ich es nicht getan, dann wärst du gestorben.« Arri rechnete fest damit, dass Sarn die Gelegenheit zu einer spitzen Bemerkung ergreifen würde, aber er schwieg. Nur das boshafte Funkeln in seinen Augen verstärkte sich. »Und wenn!« Kron hustete qualvoll und brauchte eine ganze Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und Arri glaubte regelrecht zu sehen, wie seine Kräfte in dieser Zeit abnahmen. Seine Lider schienen so schwer zu werden, dass es ihm kaum noch gelang, sie offen zu halten. Irgendwann fand er die Kraft weiterzureden, aber seine Stimme war jetzt nur noch ein heiseres Flüstern. »Du hattest kein Recht. Ich kann nicht mehr für mich und meine Familie sorgen. Ich werde allen zur Last fallen. Du hättest mich sterben lassen sollen!« »Es war meine Entscheidung, Kron.« Nicht nur Arri hob überrascht den Kopf, auch ihre Mutter wandte

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sich verwirrt um. Sarns Augen aber wurden so schmal wie die einer angreifenden Schlange, und der Ausdruck darin ebenso tückisch. Arri hatte zwar schon beim Eintreten bemerkt, dass sich Grahl am Lager seines Bruders aufhielt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt, und nach dem, was sie gerade erlebt hatte, hätte sie von ihm allerhöchstens weitere Vorwürfe erwartet. Zwar bedachte auch der jüngere Jäger ihre Mutter mit Blicken, die alles andere als freundlich oder auch nur dankbar waren, dennoch schüttelte er den Kopf, wartete, bis sein Bruder zu ihm hochsah, und sagte dann noch einmal: »Es war nicht ihre Schuld, Kron. Es war meine Entscheidung - und die Sarns.« Der Schamane keuchte hörbar, und auch alle anderen in der Hütte ließen ein erstauntes wie auch ungläubiges, erschrockenes Raunen und Murren hören. Grahl ignorierte jedoch sowohl den Stammesältesten als auch Krons Familie, kniete neben seinem Bruder nieder und griff behutsam nach seiner unverletzten Hand. »Wenn du jemanden dafür hassen willst, dann mich.« »Aber… aber warum hast du mir das… angetan?«, murmelte Kron. »Ich bin dein Bruder.« »Gerade weil du mein Bruder bist«, antwortete Grahl. »Die Wunde war brandig, und das weißt du auch. Du wärst gestorben, hätten wir den Arm nicht abgeschnitten. Ich werde für deine Familie sorgen, solange du es nicht kannst, das verspreche ich. Du wirst wieder gesund, und dann finden wir eine andere Arbeit für dich.« »Eine Arbeit für einen Krüppel?« Kron versuchte zu lachen, brachte aber nur ein halb ersticktes Krächzen zustande. »Wie soll die aussehen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete sein Bruder. »Aber das ist im Augenblick auch gleich. Du bist stark. Du wirst gesund. Das allein ist wichtig.« Er wandte sich mit einem fast scheuen Blick an Lea. »Du wirst ihm helfen?« »Die Götter werden ihm helfen«, mischte sich Sarn ein. »Ich werde weiter zu ihnen beten, und wir müssen ihnen noch mehr Opfer bringen.« Sowohl Grahl als auch Arris Mutter achteten nicht auf ihn. »Du

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hast Recht«, sagte Lea. »Dein Bruder ist stark. Er wird es schaffen. Wenn wir diesen Dreck da möglichst schnell von seinem Arm herunterkriegen, heißt das.« Sie deutete zornig auf Krons Armstumpf und verzog angeekelt das Gesicht. Grahl wirkte noch einen Moment lang zögerlich, aber dann rang er sich zu einem Entschluss durch und nickte. »Du zweifelst also an der Macht der Götter«, zischte Sarn, »und erdreistest dich, Mardan selbst herauszufordern?« Grahl wollte auffahren, aber Lea legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und wandte sich mit einem Kopfschütteln und in besänftigendem Ton an den Schamanen. »Niemand bezweifelt die Macht deiner Götter, Sarn. Sie haben lange und gut über dein Volk gewacht, und sicher waren es auch deine Gebete und eure Opfer, die Kron die Stärke verliehen haben, den Kampf gegen das Fieber zu gewinnen. Aber auch du kennst die Kraft der Natur und ihrer heilenden Kräuter und Pflanzen. Manchmal sind Gebete allein nicht genug. Vielleicht erwarten die Götter zuweilen von uns, dass wir auch die Kräfte der Natur nutzen. Wozu sonst hätten sie sie uns gegeben?« Sarns Augen wurden noch schmaler, und sein ohnehin unansehnliches Gesicht verzog sich endgültig zu einer verkniffen hässlichen Maske aus purem Hass. Er war nicht dumm. Er spürte die Falle, die Lea ihm stellte, aber anscheinend sah er keinen Weg, ihr zu entgehen. Schließlich stieß er mit einem Schnauben die Luft aus. »Du willst die Götter also auch noch verhöhnen, Weib?«, fuhr er sie an. »Sie werden dich damit nicht ungestraft davonkommen lassen! Du hast schon viel zu lange dein Unwesen hier getrieben.« »Lass uns unsere Kräfte zusammentun, Sarn«, antwortete Lea unbeeindruckt. »Geh und bete zu Mardan. Bring ihm Opfer. Und lass mich tun, was in meiner Macht steht.« Arri beobachtete Sarn und ihre Mutter abwechselnd und aus angstvoll geweiteten Augen. Sie spürte, wie dünn das Eis war, auf dem sich ihre Mutter bewegte. Der Schamane hatte ihre Mutter vom ersten Tag an gehasst, an dem sie ins Dorf gekommen war, und der Umstand, dass sie auch ihm das Leben gerettet hatte, hatte daran nichts geändert, sondern es eher noch schlimmer gemacht. Er wartete seit

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Jahren auf eine Gelegenheit, sie zu vernichten, und vielleicht war genau dies der Anstoß, den er brauchte. Sie verstand auch ihre Mutter nicht. Sicherlich hatte sie Recht - ein einziger Blick in Krons graues, von Fieber, Durst und Erschöpfung gezeichnetes Gesicht bewies das -, aber es gab keinen Grund, Sarn so zu provozieren. Nicht ausgerechnet jetzt. Doch wenn dies der Augenblick war, auf den Sarn seit Jahren gewartet hatte, dann ließ er ihn ungenutzt verstreichen. Eine kleine Ewigkeit lang starrte er Lea noch hasserfüllt an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Haus. Eine von Krons Frauen und zwei oder drei seiner Töchter folgten ihm, der Rest der Familie jedoch blieb, auch wenn man ihren Gesichtern ansehen konnte, wie unwohl sie sich fühlten und wie verstört sie waren. »Das tut mir Leid«, sagte Grahl leise. Er sah Lea dabei nicht an, aber seine Stimme klang ehrlich. »Ich wollte nicht, dass…« »Es ist nicht deine Schuld«, unterbrach ihn Lea. »Ich hätte mein Wort halten und nach deinem Bruder sehen sollen, dann wäre es nicht so weit gekommen.« Sie konnte sich einen kurzen, vorwurfsvollen Blick in Arris Richtung nicht ganz verkneifen, während sie das sagte, ging aber dann zu deren Erleichterung nicht weiter darauf ein, sondern wandte sich ihrer Aufgabe zu. »Wir brauchen Wasser, und ich fürchte, ich werde deinem Bruder noch einmal Schmerzen zufügen müssen. Er ist zu schwach, als dass ich ihm von dem Mohnpulver geben dürfte.« Das war das Stichwort, auf das Arri gewartet hatte. Sie erinnerte sich noch zu gut an den Anblick, den Krons Arm vor drei Tagen geboten hatte, um besonderen Wert auf eine zweite Kostprobe zu legen. Zumindest im Augenblick wäre ihr selbst Rahns Gesellschaft lieber gewesen als die ihrer Mutter, denn obwohl sie bisher kein einziges entsprechendes Wort gesagt hatte, waren ihre vorwurfsvollen Blicke doch mehr als genug, um Arri klarzumachen, dass auch sie einen nicht geringen Anteil an Krons schlechtem Zustand hatte. Sie wollte aufspringen und hinauseilen, um Wasser zu holen, doch Grahl kam dem zuvor, indem er eine befehlende Geste zu einem seiner Söhne machte. Der Junge sprang auf und war verschwunden, bevor Arri

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ihre Bewegung auch nur zu Ende führen konnte, und sie wollte sich schon wieder enttäuscht zurücksinken lassen, doch dann wandte sich ihre Mutter zu ihr um. »Geh hinaus und such nach Rahn. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen. Geh und sag ihm, dass er auf mich warten soll.« Arri erhob sich gehorsam und ging, wobei sie sich ganz ernsthaft fragte, ob ihre Mutter etwa ihre Gedanken gelesen hatte. Es erwies sich als nicht einmal einfach, die Hütte zu verlassen, und draußen wurde das Gedränge im ersten Moment eher noch schlimmer. Jetzt, wo der Morgen mit Riesenschritten nahte, wie ihr ein kurzer Blick auf den trübgrau gewordenen Himmel im Osten zeigte, schien tatsächlich das ganze Dorf auf den Beinen zu sein. Die Nachricht, dass sie und ihre Mutter hier waren, musste sich mit Windeseile herumgesprochen haben und hatte offensichtlich sogar dazu geführt, dass die Vorbereitungen für die Feldarbeiten und andere dringende Aufgaben sträflich vernachlässigt wurden - etwas, das Sarn unter normalen Bedingungen zu Zornesausbrüchen und wüsten Beschimpfungen veranlasst hätte, die alles, was sich auf den Beinen halten konnte, augenblicklich an die Arbeit getrieben hätten. Dass Sarn heute darauf verzichtete, war ein schlechtes Zeichen. Arri hoffte nur, dass es nicht der Zorn auf ihre Mutter war, der seine Sinne verdunkelte, sondern die schlechten Neuigkeiten, die Grahl und Kron von jenseits des großen Flusses mitgebracht hatten. Vergeblich versuchte Arri, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, zwischen denen sie sich nun hindurchquetschte. Sie entdeckte Rahn fast am anderen Ende der Menschenmenge und arbeitete sich sofort zu ihm durch, doch gerade als sie nahe genug war, um mit einem Winken seine Aufmerksamkeit erheischen zu können, bemerkte sie, dass der Fischer nicht allein war. Er war in eine erregte Auseinandersetzung mit Sarn verwickelt, bei der sich sein Part allerdings fast ausschließlich aufs Zuhören und ein gelegentliches zustimmendes Nicken beschränkte. Arri ging langsamer und blieb schließlich stehen, obwohl sie im Grunde schon viel zu nahe war, um jetzt noch zurückzukönnen. Rahn brauchte sich nur umzudrehen, um sie zu sehen. Nachdem sie ihn mit

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dem Wasserkrug vor allen anderen gedemütigt hatte (was war da bloß in sie gefahren? Sie wusste doch, wie empfindlich der Fischer in dieser Beziehung war!), hegte er wahrscheinlich einen abgrundtiefen Groll auf sie. Ganz zu schweigen davon, dass sie jetzt ohne den Schutz ihrer Mutter einer Menschenmenge gegenüberstand, die Sarn in den zurückliegenden drei Tagen mit Sicherheit nach Kräften gegen sie aufgehetzt hatte. Aber sie hatte Glück. Sarn sprach noch zwei oder drei Sätze, machte dann eine abschließende, herrische Geste in Richtung des Fischers und fuhr herum, ohne auch nur einen einzigen Blick in ihre Richtung zu werfen. Während er nun davonstapfte, wirkte er plötzlich nicht mehr annähernd so müde und kraftlos wie noch vor ein paar Augenblicken in der Hütte, befand Arri. Sie wartete, bis der Schamane außer Hörweite war, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat auf Rahn zu. Der hünenhafte Fischer wirkte nicht überrascht, sie zu sehen, nur verächtlich und vielleicht auch ein bisschen heimtückisch. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde ihr klar, dass er sie schon eine ganze Weile beobachtet haben musste. Umso erstaunlicher, dass er den Schamanen nicht darauf aufmerksam gemacht hatte… Sarn hätte sich die Gelegenheit ganz gewiss nicht entgehen lassen, sie vor aller Ohren zu beschimpfen und zu erniedrigen. »Was willst du?«, herrschte Rahn sie an. »Meine Mutter will mit dir reden«, antwortete Arri. »Ich soll dir sagen, dass du hier auf sie warten sollst.« »Und wie kommst du auf die Idee, dass sie mir etwas zu sagen hätte?«, gab Rahn übellaunig zurück. Arri schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie waren nicht allein, und Rahn gab sich nicht die geringste Mühe, leise zu sprechen. Arri konnte regelrecht spüren, wie die meisten der Umstehenden die Ohren spitzten, und sie sah auch, dass einige ganz unverblümt zu ihr und dem Fischer hinsahen. Ihre Mutter würde gewiss nicht begeistert sein, wenn herauskäme, dass sie schon wieder in einen Streit mit Rahn verwickelt gewesen war. »Sie lässt dich bitten, auf sie zu warten«, sagte sie, mühsam beherrscht. »Ich weiß nicht, was sie von dir will, aber ich glaube, es ist

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wichtig.« Rahn schürzte verächtlich die Lippen. »So, unsere selbst ernannte Heilerin und oberste Wetterprophetin hat also etwas Wichtiges mit einem einfachen Fischer wie mir zu besprechen. Nun, dann werde ich wohl besser auf sie warten. Wo kämen wir denn hin, wenn ein einfacher dummer Fischer wie ich es wagen würde, sich dem Wunsch einer so mächtigen Frau zu widersetzen?« Diesmal fiel es Arri wirklich schwer, ihre Antwort für sich zu behalten. Rahn war auf Streit aus, was für sich genommen nichts Besonderes war; aber da war etwas in dem tückischen Glitzern in seinen Augen, das sie warnte. Vielleicht war sie besser beraten, wenn sie jetzt einfach gar nichts mehr sagte. Sie schwieg, und zumindest erreichte sie damit eines, nämlich, dass Rahn sich ärgerte. Anscheinend hatte er fest damit gerechnet, dass sie widersprechen oder gar versuchen würde, ihn zurechtzuweisen, und sich bereits eine passende Antwort zurecht gelegt. Als er keine Gelegenheit bekam, sie loszuwerden, blitzte es in seinen Augen so wütend auf, dass Arri sich unwillkürlich spannte, dann aber verzog er nur noch einmal und noch verächtlicher die Lippen, drehte sich auf dem Absatz um und ging die paar Schritte zum Fluss hinunter. Arri blickte ihm unentschlossen nach. Ihr war ziemlich klar, was ihre Mutter jetzt von ihr erwartet hätte - nämlich, dass sie dem Fischer folgte und versuchte, ihn milder zu stimmen, oder dass sie sich gar für ihr Verhalten in den letzten Tagen ihm gegenüber entschuldigte. In einem plötzlichen Anflug seltener Vernunft war sie sogar nahe daran, ganz genau das zu tun, aber der Augenblick verging, ohne dass sie Gefahr lief, der Verlockung zu erliegen, und im nächsten Moment zupfte sie jemand am Ärmel. Arri fuhr verärgert herum, aber es war nur Osh, der zusammen mit einigen anderen Kindern aus dem Dorf hinter ihr aufgetaucht war. Der spöttische Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er ihr kleines Gespräch mit Rahn mit angehört hatte. »Dem hast du es aber gegeben«, sagte er hämisch. »Was willst du?«, fragte Arri unwirsch. Oshs Augen wurden schmaler, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie musste

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Acht geben, ihren Ärger über Rahn - und vor allem natürlich über den Schamanen - nicht an dem Jungen auszulassen. Was Osh von ihr dachte oder über sie sagte, konnte ihr herzlich egal sein, aber angefangen von der Begegnung mit Sarn am Steinkreis, von der sie ihrer Mutter immer noch nichts erzählt hatte, hatte sie in den letzten Tagen wahrhaftig schon genug Schaden angerichtet. Etwas hatte sich geändert, grundlegend und unumkehrbar. Bisher hatte sich ihre Mutter selten eingemischt, wenn sie mit einem der anderen Kinder aus dem Dorf Streit hatte oder auch mit einem Erwachsenen, und sie allerhöchstens sanft zur Ordnung gerufen, wann immer sie der Meinung war, dass sie es zu toll trieb. Doch jetzt spürte sie, dass diese Zeiten vorbei waren. Vielleicht gehörte auch das zum Erwachsenwerden dazu, dachte sie; dass sie nicht mehr tun und lassen konnte, was sie wollte, und schon gar nicht sagen. »Ist es wahr, was Sarn über deine Mutter und dich erzählt?«, fragte Osh, der seine Überraschung überwunden und erneut ein hässliches Grinsen aufgesetzt hatte. »Das weiß ich nicht«, antwortete Arri. Nicht, dass sie es sich nicht denken konnte. »Was sagt er denn über uns?« Osh tauschte einen raschen, fast triumphierenden Blick mit den beiden dunkelhaarigen Jungen, die rechts von ihm standen, und Arri gemahnte sich im Stillen noch einmal und noch nachdrücklicher zur Ruhe. Osh und seine Freunde waren nicht zufällig gerade jetzt hier aufgetaucht, und sie waren zweifellos ebenso auf Streit aus, wie Rahn es gewesen war. Nur, dass sie Osh - so weit das überhaupt möglich war - für noch dümmer als den Fischer hielt. Vielleicht erfuhr sie ja von ihm, was hier eigentlich los war. Der Junge setzte zu einer Antwort an, aber Arri drehte sich fast gemächlich um und ging langsam zur ruhig dahinfließenden Zella hinunter; nicht direkt auf Rahn zu, aber doch ungefähr in seine Richtung. Wie sie erwartet hatte, folgten ihr Osh und die anderen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Jungen über sie herfallen würden - nicht jetzt und schon gar nicht hier, wo das ganze Dorf zusah - , aber man konnte schließlich nie wissen. Es war besser, sie blieb auf der Hut.

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»Der Stammesälteste sagt, dass deine Mutter und du schuld an all dem Unglück seid, das uns getroffen hat«, beantwortete Osh ihre Frage, nachdem er mit einigen schnellen Schritten zu ihr aufgeholt hatte und gerade dicht genug neben ihr herging, dass ihr seine Nähe unangenehm wurde. »So?«, meinte Arri. »Von welchem Unglück sprecht ihr denn? Von den besseren Ernten, die ihr habt, seit wir hier sind? Oder von all den Krankheiten, die meine Mutter geheilt hat? Oder den besseren Waffen und Werkzeugen, die ihr dank ihrer Hilfe herstellt?« Sie sah Osh bei diesen Worten nicht an, sodass sie seine Reaktion darauf nicht auf seinem Gesicht ablesen konnte, doch der gehässige Unterton seiner Stimme nahm noch zu. »Achk hat sein Augenlicht verloren, und deine Mutter ist schuld daran.« Arri blieb mitten im Schritt stehen und drehte sich so abrupt zu dem Jungen herum, dass er hastig einen halben Schritt vor ihr zurückwich und abwehrend die Hände hob. »Wer sagt das?« »Sarn«, antwortete Osh verdattert. »Jeder weiß das.« »Unsinn!«, erwiderte Arri. »Es war ein Unfall, für den niemand etwas konnte. Achk nicht und meine Mutter schon gar nicht.« »Jeder weiß es«, beharrte Osh stur. »Und Sarn hat es auch gesagt. Achks Schmelzofen ist zerborsten, weil er die Künste seiner Väter verraten hat und dem falschen Zauber erlegen ist, den deine Mutter ihm eingeflüstert hat.« Osh bewegte sich zielstrebig auf den Punkt zu, an dem er Bekanntschaft mit dem höchst realen Zauber von Arris rechter Faust machen würde. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie sich noch beherrschte, der, dass sie in diesem Moment das Gefühl hatte, nicht so sehr Oshs Stimme zu hören, sondern vielmehr die des alten Schamanen. »Das hat Sarn gesagt?« »Jeder weiß es.« Osh stülpte trotzig die Unterlippe vor. »Und was ist mit den fremden Kriegern? So etwas ist noch nie vorgekommen. Und jetzt, wo ihr hier seid…« »Nach mehr als zehn Sommern«, sagte Arri spöttisch. »… tauchen sie plötzlich wie aus dem Nichts auf und schleichen durch die Wälder«, fuhr Osh unbeeindruckt fort. »Vielleicht haben

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sie euch ja vorausgeschickt, um uns auszuspähen, und jetzt werden sie bald kommen, um uns alle zu töten oder uns noch Schlimmeres anzutun.« Welch ein Unsinn!, dachte Arri. Sie wusste nicht, ob sie Osh einfach mit einem gezielten Hieb auf die Nase zum Schweigen bringen oder ihn auslachen sollte. Schließlich beließ sie es bei einem Kopfschütteln und einem mitleidigen Blick, den selbst dieser Dummkopf verstand. Aber da war noch etwas, das Osh gesagt und das sie im allerersten Moment gar nicht richtig begriffen hatte. »Was soll das heißen - sie schleichen durch die Wälder?« Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, wie seltsam sich ihre Mutter auf ihrem Weg nach Hause benommen hatte. »Die Männer haben Spuren gefunden.« Osh deutete triumphierend auf Rahn, der nur wenige Schritte entfernt stand und nicht einmal in ihre Richtung sah. Dennoch erkannte Arri allein an seiner Haltung, dass er offenbar angestrengt lauschte. »Sarn hat Rahn und ein paar von den anderen in die Wälder geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Sie sind auf Spuren gestoßen. Spuren von Fremden, die nicht hierher gehören.« »Ist das wahr?«, wandte sich Arri direkt an den Fischer. Und fast hätte sie hinzugefügt: »Von Fremden oder von meiner Mutter?« Aber das ließ sie dann doch besser bleiben. Aus Krons Hütte drang ein kurzes, aber schmerzerfülltes Brüllen zu ihnen, das sie alle herumfahren und in die entsprechende Richtung blicken ließ, aber diesem ersten Schrei folgte kein zweiter, nur das Weinen eines Kindes, das wohl über den Laut erschrocken war. »Also - wie war das mit den Spuren?«, hakte Arri nach, nachdem sie sich wieder dem Fischer zugewandt hatte. »Du hast sie gefunden?« Rahn tat so, als hätte er ihre Frage gar nicht gehört oder zumindest nicht verstanden, dass sie ihm galt. Vielleicht hätte er mit dieser Taktik sogar Erfolg gehabt, dann aber beging er den Fehler, für einen Moment in ihre Richtung zu sehen, und als er Arris Blick begegnete, zerbröckelte sein Widerstand so schnell, dass man regelrecht dabei zusehen konnte - etwas, das Arri mehr als befremdend gefunden hät-

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te, wäre es zum ersten Mal geschehen. Aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass etliche Männer und Frauen im Dorf auf eine Weise auf sie reagierten, die höchstens ihrer Mutter gegenüber angemessen gewesen wäre, und sie hatte längst aufgehört, über den Grund dafür nachzugrübeln. Einen Moment lang druckste Rahn noch herum, dann rettete er sich in ein angedeutetes Schulterzucken und eine gemurmelte Antwort, die so leise war, dass Arri sie vermutlich nicht einmal dann verstanden hätte, hätte er sie ihr direkt ins Ohr geflüstert. »Ich nehme an, das heißt nein«, vermutete sie. »Da waren Spuren«, beharrte Rahn im trotzigen Tonfall eines Kindes, das bei einer Missetat ertappt worden ist und sich herauszureden versucht, obwohl es ganz genau weiß, wie wenig das fruchtet. »Aber du hast sie nicht selbst gesehen«, bohrte Arri nach. Rahns Blick war jetzt regelrecht hasserfüllt. »Nein«, gestand er widerwillig. »Aber die anderen. Warum sollten sie mich anlügen?« »Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie behaupten, meine Mutter wäre eine Hexe und brächte nur Unglück über euch alle«, antwortete Arri. »Wer behauptet so etwas?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Arri fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um und zuckte dann noch einmal und noch heftiger zusammen, als sie ihre Mutter erkannte. Sie war so leise hinter ihr aufgetaucht, dass sie ihre Schritte nicht einmal gehört hatte, so wenig, wie sie sich des Umstands bewusst geworden war, dass sie nun praktisch allein am Flussufer standen. Die Menschenmenge vor Krons Hütte hatte nicht sichtbar abgenommen, doch die Männer und Frauen hatten eine Gasse für ihre Mutter gebildet, die sich bislang nicht wirklich geschlossen hatte, und auch jetzt waren die meisten Gesichter in ihre Richtung gewandt und nicht in die der Hütte. Arri bemerkte dies jedoch nur beiläufig, denn der Blick, mit dem ihre Mutter sie maß, entging ihr keineswegs. Sie sprühte vor Zorn. Arri war erschrocken, aber auch verwirrt. Was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht? Sie hatte das Gefühl, die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage in den Augen ihrer Mutter lesen zu können, wenn sie nur genau genug hinsah, aber eigentlich

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wollte sie das gar nicht. Ohne die Frage zu beantworten, drehte sie sich wieder um und hielt nach Osh und den anderen Kindern Ausschau, aber sie waren ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie vorhin aufgetaucht waren. »Ich danke dir, dass du auf mich gewartet hast«, fuhr ihre Mutter fort, nunmehr direkt an den Fischer gewandt und in deutlich versöhnlicherem Tonfall als soeben. Rahn reagierte auf seine gewohnte Art mit einem trotzigen Blick in Leas Richtung -, beließ es darüber hinaus jedoch bei einem Schulterzucken, und Arris Mutter fuhr fort: »Ich habe eine Aufgabe für dich, Rahn - natürlich erst, nachdem du dich ausreichend erholt hast. Sarn hat mir erzählt, dass du die vergangenen Nächte fast ohne Pause an Krons Lager gewacht hast, wofür ich dir danke, denn es wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen oder die meiner Tochter.« »Kron ist mein Freund«, antwortete Rahn in leicht verwirrtem Ton, während sein Blick unstet zwischen den Gesichtern Arris und ihrer Mutter hin und her wanderte. »Trotzdem hätte das noch lange nicht jeder für ihn getan«, beharrte Lea. Sie kam näher. »Immerhin hast du deine eigene Arbeit vernachlässigt. Und dazu noch das, was Sarn von dir verlangt hat…« Sie schüttelte den Kopf und kleidete nicht in Worte, was sie davon hielt, wodurch sie es aber eigentlich nur umso deutlicher kundtat. Die Verwirrung auf Rahns Gesicht hatte mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das Arri schon fast lächerlich erschien. Trotzdem hütete sie sich, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Aus einem Grund, den sie immer weniger verstand, schien ihre Mutter mit jedem Moment wütender auf sie zu werden. Dabei hatte sie doch nur getan, was sie ihr aufgetragen hatte. »Ich soll nicht mit dir reden«, sagte Rahn. »Wer sagt das?«, erkundigte sich Lea. Diesmal antwortete Rahn nicht, aber das schien Lea auch gar nicht erwartet zu haben. Sie nickte nur wissend, und ein flüchtiges, resignierendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie sah sich wie zufällig um, und obwohl dabei auf ihrem Gesicht nicht die mindeste Regung abzulesen war, folgte Arris Blick dem ihrer Mutter doch in eine ganz bestimmte Richtung, und

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sie war nicht überrascht, Sarn dort stehen zu sehen. Er wirkte erschöpft und hatte sich schwer auf seinen Stock gestützt, was ihn aber nicht daran hinderte, mit dem anderen Arm wild zu winken. »Die Sonne geht bald auf, und du musst sehr müde sein«, fuhr ihre Mutter an Rahn gewandt fort. »Vielleicht ist es besser, du schläfst erst ein wenig und versuchst, zu Kräften zu kommen. Später würde ich mich dann gern mit dir unterhalten.« Auch Rahn sah einen Moment lang unsicher in Sarns Richtung, dann aber schüttelte er heftig den Kopf. »Ich weiß nicht, was wir zu…«, begann er, brach dann aber mitten im Wort ab und riss die Augen auf. Arri blickte kurz zu ihrer Mutter und sah etwas matt und goldfarben zwischen ihren Fingern aufblitzen und sofort wieder verschwinden, während Rahn sichtbar um seine Fassung rang. »Ganz, wie du meinst«, fuhr ihre Mutter fort. »Vielleicht hast du Recht. Es ist spät geworden. Wenn du es dir anders überlegst, dann komm einfach später zu uns.« Sie gab Arri einen Wink. »Komm. Lass uns zurückgehen. Ich muss ein neues Heilmittel für Kron zubereiten, und es gibt auch sonst noch eine Menge zu tun.« Arri trat gehorsam an die Seite ihrer Mutter und ging mit ihr die Böschung zum Dorfplatz hinauf, doch sie konnte sich kaum beherrschen, bis sie halbwegs außer Hörweite der anderen waren. »Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?«, fragte sie in vorwurfsvollem Ton. »Ich habe ihm genau das ausgerichtet, was ich sollte.« »Ich hatte dir aufgetragen, ihn um etwas zu bitten«, sagte ihre Mutter betont, »nicht, ihm etwas zu befehlen.« Als ob es jemals irgendeinen Sinn gehabt hätte, Rahn um etwas zu bitten!, dachte Arri trotzig. Sie hütete sich aber, das auszusprechen. Ihre Mutter war in gereizter Stimmung, was seit einer Weile nun wirklich nichts Besonderes mehr war, und es war sicher besser, wenn sie schwieg. So schnell sie es gerade noch konnten, ohne dass es tatsächlich wie eine Flucht aussah, überquerten sie den Dorfplatz und nahmen den kürzeren Weg aus dem Dorf hinaus, den nach Süden in Richtung Schmiede - und des Steinkreises, wie sich Arri mit einem unangenehmen Frösteln bewusst wurde. Schweigend passierten sie die Hütte des Blinden und bogen nach

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rechts ab, ohne dem uralten Kreis stummer, steinerner Wächter auch nur auf Sichtweite nahe zu kommen. Arri atmete erleichtert auf. Die Begegnung mit dem Schamanen kam ihr immer mehr wie ein ferner Traum vor, und hätte ihr jemand gesagt, dass ihr dort nicht Sarn aufgelauert hatte, sondern ein von ihm geschicktes Trugbild, sie hätte es wahrscheinlich geglaubt. Sie verscheuchte den hässlichen Gedanken, erinnerte sich dafür aber plötzlich an etwas anderes, das sie auf ganz andere, aber nicht minder intensive Weise beunruhigte: an das goldfarbene Funkeln, das sie in der Hand ihrer Mutter gesehen hatte. Was konnte es nur gewesen sein? Ihre Mutter besaß kein Gold, und selbst wenn es sich anders verhielte - warum sollte sie es ausgerechnet Rahn zeigen? Das Einzige, was sie damit erreichen würde, wäre, dass er anfinge zu überlegen, wie er es ihr am besten stehlen könnte. Sie machten sich an den kurzen Abstieg zurück zu ihrer Hütte, als es in den Büschen neben ihnen raschelte. Arri fuhr erschrocken zusammen, ihre Mutter jedoch blieb mit einer Bewegung stehen, die nicht die mindeste Überraschung verriet und noch weniger Furcht, und machte eine rasche, beruhigende Geste in ihre Richtung. Dann aber riss Arri überrascht die Augen auf, als ein Schatten aus dem Gebüsch neben ihnen trat und nach einem weiteren Schritt zu einem grimmig blickenden Rahn wurde. »Das ging schneller, als ich dachte«, sagte ihre Mutter. »Wir gehen besser hinein.« Rahn wandte sich nicht nur gehorsam um und ging, sondern eilte sogar voraus. Arri konnte ihre Neugier nun nicht mehr bezähmen. Während sie dem Fischer an der Seite ihrer Mutter folgte, fragte sie: »Was bedeutet das? Was hast du ihm gesagt?« »Etwas, das eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre«, erwiderte ihre Mutter, noch immer in demselben scharfen und für Arri nach wie vor unverständlichen Ton wie bisher. Als sie etwas erwidern wollte, fuhr Lea fort: »Still jetzt. Am Ende hört uns noch jemand. Wie ich diesen Dummkopf kenne, ist er auf direktem Weg hierher gekommen.« Arri sah zwar nicht ein, was daran so schlimm sein sollte, be-

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schleunigte ihre Schritte aber trotzdem, als auch ihre Mutter schneller ging. Sie holten Rahn ein, als er die Stiege erreicht hatte und sich zu ihnen herumdrehte. Er wollte etwas sagen, doch Lea gebot ihm mit einer herrischen Geste gleichzeitig zu schweigen und nach oben in die Hütte zu gehen, und der Fischer gehorchte. Er blieb aber so dicht hinter dem schmalen Eingang stehen, dass es Arri und ihrer Mutter unmöglich wurde, die Hütte zu betreten. Obwohl es drinnen so dunkel war, dass sie Rahn nicht einmal mehr als Schatten ausmachen konnte, geschweige denn sein Gesicht erkennen, glaubte sie doch die Verwirrung zu spüren, die von ihm ausging, zugleich aber auch ein mindestens ebenso großes Misstrauen und eine nunmehr mühsam unterdrückte Wut. Mit einem Mal bekam sie Angst. Vielleicht war es ein Fehler von ihrer Mutter gewesen, den Fischer hierher zu bestellen. »Also, was willst du von mir?«, begann er, und das in einem Ton, der Arris Befürchtungen nicht nur neue Nahrung gab, sondern sie fast zur Gewissheit machte. »Sarn wird wütend auf mich sein, wenn er hört, dass ich hier gewesen bin.« »Dann würde ich es ihm an deiner Stelle auch nicht verraten«, antwortete Lea gelassen. Sie wartete vergebens darauf, dass Rahn den Weg freigab, dann seufzte sie leise, ging weiter und schob ihn dabei einfach zur Seite; ruhig, aber doch so kräftig, dass er hastig einen Schritt zurückstolperte und mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Mach Licht«, sagte sie, an Arri gewandt. Nichts, was sie lieber getan hätte! Aus ihrer Verachtung für Rahn war schlagartig Furcht geworden, die nicht nachließ, sondern mit jedem Augenblick stärker wurde, den ihre Mutter und sie zusammen mit ihm hier drinnen waren. Sie war plötzlich sicher, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, ihn hierher zu bestellen. Begriff ihre Mutter denn nicht, wie gefährlich dieser Mann war, auch wenn sie ihn für einen Dummkopf hielt - oder vielleicht gerade deswegen? Rasch tastete sie sich im Dunkeln zur Feuerstelle, ließ sich in die Hocke sinken und blies hinein. Kurz darauf glomm in der grauen Ascheschicht ein winziger, dunkelroter Funke auf, mit dem es ihr gelang, einen trockenen Zweig in Brand zu setzen und mit diesem

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wiederum die Flamme einer kleinen Öllampe zu entzünden. Rahn fuhr unmerklich zusammen und blinzelte besorgt in das rasch größer werdende Flämmchen. Ihre Mutter hatte jedem im Dorf gezeigt, wie einfach die Herstellung einer solchen Lampe war und wie sicher ihr Betrieb, wenn man einige wenige grundlegende Dinge beachtete; dennoch war sie die Einzige hier, die eine solche Lampe besaß, und Rahns Blick verriet Arri eindeutig, dass er Angst davor hatte, warum auch immer. »Also«, begann er schließlich, unruhig und in jenem angriffslustigen Ton, hinter dem sich pure Angst verbarg. »Was willst du von mir?« Ihre Mutter antwortete nicht gleich, sondern beobachtete einige Herzschläge lang scheinbar konzentriert das Größerwerden der Flamme, bis das milde Licht den gesamten Raum erfüllte und ihn in ein sonderbares Durcheinander aus warmer, gelber Helligkeit und huschenden Schatten tauchte, die man nur lange genug zu beobachten brauchte, um seltsame, gestaltlose Dinge darin zu entdecken. Und auch dann beantwortete sie Rahns Frage nicht sofort, sondern bedachte Arri mit einem zweiten, noch seltsameren Blick, unter dem diese sich immer unwohler zu fühlen begann. So wie schon draußen hatte Arri mehr und mehr das Gefühl, irgendetwas von großer Wichtigkeit verpasst zu haben. Etwas, das sie betraf. »Vor allem möchte ich mich bei dir entschuldigen«, sagte Lea schließlich. »In letzter Zeit hat es eine Menge… Missverständnisse zwischen uns gegeben, die ich bedauere.« Sie warf Arri einen raschen, fast drohenden Blick zu. »Vor allem meine Tochter hat sich den einen oder anderen… Fehltritt geleistet. Es tut ihr Leid. Habe ich Recht?« Die letzte Frage galt Arri, die mit einem verwirrten Blick und dann aber auch mit einem - wenn auch widerwilligen - Nicken in Rahns Richtung darauf reagierte. Die Augen des Fischers wurden schmal. Wenn sie jemals einen Ausdruck von Misstrauen auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt auf Rahns. Er sagte nichts. Auch Arris Mutter schwieg eine Weile und sah ihn nur erwartungsvoll an, dann wurde ihr klar, dass sie keine Antwort bekommen wür-

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de. Sie griff unter ihr Kleid, und als sie die Hand wieder hervorzog, lag eine schimmernde Perle aus Oraichalkos auf ihrer Handfläche. In dem flackernden gelben Licht, das die Öllampe verbreitete, schien der Stein leicht zu pulsieren, wie ein winziges schlagendes Herz, das mit geheimnisvollem Leben erfüllt war. Der Ausdruck von Misstrauen auf Rahns Gesicht blieb, nun aber mischte sich eine jäh aufflammende Gier hinein, die er kaum noch beherrschen konnte. Seine Hand zuckte, als wolle er nach dem Stein greifen, bewegte sich dann aber doch nicht. »Du weißt, was das ist?«, fragte Lea. Rahn starrte sie nur an. Ein weiterer Ausdruck gesellte sich zu dem Durcheinander von Gefühlen in seinem Blick: Verwirrung. »Willst du ihn haben?«, fragte Lea geradeheraus. Für einen kurzen Moment wurde die Gier in Rahns Augen fast übermächtig, dann aber trat er mit einer übertriebenen Bewegung zurück und schüttelte den Kopf. »Du machst dich über mich lustig.« Arri konnte Rahns Reaktion durchaus verstehen. Auch wenn sie nicht viel von solcherlei Dingen verstand und sich auch nie wirklich dafür interessiert hatte, so wusste sie doch, von welch enormem Wert der Stein in der Hand ihrer Mutter war. Nors Halskette zierten mehrere und zum Teil deutlich größere Perlen aus Oraichalkos, doch selbst Sarn war nicht reich genug, auch nur einen einzigen dieser wertvollen Steine zu besitzen. Es hieß, dass man ihr Gewicht je nach Größe und Schönheit mit dem Drei- bis Fünffachen in Gold aufwog. Arri interessierte sich weder für Gold noch für Oraichalkos oder irgendetwas anderes, das sich zwar gewinnbringend eintauschen ließ, man aber weder essen noch zu irgendeinem anderen, wirklich nutzbringenden Zweck verwenden konnte. Selbst als Schmuck erschien es Arri nicht besonders reizvoll. Jede Kette aus bunten Sommerblumen, die sie sich umband oder ins Haar flocht, war hundertmal schöner. Dennoch war nicht zu übersehen, wie schwer es Rahn fiel, ihrer Mutter den Stein nicht einfach aus der Hand zu reißen. »Ich meine es ernst«, beharrte Lea. »Du kannst ihn dir verdienen, wenn du es möchtest.« In Rahns Gesicht arbeitete es. Einen Moment lang war er sichtlich

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hin und her gerissen zwischen Gier, Misstrauen und noch etwas anderem, das Arri nicht genau einordnen konnte, obgleich sie zu spüren glaubte, dass es von allen einander widerstrebenden Gefühlen das stärkste war. Dann jedoch schüttelte er noch einmal und noch entschiedener den Kopf. Es gelang ihm nicht wirklich, den Blick von der honigfarben schimmernden Versuchung auf Leas Handfläche loszureißen, doch er trat entschlossen einen weiteren halben Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, wie um seinen Händen die Gelegenheit zu nehmen, sich selbstständig zu machen und zu tun, wofür er nicht den Mut hatte. »Das ist eine Falle«, behauptete er. Lea lachte leise. »Eine Falle?«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Warum sollte ich wohl etwas so Dummes tun? Und was könnte ich dir schon antun - selbst, wenn ich es wollte?« Sie schüttelte noch einmal den Kopf und schloss dann die Hand um den Stein, und wieder flackerte Gier in Rahns Augen auf. »Nein. Ich weiß, ich hätte es schon längst tun sollen, aber ich entschuldige mich noch einmal in aller Form für alles, was zwischen uns vorgefallen ist. Und vor allem für alles, was Arri gesagt und möglicherweise getan hat. Sie hat noch nicht ganz begriffen, dass Zurückhaltung mitunter eine Tugend sein kann, aber ich versichere dir: Das wird sie schon noch lernen.« Rahn schwieg. Sein Blick tastete misstrauisch über Leas Gesicht, als suche er nach einer Spur von Verrat und Heimtücke darin, wollte aber auch immer wieder ihre Hand suchen, in der der verlockende Schatz verborgen war. Arri konnte ihm regelrecht ansehen, wie angestrengt er nach Worten suchte und sie nicht fand. »Ich will dir nichts vormachen, Rahn«, fuhr Lea fort. »Es ist gewiss nicht so, als hätte ich dich plötzlich in mein Herz geschlossen, und ich erwarte auch umgekehrt nicht, dass du uns alles verzeihst und all das vergisst, was Sarn und ein paar von den anderen dir vielleicht über uns erzählt haben. Aber die Dinge haben sich geändert, und so, wie es aussieht, brauchen Arri und ich Hilfe. Die Hilfe eines Mannes, dem wir vertrauen können. Und wer wäre da besser geeignet als du?« Rahn runzelte die Stirn, und Arri fragte sich besorgt, ob ihre Mutter den Bogen nicht überspannte. Rahn mochte ein Dummkopf sein,

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doch wie viele gerade nicht besonders intelligente Menschen besaß er ein feines Gespür dafür, wenn sich jemand über ihn lustig machte oder versuchte, ihn hinters Licht zu führen. »Wobei?«, fragte er misstrauisch. »Bei verschiedenen Dingen«, antwortete Lea. Sie schüttelte hastig den Kopf, wie um jedem Widerspruch des Fischers von vornherein zuvorzukommen. »Keine Sorge - niemand wird es erfahren, und selbst wenn, ich verlange nichts von dir, was dir oder irgendeinem hier im Dorf schaden würde.« »Was gäbe es denn, was du und deine Tochter nicht allein viel besser könntet?«, erkundigte sich Rahn misstrauisch. »In all den Jahren habt ihr keinen von uns gebraucht.« »Das ist wahr«, erwiderte Lea. »Aber die Dinge ändern sich. Ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, die ihr nicht habt, und ich weiß manches, was ihr nicht wisst. Letzten Endes bin ich jedoch nur eine Frau, und meine Tochter bislang noch nicht einmal das. Ich brauche einen Mann für gewisse Tätigkeiten, zu denen ich selbst nicht in der Lage bin.« Sie hob wieder die Hand und ließ ihn den Stein sehen. »Du kannst diesen Stein haben, und wenn du alles zu meiner Zufriedenheit erledigst, bekommst du im nächsten Frühjahr einen zweiten dazu, sobald die Saat ausgebracht ist. Länger werde ich deine Dienste wahrscheinlich nicht benötigen.« Rahn dachte angestrengt nach, aber schließlich - und ganz offensichtlich nicht nur zu Arris Überraschung - schüttelte er noch einmal den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich traue dir nicht. Und selbst wenn was sollte ich damit? Sarn würde ihn mir ohnehin wieder wegnehmen.« Lea starrte ihn einen Moment lang fast fassungslos an, und als sie dann endlich antwortete, umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. »Du musst ihm nicht erzählen, dass du ihn hast. Du kannst diesen Stein und den anderen nehmen und in ein anderes Dorf gehen. Du wärst ein reicher Mann. Du könntest dir jede Frau aussuchen, die du haben willst, oder auch gleich mehrere, ganz wie es dir gefällt. Was erwartet dich hier?« Sie war klug genug, nicht hinzuzufügen, dass er immer ein armer

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Fischer bleiben würde, dem die anderen nur deshalb nicht ganz offen ins Gesicht sagten, was sie von ihm hielten, weil sie seine Fäuste fürchteten; aber das schien auch gar nicht nötig zu sein. Für die Dauer von zwei, drei hämmernden Herzschlägen starrte Rahn sie so wütend an, als hätte sie es gesagt. »Und was… müsste ich dafür tun?«, fragte er schließlich stockend. »Nichts, dessen du dich schämen müsstest«, antwortete Lea, »oder das die anderen nicht erfahren dürften. Ich will, dass du Augen und Ohren für mich offen hältst und mir alles berichtest, was mit den Fremden zu tun hat. Ich will wissen, ob es diese Spuren wirklich gibt oder ob Sarn sie nur erfunden hat, um ein bisschen Angst zu verbreiten.« »Dann hat er also Recht«, zischte Rahn. »Sie haben dich vorausgeschickt. Du gehörst zu ihnen und bist nur hier, um uns auszuspähen.« So unsinnig dieser Vorwurf auch war, fand es Arri doch empörend, ihn aus Rahns Mund zu hören. Ihre Mutter jedoch lachte nur leise und schüttelte spöttisch den Kopf. »Dummkopf. Wäre es so, würde ich dann ausgerechnet dich bitten, mir zu helfen? Nein. Ich gehöre weder zu diesen Fremden, noch weiß ich, wer sie sind. Ganz im Gegenteil. Ich fürchte, dass Sarn die Gefahr unterschätzt - sollte es diese fremden Krieger tatsächlich geben. Jemand muss ihn warnen.« »Und warum tust du es nicht selbst?« »Weil er mir ganz gewiss nicht glauben würde«, erwiderte Lea. Das gab Rahn für einige Augenblicke Stoff zum Nachdenken, während Arri ihre Mutter verwirrt ansah. Sie hatte ihr ja vor ein paar Tagen selbst gesagt, dass es an der Zeit war, sich einen Freund zu kaufen, aber warum ausgerechnet Rahn? Von allen im Dorf - Sarn selbst einmal ausgenommen - war Rahn womöglich derjenige, dem sie am allerwenigsten trauen konnten, vielleicht oder gerade weil sie ständig mit ihm zu tun hatten. »Und was sonst noch?«, fragte Rahn. Wieder suchte sein Blick die schimmernde, goldgelbe Träne auf Leas Handfläche, und diesmal verharrte er lange genug darauf, um auch Arri klarzumachen, dass er seine Entscheidung im Grunde schon gefällt hatte und jetzt nur noch nach Gründen suchte, um sie vor sich selbst zu rechtfertigen.

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»Nicht allzu viel«, antwortete Lea, »aber auch nicht wenig. Ein paar Botengänge, dann und wann. Vielleicht werde ich dich zu einem der anderen Stämme schicken, um das eine oder andere für mich zu holen. Das Wichtigste aber ist meine Tochter.« Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und starrte ihre Mutter aus aufgerissenen Augen an, und auch Rahn wirkte kaum weniger fassungslos. »Deine Tochter?«, wiederholte er verständnislos. Arri wollte selbst etwas einwenden, aber ihre Mutter warf ihr einen so zornigen Blick zu, dass sie es nicht wagte, auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben. »Ich möchte, dass du Arri beschützt. Du wirst ein Auge auf sie werfen, wann immer sie die Hütte verlässt und ich nicht bei ihr bin, und du wirst mir alles berichten, was andere über sie sagen. Insbesondere Sarn.« »Aber…«, begann Arri. »Schweig!«, herrschte ihre Mutter sie an. »Was immer du sagen willst, spare es dir.« Sie wandte sich wieder an den Fischer. »Sind wir uns einig? Du wirst Arri beschützen, und du weißt, was ich damit meine.« Wieder verging eine kleine Ewigkeit, in der Rahn nichts anderes tat, als Arris Mutter anzustarren, aber dann nickte er, auch wenn man ihm ansehen konnte, wie schwer es ihm fiel. »Bis zum nächsten Frühjahr.« »Bis die Saat ausgebracht ist«, bestätigte Lea. »Wenn das letzte Feld bestellt ist, bekommst du deinen Lohn und bist frei.« Rahn nickte. Er sah nicht nur so aus, als begänne er jetzt schon seine Entscheidung zu bedauern, sondern wirkte auch verstörter als zuvor, was Arri nur zu gut nachempfinden konnte, denn ihr erging es nicht wesentlich anders. Was meinte ihre Mutter mit wenn das letzte Feld bestellt ist? Nor würde sie kaum so lange in Ruhe lassen! »Dann geh jetzt«, sagte Lea. »Bevor noch jemand merkt, dass du hier bist. Ich werde Arri zu dir schicken, wenn ich dich brauche.« Rahn ging so schnell, dass es zu nichts anderem als einer Flucht wurde, und Arri wartete nicht einmal, bis seine Schritte draußen auf der Stiege verklungen waren, bevor sie sich auf dem Absatz umdreh-

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te und ihre Mutter anfuhr: »Was bedeutet das? Was soll das heißen, er soll auf mich aufpassen? Wieso ausgerechnet er? Und wieso brauche ich überhaupt jemanden, der über mich wacht?« Die Reaktion ihrer Mutter war anders, als sie erwartet hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihr einen so unverschämten Ton niemals durchgehen lassen, jetzt aber sah sie ihre Tochter nur einen Atemzug lang traurig an und sagte dann leise: »Rahn spioniert uns sowieso hinterher. Ist es dann nicht viel klüger, ihn für unsere Zwecke einzubinden?«

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6 Arri hätte selbst nicht genau sagen können, was sie erwartet hatte - doch für die nächsten fünf oder sechs Tage geschah rein gar nichts Außergewöhnliches, sah man einmal davon ab, dass Rahn ihr ganz offensichtlich aus dem Weg ging und sie selbst alle Hände voll zu tun hatte, um ihren kleinen Garten in Schuss zu halten und ihr sonstiges Tagwerk zu verrichten. Anfangs hatte sie noch ein paar Mal versucht, mit ihrer Mutter zu reden, aber stets entweder gar keine oder aber eine so abweisende Antwort erhalten, dass sie es bald aufgegeben und sich in beleidigtes Schweigen gehüllt hatte. Ihrer Mutter schien das nur recht zu sein. Anders als Arri es erwartet hätte, rief sie sie nicht zur Ordnung, sondern beließ es dabei, ihr dann und wann einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen - und ihr selbstverständlich die unangenehmsten und schwersten Arbeiten aufzutragen, die ihr nur einfielen. Wenigstens kam es Arri so vor. Jeden Morgen schickte Lea sie mit frischem Verbandszeug und Salbe zu Kron, damit sie seine Wunden behandelte und sie selbst über die Genesung des Jägers auf dem Laufenden hielt. In den ersten ein oder zwei Tagen war Arri sicher, dass ihre Mutter das nur tat, um sie zu bestrafen, denn wann immer Kron sich dazu aufraffen konnte, überschüttete er sie mit den wüstesten Flüchen und Verwünschungen; und wenn er dazu zu müde oder zu erschöpft war, starrte er sie wütend und hasserfüllt zugleich an. Außerdem wurde der Weg zu seiner Hütte und wieder zurück jedes Mal zur reinen Qual für sie. Einmal war sie Sarn begegnet, der zwar nichts gesagt hatte, aber das war auch nicht nötig gewesen - der Blick, mit dem er sie gemustert hatte, war schlimmer gewesen als alles, was er hätte sagen können; ein anderes Mal waren ihr Osh und einige der anderen Kinder aus dem Dorf nachgelaufen und hatten ihr etwas hinterhergeschrien, was sie einfach nicht hatte verstehen wollen, ja, eines von ihnen hatte es sich sogar nicht verkneifen können, ihr einen Erdklumpen nachzuschleudern, der sie aber weit verfehlt hatte. Arri war mehr als wütend auf ihre Mutter. Sie schickte sie nicht nur ausgerechnet zu dem Men-

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schen im Dorf, der sie am allerwenigsten sehen wollte, sondern hatte ihr auch noch diesen Irren Rahn auf den Hals gehetzt. Dass sie ihn in all der Zeit nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekam, änderte überhaupt nichts an ihrem Zorn, ja, auf eine gewisse Art schien es ihn eher noch schlimmer zu machen, denn ein Rahn, den sie sah, war ihr hundertmal lieber als einer, den sie nicht sah und der hinter ihrem Rücken wer weiß was ausbrütete. Dann aber geschah etwas Seltsames. Arri fühlte sich von der schrecklichen Aufgabe, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, noch immer gleichermaßen angewidert wie gedemütigt; Krons Armstumpf heilte zwar gut, und nicht nur das, sondern auch mit geradezu erstaunlicher Schnelligkeit, aber er bot trotzdem einen schrecklichen Anblick. Vielleicht waren es nicht einmal so sehr die entzündete Narbe und das rote, nässende Fleisch, von dem trotz allem noch immer ein leicht brandiger Geruch ausging, und ganz gewiss nicht Krons Beleidigungen und Flüche, die sie schon nach den ersten Besuchen kaum noch wahrnahm. Nein, was ihre Besuche in seiner Hütte so schrecklich machte, das war der Umstand, dass ihr sein Anblick die Verwundbarkeit Krons - und damit auch ihre eigene - vor Augen führte. Kron und seine beiden Brüder waren die mit Abstand stärksten Männer im Dorf gewesen. Das war stets so gewesen, und es hatte für Arri nie einen Zweifel daran gegeben, dass sie es auch bleiben würden. Nichts und niemand, nicht der furchtbarste Sturm, nicht der bitterste Winter und nicht das schrecklichste Raubtier, so hatte sie immer geglaubt, konnte diesen drei Männern etwas anhaben; wahrscheinlich noch nicht einmal ein Höhlenbär. Nun war einer von ihnen tot und würde nie wiederkommen, der andere ein Krüppel, der nur durch das Wissen ihrer Mutter und die Gnade des Schicksals überhaupt noch lebte, und der Dritte, auch wenn er sich alle Mühe gab, sich nichts von seinen wahren Gefühlen anmerken zu lassen, ein gebrochener Mann, in dessen Augen eine Angst Einkehr gehalten hatte, die nie wieder daraus verschwinden würde. Arri fühlte sich verwundbar und hilflos, wenn sie in der Hütte des Jägers war. Was immer diesen drei Männern wirklich zugestoßen sein mochte - wie konnte irgendjemand hier im Dorf glauben, einer

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Gefahr Herr zu werden, mit der nicht einmal Grahl und seine Brüder fertig geworden waren? Aber zugleich geschah noch etwas anderes, dass ihr am Anfang nicht einmal klar war. Ihr Widerwille, die vereiterten, übel riechenden Verbände zu lösen und Krons Wunde zu säubern, wurde keinen Deut schwächer. Ganz im Gegenteil schien er immer noch zuzunehmen, fast so als gäbe es Dinge, an die man sich nicht gewöhnen konnte, sondern die ganz im Gegenteil immer schlimmer wurden, je öfter man sie tat. Und trotzdem stellte sie schon bald etwas ganz Erstaunliches fest: Krons Wunde heilte langsam, aber sie heilte, und Arri begann Freude daran zu empfinden. Hatte sie sich noch am Anfang dazu zwingen müssen, den schrecklichen Stumpf auch nur anzusehen, so erfüllte sie nun jeder noch so kleine Fortschritt mit Freude. Bald musste sie sich nicht mehr dazu zwingen, sondern untersuchte die Wunde ganz im Gegenteil höchst aufmerksam und nahm jedes noch so winzige Zeichen einer Besserung voller Freude zur Kenntnis. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, mit ihrer Mutter kein Wort mehr zu wechseln, bis diese von sich aus das Schweigen brach und zumindest die Andeutung einer Entschuldigung über die Lippen brachte, ertappte sie sich doch schon am dritten Tag dabei, ihr voller Stolz von den Fortschritten zu berichten, die Krons Heilung machte. Ihre Mutter sagte auch dazu nichts, aber in ihren Augen erschien ein sonderbar warmer Ausdruck, den Arri zwar nicht wirklich verstand, der aber dennoch irgendetwas zwischen ihnen zu bereinigen schien. Von diesem Augenblick an begriff sie sehr viel besser als zuvor, warum ihre Mutter das hier tat und die Menschen trotz allem, was sie ihr angetan hatten, noch immer heilte: weil es einfach ein gutes Gefühl war, einem anderen zu helfen. Zur selben Zeit setzten sie ihre nächtlichen Ausflüge in den Wald fort, und dabei schienen ihr Streit und die düsteren Wolken, die am Horizont des Schicksals aufgetaucht waren, gleichermaßen vergessen zu sein; als führten sie nicht nur zwei Leben - ein geheimes und ein für jeden sichtbares - , sondern wären in diesen unterschiedlichen Leben auch verschiedene Menschen. Der Groll auf ihre Mutter war

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ebenso vergessen wie deren Hass und die Verbitterung - und auch die sonderbare Mischung aus Ungeduld und Sorge, die Arri stets in ihren Augen las, wenn sie glaubte, ihre Tochter bemerke es nicht. Sie lernte viel in diesen Nächten. Ihre Mutter geizte zwar sehr viel mehr mit Lob als mit Tadel, vor allem dann, wenn sie der Meinung war, dass Arri irgendetwas nicht schnell genug begriff oder sich unnötig dumm anstellte; und dennoch spürte sie, dass sie im Grunde sehr zufrieden mit dem war, was sie sah. Die größte Freude bereiteten ihr die heimlichen Augenblicke, die sie auf der abgelegenen Waldlichtung mit der Unterweisung in ihr bislang vollkommen unbekannten Kampfarten verbrachten, immer sorgsam darauf bedacht, dass niemand auch nur im Entferntesten etwas davon mitbekam. Es war gar nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn Sarn oder jemand anderes im Dorf davon Wind bekäme. Das Kriegshandwerk war Männersache, und die knappen Unterweisungen im Umgang mit Pfeil und Bogen, Knüppeln oder den wenigen kostbaren Kupfer- und Bronzewaffen war etwas, um das jedes weibliche Wesen einen großen Bogen machte. Es war schon außergewöhnlich genug, dass man einer Frau den Besitz eines Schwertes gestattete, und wohl nur auf den Umstand zurückzuführen, dass man sie als Fremde nie wirklich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen hatte. Aber wenn Sarn erfahren hätte, dass Lea ihre Tochter in der Kampfkunst mit eben diesem Schwert unterwies - er hätte zweifellos damit den Grund gefunden, um ihr endgültig den Prozess zu machen. Es waren heimliche, aufregende Begegnungen mit einer ganz neuen, fremden Welt, in denen Arri alles um sich herum vergaß, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - sie den Zwiespalt ihrer Mutter spürte. Offensichtlich erwies sie sich als äußerst gelehrige Schülerin. Schon nach wenigen Tagen forderte ihre Mutter sie nicht mehr dazu auf, sie mit einem Stock zu schlagen, sondern nahm sich ihrerseits einen kräftigen Ast, mit dem sie die Hiebe abwehrte und hin und wieder auch einen eigenen Treffer anbrachte; zumeist dann, wenn sie der Meinung war, dass Arri leichtsinnig oder sich ihrer Sache zu sicher wurde, oder vielleicht auch etwas fester zugeschlagen hatte, als wirklich notwendig war. In diesem einen besonderen Punkt sagte sie

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nie etwas und lobte ihre Tochter kein einziges Mal, doch das war auch nicht nötig. Was nichts daran änderte, dass Arri regelmäßig mit frischen blauen Flecken und schmerzenden Muskeln nach Hause zurückkehrte, kurz bevor die Sonne aufging. Zehn Tage, nachdem Kron und sein Bruder von der Jagd heimgekehrt waren, fand er das erste Mal wieder die Kraft, aufzustehen und einige wenige Schritte zu laufen. Arri jubilierte innerlich, auch wenn der Jäger sie um ein Haar geschlagen hätte; er hatte seine Kräfte wohl überschätzt und war nach wenigen Schritten gestürzt, und selbstverständlich gab er ihr die Schuld an seinem Missgeschick, ebenso wie an dem Umstand, dass er nahezu auf die Hälfte seines Gewichts abgemagert war und noch immer unter Fieber und schlechten Träumen litt. Kron befand sich nicht nur eindeutig auf dem Weg der Besserung - er würde leben. Und früher oder später, so hoffte sie wenigstens, würde er sich vielleicht sogar mit seinem Schicksal abfinden und begreifen, dass er Arri für ihre aufopfernde Pflege dankbar sein musste. Der Gedanke erfüllte sie mit einer solchen Zufriedenheit, dass sie wider besseres Wissen zu ihm hineilte und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen - mit dem Ergebnis allerdings, dass sie seinem wütenden Schlag nur deshalb entging, weil Kron nach ihr hieb und sich dabei auf einen Arm zu stützen versuchte, den er gar nicht mehr hatte. Arri war nicht dumm genug, es ein zweites Mal zu versuchen, aber es gelang ihr trotzdem nicht, wirklich zornig auf Kron zu sein. Die wenigen Schritte, die der Jäger getan hatte, erfüllten sie mit einer solchen Freude, dass sie auf der Stelle herumfuhr und im Laufschritt loseilte. Sie musste ihrer Mutter von Krons Fortschritten berichten. So schnell sie nur konnte, stürmte sie die Böschung hinauf und über den Dorfplatz, auf dem ein reges Treiben herrschte. Vor einer Hütte hatten sich ein paar Frauen und ältere Kinder zusammengehockt, um auf alte Art mit Reibsteinen Korn zu mahlen. An einer anderen Ecke waren zwei Frauen damit beschäftigt, eine einfache Mahlzeit aus Fladenbrot und Ackerbohnen für die Männer und Frauen vorzubereiten, die sich den Rücken bei der harten Arbeit auf den Feldern mit den Sicheln krumm machten oder unter großem Körpereinsatz be-

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reits geerntete Dinkel- und Nacktgersteähren weiterverarbeiteten. Dazwischen wuselten die kleinen Kinder herum, die noch keine Aufgaben übernehmen konnten, und ganz in der Nähe der Hütte, die den neuen Gewichtswebstuhl mit den unzähligen Steingewichten beherbergte, der unter Anleitung ihrer Mutter und mit Arris Hilfe im letzten Jahr gebaut worden war, türmten gerade zwei Männer frisch geschnittenen Flachs auf, der noch gebrochen und gesponnen gehörte. Arri nahm weder die verwunderten Blicke zur Kenntnis, die ihr einige der Männer und Frauen zuwarfen, noch die Schmährufe, mit denen sie Osh und ein paar der anderen Kinder bedachten. Auch Kron schrie ihr irgendetwas hinterher, und als sie den Dorfplatz verließ und in Richtung ihrer Hütte davoneilte, folgte ihr ein ganzer Chor von Beschimpfungen und Flüchen, den sie im ersten Moment gar nicht verstand, bis sie das Quieken und Grunzen wahrnahm, das sie wie die Kielspur eines kleinen Schiffes hinter sich herzog; offensichtlich hatte sie die sich sonst im Schlamm unter den Pfostenhäusern suhlenden Ferkel durcheinander gewirbelt, was deren Besitzer nicht gerade begeisterte. Aber welche Rolle spielte das schon? Sie beschleunigte ihre Schritte nur noch mehr, rannte den abschüssigen Weg hinab und rief bereits nach ihrer Mutter, noch bevor sie die Hütte erreicht hatte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Stiege hinauf und sprang so ungestüm durch den Eingang, dass sie sich um ein Haar in den Muschelvorhang verheddert hätte und alle Mühe aufbieten musste, um nicht zu stürzen. Ihre Mutter war nicht da. Die Hütte war leer, und Arri war nur im allerersten Moment enttäuscht, dann aber eindeutig beunruhigt. Seit dem letzten Zusammenstoß mit Sarn verließ ihre Mutter ihr Zuhause so gut wie gar nicht mehr - zumindest nicht tagsüber - und erst recht nicht, ohne ihr vorher Bescheid zu geben; so, wie sie umgekehrt auch Arri eingeschärft hatte, nirgendwo allein hinzugehen, wenn sie nichts davon wusste. Aus ihrem Hochgefühl wurde schlagartig eine vollkommen übertriebene Sorge. War irgendetwas geschehen? Arri warf einen flüchtigen Blick in den zweiten Raum - immerhin wäre es ja möglich gewesen, dass ihre Mutter dort war, um ein neues Heilmittel für Kron zusammenzumischen -, dann verließ sie die Hüt-

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te fast ebenso rasch wieder, wie sie hereingekommen war, und sah sich hilflos um. Plötzlich hatte sie Angst, und sie konnte nicht einmal genau sagen, warum oder gar wovor. Sie versuchte vergeblich, sich selbst einzureden, dass sie sich albern benahm; schließlich war sie kein kleines Kind mehr, dem man es nachsehen konnte, dass es vor Angst zu weinen anfing, wenn es im Dunkeln aufwachte und seine Mutter nicht gleich sah. Lea war vielleicht nur in den Wald gegangen, um ein paar Kräuter zu suchen, oder hinauf ins Dorf, um Eier oder Fleisch einzutauschen. Zweifellos würde sie binnen kurzem wieder hier sein; wenn es sich anders verhielte, so hätte sie ihr gewiss Bescheid gesagt, bevor sie sie zu Kron schickte. Diese Gedanken mochten treffend und richtig sein, aber sie halfen nicht. Ganz im Gegenteil begann Arris Herz immer heftiger zu klopfen, und ihre Furcht nahm noch zu. Sie fühlte sich verloren und so einsam und hilflos, als wäre sie mitten in der Nacht allein im Wald ausgesetzt worden. Dieses Gefühl war durch und durch albern und geradezu kindisch, aber auch dieser Gedanke half nicht. Aus ihrer Furcht drohte ganz im Gegenteil Panik zu werden - und wäre es vielleicht auch geworden, hätte sie sich nicht in diesem Moment umgedreht und ihre Mutter gesehen, die soeben gebückt und mit sehr schnellen Schritten aus der Hütte des Blinden kam. Arri verschwendete nicht einmal einen einzigen Gedanken an die Frage, was ihre Mutter ausgerechnet dort tat, sondern rannte los und konnte sich gerade noch beherrschen, ihre Mutter nicht erleichtert in die Arme zu schließen, als sie endlich bei ihr angelangte. »Arri?«, murmelte ihre Mutter überrascht. »Ist etwas passiert?« Sie wirkte verwirrt und auch ein ganz kleines bisschen beunruhigt. Arris aufgewühlter Zustand war ihr nicht entgangen. »Kron«, sagte sie. »Kron?«, wiederholte ihre Mutter. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Augen. »Was ist mit ihm?« »Er ist… aufgewacht«, antwortete Arri stockend. »Und was ist daran so Besonderes?«, wollte ihre Mutter wissen. »Bisher ist er doch eigentlich jeden Morgen aufgewacht, oder?« Arri zog es vor, nicht weiter auf den spöttischen Unterton in der

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Stimme ihrer Mutter zu achten. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das meine ich nicht. Er ist aufgestanden. Aus eigener Kraft.« »Und das ist auch wirklich alles?«, vergewisserte sich ihre Mutter. Arri sah ihr an, dass sie sich Mühe gab, nicht zornig zu klingen. »Er wird wieder gesund«, antwortete sie. »Er ist ganz von allein aufgestanden und ein paar Schritte weit gelaufen!« »Das sind gute Neuigkeiten«, sagte ihre Mutter, behielt sie aber weiter aufmerksam im Auge und fügte schließlich mit einem angedeuteten, spöttischen Lächeln hinzu: »Aber so richtig bei Kräften ist er anscheinend noch nicht. Sonst wäre er zweifellos längst hier aufgetaucht, um mir den Hals umzudrehen.« »Bei mir hat er es jedenfalls schon mal versucht«, sagte Arri. »Aber ich war schneller als er.« »Dann wollen wir hoffen, dass das auch noch eine Weile so bleibt«, sagte ihre Mutter lachend. »Schließlich brauche ich dich noch. So lange Kron seinen Zorn an dir auslässt, kommt er wenigstens nicht hierher.« Arri tat ihrer Mutter den Gefallen, über diese Worte zu lachen, aber sie verspürte trotzdem eine leise Enttäuschung. Sie hatte erwartet, dass sie sich mehr über Krons Genesung freuen würde, zumal sie ja einen ungleich größeren Anteil daran hatte als Arri. Sie zerbrach sich den Kopf über eine Antwort, die ihre Mutter nicht verärgern oder gar wütend machen würde, doch sie kam nicht dazu, denn aus der Hütte des Blinden drang Lärm, und nur einen Augenblick später tastete sich der alte Mann mit zitternden Händen ins Freie. »Du bist ja immer noch da«, keifte er. Im ersten Moment war Arri verwirrt, denn die weit offen stehenden, glasigen Augen des Alten blickten genau in ihre Richtung, sodass sie dachte, die Worte gälten ihr, dann aber begriff sie, dass er mit ihrer Mutter sprach. »Du sollst weggehen, habe ich gesagt! Ich will nicht mit dir reden! Du hast mir schon genug angetan! Geh!« Arris Mutter setzte zu einer Antwort an, und man konnte ihr ansehen, wie scharf sie ausfallen würde - aber dann beließ sie es bei einem bedauernden Achselzucken und gab Arri gleichzeitig mit einer besänftigenden Handbewegung zu verstehen, dass sie schweigen

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sollte. Der blinde Mann konnte die Geste nicht sehen, aber er schien sie dennoch irgendwie gespürt zu haben, denn seine erloschenen Augen suchten in Arris Richtung und fixierten dann einen Punkt ein gutes Stück neben ihr. »Ist da noch jemand?«, schnappte er. »Wer ist da? Was willst du? Hast du deine Tochter mitgebracht, damit ihr euch gemeinsam über mich lustig machen könnt?« »Niemand macht sich über dich lustig, Achk«, sagte Lea sanft. »Ich will dir helfen. Ich meine es ernst. Denk einfach ein wenig über meinen Vorschlag nach. Ich komme heute Abend zurück und bringe dir etwas zu essen. Dann kannst du mir immer noch antworten.« »Du kannst mir etwas zu essen bringen, denn das bist du mir schuldig«, keifte der blinde Mann, »aber es bleibt bei meiner Antwort. Und jetzt geh, nimm dein Balg und verschwinde!« Arri wollte etwas sagen, aber ihre Mutter wiederholte die hastige, abwehrende Handbewegung und schüttelte darüber hinaus den Kopf. Der blinde Mann keifte weiter mit schriller Stimme hinter ihnen her, als sie sich abwandten und nebeneinander zur Hütte gingen, aber nun kamen nur noch sinnlos brabbelnde Laute über seine Lippen. Was immer er gerade gemeint haben mochte, der klare Moment war vorbei, und Arri spürte, dass es vollkommen zwecklos wäre, ihre Mutter um eine Erklärung zu bitten. Auch das war etwas, was sie zwar nicht erst jetzt, in diesem Moment, aber tatsächlich zum ersten Mal in ganzer Tragweite begriff: Seit dem Tag von Nors Besuch war ihre Mutter immer verschlossener und abwesender geworden, auch ihr gegenüber. Das, was sie nachts gemeinsam im Wald taten und beredeten, änderte nichts daran, ganz im Gegenteil; je weiter ihre Mutter die Türen der Vergangenheit öffnete und je tiefer der Einblick wurde, den sie Arri in ihr früheres Leben gewährte, desto verschlossener und kälter schien sie tagsüber zu werden. Manchmal hatte Arri das Gefühl, es tatsächlich mit zwei vollkommen unterschiedlichen Menschen zu tun zu haben, die sich mit jedem Tag, der verging, noch weiter voneinander entfernten; als wäre die eine Lea, die, an deren Seite sie nun ging, nicht mit dem einverstanden, was die andere sie nachts lehrte und ihr riet. Natürlich war dieser Gedanke verrückt, aber seit dem

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Tag, an dem der mächtige Hohepriester zu ihnen gekommen war, war überhaupt nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. »Es geht Kron also schon besser«, nahm Lea das unterbrochene Gespräch wieder auf, während sie - langsamer werdend - den Pfad hinunterging. Der blinde Mann schrie immer noch hinter ihnen her, und Lea hatte die Stimme ganz leicht erhoben, wie um ihn zu übertönen - obwohl das nicht wirklich nötig war. Vielmehr hatte Arri das Gefühl, dass sie sie fast krampfhaft davon abhalten wollte, eine bestimmte Frage zu stellen. »Und? Wie gefällt dir das?« Arri verstand nicht wirklich, was ihre Mutter wissen wollte, und sah sie nur verwirrt an. »Wie fühlst du dich dabei?«, meinte Lea. »Immerhin hattest du einen nicht geringen Anteil an seiner Genesung.« »Das Meiste hast du doch getan«, erwiderte Arri. »Das wird Kron anders sehen, fürchte ich«, seufzte ihre Mutter. »Und ohne deine Hilfe wäre er bestimmt nicht so bald wieder zu Kräften gekommen.« Sie sah Arri abschätzend an. »Was ist es für ein Gefühl?« »Was für ein Gefühl?« »Einem Menschen zu helfen«, erklärte Lea, hob aber auch zugleich abwehrend die Hand, als Arri etwas erwidern wollte. »Ich meine: einem Menschen wirklich zu helfen. Einem Menschen wie Kron, dem du eigentlich nichts schuldig bist und an dessen Schicksal dich auch keine Schuld trifft.« Arri verstand immer weniger, worauf ihre Mutter eigentlich hinauswollte, und sie wollte dieses Unverständnis gerade in Worte kleiden, da erinnerte sie sich plötzlich an das sonderbare Gefühl, das sie verspürt hatte, als sie vorhin Krons Wunde verbunden hatte, und plötzlich glaubte sie zu verstehen, was ihre Mutter meinte. Es war ein wunderbares Gefühl, einem anderen helfen zu können, auch - und vielleicht sogar gerade - einem Fremden, dem sie diese Hilfe nicht schuldig war. Sie sagte nichts, sondern nickte nur, aber dieses Nicken schien ihrer Mutter Antwort genug zu sein, denn für einen Moment erschien ein Ausdruck ehrlicher Freude in ihren Augen, wie Arri sie schon viel zu lange nicht mehr darin gesehen hatte.

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»Ich werde später hinauf zum Steinkreis gehen«, fuhr ihre Mutter fort, wobei sie sowohl das Thema als auch die Tonlage wechselte. »Ich wollte mich dort mit jemandem treffen und möchte, dass du mich begleitest.« Sie warf einen Blick in den Himmel hinauf. »Lauf also nicht mehr allzu weit weg.« Arri hatte nicht vorgehabt, überhaupt irgendwo hinzulaufen - zumindest nicht, bis ihre Mutter das Wort Steinkreis ausgesprochen hatte. Konnte es sein, dass sie auf irgendeine rätselhafte Weise von ihrer Begegnung mit Sarn in dem alten Heiligtum erfahren hatte? »Mit… mit wem willst du dich denn dort treffen?«, stotterte sie. »Das wirst du schon noch früh genug sehen«, erwiderte ihre Mutter in einem Ton, der Arri klarmachte, wie sinnlos es war, weiter zu fragen. Das stimmte Arri nicht gerade ruhiger. Ihr schlechtes Gewissen wurde geradezu übermächtig, und als sie die Hütte erreichten, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um vor ihrer Mutter die Stiege hinaufzueilen. Aber Lea hielt sie mit einer raschen Geste zurück. »Geh in den Wald und suche noch ein paar Blätter, um Krons Verband zu erneuern. Wenn wir zurück sind, möchte ich mir den Arm selbst ansehen.« Arri sah ihre Mutter einen Moment lang zweifelnd an - Lea hatte einen Vorrat von bereits gereinigten Blättern im Haus, der ausreichte, um Krons Arm bis zum nächsten Vollmond zu verbinden -, aber sie wandte sich dann gehorsam und mehr als nur ein bisschen beunruhigt um und hatte den Waldrand schon fast erreicht, als ihre Mutter, die bereits auf der obersten Stufe der Stiege stand, noch einmal stehen blieb und ihr nachrief: »Und bring noch ein paar von den braunen Pilzen mit - die mit den gerippten Köpfen.« »Aber dazu…«, begann Arri. »Musst du bis zur Quelle, ich weiß«, fiel ihr die Mutter ins Wort. »Ein Grund mehr, dich zu beeilen. Wenn du dich sputest, kannst du rechtzeitig zurück sein. Und nimm genug von den Pilzen. Am besten einen ganzen Korb.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer auffordernden Geste auf den kleinen Anbau neben der Hütte hin, in der sie die Körbe und allerlei anderes Werkzeug sowie verschiedene Gebrauchsgegenstände untergebracht hatte, die sie nicht tagtäglich benötigten, und obwohl sich in ihrem Gesicht nicht ein einziger

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Muskel rührte, gelang es ihr trotzdem, mit einem Male deutlich unwilliger auszusehen; auf die ganz bestimmte Art, die ein Fremder vielleicht nicht einmal bemerkt hätte, die Arri aber zu der Überzeugung brachte, dass es jetzt eindeutig besser war, nicht noch einmal zu widersprechen. Trotzdem hätte sie es um ein Haar getan. Es war nicht der Weg zur Quelle, den sie scheute. Er war nicht so weit, dass er wirklich zur Mühe werden konnte, und seit etlichen Tagen ging sie ihn schließlich jede Nacht. Aber die Pilze? Sie hatte keine Ahnung, wozu ihre Mutter sie plötzlich so dringend brauchte gewiss nicht, um ein neues Heilmittel für Kron daraus zu machen -, aber sie waren selten und wuchsen nur an einer einzigen Stelle, nämlich zwischen den Felsen auf der Waldlichtung, und auch dort nur in geringer Zahl. Arri glaubte nicht, dass sie auch nur den kleinsten der drei Körbe, die ihre Mutter besaß, voll bekommen würde, selbst wenn sie die Lichtung und ihre gesamte Umgebung absuchte. Ihre Mutter wollte sie wegschicken, und das für eine geraume Zeit, aber warum? Und warum sagte sie nicht einfach, dass sie allein sein wollte? Missmutig ging sie zum Schuppen, griff sich den kleinsten Korb aus geflochtenen Weidenzweigen und machte sich auf den Weg. Trotz der fast unmöglich zu lösenden Aufgabe, die ihr die Mutter aufgetragen hatte, ließ sie sich Zeit. Sie würde sowieso den Korb kaum zur Hälfte voll bekommen, und sie war darüber hinaus auch sehr sicher, dass Lea die Pilze ganz gewiss nicht nachzählen würde, ganz im Gegenteil - vermutlich würde sie ihnen ebenso wenig Beachtung schenken wie den Blättern, die sie ihr völlig überflüssigerweise zu holen aufgetragen hatte, wenn sie nur lange genug wegblieb, um… Arri blieb wie vom Donner gerührt stehen, riss die Augen auf und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, als ihr klar wurde, warum ihre Mutter sie weggeschickt hatte und warum sie solchen Wert darauf legte, dass sie auch ja lange genug fortblieb. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ihre Mutter sich einen Mann aus dem Dorf holte, um eine Weile mit ihm allein zu sein. Jetzt war ihr auch klar,

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warum sie so herumgedruckst hatte und sich alle möglichen Vorwände einfallen ließ, statt einfach rundheraus zu sagen, dass sie, Arri, verschwinden und eine ganze Zeit lang nicht wiederkommen sollte. Es hatte also gar nichts mit dem unglückseligen Zusammentreffen mit Sarn im Steinkreis zu tun! Arri schüttelte den Kopf und ging mit einem leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen weiter - und jetzt sogar schneller, obwohl sie nun sicher war, Zeit zu haben. Ihre Mutter war eine gesunde, alles andere als alte Frau mit ganz gewöhnlichen Bedürfnissen, wie sie jede andere Frau, jeder andere Mann im Dorf auch hatte, aber es war ihr aus irgendeinem Grund peinlich, mit ihrer Tochter über gewisse Dinge des Lebens zu reden - die diese längst wusste. Wahrscheinlich hätte sie der Schlag getroffen, dachte Arri, hätte sie auch nur geahnt, dass ihre Tochter mehr als nur eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was sie in ihrer Hütte tat, wenn sie Besuch aus dem Dorf bekam. Arri war zwar - zumindest in ihren Augen - noch keine richtige Frau, aber sie war weder blind noch taub oder dumm. Nicht alle im Dorf machten ein so großes Geheimnis um das, was Männer und Frauen (und manchmal auch Frauen und Frauen oder Männer und Männer) miteinander taten, wenn sie allein waren, und die meisten Wände hatten Ritzen, durch die man mühelos hindurchspähen konnte, wenn man nur ein bisschen vorsichtig war. Auch Arri hatte das schon des öfteren getan, wenn auch mit schlechtem Gewissen und ohne ganz genau zu wissen, warum sie das bei allen Göttern eigentlich tat. Was sie gesehen hatte, hatte sie erregt, auf eine eigentümliche, nicht einmal wirklich angenehme, aber auch ganz gewiss nicht unangenehme Art. Dennoch verstand sie nicht wirklich, was an dieser Sache so besonders war, dass ihre Mutter ein solches Geheimnis daraus machte. Irgendwann - und zwar in nicht allzu ferner Zukunft, so nahm sie sich vor - würde sie ihrer Mutter sagen, dass sie Bescheid wüsste, und sie freute sich jetzt schon auf den betroffenen Ausdruck, der dann unweigerlich auf deren Gesicht erscheinen musste. In Gedanken versunken, wie sie war, war sie schon tiefer in den Wald eingedrungen, als sie selbst bemerkt hatte. Die Stelle, an der

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die Heilkräuter wuchsen, hatte sie längst passiert, und sie dachte daran, zurückzugehen und das Versäumte nachzuholen, entschied sich aber dann dagegen. Sie würde weiter zur Lichtung gehen, ein paar von den Pilzen suchen und den Korb dann auf dem Rückweg bis zum Rand mit Blättern füllen, das sah auf jeden Fall besser aus, auch wenn ihre Mutter vermutlich nicht einmal richtig hinsehen würde. Sie beschleunigte ihre Schritte und vertrieb sich die restliche Zeit auf dem Weg zur Lichtung, indem sie darüber nachdachte, wer wohl in diesem Augenblick bei ihrer Mutter sein mochte. Die Auswahl war nicht allzu groß. Es gab zwar einige unverheiratete Männer im Dorf, die durchaus Interesse an ihrer Mutter zeigten (und auch ein paar verheiratete), aber Lea war wählerisch, was das anging. Was Arri wiederum nicht wirklich verstand. Ihre Mutter war keine junge Frau mehr, und verglichen mit den meisten anderen Frauen im Dorf selbst manchen, die deutlich älter waren als sie selbst - , war sie alles andere als eine Schönheit. Aber vielleicht kam es bei dem, was sie da taten, auf Schönheit ja auch nicht an. Grahl, entschied sie. Grahl wäre ein Mann nach dem Geschmack ihrer Mutter. Dass er ein Weib und einen ganzen Stall voller Kinder hatte, hatte ihn noch nie gestört, und außerdem war er ihrer Mutter etwas schuldig, nachdem sie Kron das Leben gerettet hatte. Arri kicherte albern in sich hinein, als sie sich Sarns Gesicht vorzustellen versuchte, wenn er Grahl und ausgerechnet ihre Mutter in diesem Moment so sehen könnte. Obwohl sie wirklich nicht genau verstand, was daran nun so außergewöhnlich war, ahnte sie doch, dass er vor lauter Wut aus der Haut fahren würde, wenn er davon Wind bekäme. Sie erreichte die Lichtung und machte sich ohne Eile auf die Suche nach den Pilzen. Natürlich fand sie nicht viele - nicht einmal genug, um auch nur den Boden des Korbes zu füllen - , sodass sie ihre Suche bald ausdehnte und nicht nur die Felsen rings um die Quelle, sondern die gesamte Lichtung mit einbezog. Dennoch wurden es nicht wirklich mehr, sodass sie nach kurzem Zögern entschied, nun tatsächlich auch noch den unmittelbaren Waldrand abzusuchen. Ihr war nicht besonders wohl dabei. Den Weg vom Dorf bis hierher kannte sie, aber sie war niemals weiter als bis zu dieser Lichtung gegangen, und

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ihre Mutter hatte sie sogar eindringlich davor gewarnt, das zu tun. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, ging in diese Richtung tiefer in den Wald hinein. Das Buschwerk wurde dort so dicht, dass es an vielen Stellen sicherlich kein Durchkommen mehr gab, und da, wo Bäume und Unterholz sich ein wenig lichteten, war der Boden manchmal tückisch; es gab sumpfige Stellen, in denen man stecken bleiben konnte, und angeblich auch Treibsand, in dem ein Mensch binnen kurzem einfach versinken konnte, ohne jemals wieder gesehen zu werden. Arri lächelte, um sich selbst Mut zu machen, setzte einen Fuß in den Wald hinein und blieb wieder stehen, als es irgendwo im dichten Unterholz vor ihr knackte. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und ihre Hände zitterten, während der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen das Muster aus braunen und grünen Schatten und ineinander gekrallten Umrissen vor ihr absuchte. War da nicht eine Bewegung gewesen? Und hatte sie nicht plötzlich ganz deutlich das Gefühl, beobachtet und aus riesigen, lauernden Augen angestarrt zu werden? Arri beschimpfte sich selbst in Gedanken - jetzt benahm sie sich tatsächlich wie das dumme kleine Kind, als das ihre Mutter sie manchmal betrachtete. Da war nichts. Was ihr Angst machte, waren einzig die albernen Geschichten, die man sich über diesen Teil des Waldes erzählte und an die vermutlich niemand glaubte. Schon, weil noch niemand in diesem Teil des Waldes gewesen war und also auch niemand wissen konnte, wie es darin aussah. Dieser Gedanke sollte sie eigentlich beruhigen, sonderbarerweise verfehlte er seine Wirkung jedoch vollständig. Ganz im Gegenteil raste ihr Herz jetzt geradezu, und sie hatte deutlich das Gefühl, angestarrt zu werden. Um ein Haar hätte sie gerufen und gefragt, ob dort jemand sei. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, der, dass sie Angst davor hatte, eine Antwort zu bekommen. Hastig fuhr sich Arri mit der Zungenspitze über die Lippen, warf einen unsicheren Blick in den grob geflochtenen Korb, dessen Henkel sie mit beiden Händen so fest umklammert hielt, dass alles Blut aus ihren Fingern gewichen war, und stellte betrübt fest, dass sich kaum eine Hand voll kümmerlicher Pilze darin befand. Ihre Mutter

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würde nicht begeistert sein. Für einen Moment fochten Angst und Vernunft einen stummen Kampf hinter ihrer Stirn aus, aber die Angst gewann. Rasch drehte sich Arri um, ging zu dem Felsen zurück und verfiel schließlich in einen raschen Laufschritt, in dem sie die Lichtung überquerte. Sie wurde erst langsamer, als sie in den Wald auf der gegenüberliegenden Seite eindrang und Unterholz und Gestrüpp so dicht wurden, dass sie sich gezwungen sah, ihre Schritte ein wenig zu verlangsamen. Hinter ihr knackte etwas. Das Geräusch eines Astes, der unter einem Fuß oder einer Pfote zerbrochen war. Ihre außer Rand und Band geratene Phantasie sorgte dafür, dass die dazu passenden Bilder vor ihrem inneren Auge erschienen, ganz egal, wie sehr sie sich auch dagegen zu wehren versuchte. Vielleicht nur, um sich selbst davon zu überzeugen, dass da rein gar nichts war, was sie fürchten musste, drehte sie sich um - und fuhr so heftig zusammen, dass sie um ein Haar ihren Korb fallen gelassen hätte. Diesmal hatte sie den Schatten gesehen. Er war nicht einmal allzu weit hinter ihr gewesen; klein und geduckt und zu schnell, um ihn wirklich erkennen zu können, aber eindeutig da. Arris Hände zitterten plötzlich so heftig, dass sie Mühe hatte, den Korb zu halten, und auch ihre Knie begannen zu schlackern. Was war das gewesen? Ein Kaninchen oder ein Fuchs? Nein, dafür war der Schatten zu groß gewesen, zugleich aber auch zu klein für einen Bären oder einen Menschen. Vielleicht ein wildernder Hund? Plötzlich musste Arri wieder an das denken, was ihre Mutter ihr über Wölfe erzählt hatte. Sie hatte es nicht geglaubt, aber mit einem Mal war sie sich gar nicht mehr so sicher, dass sich Lea diese Geschichte tatsächlich nur ausgedacht hatte, um sie von eigenmächtigen Spaziergängen in die Wälder abzuhalten. Arri lauschte angestrengt. Ihr Herz hämmerte viel zu laut, als dass sie auch nur das geringste andere Geräusch hätte wahrnehmen können, und ihre Angst gaukelte ihr Bewegungen vor, wo keine waren. Dann aber hörte sie erneut das Knacken eines trockenen Astes, gefolgt von dem Geräusch großer, schwerer Pfoten auf trockenem Laub, und einen Laut, der ihr schier das Blut in den Adern gerinnen

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ließ: ein tiefes Knurren. Arri fuhr mit einem Schrei auf den Lippen herum, ließ den Korb fallen und stürmte davon. Etwas antwortete auf ihren Schrei, tief, drohend und ungemein gierig. Aus dem vorsichtigen Tappen schwerer Pfoten wurde ein rasendes Trommeln, das entsetzlich schnell näher kam, und sie spürte die Gefahr, noch bevor der Schatten in ihren Augenwinkeln auftauchte und sie sich instinktiv fallen ließ. Etwas streifte ihre Schulter und machte aus ihrem noch halbwegs kontrollierten Sturz einen Schlag, der sie mit solcher Wucht auf den weichen Waldboden schmetterte, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde und sich ihr gellender Angstschrei in ein halb ersticktes Keuchen verwandelte. Schmerz flackerte wie eine Folge kleiner gelber Blitze über ihre Augen und machte sie für einen Moment fast blind; dann bemerkte sie beinahe überrascht, wie ihr Körper gänzlich ohne ihr Zutun reagierte und sich herumwarf, um dem vernichtenden Sturz die allergrößte Wucht zu nehmen. Es war dennoch so schlimm, dass sie beinahe das Bewusstsein verlor. Hilflos rollte sie über den nicht nur mit weichem Laub, sondern auch mit spitzen Steinen und gefährlich zerbrochenen Ästen übersäten Waldboden, überschlug sich drei-, vier-, fünfmal und wäre vermutlich noch weiter gerollt, hätte nicht ein dorniger Busch ihrer Schlitterpartie ein unsanftes Ende bereitet. Etwas schrammte über ihr Gesicht und hinterließ eine dünne, nasse Linie, die schon im nächsten Augenblick heftig brannte, und abermals zuckten grelle Schmerzblitze über ihr Blickfeld und hinterließen eine Spur aus wattiger Schwärze, die sie im ersten Moment vergeblich wegzublinzeln versuchte. Als sich ihre Sinne wieder klärten, erklang das Knurren erneut. Arri zwang sich mit aller Willenskraft, die sie noch aufbringen konnte, die Augen zu öffnen und den Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen, und sie sah ihre schlimmsten Befürchtungen nicht erfüllt, sondern übertroffen. Es war ein Wolf - der mit Abstand größte und hässlichste Wolf, den sie jemals gesehen hatte. Das Ungeheuer war nahezu so groß wie ein Kalb und hatte ein schwarz-grau geflecktes, struppiges Fell. Seine

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Zähne, von denen schaumiger Geifer troff und die zu einem drohenden Knurren gebleckt waren, mussten annähernd so lang wie ihr kleiner Finger sein, und seine Augen starrten sie mit einer Gier an, die Arri auch noch das letzte bisschen Mut nahm. Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Das Tier war riesig. Viel größer als jeder Hund, den sie je gesehen hatte, und hundertmal wilder, aber es war auch nahezu zum Skelett abgemagert. Unter seinem struppigen, von zahllosen Geschwüren und nässenden Wunden durchlöcherten Fell stachen die Rippen hervor. Eines seiner Ohren war abgerissen, und die Wunde war so entzündet, dass sie in einem dunklen Rot zu leuchten schien, und selbst über die große Entfernung hinweg konnte Arri den üblen Geruch wahrnehmen, den das Tier verströmte. Ein Geruch, der sie an Krons Arm erinnerte, als er zu ihrer Mutter gekommen war. Der angeschlagene Gigant schien Mühe zu haben, in die Höhe zu kommen. Sein missglückter Angriff hatte Arri von den Füßen gefegt, aber der Wolf war ebenfalls gestürzt und versuchte nun vergeblich, wieder auf alle viere zu kommen. Erst nach dem dritten oder vierten Anlauf gelang es ihm, zitternd aufzustehen und einen Schritt zu machen. Und es war nur ein Wolf ohne die Begleitung eines ganzen Rudels. Arri schöpfte Hoffnung. Sie war noch immer wie benommen vor Angst und zitterte am ganzen Leib, aber zugleich war da auch eine unhörbare Stimme in ihr, die die Lage ganz nüchtern betrachtete und den Wolf mit einem einzigen Blick einschätzte. Das Tier war verletzt und krank, vermutlich ein Einzelgänger, den das Rudel ausgestoßen hatte und der nun verzweifelt versuchte, allein zu überleben, und schon mehr tot als lebendig war; halb verhungert und so schlimm verletzt, dass er wohl kaum noch länger als ein paar Tage zu leben hatte. Das machte den Wolf nicht weniger gefährlich, eher im Gegenteil - und doch schöpfte Arri neuen Mut. Wenn sie ein bisschen Glück hatte und nicht in Panik verfiel, kam sie vielleicht doch noch mit dem Leben davon. Als hätte der Wolf ihre Gedanken gelesen, kam er nicht mehr näher, sondern fletschte nur noch drohender die Zähne. Der üble Geruch, der von ihm ausging, wurde stärker, aber Arri sah auch, wie

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heftig seine Flanken zitterten. Als er den nächsten Schritt in ihre Richtung tat, brach er in den Hinterläufen ein und hielt sich nur noch mit Mühe überhaupt auf den Beinen. Sie beging dennoch nicht den Fehler, dieses Tier zu unterschätzen. Verwundete Raubtiere waren die gefährlichsten, denn sie hatten nichts mehr zu verlieren. Ohne dass ihr Blick die blutunterlaufenen, entzündeten Augen des Wolfs auch nur für einen Moment losließ, stemmte sie sich halb in die Höhe und tastete zugleich mit der rechten Hand über den Boden. Sie fand einen faustgroßen, glatten Stein, nahm ihn aber nicht auf, sondern suchte weiter und ertastete schließlich einen abgebrochenen Ast, den sie fest mit den Fingern umschloss. Der Wolf knurrte drohend, als ahne er, was sie vorhatte, und kam einen weiteren, unsicheren Schritt näher. Arri hatte Mühe zu atmen. Sie zitterte am ganzen Leib und so heftig, dass es ihr beim ersten Versuch nicht einmal wirklich gelang, den Stock zu ergreifen, und nachdem sie es geschafft hatte, musste sie ihn zu Hilfe nehmen, um sich auf die Beine zu stemmen. Der Wolf war noch näher gekommen. Arri konnte sehen, wie sich die Muskeln unter seinem schorfigen Fell spannten, während sein Blick gleichermaßen erfüllt von schier unerträglichem Hunger und Heimtücke über ihre Gestalt tastete. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und blieb wieder stehen, als seine Flanken zu zittern begannen und er abermals in den Hinterläufen einzubrechen drohte. Arri nahm an, dass ihn der Sprung, mit dem er sie zu Boden gerissen hatte, seine allerletzten Kräfte gekostet hatte. Vielleicht, dachte sie, kam sie ja doch noch mit dem Schrecken davon. Möglicherweise hatte das Tier einfach nicht mehr die Kraft für einen weiteren Angriff. Aber tief in sich spürte sie, dass das nicht so war. Unendlich vorsichtig, um das Ungeheuer nicht durch eine unbedachte Bewegung zu provozieren, richtete sie sich weiter auf, wich langsam einen Schritt zurück und hob den Stock. Der Wolf drohte knurrend, und schaumiger Geifer troff von seinen Lefzen. Arri sah jetzt, dass mehrere seiner Zähne abgebrochen und auch sein Maul

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wenig mehr als eine einzige, schwärende Wunde war. Mit aller Macht versuchte sie, sich zur Ruhe zu zwingen. Ihre Gedanken rasten. Ihr Atem ging so schnell, dass sie kaum noch Luft bekam, und alles in ihr schrie danach, einfach herumzufahren und davonzustürzen, so schnell sie nur konnte. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Das Tier war verletzt und musste halb wahnsinnig vor Schmerz und Hunger sein, und vermutlich hatte es vor ihr mindestens ebenso große Angst wie sie umgekehrt vor ihm. Dennoch rührte sie sich nicht von der Stelle; sie war noch nie einem Wolf so nahe gewesen, aber sie wusste, wenn sie davonliefe, wäre es um sie geschehen. Sobald sie dem Tier den Rücken zudrehte, würde es sie zweifellos angreifen, und Arri war sicher, dass es trotz allem immer noch genug Kraft hatte, sie einzuholen und niederzureißen. Immerhin hatte es sie schon mit seinem ersten Sprung zu Boden geschleudert, obwohl es sie praktisch nur gestreift hatte. Entschlossen ergriff sie ihren Stock fester und wich einen halben, vorsichtigen Schritt zurück, noch immer ohne den Blick des Tieres auch nur für den winzigsten Moment loszulassen. Möglicherweise würde es ja nicht angreifen. Jetzt, wo sie aufrecht vor ihm stand und nicht mehr vor ihm davonlief, mochte ihre Größe und der fast armlange Knüppel in ihrer Hand es beeindrucken. Zumindest aber flößten sie ihm Respekt ein, denn das Tier kam zwar abermals näher, blieb aber dann sofort wieder stehen, als sie den Knüppel hob und ihn drohend schwang. Als der Angriff dann kam, erfolgte er so plötzlich, dass sie trotz allem beinahe zu spät reagiert hätte. Der Wolf stieß ein schrilles Heulen aus, stieß sich mit den Hinterläufen ab, die mit einem Mal eine Kraft entwickelten, die Arri nie und nimmer mehr vermutet hätte, und sprang sie mit weit aufgerissenem Maul an. Arri ließ sich unwillkürlich zur Seite fallen und schlug mit dem Stock zu. Sie verfehlte den Wolf genau so knapp, wie die zuschnappenden Kiefer des Tieres ihr Ziel verfehlten. Arri stürzte, doch auch der Wolf kam nicht so fließend und schnell wieder auf die Beine, wie er es vermutlich zeit seines Lebens gewohnt gewesen war, sondern brach mit einem

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schrillen Jaulen in den Hinterläufen ein und blieb benommen und winselnd vor Schmerz liegen. Nicht lange, aber die Zeit reichte Arri trotzdem, wieder auf die Beine zu kommen und den Stock fester zu ergreifen. Jetzt wäre der Moment gewesen, herumzufahren und davonzurennen, und das sogar mit einiger Aussicht auf Erfolg. Der Wolf versuchte vergeblich, in die Höhe zu kommen. Ein- oder zweimal gelang es ihm sogar, aber er brach immer wieder in den Hinterläufen ein, und sein Heulen und Jaulen klang jetzt kaum mehr drohend, sondern fast schon Mitleid erregend. Sie glaubte nicht, dass dieses Tier noch die Kraft hatte, sie zu verfolgen, geschweige denn einzuholen. Aber sie lief nicht davon. Sie ergriff ganz im Gegenteil nun mit beiden Händen ihren Knüppel, bewegte sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten auf den Wolf zu, immer auf einen plötzlichen Angriff gefasst und bereit, zurückzuspringen, und ging schließlich in einem weiten Bogen um ihn herum. Ohne es zu merken, hielt sie den Knüppel nun nicht mehr wie einen Stock, sondern wie ein Schwert, ganz, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte, nahm mit leicht gespreizten Beinen neben dem Tier Aufstellung - und zertrümmerte ihm mit einem einzigen, wuchtigen Schlag den Schädel. Zitternd trat sie zurück, ließ den Stock sinken und schloss für einen Moment die Augen, bis sich ihr hämmernder Herzschlag wenigstens so weit beruhigt hatte, dass sie wieder atmen konnte, ohne dabei wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu japsen. Als sie die Augen öffnete, lag der Wolf reglos ausgestreckt und auf die Seite gefallen vor ihr. Ein dünnes Rinnsal aus überraschend hellem Blut lief aus seinem Ohr, und seine Augen starrten blicklos ins Leere. Plötzlich zitterten ihre Hände so stark, dass sie alle Mühe hatte, den Knüppel nicht fallen zu lassen. Ein Sturm von Gefühlen brach über sie herein und ließ sie wanken, wobei Furcht und Verwirrung die Oberhand hatten, zugleich aber auch noch etwas völlig anderes, Neues, und auf eine sonderbare Weise zugleich Erschreckendes und Erregendes. Warum hatte sie das getan? Arri starrte ihre Hände an, dann den abgebrochenen Ast, an dessen Ende ein einzelner Bluts-

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tropfen und ein paar drahtige, schwarz-graue Haare klebten, und schließlich den reglos daliegenden Wolf. Sie wollte Erleichterung verspüren, denn dieses Tier war aus keinem anderen Grund hier aufgetaucht, als sie zu töten, aber alles, was sie empfand, war eine tiefe, fast hoffnungslose Verwirrung und ein ganz leises, zwar absurdes, aber dennoch vorhandenes Gefühl von Schuld. Sie hatte sich nur verteidigt, und trotzdem hatte sie das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Arri versuchte sich damit zu trösten, dass sie diese bemitleidenswerte Kreatur letzten Endes von ihren Leiden erlöst hatte. Auch das half nichts. Sie hätte dem Wolf spielend davonlaufen können, und schwach und verwundet, wie er war, hätte er vermutlich auch keine weitere Gefahr mehr dargestellt. Zumindest hätte sie ins Dorf laufen und die Jäger alarmieren können, damit sie sich um das Raubtier kümmerten. Zutiefst verwirrt über ihre eigenen, einander widerstrebenden Gefühle, ließ Arri den Stock fallen, drehte sich um und ging mit langsamen, fast bedächtigen Schritten los. Sie war noch nicht weit gekommen, als es hinter ihr raschelte. Arri zuckte erschrockenen zusammen. Sie drehte sich um, und ein entsetztes Keuchen kam über ihre Lippen. Der Wolf war nicht tot. Er war nicht einmal bewusstlos. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war das, mit dem sich das schwer verletzte Tier in die Höhe gearbeitet hatte. Aus seinem Ohr lief jetzt mehr Blut, und auch der Speichel, der von seinen Lefzen troff, hatte sich hellrot gefärbt. Ein tiefes, unvorstellbar drohendes Knurren drang aus seiner Brust, während er sich vollends zu ihr umdrehte und auf eine groteske Art humpelnd loslief. Grotesk vielleicht - aber dennoch erschreckend schnell. Arri vergeudete fast die Hälfte der winzigen Zeitspanne, die ihr noch blieb, indem sie den Wolf aus fassungslos aufgerissenen Augen und vollkommen reglos dastehend anstarrte, bevor sie endlich herumfuhr und mit gewaltigen Sätzen davonlief. Hinter ihr kamen das Hecheln und Knurren des Wolfes und das Geräusch seiner weichen Pfoten auf dem Waldboden mit entsetzlicher Schnelligkeit näher.

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Arri versuchte schneller zu rennen, aber sie konnte es nicht. Der Wolf holte mit unbarmherzigem Ungestüm auf. Todesangst ergriff sie. Sie glaubte, seinen hechelnden, stinkenden Atem bereits im Nacken zu spüren, und dann konnte sie hören, wie er sich abstieß und mit einem gewaltigen Satz auf sie zuflog. Verzweifelt warf sie sich zur Seite, aber diesmal verließ sie ihr Glück. Der Wolf musste ihre Bewegung vorausgeahnt haben; vielleicht war sein Sprung auch ungeschickt gezielt gewesen, und sie hatte sich ihm in den Weg geworfen, statt in die andere Richtung gleich wie: Das Tier, das trotz allem noch immer fast so schwer wie sie selbst sein musste, prallte mit entsetzlicher Wucht gegen sie und riss sie von den Füßen. Ein scharfer Schmerz explodierte in ihrem Arm, als sich die Zähne des Wolfes in ihre Bluse gruben und den Stoff und die darunter liegende Haut mühelos zerfetzten. Arri schrie vor Schmerz und Angst, schlug ungeschickt auf dem Boden auf und besaß diesmal nicht mehr genug Geistesgegenwart, um sich abzurollen und dem Sturz auf diese Weise seine allerschlimmste Wucht zu nehmen, sodass sie ein zweites Mal und noch härter gegen einen Baumstamm prallte und um ein Haar das Bewusstsein verloren hätte. Als sie die Augen aufschlug und sich hochrappelte, war sie sich sicher, dass sie nun sterben würde. Auch der Wolf war gestürzt, genau wie das erste Mal, als er sie angesprungen hatte, aber sie hatte ihn entweder hoffnungslos unterschätzt, oder Todesangst und Schmerz verliehen dem Tier noch einmal seine alten, gewaltigen Kräfte. Arri stemmte sich wimmernd vor Schmerz und Angst in die Höhe, während der Wolf mit einer fast spielerisch anmutenden Bewegung aufsprang und herumwirbelte. Sein Fang war weit geöffnet, und in seinen blutunterlaufenen Augen loderte jetzt nichts anderes als die reine Mordlust. Das Tier wusste, dass es sterben würde, aber es würde sie mitnehmen. Arri riss mit einem verzweifelten Schrei die Arme vors Gesicht und warf sich mit einer noch verzweifelteren Bewegung zur Seite, doch sie spürte auch, dass sie viel zu langsam war. Der Wolf sprang mit einem mächtigen Satz auf sie zu… … und neben Arri tauchte wie aus dem Nichts ein riesiger, verzerr-

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ter Schatten auf, der gegen den Wolf prallte und ihn davonschleuderte. Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit schlug Arri auf dem Waldboden auf, der plötzlich überhaupt nicht mehr federnd und nachgiebig schien, sondern ihr so hart wie Stein vorkam; sie rollte herum und keuchte noch einmal und noch lauter vor Schmerz, als sie dabei ihren verletzten Arm belastete. Sie spürte, wie sich hinter ihren Lidern eine gewaltige, allumfassende Dunkelheit zusammenballte. Ihre Sinne begannen zu schwinden. Aber wenn sie jetzt das Bewusstsein verlor, das wusste sie, dann würde sie nicht wieder aufwachen. Mit verzweifelter Kraft kämpfte sie die Ohnmacht nieder, zwang sich, sich auf den Rücken zu wälzen und die Augen zu öffnen, und musste ein paarmal blinzeln, denn im ersten Moment sah sie nichts als verwaschene Schemen und ineinander laufende Schatten. Dann klärte sich ihr Blick, und was sie sah, das ließ sie für einen Moment sogar ihre Schmerzen und ihre Todesangst vergessen. Der Wolf war gute fünf oder sechs Schritte weit von ihr zu Boden gestürzt und musste sich dabei noch weiter verletzt haben, denn er stieß nun ein hohes, klägliches Fiepen aus und versuchte vergeblich, sich in die Höhe zu stemmen. Seine Hinterläufe brachen immer wieder ein, und auch der Blutstrom aus seinem Ohr und seinem Maul hatte deutlich zugenommen. Eine riesenhafte, ganz in zottiges, schwarzes Fell gehüllte Gestalt stand breitbeinig und leicht geduckt über dem gefällten Tier, ein Ungeheuer, zehnmal so groß wie der Wolf und hundertmal so gefährlich. Das Trugbild hielt nur einen Augenblick. Schon auf den zweiten Blick erkannte Arri, dass es ein Mann war, kein Ungeheuer, doch das mochte an allem anderen, was sie über die Gestalt gedacht hatte, nichts ändern. Es war der riesigste Mann, den sie jemals zu sehen geglaubt hatte; selbst Nor musste neben ihm wie ein Zwerg aussehen, und er war so breitschultrig, dass sich auch Grahl und seine Brüder mühelos hinter ihm hätten verstecken können. Arri konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn er wandte ihr den Rücken zu, aber er hatte langes, bis weit über die Schultern fallendes, dichtes schwarzes Haar, und im allerersten Moment war es ihr unmöglich, mit Sicherheit zu

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sagen, ob das schwarze Fell, in das er sich gehüllt hatte, tatsächlich nur ein Umhang war. Der Wolf gab es auf, ganz aufstehen zu wollen, und stemmte sich nur auf die Vorderläufe hoch. Sein von hellrotem Schaum erfülltes Maul versuchte, nach dem Mann zu schnappen, doch dieser wich dem Angriff mit einer fast spielerischen Bewegung aus und versetzte dem Tier im Gegenzug einen wuchtigen Tritt vor den Kopf, der es abermals zu Boden schleuderte. Dann griff er unter seinen Umhang, zog ein Schwert hervor und stieß es dem Wolf mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung tief in den Leib. Das Tier heulte noch einmal schrill und erschlaffte dann. Der Fremde zog die Waffe zurück, wischte die Klinge mit einer sorgsamen Bewegung am Fell des toten Wolfes ab, und versetzte dem Kadaver rasch hintereinander noch zwei, drei wuchtige Tritte; vermutlich weniger, um seinen Zorn an ihm auszulassen, als eher, um sich davon zu überzeugen, dass das Tier auch tatsächlich tot war. Dann ließ er die Waffe wieder unter seinem Umhang verschwinden und drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung zu Arri um. Arri erstarrte. Sie glaubte zu spüren, wie ihr Herz für einen Moment aufhörte zu schlagen und dann mit doppelter Wucht wieder einsetzte, und sie sah den Fremden aus ungläubig aufgerissenen, starren Augen an. Ihre Gedanken schienen plötzlich nur noch träge abzulaufen, wie ein unvorsichtiger Wanderer, der in den Sumpf geraten war und mit jedem Schritt mehr Kraft aufbringen musste, um von der Stelle zu kommen. Sie war nicht einmal sicher, dass sie noch atmete. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte - aber ein Gesicht wie dieses hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Fremde war ganz eindeutig ein Mann und kein Ungeheuer, wie sie im allerersten Moment gedacht hatte, und doch war sie sich nicht einmal dessen völlig sicher. Sein Gesicht, das von rabenschwarzem lockigem Haar eingerahmt war, war kräftig und markant und dennoch viel schmaler als das der Männer aus dem Dorf, was es ihr schier unmöglich machte, sein Alter zu schätzen - noch dazu, weil er keinen Vollbart trug, wie alle anderen Männer, die Arri kannte, Nor einmal ausgenommen. Er hatte hohe, deutlich hervorstehende Wangenknochen, was sein Gesicht ein

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wenig wie das ihrer Mutter aussehen ließ, und sehr helle, klare Augen, die von einem sonderbaren Blau waren und Arri mit einer Mischung aus Neugier, Erleichterung und sanftem Tadel anblickten. Eine geraume Weile stand er einfach nur da und sah sie auf diese seltsame Art an, unter der sie sich zunehmend unwohler fühlte, obwohl sie tief in sich zu spüren glaubte, dass von diesem Fremden keine Bedrohung ausging - immerhin hatte er ihr das Leben gerettet , dann streckte er die Hand in ihre Richtung aus und machte einen einzelnen Schritt, blieb aber sofort wieder stehen, als Arri erschrocken zusammenfuhr und hastig ein kleines Stück rücklings vor ihm davonkroch. Für einen ganz kurzen Moment lächelte er; jedenfalls nahm sie an, dass es ein Lächeln war, auch wenn sie sich nicht ganz sicher sein konnte. Schließlich hatte sie bis auf Nor noch niemals das fast bartlose Gesicht eines erwachsenen Mannes gesehen, und dieses Blecken der Lippen, das zwei Reihen erstaunlich großer, makellos weißer Zähne entblößte, mochte ebenso gut eine Drohgebärde sein. Arri kroch vorsichtshalber noch ein weiteres Stück vor ihm davon und hob den linken, unverletzten Arm vor das Gesicht. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte der Fremde. Seine Stimme war tief und volltönend und erfüllte Arri mit einem vollkommen absurden Gefühl von Zutrauen und Sicherheit, doch sie hatte Mühe, die Worte überhaupt zu verstehen. Er sprach langsam, als müsse er über jedes einzelne Wort erst einen winzigen Augenblick nachdenken, bevor er es wählte, und mit einem rollenden Akzent, den Arri noch nie zuvor gehört hatte. Und ganz plötzlich begriff sie, wer da vor ihr stand. Es musste einer der Fremden sein, die Grahls Bruder erschlagen und Kron verwundet hatten! Das Gefühl vorsichtiger Erleichterung, das sie bisher verspürt hatte, verschwand schlagartig. Sie hatte die Geschichten, die man sich im Dorf erzählte, nicht wirklich geglaubt. Ebenso wie ihre Mutter war sie der Meinung gewesen, dass Grahl und die anderen logen - zweifellos in Sarns Auftrag - und dass es die Spuren, die sie entdeckt zu haben behaupteten, gar nicht gab. Sie hatte sich getäuscht. Das musste einer der Fremden sein. Mit einem Mal erkannte sie es so deutlich,

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als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen und ihre Vermutung laut bestätigt: dunkelhaarige Riesen in schwarzen Fellen, die mit Schwertern bewaffnet waren und erst zuschlugen und dann fragten, was sie getroffen hatten. Er hatte sie vor dem Wolf gerettet, aber zweifellos nur, um sie jetzt selbst zu töten. Arri begann leise zu wimmern. Sie wollte weiter vor dem Fremden davonkriechen, aber ihre Kraft reichte nicht mehr. »Du bist tapfer«, fuhr der Fremde fort. Er ließ den Arm sinken und versuchte auch nicht, noch einmal näher zu kommen. »Aber wenn du das nächste Mal einen Wolf erschlägst, überzeuge dich davon, dass er auch wirklich tot ist.« Und damit nickte er ihr noch einmal zu, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand so schnell und lautlos wieder im Wald, wie er aufgetaucht war.

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7 Noch lange, nachdem der geheimnisvolle Fremde verschwunden war, stand Arri wie erstarrt da. Ihr Arm schmerzte. Blut tränkte den zerrissenen Stoff ihrer Bluse und lief in einem dünnen Rinnsal an ihrem Handgelenk hinunter. Ihr Herz klopfte, aber jetzt nicht mehr so schnell, dass es ihr den Atem abschnürte, sondern langsam und hart, als müsse es vor jedem Schlag mühsam Kraft sammeln, und ihre Gedanken drehten sich jetzt nicht mehr im Kreis, sondern schienen einfach erstarrt zu sein. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, der plötzlich wahr geworden war und nicht aufhörte, wenn man erwachte, sondern einfach weiterging und ganz im Gegenteil nur noch schlimmer wurde. Irgendwann fand sie wenigstens weit genug in die Wirklichkeit zurück, um aufzustehen und mit zitternden Knien zu dem erschlagenen Wolf hinüberzugehen. Obwohl es diesmal keinen Zweifel mehr daran gab, dass er endgültig und unwiderruflich tot war, griff die Angst abermals mit eisigen Fingern nach ihr. Selbst im Tod wirkte das Tier furchteinflößend; abgemagert und verletzt oder nicht, es war eine gewaltige Bestie mit beeindruckenden Klauen und Fängen, deren bloßer Anblick ihr einen neuerlichen Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Sie hatte Glück gehabt, dass der Wolf sie auch bei seinem zweiten Angriff verfehlt hatte - hätte er sie richtig getroffen, hätte er ihr vermutlich den Arm abgerissen. Und wäre dieser unheimliche Fremde nicht gekommen… Als wäre dieser Gedanke ein Auslöser gewesen, meldete sich ihr Arm mit pochendem Schmerz zurück. Arri riss den Blick mit erheblicher Mühe von dem toten Wolf los und wich vorsichtshalber drei, vier Schritte vor ihm zurück - man konnte schließlich nie wissen -, bevor sie mit spitzen Fingern den zerrissenen Ärmel ihrer Bluse hochhob und ihren Arm begutachtete. Er sah schlimm aus; nicht so schlimm, wie er sich anfühlte, aber schlimm genug. Sie hatte vier tiefe Kratzer davongetragen, von denen einer noch immer heftig blutete. Als sie behutsam danach tastete, tat es so weh, dass sie scharf die Luft einsog und nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte.

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Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, aber er erinnerte sie vor allem an einen anderen, viel schlimmeren und zugleich ähnlichen Anblick, den sie vor nicht allzu langer Zeit gehabt hatte. Sie musste die Wunde reinigen, bevor sie sich entzündete. Obwohl ihr alles andere als wohl dabei war, machte sie kehrt und ging zur Lichtung zurück, um die Wunde im eiskalten Wasser der Quelle auszuwaschen, was wirklich wehtat. Die Eiseskälte betäubte den Schmerz nicht, wie sie erwartet hatte, sondern fachte ihn im Gegenteil eher noch an, sodass ihr die Tränen über das Gesicht rannen, als sie endlich fertig war. Aber sie hatte die Wunde gesäubert, und wenn sie jetzt noch einen Verband anlegte, würde sie sich zumindest nicht entzünden. Den Korb, den sie auf der Flucht vor dem Wolf fallen gelassen hatte, hatte sie auf dem Rückweg wieder aufgehoben, aber er war natürlich leer; die Pilze waren irgendwo im Wald verstreut, und die Blätter und Heilkräuter hatte sie ja sowieso erst auf dem Rückweg mitnehmen wollen. Einen Moment lang überlegte sie ernsthaft, irgendeinen Verband aus Blättern aufzulegen, entschied sich aber dann dagegen. Ihr Arm schmerzte noch immer höllisch, aber wenn sie eines von ihrer Mutter gelernt hatte, dann, dass die Natur zwar über gewaltige Heilkräfte verfügte, aber auch unermesslichen Schaden anrichten konnte, wenn man diese Kräfte falsch einsetzte. Außerdem musste sie sich beeilen, um nach Hause zu kommen. Sie hatte eine Menge zu erzählen. Unwillkürlich schlug sie einen respektvollen Bogen um den Kadaver des Wolfes, als sie sich endgültig auf den Rückweg machte. Das Wissen, dass er ihr nicht mehr gefährlich werden konnte, änderte nichts daran, dass er ihr immer noch Angst machte. Darüber hinaus nistete sich ein hässlicher, aber hartnäckiger Gedanke in ihr ein: nämlich der, dass da, wo ein Wolf war, durchaus auch noch ein zweiter sein konnte. Dass das Tier von seiner Meute ausgestoßen worden war, bedeutete nicht unbedingt, dass es sich besonders weit von ihr entfernt hatte. Nicht nur weil ihr Arm mittlerweile erbärmlich wehtat, wurde Arri immer schneller, je mehr sie sich ihrem Zuhause näherte. Vielleicht

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war es am Anfang einfach zu viel gewesen, und vielleicht war der Schrecken einfach noch größer gewesen, als ihr bewusst gewesen war - immerhin hatte sie, wenn sie es recht bedachte, zum allerersten Mal wirklich Todesangst gehabt, auch wenn sie dies niemals laut zugeben würde. Doch es kam ihr so vor, als hätte sie alles, was geschehen war, bisher gar nicht begriffen. Mit jedem Schritt, den sie dem Dorf näher kam, veränderten sich die Bilder in ihrer Erinnerung, wurden wirklicher und gleichzeitig auf eine andere Art viel schlimmer. Mit einem Mal schien der Wald von fremden, bedrohlichen Geräuschen erfüllt zu sein, dem Tappen von schweren Pfoten, dem Rascheln von rauem Fell, das an Baumstämmen entlangstrich, einem gierigen Hecheln und Knurren. Obwohl ihr die Erfahrung zu sagen versuchte, dass es nichts anderes als Einbildung war, nichts anderes sein konnte - denn wären die Wölfe noch in der Nähe, dann wäre sie längst tot -, war sie zugleich davon überzeugt, die Geräusche des näher kommenden Rudels zu hören, die Meute zu spüren, die sie einkreiste und auf einen günstigen Moment zum Angriff wartete. Ihr Instinkt versuchte immer verzweifelter, ihr klarzumachen, dass nichts davon wirklich war, aber es nutzte nichts - als sie noch hundert Schritte vom Waldrand entfernt war, ließ sie den Korb abermals fallen und verfiel in einen schnellen Laufschritt. Ihr Arm quittierte die Anstrengung mit noch schlimmeren, pochenden Schmerzen, und die Wunde begann wieder heftiger zu bluten, doch das nahm sie nicht einmal wahr. Wie von Sarns grausamen Göttern gehetzt, fegte sie aus dem Wald, überwand das kurze Stück bis zur Hütte ihrer Mutter mit wenigen gewaltigen Sätzen und stürmte die Stiege hinauf, ohne dass ihre Zehen die groben Stufen auch nur wirklich zu berühren schienen. Fast ohne langsamer zu werden, rannte sie durch die Türöffnung, verhedderte sich prompt in dem muschelbesetzten Vorhang und verlor das Gleichgewicht. Irgendwie gelang es ihr, ihren Sturz mit den Händen abzufangen, was einen noch schlimmeren, jetzt fast grausamen Schmerz durch ihren Arm schießen ließ, aber sie ignorierte auch ihn, richtete sich hastig auf und sprudelte mit schriller Stimme hervor: »Mutter, ich…« Sie hatte vergessen, dass ihre Mutter sie weggeschickt hatte. Sie

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hatte vergessen, warum ihre Mutter sie weggeschickt hatte. Es war sehr dunkel in der Hütte. Ihre Mutter hatte die Biberfelle vor die beiden Gucklöcher gehängt, sodass nur wenig Licht durch die Ritzen zwischen dem Fell und der lehmverputzten Wand drang oder sich zwischen den muschelbesetzten Strängen des Vorhangs hindurchschlich. Im allerersten Moment sah sie ihre Mutter nicht, sondern spürte lediglich ihre Anwesenheit. Sie lag auf der Grasmatratze, auf der sie Kron mit einem wuchtigen Schlag ihres Zauberschwertes den Arm abgetrennt hatte - Arris Matratze! -, und ihre viel hellere, fast weiße Haut bildete in dem schattendurchwobenen Halbdunkel des Hauses einen deutlichen Kontrast zu der sonnengebräunten, fast kupferfarbenen Haut der muskulösen Gestalt, die neben ihr lag. Arri konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, denn es war zwischen den Brüsten ihrer Mutter verborgen, während seine rechte Hand zu ihrem Schoß geglitten war und sich zwischen ihren leicht gespreizten Beinen zu schaffen machte. Der muskulöse Rücken des Mannes glänzte vor Schweiß, und ein sonderbarer, nicht ganz unvertrauter Geruch, der zugleich unangenehm wie auf seltsame Weise erregend war, lag in der Luft; der Geruch nach Schweiß und den verbotenen, berauschenden Kräutern, mit denen ihre Mutter manchmal den Wein versetzte, aber auch noch etwas, das sie manchmal in der Luft gewahrte, wenn ihre Mutter sie fortschickte und sie Besuch von einem Mann aus dem Dorf bekam. Obwohl sie so lautstark hereingepoltert war, vergingen noch einmal zwei oder drei Herzschläge, bevor ihre Mutter überhaupt reagierte. Verwirrt und überrascht hob sie den Kopf und sah in Arris Richtung, und ein Ausdruck von Unmut erschien auf ihrem Gesicht; ein Unmut, der nach weiteren zwei oder drei Atemzügen in jähes Erschrecken und dann Betroffenheit umschlug; und dann in etwas, das fast an Entsetzen grenzte. Hastig hob sie den Kopf und versuchte sich ganz aufzurichten, kam aber unter dem Gewicht des Mannes, der halb auf ihr lag, nicht wirklich in die Höhe. Mit einer raschen Bewegung schlug sie seine Hand beiseite, die sich noch immer zwischen ihren Schenkeln zu schaffen machte, und versuchte zugleich, ihn ganz von sich herunterzuschieben.

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Der Mann gab ein unwilliges Knurren von sich, drückte sie mit dem anderen Arm grob auf das Lager zurück, und seine Hand wanderte schon wieder an ihrem Leib hinab und suchte das schwarze Dreieck über ihrem Schoß. Lea schlug mit solcher Wucht nach seinem Handgelenk, dass er mit einem überraschten Laut den Arm zurückzog und sich halb aufrichtete. »Was…«, knurrte er. Arris Herz schien für einen Schlag auszusetzen. Der Mann sah sie immer noch nicht an, sondern starrte eindeutig wütend auf ihre Mutter hinab. Sie konnte sein Profil nun selbst im schwachen Licht der Hütte so deutlich erkennen, dass sie sich fragte, wie sie es auch nur für den Bruchteil eines Atemzuges nicht hatte tun können. Es war Rahn. Für einen Moment war Arri nicht in der Lage, überhaupt zu denken. Hinter ihrer Stirn herrschte nur Leere - und das Gefühl, in einen schwarzen, unendlich tiefen Abgrund zu stürzen. Wieso Rahn? Was wollte er hier? Was tat er ihrer Mutter an? Dann begriff sie - nein, gestand sich ein -, was sie sich im allerersten Moment nicht zu begreifen gestattet hatte, und dieser Gedanke war vielleicht noch schlimmer. Arri prallte zurück, bis sie gegen die Wand neben dem Fenster stieß. Ihr Herz schlug endlich weiter, so hart und schnell, dass sie es bis in die Fingerspitzen spüren konnte. Ihre ganze Umgebung schien sich um sie zu drehen. Sie starrte ihre Mutter und den Fischer an, die nur mit ihrem eigenen Schweiß bekleidet und jetzt in einer fast komisch anmutenden Art ineinander verschlungen dalagen, und sie weigerte sich noch immer zu begreifen, was sie sah; was es bedeutete. Rahn. Wieso ausgerechnet Rahn? »Arri«, sagte ihre Mutter atemlos. Irgendwie gelang es ihr, sich wenigstens weit genug unter Rahn hervorzuarbeiten und sich auf die Ellbogen aufrichten, um sich ganz zu ihrer Tochter umdrehen zu können. »Was tust du hier? Wieso bist du nicht…« Arri hörte nicht einmal hin - und wie konnte sie? Sie starrte das unglaubliche Bild an, das sich ihr bot, und hinter ihrer Stirn überschlugen sich unablässig die Gedanken. Ein kleiner Teil von ihr, dem jeglicher Augenschein gleich war, vielleicht auch das Kind, das sie

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schon lange nicht mehr war, ohne es bis zu diesem Moment gewusst zu haben, versuchte ihr einzureden, dass es nicht so war, wie es aussah, dass Rahn ihrer Mutter Gewalt angetan hatte und sie im allerletzten Moment gekommen war, um das Schlimmste zu verhindern. Aber sie wusste zugleich auch, dass das nicht stimmte. Ein einziger Blick in das Gesicht ihrer Mutter reichte aus, um ihr auch diese verzweifelte Ausrede zu nehmen, an die sie sich gegen jede Vernunft klammerte. Endlich gelang es ihrer Mutter, Rahn vollends von sich herunterzustoßen. Hastig wollte sie sich aufrichten, führte die Bewegung dann aber seltsamerweise nicht zu Ende, sondern ließ sich ganz im Gegenteil wieder ein Stück weit zurücksinken und bedeckte ihre Brüste mit dem linken Arm, fast als wäre ihr die Nacktheit, die sonst so selbstverständlich zwischen ihnen war, mit einem Mal peinlich. Rahn, der ungeschickt auf der anderen Seite der Matratze zu Boden gestürzt war und sich nun mit reichlich verdattertem Gesichtsausdruck aufrichtete, setzte dazu an, etwas zu sagen, bemerkte dann aber Leas Blick und drehte mit einem Ruck den Kopf. Im allerersten Moment sah er genau so betroffen aus wie sie zuvor, als sie Arri erkannt hatte, dann aber zog er die Augenbrauen hoch, und ein anzügliches Grinsen erschien auf seinem breitflächigen Gesicht. »Oh«, sagte er. »Wir haben Besuch.« Er stemmte sich weiter hoch, sodass er nun halb in der Hocke saß, und sein Grinsen wurde noch anzüglicher, während sein Blick zwischen Arri und ihrer Mutter hin und her wanderte. »Warum hast du nicht gesagt, dass deine Tochter auch noch kommt? Wir hätten es uns doch auch zu dritt gemütlich machen können.« Lea ignorierte ihn. »Arri! Wieso bist du zurück?«, fragte sie. »Du bist doch gerade erst… aber ich habe dir doch gesagt…« Arri schlug die Hände vor den Mund, fuhr herum und stürmte aus der Hütte. Aus den Augenwinkeln sah sie ihre Mutter nun vollends aufspringen, und sie hörte, wie sie ihren Namen rief, aber sie beachtete weder das eine noch das andere, sondern war mit einem einzigen gewaltigen Satz aus dem Haus. Sie lief die Stiege nicht hinunter, sondern sprang auf den Boden hinab. Um ein Haar wäre sie gestürzt.

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Sie ruderte hektisch mit den Armen und machte einen ungeschickten, stolpernden Schritt, bis es ihr gelang, das Gleichgewicht wieder zu finden. Blindlings und ohne nachzudenken wandte sie sich nach links und stürmte zurück in den Wald, aus dem sie vor wenigen Augenblicken erst geflohen war. Sie hörte, wie ihre Mutter den Muschelvorhang beiseite schlug, in der Türöffnung erschien und ihren Namen rief, zuerst laut und befehlend, dann in fast flehendem Ton und schließlich wieder laut und scharf. Sie achtete auch darauf nicht, sondern rannte weiter und stürmte blindlings in den Wald hinein, ohne auf die dornigen Zweige und tief hängenden Äste der Bäume zu achten, die in ihr Gesicht peitschten, an ihren Haaren zerrten und ihre Kleider zu zerreißen versuchten. Alles drehte sich um sie. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie hatte noch immer das Gefühl zu fallen, und vielleicht war es ein Sturz, der niemals ein Ende nehmen würde. Irgendwann verklang die Stimme ihrer Mutter; nicht, weil sie aufgehört hatte, nach ihr zu rufen, sondern weil Arri schon viel zu weit entfernt war, um sie noch zu hören, und irgendwann - noch später wurden ihre Schritte langsamer. Sie blieb nicht stehen, sondern lief immer noch weiter, rannte aber jetzt nicht mehr wie von grausamen Göttern gehetzt und blindlings durch den Wald, sondern wich zumindest den ärgsten Hindernissen aus, die ihr den Weg verstellten. Schließlich blieb sie stehen, taumelte gegen einen Baum und lehnte sich erschöpft und nach Atem ringend gegen die raue Borke. Sie war vollkommen entkräftet. Ihr Herz schlug so schnell, als wollte es in ihrer Brust zerspringen, und ihr Atem hatte sich in etwas Scharfes verwandelt, das versuchte, ihr die Kehle aufzuschlitzen. Sie hatte noch immer das Gefühl, dass sich die ganze Welt um sie drehte, aber nun war es ihre Erschöpfung und das rasende Hämmern ihres Herzens, die sie am ganzen Leib zittern ließen. Rahn! Warum Rahn? Warum hatte ihre Mutter das getan? Arri schloss die Augen, aber das machte es eher schlimmer, denn statt Dunkelheit sah sie erneut die schrecklichen, unvorstellbaren Bilder, die sich ihr eben noch geboten hatten. Ihre Mutter und Rahn! Das durfte nicht sein! Er war der Schlimmste von allen, auf seine Art vielleicht schlimmer als Sarn, ja sogar schlimmer als Nor, denn von

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allen Menschen im Dorf war er womöglich der Einzige, der keinen Grund für seine Bosheit brauchte, sondern sie einzig und allein nur quälte und demütigte, weil er Freude daran empfand. Nur ganz allmählich beruhigte sich Arris rasender Pulsschlag. Ihre Hände zitterten noch immer, jetzt aber vor Schwäche und Überanstrengung, und sie begann zu frieren, denn sie war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und hier, unter dem nahezu vollkommen geschlossenen Blätterdach des Waldes, war es zu dieser Jahreszeit schon kühl. Nach einer Weile bemerkte sie, dass ihr Arm wieder heftiger schmerzte. Sie sah hin und stellte fest, dass die Wunde wieder zu bluten begonnen hatte; wie es ihr vorkam, jetzt sogar heftiger als am Anfang. Mit zusammengebissenen Zähnen und spitzen Fingern tastete sie ihren Arm ab und wurde mit einem noch heftiger brennenden Schmerz belohnt, der ihr zwar ein leises Wimmern entlockte, sie jedoch gleichzeitig nicht daran hinderte, weiter über ihren zerschundenen Oberarm zu tasten. Arri war nie besonders wehleidig gewesen, denn in der Welt, in die sie hineingeboren und in der sie aufgewachsen war, war das schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, aber auch nie über die Maßen tapfer. Sie mied Schmerz, wo sie nur konnte, was nur vernünftig war - nun aber tastete sie weiter über ihren Arm, befeuchtete schließlich die Fingerspitzen mit der Zunge und versuchte die Wunde auf diese Weise sauber zu wischen, womit sie es natürlich nur noch schlimmer machte. Dennoch hörte sie nicht auf. Ganz im Gegenteil - in ihrem Zustand genoss sie den Schmerz, lenkte er sie doch zumindest ein bisschen von den schrecklichen Bildern ab, die sie noch immer peinigten. Sie wischte und rubbelte so lange über ihren Arm, bis ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb und sie es nicht mehr aushielt. Erst dann kam sie einigermaßen zur Vernunft und wendete zumindest etwas von dem an, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Ungeschickt, weil nur mit einer Hand, riss sie ein Stück aus dem ohnehin zerfetzten Ärmel ihrer Bluse, wickelte den Streifen um ihren Oberarm und knotete ihn so fest zu, wie sie es gerade noch aushielt. Aus dem brennenden Schmerz in ihrem Fleisch wurde ein kaum weniger

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quälendes Pochen, und der Streifen färbte sich rasch dunkel und nass. Zwar konnte sie den Arm jetzt endgültig nicht mehr bewegen, ohne jedes Mal vor Schmerz die Zähne aufeinander beißen zu müssen, aber zumindest hörte die Wunde auf zu bluten. Zeit verging. Arri hätte hinterher nicht mehr sagen können, wie viel, doch die Schatten, die das Sonnenlicht warf, welches durch das durchlöcherte grüne Dach hoch über ihrem Kopf hereinfiel, wanderten ein sichtbares Stück weiter, bevor sie ganz allmählich das Gefühl hatte, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden und zum ersten Mal seit einer endlos langen Zeit wieder einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Nicht, dass sie besonders stolz darauf gewesen wäre. Nun, wo der erste Schrecken verklungen war und Bestürzung, Unglauben und pures Entsetzen ihre Vernunft wenigstens nicht mehr völlig davonwischten, begann Arri allmählich zu begreifen, dass sie sich recht dumm benommen hatte. Sie war weit davon entfernt, sich selbst auch nur die geringste Schuld an dem zu geben, was passiert war - und wie konnte sie das auch? -, aber da war zugleich auch eine leise, aber beharrliche Stimme in ihr, die darauf bestand, dass sie falsch reagiert hatte. Sie hatte jedes Recht, entsetzt zu sein, jedes Recht, empört zu sein - aber sie hätte nicht einfach davonlaufen und sich wie ein kleines Kind benehmen sollen. Schließlich wusste sie nicht erst seit jetzt, dass es einen gewissen Unterschied zwischen Männern und Frauen gab und offensichtlich auch etwas, das beide dann und wann miteinander tun mussten, und warum sollte ihre Mutter da eine Ausnahme machen, nur weil sie ihre Mutter war? Und trotzdem - Rahn? Warum ausgerechnet er? Etwas raschelte im Unterholz hinter ihr. Arri fuhr erschrocken herum und suchte mit misstrauischen Blicken das Muster aus schwarzen, grünen und dunkelbraunen Schatten ab, das sie umgab. Das Rascheln wiederholte sich nicht, und sie sah auch nichts; vermutlich ein kleines Tier, das ihretwegen geflohen war. Auch wenn sie weit gelaufen war, befand sie sich doch noch in der Nähe des Dorfes, und die wenigen wirklich gefährlichen Raubtiere, die es gab, mieden erfahrungsgemäß die Nähe von Menschen.

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Aber sie hatte den Wolf nicht vergessen, und auch den Fremden nicht. Doch wie konnte sie zurück? Arri war noch immer bis ins Innerste aufgewühlt. Sie spürte Scham: Scham über das, was sie gesehen hatte, wie auch über ihr eigenes kindisches Verhalten. So konnte sie ihrer Mutter unmöglich unter die Augen treten. Sie konnte aber auch nicht hier bleiben. Die Vorstellung, ihre Mutter könne sie suchen und sie hier mitten im Wald finden, wo sie sich wie ein kleines Kind in den Schatten verkrochen hatte, war ihr unerträglich. Was sie wieder zu der Frage brachte, was sie nun tun sollte. Tief in sich bedauerte es Arri längst, so Hals über Kopf aus der Hütte geflohen zu sein. Vielleicht nicht einmal aus der Hütte - diese allererste, spontane Reaktion konnte sie sich selbst verzeihen, und sie wusste, dass ihre Mutter es ganz genauso gehalten hätte - aber sie hätte es damit gut sein lassen und spätestens dann stehen bleiben sollen, als ihre Mutter sie zurückgerufen hatte. Indem sie einfach weitergelaufen und wie ein störrisches Kind blindlings in den Wald geflüchtet war, hatte sie womöglich nicht nur den Zorn ihrer Mutter heraufbeschworen, sondern sich selbst jeder Möglichkeit beraubt, ihr wieder unter die Augen zu treten, ohne das Gesicht zu verlieren. Arri fragte sich, ob sie das überhaupt jemals wieder konnte. Rahn. Warum ausgerechnet Rahn? Warum von allen Menschen im Dorf ausgerechnet der Mann, der sie am meisten in Rage zu bringen vermochte? Sie drehte sich unwillkürlich in die Richtung, in die sie gehen musste, um nach Hause zu gelangen, und stolperte blindlings los. Dürres Gezweig peitschte ihr ins Gesicht, als sie sich rücksichtslos ihren Weg bahnte, aber sie merkte es nicht einmal; in ihr waren nur dumpfe, pochende Verzweiflung und die Sorge, dass Rahn noch da sein könnte, wenn sie zu Hause ankam, oder dass ihre Mutter so wütend war, dass sie sie gleich wieder fortschickte. Als der Waldrand in Sicht kam, wurde sie langsamer, um zu lauschen und sicherzugehen, dass sie ihrer Mutter nicht direkt in die Arme lief. Auch wenn ihr ihre überreizten Sinne überall Bewegun-

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gen vorzugaukeln versuchten, musste sie sich doch nach einer Weile eingestehen, dass sie hier ganz allein war. Auf weichen Knien setzte sie ihren Weg fort und erreichte schweißgebadet und mit letzter Kraft ihre Hütte. Ungeschickt und immer noch im Zweifel, ob sie das Richtige tat, wankte sie die Stiege hinauf, und wie schon einmal war es auch jetzt wohl nur dem Geländer zu verdanken, dass sie nicht ausglitt und hinabstürzte. Im wahrhaftig allerletzten Augenblick versuchte sie sich ein paar Worte zurechtzulegen, mit denen sie ihre Mutter ansprechen konnte. Sie fand keine, und sie brauchte sie auch nicht, denn die Hütte war leer. Anfangs war sie fast erleichtert, dann machte sich ein Gefühl tiefer Enttäuschung in ihr breit. Fast schon verzweifelt ließ sie den Blick durch den kleinen, nahezu vollkommen leeren Raum schweifen, ging schließlich sogar zur anderen Seite und warf einen Blick in den winzigen Vorratsraum, als hoffe etwas in ihr wider besseres Wissen, ihre Mutter dort anzutreffen. Natürlich war sie nicht da. Was sollte sie tun? Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie sich später oben am Steinkreis treffen wollten. Arri war längst nicht mehr in der Verfassung, die Zeit abschätzen zu können, die seit ihrer unheimlichen Begegnung im Wald verstrichen war. Vielleicht war es schon ewig lange her, vielleicht war der angedachte Zeitpunkt längst vorüber - wäre die Lage nur ein bisschen anders gewesen, so hätte sie sich jetzt auf den Weg zu dem Heiligtum gemacht, auch wenn sie selbst dort nicht mehr das Geringste hinzog, ganz im Gegenteil. Aber zweifellos würde ihre Mutter früher oder später dort auftauchen, wenn sie sie nur lange genug ergebnislos gesucht hatte; falls sie sich die Mühe überhaupt machte. Plötzlich wurde Arri klar, in welch unangenehme Lage sie sich gebracht hatte. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass ihre Mutter wirklich nach ihr suchte. Immerhin wusste sie ja nicht, wie es tatsächlich um sie stand. Für ihre Mutter musste es so aussehen, als wäre sie einfach in einem ungünstigen Moment hereingeplatzt und kopflos davongerannt. Von allem, was ihr widerfahren war, konnte sie nichts wissen. Vielleicht erwies sich der Umstand, dass sie einen so freund-

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schaftlichen Umgang miteinander pflegten und ihre Mutter nicht annähernd so streng zu ihr war wie alle anderen Eltern des Dorfes zu ihren Kindern, nun als Fluch, denn es war gut möglich, dass Lea sich damit tröstete, dass ihre Tochter früher oder später schon zur Vernunft kommen und ganz von allein zurückkehren würde, während sie selbst mit ihrem normalen Tagewerk fortfuhr. Was unter Umständen bedeutete, dass sie erst lange nach dem höchsten Sonnenstand zurückkäme, möglicherweise auch erst am Abend. Arri spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich trotz allem auf den Weg zum Steinkreis zu machen. Dabei streifte ihr Blick zufällig die rückwärtige Wand des Raumes, und sie erstarrte förmlich und riss die Augen auf. Die Wand war leer. Das Schwert ihrer Mutter war nicht mehr da, wo es hingehörte. Im allerersten Moment war sie so überrascht, dass sie sogar den pochenden Schmerz in ihrem Arm vergaß. Vorhin, als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte das Schwert noch an seinem angestammten Platz gehangen, da war sie vollkommen sicher. Jetzt war es fort, und das konnte nur bedeuten, dass ihre Mutter es mitgenommen hatte. Aber warum? Wenn sie tatsächlich nur fort war, um nach ihr zu suchen, warum sollte sie dann eine Waffe mitnehmen? Der Gedanke ließ eine ganze Reihe anderer durchweg unangenehmer Vorstellungen durch Arris Kopf purzeln, von denen einige geradezu ungeheuerlich waren - was nichts daran änderte, dass sie sie mit neuem, abgrundtiefem Schrecken erfüllten. Hatte ihre Mutter das Schwert mitgenommen, weil sie um die Gefahr wusste, die draußen im Wald lauerte? Oder - unsinnig, aber für einen Moment erwog Arri diesen Gedanken ganz ernsthaft - hatte sie sie mit dem, was sie getan hatte, so erzürnt, dass sie das Schwert tatsächlich mitgenommen hatte, um sie zu bestrafen? »Arri?« Etwas polterte. Das Klappern des Muschelvorhangs drang gedämpft durch den anderen, viel dichteren Vorhang aus Panik, der sich über Arris Gedanken gelegt hatte, dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter erneut, und diesmal lauter, erschrockener und nur noch einen Deut davon entfernt zu schreien. »Arri? Ihr Götter! Was ist mit

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dir?« Hastige Schritte ertönten. Arri öffnete die Augen und sah ihre Mutter rasch näher kommen und sich mit erschrockenem Gesicht über sie beugen, während sie neben ihrem Lager auf die Knie sank. Etwas polterte, als sie das Schwert, das sie offenbar tatsächlich in der Hand gehalten hatte, einfach fallen ließ. »Arri! Was hast du?« Auch in den Augen ihrer Mutter loderte Panik auf, als sie die Hände nach ihr ausstreckte und dann im letzten Moment zurückprallte, da sie Arris rot besudelte Finger sah. Sie sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein. »Aber was…?«, murmelte sie, brach ab, und ein vollkommen neuer, erschrocken-verwirrter Ausdruck breitete sich auf ihren Zügen aus. Hinter ihr polterten schwere Schritte auf der Stiege, und der Vorhang klimperte wieder. Arri wollte sich auf die Ellbogen hochstemmen, um an ihrer Mutter vorbeizusehen, doch Lea sagte nur scharf und ohne den Blick von ihrer Tochter zu wenden: »Verschwinde!« Die Schritte brachen ab, und einen Augenblick später entfernten sie sich. Obwohl Arri nicht einmal einen Schatten gesehen hatte, wusste sie, dass es Rahn gewesen war. »Ich… ich bin verletzt«, murmelte sie. »Ja, das sehe ich«, sagte ihre Mutter knapp, nahm ihre blutverschmierte Hand und zog sie an sich heran, um die vier tiefen Kratzer zu begutachten, die der Wolf in Arris Arm gerissen hatte. »Woher hast du das?« »Ich… der Wald«, stotterte Arri. »Ich bin gelaufen… Aber vorher hatte ich die Pilze gesammelt, ganz wie du es mir aufgetragen hattest.« »Ich verstehe. Du warst mal wieder etwas ungestüm.« Ihre Mutter seufzte und besah sich die Wunde noch einmal genauer. »Das sieht schlimmer aus, als es ist. Ich werde dir gleich einen Wundverband anlegen. Allerdings frage ich mich, warum du das nicht selbst getan hast.« »Das habe ich ja«, sagte Arri. »Aber der Verband ist wieder abgegangen.« Sie musste ihrer Mutter von dem Wolf erzählen, und vor

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allem von dem unheimlichen Fremden. »Da war ein Mann«, begann sie, »und…« »Rahn«, unterbrach sie ihre Mutter. »Ja, ich weiß.« Sie lächelte, nun aber eindeutig verlegen. »Das war dumm von mir - dir vorher nichts zu sagen, meine ich. Ich hätte mir denken sollen, dass du es herausfindest; immerhin bist du meine Tochter.« »Das meine ich nicht«, sagte Arri, aber ihre Mutter hörte gar nicht hin. Sie löste sich von ihrem Platz am Eingang, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen neben Arri auf die Matratze sinken und legte ihr den Arm um die Schulter. Arri konnte sich gerade noch beherrschen, ihren Arm nicht abzuschütteln. So vertraut und innig ihr Verhältnis zueinander auch war, berührte ihre Mutter sie doch so gut wie nie; schon lange nicht mehr, seit sie ein wirklich kleines Kind gewesen war. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Arri hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass ihre Mutter es niemandem erlaubte, sie zu berühren oder ihr auch nur nahe zu kommen. Lea wurde unruhig, sobald sich ihr jemand auf weniger als Armeslänge näherte, und wenn diese Entfernung deutlich unterschritten wurde, reagierte sie regelrecht panisch; wie ein Raubtier, dem man zu nahe gekommen war. Vielleicht hatte sie deshalb so übertrieben reagiert, als sie ihre Mutter in Rahns Armen gesehen hatte. »Es war mein Fehler«, begann Lea. »Aber dieser Mann…« »Ich rede nicht von Rahn«, unterbrach sie Lea wieder. »Ich weiß, dass du ihn verabscheust, und ich habe ihn auch nicht gerade ins Herz geschlossen.« Sie hob die Schultern und seufzte kurz. »Aber er ist ein Mann, und die Auswahl ist nicht besonders groß.« »Die Auswahl«, wiederholte Arri. »Weißt du, Arianrhod«, sagte ihre Mutter, und ihr Lächeln verkrampfte sich noch mehr. Sie nahm nun von sich aus den Arm von Arris Schulter und rang linkisch mit den Händen. »Es gibt da… gewisse Dinge, die… Frauen und Männer miteinander tun… erwachsene Frauen und Männer.« »Ja«, sagte Arri. »Ich weiß.« Lea blinzelte.

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»Das Dorf ist nicht sehr groß«, fuhr Arri fort. »Und die meisten Wände haben Ritzen, durch die man sehen kann.« »Du… du meinst…?«, begann ihre Mutter. »Ich meine, ich glaube, ich weiß, was du mir sagen willst«, antwortete Arri und hoffte insgeheim, ihre Mutter werde sie nicht auffordern, diesen Satz noch einmal zu wiederholen. »Ich bin kein Kind mehr, weißt du?« »Oh«, sagte Lea. Sie wirkte betroffen und erleichtert zugleich. »Du meinst…« »Ja«, seufzt Arri. »Ich meine.« Sie fragte sich, wer hier eigentlich die Erwachsene war. »Ich hätte es wissen müssen«, fuhr ihre Mutter fort. Sie schüttelte den Kopf. »Die Menschen in diesem Land gehen mit solchen Dingen… etwas anders um, als ich es gewohnt bin. Ich dachte, du…« Wärst taub und blind?, führte Arri den Satz in Gedanken zu Ende. Vorsichtshalber sprach sie es nicht laut aus. »Aber du weißt nicht, was jetzt mit dir geschieht«, fuhr Lea fort. Sie beantwortete ihre eigene Frage mit einem Nicken. »Das ist das Problem.« Irgendwie wirkte sie erleichtert. »Du bist jetzt kein Kind mehr.« Das war Arri schon lange nicht mehr. Sie schwieg. Was hätte sie auch schon sagen sollen? »Es tut mir wirklich Leid«, meinte Lea und fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Vorhin, als du mich mit Rahn gesehen hast… ich weiß, dass es ein Schock gewesen sein muss. Für mich wäre es so gewesen, glaube ich. Ich meine: Es ist das Natürlichste von der Welt. Jedermann tut es, dann und wann. Es… es ist eigentlich etwas sehr Schönes, zumindest, wenn man sich sehr gern hat… aber auch wenn nicht… also… es gehört einfach zum Leben mit dazu…« Sie begann zu stottern, verhaspelte sich endgültig und setzte schließlich nach einem hörbaren Einatmen neu an. »Vielleicht hätte ich dir das alles schon viel früher erklären sollen. Ich meine: Jetzt gibt es da nicht mehr allzu viel zu erklären, oder?« »Nein«, antwortete Arri wahrheitsgemäß, obwohl sie sich dessen

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nicht ganz sicher war. »Aber du möchtest doch kein Kind bekommen, oder?«, stieß ihre Mutter hervor. Arri starrte sie an. »Ja, das dachte ich mir«, fuhr Lea fort. »Zu wissen, wie man etwas tut, heißt nicht zwangsläufig zu wissen, was es bedeutet, nicht wahr?« Arri schwieg weiter. »Tja«, seufzte ihre Mutter, »dann wird das wohl doch ein längeres Gespräch.«

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8 Arri hatte die Hütte den ganzen Tag über nicht mehr verlassen, nachdem ihre Mutter sie versorgt und ihr die dickere Winterbluse als Ersatz für die zerrissene Sommerbluse herausgesucht hatte. Noch lange - fast bis zum Einbruch der Dunkelheit - hatten sie in zwar unvertrauter, aber sehr wohltuender Nähe nebeneinander gesessen und geredet; nicht nur über das, was Nor von ihnen gefordert hatte, sondern auch über alles mögliche andere: über belanglose Dinge des Alltags genauso wie über weitere aufregende Geschichten aus der Welt, in der Arri zwar geboren war, die sie aber niemals kennen gelernt hatte, oder auch den alltäglichen Klatsch und Tratsch aus dem Dorf, etwas, von dem ihre Mutter stets behauptet hatte, dass es sie nicht kümmere und dass es auch unter ihrer Würde sei, sich wie ein gewöhnliches Weib aus dem Ort das Maul über alles und jeden zu zerreißen; worüber sie aber trotzdem mit großer Begeisterung sprach. Worüber sie nicht geredet hatten, das waren auf der einen Seite Rahn und sein Verhältnis zu ihrer Mutter und auf der anderen Seite Arris Begegnung mit dem Wolf und dem unheimlichen Fremden. Was den Wolf anging, so war Arri bald zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr ohnehin nicht glauben würde. Die Schrammen, der einzige Beweis für ihre Begegnung mit dem Untier, waren weit weniger tief, als sie erwartet hatte; und das wohl hauptsächlich deshalb, weil der Wolf sie gar nicht richtig erwischt hatte, sondern abgerutscht war - wofür Arri ihm im Stillen dankbar war. Nein, nach einem Kampf auf Leben und Tod mit einem Raubtier sah die ungewöhnliche Wunde nicht gerade aus, und obwohl ihre Mutter es mit keiner Silbe erwähnt hatte, war Arri doch überzeugt, dass sie ihr sowieso nicht glauben, sondern allenfalls annehmen würde, ihre Tochter hätte sich diese wilde Geschichte ausgedacht, um einer Bestrafung zu entgehen. Und was den Fremden anging… in gewissem Sinne galt dasselbe auch für ihn. Viel schlimmer aber war, dass Arri irgendwie den Zeitpunkt verpasst hatte, von ihm zu reden, vielleicht weil sie zuvor auch schon die Begegnung mit Sarn im Steinkreis verschwiegen hatte,

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und, wenn sie ehrlich war, allein in diesem Sommer bereits zig andere Begebenheiten, von denen sie wusste, dass ihre Mutter sie alles andere als ruhig und gelassen hinnehmen würde. Wäre sie gleich am Anfang mit der ganzen Wahrheit herausgeplatzt, hätte ihre Mutter ihr vielleicht noch geglaubt, aber nachdem bereits eine Weile verstrichen war, konnte sie gar nicht anders als annehmen, sie hätte sich diese haarsträubenden Geschichten nur ausgedacht, um von ihrem eigenen falschen Verhalten abzulenken und womöglich ihr Mitleid zu wecken. Und vielleicht war das ja noch nicht einmal verkehrt, vielleicht hatte ihr ihre Phantasie ja tatsächlich einen Streich gespielt. Auch das war eine Möglichkeit, die Arri immer ernsthafter in Betracht zog, je weiter der Tag fortschritt und je mehr die Erinnerungen an den unheimlichen Fremden mit den sonderbaren Augen verblassten. Möglicherweise hatte sie sich diese Begegnung nur eingebildet. Sie war in Todesangst gewesen, vollkommen in Panik aufgelöst und felsenfest davon überzeugt, im nächsten Augenblick sterben zu müssen. Vielleicht war der Wolf einfach ungeschickt gewesen und hatte sich bei seinem Sprung das Genick gebrochen, und ihre außer Rand und Band geratene Phantasie hatte diesen Fremden einfach erfunden. Schließlich - Geschichten von Kindern, die in gewaltige Gefahr gerieten und im allerletzten Moment von einer geheimnisvollen Macht gerettet wurden, die wie aus dem Nichts erschien und ebenso rasch und spurlos wieder verschwand, hatte sie schon zur Genüge gehört, aber sie wusste eben auch, dass es in den meisten Fällen nur Geschichten waren. Nicht mehr. Als sie an diesem Abend einschlief - zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit und tatsächlich zum ersten Mal in der Zeit, an die sie sich bewusst zurückerinnern konnte, nicht auf dem Lager neben, sondern in den Armen ihrer Mutter -, nahm sie sich fest vor, ihr spätestens am nächsten Morgen davon zu erzählen, und zuzugeben, warum sie bisher nichts davon gesagt hatte. Sie tat es auch am nächsten Morgen nicht. Als sie erwachte - sehr früh, noch vor Sonnenaufgang und mit heftigen Kopfschmerzen, die wieder schlimmer geworden waren -, war sie allein. Ihre Mutter hatte die Hütte offensichtlich schon vor Tagwerden verlassen, was unge-

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wöhnlich war; niemand ging vor Sonnenaufgang aus dem Haus, wenn es nicht wirklich einen triftigen Grund dafür gab. Arri war beunruhigt, war aber noch gleichzeitig viel zu müde, um sich tatsächlich Sorgen zu machen. Als sie später dann aufstand, kitzelte sie ein verirrter Sonnenstrahl bereits an der Nase, und sie beeilte sich, um in ihren Garten zu kommen, den sie in letzter Zeit über Gebühr vernachlässigt hatte. Sie pflanzte hier Kohl, Möhren, Erbsen und verschiedene Sorten von Bohnen und Kräutern an und kämpfte einen Kräfte zehrenden Kampf gegen das Unkraut, das vom Waldrand her alles daran setzte, um ihre Anpflanzungserfolge wieder zunichte zu machen. Auf diese Weise verging der gesamte Tag und auch noch ein guter Teil des darauf folgenden. Ihre Mutter erwies sich als so schweigsam und wortkarg, wie Arri es gewohnt war, und sie ging auch ein paar Mal fort, ohne zu erklären, warum oder wohin, und auch, ohne auf Arris entsprechende Fragen zu antworten, die sie nach ihrer Wiederkehr stellte. Als ihre Mutter am dritten Tag gegen Abend zurückkam - wieder einmal, ohne dass sie gesagt hatte, wohin sie ging oder warum -, stand Arri auf und eilte ihr entgegen, sobald sie ihre Schritte draußen hörte. Kurz bevor sie die Tür erreichte, blieb sie jedoch stehen, denn sie begriff, dass ihre Mutter nicht allein war. Sie konnte den vertrauten Rhythmus ihrer Schritte erkennen und ihre Stimme hören, doch dann auch noch eine zweite, männliche Stimme, und noch bevor Arri sich umdrehte und zum Guckloch zurückwich, um einem verstohlenen Blick durch das zurückgezogene Biberfell zu werfen, wusste sie, wer es war. Und trotzdem verfinsterte sich ihr Gesicht, als sie Rahn erkannte. Es war nicht einmal die Tatsache allein, dass ausgerechnet Rahn ihre Mutter begleitete. Niemand aus dem Dorf kam hierher, wenn er nicht ihrer Hilfe bedurfte oder es irgendeinen anderen wirklich wichtigen Grund gab, und solange sich Arri zurückerinnern konnte, war fast immer sie es gewesen, die neben ihrer Mutter den steil abfallenden Weg vom Dorf herabging. Sie verspürte ein kurzes, aber eindringliches Gefühl einer fast schon lächerlichen Eifersucht. Was ih-

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ren Zorn noch schürte und zumindest für einen Moment fast zu etwas wie Hass machte, das war die Art, auf die Rahn neben ihrer Mutter herging. Obwohl fast einen Kopf kleiner, was dem Ganzen schon wieder etwas ungewollt Komisches gab, hatte er den Arm in einer Besitz ergreifenden Geste um ihre Schulter gelegt, und die Finger seiner Hand spielten unentwegt an ihrem Oberarm. Arri konnte das Gesicht ihre Mutter nicht erkennen, aber sie konnte sich gewiss nicht vorstellen, dass ihr das gefiel oder sie es auch nur ertrug. Trotzdem machte sie keine Anstalten, Rahns Arm abzustreifen, zumindest nicht, bis sie in Arris Sichtfeld kamen. Arri trat rasch vom Guckloch zurück, wandte sich zur Tür und bemühte sich, eine möglichst strafende Miene aufzusetzen, als sie die Schritte ihrer Mutter auf der Stiege hörte. Wenn Lea glaubte, die beiden zurückliegenden Tage hätten irgendetwas an ihrer Meinung über Rahn und das, was sie mit ihm tat, geändert, so irrte sie sich. Ganz egal was die beiden miteinander taten und warum, Arri würde diesen Dummkopf nicht willkommen heißen, nur weil es ihm gelungen war, ihre Mutter irgendwie zu verzaubern. Lea war jedoch allein, als sie hereinkam. Mit einer unbewussten Bewegung bückte sie sich unter dem Muschelvorhang hindurch, machte einen einzelnen Schritt und blieb dann stehen, um Arri stirnrunzelnd anzublicken. »Hast du irgendetwas?« Arri schüttelte heftig den Kopf, obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum, und sie musste die Gedanken ihrer Mutter nicht lesen, um zu erkennen, wie wenig Glauben sie ihr schenkte. Seltsamerweise ging sie jedoch nicht weiter darauf ein, sondern setzte ihren unterbrochenen Weg fort und sagte in fast beiläufigen Ton: »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir deine Ausbildung wieder aufnehmen. Das Jagd-Ernte-Fest steht bereits vor der Tür, und danach wird es nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fällt.« Arri empfand es geradezu als boshaft, dass sie Nors Drohung benutzte, um von Rahn abzulenken. Mit einer fast zornigen Kopfbewegung trat sie an das Guckloch, durch das sie ihre Mutter und Rahn beobachtet hatte. »Du warst wieder mit ihm zusammen.« Lea blieb abermals stehen, und als sie sich jetzt zu Arri umwandte,

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verdunkelte Zorn ihr Gesicht. Der scharfe Verweis, auf den Arri wartete, kam jedoch nicht. »Ja«, sagte sie nur. »Aber nicht so, wie du vielleicht glaubst.« Und wäre es so, ginge es dich nichts an. Das sprach sie zwar nicht aus, aber die Worte standen so deutlich in ihren Augen geschrieben, dass Arri sie beinahe zu hören glaubte. Sie gemahnte sich zur Vorsicht. Ihre Mutter hatte ihr in den letzten Tagen wiederholt klargemacht, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau, aber sie kannte sie auch wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie sich ganz gewiss nicht irgendwelche Unverschämtheiten von ihr gefallen ließe oder auch nur etwas, das sie dafür hielt. Trotzdem fragte sie: »Was habt ihr denn dann zusammen gemacht?« Der Zorn in den Augen ihrer Mutter wuchs noch weiter, aber sie blieb auch jetzt erstaunlich ruhig. »Ich hatte etwas mit ihm zu besprechen. Und mit Grahl. Weißt du, Arianrhod…«, seitdem ihre Tochter mit der Armwunde aus dem Wald zurückgekommen war, nannte sie sie nicht mehr Arri, sondern sprach sie mit ihrem vollen Namen an, wie um auf diese Weise deutlich zu machen, dass sie sie als ebenbürtig akzeptierte, »… in diesem Punkt hätte ich vielleicht auf dich hören sollen. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, einen anderen Mann aus dem Dorf auszuwählen, damit er für mich arbeitet. Rahn ist ein solcher Dummkopf. Man muss ihm alles fünfmal erklären, und selbst dann macht er es wahrscheinlich noch falsch, wenn man ihm nicht unentwegt auf die Finger schaut.« »Lenk nicht ab«, erwiderte Arri, und das war nun eindeutig zu viel, wie sie in den Augen ihrer Mutter las. Der erwartete Zornesausbruch kam zwar immer noch nicht, doch als sie antwortete, war ihre Stimme hörbar kühler und schuf eine Distanz zwischen ihnen, die Arri zwar nur zu gut kannte, von der sie aber gehofft hatte, sie endgültig überwunden zu haben. »Ich sehe, dass du dich von deiner Armverletzung erholt hast«, sagte sie spröde. »Das ist gut. Es ist jetzt wirklich an der Zeit, deine Ausbildung fortzusetzen. Und sei dir sicher: Ab heute werde ich dir des Nachts nicht nur das Kämpfen beibringen, sondern auch das Rechnen und ein paar andere Fertigkeiten, die du dringend benötigen wirst.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie zur rückwärtigen

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Wand des Zimmers, nahm das Schwert herunter und warf es Arri ansatzlos und aus dem Handgelenk zu, noch während sie sich wieder zu ihr umdrehte. Arri griff ganz instinktiv zu, und sie bekam die Waffe sogar am Griff zu fassen; allerdings durch nichts anderes als pures Glück und nicht etwa durch eigenes Geschick. Unter dem Gewicht des Schwertes taumelte sie einen Schritt zurück und fand nur mit Mühe ihr Gleichgewicht wieder. »Was… warum hast du das getan?« »Damit du dich schon einmal an das Gewicht gewöhnst. Bisher haben wir mit Stöcken gekämpft, aber ich finde, du bist jetzt so weit, auch damit zu üben. Freust du dich schon darauf?« Arri antwortete gar nicht, sondern starrte ihre Mutter und das mehr als armlange, in einer geheimnisvollen Farbe schimmernde Schwert in ihrer Hand nur verständnislos an. Dieses Schwert war der größte Schatz, den ihre Mutter besaß, vielleicht das einzig wirklich Wertvolle, was sie überhaupt auf der Welt hatte. Sie hatte nie jemandem gestattet, es auch nur anzurühren. Natürlich hatte sich Arri nichts mehr gewünscht, als eines Tages dieses Schwert in der Hand zu halten und vor allem zu lernen, damit so umzugehen wie ihre Mutter, aber sie hatte es niemals auch nur gewagt, diesen Wunsch laut zu äußern. Umso überraschter war sie nun. Aber vielleicht war sie nicht nur überrascht. Selbstverständlich hatte es ihr Freude bereitet, dass ihre Mutter ihr nicht nur ihr verborgenes Wissen um die geheimen Kräfte der Natur beibrachte, sondern sie auch lehrte, zu kämpfen und sich zu verteidigen, und das auf eine Weise, die sie noch vor wenigen Mondwenden für vollkommen unmöglich gehalten hätte. Bisher aber war es trotz allem nichts anderes als ein großes, aufregendes Spiel für sie gewesen. Trotz aller Einschärfungen ihrer Mutter, gerade das nicht zu tun, hatte sie sich selbstverständlich insgeheim an dem Gedanken erfreut, was für Gesichter die Kinder aus dem Dorf machen würden, wenn sie sie das nächste Mal verspotteten, sie einen arbeitsscheuen Nichtsnutz nannten oder gar angriffen und sie ihnen die eine oder andere unangenehme Überraschung bereiten könnte, und die schönste von all diesen Vorstellungen war selbstverständlich die gewesen, das irgendei-

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nes Tages mit Rahn zu tun. Sie hatte auch davon geträumt, dieses Schwert zu führen, doch jetzt, als sie das überraschend große Gewicht der Waffe in der Hand spürte, war da plötzlich etwas ganz anderes. Vielleicht war es einfach die Erinnerung an das, was ihre Mutter mit diesem Schwert getan hatte. Plötzlich glaubte sie noch einmal zu sehen, wie die Klinge fast ohne Widerstand durch Krons Fleisch und Knochen schnitt und seinen Arm so sauber abrennte, wie sie selbst eine Wildblume pflücken mochte. Wenn ihre Mutter und sie miteinander kämpften, dann taten sie es mit bloßen Händen oder allenfalls mit Stöcken. Sie versuchten sich zu treffen, und mehr als einmal war aus diesem freundschaftlichen Kräftemessen beinahe Ernst geworden - und doch war es ein gewaltiger Unterschied. Ein Stockschlag tat weh und konnte üble Folgen haben, führte im Allgemeinen aber zu kaum mehr als einem blauen Fleck oder allenfalls einem gebrochenen Arm, wenn man sehr viel Pech hatte. Diese Waffe war dagegen zum Töten da. Ihr Biss zerriss Fleisch und spaltete Knochen. Eine Waffe wie diese gegen einen Menschen zu richten, das hieß nicht, ihn zu verprügeln oder ihn mit einem geprellten Arm oder schlimmstenfalls humpelnd nach Hause zu schicken, wie sie es in ihrer Vorstellung schon zahllose Male mit Osh und den anderen Rabauken aus dem Dorf getan hatte. Dieses Schwert gegen einen Menschen zu richten bedeutete etwas Endgültiges. »Bist du… sicher?«, fragte sie. Ihre Mutter nickte. »Wenn du es bist.« Arri glaubte zu spüren, dass die Antwort darauf wichtig war, und wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie spätestens in diesem Augenblick den Kopf geschüttelt und ihrer Mutter die Waffe zurückgegeben. Aber sie hatte nicht den Mut dazu. Schweigend reichte sie ihrer Mutter das Schwert zurück. Lea nahm die Waffe mit undeutbarem Ausdruck entgegen und zögerte, sie an ihren Platz an der Wand zurückzuhängen, als spüre sie, was in ihrer Tochter vorging. Möglicherweise hätte sie auch eine entsprechende Frage gestellt, doch in diesem Moment erklang draußen vor der Hütte ein lautstarkes Poltern und Scharren, und dann drang Rahns unge-

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duldige Stimme zu ihnen herein. »Le? Le - wo bleibst du?« Arri zog fragend die Augenbrauen hoch. Le? Lea war bereits die Abkürzung von Leandriis wirklichem Namen. Wieso kürzte dieser Trottel eine Abkürzung ab? Ihre Mutter seufzte tief. »Was für ein Dummkopf.« »Warum gibt du dich dann mit ihm ab?« Arri wusste, dass sie sich jetzt besser mucksmäuschenstill verhalten hätte, aber sie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen. Die Antwort ihrer Mutter fiel überraschend friedfertig aus. »Weil ich ihn brauche, Arianrhod. Nicht nur, um das Lager mit ihm zu teilen.« Bedeutete dieses fast unmerkliche Zögern in ihren Worten einen versteckten Tadel? Arri wusste, dass ihre Mutter solche versteckten Hinweise liebte. »Warum?«, fragte sie. »Weil ich ihn mit dem Wagen ins nächste Dorf schicke«, antwortete Lea. »Es sind zwei, drei Tage hin und noch einmal zwei Tage zurück, mindestens. Wenn dieser Dummkopf sich nicht verirrt, heißt das.« »Bis zum nächsten Dorf ist es gerade mal ein knapper Tagesmarsch«, begehrte Arri auf. »Ein Tagesmarsch, du sagst es«, bestätigte ihre Mutter. »Ein Ochsenkarren ist viel langsamer, und er kann nicht durch die Wälder fahren, sondern muss große Umwege machen…«, sie zog eine spöttische Grimasse, »… vor allem, wenn Rahn die Zügel in der Hand hält.« Vielleicht verirrt er sich ja und kommt gar nicht zurück, dachte Arri hoffnungsvoll. Und da gab es ja auch noch die Wölfe… Sie sprach auch diesen Gedanken nicht laut aus, aber etwas von ihren Gefühlen musste sich wohl deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn ihre Mutter zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, konnte aber zugleich ein spöttisches Funkeln nicht ganz aus ihrem Blick verbannen. Bevor sie sich umdrehte und die Hütte verließ, wandte sie sich noch einmal ganz dem Schwert zu, das sie wieder an seinem angestammten Platz an der Wand befestigt hatte, und es schien Arri, als dächte sie einen Moment darüber nach, die Waffe

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wieder herunter- und mitzunehmen. Sie tat es nicht, aber die Bewegung war Arri nicht entgangen, so wenig, wie es ihrer Mutter entgangen sein konnte, dass sie es gemerkt hatte. Als Lea die Hütte schließlich verließ, machte Arri eine ganz instinktive Bewegung, ihr zu folgen, besann sich dann aber eines Besseren und trat wieder an das Guckloch heran, durch das sie Rahn und ihre Mutter vorhin schon beobachtet hatte. Die beiden hatten sich wieder ein Stück von der Hütte entfernt und standen auf Armeslänge voneinander da. Sie waren nicht nahe genug und sprachen zu leise, als dass Arri hätte verstehen können, was sie redeten, doch dafür war Rahns Körpersprache umso deutlicher: Er fuchtelte unentwegt mit den Händen und hatte Schultern und Kinn kampflustig nach vorne gereckt. Ganz offensichtlich war er nicht mit dem einverstanden, was Lea von ihm verlangte. Was ihm natürlich bei ihrer Mutter nichts nutzte. Arri sah mit stillem Vergnügen zu, wie der Fischer sich noch eine Weile wand und zierte, bis es ihrer Mutter zu bunt wurde und sie das Gespräch mit einer herrischen Geste beendete. Rahn schwieg einen Moment, dann streckte er die Hände aus, wie um sie zum Abschied noch einmal zu umarmen, doch sie wich mit einer fließenden Bewegung zurück, und Rahn ließ enttäuscht die Schultern sinken und trottete davon. Ihre Mutter blieb reglos und mit hoch erhobenen Haupt stehen und sah ihm nach, bis er am oberen Ende des Weges verschwunden war. Sie kehrte nicht sofort zurück, sondern machte sich eine Weile irgendwo außerhalb von Arris Blickfeld zu schaffen, und als sie schließlich wieder durch den Vorhang trat, brachte sie eine hastig zusammengestellte, aber reichliche und noch dazu schmackhafte Mahlzeit aus Wildäpfeln, Windenknöterich, Bucheckern und kaltem Fleisch vom Vortag mit. So aufgewühlt, wie sie sich gefühlt hatte, hatte Arri in den zurückliegenden Tagen praktisch nichts gegessen, sodass sie sich beherrschen musste, um nicht alles gierig in sich hineinzustopfen. Sie war noch nicht ganz fertig, da sagte ihre Mutter: »Ich würde dich gern zu einem kleinen Spaziergang einladen.« »Jetzt?« Arri ließ den halb gegessenen Apfel überrascht sinken.

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»Wohin gehen wir denn?« »Ich möchte dir etwas zeigen.« Ihre Mutter wandte sich bereits zur Tür, machte dann aber noch einmal kehrt und nahm zu Arris Überraschung das Schwert wieder von der Wand. »Und das geht nur, solange es hell ist. Komm, beeil dich. Wir haben ein hübsches Stück Weg vor uns.« Damit hatte sie keineswegs übertrieben. Sie verließen die Hütte und tauchten in das dichte Blätterdach des Waldes ein. Für eine Weile war Arri überzeugt davon, dass sie wieder zur Quelle gehen würden, damit sie ihre Ausbildung - nunmehr bei Tageslicht - fortsetzten. Sie warf dem Schwert, das ihre Mutter trotz seines Gewichts locker in der linken Hand trug, dann und wann einen schrägen Blick zu, aber sie stellte keine entsprechende Frage, schon weil es etwas viel Unangenehmeres auf der Lichtung gab, der sie sich jetzt näherten. Sie versuchte ein paar Mal unauffällig die Richtung zu wechseln, nicht viel, gerade weit genug, dass sie nicht an der Stelle vorbeikommen würden, an der der tote Wolf lag, aber ihre Mutter hielt den einmal eingeschlagenen Kurs stur bei, sodass sich Arri am Schluss insgeheim fragte, ob sie vielleicht längst um das tote Tier wusste - und um alles andere auch, was hier geschehen war. Doch sie erlebte eine Überraschung. Als sie an der entsprechenden Stelle ankamen - Arri erkannte sie sofort an niedergetrampeltem Unterholz und geknickten Zweigen -, war der Wolf nicht mehr da. Sie konnte mit Mühe ein Aufatmen unterdrücken, doch ihre Erleichterung hielt nur einen winzigen Moment an, denn ihre Mutter blieb plötzlich stehen, wandte mit gerunzelter Stirn den Kopf zuerst nach links, dann nach rechts und ging dann langsam, aber zielsicher genau dorthin, wo der Kadaver des Wolfes gelegen hatte. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, rammte das Schwert ohne sichtbare Anstrengung fast eine Handbreit tief in den Boden, um beide Hände frei zu haben, und tastete mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der der Wolf von dem Fremden erschlagen worden war. Sie schwieg eine ganze Weile. Schließlich hob sie die Finger der linken Hand ans Gesicht, roch daran und schüttelte kurz den Kopf, wie um sich eine in Gedanken selbst gestellte Frage zu beantworten.

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»Hier hat etwas gelegen«, sagte sie, während sie sich an ihrem Schwert hochstemmte und sich zugleich schon wieder zu Arri umdrehte. »Etwas ziemlich Großes. Es ist eine Menge Blut geflossen.« Irgendwie gelang es Arri, ihrem Blick nicht auszuweichen und auch ansonsten ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen. Nicht zu unbeteiligt, selbstverständlich. »Und?« Lea verzog nachdenklich die Lippen. »Etwas, das ein so großes Tier schlägt, muss ziemlich gefährlich sein. Hat Rahn nicht erzählt, sie hätten die Spuren von Wölfen gefunden?« Arri nickte hastig. »Vielleicht ist es einfach so gestorben«, sagte sie mit einer Kopfbewegung auf die Stelle hinter ihrer Mutter. Natürlich wusste sie, dass es nicht stimmte. Für einen Moment kam es ihr so vor, als wären die Umrisse des toten Wolfes mit deutlich sichtbaren Linien auf dem Boden zu erkennen. Hatte der Fremde den Kadaver weggeschafft? Wahrscheinlich nicht. Auch wenn die meisten von ihnen so klein waren, dass sie den Menschen allenfalls als Nahrung dienten und keine Gefahr darstellten, so hatte dieser Wald doch eine Menge hungriger Bewohner, für die das tote Tier ein wahres Festmahl dargestellt haben musste. Ihrer Mutter schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Es ist Blut geflossen. Ziemlich viel Blut.« Einen Moment lang sah sie Arri auf eine Art an, unter der diese sich nun wirklich unbehaglich zu fühlen begann, dann aber tat sie das Ganze mit einem Schulterzucken ab, zog das Schwert wieder aus dem Boden und forderte sie mit einer entsprechenden Kopfbewegung auf, weiterzugehen. Arri atmete innerlich erleichtert auf. Sie war keine besonders begabte Lügnerin. Hätte ihre Mutter auch nur eine einzige weitere Frage gestellt, wäre sehr rasch klar geworden, was hier wirklich geschehen war. Nach wenigen Augenblicken erreichten sie die Lichtung, aber Arris Mutter machte an der Quelle nur einen Augenblick Halt, um einen Schluck Wasser zu trinken und ihren Durst zu löschen, dann gingen sie weiter. Sie drangen auf der gegenüberliegenden Seite in den Wald ein, in die Richtung, die Arri bisher stets gemieden hatte. Ihr war nicht besonders wohl dabei, aber sie verbot sich selbst jede entsprechende Frage oder Bemerkung und schloss nur ein wenig dichter zu

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ihrer Mutter auf. Auch bei Tageslicht unterschied sich dieser Wald von dem, durch den sie hierher gekommen waren. Die mächtigen Eichen und Buchen standen dichter, und das Blätterdach über ihren Köpfen war nahezu vollkommen geschlossen, was dazu führte, dass es hier spürbar kühler und dunkler war, sodass in diesem Wald eine immerwährende, graue Dämmerung herrschte. Unterholz und Gestrüpp wucherten um sie herum. An manchen Stellen hätte es kein Durchkommen gegeben, hätte ihre Mutter nicht dann und wann ihr Schwert zu Hilfe genommen - jetzt wusste Arri wenigstens, warum sie es mitgenommen hatte -, um sich einen Weg durch das braune Gestrüpp zu hacken, und auch der Boden federte nun unter ihren Schritten. Trotz des dichten Bewuchses aus Bäumen und Gebüsch hatte Arri das Gefühl, immer tiefer in einen Sumpf hineinzugehen. Die Luft wurde nicht wärmer, aber spürbar feuchter, und ein paar Mal blieb ihre Mutter auch stehen, sah sich stirnrunzelnd und mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf dem Gesicht um und wechselte dann scheinbar willkürlich ihren Kurs. Zwei- oder dreimal hörte es Arri in dem farbenverzehrenden Grau vor ihnen knacken und rascheln, und mindestens einmal war sie auch sicher, das Geräusch großer Pfoten zu vernehmen, die hastig davonrannten. Nichts davon schien ihre Mutter jedoch zu irritieren oder gar zu ängstigen. Sie setzte ihren Weg unbeirrt, wenn auch nicht in gerader Richtung fort. Eine ganze Zeit lang marschierten sie auf diese Weise in so zügigem Tempo durch den Wald, wie es das unwegsame Gelände nur zuließ. Und irgendwann wurde es vor ihnen wieder hell. Lea sagte noch immer nichts, beschleunigte ihre Schritte nun aber deutlich, sodass Arri plötzlich alle Mühe hatte, überhaupt noch mit ihr mitzuhalten, und es vergingen nur mehr wenige weitere Augenblicke, bis sie helles Sonnenlicht durch die Bäume hindurchschimmern sah. Noch ein Dutzend rascher Schritte, und sie hatten den Waldrand erreicht. Arri blieb verblüfft stehen und riss die Augen auf. Der Anblick, der sich ihr bot, kam nicht nur völlig unerwartet, er war auch geradezu phantastisch. Jenseits des Waldes ging der Boden in eine sanft gewellte, von kniehohem, saftigem Gras bewachsene

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Hügellandschaft über, die sich so weit zog, wie das Auge reichte. Hier und da wuchsen ein paar Bäume, manchmal einzeln, manchmal in kleinen Gruppen, von denen aber keine die Bezeichnung Wald verdient hätte, und weit im Osten konnte sie das von ewigem Weiß gekrönte Grau der Berge erkennen, die mit dem Horizont verschmolzen. Ein lauer Wind, der Arri nach der feuchten Kälte drinnen im Wald wärmer und wohltuender vorkam, als er war, wehte ihnen in die Gesichter und trug ein verwirrendes Durcheinander fremdartiger, aber fast ausnahmslos angenehmer Gerüche mit sich heran. »Aber… was ist denn das?«, murmelte sie. In den Augen ihre Mutter erschien ein stolzes Lächeln, als hätte sie ganz allein das hier alles erschaffen. »Das, was ich dir zeigen wollte. Aber nicht nur.« Arri hörte den letzten Satz gar nicht. »Aber… aber wie kann das sein?«, murmelte sie erstaunt. »Alle anderen sagen doch, dass das Land auf dieser Seite des Waldes zu gefährlich ist! Sarn erzählt, hier gäbe es Ungeheuer und böse Geister.« »Sarn«, sagte ihre Mutter betont, »ist ein Dummkopf. Allerdings… was die Geister angeht, so hat er vielleicht sogar Recht.« Ihr Lächeln wurde geradezu verschwörerisch, aber es war auch nicht zu übersehen, wie sehr sie sich amüsierte, als sie den plötzlich erschrockenen Ausdruck auf Arris Gesicht gewahrte. »Möchtest du sie sehen?«, fragte sie. Ohne Arris Antwort abzuwarten, trat sie mit einem weiteren Schritt vollends aus dem Wald heraus, hob die Hand und pfiff schrill durch die Finger. Im allerersten Moment geschah gar nichts. Arri blinzelte ihre Mutter verwirrt an und wollte gerade dazu ansetzen, eine entsprechende Frage zu stellen, als sie etwas hörte. Das Geräusch war ganz leise; am Anfang kaum mehr als ein fernes Donnergrollen, das viel eher zu spüren als wirklich zu hören war und sich aus einer Richtung näherte, die sie nicht genau erkennen konnte. Doch es nahm rasch an Lautstärke zu, und schon bald darauf spürte Arri, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Der Boden unter ihren Füßen zitterte tatsächlich, ganz sacht zwar nur, aber eindeutig im Rhythmus des allmählich lauter werdenden Dröhnens und Grollens. Es war, als käme etwas auf sie

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zu, noch unsichtbar zwar, aber rasend schnell und sehr, sehr groß. Plötzlich war die Angst wieder da. Ihr Herz begann zu klopfen, und nur mit Mühe konnte sie das Zittern ihrer Hände unterdrücken. Sie wandte sich zu ihrer Mutter um. Auch Lea musste das Geräusch hören, aber sie wirkte nicht im Mindesten beunruhigt, sondern schien sich ganz im Gegenteil über die mittlerweile unübersehbare Furcht ihrer Tochter zu amüsieren. »Was… was ist das?«, fragte Arri. Sie versuchte vergeblich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Ihre Mutter hob die Hand. »Warte!« Und dann sah Arri sie. Das Dröhnen war mittlerweile zum Geräusch eines Wasserfalls angeschwollen, der unmittelbar hinter ihr eine hundert Mannslängen hohe Felswand hinabstürzte. Arri wich, ganz ohne es zu merken, wieder einen halben Schritt in den Wald zurück, als hinter einem der kleinen Haine eine gewaltige Masse riesiger Kreaturen auftauchte die Ungeheuer, von denen Sarn gesprochen hatte. Es waren gewaltige, muskulöse Geschöpfe mit schwarzem, weißem und braunem Fell, muskulösen Hälsen und schrecklichen Schädeln und noch schrecklicheren Gebissen und langen Beinen, die in Hufen endeten, welche Ehrfurcht gebietend genug aussahen, um einem Menschen fast beiläufig den Schädel zu zertrümmern. Nur, dass es keine Ungeheuer waren, sondern Pferde. Dutzende von Pferden, wenn nicht hunderte. Wie eine einzige, gewaltige Masse schwenkten sie zu dem Waldflecken herum, obwohl Arri sicher war, dass sie ihn mit ihrer schieren Masse einfach hätten niederrennen können. Sie wurden nicht langsamer, sondern schienen im Gegenteil sogar noch an Geschwindigkeit zuzulegen, während sie sich dem Waldrand - und damit auch Arri und ihrer Mutter - näherten. Dennoch rührte sich Lea nicht von der Stelle. »Mutter?«, fragte Arri. Sie musste fast schreien, um das Dröhnen der zahllosen Hufe zu übertönen. Dennoch schien ihre Mutter sie gehört zu haben, denn sie hob noch einmal die Hand und winkte Arri sogar zu, wieder zu ihr zurückzukommen. Arri reagierte, indem sie noch einen weiteren Schritt in den Wald zurückwich und sich nach

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einem Baum umsah, auf den sie sich flüchten konnte. Die Pferde kamen unaufhaltsam näher. Erst im allerletzten Moment, als Arri schon fest davon überzeugt war, dass die Tiere ihre Mutter einfach niedertrampeln würden, wurde die Herde langsamer. Kaum noch eine Armeslänge von Lea entfernt, hielten die Tiere schnaubend und wiehernd inne. Viele von ihnen begannen unruhig auf der Stelle zu tänzeln; manche rannten aber auch sofort wieder davon oder blieben einfach stehen. »Komm schon«, rief ihre Mutter. »Du brauchst keine Angst zu haben. Sie tun dir nichts!« Arri machte einen zaghaften Schritt und blieb sofort wieder stehen, als eines der Pferde, ein besonders großes, beeindruckendes Tier mit einem prachtvollen Schädel und einem glänzenden Fell in der Farbe der Nacht, den Kopf wandte und mit einem leisen Schnauben in ihre Richtung sah. Lea lachte, wiederholte ihr Winken und trat gleichzeitig auf das schwarze Pferd zu. Arri riss ungläubig die Augen auf, als sie sah, wie das riesige Geschöpf den Kopf senkte und es nicht nur zuließ, dass ihre Mutter ihm Hals und Nüstern tätschelte, sondern die Berührung auch ganz offensichtlich genoss. »Komm schon, du Hasenfuß«, sagte Lea lachend. »Das ist Nachtwind. Er wird dir nichts tun.« »Nachtwind?«, wiederholte Arri verblüfft. »Dieses Ding hat einen Namen?« Gerade so, als hätte es nicht nur seinen Namen, sondern auch Arris Worte verstanden, drehte das Pferd den Kopf und schien sie missbilligend aus seinen großen, erstaunlich klug wirkenden Augen anzusehen. Ihre Mutter lachte abermals, aber in ihrer Stimme schwang auch ein sanfter Ton von Tadel mit, als sie antwortete. »Dieses Ding ist kein Ding«, sagte sie betont, »sondern ein Hengst. Er ist der Anführer der Herde und außerdem mein Freund.« Sie wedelte zum dritten Mal mit der Hand. »Komm her! Und du, Nachtwind, sag Arianrhod guten Tag. Sie ist meine Tochter, weißt du? Nimm ihr nicht übel, was sie gerade gesagt hat. Sie weiß es nicht besser, aber sie hat es bestimmt nicht böse gemeint. Sie kennt dich ja noch nicht.«

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Der riesige Hengst schnaubte zustimmend, und der Ausdruck in seinen sanften braunen Augen schien plötzlich verständnisvoller zu werden. Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. So sehr sie der Anblick der gewaltigen stolzen Tiere auch beeindruckte - und erst recht die selbst jetzt nur allmählich aufdämmernde Erkenntnis, dass ihre Mutter offenbar ein ganz besonderes Verhältnis zu ihnen zu haben schien - es blieben Tiere, ganz gewöhnliche Pferde. Selbstverständlich wusste sie, was Pferde waren. Niemand im Dorf hielt sich ein Pferd, denn sie waren nicht annähernd so stark wie Ochsen, dafür aber viel anspruchsvoller und sehr viel schwieriger zu halten. Arri wusste, dass die Stuten wohlschmeckende Milch gaben und dass auch ihr Fleisch essbar war. Vor zwei Sommern hatten die Jäger ein erlegtes Pferd mitgebracht, und das ganze Dorf hatte sich daran gütlich getan - abgesehen von ihr selbst, denn ihre Mutter hatte ihr verboten, davon zu kosten. Jetzt verstand Arri auch, warum. »Jetzt komm schon her«, sagte ihre Mutter zum wiederholten Mal, zwar immer noch lächelnd, aber dennoch in einem hörbar veränderten Tonfall, der ihre Aufforderung eher in die Nähe eines Befehles rücken ließ anstelle einer Bitte. Arri setzte sich gehorsam in Bewegung, aber ihr Herz klopfte immer heftiger, und ihre Finger begannen zu zittern, als sie auf einen auffordernden Wink ihrer Mutter hin die Hand hob, um die Nüstern des Hengstes zu streicheln. Nachtwind senkte den Kopf, um es ihr ein wenig leichter zu machen, und sie war überrascht, wie weich und warm er sich anfühlte. Sie hatte erwartet, es wäre wie bei einer Kuh, schlabberig und kalt, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Der Hengst ließ sie kurz gewähren, dann warf er mit einem Schnauben den Kopf in den Nacken, tänzelte ein paar Schritte zurück und sprengte davon, aber nur, um gleich darauf zurückzukommen und mit den Hufen vor ihr im Boden zu scharren. »Du gefällst ihm«, sagte Lea. »Ich glaube, du hast einen neuen Freund gewonnen.« Arri bedachte den Hengst mit einem schrägen Blick. Er mochte vielleicht nicht so boshaft und angriffslustig sein, wie der Anblick

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seines nachtschwarzen Fells und des beeindruckenden Gebisses sie glauben machte, aber er war ein Tier, und ein schrecklich starkes dazu. Ihr Freund? Die Herde hatte sich mittlerweile zerstreut. Etliche Tiere grasten friedlich, andere tollten mit den Jungtieren herum, von denen Arri eine ganze Anzahl gewahrte, wieder andere standen einfach da und taten gar nichts; vielleicht Wächter, die nach Raubtieren Ausschau hielten, die versuchen mochten, sich im hohen Gras unbemerkt anzuschleichen. Arri sah jetzt auch, dass sie sich kräftig verschätzt hatte, was die Größe der Herde anging. Es waren vielleicht vierzig oder fünfzig Tiere, noch immer eine gewaltige Menge, die aber nicht nach hunderten zählte. Sie drehte sich wieder zu ihrer Mutter um und wollte etwas sagen, doch da traf sie ein Stoß in den Rücken, der fast sanft war, zugleich aber so kraftvoll, dass sie haltlos zwei, drei Schritte nach vorn stolperte und nur mit Mühe und heftig rudernden Armen ihr Gleichgewicht wieder fand. Empört fuhr sie herum und wich hastig noch einen weiteren Schritt rückwärts gehend zurück, als sie sah, wem sie diesen rüden Stoß zu verdanken hatte. Das Pferd war nicht ganz so groß wie Nachtwind - aber auch nicht wirklich kleiner - und hatte ein schwarz-weiß geschecktes Fell, eine lange, strahlend weiße Mähne und einen schwarzen Schweif. Noch während sich Arri völlig verdattert fragte, ob dies nun ein heimtückischer Angriff oder ein Versehen gewesen war, kam es mit zwei Schritten näher, senkte den Kopf und stupste sie mit seiner weichen Schnauze so kräftig vor die Brust, dass sie schon wieder unbeholfen nach hinten stolperte und noch heftiger mit den Armen rudern musste, um nicht zu stürzen. »He!«, begehrte sie auf. »Was soll denn das?« Ihre Mutter lachte schallend. »Vielleicht solltest du ihr einfach die Nüstern streicheln oder den Hals. Ich wette, dass sie dann aufhört.« Arri warf ihrer Mutter zwar einen zweifelnden Blick zu, aber das gescheckte Ungeheuer trabte schon wieder heran, und so beeilte sie sich, ihrem Rat nachzukommen. Hastig streckte sie die Hand aus und tätschelte den schwarz-weiß gefleckten Hals des Pferdes, und tatsächlich bekam sie jetzt keinen weiteren Knuff mehr. Ganz im Ge-

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genteil schnaubte das riesige Tier vor lauter Wohlwollen. Arri fuhr zwar noch einmal zusammen, als sich der gewaltige Schädel ihrem Gesicht näherte, doch diesmal beließ es das Ungeheuer dabei, seine Nüstern kurz an ihrer Wange zu reiben; dann drehte es sich plötzlich um und lief ein paar Schritte weit davon, bis es stehen blieb und an den saftigen Grashalmen zu zupfen begann, die die Ebene bedeckten. »Ich muss mich verbessern«, sagte Lea hinter ihr. »Ich glaube, du hast zwei neue Freunde gewonnen.« Arri drehte sich halb zu ihr um, sah aber immer wieder zu dem schwarz-weißen Schecken. Sie sagte nichts, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht schien so komisch zu sein, dass ihre Mutter schon wieder in ein leises, spöttisches Gelächter ausbrach. »Das ist Morgenwind«, sagte sie. »Nachtwinds Tochter.« Ohne Arris Reaktion auf ihre Eröffnung abzuwarten, drehte sie sich zu dem riesigen Hengst um, der mittlerweile wieder an ihre Seite getreten war, tätschelte mit der linken Hand seinen Hals und fuhr ihm mit der anderen fast liebkosend über die Nüstern. »Du hast deiner Tochter gesagt, wer Arianrhod ist, nicht wahr?«, fragte sie. »Das war eine gute Idee. Ich bin sicher, unsere Kinder werden genauso gute Freunde, wie wir es sind.« Arri wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Sie fragte sich, ob ihre Mutter nur einen Scherz hatte machen wollen. »Du… du sprichst doch nicht etwa wirklich mit ihnen?«, murmelte sie schließlich hilflos. »Selbstverständlich tue ich das. Und sie mit mir.« »Du… du machst dich über mich lustig.« In Arris Stimme war sehr wenig Überzeugung, und obwohl ihre Mutter sich nun wieder zu ihr umdrehte, dauerte es eine ganze Weile, bis sie antwortete; immer noch lächelnd, nun aber mit einem sonderbaren Ernst in der Stimme. »Keineswegs. Nachtwind und die Seinen sind meine Freunde. Vielleicht die besten, die ich jemals hatte.« Sie hob rasch die Hand, als Arri etwas sagen wollte, und fuhr in verändertem Ton fort: »Ich glaube wirklich, dass sie mich verstehen. Nicht die Worte, nicht, was ich sage. Aber sie spüren, dass ich nicht ihr Feind bin, und ich spüre, dass es umgekehrt genauso ist.«

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Arri sah sich abermals verwirrt um, antwortete aber trotzdem: »Es sind nur Tiere, Mutter.« »Nur Tiere?« Lea hörte auf, Nachtwinds Hals zu streicheln, und versetzte ihm stattdessen einen Klaps mit der flachen Hand auf die Flanke. Der Hengst reagierte darauf mit einem enttäuschten Schnauben, drehte sich aber gehorsam um und rannte zu seiner Tochter. Kaum hatte er die gescheckte Stute erreicht, fielen beide in einen leichten Trab und liefen ein gutes Stück weit davon, bevor sie ausgelassen herumtollten. »Nur Tiere«, sagte Lea noch einmal. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ja, das mag vielleicht sogar stimmen. Aber es sind ganz besondere Tiere. Nicht nur Nachtwind und seine Herde, auch wenn er gewiss ein ganz außergewöhnliches Exemplar ist. Die Menschen hier wissen nicht, was Pferde wirklich sind. Für die allermeisten sind sie nur Wild, dass sie jagen können und deren Fleisch äußerst schmackhaft ist. Einige wenige spannen sie vor Karren und halten sich auch noch für besonders schlau, weil sie diese prachtvollen Tiere eine Arbeit tun lassen, für die die Götter Ochsen und Kühe erschaffen haben.« Sie schüttelte heftig den Kopf, als versetze sie allein die Vorstellung schon in Zorn. »Sie haben ja keine Ahnung.« »Und… was sind sie wirklich?«, fragte Arri zögernd. Ein sonderbarer Ausdruck trat in die Augen ihre Mutter, fast so etwas wie Wehmut, vielleicht auch eine sachte Spur von Trauer. Ihre Stimme wurde leiser. »In meiner Heimat…« Sie verbesserte sich. »In unserer Heimat waren Pferde für uns etwas ganz Besonderes. Wir waren für unsere Pferde fast so berühmt wie für das Geschick unserer Seeleute und die Tüchtigkeit unserer Händler. Wir züchteten Tiere, die auf der ganzen Welt begehrt waren. Als ich so alt war wie du, Arianrhod, hat mir mein Vater mein erstes eigenes Pferd geschenkt. Es war ein Fohlen, ein Hengst wie Nachtwind, und auch ebenso schwarz. Er hat mir sein Leben lang treue Dienste geleistet, und als er schließlich starb, da war es wirklich ein Freund, der von mir ging, nicht nur ein Tier. Du wirst mich verstehen, wenn du sie erst einmal ein bisschen besser kennen gelernt hast. Ich glaube, Morgenwind mag dich. Sie ist sonst eher scheu. Ich habe fast ein Jahr gebraucht,

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um ihr Vertrauen zu erringen. Du kannst sehr stolz darauf sein, dass sie ganz von sich aus zu dir gekommen ist.« Arri schwieg dazu, schon weil es gar nichts gab, was sie hätte sagen können. Sie war noch immer viel zu überrascht, um sich wirklich eine Meinung über das bilden zu können, was sie sah oder was ihre Mutter ihr erzählt hatte, aber sie musste nur einen einzigen Blick auf Leas Gesicht werfen, um zu begreifen, dass sie sich nicht etwa über sie lustig machte, sondern diese Worte bitter ernst meinte. Und irgendwie konnte sie sie auch verstehen. Nun, wo sie ihren ersten Schrecken überwunden und begriffen hatte, dass ihr von diesen Tieren keine Gefahr drohte, fiel Arri die Schönheit und Anmut dieser großen, kräftigen Geschöpfe mehr und mehr ins Auge. Längst nicht alle waren so muskulös und beeindruckend wie Nachtwind, manche sogar eher klein, nicht viel größer als Kälber, obwohl sie offensichtlich ausgewachsen waren. Doch es ging etwas von ihnen aus, das Arri zwar nicht mit Worten beschreiben konnte, das ganz zweifellos aber genau dem entsprach, was sie in der Stimme ihrer Mutter hörte und in ihrem Blick las. »Wieso weiß niemand etwas davon?«, fragte sie verwundert. »Weil die Menschen im Dorf ein abergläubisches Pack sind, denen man nur irgendwelche Geschichten von Geistern, zornigen Göttern und sechsköpfigen Ungeheuern erzählen muss, um ganz sicherzugehen, dass sie niemals hierher kommen werden.« »Hast du ihnen diese Geschichten erzählt?«, fragte Arri. »Ich?« Lea schüttelte heftig den Kopf und grinste spitzbübisch. »Warum hätte ich das tun sollen? Sie hätten mir doch sowieso nicht geglaubt. Nein, ich habe es Rahn erzählt, und er hat es Sarn erzählt, und wie es der Zufall will, hat unser geliebter Dorfältester und Schamane des Nachts sonderbare Lichter im Wald gesehen und noch sonderbarere Geräusche gehört, als er eines Tages herkam, um sich mit eigenen Augen vom Wahrheitsgehalt dieser Geschichten zu überzeugen. Nein.« Sie schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf und fuhr dann in ernstem Ton fort: »Niemand weiß von dem hier, und das muss auch so bleiben. Wüssten diese Dummköpfe, bei denen wir leben, von Nachtwind und seiner Herde, dann würden sie ihn

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jagen und abschlachten, um sein Fleisch zu essen. Ich bin die Einzige, die von ihm weiß - und jetzt du.« »Und du hast mir die ganze Zeit über nichts davon erzählt?«, fragte Arri. Sie war ein wenig enttäuscht. Ihre Mutter hatte ihr gerade ein großes Geheimnis verraten, was sicherlich ein Vertrauensbeweis war, hatte aber im gleichen Atemzug auch gesagt, dass sie dieses Geheimnis lange Zeit vor ihr verborgen gehalten hatte. Warum? »Ich konnte dir nichts sagen, Arianrhod. Du warst ein Kind.« »Ich hätte niemandem etwas verraten!«, begehrte Arri auf. »Sicherlich nicht absichtlich. Aber dieses Geheimnis ist zu groß und zu wertvoll, um es mit irgendeinem anderen auf der Welt zu teilen. Du bist jetzt die Einzige außer mir, die davon weiß, und du musst mir schwören, dass du es niemandem verrätst. Es wäre ihrer aller Tod. Die Leute würden sie fangen und schlachten oder in einen Pferch sperren und sie schwere Arbeiten verrichten lassen. Nachtwind könnte so nicht leben, ebenso wenig wie du oder ich. Versprich mir, dieses Geheimnis in deinem Herzen zu bewahren.« Arri nickte. »Das genügt mir«, sagte Lea. Plötzlich lachte sie wieder. »Und jetzt haben wir genug der hehren Worte und gewichtigen Versprechen ausgetauscht. Lass uns den Rest Tageslicht nutzen und ein wenig mit unseren neuen Freunden spielen. Komm ich stelle dir den Rest der Herde vor.«

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9 Sie waren noch fast bis Sonnenuntergang geblieben, und obwohl Arri die meiste Zeit über schweigsam und eher zurückhaltend gewesen war und sich (mit mehr oder weniger Erfolg) einzureden versucht hatte, dass sie dieses kindische Spiel nur mitmachte, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, vermochte sie sich der Faszination, die von den großen, stolzen Tieren ausging, auf Dauer doch nicht zu entziehen. Erst als sich der Himmel im Westen bereits eindeutig grau färbte, machten sie sich auf den Rückweg. Bei Dunkelheit erwies es sich als noch schwieriger, den verbotenen Wald zu durchqueren, als bei Tage, sodass der Nachtzenit bereits überschritten sein musste, bis Arri schließlich - erschöpft und völlig entkräftet, aber auch auf eine sonderbare Weise zufrieden, die sie sich selbst nicht genau erklären konnte und die ihr aber das intensive Gefühl gab, plötzlich Teil von etwas Neuem und sehr Kostbarem geworden zu sein - neben ihrer Mutter aus dem Wald trat und die wenigen Schritte zu ihrer Hütte zurücklegte. Als sie die Stiege fast erreicht hatten, blieb ihre Mutter abrupt stehen und hob die rechte Hand. Ihr linker Arm, der das Schwert hielt, blieb locker, doch Arri entging keineswegs, dass sich ihre Finger fester um den lederbezogenen Griff der Waffe schlossen. »Was ist?«, fragte sie erschrocken. »Nichts«, behauptete Lea. Ihr Gesichtsausdruck und ihre plötzlich angespannte Haltung besagten jedoch das Gegenteil. Auch Arri sah sich hastig nach allen Seiten hin um und lauschte einen Moment, so angestrengt sie konnte, aber ihr fiel nichts auf. Dennoch begann ihr Herz zu klopfen. Wenn ihre Mutter der Meinung war, etwas gehört zu haben, dann war da etwas. Obwohl Lea nicht müde wurde, ihr immer wieder zu versichern, dass ihre noch frischen jugendlichen Sinne viel schärfer waren als die jedes Erwachsenen, verging doch praktisch kein Tag, an dem sie ihr nicht bewies, dass zumindest sie eine Ausnahme von dieser Regel darstellte. »Bleib zurück«, zischte sie, unbeschadet dessen, was sie gerade selbst gesagt hatte, wechselte das Schwert von der linken in die rech-

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te Hand und bewegte sich, seitwärts gehend, nur auf den Zehenspitzen und vollkommen lautlos die Stiege hinauf. Unmittelbar vor dem Vorhang blieb sie stehen und lauschte, und dann drückte ihre Haltung plötzlich nichts anderes als blanke Überraschung aus. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, folgte Arri ihrer Mutter. Lea war geduckt und durch und durch angespannt unter der Tür stehen geblieben. Mit der linken Hand hatte sie - ohne auch nur den geringsten Laut zu verursachen - den Muschelvorhang beiseite geschoben, sodass Arri an ihr vorbei in die Hütte blicken konnte. Ein leises, auf merkwürdige Weise vertraut erscheinendes Geräusch drang an ihr Ohr. Im allerersten Moment sah Arri so gut wie nichts, aber ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, und dann konnte sie die Verblüffung ihrer Mutter nur zu gut verstehen. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte etwas Gespenstisches. Durch die Gucklöcher drang nur das blasse Licht der Nacht herein, sodass sie die Umrisse aller Dinge in der Hütte mehr erahnte als wirklich erkannte, aber das machte das Bild eher noch unheimlicher. Sarn, der Dorfälteste, saß in Leas aufwändig gefertigtem, aber bereits an vielen Stellen gerissenen Korbstuhl und hatte Kopf und Schultern gegen die geflochtene hohe Lehne sinken lassen. Er schnarchte mit weit offen stehendem, zahnlosem Mund. Sein mit bunten Federn geschmückter Umhang war im Schlaf über seiner Brust auseinander gefallen, sodass man seinen ausgemergelten, dürren Leib darunter erkennen konnte. Ein dünner Speichelfaden, der im hereinfallenden Mondlicht wie nasses Silber glänzte, lief aus seinem Mundwinkel und besabberte den Kragen seines Federumhangs. Sarn war nicht allein gekommen. Eine zweite, ebenfalls schlafende Gestalt hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und schnarchte mit ihm um die Wette. Es war zu dunkel, als dass Arri ihr Gesicht hätte erkennen können, aber anhand seiner Gestalt vermutete Arri, dass es sich um Grahl handelte. Lea blieb noch einige Augenblicke reglos unter der Tür stehen und schüttelte immer wieder den Kopf, als könne sie einfach nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sah. Dann schlug sie mit einem Ruck den Vorhang vollends beiseite und polterte so lautstark in die Hütte

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hinein, dass die schlafende Gestalt am Boden mit einem Ruck aufsprang und Sarn so erschrocken zusammenfuhr, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre. Arri hätte am liebsten laut aufgelacht, aber das wäre vermutlich unangebracht gewesen; irgendwie gelang es ihr, sich zu beherrschen. Ihre Mutter schien da weit weniger Skrupel zu haben. Sie lachte zwar nicht schallend auf, sondern beließ es bei einem kurzen, spöttischen Laut, aber irgendwie hörte es sich in Arris Ohren genau so an und ganz offensichtlich nicht nur in ihren. Grahl funkelte sie zornig an, während Sarn im allerersten Moment einfach nur orientierungslos ins Leere starrte. Schlaftrunken versuchte er sich in die Höhe zu stemmen und wäre um ein Haar nun endgültig vom Stuhl gefallen. Der Stock rutschte ihm von den Knien und polterte so lautstark zu Boden, dass Grahl heftig zusammenfuhr und sein Blick das Gesicht ihrer Mutter losließ. »Guten Morgen, die Herren«, sagte Lea ruhig. »Ich hoffe doch, ich habe euch nicht zu unsanft geweckt?« Grahl war klug genug, gar nichts zu sagen, sondern fuhr sich nur mit dem Handrücken über das Gesicht und versuchte sich den Schlaf aus den Augen zu blinzeln, während sich Sarn Sabber vom Mund wischte und zumindest zu antworten versuchte. Er brachte im ersten Moment aber nur ein unverständliches Krächzen zustande, räusperte sich und nutzte die gewonnene Zeit, um ein paar Mal zu blinzeln. In die Benommenheit in seinem Blick mischte sich eine Art müder Zorn, der aber wohl mehr aus seinem Verstand als aus seinem Herzen kam. »Da bist du ja endlich«, begann er mit immer noch belegter Stimme, räusperte sich erneut und fuhr dann in schärferem Ton fort: »Wo seid ihr gewesen? Der Nachtzenit ist weit überschritten!« Lea warf einen flüchtigen Blick zum Guckloch, als müsse sie sich davon überzeugen, dass das auch stimmte, dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Und das schon eine ganze Weile. Ihr zwei scheint einen guten Schlaf zu haben.« »Um so schlimmer«, polterte Sarn. »Wo seid ihr den ganzen Tag und die halbe Nacht gewesen?«

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»Meine Tochter und ich waren an einem geheimen Ort im Wald, wo wir in jeder dritten Nacht nackt um einen Stein herumtanzen, um böse Geister zu beschwören«, antwortete Lea bissig. »Bisher hatten wir noch nie Erfolg damit, aber jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es nicht vielleicht doch geklappt hat.« Sie warf Arri einen fragenden Blick zu. »Was meinst du?« Arri hob zur Antwort nur die Schultern. Natürlich wusste sie, wie Lea diese Worte gemeint hatte, und ganz gewiss wusste es Sarn auch. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte das nicht gesagt. Sarn war kein Mann, der sich beißenden Spott gefallen ließ. In seinen Augen blitzte es denn auch prompt auf. Er fuchtelte ungeduldig in Grahls Richtung, und der Jäger beeilte sich, sich nach seinem Stock zu bücken und ihn dem Schamanen zu reichen. Als er sich vorbeugte, sah Arri es unter seinem Umhang kurz aufblitzen. Der Jäger hatte eine Waffe mitgebracht. Wieder im Besitz seines Stabes, schien Sarn auch sein altes Selbstvertrauen zurückgewonnen zu haben. Er stampfte mit dem Ende des Stockes auf, dass die ganze Hütte dröhnte, und herrschte Lea an: »Wo ihr gewesen seid, habe ich gefragt!« Zu Arris Erleichterung blieb ihre Mutter vollkommen ruhig. »Ich habe dich verstanden, Sarn. Ich finde nur, dass das eine sehr seltsame Frage ist für einen Mann, der uneingeladen in meine Hütte eingedrungen ist. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dir einen Schlafplatz angeboten zu haben - so wenig wie dir, Grahl. Oder hat dich deine Frau rausgeworfen, weil du wieder einmal hinter fremden Röcken her warst?« Sarns Gesicht verdüsterte sich noch weiter. Er warf dem Jäger einen herausfordernden Blick zu, aber Grahl funkelte Lea nur trotzig an und rührte sich nicht. »Was wollt ihr?«, fragte Lea. »Du hast Rahn weggeschickt«, antwortete Sarn. »Wohin? Und zu welchem Zweck?« »Er macht ein paar Besorgungen für mich«, antwortete Lea. »Keine Angst. Er wird bald zurück sein und seine Arbeit nicht vernachlässigen.«

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Das hatte Sarn nicht gefragt. Seine Augen wurden schmal. »Wieso schickst du ihn fort, ohne mein Wissen?« »Oh, verzeiht, edler Sarn«, antwortete Lea spöttisch. »Ich wusste nicht, dass ich Eure Erlaubnis brauche, wenn ich jemanden auf einen Botengang schicke.« »Wenn dieser Botengang die Sicherheit meines Dorfes gefährdet…« »Eures Dorfes?«, unterbrach ihn Lea. Sarn ignorierte den Einwurf. »… geht es mich sehr wohl etwas an«, fauchte er. »Die Sicherheit des Dorfes?« Lea verzog abfällig die Lippen. »Es geht dich zwar nichts an, Sarn, aber ich habe Rahn ins Nachbardorf geschickt, um eine Wagenladung Kupfererz und Zinn sowie Treibhämmer, Meißel, Stichel und Schlegel zu holen. Wie sollte das die Sicherheit Eures Dorfes gefährden?« Kupfererz und Zinn?, dachte Arri überrascht. Und Schmiedewerkzeug? Wozu benötigte ihre Mutter all diese Dinge? Das Dorf hatte keinen Schmied mehr, seit Achk sein Augenlicht verloren hatte, und alles, was sie jetzt an Bronzewaren brauchten, mussten sie mit Gosegs Genehmigung andernorts eintauschen. »Es ist gefährlich, das Dorf zu verlassen!«, beharrte Sarn und stampfte abermals mit seinem Stock auf. »Hast du die Fremden vergessen, die in den Wäldern umherstreifen?« »Du meinst die, die noch niemand zu Gesicht bekommen hat?«, fragte Lea kühl. Grahl sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und spannte sich, während Sarn zum dritten Mal mit seinem Stock aufstampfte. »Genug«, sagte er scharf. »Sie haben einen von Grahls Brüdern getötet und einen anderen verkrüppelt!« »Wofür wir auch nur Grahls Wort haben«, sagte Lea schulterzuckend. Grahl wurde noch ein bisschen blasser, aber Lea fuhr völlig unbeeindruckt fort: »Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist. Vielleicht war es so, wie Kron und Grahl berichten, vielleicht auch nicht. Es spielt keine Rolle.« »Es spielt keine Rolle, wenn Fremde durch unsere Wälder streichen

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und uns auskundschaften, weil sie vielleicht einen Angriff planen?«, ächzte der Dorfälteste. »Einen Angriff?«, wiederholte Lea. »Wer sollte das tun, und warum? Die Rache Gosegs wäre ihnen gewiss.« »Uns haben sie vollkommen grundlos angegriffen«, warf Grahl ein. »Vielleicht sind sie auf Eroberung aus«, sagte Sarn. »Es gibt Gerüchte über ein fremdes Volk, das aus dem Osten über die Berge drängt und ein Dorf nach dem anderen erobert. Es heißt, sie lassen keine Überlebenden zurück.« »Dann geht nach Goseg, damit Nor euch Krieger schickt, um euch zu beschützen«, sagte Lea. »Immerhin entrichtet das Dorf genau zu diesem Zweck Jahr für Jahr Tribut an das Heiligtum.« »Vielleicht wäre es gar nicht nötig, Nor um Hilfe zu bitten«, sagte Sarn böse. »Was genau willst du damit sagen?«, fragte Lea. Ihre Stimme war ruhig, fast schon gefährlich ruhig, fand Arri, und auch der Ausdruck in ihrem Gesicht änderte sich nicht im Mindesten. Aber ihre Augen sprühten Funken, und die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich ein ganz kleines bisschen fester um den Schwertgriff. Sarn hielt ihrem Blick stand, und auch in Grahls Augen zeigte sich ein Ausdruck, der über Trotz und mühsam unterdrückte Furcht hinausging. Er war nicht so dumm, nach seiner Waffe zu greifen, doch irgendetwas an seiner bloßen Art dazustehen schien nicht nur Arri zu zeigen, dass er durchaus bereit dazu wäre, wenn es sein musste. In diesem Moment, das spürte sie genau, waren sie alle nur ein winziges Stückchen vom Ausbruch offener Gewalttätigkeiten entfernt - obgleich niemand vermutlich wirklich sagen konnte, warum. Es war ausgerechnet Sarn, der die Lage wieder entspannte, wenn auch vermutlich, ohne es selbst zu ahnen, denn seine nächsten Worte kamen scharf und in herausforderndem, aggressivem Ton. »Ich will damit sagen, dass das Unglück bei uns Einzug gehalten hat, seit du und deine Tochter hier seid.« »Diesen Zustand können wir rasch ändern«, erwiderte Lea. »Wenn du darauf bestehst, dann ziehen Arianrhod und ich noch in dieser Nacht weiter. Das Wenige, was wir besitzen, ist schnell zusammen-

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gepackt.« Sie machte eine ausholende Handbewegung, und Sarn fuhr erschrocken zusammen und wich ein ganz kleines Stückchen zurück, als hätte er Angst, Lea könne ihn schlagen, während Grahls Blick mit wachsender Unruhe über das Schwert in ihrer Rechten tastete. »Ein einziges Wort genügt, Sarn«, fuhr sie fort, »und dieses Haus ist bei Sonnenaufgang leer. Doch vielleicht solltest du zuvor die Menschen im Dorf fragen, was sie davon halten. Wer wird ihnen sagen, wann die Zeit gekommen ist, die Saat auf die Felder zu bringen? Wer wird den Fischern sagen, wie sie bessere Reusen bauen und welche Fische sie fangen können und welche nicht, um den Bestand des nächsten Jahres nicht zu gefährden? Wer sagt den Jägern, in welche Himmelsrichtung sie gehen müssen, um mehr Beute zu machen? Wer kümmert sich um die Kranken und Verwundeten?« Und auch das, wünschte sich Arri, hätte sie besser nicht gesagt. Nichts davon war übertrieben oder gar gelogen. Die Menschen in diesem Dorf hatten auch vor ihrer Ankunft gejagt, Fische gefangen und ihre Kranken und Verletzten geheilt, doch das geheime Wissen ihrer Mutter übertraf ihre Fertigkeit bei weitem. Auch wenn sie die anderen Zeiten gar nicht bewusst miterlebt hatte, so wusste sie doch von ihrer Mutter, dass mit ihr und ihrer Tochter ein - wenn auch bescheidener - Wohlstand in das Dorf Einzug gehalten hatte, und was noch wichtiger war: Selbst im Winter hatten jetzt alle genug zu essen. Aber da war noch etwas, das ihre Mutter ihr vor gar nicht einmal langer Zeit gesagt hatte: Die Menschen hassten es, daran erinnert zu werden, dass sie einem etwas schuldeten. Das wütende Aufblitzen in Sarns Augen gab ihrer Einschätzung Recht. Für einen winzigen Moment sah der alte Mann tatsächlich so aus, als wolle er seinen Stock nehmen und sich auf Lea stürzen. Natürlich tat er es nicht, und doch spürte Arri, dass ihre Mutter mit diesen letzten Worten eine Grenze überschritten hatte, die besser unangetastet geblieben wäre. Es gab Wahrheiten, die alle kannten und die vielleicht doch nur so lange erträglich blieben, wie niemand sie aussprach. »Ihr seid also nur hierher gekommen und habt die halbe Nacht auf mich gewartet«, fuhr sie fort, als Sarn nicht antwortete und auch

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Grahl ebenso beharrlich schwieg, wie er sie mit kaum noch verhohlener Wut anstarrte, »um mir zu sagen, dass ihr mir nicht traut?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ihr hättet euch die Mühe sparen können. Das wusste ich bereits.« »Was ist das für ein Unsinn, den du meinem Bruder einflüstern willst?« fragte Grahl schließlich. »Bist du völlig von Sinnen? Reicht es dir nicht, was du ihm bisher angetan hast?« »Angetan?«, wiederholte Lea und sah den Jäger mit ehrlicher Verständnislosigkeit an. »Du hast ihm den Arm abgeschnitten«, antwortete Sarn an seiner Stelle. »Du hast ihn zu einem Krüppel gemacht, der den Rest seines Lebens auf die Almosen anderer angewiesen sein wird.« »Ein Rest, den er sonst nicht gehabt hätte«, sagte Lea scharf. In ihrer Stimme war plötzlich ein neuer Klang. Nichts von alledem, was der Schamane und Grahl bisher gesagt hatten, hatte sie wirklich treffen oder gar verletzen können, doch dieser Vorwurf, das spürte Arri, ging eindeutig zu weit. Sie sah ihrer Mutter an, dass sie sich noch mit letzter Kraft beherrschte, einigermaßen ruhig zu bleiben. »Du hast ihn verkrüppelt«, beharrte Sarn stur, als hätte er diese Worte gar nicht gehört, »und jetzt willst du ihn auch noch zum Gespött aller anderen machen.« »Oh«, murmelte Lea. »Er hat es dir erzählt, ich verstehe.« Sie schwieg für eine geraume Zeit und schüttelte traurig den Kopf. Nach einem kurzen resignierenden Seufzen fuhr sie fort. »Das ist schade. Er hatte mir versprochen, nichts zu sagen. Es hätte so vieles leichter gemacht, nur noch eine kleine Weile zu schweigen.« »Du hast ihm dieses Versprechen abgepresst«, behauptete Sarn, »oder ihn mit deinen Hexenkräften dazu gebracht, es dir voreilig zu geben. Was wolltest du damit erreichen? Hat dir das, was du ihm angetan hast, immer noch nicht gereicht? Du hast ihm das Leben gerettet, aber vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest es nicht getan.« Ganz kurz blitzte es so wütend in Leas Augen auf, dass Sarn zusammenfuhr und sich Grahl sichtbar spannte, dann aber erlosch ihr Zorn ebenso plötzlich, wie er gekommen war, und machte einem

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Ausdruck mindestens ebenso tiefen Bedauerns Platz. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wir wären überhaupt nicht hierher gekommen«, murmelte sie, aber nicht als Antwort auf Sarns Worte, sondern nur an sich selbst gewandt, und so leise, dass Arri nicht einmal sicher war, dass der Schamane und sein Begleiter die Worte überhaupt hörten. Nach einem neuerlichen Zögern, fuhr sie lauter und in verändertem, nunmehr um reine Sachlichkeit bemühtem Ton fort: »Das ist deine Meinung, Sarn. Ich glaube, dass es richtig war, und ich glaube auch, dass mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein wird.« »Und wenn nicht?« »Eben - und wenn nicht«, erwiderte Lea. Sie schüttelte den Kopf. »Gib mir, Kron und Achk nur ein paar Tage Zeit. Sollte ich scheitern, verliert ihr alle nichts, im Gegenteil: Du kannst jedem sagen, du hättest es gleich gewusst und wärest von Anfang an dagegen gewesen. Sollte ich Erfolg haben, profitieren alle davon. Und du, Sarn, kannst hinterher immer noch behaupten, es wären nur meine Hexenkräfte gewesen.« Ihre Stimme veränderte sich ein ganz kleines bisschen, kaum hörbar, und doch schwang etwas darin mit, das Sarn noch ein bisschen blasser werden ließ, auch wenn Arri dies vor wenigen Augenblicken noch gar nicht für möglich gehalten hätte. »So oder so«, fuhr sie fort, »bist du auf jeden Fall gut beraten, nichts zu tun, bis Rahn zurück ist. Vermutlich könntest du mich daran hindern, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, doch dann gäbe es immer welche im Dorf, die sich fragen würden, ob du es vielleicht nicht nur getan hast, weil du Angst hattest, ich könnte Erfolg haben. Warte einfach ab und lass mich gewähren, und du kannst nur gewinnen.« Arri verstand mittlerweile rein gar nichts mehr. Zwar war ihr klar, dass es irgendetwas mit dem zu tun hatte, weswegen ihre Mutter Rahn fortgeschickt hatte, und wohl auch mit Grahls Bruder und dem blinden Mann, aber nichts davon schien in diesem Moment irgendeinen Sinn zu ergeben. Darüber hinaus kreisten ihre Gedanken um ein vollkommen anderes Thema. Die Spuren, die Sarn erwähnt hatte. Die Fremden, von denen Grahl behauptete, sie hätten ihn und seine beiden Brüder so grundlos angegriffen, und an deren Existenz ihre Mut-

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ter so offensichtlich nicht glaubte. Sie hätte es ihr sagen können. Sie hätte es ihr schon vor drei Tagen sagen müssen. Es waren keine Gerüchte, und es waren auch nicht nur Spuren. Die Fremden waren hier. Arri hatte mindestens einen von ihnen gesehen, und auch wenn dieser eine ihr das Leben gerettet hatte, sagte das rein gar nichts über ihre Ziele aus. In ihr sträubte sich alles, dem Schamanen Recht zu geben, aber in diesem einen Punkt hatte er es womöglich. Warum schwieg sie? Warum hatte sie bislang nichts gesagt? Arri spürte, dass dies vielleicht ihre unwiderruflich letzte Gelegenheit war, von ihrer unheimlichen Begegnung im Wald zu erzählen, zugleich wusste sie aber auch, dass ihr niemand glauben würde. Sarn würde behaupten, ihr zu glauben, es aber nicht wirklich tun, und ihre Mutter schon gar nicht - und wenn doch, so würde sie sehr wütend sein, dass sie, Arri, nicht längst davon erzählt hatte, sondern im allerungünstigsten aller nur denkbaren Augenblicke damit herausrückte. »Es ist spät, Ältester«, sagte Lea. »Meine Tochter und ich sind jedenfalls müde. Zweifellos habt auch ihr beide morgen einen mühsamen und anstrengenden Tag vor euch und braucht euren Schlaf.« Das war ein kaum verhohlener Hinauswurf, eine schiere Ungeheuerlichkeit, die Sarn unter gewöhnlichen Umständen niemals hingenommen hätte. Doch an diesem nächtlichen Treffen war nichts gewöhnlich. So funkelte er Lea nur noch zornig an, dann eilte er, übertrieben schwer mit seinem Stock aufstampfend, zur Tür und ging vorsichtig die schmalen Stufen hinunter. Grahl - der ihre Mutter in so großem Bogen umging, wie es überhaupt möglich war - folgte ihm, und sie konnte hören, wie die beiden lautstark und heftig miteinander zu streiten begannen, kaum dass sie unten angekommen waren und sich auf den Weg ins Dorf machten. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten trat Lea rasch ans Guckloch und blickte ihnen nach, bis die Dunkelheit sie aufgesogen hatte. Ihre Stimmen waren noch einen Moment zu hören, verklangen dann aber. »Dieser dumme, alte Mann«, seufzte Lea. »Er weiß genau, was Nor von mir gefordert hat und dass ich entweder an Einfluss verlieren werde oder zusammen mit dir weggehe. Warum kann er es nicht einfach dabei bewenden lassen und Ruhe geben?«

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Sag es ihr!, flüsterte eine Stimme in Arris Gedanken. Jetzt! Sie musste ihr von dem Fremden erzählen, auch auf die Gefahr hin, dass ihre Mutter ihr vielleicht nicht glauben oder, falls sie es doch tat, sehr wütend auf sie sein würde. Aber sie schwieg. Ihre Mutter trat vom Guckloch zurück, lehnte das Schwert gegen die Wand darunter und verhängte die Öffnung dann mit einem Biberfell. Erst nachdem sie auch mit dem zweiten Guckloch auf die gleiche Weise verfahren war, nahm sie das Schwert wieder zur Hand, trug es aber nicht an seinen Platz an der Wand zurück, wie Arri erwartet hatte, sondern betrachtete die Waffe auf eine sehr sonderbare, schwer zu deutende Weise. Zwei- oder dreimal hob sie den Blick und sah ihre Tochter an, als gäbe es da etwas, das mit diesem Schwert zusammenhing und auch sie betraf, dann aber hängte sie es doch zurück und ließ sich mit einem schweren Seufzer in den brüchigen Korbstuhl fallen, in dem Sarn zuvor geschnarcht hatte. Nun, nachdem sie die Biberfelle vorgehängt hatte, war es fast vollkommen dunkel hier drinnen, doch Arri spürte das Gefühl tiefer Trauer, das ihre Mutter überkam. Dies war eine für Arri vollkommen unerwartete Reaktion auf den Besuch der beiden Männer. Sie hatte mit Zorn gerechnet, Wut, Ärger, vielleicht sogar Sorge - aber nicht damit. Außer dem, was sie gerade gehört hatte, war noch viel mehr zwischen ihrer Mutter und dem Schamanen. Umso schwerer fiel es ihr, ihrer Mutter die Geschehnisse im Wald zu beichten. Aber sie musste es tun. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie nie wieder die Kraft dafür aufbringen. »Ich… ich muss dir etwas sagen«, begann sie. »Ich weiß.« Der Schatten in der fast vollkommenen Dunkelheit vor ihr, der ihre Mutter war, bewegte sich unruhig, und Arri konnte das Knarren des sorgfältig geflochtenen Stuhles hören, in dem sie hin und her rückte, als hätte Sarn ihn mit seiner Anwesenheit irgendwie verändert oder beschmutzt, sodass sie nun nicht mehr sicher war, bequem darauf sitzen zu können. »Du weißt?«, murmelte Arri erschrocken. Aber wie? Wie konnte ihre Mutter um ihr Geheimnis wissen, und selbst wenn sie bereits

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davon erfahren hatte, warum hatte sie bisher geschwiegen? Ein leises, aber fast traurig klingendes Lachen drang als Antwort aus den Schatten zu ihr. »Arianrhod, du bist meine Tochter. Irgendwann wirst du es verstehen, aber für heute glaub mir einfach, dass Kinder sehr selten Geheimnisse vor ihren Eltern bewahren können. Ich weiß, dass du hier nicht wegwillst, weder wenn der erste Schnee fällt noch im nächsten Frühjahr. Ich habe es in deinem Gesicht gewesen, als ich dir von Nors Forderung erzählt habe. Und ich kann dich verstehen, glaub mir.« »Aber…«, begann Arri, wurde aber sofort wieder von ihrer Mutter unterbrochen, die im gleichen, ebenso sanften wie verständnisvollen, aber auch fast unnahbaren Ton fortfuhr, als hätte sie ihre Entgegnung gar nicht gehört. »Glaub mir, auch ich will nicht wirklich fort von hier. So sehr uns dieser Ort und seine Menschen auch einengen mögen, ist er doch seit zehn Jahren meine Heimat. Ich habe sonst niemanden. Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten, jedenfalls keinen, der nicht schlimmer wäre als dieser hier, gebeutelt von Hungersnöten und einem Elend, wie es zu meiner Ankunft auch hier noch geherrscht hat. Aber wir müssen es. Nor wird nicht nachgeben, und selbst wenn, so wird Sarn es bestimmt nicht tun.« Arri konnte hören, wie sie traurig den Kopf schüttelte. »Ich werde diesen Menschen hier ein letztes Geschenk zum Abschied machen, und dann ziehen wir weiter.« Arri schwieg. Die Gelegenheit war vorbei. Sie hatte nichts gesagt und würde auch nichts mehr sagen. Jetzt nicht mehr. Das Gefühl der Trauer, das sie gerade auf ihre Mutter übertragen hatte, war in Wahrheit ihr eigenes, und es war auch nicht wirklich Trauer, sondern Mitleid, denn sie spürte den Schmerz ihrer Mutter fast so deutlich, als wäre er ihr eigener. Sie konnte es ihr jetzt nicht sagen und später vielleicht auch nicht mehr. Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen und das immer lastender werdende Schweigen zu brechen, fragte sie: »Warum war Grahl plötzlich so feindselig dir gegenüber? Noch vor wenigen Tagen…« »… war er auf meiner Seite und hätte selbst Sarn die Stirn geboten«, unterbrach sie ihre Mutter, »ich weiß.« Sie lachte ganz leise,

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doch jetzt klang es einfach nur bitter. »Aber nicht, weil er der Meinung war, ich sei im Recht.« »Warum dann?«, fragte Arri. »Vielleicht war er einfach verzweifelt«, antwortete ihre Mutter. »Vielleicht hat Sarn ihm auch aufgetragen, sich so zu geben, um sich auf diese Weise in mein Vertrauen zu schleichen.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht hat er geglaubt, auf diese Weise etwas von mir bekommen zu können, was ich ihm nur dann und wann einmal geschenkt habe, wenn mir danach war.« »Du meinst…?« »Ich war noch nie das Eigentum eines Mannes, und ich werde es niemals sein«, sagte ihre Mutter ruhig. »Was Grahl für ein Geschenk gehalten haben mag, das war in Wahrheit etwas, das ich mir von ihm genommen habe. Vielleicht hat er das begriffen und ist nun zornig.« Arri war sich nicht ganz sicher, ob sie diesem wirren Gedankengang folgen konnte, und sie wollte es auch nicht, jedenfalls nicht jetzt. »Aber was hat er gemeint, als er sagte, du hättest seinem Bruder…«, sie versuchte sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, war aber nicht ganz sicher, ob es ihr gelang, »… Unsinn in den Kopf gesetzt?« »Warum wartest du nicht einfach ab, bis Rahn zurück ist?«, erwiderte ihre Mutter. »Dann wirst du schon sehen, was ich gemeint habe.« Sie seufzte ganz leise und sehr tief. »Wer weiß? Vielleicht haben sie ja Recht.«

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10 »Wer hätte so etwas schon einmal gehört? Ein blinder Mann und ein einarmiger! Warum soll nicht gleich ein Stummer unsere Lieder singen?« Aus Sarns Stimme troff der Hohn wie zäher Honig aus einem aufgebrochenen Bienenkorb, und aus den Reihen der Zuschauer, die nicht nur hinter und neben ihm Aufstellung genommen hatten, sondern einen mehrfach gestaffelten, nahezu undurchdringlichen Dreiviertel-Kreis um die heruntergekommene Hütte am Rand des Dorfes bildeten, erhob sich ein zustimmendes Gemurmel. Zwei oder drei Männer lachten, aber Arri gewahrte auch das eine oder andere finstere Gesicht, das mit unverhohlenem Zorn in ihre Richtung blickte. Nahezu das ganze Dorf war zusammengekommen, und auch, wenn es bisher niemand gewagt hatte, es laut auszusprechen, so war Arri doch klar, dass vermutlich die Hälfte von ihnen darauf wartete, dass das Vorhaben ihrer Mutter scheiterte. Wenn sie ehrlich war, erging es ihr nicht sehr viel anders. Natürlich wartete sie nicht darauf, dass ihre Mutter scheiterte, und sie hätte gewiss auch andere Worte gewählt als der Dorfälteste - aber ein bisschen verrückt war das, was Lea ihr erklärt hatte, schon. Ein blinder Verrückter und ein einarmiger Krüppel, die gemeinsam die Arbeit eines Schmieds tun sollten? Das war zumindest… gewagt. Als hätte sie ihre Gedanken erraten - was im Augenblick wahrscheinlich nicht einmal besonders schwer war -, drehte Lea den Kopf und warf ihr einen raschen, aufmunternden Blick zu, bevor sie sich wieder auf das Geschehen in der Hütte konzentrierte. Um die Sache zu vereinfachen, hatte Rahn auf Sarns Geheiß hin kurzerhand die vordere Wand der Schmiede abgerissen, was bei dem bejammernswerten Zustand des ohnehin baufälligen Gebäudes keinen großen Unterschied mehr machte, sodass zumindest sie und die Zuschauer in der vordersten Reihe freie Sicht auf das hatten, was sich im Innern des Hauses abspielte. Arri bezweifelte, dass ihrer Mutter das recht war, und auch Kron hatte die eine oder andere entsprechende Bemerkung gemacht, doch

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der Schamane war in diesem Punkt unnachgiebig geblieben und hatte eingewendet, dass die Gefahr eines Brandes bestünde, wenn sich ein Blinder und ein Krüppel von Krons Größe die enge Hütte teilten und noch dazu mit Feuer hantierten. Damit hatte er vermutlich sogar Recht, aber Arri war natürlich auch klar, warum er wirklich darauf bestanden hatte: aus demselben Grund, aus dem er praktisch das ganze Dorf zusammengerufen hatte, um bei Achks und Krons erster gemeinsamer Arbeit zuzusehen. Er wollte, dass möglichst viele miterlebten, wie ihre Mutter scheiterte. Dabei gab es im Augenblick nicht einmal viel zu sehen. Achk saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, betätigte den Blasebalg und gab Kron mit schriller, misstönender Stimme, die immer gerade eine Winzigkeit davon entfernt schien, wirklich zu schreien, keifende Anweisungen, von denen der größte Teil unverständlich war; und wie Arri aus dem immer besorgter werdenden Gesicht ihrer Mutter schloss, zu einem gut Teil vermutlich auch einfach unsinnig. Kron nahm das Gezeter des Alten scheinbar gleichmütig hin und tat darüber hinaus das, was sie in den zurückliegenden Tagen immer und immer wieder geübt hatten; jedenfalls nahm Arri das an. Zu sehen war kaum etwas, denn der ehemalige Jäger und zukünftige neue (halbe) Schmied des Dorfes hatte sich gewiss nicht durch Zufall so postiert, dass sein breiter Rücken den Blick auf nahezu alles versperrte, was im Innern der aufgebrochenen Hütte geschah. Seit dem nächtlichen Gespräch in Leas Hütte waren zehn Tage vergangen. Rahn hatte sich zur allgemeinen Überraschung nicht nur nicht verirrt, sondern war bereits am Abend des dritten Tages zurückgekommen, und seither hatte Arri ihre Mutter kaum noch gesehen, denn sie hatte praktisch ihre gesamte Zeit mit Kron und dem blinden Mann verbracht und war nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen nach Hause gekommen. Arri war ein bisschen beleidigt gewesen, dass sie ihr trotz ihrer hartnäckigen Nachfrage (und Arri konnte sehr hartnäckig sein) bis zum Schluss nicht gesagt hatte, was sie eigentlich plante. Selbstverständlich hatte sie es trotzdem erfahren. Sarn hatte schon dafür gesorgt, dass sich die Verrücktheit, die sich ihre Mutter hatte

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einfallen lassen, in Windeseile im Dorf herumsprach, und Arri konnte beinahe verstehen, dass Lea ihr nichts hatte sagen wollen. Der Plan war verrückt. Aber vielleicht würde er ja gerade deshalb funktionieren. »Also?«, drang Sarns Stimme kaum weniger schrill und misstönend als die des blinden Schmiedes in ihre Gedanken. »Worauf wartet ihr noch?« Lea schenkte ihm einen giftigen Blick, sagte aber nichts, sondern wandte sich nur mit einem auffordernden Nicken an Kron. Der einarmige Riese packte den klobigen Schmiedehammer, schwang ihn aber noch nicht, sondern stupste Achk nur leicht mit dem Fuß an, woraufhin der Blinde noch hektischer mit seinem Blasebalg zu hantieren begann. Eine Zeit lang war nichts zu hören außer dem Zischen der entweichenden Luft und dem etwas leiseren, aber irgendwie bösartigen Geräusch, mit dem die Schmelze aus Kupfer und Zinn und einigen anderen Zutaten, die Achk eifersüchtig geheim hielt, aus dem Schmelztiegel in die tönerne Gussform floss. Weder Arri noch irgendeiner der anderen konnte wirklich sehen, wie sich das heißflüssige Metall in der vorbereiteten Gussform verteilte, denn Kron schirmte weiter alles mit seinem breiten Rücken ab, doch sie wusste aus dem Wenigen, das sie aufgeschnappt hatte, dass nun der kritische Moment kam, auf den Sarn und ihre Mutter - wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen - gleichermaßen gespannt warteten. Kron versetzte dem Schmied einen weiteren, sanften Stups mit dem Fuß, den dieser mit einer halblaut gekeiften Beschimpfung quittierte, seinen Blasebalg jedoch trotzdem rasch sinken ließ und nach der schweren bronzenen Zange tastete, die Kron griffbereit neben ihn gelegt hatte. »Gut so«, murmelte Kron. »Ein bisschen mehr nach links… gut.« Seine Stimme klang flach, aber angespannt, und Arri konnte die Unruhe der beiden Männer regelrecht spüren. In den zurückliegenden Tagen hatten sie jeden Handgriff hundertfach geübt und abgesprochen, aber es war dennoch das erste Mal, dass sie es wirklich taten. Die Materialien, die Rahn gebracht hatte, waren zu kostbar, um sie bei einem leichtsinnigen Versuch zu verschwenden, und einmal in

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eine bestimmte Form gegossen, war die Bronze entweder zu gebrauchen oder konnte nur noch neu eingeschmolzen oder weggeworfen werden - von den tausend anderen Dingen, die schief gehen konnten, gar nicht zu reden. Eines davon geschah genau in diesem Moment. Funken stoben auf, als Achk mit seiner Zange nach dem Gussstück stocherte, und mehr als einer davon traf die rückwärtige Wand der Hütte. Holz und trockenes Blattwerk begannen zu qualmen, doch Lea hatte dies vorausgesehen und Rahn mit einem gefüllten Wassereimer unmittelbar neben dem gewaltsam erweiterten Eingang postiert. Hastig und ohne dass es einer Aufforderung bedurfte, drängte er sich an Kron vorbei und löschte das halbe Dutzend winziger Brandherde, bevor wirklich ein Feuer ausbrechen konnte. Sarn verzog verächtlich die Lippen, ersparte sich aber zu Arris Erstaunen jeden Kommentar. Mit dem zweiten Versuch löste Achk den noch glühenden Rohling aus der Gussform, sodass man nun zumindest erkennen konnte, dass es sich um einen schmalen Dolch mit einer handlangen, ungewöhnlich spitz zulaufenden Klinge handelte, die anstelle eines Griffes nur einen dünnen Stab hatte. Die Klinge glühte noch in einem fleckigen, ebenso rasch wie unregelmäßig verblassenden Rot, als Achk aufstand und unsicher und mit weit vorgestreckten Armen auf den kniehohen, plan geschliffenen Stein zuwankte, der ihm als Amboss diente. Obwohl Kron ihn am Oberarm ergriff und behutsam führte, wäre er um ein Haar ins Feuer getreten, und wieder stoben Funken auf, auch wenn Rahn diesmal nicht löschen musste. Erst beim zweiten Versuch gelang es dem blinden Schmied, das Werkstück so zu platzieren, dass Kron mit seinem wuchtigen Fäustling zwei, drei kräftige Schläge ausführen konnte, die die Klinge deutlich breiter und flacher werden ließen. Sein vierter Hieb war schlecht gezielt, möglicherweise hielt Achk die Zange auch nicht fest genug. Der Rohling wurde ihm jedenfalls aus den Händen geprellt und fiel zu Boden. Kron legte hastig den Hammer ab und nahm dem schon wieder lautstark keifenden Alten die Zange aus der Hand, um die Klinge aufzuheben. Arri warf einen raschen Blick über die Schulter zu ihrer Mutter zurück. Auf Leas

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Gesicht zeigte sich nicht die mindeste Regung, aber Arri sah ihr trotzdem an, wie besorgt sie war. Aus den Reihen der Zuschauer erhob sich ein besorgtes Murmeln, in dem Arri aber den einen oder anderen schadenfrohen Unterton zu hören glaubte. Auch Sarn schwieg, aber seine Augen funkelten tückisch. Mittlerweile hatte Kron Achk die Zange wieder in die Hand gedrückt und versuchte seine Arme so zu dirigieren, dass die Messerklinge diesmal flach auf dem Stein auflag. Achk machte es ihm nicht unbedingt leicht, sondern bewegte sich ebenso ungeschickt, wie er Kron mit einer wahren Flut von Beschimpfungen überschüttete. Kron schlug noch zwei- oder dreimal mit seinem Hammer zu, und jedes Mal veränderte sich der Klang, mit dem Metall auf Metall schlug. Das Gussstück kühlte offensichtlich rasch ab. »Nicht so fest, Dummkopfs«, keifte Achk. »Willst du, dass die Klinge zerbricht?« »Halt sie einfach nur still, und es wird nichts passieren«, knurrte Kron. Er schwang den Hammer trotzig um so heftiger. Die Klinge zerbrach nicht, aber als er den Hammer wieder zurückzog, war sie deutlich verbogen. Kron fluchte, legte den Hammer beiseite und versuchte die Zange in Achks Händen umzudrehen, vermutlich, um die Klinge mit ein paar Hieben in die andere Richtung wieder gerade zu biegen. Achk konnte weder sehen, was er genau tat, noch warum, doch er schien zu spüren, was geschehen war, denn er stieß Kron mit einer groben Bewegung zur Seite und griff mit der bloßen Hand nach dem Messer. Es zischte hörbar, als seine Fingerspitzen über das immer noch glühend heiße Metall strichen, aber er schien keinen Schmerz zu spüren. Seine Fingerkuppen waren schon seit einem halben Menschenleben schwarz und verkohlt und mittlerweile wohl vollkommen gefühllos. »Dummkopf!«, keifte er. »Ich habe es dir gesagt! Jetzt hast du es verdorben! Muskeln allein reichen eben nicht, du grober Kerl!« »Gib Acht, was du sagst, alter Mann«, grollte Kron. »Was willst du sonst tun?«, erkundigte sich Achk höhnisch. »Kron! Achk!«, sagte Lea scharf. Sie schob Arri mit sanfter Gewalt zur Seite, war mit einem raschen Schritt bei Kron und dem Blinden

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und begutachtete den Schaden. »Ist es nicht zu reparieren?«, fragte sie stirnrunzelnd. Achk strich weiter mit den Fingerspitzen und schließlich mit der Handfläche über die verbogene Messerklinge. Es zischte abermals, und lauter. »Es ist verdorben«, nörgelte er. »Ich selbst könnte es vielleicht noch retten, wenn du mir nicht mein Augenlicht geraubt hättest, aber dieser Dummkopf doch nicht! Er hat alles zunichte gemacht!« »Ich glaube, wir haben genug gesehen«, mischte sich Sarn ein. Er schnaubte abfällig. »Ich war von Anfang an dagegen, aber diesen einen Versuch musste ich dir geben, Lea, schon um Krons und Achks willen.« Er hob unmerklich, aber wirkungsvoll die Stimme. »Aber nun ist es genug. Hör mit diesem grausamen Spiel auf, bevor am Ende noch ein Unglück geschieht.« Lea achtete nicht weiter auf ihn. Sie tastete mit den Fingerspitzen nach dem Messer, zog die Hand aber sofort und mit einem schmerzhaften Verziehen der Lippen wieder zurück. Trotzdem sagte sie: »So schlecht finde ich es gar nicht.« Sie wandte sich mit einem fragenden Blick an Achk, den der Blinde zwar nicht sehen konnte, aber irgendwie zu spüren schien, denn er drehte das verbrannte Gesicht in ihre Richtung und sah sie aus seinen erloschenen Augen an. »Wie lange hast du gebraucht, um dein erstes Messer zu schmieden?« Achk antwortete nicht darauf, aber Lea schien damit auch nicht wirklich gerechnet zu haben, denn sie drehte sich fast augenblicklich zu Sarn um und fuhr fort: »Bestimmt länger als ein paar Tage, nehme ich an.« Sarn machte ein abfälliges Geräusch. »Du bist verrückt. Bereitet es dir Freude, diese armen Menschen zu quälen?« »Es bereitet mir Freude, ihnen eine Gelegenheit zu geben«, antwortete Lea mit einem dünnen Lächeln. »Und eurem Dorf auch. Ihr braucht doch einen neuen Schmied, oder?« »Nachdem du uns den alten genommen hast, ja.« Sarn wurde plötzlich zornig. Mit einer wütenden Geste stocherte er nach Achks verbranntem Gesicht. »Reicht dir nicht, was du ihm angetan hast? Musst

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du ihn auch noch zum Gespött des ganzen Dorfes machen? Oder wartest du auf seinen Tod?« Er machte eine weitere, wütende Handbewegung, die diesmal aber nicht Lea oder dem blinden Mann galt, sondern den Umstehenden. »Genug, sage ich. Lasst diese armen Menschen in Ruhe!« »Warum fragst du sie nicht, ob sie in Ruhe gelassen werden wollen?«, entgegnete Lea. »Kron, glaubst du, dass ihr es schafft?« Kron zog ein missmutiges Gesicht und warf einen noch missmutigeren Blick auf das kümmerliche Ergebnis seines ersten Versuchs, die Schmiedekunst zu erlernen, aber schließlich nickte er - und zu Arris Überraschung grunzte nach einem weiteren Moment auch Achk eine widerwillige Zustimmung. »Dann ist es wohl entschieden«, sagte Lea. »Achk ist ein guter Schmied. Sein Wissen ist unersetzlich für euch alle. Ihr könnt es euch nicht leisten, es verloren gehen zu lassen. Blind ist er euch nicht mehr von Nutzen, aber Kron kann für ihn sehen. Er wird Achks Augen sein, und Achks Hände werden seinen verlorenen Arm ersetzen.« »Das ist verrückt«, beharrte der Schamane. »Und es ist nicht der Wille der Götter.« »Das haben sie dir gesagt, nehme ich an?«, fragte Lea. Sarn presste die rissigen Lippen aufeinander und funkelte sie an, und auch Lea selbst schien zu spüren, dass sie damit vielleicht ein bisschen zu weit gegangen war, denn sie beeilte sich, sich wieder zu Achk umzudrehen und zu fragen: »Du hast jetzt fünf Tage mit Kron gearbeitet. Glaubst du, dass du ihn deine Kunst lehren kannst?« »Wenn er lernt, seine Kraft im Zaum zu halten«, nörgelte Achk. Er drehte das Gesicht in die Richtung, in der er Kron vermutete. »Er ist ein grober Klotz, aber er wird es schon lernen.« »Und du bist verrückt, alter Mann«, sagte Sarn, was Arri einigermaßen komisch vorkam, denn schließlich war er ein gutes Stück älter als Achk. »Vielleicht kannst du ihn ja lehren, den Hammer zu schwingen und deine Werkstücke krumm zu schlagen, aber wer wird deine Formen herstellen? Wer wird die Feinarbeiten vornehmen? Du, ohne etwas zu sehen, oder er, mit nur einer Hand? Mach dich nicht lächerlich!«

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Kron wollte auffahren, aber Lea brachte ihn mit einem mahnenden Blick zum Verstummen und legte dem blinden Schmied zugleich beruhigend die Hand auf die Schulter. Achk fuhr sichtlich zusammen. Seit er blind war, hasste er es, ohne Vorankündigung angefasst zu werden. »Du wolltest einen Beweis, dass es möglich ist«, fuhr Lea fort, noch immer erstaunlich ruhig und nun wieder direkt an den Schamanen gewandt. Das Bronzemesser war inzwischen offenbar weit genug abgekühlt, dass sie es in der Hand halten konnte, ohne sich zu verbrennen, denn sie nahm die krumm gebogene Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und hielt sie fast triumphierend in die Höhe. »Ihr seht es«, rief sie mit leicht erhobener Stimme. »Es ist nicht vollkommen, aber ein Anfang ist gemacht. Warum es also nicht weiter versuchen?« »Unsinn!« Sarn stampfte wütend mit seinem Stock auf. »Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du unser Dorf zum Gespött des ganzen Landes machst!« Es fiel Arris Mutter jetzt sichtlich immer schwerer, ruhig zu bleiben. Vielleicht gelang es ihr tatsächlich nur, weil sie ebenso deutlich wie Arri und alle anderen hier spürte, dass Sarn sie um jeden Preis zum Äußersten treiben wollte. »Ich habe nichts dergleichen vor«, sagte sie ruhig. Ihre Finger begannen mit dem Messer zu spielen; vielleicht weil die Klinge doch noch zu heiß war, um sie länger als ein paar Augenblicke ruhig zu halten, vielleicht auch aus einem ganz anderen Grund. »Es ist doch ganz einfach, Sarn. Ihr habt keinen Schmied. Von den drei Jägern, die es im Dorf gab, ist einer tot und der andere verkrüppelt. Ihr habt drei wichtige Mitglieder eurer Gemeinschaft verloren und dafür zwei zusätzliche Mäuler zu stopfen. Was habt ihr zu verlieren, wenn ihr bis zum nächsten Frühjahr wartet und seht, ob sie lernen zusammenzuarbeiten? Vor dem nächsten Frühling werdet ihr ohnehin niemanden finden, der hierher kommt, um Achks Platz einzunehmen. Wenn überhaupt«, fügte sie nach einer winzigen und Arri war sicher, genau berechneten - Pause hinzu. »Ein halbes Jahr,

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Sarn, ein Winter, in dem nach der reichen Ernte dieses Jahres wohl kaum jemand Hunger leiden wird. Ist das zu viel verlangt für zwei Männer, die ihr Leben für euch alle eingesetzt haben?« Der Schamane machte eine Bewegung, wie um abermals mit seinem Stock aufzustampfen, aber dann beließ er es bei einem letzten, verächtlichen Blick und stapfte davon. Ein gut Teil der Neugierigen, die gekommen waren, um Leas Niederlage mit anzusehen, folgte ihm, aber etliche blieben auch; vielleicht die, die gekommen waren, um Zeuge von Sarns Niederlage zu werden. Seltsamerweise stimmte dieser Gedanke Arri nicht froh, obwohl er es eigentlich sollte. »Es wird nicht funktionieren«, sagte Kron plötzlich; allerdings erst, nachdem der Schamane und seine Begleiter sich ein gutes Stück entfernt hatten, und auch dann so leise, dass niemand außer Arri, ihrer Mutter und dem Blinden die Worte hören konnte. Er klang auf eine Weise niedergeschlagen und zornig zugleich, die Arri bei einem Mann wie ihm niemals erwartet hätte. Auch ihre Mutter wirkte überrascht. Sie sagte jedoch nichts, sondern musterte den einarmigen Jäger nur einen Moment lang abschätzend und drehte sich dann mit einer abrupten Bewegung zu dem knappen Dutzend Männer und Frauen um, die vor der Hütte zurückgeblieben waren. »Es gibt hier nichts mehr zu sehen«, sagte sie scharf. »Ihr könnt gehen. Es sei denn, ihr wollt bleiben und Achk helfen, seine Hütte wieder herzurichten.« Die Hälfte der Neugierigen entfernte sich sofort und die andere Hälfte, nachdem Lea sie nacheinander scharf angesehen hatte. Auch dann blickte sie ihnen noch einen Moment lang aufmerksam hinterher, bis sie sicher war, dass sie auch tatsächlich gingen, und wandte sich schließlich mit einem flüchtigen Lächeln wieder zu Kron um. »Das wirkt immer. Du musst den Menschen nur sagen, dass du Freiwillige für eine unliebsame Arbeit suchst, und schon haben sie alle plötzlich etwas furchtbar Wichtiges zu tun.« Sie wurde übergangslos wieder ernst, und ihre Stimme gewann ebenso an Schärfe wie ihr Blick an Härte. »Ich will einen solchen Unsinn nicht noch einmal hören. Wenigstens nicht, solange Sarn oder einer der anderen

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in der Nähe ist.« »Aber er hat Recht«, sagte Kron düster. »Ich kann das nicht. Ich werde es nie können.« Er streckte den Arm aus, nahm Lea den grifflosen Bronzedolch aus der Hand und drückte ihn dann in seiner gewaltigen Pranke zusammen, ohne sich dabei übermäßig anstrengen zu müssen. Lea zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Die Legierung ist zu weich«, sagte sie. »Zu weich?« Achks Hände tasteten mit erstaunlicher Zielsicherheit in Krons Richtung, wanderten wie dürre, knochenbeinige Spinnen an seinem Arm hinauf und rissen ihm den Dolch regelrecht aus den Fingern. »Zeig her!« »Achk«, sagte Lea. »Das ist doch nicht weiter…« »Sie hat Recht«, keifte Achk. »Es ist zu weich! Du hast zu viel Zinn in die Mischung getan! Du Dummkopf! Ich habe es dir hundertmal gesagt, aber du hast nicht zugehört! Die Legierung war falsch! Kannst du Dummkopf denn gar nichts richtig machen?« Lea warf ihm einen scharfen Blick zu, den Achk natürlich nicht sehen konnte - und hätte er ihn gesehen, vermutete Arri, so wäre er ihm herzlich egal gewesen -, aber Krons Miene wurde noch mürrischer. »Du tölpelhafter, grober Kerl!«, schimpfte er weiter. »Warum hast du nicht einfach getan, was ich dir aufgetragen habe?« »Achk!«, sagte Lea scharf. »Das reicht jetzt!« »Aber er hat doch Recht«, sagte Kron niedergeschlagen. »Ich kann das nicht. Ich bin Jäger, kein Schmied. Ich werde das nie lernen.« »Willst du den Rest deines Lebens auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen sein?«, fragte Lea. »Oder - schlimmer noch - in der Angst leben, dass die Ernte einmal nicht so reich ausfällt wie in diesem Jahr, die Jäger das Jagdglück verlässt und man so mit euch verfährt, wie das früher hier üblich war, und euch als Hungerleider mit Schimpf und Schande aus dem Dorf jagt?« »Aber er hat Recht!«, sagte Kron noch einmal. »Wir haben es versucht, doch ich kann es nicht. Und ich werde es auch nie lernen. Solche Dinge sind nichts für mich. Ich kann Spuren lesen. Ich kann mich an einen Hirsch heranpirschen, ohne dass er mich bemerkt, und ich kann einen Eber in vollem Lauf mit dem Pfeil treffen…« Er

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brach ab, biss sich auf die Unterlippe und starrte mit leerem Blick auf seinen Armstumpf hinab, bevor er mit leiserer, zitternder Stimme fortfuhr: »… oder konnte es einmal. Das ist nichts für mich. Sarn hat Recht. Ich werde es nie lernen. Am Ende werden alle über mich lachen, und dann werden sie mich eines Tages sowieso aus dem Dorf jagen.« Arri bemerkte aus den Augenwinkeln, wie ihre Mutter zu einer scharfen Entgegnung ansetzte - Geduld hatte niemals zu ihren Tugenden gehört -, aber sie kam ihr zuvor. »Du warst der beste Jäger, den dieser Stamm je hatte, nicht wahr?«, fragte sie. Krons Blicke wurde noch mürrischer. »Du sagst es, Mädchen. Ich war es. Und dass ich nicht mehr jagen kann, ist nicht nur für mich schlimm, sondern für uns alle. Es bedeutet, dass das Dorf weniger frisches Fleisch auf den Tisch bekommen wird.« »Du hast deinen Arm verloren, nicht dein Wissen«, antwortete Arri. »Du könntest es mir beibringen. Zeig mir alles, was du weißt. In ein paar Tagen kann ich sicher auf die Jagd gehen und ebenso erfolgreich sein wie du.« Kron starrte sie fassungslos an. »Du weißt ja nicht, was du redest, du dummes Kind. In ein paar Tagen? Nicht einmal in einem Jahr könnte ich dich auch nur einen Bruchteil von dem lehren, was du wissen musst, um erfolgreich auf die Jagd zu gehen.« »Und wieso glaubst du dann, du müsstest in wenigen Tagen alles verstehen, was Achk dir beibringen kann?«, fragte Lea sanft. Kron starrte sie an, dann Arri und schließlich wieder sie. Dann schüttelte er erneut den Kopf. »Weibergewäsch. Sarn hat Recht. Ihr redet und redet, bis einem schon vom Zuhören der Kopf schwirrt und man euch am Ende alles verspricht, nur damit ihr Ruhe gebt!« »Oh, so funktioniert das«, sagte Lea belustigt. »Warum hast du mir das nicht schon längst verraten?« Kron blieb ernst. »Sarn hat Recht«, sagte er noch einmal. »Man kann euch nicht trauen. Ihr treibt ein grausames Spiel mit mir.« Und damit wandte er sich um und ging mit hängenden Schultern davon. »Wo geht er hin?«, krächzte Achk. Seine blinden Augen bewegten

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sich unruhig hin und her. »Was tut er? Wohin geht er?« »Fort«, antwortete Lea. »Aber mach dir keine Sorgen. Er kommt zurück. Spätestens in zwei Tagen.«

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11 Es dauerte nicht zwei, sondern fünf Tage, in denen es nach den letzten heißen Sommertagen fast ununterbrochen regnete, aber am Schluss kam Kron zurück, und Achk nahm seine unterbrochene Ausbildung wieder auf, und damit wurde alles nur noch schlimmer. Arri selbst bekam kaum etwas davon mit, denn ihre Mutter verbot ihr nicht nur strengstens, das Dorf zu betreten und mit irgendeinem anderen außer ihr zu reden, sondern sogar die Hütte - außer in ihrer Begleitung - zu verlassen, und obwohl Arri über die Ungerechtigkeit und Willkür dieses Verbots aufs Äußerste empört war, hielt sie sich daran. Dennoch hätte sie schon blind sein müssen, um nicht zu spüren, wie die Stimmung im Dorf allmählich umschlug. Es war nicht so, dass jemand etwas gesagt oder sie oder ihre Mutter gar angegriffen hätte, doch Lea wurde immer wortkarger und abweisender, wenn sie Abends tropfnass wie eine streunende Wildkatze zurückkam und Arri sie fragte, was sie erlebt hatte, und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie ihr gestattete, sie ins Dorf zu begleiten, konnte sie die Feindseligkeit, die ihnen entgegenschlug, mehr als deutlich spüren. Zweifellos steckte Sarn dahinter. Lea weigerte sich beharrlich, auf jede entsprechende Frage zu reagieren, aber die Blicke, die ihnen die Menschen aus dem Dorf zuwarfen - oder eben auch gerade nicht -, sprachen ihre eigene, sehr deutliche Sprache. Was Arri spürte, war zwar noch weit von blankem Hass entfernt, aber es ging deutlich über die unterschwellige Ablehnung und das niemals ganz erloschene Misstrauen allen Fremden gegenüber hinaus, die Arri bereits zur Genüge kennen gelernt hatte. Etwas änderte sich, und es war keine Veränderung zum Guten. Das Einzige, was sich nicht änderte, waren ihre heimlichen Ausflüge in den Wald, bei denen sie trotz der zunehmenden nächtlichen Kälte statt sorgfältig geschnürter Fußlappen nur leichte Sandalen trug, und die auch nur mit Widerwillen, da ihr Barfußlaufen immer noch am liebsten war. Nachdem ihre Mutter ihr verboten hatte, die Hütte zu verlassen, verbrachte sie ihre Tage außer mit den alltägli-

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chen Verrichtungen wie der Pflege ihres Gartens und dem notdürftigen Flicken ihrer zerrissenen Sommerbluse mit nichts anderem, als eine neue Grasmatratze als Ersatz für die von Rahn entweihte und zuvor von Krons Blut besudelte zu fertigen. Ohne viel zu zögern, schob sie mit Beendigung ihrer Arbeit die alte Matratze im wahrsten Sinne des Wortes ihrer Mutter unter - zu ihrer Enttäuschung, ohne dass diese es überhaupt bemerkte. Ihr Groll darüber währte allerdings nicht lange. Wie ihre Mutter es durchhielt, sich nahezu den ganzen Tag um Kron und den blinden Schmied zu kümmern, die Kranken und Verletzten des Dorfes zu versorgen, sich Rahns Nachstellungen zu erwehren (wenn auch nicht immer; das schien ein Teil ihrer Abmachung zu sein, auch wenn Arri sich hütete, sie danach zu fragen), nebenbei auch noch all ihren anderen Pflichten und unterschiedlichen Aufgaben nachzukommen und noch jede Nacht mit ihr hinaus in den Wald zu gehen, um ihre Ausbildung fortzusetzen, war ihr ein Rätsel. Aber sie tat es, und was Arri schon vorher und nicht unbedingt angenehm aufgefallen war, wurde noch deutlicher: Sobald sie - meist kurz nach dem Nachtzenit - die Hütte verließen und sich auf den Weg zur Quelle auf der Lichtung machten, schien aus ihrer Mutter eine vollkommen andere Person zu werden. Ihre Fahrigkeit und ihr übellauniges, abweisendes Wesen waren dahin, und sie wurde zu einer geduldigen, wenn auch strengen Lehrerin. Auf diese Weise vergingen zehn oder zwölf Tage, in denen Arri zwar viel und begierig lernte, sich zugleich aber immer größere Sorgen um ihre Mutter machte. In Leas Gesicht waren jetzt dunkle Linien und Schatten, die jeden Tag ein wenig tiefer zu werden schienen und die es vorher noch nicht gegeben hatte, und ihre Bewegungen verloren mehr und mehr von ihrer natürlichen Anmut und wurden abgehackt und fahrig. Sie wurde nicht nur immer unduldsamer, sondern machte auch Fehler, was sie früher nie getan hatte, und wenn sie nicht gemeinsam draußen im Wald waren, wurde sie noch wortkarger und abweisender, obwohl Arri nicht verborgen blieb, dass Kron und sein blinder Lehrmeister ganz offensichtlich gute Fortschritte machten. Die heruntergekommene Hütte am Wegesrand, die bisher

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einfach nur ein Schandfleck für das ganze Dorf gewesen war, wurde von Rahn wieder aufgebaut, stabiler und größer, als sie jemals ausgesehen hatte, und aus dem Rauchabzug im Dach drang jetzt fast ununterbrochen grauer, scharf riechender Qualm. Manchmal konnte man den roten Feuerschein des Schmelzofens bis tief in die Nacht hinein durch die Ritzen der Wände schimmern sehen. Arri stellte zwei- oder dreimal eine entsprechende Frage, bekam aber - wenn überhaupt - nur abweisende Antworten und gab es schließlich auf. Ihre Mutter drückten schwere Sorgen, so viel zumindest war ihr klar, und sie war nicht sicher, ob diese nur mit ihrem Streit mit dem Schamanen und dem verrückten Vorhaben zu tun hatten, aus zwei halben Männern wieder einen ganzen zu machen, oder ob da vielleicht nicht noch etwas anderes war. Doch es gab auch schöne Momente. Allein zweimal in diesen Tagen besuchten sie Nachtwind und seine Herde, und vielleicht waren diese wenigen kostbaren Augenblicke die einzigen in all dieser Zeit, in denen ihre Mutter wirklich glücklich war; und vielleicht sogar zum letzten Mal in ihrem ganzen Leben, wie Arri später - aber dennoch viel, viel zu früh - einmal begreifen sollte. Arri fand die Vorstellung immer noch ziemlich kindisch, ein Tier, selbst ein so beeindruckendes wie den riesigen schwarzen Hengst, nicht nur als seinen Freund zu betrachten, sondern auch noch mit ihm zu sprechen wie mit einem Menschen, aber sie wollte ihrer Mutter die Freude nicht verderben, und so nahm sie sich fest vor, einfach mitzuspielen und zumindest so zu tun, als erginge es ihr genauso. In Wahrheit gelang es ihr selbst nicht, sich der Faszination dieser herrlichen Tiere zu entziehen. Sie redete sich ein, mit Nachtwind und den anderen Pferden herumzutollen, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, aber in Wahrheit genoss sie es mindestens ebenso sehr wie Lea. Vor allem Sturmwind hatte es ihr angetan - oder sie es der schwarz-weißen Stute, so genau vermochte sie das nicht zu sagen. Ganz wie bei ihrem ersten Zusammentreffen mit der Herde suchte die Stute nicht nur eindeutig ihre Nähe, sondern stupste sie immer wieder mit ihrer weichen Schnauze an, als wollte sie sie tatsächlich zum Spielen herausfordern.

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Als sie das dritte Mal zu den Pferden kamen, wartete Sturmwind bereits auf sie, und diesmal musste sie sich kaum noch verstellen, um so zu tun, als bereite es ihr Freude, sich dem Tier zu widmen. Ihre Mutter enthielt sich zwar jeder Bemerkung, aber Arri entgingen die wohlwollenden Blicke nicht, die sie ihr immer wieder zuwarf. Anscheinend war es ihr wenigstens gelungen, ihrer Mutter eine Freude zu machen. Doch sie kamen nicht nur den weiten Weg hier heraus, um mit der Herde zu spielen. Arri lernte eine Menge über die Tiere, nicht nur über Nachtwind und seine Herde, sondern über Pferde überhaupt, ihre Aufzucht und Pflege und ihre besonderen Charaktereigenschaften, und hätte sie es nicht schon längst gewusst, so hätte ihr spätestens der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter klargemacht, wie glücklich sie in diesen wenigen Augenblicken war. Sie erzählte nicht bloß von Pferden im Allgemeinen, sondern auch von dem Tier, das sie selbst als Kind gehabt hatte, und so - vielleicht sogar, ohne dass sie es wollte - erzählte sie Arri auf diese Weise mehr über ihr früheres Leben, als sie es in all der Zeit zuvor freiwillig getan hatte. Arri hörte gebannt zu und hing nur so an ihren Lippen. Ihre Mutter hatte seit jener ersten Nacht im Wald nie wieder von ihrem früheren Leben und ihrer Heimat gesprochen und war auch allen direkten Fragen Arris beharrlich ausgewichen. Sie befanden sich auf dem Rückweg und waren gar nicht mehr weit vom Dorf entfernt, als Arri all ihren Mut zusammennahm und sie schließlich die Frage stellte, die ihr schon so lange auf der Seele brannte. Es war tief in der Nacht. Wie jedes Mal, wenn sie bei den Pferden gewesen waren, war der Nachtzenit schon längst überschritten, und sie würden dem nächsten Morgen näher sein als dem vergangenen Abend, bis sie endgültig nach Hause kamen. Immerhin hatten sie den schwierigeren Teil des Weges bereits hinter sich gebracht und gerade die Quelle passiert, sodass sie nun ein wenig besser vorwärts kamen. Lea schritt mit einem hörbar erleichterten Seufzer rascher aus, kaum dass sie die Lichtung hinter sich gelassen hatten, und Arri schlang den schweren wollenen Umhang, den sie gleich ihrer Mutter um die Schultern geworfen hatte, zwar fröstelnd enger

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zusammen, versuchte aber gleichzeitig auch, ihre Schritte noch ein wenig mehr zu beschleunigen. Der Sommer war endgültig vorbei, und auch wenn die Sonne sich tagsüber noch mit einem Übermaß an Wärme und klarer Helligkeit fast trotzig gegen das Unvermeidliche aufzulehnen schien, so wurde es doch nach Einbruch der Dunkelheit empfindlich kühl. Jetzt, in der kältesten Zeit der Nacht, konnte sie ihren Atem bereits als grauen Dampf vor dem Gesicht aufsteigen sehen. Die Luft legte sich wie ein dünner, eisiger Film auf ihre Haut, und Kälte und Feuchtigkeit krochen langsam, aber auch beharrlich durch ihre Kleider. Gar nicht mehr lange, dachte sie missmutig, und sie würde ebenso durchnässt sein, als wäre sie in ihren Kleidern ins Wasser gefallen. Sie sollten sich besser beeilen, nach Hause zu kommen, bevor sie am Ende noch beide krank wurden. Dennoch blieb ihre Mutter nach einem knappen Dutzend weiterer, rascher Schritte stehen, legte fast erschrocken den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment lang sichtbar konzentriert. Auch Arri verhielt mitten im Schritt und sah gebannt zu ihrer Mutter hin. Sie sagte nichts, aber deren angespannte Haltung entging ihr so wenig wie die fast unmerkliche Bewegung, mit der ihre rechte Hand unter den Umhang glitt. Arri wusste, dass sie dort ihr Schwert trug. Seit Grahls und Sarns unangekündigtem nächtlichen Besuch nahm sie die Waffe immer mit, wenn sie die Hütte verließ. Arri gegenüber hatte sie behauptet, sie täte es aus Furcht, das Schwert könne ihr gestohlen werden, und sicherlich entsprach das auch zu einem Teil der Wahrheit - aber vielleicht eben nur zu einem Teil, und möglicherweise auch nur zu einem kleinen Teil. »Was hast du?«, fragte sie. Sie hatte im Flüsterton gesprochen, doch ihre Mutter hob so erschrocken die Hand, dass Arri fast schuldbewusst zusammenfuhr, und drehte sich dann langsam mit geschlossenen Augen und schräg gelegtem Kopf einmal um sich selbst. Sie lauschte konzentriert, und Arri tat dasselbe. Alles, was sie hörte, waren das erschrockene Klopfen ihres Herzens und die gedämpften Geräusche des nächtlichen Waldes. Aber nur, dass sie nichts hörte, bedeutete nicht, dass da auch

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tatsächlich nichts war. »Ist… irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte sie schließlich, als ihre Mutter die Augen zwar wieder öffnete, aber keine Anstalten zu irgendeiner Erklärung machte und auch der Ausdruck auf ihrem Gesicht weiter so besorgt und angespannt blieb. Lea schüttelte den Kopf. Ihre rechte Hand kroch wieder unter dem Umhang hervor. »Nein. Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich muss mich wohl getäuscht haben.« Sie schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf, und auf ihrem Gesicht erschien nun ein ärgerlicher Ausdruck, von dem Arri allerdings fast sicher war, dass er ihr selbst galt. »Ich sehe allmählich wohl schon Gespenster.« Sie straffte die Schultern, wie um ihren Weg fortzusetzen, machte aber nur einen einzigen Schritt und blieb dann abermals stehen. Sie hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb unverändert, und auch ihre rechte Hand machte jetzt nicht mehr diese verräterische Bewegung, aber Arri sah trotzdem, dass der Anteil von Sorge in ihrem Blick eher noch größer geworden war. Plötzlich musste sie wieder an den Fremden denken, den sie getroffen hatte (und zwar, ob das nun Zufall war oder nicht, nahezu genau an dieser Stelle), und mit einem Mal hatte auch sie das Gefühl, dass sie nicht mehr allein waren. Jemand beobachtete sie. Aber das konnte nicht sein, versuchte sie sich selbst in Gedanken zu beruhigen. Ganz egal, wie geschickt dieser mögliche Beobachter auch im Anschleichen und Heranpirschen sein mochte, Arri wusste, dass den scharfen Sinnen ihrer Mutter nicht der geringste verräterische Laut entgangen wäre. »So geht das nicht weiter«, seufzte ihre Mutter. »Was?«, fragte Arri, obwohl sie sicher war, dass die Worte nicht ihr gegolten hatten. Ihre Mutter antwortete denn auch nicht, sondern warf ihr nur einen seltsamen Blick zu und ging dann weiter, blieb aber nach wenigen Schritten schon wieder stehen und hob den Kopf, diesmal aber nicht, um sich erschrocken umzusehen. Für eine geraume Weile blickte sie konzentriert in den Himmel hinauf, der durch eine Lücke im Blätterdach über ihren Köpfen an dieser Stelle besonders deutlich zu sehen

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war. Die Nacht war vollkommen wolkenlos, und da der Mond zu einer kaum noch kleinfingerbreiten, blassen Sichel zusammengeschmolzen war, schienen die Sterne doppelt hell und klar über ihnen am Firmament zu funkeln; wie unzählige winzige Augen, die aufmerksam auf sie herabblickten. Eine geraume Weile stand sie einfach so da und sah zu den Sternen hinauf, und zumindest am Anfang tat Arri es ihr gleich. Ihre Mutter hatte sie auch einiges über die Sterne gelehrt. Sie hatte ihr erzählt, dass manche von ihnen Namen hatten und dass sie den Seefahrern ihres Volkes dabei geholfen hatten, ihren Weg durch die unendlichen Einöden des Meeres zu finden, und vor allem auch immer wieder unbeschadet nach Hause zu kommen. Arri hatte sich ehrliche Mühe gegeben, diesem Gedanken zu folgen, aber es war ihr nicht wirklich gelungen. Für sie waren diese winzigen funkelnden Lichter eben nichts mehr als funkelnde Lichter, und wenn sie darüber hinaus eine weitere, geheimnisvolle Bedeutung hatten, so hatte sie sich ihr zumindest bis jetzt noch nicht erschlossen. »Komm her.« Lea forderte sie mit einer Handbewegung auf, an ihre Seite zu treten. Gleichzeitig hob sie den rechten Arm und deutete steil in den Himmel hinauf. Arris Blick folgte der Geste, aber sie erkannte dort nichts weiter als wahllos verstreute, glitzernde Punkte; wie Eiskristalle auf schwarzem Stein, oder auch die Augen teilnahmsloser Götter, die seit Anbeginn der Zeit auf die Erde herabblickten. »Siehst du diese Sterne?«, fragte Lea. Arri nickte, aber auf ihrem Gesicht musste sich wohl ein Ausdruck ziemlicher Verständnislosigkeit ausbreiten, denn ihre Mutter lachte plötzlich. Dann legte sie Arri den Arm um die Schultern, zog sie dicht an sich heran und deutete abermals mit der freien Hand nach oben. »Diese dort«, sagte sie. Arri versuchte es ehrlich, aber für sie blieben es bedeutungslose kalte Punkte. »Dort oben«, fuhr Lea fort. »Siehst du, genau dort, wo mein Finger hindeutet. Diese kleine Gruppe. Sie bilden fast einen Kreis, mit einem einzelnen, besonders hellen Stern in der Mitte.« Arri tat ihr Möglichstes, und schließlich glaubte sie zumindest, die-

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se ganz spezielle Konstellation zu sehen, auf die ihre Mutter sie aufmerksam zu machen versuchte. Aus irgendeinem Grund schien sie für sie von besonderer Bedeutung zu sein. Arri nickte. Der Blick ihrer Mutter bekam etwas Zweifelndes, als frage sie sich, ob Arri vielleicht einfach nur mitspielte, um ihr einen Gefallen zu tun. Aber dann wiederholte sie ihr Nicken und fuhr fort: »Ganz egal, was auch passiert, merk dir diese Sterne. Wenn du sie wieder findest, dann hast du immer einen Anhaltspunkt für deine Orientierung, wo auch immer auf der Welt du dich gerade aufhältst.« Sie nahm den Arm von Arris Schulter, griff mit der anderen Hand unter ihren Umhang und zog das Schwert hervor. »Hier. Schau.« Vorsichtig, um sich nicht an der scharfen Klinge zu schneiden, ergriff sie das Schwert mit beiden Händen und hielt es so ins Licht, dass der silbrige Schein, der durch die Lücke im Blätterdach fiel, den Griff und vor allem den reich verzierten Knauf an seinem Ende beleuchtete. »Siehst du es?« Arri sah im allerersten Moment nichts anderes als das, was sie schon unzählige Male zuvor gesehen hatte - solange sie sich zurückerinnern konnte, hing dieses Schwert an der Wand in ihrer Hütte, und sie hatte es schon so oft gesehen, dass sie bereits seit Jahren eigentlich nicht mehr wirklich hinschaute. Früher hatte sie sich manchmal den Kopf über die Bedeutung des komplizierten Musters in dem verzierten Knauf zerbrochen, es aber irgendwann einmal aufgegeben; vermutlich besagte die Anordnung aus unterschiedlich großen Kreisen und Sicheln, die in blitzendem Gold in den dunkelgrünen Stein des Knaufs eingelassen war, überhaupt nichts, sondern diente nur der Zierde. Jedenfalls hatte sie das bisher geglaubt. Nun aber - wenn auch erst, nachdem ihre Mutter abermals mit dem Finger in den Himmel und dann auf den wuchtigen Schwertknauf gedeutet hatte fiel ihr plötzlich etwas auf. Sie sah in den Himmel empor, runzelte konzentriert die Stirn, blickte dann wieder auf den Schwertknauf, sah noch einmal in den Himmel und schließlich wieder auf den grünen, mit goldenen Kreisen bedeckten Stein. »Das… das sind dieselben Sterne«, murmelte sie überrascht. Ihre Mutter nickte und sah sehr zufrieden aus, doch Arri fuhr nach einem

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weiteren, aufmerksamen Blick in den Himmel hinauf fort: »Aber es sind zu viele.« »Nein«, erklärte ihre Mutter kopfschüttelnd. »Es sind sieben. Siehst du?« Ihr deutender Finger folgte ihren Worten. »Diese sechs hier bilden einen fast regelmäßigen Kreis, und der siebte, größte, ist genau in der Mitte. Es sind die Plejaden. Merke dir diesen Namen, auch wenn du vielleicht irgendwann einmal der einzige Mensch auf der Welt sein wirst, der ihn noch kennt.« Das galt vielleicht für die winzigen, goldenen Abbilder der ruhig funkelnden Götteraugen dort oben am Himmel, aber nicht für die Sterne selbst. Arri sah noch einmal und jetzt mit höchster Konzentration hin, aber es blieb dabei. »Es sind nur fünf«, beharrte sie. »Fünf, die man sofort sehen kann«, erwiderte Lea mit einem matten Lächeln und einem irgendwie sanft wirkenden Kopfschütteln. »Aber es sind sieben, glaub mir. Dort oben ist der Sitz der Götter, und von dort aus sehen sie uns zu und wachen über unser Schicksal.« Arris Verunsicherung stieg noch weiter. Ihre Mutter sprach sehr selten über die Götter, und wenn, dann tat sie es zumindest mit bitterer Stimme, in der immer ein leiser, aus einem niemals ganz überwundenen Zorn geborener Vorwurf mitschwang, wenn sie nicht gleich ganz offen mit ihnen haderte; und doch spürte sie, dass die Worte in diesem Moment nicht einfach nur so dahingesagt waren. Viel mehr war da plötzlich etwas in ihrer Stimme - und auch auf ihrem Gesicht -, was Arri ein kurzes Frösteln über den Rücken laufen ließ. Sie hätte nicht geglaubt, dass ihre Mutter überhaupt zu einer solchen Empfindung fähig wäre, und doch spürte sie die Ehrfurcht, die sie plötzlich ergriffen hatte, aber auch etwas wie eine stille, resignierende Trauer; als spräche sie über etwas unglaublich Kostbares, das sie verloren hatte und von dem sie wusste, dass sie es nie wieder zurückerlangen konnte. »Die Götter?«, wiederholte sie. »Aber ich dachte, du glaubst nicht an sie?« »Vielleicht glauben sie ja noch an mich«, erwiderte Lea traurig. »Und vielleicht will ich nur nicht mehr an sie glauben.« »Weil sie dir so viel genommen haben?«

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»Ich habe es versucht«, antwortete Lea, ohne damit wirklich auf ihre Frage zu antworten. Ihr Blick war wieder nach oben gerichtet, doch Arri hatte das Gefühl, dass ihre Mutter dort etwas vollkommen anderes sah als sie. »Es ist mir nicht gelungen. Vielleicht bin ich zu schwach. Vielleicht sind die Menschen auch dazu verdammt, an etwas wie die Götter zu glauben. Vielleicht ist auch einfach nur die Vorstellung unerträglich, dass es sie nicht gibt.« »Warum?«, fragte Arri verstört. »Wieso willst du an etwas glauben, das du doch eigentlich hasst?« »Weil es leichter ist, etwas zu haben, dem man die Schuld geben kann«, antwortete Lea fast im Flüsterton. Bildete es sich Arri nur ein, oder schimmerten plötzlich Tränen in ihren Augen? »Wenn da oben nichts ist, Arianrhod, wozu sind wir dann hier? Wenn das alles hier keinem höheren Ziel dient, wozu gibt es uns dann?« Es war keine Frage, auf die ihre Mutter wirklich eine Antwort erwartet hätte, das spürte sie, und doch zerbrach Arri sich für einen Moment den Kopf darüber, was sie darauf sagen könnte. Ihre Mutter kam ihr zuvor, indem sie den Blick mit einem Ruck von den kalt blitzenden Diamantsplittern oben am Nachthimmel losriss und sich zu einem Lächeln zwang. »Du hast mich gefragt«, fuhr sie nach einer spürbaren Pause und in verändertem, aber gefasstem Ton fort, »warum dieses Schwert so wertvoll für mich ist.« »Weil es das Einzige ist, was du aus deiner Heimat mitgebracht hast«, antwortete Arri, »und weil es eine mächtige Waffe ist, der nichts widersteht.« Ihre Mutter lächelte, als hätte sie etwas sehr Dummes gesagt, was sie aber nicht besser wissen konnte. Sie nickte zwar, sagte dann aber: »Nein. Jede Waffe ist immer nur so mächtig wie derjenige, der sie führt. Du hast Recht - dieses Schwert ist das Einzige, was ich mitbringen konnte, aber es ist nicht nur ein bloßes Erinnerungsstück, und es ist sehr viel mehr als nur eine Waffe.« Sie drehte das Schwert behutsam auf der Handfläche herum, sodass Arri nun die Rückseite des Knaufes sehen konnte. Sie unterschied sich von der vorderen. Auch sie bestand aus dunkelgrünem Stein, der

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mit goldenen Einlegearbeiten verziert war, kleine Punkte, Striche und Halbkreise, die sich jedoch in einer vollkommen anderen Anordnung darboten als auf der vorderen Seite. »Dieses Schwert wird eines Tages dir gehören, Arianrhod. Es ist dein Erbe; vielleicht das Kostbarste, was jemals einem Menschen hinterlassen worden ist. Es ist nicht die Schärfe seiner Klinge, die es so wertvoll macht, auch wenn sie alles zerschmettern kann, was die Menschen in diesem Land dagegen aufbieten könnten. Aber dies hier ist sein wahres Geheimnis.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Arri. Lea nickte verständnisvoll. »Und wie auch? Das ist ja gerade das Geheimnis dieser Waffe, dass sie denen, die sie in Händen halten, die Macht über das Wohl und Wehe so vieler Menschen verleiht, und dass sie es auf so völlig andere Weise tut, als jeder ahnt, der ihr Geheimnis nicht ganz genau kennt.« Arri wartete darauf, dass sie von sich aus weitersprach, aber das tat ihre Mutter nicht. Sie sah sie nur an, als wäre dies allein schon das große Geheimnis gewesen, das sie ihr offenbaren wollte, und als verstünde sie gar nicht, warum Arri sie so verwirrt und verständnislos anblickte. Eine ganze Weile verging, ohne dass einer von ihnen etwas sagte, und schließlich räusperte sich Arri unbehaglich, und ihre Mutter schlug den Umhang zurück und setzte dazu an, das Schwert wieder in die mit einer Bronzeeinfassung verstärkte Lederschlaufe zurückzuschieben, die sie in den Gürtel geknüpft hatte, der ihr Kleid um die Taille herum zusammenhielt. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern hob plötzlich und mit einem neuerlichen, erschrockenen Ruck den Kopf und schien zu lauschen. Und diesmal war Arri sicher, sich den Ausdruck von Schrecken auf ihren Zügen nicht nur einzubilden. »Was ist los?«, flüsterte sie alarmiert. Lea bedeutete ihr auch jetzt mit einem hastigen Wink, still zu sein, drehte sich aber gleichzeitig mit einem Ruck um und lief mit raschen Schritten und alles andere als leise los. Arri folgte ihr mit klopfendem Herzen, doch obwohl sie jegliche Vorsicht aufgab und ohne Rücksicht auf den Lärm, den sie dabei machte, so schnell ausschritt,

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wie sie es nur konnte, fiel sie rasch hinter ihrer Mutter zurück und hätte womöglich ganz den Anschluss verloren, wäre Lea nicht nach zwei oder drei Dutzend Schritten ebenso abrupt wieder stehen geblieben, wie sie losgelaufen war. Keuchend gelangte Arri bei ihr an und wollte eine entsprechende Frage stellen, doch ihre Mutter machte erneut eine befehlende Geste, sah sich aufmerksam nach rechts und links um und deutete dann mit dem Schwert nach vorne, in die Richtung, in der das Dorf liegen musste. Arris Blick folgte der Bewegung, und sie fuhr zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit so erschrocken zusammen, dass sie gerade noch einen Aufschrei unterdrücken konnte. Vor ihnen schimmerte es rot durch das Unterholz. »Feuer«, flüsterte Lea. »Es brennt.« Aber was sollte dort brennen?, fragte sich Arri. In dieser Richtung lag nur das Dorf und… ihre Hütte! Als wäre diese Erkenntnis ihnen beiden im gleichen Moment gekommen, rannten Arri und ihre Mutter auch schon los. Lea nahm jetzt überhaupt keine Rücksicht mehr darauf, ob Arri mit ihr Schritt halten konnte oder nicht, sondern brach durch das Unterholz, und wo sie nicht schnell genug von der Stelle kam, hackte sie sich ihren Weg mit dem Schwert frei. Arri hörte das Geräusch reißenden Stoffes, als ihr Umhang an den dornigen Zweigen des Gestrüpps hängen blieb, aber auch darauf nahm sie keine Rücksicht, sondern schien ganz im Gegenteil nur noch schneller vorwärts zu hasten. Obwohl sie mit ihrem eigenen Körper und der scharfen Klinge einen Weg für sie bahnte, fiel Arri abermals zurück und verlor sie schon nach wenigen Dutzend Schritten aus den Augen. Dennoch bestand nicht die Gefahr, gänzlich den Anschluss zu verlieren, denn das düsterrote Flackern vor ihnen nahm jetzt immer rascher an Intensität zu, sodass sich der huschende Schatten, in den sich ihre Mutter verwandelt hatte, immer deutlicher davor abzeichnete. Was immer dort vorne brannte, es musste ein gewaltiges Feuer sein, und obwohl Arri wusste, dass es nicht möglich war, glaubte sie bereits einen Schwall trockener Hitze zu spüren, der ihr entgegenschlug, und den Geruch brennenden Holzes wahrzunehmen, der die

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Luft schwängerte. Ihr Zuhause! Es durfte nicht ihre Hütte sein! Diese Hütte und das Wenige, was darin war, waren alles, was sie besaßen, alles, was ihr Leben ausmachte. Sie hörte einen dumpfen Laut und dann die Stimme ihrer Mutter, die einen Fluch in einer Arri vollkommen unbekannten Sprache ausstieß, dann hob das Geräusch ihrer Schritte wieder an, ertönte jetzt aber langsamer und auch nicht mehr ganz so regelmäßig. Tatsächlich war sie langsamer geworden. Als Arri, von einer neuen Sorge um ihre Mutter ergriffen, schneller ausschritt, holte sie tatsächlich wieder auf, und kurz bevor sie den Waldrand erreichten, hatte sie nahezu zu ihr aufgeschlossen. Noch immer war ihre Mutter kaum mehr als ein verwaschener Schatten, den sie nur sah, weil er sich dunkel gegen den flackernden Lichtschein abhob, doch sie konnte erkennen - dass sie deutlich humpelte. »Mutter!«, keuchte sie. »Was ist passiert?« Möglicherweise wollte Lea sogar antworten, denn sie stockte fast unmerklich im Schritt und setzte dazu an, den Kopf in Arris Richtung zu drehen, doch in diesem Augenblick hatte sie den Waldrand erreicht, und sie blieb abrupt stehen und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Sie waren kaum einen Steinwurf von ihrer Hütte entfernt aus dem Wald herausgetreten, und Arri erkannte nicht einmal einen Atemzug nach ihrer Mutter, dass die schilfgedeckte, auf doppelt armdicken Stelzen stehende Hütte unversehrt war. Der Feuerschein war jetzt viel deutlicher zu sehen, und für einen Augenblick ließ die Helligkeit die Umrisse des Hauses mit scharf abgegrenzten Linien vor dem flackernden roten Hintergrund erscheinen. Es war nicht ihr Heim, das brannte, dachte Arri erleichtert. Das Feuer - es war ein gewaltiges, scheinbar himmelhoch loderndes Feuer - brannte irgendwo dahinter, und ein Stück höher. Es war das Dorf, das brannte. Arris Erleichterung, ihr Heim unversehrt vorzufinden, hielt kaum einen Augenblick länger an als das ganz ähnliche Gefühl, das ihre Mutter gehabt haben musste. Lea stieß einen zweiten, diesmal erschrockenen Seufzer aus und stürzte weiter, und Arri zögerte nur

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einen Herzschlag lang, bevor sie ihr folgte. Nicht mehr von den Bäumen und dem Unterholz des Waldes abgeschirmt, war der Feuerschein jetzt so grell, dass er in den Augen schmerzte, und sie spürte die Hitze tatsächlich. Auch der durchdringende Gestank von brennendem Holz war nicht mehr eingebildet, und darunter war noch ein anderer, schlimmerer Geruch, den sie in ihrer Aufregung nicht sofort einzuordnen vermochte, der ihrer Furcht aber neue Nahrung gab. Arri rannte, doch sie verlor den Anschluss, noch bevor sie die halbe Strecke zur Schmiede hinauf zurückgelegt hatte, und ihre Angst um ihre Mutter bekam einen neuen, hässlicheren Unterton. Ganz egal, wie abfällig und bitter sich ihre Mutter manchmal über die Menschen im Dorf äußern mochte - Arri kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Augenblick zögern würde, ihr eigenes Leben für einen von ihnen aufs Spiel zu setzen. Und so, wie es vor ihnen aussah, musste das ganze Dorf in Flammen stehen. Arri versuchte fast verzweifelt, noch schneller zu laufen. Auf halbem Wege ließ sie ihren Umhang fallen, und als sie das letzte, steil ansteigende Stück in Angriff nahm, schleuderte sie auch die Sandalen von den Füßen. Dennoch schienen sich die Umrisse ihrer Mutter in dem lodernden Rot einfach aufgelöst zu haben, lange, bevor sie die Stelle erreichte, an der die Hütte des blinden Mannes stand. Um genau zu sein, erreichte sie sie gar nicht, denn schon, als sie noch ein Dutzend Schritte davon entfernt war, wurden die Hitze und das grelle, jetzt nicht mehr rote, sondern fast weiße Licht so unerträglich, dass sie schützend den Arm vor das Gesicht riss und stehen bleiben musste. Aufgeregte Stimmen und Schreie drangen an ihr Ohr, das Trappeln zahlloser schwerer Schritte, Rufe und Gebrüll. Sie glaubte Schatten im tanzenden Weiß vor sich zu erkennen, dann drehte der Wind und fegte ihr eine so gnadenlose Hitze ins Gesicht, dass sie zwei oder drei Schritte zurückstolperte und qualvoll hustete. Das gleißende Licht trieb ihr die Tränen in die Augen. Halb blind und noch immer den rechten Arm schützend vor das Gesicht gehoben, drang sie in das dichte Unterholz am Wegesrand ein, stolperte prompt über eine Wurzel und wäre um ein Haar gefallen, hätte sie sich nicht im letzten Augenblick mit ausgestreckten Händen an ei-

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nem Baum abgestützt. Doch sie zog die Arme mit einem Schmerzensschrei wieder zurück. Der Baum war so heiß, dass seine Rinde zu glühen schien. Hitze und Licht waren so gewaltig, dass sie ständig gegen einen heftigen Hustenreiz ankämpfen musste und nur verschwommene Schatten und Bereiche unerträglicher Helligkeit wahrnahm. Immerhin sah sie, dass sich das Feuer auf einen kleinen Bereich links von ihr konzentrierte. Auch der Hintergrund dort glühte rot, aber nicht mehr so unerträglich, als wäre der Sonnenwagen hinabgestürzt. Arri taumelte hustend auf diesen Bereich zu, und die Stimmen und der Lärm wurden lauter. Sie glaubte in all dem Durcheinander die Stimme Rahns herauszuhören, aber wo war ihre Mutter? Mittlerweile war der Brandgeruch so unerträglich geworden, dass sie schon allein deshalb kaum noch atmen konnte. Hustend und qualvoll nach Luft ringend, taumelte sie auf den Weg zurück - und riss mit einem erschrockenen Keuchen die Hände vors Gesicht, als sie von einem eiskalten Wasserschwall getroffen wurde. Nach der grausamen Hitze war das Wasser so kalt, dass es wie ein Schlag ins Gesicht war. Schatten tanzten in ihren Augenwinkeln, und sie hörte eine aufgebrachte Stimme schreien: »Aus dem Weg, du dummes Gör! Verschwinde!« Mühsam wischte sich Arri das Wasser aus den Augen, musste aber dennoch mehrmals blinzeln, um überhaupt etwas sehen zu können. Der Wasserschwall, der sie getroffen hatte, war nicht der Einzige. Vor ihr ragte die riesige Gestalt eines Mannes auf, der abwechselnd sie und den leeren Tonkrug in seinen Händen wütend musterte, bevor er sich umdrehte und davonstürmte. Hinter ihm eilten andere herbei, Kessel, Krüge und sogar Schalen mit Wasser schleppend, mit denen sie sich so dicht an den Brandherd herankämpften, wie es die grausame Hitze zuließ, bevor sie die Flammen zu löschen versuchten. Das gesamte Dorf schien zusammengelaufen zu sein, und Arri vernahm einen Chor aufgeregter, panischer Stimmen, die aus der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins drangen und alle auf die eine oder andere Weise nach Wasser schrieen. Die Menschen mussten eine Kette gebildet haben, die bis zur Zella hinunterreichte - aber bis da-

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hin, dachte sie, waren es mindestens zweihundert Schritte, viel zu weit, um wirklich eine geschlossene Kette zu bilden, die wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen wäre, schnell genug und in ausreichender Menge Wasser herbeizuschaffen, um das, was von Achks Hütte noch übrig war, zu retten. »Arianrhod!« In all dem Durcheinander von Stimmen, Lärm und dem Prasseln der Flammen erkannte sie nicht die Stimme ihrer Mutter, wohl aber den scharfen Ton, der darin mitschwang. Noch immer heftig blinzelnd und mit halb verschleiertem Blick, drehte sie sich um und sah ihre Mutter auf sich zustürmen. Obwohl erst wenige Augenblicke vergangen waren, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte, erschrak Arri bei ihrem Anblick. Ihr Umhang war verkohlt, und der Saum qualmte sichtbar. Ihr Gesicht war rußverschmiert und ihr Haar auf der linken Seite angesengt. Auch sie hatte einen Kupferkessel in der Hand, den sie vermutlich kurzerhand jemandem abgenommen hatte. »Was willst du hier?«, herrschte sie sie noch einmal an. »Willst du dich umbringen? Verschwinde!« Arri konnte sie nur verwirrt anstarren. »Aber ich…«, begann sie, doch ihre Mutter hörte gar nicht mehr zu, sondern fuhr auf dem Absatz herum und verschwand mit ihrem Kupferkessel in der Dunkelheit, allerdings nur, um fast unmittelbar darauf mit einem weiteren, gefüllten Gefäß zurückzukommen. Näher als jeder andere wagte sie sich an das Feuer heran und kippte das Wasser zielsicher in die weiß lodernde Glut. Ein hörbares Zischen erklang, aber das Feuer verlor nicht wirklich an Kraft. So heiß, wie es brannte, dachte Arri schaudernd, musste das Wasser einfach verdampfen, bevor es die Flammen auch nur erreichte. Was immer dort brannte - es war nicht nur Holz. Immerhin erkannte sie jetzt, dass es keineswegs das ganze Dorf war, das in Flammen stand, wie sie in ihrem allerersten Schrecken angenommen hatte. Es war die abgelegene Hütte des Schmieds, und vielleicht war das auch die Erklärung für die fast schon unnatürliche Kraft, mit der das Feuer wütete. Sie hatte sich nie sonderlich um das gekümmert, was er tat, aber sie wusste natürlich, dass er neben Erz und Holzkohle auch noch eine Menge anderer, geheimnisvoller Zuta-

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ten in seiner Hütte aufbewahrte, mit denen er seine Metalle veredelte oder auch das Feuer heißer brennen lassen konnte als jeder andere. Irgendetwas musste hier schrecklich schief gegangen sein. Ihre Mutter kam zurück, warf ihr im Vorbeistürmen einen zornigen Blick zu und verschwand wieder in der Dunkelheit, um abermals nach wenigen Augenblicken mit einem Gefäß voller Wasser zurückzukommen. »Also gut!«, schrie sie über das Brüllen der Flammen hinweg, als sie an ihr vorbeirannte. »Dann mach dich nützlich! Hilf mit, eine Kette zu bilden!« »Wo sind Kron und Achk?«, rief Arri ihr nach. Sie bekam keine Antwort, wahrscheinlich hatte ihre Mutter die Worte unter all dem Lärm gar nicht gehört. Als sie das nächste Mal zurückkam, schloss Arri sich ihr an. Sie stürmten weiter und auf den Dorfplatz hinaus, der vom Lodern der Flammen in ein unheimliches, düsteres Rot getaucht wurde. Das flackernde Licht zerhackte die Bewegungen der Menschen zu einer rasenden Abfolge einzelner Bilder und machte sie zu einem höllischen Tanz. Tatsächlich hatten die Dorfbewohner eine unregelmäßige zerbrochene Kette quer über den Platz und bis hinunter zum Fluss gebildet, die jedoch aus viel zu wenigen Gliedern bestand, sodass sie die gefüllten Behältnisse unterschiedlichster Form und Größe nicht einfach weiterreichen konnten, sondern zu einem kräftezehrenden und vor allem zeitraubenden Hin und Her gezwungen waren. Lea riss einem Kind, das unter dem Gewicht eines gefüllten Kruges fast zusammenzubrechen schien, seine Last kurzerhand aus den Fingern, fuhr herum und versetzte Arri aus der Bewegung heraus einen Stoß, der sie an den Platz des Jungen beförderte. »Hilf mit!«, schrie sie, während sie bereits im Laufschritt wieder davonhetzte. Und genau das tat Arri. Kessel, Krüge, Töpfe - einmal sogar eine geflochtene Schale, auf deren Boden wie durch ein Wunder eine winzige Wasserpfütze schwappte (Arri warf sie in hohem Bogen weg) - wurden ihr gereicht, und sie gab sie weiter, wankte hin und her, vor und zurück und sah immer wieder zu der brennenden Hütte hin. Die Flammen schienen nicht kleiner zu werden, beinahe als gäbe das Wasser, das die verzweifelten Dorfbewohner hineinschütteten,

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ihnen neue Nahrung, statt sie zu ersticken. Von Achks Hütte konnte längst nichts mehr übrig sein. Arri verdrängte die Frage, was aus dem blinden Schmied und seinem einarmigen Gehilfen geworden sein mochte, mit fast verzweifelter Kraft an den Rand ihres Bewusstseins. Sie hatte geglaubt, den Alten zu verachten und den Jäger zu fürchten, und etwas davon entsprach auch der Wahrheit, und doch wurde ihr plötzlich klar, wie sehr sie sich in den wenigen zurückliegenden Tagen an diese beiden ungleichen Männer gewöhnt hatte. Nicht, weil sie plötzlich ihre Verbundenheit gegenüber den Dorfbewohnern im Allgemeinen entdeckt hätte, sondern weil diese beiden vielleicht mittlerweile die Einzigen waren, die ihre Mutter zwar sicherlich nicht als ihre Freunde bezeichnen konnte, die aber zumindest nicht ihre Feinde waren. Das Feuer wütete noch eine geraume Weile. Allen Bemühungen der Dorfbewohner zum Trotz schienen die Flammen anfangs tatsächlich noch höher zu lodern, statt an Kraft einzubüßen. Die Hitze war selbst hier mitten auf dem Dorfplatz deutlich zu spüren, und der Wind trug den Qualm in erstickenden Schwaden zu ihnen herauf, sodass nicht nur Arri ihre Arbeit immer wieder unterbrechen musste, um qualvoll und hustend nach Atem zu ringen. Dazu kam die Sorge um ihre Mutter. Lea tauchte immer wieder auf, um irgendein Gefäß mit Löschwasser an sich zu reißen und damit davonzustürzen, als hätte sie sich vorgenommen, das Feuer ganz allein zu löschen, und Arri entging nicht, dass die Anzahl der Brandflecken auf ihren Kleidern nahezu jedes Mal zunahm. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass ihre Mutter von allen im Dorf mit Sicherheit am besten wusste, wie sie auf sich aufpassen konnte, aber dieser Gedanke änderte rein gar nichts daran, dass sie ein Dutzend Mal am Rande der Panik war, wenn ihre Mutter länger als ein paar Augenblicke wegblieb. Der Kampf gegen das Feuer schien die ganze Nacht zu dauern. In Wahrheit verging nur ein Bruchteil dieser Zeit, bis die Flammen schließlich doch kleiner wurden und aus dem verzehrenden Weiß zuerst ein loderndes Gelb und dann ein ganz allmählich dunkler werdendes Rot wurde, bevor sich das Feuer in seiner Raserei selbst zu

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verzehren begann. Doch Arri war schon lange vor Ablauf dieser Zeit zu Tode erschöpft von den schweren Krügen und Töpfen, die sie ununterbrochen entgegennehmen und weiter tragen und reichen musste. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper war verkrampft und schmerzte, und mit jeder noch so winzigen Bewegung kam sie dem Punkt näher, an dem sie einfach nicht mehr weiterkönnen und zusammenbrechen würde. Ein- oder zweimal sah sie Rahn, der mit gleich zwei randvoll gefüllten Wasserkrügen in den Armen vorüberhastete, und sie glaubte auch Kron zu sehen, war aber nicht ganz sicher und hatte nicht die Kraft, auch nur mit Blicken nach ihm zu suchen. Die Wut des Feuers ließ stetig nach, und das Licht war bald nicht mehr so grell, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb, wenn sie auch nur in die falsche Richtung sah. Von Achks Hütte würde am Ende nicht mehr als Asche übrig bleiben, und vielleicht nicht einmal das. Doch mittlerweile mussten sie sich um einen neuen Brandherd kümmern. Mindestens ein Dutzend umstehender Bäume hatten Feuer gefangen, und die Dorfbewohner kämpften jetzt nicht mehr darum, die Hütte des blinden Schmieds zu retten (falls sie das je getan hatten), sondern darum, ein Übergreifen der Flammen auf den angrenzenden Wald zu verhindern, was den Untergang des gesamten Dorfes bedeutet hätte. Selbst diesen Kampf gewannen sie nur knapp und wahrscheinlich nur, weil es in den letzten Tagen so heftig geregnet hatte und der Wald mit Feuchtigkeit getränkt war wie Moos, das drei Tage im Wasser gelegen hatte. Unterholz und Blätter waren einfach zu nass, um richtig zu brennen. Schließlich versagten Arris Kräfte endgültig. Jemand reichte ihr einen gefüllten Eimer, aber ihre tauben Finger waren nicht mehr in der Lage, ihn zu halten. Der geflochtene Henkel entglitt ihr, und der Eimer fiel zu Boden und ergoss seinen Inhalt über den aufgeweichten Morast, und im nächsten Moment sank auch Arri auf die Knie und dann kraftlos nach vorn. Es gelang ihr, den Sturz mit ausgestreckten Armen aufzufangen, aber ihre verkrampften Muskeln waren nicht mehr in der Lage, das Gewicht ihres Körpers in die Höhe zu stemmen. In ihren Ohren rauschte das Blut. Ihr war übel, und wenn sie

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die Augen schloss, dann drehte sich die Dunkelheit hinter ihren Lidern immer rascher. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Die Stimme drang so dumpf und verzerrt an ihr Bewusstsein, als hätte sie Wasser in den Ohren. Mit einiger Mühe gelang es ihr, die Lider zu heben, aber das Gesicht, in das sie emporblickte, trieb immer wieder vor ihren Augen auseinander und brach in Stücke, wie eine Spiegelung auf bewegtem Wasser. Sie wollte nicken, aber selbst dafür fehlte ihr die Kraft. Das Gesicht trieb noch einmal auseinander und setzte sich dann endgültig zu dem eines dunkelhaarigen Burschen mit breiter Nase und einem löcherigen Bart zusammen. Rahn. Abgesehen von Sarn wohl der Mensch, den sie im Moment am allerwenigsten sehen wollte. Ihr Stolz reichte allerdings nicht so weit, dass sie die Hand ausschlug, die er ihr hinhielt, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Kaum allerdings stand sie wieder auf den Beinen (und hatte sich davon überzeugt, dass sie es auch tatsächlich aus eigener Kraft konnte), zog sie mit einem Ruck die Hand zurück und funkelte den Fischer an. »Es geht schon«, schnappte sie. Mit einer winzigen Verzögerung, aber deutlich widerwilliger fügte sie hinzu: »Danke.« Rahn reagierte ganz anders, als sie erwartet hätte. Der Blick, mit dem er sie maß, wirkte allenfalls belustigt, zu Arris Ärger aber auch ganz eindeutig ein wenig mitleidig. »Wo ist meine Mutter?«, fauchte sie. Als ob ausgerechnet Rahn das wüsste! Es war einfach das Erste, was ihr eingefallen war. »Wahrscheinlich ist sie damit beschäftigt, sich anzusehen, welches Unheil sie diesmal angerichtet hat«, antwortete eine Stimme, von der Arri erst nach einigen Augenblicken begriff, dass es nicht die Rahns war. Noch etliche Atemzüge mehr brauchte sie, um die nötige Kraft zusammenzukratzen, den Kopf zu drehen und in das faltige Gesicht des Besitzers dieser Stimme zu blicken. »Ich kann nur hoffen, dass sie nicht zu enttäuscht ist«, fuhr Sarn fort. »Immerhin ist es uns gelungen, das Allerschlimmste zu verhindern und wenigstens das Dorf zu retten.« Arri war sich nicht ganz sicher, ob sie über diese Worte wirklich

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nachdenken wollte, geschweige denn, sie verstehen. Ihr lag eine ganze Menge auf der Zunge, was sie dazu sagen konnte, aber sie war in diesem Moment - glücklicherweise - einfach zu benommen, um auch nur einen Ton herauszubringen. Sie starrte den Schamanen einfach nur an. Immerhin fiel ihr auf, dass Sarn kein bisschen anders aussah als sonst - ein dürrer, alter Mann, der ein ausgemergeltes und von Falten zerfurchtes Gesicht mit einem sorgfältig gestutzten Bart und bis auf die Schultern fallendes, strähniges graues Haar hatte und stets wie unter einer unsichtbaren Last nach vorn gebeugt dastand. Sein Wickelgewand und der buntfarbene Umhang waren schmutzig und an zahllosen Stellen geflickt, doch weder an seinen Kleidern noch auf seinem Gesicht oder seinen Händen war Ruß, und sein Gesicht glänzte auch nicht vor Schweiß, noch war er außer Atem und so vollkommen erschöpft wie alle anderen hier. Seine Beteiligung an den Löscharbeiten hatte sich offensichtlich auf reines Zusehen beschränkt. Arri hütete sich, eine entsprechende Bemerkung zu machen, doch allein der Blick, mit dem sie den Dorfältesten maß, schien verräterisch genug zu sein, denn sein Gesicht verdüsterte sich noch weiter, und in seinen vom Alter trüb gewordenen Augen blitzte es wütend auf. »Was starrst du mich so an, Hexenkind?«, zischte er. Arri schwieg noch immer beharrlich, aber sie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Rahn ein Stück von ihr zurückwich und hinter den Schamanen trat; als hätte er Angst, in etwas hineingezogen zu werden, mit dem er lieber nichts zu tun haben wollte. Für einen winzigen Moment wollte sich der verrückte Gedanke in Arris Kopf einnisten, dass er es auch tat, um den Alten im Zweifelsfall packen und von ihr wegzerren zu können, doch sie sagte sich zugleich selbst, wie närrisch diese Vorstellung war. Ganz egal, was ihre Mutter Rahn auch versprochen oder bereits gegeben hatte, der Fischer war viel zu feige, um in der Öffentlichkeit derart deutlich Stellung zu beziehen. »Wirst du gefälligst antworten, wenn ich mit dir rede?«, fuhr Sarn fort. Arris beharrliches Schweigen schien ihn immer wütender zu machen. Herausfordernd trat er auf sie zu und schwenkte den knorri-

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gen Stab, auf den er sich bisher gestützt hatte. Arri machte eine erschrockene und ganz unbewusst abwehrende Bewegung mit beiden Händen, die Sarn jedoch als Angriff auszulegen schien; vielleicht hatte er auch nur auf einen Vorwand gewartet. Bevor Arri ihre Bewegung auch nur halb zu Ende gebracht hatte, schwang er seinen Stock und schlug nach ihr. Der Hieb war lächerlich langsam und unbeholfen, und es bereitete ihr trotz aller Erschöpfung nicht die geringste Mühe, dem Schlag auszuweichen. Worauf sie nicht gefasst war, war Sarns zweiter Hieb, bei dem seine flache Hand so hart gegen ihre Schulter schlug, dass sie mit haltlos rudernden Armen rückwärts taumelte und dann ungeschickt auf das Hinterteil plumpste. Es tat so weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, was Sarn aber anscheinend nicht zu genügen schien. Noch immer seinen Stock schwenkend und lautstark zeternd, setzte er ihr nach, während Rahn sich ebenso unauffällig wie konsequent ein gutes Stück zurückzog. So viel zu ihrer Hoffnung, dass er tatsächlich in ihrer Nähe blieb, um das zu tun, wofür ihre Mutter ihn bezahlte, nämlich auf sie aufzupassen… »Du unverschämtes Balg!«, zeterte Sarn. »Du wagst es, die Hand gegen mich zu heben? Ich werde dir den Respekt beibringen, den deine Mutter dich offensichtlich nicht gelehrt hat!« Er schwang den Stock noch höher und jetzt mit beiden Armen, und Arri wusste, dass er diesmal treffen würde. Als Sarn zuschlug, blitzte es silberhell hinter ihm auf. Sein Stock fuhr nicht auf Arri herab, sondern flog in hohem Bogen davon und verschwand in der Dunkelheit, und Sarn selbst taumelte zwei Schritte zur Seite und wäre um ein Haar gestürzt, wäre Rahn nicht plötzlich wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm aufgetaucht, um ihn aufzufangen. »Was ist hier los?«, fragte Lea scharf. Sie hatte das Schwert wieder gesenkt, machte aber keine Anstalten, es vollends einzustecken, sondern funkelte Sarn und Rahn abwechselnd und auf eine Art an, als wäre nun sie es, die nur auf einen Vorwand wartete, um zuzuschlagen. »Musst du dich jetzt schon mit Kindern schlagen, Sarn?«, fragte sie aufgebracht. »Wenn du kämpfen willst, dann heb deinen Stock

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auf und greif mich an. Oder hast du Angst, von einer Frau besiegt zu werden?« Sie warf Arri einen raschen, aber aufmerksamen Blick zu - Alles in Ordnung? -, wandte sich dann wieder an den Schamanen und schob das Schwert in die breite Lederschlaufe an ihrem Gürtel. Die Härte in ihrem Blick nahm noch zu, als sie die Arme ausbreitete und in unverändertem Ton, aber hörbar lauter fortfuhr: »Nur zu, Sarn. Falls es mein Schwert ist, das du fürchtest - ich verspreche dir, dass ich es nicht ziehen werde. Nimm ruhig deinen Stock, wenn du Angst hast, gegen eine Frau zu kämpfen.« Arri stemmte sich umständlich in die Höhe. Ihre Knie zitterten noch immer, und ihr Herz jagte, als wolle es in ihrer Brust zerspringen. Sie war erleichtert, dass ihre Mutter ihr im letzten Moment zu Hilfe gekommen war - von Sarns Stock getroffen zu werden war nicht lustig. Der knorrige, halb mannslange Stab war schwer wie Stein und vermutlich ebenso hart. Ein Schlag damit hätte ihr glatt den Schädel zertrümmert - aber sie verstand nicht wirklich, was Lea jetzt tat. Niemand im Dorf mochte den Schamanen, aber er war ein alter Mann, der schon länger lebte als irgendein anderer aus ihrer Mitte, und sie selbst war die stärkste Frau, der Arri jemals begegnet war; vielleicht sogar der stärkste Mensch. Selbst Rahn fürchtete sie, auch wenn er das niemals zugeben würde. Lea gewann nichts, wenn sie diesen alten Mann einschüchterte. Ganz im Gegenteil. Wenn Sarn etwas vollkommen beherrschte, dann die Macht auszuspielen, die die Schwachen über die Starken hatten. Ihre Mutter musste das ebenso gut wissen wie sie. »Du wagst es, mich zu bedrohen?«, giftete der Schamane. »Aber was habe ich erwartet, von einer wie dir? Was du angerichtet hast, reicht dir ja anscheinend noch nicht.« Er riss seinen Arm los und bückte sich tatsächlich nach seinem Stock, allerdings nur, um sich schwer darauf zu stützen, und nicht, um damit auf Lea loszugehen. Er sprach auch nicht sofort weiter, sondern sah sich rasch nach allen Seiten um - vermutlich um sicherzugehen, dass er auch genügend Zuhörer hatte. »Seht ihr denn nicht, dass mit dieser Hexe das Unglück über uns al-

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le gekommen ist?«, rief er mit nicht einmal viel lauterer, aber mit einem Male durchdringender und weithin hörbarer Stimme. »Sie behauptet, es gut mit uns zu meinen! Sie sagt, dass sie Geschenke bringt, aber ihre Geschenke bringen den Tod: Das neue Metall, das sie uns versprochen hat, hat Achk das Augenlicht gekostet! Sie hat uns gelehrt, bessere Ernten zu erzielen, aber seither sind die Winter kälter geworden, und das Frühjahr kommt immer später! Sie hat uns gelehrt, mehr Wild zu jagen, doch seither sind die Wälder voller Ungeheuer und böser Geister, und sie hat gesagt, sie werde uns helfen, in Frieden mit unseren Nachbarn zu leben und besseren Handel zu treiben, und jetzt schleichen Fremde durch die Wälder, die unsere Jäger töten und vielleicht unser aller Untergang planen!« Er fuchtelte mit seinem Stock in die Richtung, in der die Glut der brennenden Schmiede allmählich zu verblassen begann. »Wir haben es nur der Gnade der Götter zu verdanken, dass das Feuer nicht auf das ganze Dorf übergegriffen hat! Wir alle hätten zugrunde gehen können!« Wenn diese Worte ihre Mutter irgendwie beeindruckten, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Lea strich mit den Fingerknöcheln über den Schwertgriff. »Ich frage mich, der Gnade welcher Götter wir es wohl zu verdanken haben, dass das Feuer überhaupt ausgebrochen ist«, sagte sie in fast heiterem Tonfall. Sie lächelte sogar, aber ihre Augen blieben dabei so kalt und hart wie Eis. Sarn ächzte. »Du wagst es, die Götter auch noch zu verhöhnen, Weib?« »Ich wage es, eine Frage zu stellen«, erwiderte Lea ruhig, schnitt dem Dorfältesten aber zugleich mit der linken Hand das Wort ab, noch bevor er überhaupt noch etwas sagen konnte. Ihre andere Hand ruhte weiter auf dem Schwergriff. »Und wenn du fertig damit bist, den Zorn der Götter auf mein Haupt herabzubeschwören, alter Mann, dann könntest du mir ja dabei helfen, die Verwundeten zu versorgen.« Sie drehte sich mit einem Ruck herum. »Arianrhod, komm mit! Wir haben eine Menge Arbeit.«

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12 »Glaubst du, dass das klug war?«, fragte Arri, nachdem sie sich wieder auf den Weg zu Achks ehemaliger Hütte gemacht hatten und kaum, dass sie auch nur halbwegs aus der Hörweite des Schamanen heraus waren. Obwohl ihre Mutter ganz genau wissen musste, wovon sie sprach, zögerte sie kurz und sah sie mit einem Verständnislosigkeit vorspiegelnden Stirnrunzeln an. »Was?« »Sarn so zu reizen«, antwortete Arri. »Die Götter zu beleidigen.« »Wie kann ich seine Götter beleidigen, wenn ich nicht an sie glaube?«, gab Lea mit einem Kopfschütteln zurück. Sie beschleunigte ihre Schritte ein wenig, sodass Arri rascher ausgreifen und fast rennen musste, um nicht zurückzufallen. »Und was Sarn angeht - ich glaube nicht, dass er meine Antwort überhaupt gehört hat. Er hat sich diese Rede schon seit langem sorgsam zurechtgelegt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, sie vor möglichst vielen Zuhörern loszuwerden.« Sie lachte ganz leise. »Glücklicherweise ist er nicht besonders gut in solchen Dingen. Niemand wird ihm glauben.« Was das anging, war Arri nicht annähernd so sicher, wie ihre Mutter es zu sein schien. Niemand hatte Sarn laut zugestimmt, und sie war noch viel zu erschrocken und aufgeregt gewesen, um außer in Rahns auch nur in ein einziges anderes Gesicht zu blicken, aber ihrer Mutter konnte so wenig wie ihr entgangen sein, wie sehr sich die Stimmung im Dorf in den letzten Tagen gegen sie gewandt hatte. Ihre Mutter mochte durchaus Recht haben - Sarn war gewiss kein begnadeter Redner. Aber die Menschen im Dorf waren einfache Menschen, bei denen einfache Worte besser ankamen und nachhaltiger wirkten als eine geschliffene Rede, wie sie Lea zu führen vermochte. Ihre Mutter musste das ebenso gut wissen wie sie; genau, wie sie besser als sie wissen musste, welchen schlimmen Fehler sie mit ihrem Auftritt gerade begangen hatte. Warum tat sie so, als wäre alles in Ordnung? Mittlerweile hatten sie sich dem Ort der Katastrophe genähert, und rings um sie herum waren zu viele neugierige Ohren, als dass Arri es

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wagte, weiter über dieses Thema zu sprechen. Sie nahm sich fest vor, es bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nachzuholen, auch wenn sie das sichere Gefühl hatte, dass ihre Mutter das wusste und ihr ganz gewiss so schnell keine solche Gelegenheit geben würde. Von der Hütte, in der Achk all die Jahre über gelebt und die Rahn vor wenigen Tagen erst wieder sorgsam aufgebaut hatte, war tatsächlich nichts mehr geblieben. Die Hitze und ein den Atem abschnürender Geruch nach verkohltem Holz und heißem Stein und Metall lagen noch immer in der Luft, und der beißende Qualm trieb Arri die Tränen in die Augen. Die Hand voll Bäume, die der Hütte am nächsten gestanden hatten, waren zu schwarzen Skeletten verbrannt und aller Blätter und dünneren Äste beraubt, und auch das Unterholz existierte nicht mehr. Was davon übrig war, lag als graue Ascheschicht auf dem Boden, die bei jedem unvorsichtigen Schritt aufwirbelte und sie zum Husten reizte. In weitem Umkreis waren die Bäume nahezu blattlos; was an den Ästen geblieben war, das hatte sich braun verfärbt und wirkte wie welk, als wäre auf diesem Flecken der Herbst zu früh und mit zu großer Macht gekommen. Und Achks Hütte selbst… … war einfach nicht mehr da. Obwohl Arri die ungeheure Kraft des Feuers am eigenen Leib gespürt hatte, blieb sie fassungslos stehen und starrte den schwarzen, zwanzig Schritte durchmessenden Kreis an, in dessen Zentrum die Hütte des Blinden gestanden hatte. Wände und Decke waren ebenso wie das Unterholz und die Blätter zu feiner, weißer Asche zerfallen, und selbst von Achks Werkzeug, das zu einem gut Teil aus Metall bestanden hatte, war kaum noch etwas geblieben. Ungefähr dort, wo sich sein Schmelzofen befunden haben musste, ragte ein unförmiger Klumpen aus der Asche, ein Stück daneben einige kleinere, ungewöhnlich geformte Gebilde, bei denen es sich vielleicht um Zinnund Kupfererz gehandelt hatte, die Achk und Kron benötigt hatten, um Bronze daraus zu schmelzen, aber wenn, so mussten sie in der ungeheuren Hitze des Feuers nicht nur geschmolzen sein, sondern auch ihre Farbe verändert haben, denn Arri erkannte sie nicht. »Wo sind Kron und Achk?«, flüsterte sie erschrocken. Gleichzeitig

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sah sie sich hastig um. Etliche Männer und Frauen - viele von ihnen verletzt, wie sie erschrocken feststellte, und alle ausnahmslos zu Tode erschöpft, wie es schien - hatten sich da, wo sie gerade standen, zu Boden sinken lassen, wobei sie einen respektvollen Abstand zu dem geschwärzten Kreis auf der Erde einhielten, fast als fürchteten sie, das Feuer noch einmal heraufzubeschwören, das sie gerade mit so viel Mühe und so knapp besiegt hatten. Kron und der Blinde waren nicht unter ihnen. »Hat die Reihenfolge, in der du nach ihnen fragst, irgendetwas zu bedeuten?«, erkundigte sich ihre Mutter lächelnd, wurde aber sofort wieder ernst. »Mach dir keine Sorgen. Es geht ihnen gut. Abgesehen von ein paar Brandblasen und Schrammen ist ihnen nichts geschehen.« Sie machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite des verkohlten Kreises hin, wo das Feuer nicht nur Achks Hütte und einen Teil des Waldes verschlungen, sondern auch den Trampelpfad ausgelöscht hatte, der hinunter zu ihrer eigenen Hütte führte. Zuvor hatte das Astwerk die freie Sicht auf den Steinkreis verborgen, auf dessen ferne, aber deutlich sichtbare Ecksteine Arri jetzt mit Unbehagen starrte. »Ich habe sie zu uns nach Hause geschickt«, drang die Stimme ihrer Mutter in Arris aufgewühlte Gedanken. »Du kannst nach ihnen sehen, wenn du willst - und bring Verbandszeug und Salbe auf dem Rückweg mit. Ich fürchte, ich werde heute Nacht eine ganze Menge davon brauchen.« Arri nickte hastig, riss sich von dem Anblick der steinernen Riesen los, die den Eingang des Heiligtums mit sturer Gleichmut zu bewachen schienen, und lief los. Obwohl sie sich selbst gerade noch in Gedanken darüber lustig gemacht hatte, ertappte sie sich nun dabei, einen großen Bogen um den Kreis aus schwarz verbrannter Erde zu machen. Der Boden war noch immer so heiß, dass es wehtat, auf nackten Füßen darüber zu gehen. Arri beschleunigte ihre Schritte, und der scharfe Geruch wurde für einen Moment so durchdringend, dass sie den Atem anhielt und sich ihre Augen aufs Neue mit Tränen füllten und selbst dann noch brannten, als sie sie weggewischt hatte. Ein dürrer, schwarz verbrannter Ast, der vorher noch nicht hier gewesen war, hätte um ein Haar ihr Gesicht getroffen. Als Arri die

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Hand hob, um ihn beiseite zu drücken, zerfiel er unter ihrer Berührung zu Asche. Als sie aus dem Wald gekommen waren, hatte ihre Hütte dunkel dagelegen. Doch als sie jetzt mit ihren hastig aufgeklaubten Sandalen in der Hand wieder auf sie zuhielt, drang der ruhig brennende Schein einer Öllampe durch die Ritzen der Läden, und noch bevor sie die Stiege hinauflief, konnte sie die Stimmen von Kron und dem blinden Schmied hören, die sich gedämpft, aber aufgeregt unterhielten. Als sie die Hütte betrat, erlebte sie eine Überraschung, auch wenn sie nicht behaupten konnte, dass sie angenehm war. Nicht nur Achk und der einarmige Jäger erwarteten sie, sondern auch Rahn, der als Einziger stand und mit vor der Brust verschränkten Armen und einem so dümmlichen Grinsen auf dem Gesicht in ihre Richtung sah, dass Arri gar nicht nachfragen musste, um zu wissen, dass er sie erwartet und durch eines der Gucklöcher hindurch beobachtet hatte. Welches Spiel spielte der Fischer mit ihnen? Das letzte Mal hatte sie ihn bei Sarn gesehen, und das war noch nicht lange her. Ihre Mutter mochte ja vielleicht Kron und Achk hierher geschickt haben, aber hätte sie auch nur ein einziges Wort mit dem Fischer gewechselt, wäre das Arri nicht entgangen. »Wer ist das?«, fragte Achk, als er ihre Schritte und das Klimpern des Muschelvorhangs hörte. »Ich bin es nur… Arri.« Um ein Haar hätte sie Arianrhod gesagt, im allerletzten Moment aber brachte sie es nicht über die Lippen. Vermutlich war der Gedanke einfach nur kindisch, doch Arianrhod war noch zu neu und zu kostbar für sie, um es mit allen zu teilen. Schon gar nicht mit Rahn. »Ich soll nach euch sehen und mich davon überzeugen, dass euch auch wirklich nichts fehlt. Und meiner Mutter ein paar Dinge bringen, die sie benötigt, um die Verletzten zu versorgen.« »Was soll mir schon fehlen, du dummes Kind«, krähte Achk. »Außer meinem Haus, meinem Werkzeug und allem, was ich besessen habe?« Arri setzte zu einer scharfen Antwort an - sie hätte nichts anderes

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von Achk erwarten dürfen, und doch ärgerte sie seine Undankbarkeit über die Maßen -, aber dann fing sie einen warnenden Blick aus Krons Augen auf und beließ es bei einem Schulterzucken und einer abfälligen Grimasse, die der Blinde nicht sehen konnte. »Dann gehe ich jetzt zurück und bringe meiner Mutter das Verbandszeug und die Salben, um die sie mich gebeten hat.« »Such die Sachen nur heraus«, sagte Rahn. »Ich bringe sie ihr.« Arri maß ihn mit einem gleichermaßen verstörten wie verächtlichen Blick. »Du?« »Ich glaube, es ist besser, wenn du für den Rest der Nacht hier bleibst«, sagte Rahn ungerührt. »Und davon abgesehen ist es auch der Wunsch deiner Mutter.« »Ach?«, machte Arri schnippisch. »Und woher willst ausgerechnet du das wissen?« »Weil es meine Aufgabe ist, auf dich aufzupassen«, antwortete Rahn, noch immer lächelnd und scheinbar vollkommen ungerührt von Arris bewusst herausforderndem, fast schon beleidigenden Ton. Was sie umso mehr ärgerte. »Das ist deine Aufgabe?«, vergewisserte sie sich, wartete, bis Rahn wichtigtuerisch genickt hatte, und fragte dann mit einem übertriebenen Stirnrunzeln: »Seltsam. Vorhin, als Sarn mit seinem Knüppel auf mich losgegangen ist, hatte ich nicht das Gefühl, dass du auf mich aufgepasst hast.« »Dir ist doch nichts passiert, oder?«, gab der Fischer gelassen zurück. Aber der überhebliche Ausdruck in seinen Augen erlosch, und er nahm die Arme herunter. »Such die Sachen heraus, nach denen deine Mutter verlangt, damit ich endlich gehen kann.« Die letzten Worte hatte er in merklich kühlerem Ton gesprochen, der allein Arri verriet, dass ihn diese Bemerkung nicht annähernd so unberührt ließ, wie er vorgab. Arri lächelte ihm noch einmal zuckersüß zu, dann schob sie sich an ihm vorbei und trat in den kleinen Raum, in dem ihre Mutter all ihre Utensilien verwahrte. Sie wusste selbst nicht genau, was von all den Salben, Kräutern, Tinkturen und Blättern ihre Mutter in diesem Augenblick benötigte. Lea hatte ihr das eine oder andere über die Heilkunst und vor allem die verborge-

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nen Kräfte der Natur und wie man sie am besten einsetzte beigebracht, aber längst nicht alles, und spätestens seit dem schrecklichen Schicksal, das Achk im letzten Sommer widerfahren war, wusste sie, dass Brandwunden nicht nur zu den schmerzhaftesten, sondern auch zu den gefährlichsten Verletzungen gehörten, die Menschen davontragen konnten. Sie sahen - zumindest am Anfang - nicht so schlimm aus wie Schnittwunden, ein offen gebrochener Arm, ein gequetschter Finger oder ein ausgestochenes Auge, doch in fast allen Fällen, die Arri miterlebt hatte, heilten sie nur sehr langsam und begannen oftmals zu schwären und mit ihrem Gift den Körper des Verletzten zu verseuchen. Dass Achk die schreckliche Verbrennung überlebt hatte, die nicht nur sein Augenlicht ausgelöscht, sondern sein ganzes Gesicht verheert hatte, war ein mehr als nur kleines Wunder. So suchte sie nahezu alles heraus, von dem sie auch nur annahm, dass es ihrer Mutter von Nutzen sein konnte, häufte es in eine grob geschnitzte hölzerne Schale und trug sie wieder hinaus, um sie Rahn in die Hände zu drücken. »Bring das meiner Mutter«, sagte sie barsch. »Und frag sie, ob sie meine Hilfe nicht doch benötigt. Ich werde sie später fragen, was sie geantwortet hat.« Rahn griff sich die Schale und verließ zu Arris Überraschung ohne ein weiteres Wort das Haus, doch als sie sich wieder zu Kron und dem Blinden umdrehte, begegnete sie dem tadelnden Blick des Jägers. »Warum bist du so zu ihm, du dummes Kind?«, fragte Kron. »Ich bin kein Kind mehr«, antwortete Arianrhod, zog die Augenbrauen zusammen und fügte hinzu: »Was meinst du damit - so?« »So abweisend«, antwortete Kron. »Weißt du denn nicht, dass er schon lange ein Auge auf dich geworfen hat?« Das ist ja gerade das Problem, dachte Arri. Sie behielt diese Worte vorsichtshalber für sich, doch Kron fuhr fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen (wahrscheinlich war es in diesem Augenblick nicht besonders schwer, sie auf ihrem Gesicht zu erkennen): »Rahn ist ein guter Mann. Ein starker Mann. Eine wie du sollte froh sein, einen Burschen wie Rahn zu bekommen.« Er maß sie mit einem durch-

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dringenden, eindeutig anzüglichen Blick. »Du bist wahrlich alt genug, um endlich einem Mann versprochen zu werden. Hüte also deine Zunge und danke den Göttern lieber dafür, dass einem wie Rahn an einem so hässlichen dürren Ding wie dir gelegen ist.« Arri würde den Göttern frühestens an dem Tag danken, an dem ihre Mutter sie mit der Neuigkeit weckte, dass Rahn in der Zella ertrunken oder von einem wütenden Eber aufgeschlitzt worden sei, aber sie behielt auch das für sich und antwortete nur mit einem Schulterzucken. Das Thema behagte ihr ganz und gar nicht, zumal sie nicht wusste, was Kron von Nors Forderung wusste. Vielleicht einzig, um davon abzulenken, trat sie dichter an Achk heran, der sich gleich neben der Tür mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt hatte und mit unstet hin und her huschenden, blinden Augen die Richtung zu bestimmen versuchte, aus der ihre Stimme und das Geräusch ihrer Schritte kamen. Sie musterte ihn aufmerksam und fragte dann: »Bist du verletzt?« »Nein«, sagte Achk grob, was eindeutig gelogen war. Sein verheertes Gesicht, das aus nahezu nichts anderem als verschorften Narben und hässlichen Geschwüren bestand, machte es schwer, wirklich darin zu lesen, doch Arri glaubte dennoch, eine ganze Anzahl neuer, wenn auch größtenteils harmloser Wunden zu erkennen. Und was für sein Gesicht galt, galt in noch größerem Maße für seine Hände. Seine Finger waren schon vor Arris Geburt schwarz verkohlt und über und über vernarbt gewesen, doch bei genauerem Hinsehen entdeckte sie auch darauf eine ganze Anzahl kleiner, nässender roter Punkte. Er musste Schmerzen haben. Aber wenn er es vorzog, ihre Hilfe abzulehnen, so war das seine Sache. Mit einem fragenden Blick wandte sie sich zu Kron um. »Und du?« Kron hatte entweder größere Schmerzen als der Schmied, oder er war einfach vernünftiger. Er sagte nichts, hielt Arri aber die rechte Hand hin, auf der etliche große, hässliche Brandblasen schimmerten. Weitere, wenn auch nicht ganz so schlimm aussehende nässende Wunden und Kratzer bedeckten seine Arme, den nackten Oberkörper und Rücken, und auch sein Armstumpf hatte offensichtlich wieder zu bluten begonnen, was Arri gar nicht gefiel. Ohne ein weiteres Wort

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trat sie abermals in die Kammer und kam nach wenigen Augenblicken mit einer Hand voll frischer Blätter und einem kleinen, irdenen Gefäß mit einer Salbe zurück, von der sie wusste, dass sie eine kühlende und auch leicht betäubende Wirkung entfaltete, wenn man sie auf eine Wunde auftrug. In ihrem Kopf war eine ganz leise, aber penetrante Stimme, die sie daran zu erinnern versuchte, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, welche Wirkung diese Salbe sonst noch haben mochte, und durchaus die Gefahr bestand, dass sie alles schlimmer machte statt besser, aber sie schob sie beiseite. Wortlos stellte sie das mitgebrachte Gefäß vor Kron auf den Boden, verließ die Hütte und kam wenige Augenblicke später mit einem Krug voll frischen Wassers zurück, den sie allerdings nur halb gefüllt hatte, um nicht so schwer tragen zu müssen. Kron sah sie zweifelnd an, streckte aber gehorsam die Hand aus, als sie ihn mit einer entsprechenden Kopfbewegung dazu aufforderte, und Arri versorgte seine Wunden, so gut sie es konnte. Sie war nicht sicher, ob es auch wirklich gut war. Kron war ein starker Mann, dem so leicht kein Schmerzenslaut über die Lippen kam, und dennoch sog er ein paar Mal scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, und obwohl er nichts sagte, wurden die Blicke, mit denen er sie maß, immer zorniger. Dennoch ließ er ihre Behandlung nahezu klaglos über sich ergehen und bedankte sich sogar mit einem angedeuteten Nicken, als Arri endlich fertig war, und sie das Tuch, mit dem sie seine Wunden ausgewaschen hatte, in dem Gefäß mit dem mittlerweile schmutzig gewordenen Wasser auswrang. »Du bist ein gelehriges Kind, wie?«, fragte er. »Hat dir deine Mutter das beigebracht?« Arri legte das Tuch beiseite und setzte dazu an, ihre Finger in der Schale zu waschen, besann sich dann aber eines Besseren, als sie sich das Wasser noch einmal genauer ansah. Es schillerte nicht nur in einem hässlichen, von gelben Streifen durchzogenen Braunrot, es roch mittlerweile auch wie eine eiternde Wunde. Statt die Finger hineinzutauchen, wischte sie sie kurzerhand an ihrem Rock trocken, etwas, das ihre Mutter auf den Tod nicht ausstehen konnte, das ihren

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Rock nach dieser Nacht aber auch nicht mehr schmutziger machte. Erst mit einiger Verspätung antwortete sie auf Krons Frage. »Es bleibt nicht aus, das man das eine oder andere mitbekommt, wenn man so viele Verwundete und Kranke sieht.« »Und wenn man das Kind einer Hexe ist«, fügte Achk von seinem Platz neben der Tür aus hinzu. Arri beachtete ihn nicht. Das war das Einzige, was sie im Augenblick tun konnte. Jede Antwort, die sie hätte geben können, hätte es nur noch schlimmer gemacht. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sie hergeschickt hatte, um sie zu bestrafen, und wenn ja, wofür. »Was ist geschehen?«, fragte sie, an Kron gewandt. Seine Antwort bestand jedoch nur aus einem Schulterzucken und einem kritischmissbilligenden Blick, mit dem er den Verband maß, den sie mit deutlich mehr gutem Willen als wirklichem Geschick an seiner Hand angelegt hatte. Vielleicht war er ja nötig, damit sich seine Wunden nicht entzündeten und er die andere Hand nicht womöglich auch noch einbüßte, doch im Moment war seine Wirkung genau so, als wäre eben das bereits geschehen. Sie hatte Krons Hand zu einer unbeholfenen Faust zusammengebunden, aus der nur sein Daumen herausragte. »Das weiß ich nicht«, antwortete der Jäger. »Die Schreie und der Lärm haben mich geweckt. Als ich aus der Hütte gelaufen bin, habe ich die Flammen schon gesehen.« Er bedachte Achk mit einem bezeichnenden Blick, zog aber zugleich auch eine Grimasse, wie um Arri auf diese Weise klarzumachen, dass sie keine Antwort von ihm bekommen würde, zumindest keine, mit der sie etwas anfangen konnte. Sie versuchte es trotzdem. »Was ist passiert, Achk? Wieso ist das Feuer ausgebrochen, mitten in der Nacht?« »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Achk in feindseligem Ton. »Es hat angefangen zu brennen, mehr kann ich nicht sagen. Die Hitze hat mich geweckt, und ich hatte Glück, überhaupt noch aus der Hütte zu kommen. Hätte ich nicht die Stimme des Feuers gehört, so wäre ich im Schlaf verbrannt.« »Die Stimme des Feuers?«, fragte Arri. »Was soll das sein?«

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Achk schnaubte abfällig. »Man arbeitet nicht ein Leben lang mit dem Feuer, ohne seine Stimme zu kennen und seine Sprache zu verstehen«, stieß er hervor. »Ich habe es gehört. Etwas hat gebrannt.« Arri tauschte einen fragenden Blick mit Kron, auf den sie jedoch nur ein abermaliges einseitiges Schulterzucken zur Antwort bekam, und fuhr dann fort: »Dein Brennofen? Habt ihr das Feuer nicht richtig gelöscht?« »Was fällt dir ein, du unverschämtes Balg?«, erwiderte Achk aufgebracht. »Das Feuer war aus! Ich habe noch nie vergessen, es zu löschen!« Arri warf abermals einen fragenden Blick in Krons Gesicht, und diesmal nickte er wortlos. »Vielleicht hat ja dieser Tölpel etwas falsch gemacht«, fuhr Achk mit keifender Stimme und heftig in Krons ungefähre Richtung gestikulierend fort. »Ich habe ihm gesagt, dass keine Glut mehr im Ofen sein darf. Dass er mit den Händen in die Asche greifen muss, um sich davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich kalt ist!« »Das hast du sogar selbst getan«, erwiderte Kron. »Das Feuer war aus!«, beharrte Achk. »Es hat gebrannt, aber es war nicht meine Schuld.« »Aber irgendetwas muss passiert sein«, beharrte Arri. »Es hat kein Gewitter gegeben in dieser Nacht.« »Und wenn, hätte der Blitz nicht meine Hütte getroffen«, fügte Achk hinzu. Er kicherte albern. »Ich kenne mich mit Gewittern aus. Auch wenn es das Feuer der Götter ist, so bleibt es doch Feuer, und das Feuer ist mein Freund.« Er lachte noch einmal, länger und schrill und meckernd, und ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel und tropfte an seinem Kinn hinab. Arri verzog angeekelt das Gesicht. »Meine Hütte steht nicht von ungefähr in der Nähe des Heiligtums«, fuhr er fort. »Ein Blitz kann sie dort gar nicht treffen.« »Was für ein Unsinn«, grollte Kron kopfschüttelnd, erreichte damit aber nur, dass Achk noch schriller zu keifen begann. »Was weißt denn du schon, du grober Tölpel!«, zeterte der Alte. »Du bist vielleicht stark, aber das ist jeder Ochse auch! Und was hat

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dir deine Kraft genutzt? Sieh dich doch an!« »Immerhin kann ich mich noch ansehen«, versetzte der Jäger böse, und so ging es weiter. Arri hörte schon bald nicht mehr hin. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sich die beiden nahezu ununterbrochen stritten, aber sie hatte diesen Worten kaum Beachtung geschenkt und es sich allenfalls komisch vorgestellt; zwei Männer, die sich unentwegt in den Haaren lagen und einander doch brauchten, auch wenn sie viel zu stolz waren, es zuzugeben. Aber es war nicht komisch. Kron und Achk waren einfach zwei zänkische Männer, die nur auf ein Stichwort warteten, um den anderen zu beschimpfen oder zu verhöhnen. Irgendwann gab sie es nicht nur auf zuzuhören, sondern die beiden überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie hatte Krons Wunden versorgt, so gut sie konnte, und auch noch einmal versucht, sich um Achk zu kümmern. Der Alte hatte es ihr gedankt, indem er nach ihr geschlagen und sich dann ausgerechnet auf die neue Grasmatratze gebettet hatte, die sie in mühevoller Kleinarbeit geknüpft hatte, woraufhin sich Arri schmollend auf ihre eigene - alte und mittlerweile schon halb zerfledderte - Matratze zurückzog und ihm insgeheim möglichst große Schmerzen wünschte. Sie musste wohl trotz allem eingeschlafen sein, denn das Nächste, was sie bewusst wahrnahm, waren das Klimpern des Vorhangs und ein schlanker Umriss, der sich gegen das klare Licht der Morgensonne abzeichnete, die dahinter schien. Obwohl sie nur einen Schatten erkennen konnte und sich noch benommen und schlaftrunken fühlte, wusste sie, dass es ihre Mutter war. Sie roch nach Qualm. Unsicher richtete sie sich auf ihrem Lager auf und versuchte, den Schlaf wegzublinzeln, machte es im ersten Moment aber eher schlimmer. Der Schatten vor ihr bekam kein Gesicht, floss dafür aber auseinander und verbog sich auf groteske Weise. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Lea. Ihre Stimme klang müde und so brüchig wie die einer alten Frau. Arri antwortete nicht, weil sie wusste, dass ihre Mutter ohnedies nicht hinhören würde. Müde und mit hängenden Schultern schleppte sich Lea zu ihrem Lager und hätte sich beinahe darauf niedersinken lassen, fuhr jedoch im letzten Moment wieder hoch, als sie sah, dass es nicht leer war.

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Achk lag wie ein gefällter Baum auf der neuen Matratze, die Arri geflochten hatte und schnarchte laut und mit offenem Mund. Von Kron war nichts mehr zu sehen. Er musste gegangen sein, während Arri geschlafen hatte. »Wunderbar, wie du aufpasst«, seufzte ihre Mutter. Einen Moment lang sah sie sich unschlüssig um und wirkte fast hilflos, dann schleppte sie sich zu ihrem Korbstuhl und ließ sich mit einem abermaligen, noch erschöpfter klingenden Seufzen darauf nieder, das sich mit dem Knarren des stark strapazierten Weidengeflechts zu einem gleichermaßen vertrauten wie unangenehmen Geräusch verband. Sie schloss die Augen, kaum dass ihr Hinterkopf die geflochtene Lehne berührt hatte, und Arri war ziemlich sicher, dass sie auf der Stelle eingeschlafen wäre. Aber sie zwang ihre Lider, sich noch einmal zu heben, und sah zuerst den schlafenden Schmied und dann ihre Tochter aus rot geränderten Augen an. »Verzeih«, sagte sie matt. »Das war ungerecht.« Arri setzte sich weiter auf und antwortete auch darauf nur mit einem stummen Achselzucken. Ihre Mutter hatte Recht - sie war ungerecht gewesen, aber das war Arri gewohnt und nahm es kaum noch zur Kenntnis. So war sie eben. »War es… schlimm?«, fragte sie mitfühlend. »Nein«, antwortete Lea. »Aber anstrengend. Wir haben Glück gehabt, trotz allem. Niemand wurde wirklich schwer verletzt, aber es ist kaum einer ohne Brandblasen, wunde Hände oder versengte Haare davongekommen.« Sie lachte, doch es war ein Laut, dem jeglicher Humor fehlte. »Immerhin brauchen wir uns bis zum ersten Schnee keine Sorgen um unser Essen zu machen. Seit heute Nacht steht das ganze Dorf noch tiefer in meiner Schuld.« »Außer Sarn«, vermutete Arri. Die Bemerkung tat ihr schon Leid, bevor sie sie ausgesprochen hatte, denn das Gesicht ihrer Mutter verdüsterte sich so sehr, dass sie es trotz der dicken Schicht aus eingetrocknetem Ruß, Schweiß und Schmutz auf ihrer Haut erkennen konnte. »Ja«, antwortete Lea. Ein bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen und verschwand wieder. »Er hat sich die Finger nur schmutzig ge-

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macht, als er sich nach seinem Stock gebückt hat.« Sie zögerte einen Herzschlag lang und fuhr dann mit leiserer Stimme fort: »Und vielleicht vorher, als er die Hütte angezündet hat.« Achk grunzte im Schlaf und drehte sich lautstark schmatzend auf der Matratze herum, wie um darauf zu antworten. Arri sah erschrocken in seine Richtung, aber der Alte schnarchte bereits weiter. Wenn er die Worte gehört hatte, dann verstellte er sich meisterhaft. »Du meinst…«, begann sie ungläubig. Ihre Mutter richtete sich ein wenig auf dem Korbstuhl auf, straffte die Schultern und legte den Kopf in den Nacken, um ihn ein paar Mal hin und her zu bewegen und ihre verkrampften Muskeln zu entspannen. Dann stand sie auf, zog das Schwert unter dem Umhang hervor und befestigte es sorgfältig wieder an seinem Platz an der Wand. Ohne sich zu Arri umzudrehen, sagte sie: »Wer soll es sonst gewesen sein?« »Aber warum sollte er das tun?«, erwiderte Arri verstört. Plötzlich verstand sie die Worte ihrer Mutter von vorhin, als sie sich mit dem Schamanen gestritten hatte, besser - und auch Sarns zornigerschrockene Reaktion darauf. »Weil er nicht will, dass wir tatsächlich Erfolg haben könnten«, antwortete sie. »Aber das Dorf braucht einen Schmied«, widersprach Arri. »Und es wird ihn auch bekommen«, seufzte Lea, ließ sich schwer in den Korbstuhl zurücksinken und bettete den Hinterkopf an die zerschlissenen Lehne. Sie schloss die Augen, sprach aber weiter. »Rahn hat ein Gespräch zwischen ihnen und dem Hohepriester von Goseg belauscht, als Nor das letzte Mal hier war. Goseg wird einen neuen Schmied herschicken, im nächsten Sommer.« Sie lachte wieder dieses leise, vollkommen freudlose Lachen. »Natürlich muss das Dorf danach noch mehr Tribut an Nor und seine Bande von Halsabschneidern bezahlen, aber du hast vollkommen Recht - wir brauchen einen Schmied.« »Warum sollte er so etwas tun?«, fragte Arri noch einmal - obwohl sie sich zugleich in Gedanken selbst fragte, warum sie diese Frage überhaupt stellte. Sie wusste ja, dass ihre Mutter Recht hatte. »Ich

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meine: Er ist der Älteste. Das Feuer hätte das ganze Dorf vernichten können! Er würde nichts tun, was den Menschen hier schadet!« »Sarn«, antwortete ihre Mutter betont, »würde vor allem nichts zulassen, was ihm schadet.« »Und du weißt, dass er es war?«, vergewisserte sich Arri. »Oder vermutest du es nur?« »Jedermann weiß es«, antwortete Lea müde. »Und ich habe es gesehen«, fügte eine Stimme von der Tür aus hinzu. Arri fuhr erschrocken um und erblickte Rahn, der gebückt unter dem Türrahmen hindurchtrat und Grimassen schneidend ein Gähnen unterdrückte. »Du hast ihn gesehen?«, vergewisserte sich Arri. Rahn schlurfte mit hängenden Schultern durch den Raum und bedachte Arri mit einem Blick, als wäre er nicht ganz sicher, ob sie einer Antwort überhaupt wert war. Er gähnte erneut und lehnte sich neben Lea an die Wand, bevor er antwortete. »Nicht direkt«, räumte er ein. »Aber er kam mir aus der Richtung der Hütte entgegen, ganz kurz, bevor das Feuer ausbrach, und er war nicht erfreut, mich zu sehen - oder von mir gesehen zu werden.« Er zuckte mit den Achseln, beugte sich ein Stück vor und versuchte, Lea den Arm um die Schultern zu legen. »Da fragt man sich doch, was er mitten in der Nacht dort gewollt hat.« Oder was du mitten in der Nacht dort gesucht hast, dachte Arri, hütete sich aber, diesen Gedanken laut auszusprechen, sondern sah nur mit mühsam unterdrückter Schadenfreude zu, wie ihre Mutter Rahns Arm so heftig von sich stieß, dass er beinahe erschrocken zur Seite gewichen wäre. »Wenn das wahr ist, dann müsst ihr es allen sagen«, sagte sie. »Es weiß ohnehin jeder«, sagte Lea kopfschüttelnd. »Niemand würde uns zuhören. Und selbst wenn er es ganz offen eingestünde, würde alles dadurch nur noch schlimmer.« Sie verzog die Lippen, als Rahn Anstalten machte, sich auf der Lehne des Korbstuhls niederzulassen, was diesen zweifelsohne knirschend hätte zusammenbrechen lassen, und fuhr mit plötzlich trotzig klingender Stimme fort: »Wir werden einfach noch einmal von vorn

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anfangen und allen beweisen, dass wir ihn und Nor nicht brauchen.« »Von vorn anfangen? Du bist verrückt, Weib.« Achk richtete sich schwankend auf, wischte sich mit dem Handrücken den Sabber aus dem Gesicht und spie aus. »Und womit? Es ist alles weg. Mein Werkzeug, die Gussformen, der Blasebalg, das Erz, alles, was ich zum Schmieden brauche… es ist nichts mehr da. Ich habe ja nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf.« »Rahn wird deine Hütte wieder aufbauen, und was das Erz und dein Bronzewerkzeug angeht: verbrannt ist es mit Sicherheit nicht, höchstens gestohlen.« Lea zeigte nicht das leiseste Anzeichen von Überraschung, Achk durch und durch wach zu sehen, sondern begnügte sich damit, Rahn von sich zu schieben, bevor er mit seinem vollen Körpergewicht dem bereits heftig knirschenden und sich zur Seite neigenden Korbstuhl den Rest geben konnte. »Bis deine Hütte wieder hergerichtet ist, kannst du bei uns bleiben«, sagte sie mit einem ärgerlichen Blick in Rahns Richtung. »Und was dein Werkzeug und alles andere angeht, so werde ich für Ersatz sorgen.« »Ach, und wie?«, fragte Achk höhnisch. »Lass das einfach nur meine Sorge sein«, antwortete Lea abweisend. Dann grinste sie plötzlich schief, während sie zu dem Fischer hochsah, der mittlerweile seinen Annäherungsversuch aufgegeben hatte und wieder an der Wand lehnte. »Rahn wird deine Hütte größer aufbauen, und vor allem an einem anderen Ort. Und er wird bei dir wohnen, zumindest so lange, bis ihr mit eurer Arbeit fertig seid und selbst Sarn zugeben muss, dass ich Recht habe.« »Solange es nicht so endet wie das letzte Mal«, fügte Rahn in boshaftem Ton hinzu und funkelte Lea wütend an. Achk verzog das Gesicht - was es aber auch nicht hässlicher machte -, während etwas in Leas Augen zu erlöschen schien, von dem Arri bisher gar nicht gewusst hatte, dass es da gewesen war. Rahn verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen. »Es tut mir Leid«, sagte er, nachdem Leas Gesichtsausdruck sich nicht änderte, und schließlich fügte er noch hinzu: »Ich wollte damit nicht sagen, dass du an dem Brand schuld bist.« »Aber du hast ja Recht«, antwortete Lea kühl. »Es war meine

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Schuld. Ich habe es nie bestritten, oder?« »Was war deine Schuld?«, fragte Arri. Ihr Blick irrte zwischen den Gesichtern Rahns, des Blinden und ihrer Mutter hin und her, aber sie bekam keine Antwort. Vielleicht nahmen die drei sie in diesem Augenblick nicht einmal zur Kenntnis. Ganz sicher hatten sie ihre Frage nicht gehört. Ein unangenehmes, lastendes Schweigen breitete sich in der für ein solches Gespräch viel zu kleinen Hütte aus, und Arri begriff zumindest eines: dass Rahn mit seinen unbedachten Worten etwas ausgesprochen hatte, was - außer ihr - jedermann zu wissen schien, was aber nach einer nie laut getroffenen Absprache für immer unausgesprochen bleiben sollte. » Was war deine Schuld?«, fragte sie noch einmal. Im allerersten Moment war sie sicher, auch jetzt wieder keine Antwort zu bekommen, denn in den Augen ihrer Mutter blitzte schon wieder der ungeduldige Zorn auf, den Arri immer dann darin las, wenn sie sie auf etwas ansprach, das ihr unangenehm war, oder ihr eine Frage stellte, die sie nicht beantworten wollte, und dem nur zu oft ein jäher Wutausbruch folgte. Diesmal jedoch nicht. »Achk«, sagte sie. »Was ihm zugestoßen ist, war meine Schuld. Seine Augen. Ich bin schuld, dass er seine Augen verloren hat. Und alles andere auch.« Arri sah den blinden Schmied gleichermaßen überrascht wie ungläubig an. Sie hatte niemals wirklich erfahren, was Achk zugestoßen war, eben nur, dass es ein schreckliches Unglück gewesen war, bei dem sich Achk nicht nur schlimme Verbrennungen im Gesicht zugezogen, sondern auch beide Augen (und nach Arris Meinung auch einen gut Teil seines Verstandes) verloren hatte. Sicher, es hatte Gerede gegeben, das auch ihr zu Ohren gekommen war, aber sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Wozu auch? Es gab ständig dummes Gerede. Was immer im Dorf geschehen mochte, wenn es nur schlimm genug war, wurde es unweigerlich ihrer Mutter angelastet, und sei es etwas so ganz Natürliches wie ein Herbststurm oder aber ein heftiges Gewitter. Aber jetzt fragte sie sich, ob es in diesem Fall vielleicht doch mehr

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als das ganz gewöhnliche Gerede gewesen war. Zu ihrem Erstaunen war es ausgerechnet Achk, der ihrer Mutter widersprach. »Du redest wirres Zeug, Weib«, sagte er barsch. »Es war nicht deine Schuld. Ich habe nicht richtig zugehört. Du hast mir gesagt, dass ich vorsichtig sein muss und nichts überstürzen soll. Ich war zu ungeduldig, und ich wollte dir zeigen, dass ich es besser weiß als du. Es war mein Stolz, der das Unglück ausgelöst hat, und nicht deine Schuld.« »War es doch«, widersprach Lea. Bei dem doch ließ sie die Handfläche wuchtig auf die Lehne des Korbstuhls klatschen, auf der sich Rahn gerade noch hatte niederlassen wollen, aber ihre Stimme war so kraftlos und brüchig, dass sich die beabsichtigte bekräftigende Wirkung eher ins Gegenteil verkehrte. »Was ist geschehen?«, fragte Arri ein weiteres Mal. »Ihr müsst es mir sagen.« »Was wir müssen, entscheide immer noch ich, mein Kind«, antwortete Lea, zwar in strengem Ton, aber noch immer mit der gleichen brüchigen Stimme, die ihren Worten jede Schärfe nahm. Müde ließ sie sich auf ihrem Stuhl nach vorn sinken, stützte die Ellbogen auf den Knien auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Aber vielleicht hast du Recht«, fuhr sie fort. »Ich hätte es dir schon längst erzählen sollen, bevor dir irgendetwas von dem Unsinn zu Ohren kommt, den Sarn herumerzählt.« Sie nahm die Hände herunter, sah Arri nachdenklich ins Gesicht und sagte dann: »Oh. Du hast es offensichtlich schon gehört.« »Du hast es ja gerade selbst gesagt«, erwiderte Arri und beglückwünschte sich in Gedanken dazu, so schnell auf eine Entgegnung gekommen zu sein, die es ihr ermöglichte zu antworten, ohne zu antworten. »Es ist alles nur Unsinn.« »Und nun willst du wissen, was wirklich geschehen ist.« Lea verbarg das Gesicht erneut in den Händen. Ihre Schultern sanken nach vorn, als hätte sie sich bisher gegen eine unsichtbare Last gestemmt, der sie nun ganz plötzlich nicht mehr gewachsen war. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie leise. »Einen schlimmen Fehler, Arianrhod. Sicher nicht den ersten, seit ich hierher gekommen

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bin, aber den schlimmsten.« »Und was war das für ein Fehler?«, fragte Arri, als ihre Mutter nicht weitersprach. »Ich habe es gut gemeint«, antwortete Lea. Sie lachte bitter. »Weißt du, dass die allergrößten Fehler meist die sind, die in bester Absicht begangen werden?« Arri tauschte einen fragenden Blick mit Rahn, erntete aber nur ein ratloses Schulterzucken und einen noch ratloseren Blick. »Und was war das für ein Fehler?«, fragte sie. »Ich wollte die Dinge beschleunigen«, sagte Lea. »Vielleicht war das mein einziger Fehler, aber er war schlimm genug. Die Dinge brauchen ihre Zeit, weißt du? Ich kam hierher, und ich sah, dass die Menschen hier so… so schrecklich wenig wussten, und dass sie hilflos den Jahreszeiten ausgesetzt waren, kaum in der Lage, Getreide für den täglichen Gebrauch anzubauen oder ihre Jagden zu planen. Es war wie ein Sturz in eine andere Zeit, tausend Jahre zurück. Ich dachte, ich könnte ihnen helfen, diese verlorene Zeit aufzuholen und auf Dauer den Hunger aus ihren ständig knurrenden Mägen zu vertreiben. Ich habe mich geirrt.« Sie nahm die Hände herunter und faltete sie im Schoß, während sie sich zugleich wieder aufsetzte und die Schultern straffte. Seltsam Arri war fest davon überzeugt gewesen, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen, aber ihre Miene wirkte gefasst, und ihre Stimme klang jetzt nur noch sachlich. »Ich wollte Achk lehren, Eisen zu schmieden.« »Eisen?« »Das Metall, das unser Volk verwendet hat.« Lea machte eine Kopfbewegung zur Wand hin. »Das, aus dem auch mein Schwert geschmiedet ist. Es hätte den Menschen hier einen gewaltigen Vorteil vor allen anderen verschafft. Bessere Werkzeuge. Mächtigere Waffen. Tausend Dinge, die mit der weichen Bronze hier nicht möglich waren.« »Und was war daran so falsch?«, wollte Arri wissen. Was ihre Mutter da erzählte, klang nach einer guten Idee, auch wenn es sich ziemlich abenteuerlich anhörte. Aber das galt ja im Grunde für jede Idee,

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die ihre Mutter ausbrütete. »Falsch war daran, dass ich glaubte, alles zu wissen und klüger zu sein als das Schicksal«, antwortete Lea bitter. »Ich war Priesterin, Arianrhod, kein Schmied. Ich dachte, ich kenne das Geheimnis, Eisen zu schmelzen. Ich hatte ein paar Mal zugesehen und das eine oder andere aufgeschnappt und war überheblich genug zu glauben, dass das reicht.« Sie seufzte leise. »Wie sich gezeigt hat, hat es nicht gereicht.« »Was ist geschehen?«, fragte Arri wieder. Die Frage galt eigentlich Achk, und der Schmied schien das auch zu spüren, denn er setzte zu einer Antwort an, aber Lea kam ihm zuvor. »Die Rezeptur war wohl falsch«, sagte sie. »Als Achk die Schmelze angestochen hat, ist sein Ofen zerborsten. Das geschmolzene Metall hat sein Gesicht und seine Augen verbrannt. Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat.« »Das hat wohl eher mit deinen heilenden Händen zu tun«, widersprach Achk. Abermals fiel Arri auf, dass der blinde Schmied mit erstaunlich klarer Stimme sprach, und sie war erstaunt über das, was er sagte. Sie sah den Alten stirnrunzelnd an. Natürlich war es unmöglich, in der zerstörten Landschaft seines Gesichts zu lesen, aber es kam ihr trotzdem so vor, als wäre der Ausdruck darauf deutlich klarer geworden. Konnte es sein, dass Achk ihr - und dem gesamten Dorf - die ganze Zeit über nur etwas vorgespielt hatte? Nein, entschied sie. Es war wohl eher anders herum. Auch wenn ihr der Gedanke zuallererst vollkommen widersinnig vorkam, schien Achk doch aus der Katastrophe, die sein Leben nun zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit heimgesucht hatte, Kraft gewonnen zu haben. »Das war wohl das Mindeste, was ich dir schuldig war«, antwortete Lea. Plötzlich lächelte sie. »Und es war ganz gewiss nicht allein mein Verdienst. Du hattest Glück, Achk. Und du bist ein zäher alter Knochen.« »Und du ein dummes Weib«, polterte Achk. »Es war nicht deine Schuld. Ich habe lange darüber nachgedacht. Was du mir über das Zaubermetall deines Volkes erzählt hast, muss stimmen.«

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Lea wollte abermals widersprechen, doch Achk schien das irgendwie zu spüren. Vielleicht hatte er es auch erwartet, denn er machte eine rüde Handbewegung und fuhr mit lauter Stimme fort: »Ich bin Schmied, Weib. Der Sohn eines Schmiedes, der auch der Sohn eines Schmiedes war. Wenn es etwas gibt, worauf ich mich verstehe, dann ist es das Metall. Was du mir erzählt hast, war richtig. Vielleicht war ich zu ungeduldig. Vielleicht war die Mischung nicht richtig. Vielleicht war das Feuer zu heiß oder nicht heiß genug.« »Vielleicht reicht es auch nicht, ein paar Tempeltänze und wohlklingende Lieder zu kennen, um die Welt zu verändern«, sagte Lea. »Wenn du wohlklingende Lieder kennst, warum singst du sie dann nicht«, fragte Achk patzig, »statt mit einer Stimme wie eine heisere Krähe zu keifen?« Er wiederholte seine ärgerliche Geste, obwohl Lea diesmal gar nicht dazu angesetzt hatte, ihn zu unterbrechen. »Wir versuchen es noch einmal. Und noch einmal und noch einmal, wenn es sein muss. Und irgendwann werden wir nicht nur Bronze schmelzen, sondern auch das Zaubermetall, von dem du gesprochen hast.« »So viel Zeit wird uns nicht bleiben, fürchte ich«, sagte Lea traurig. »Sarn wird nicht aufgeben. Und er wird gewiss nicht tatenlos zusehen, wie wir ihn vor aller Augen zum Narren machen.« »Und wenn wir es ihm einfach sagen?«, fragte Arri aufgeregt. Nicht nur Rahn und ihre Mutter sahen sie auf eine Art an, als zweifelten sie ernsthaft an ihrem Verstand. Auch Achk drehte das Gesicht in ihre Richtung und zog die verbrannten Narben zusammen, die die Stelle seiner Augenbrauen eingenommen hatten. »Ich meine es ernst«, beharrte sie. »Sarn kann sein, wie er will, aber er ist kein Dummkopf.« Sie deutete heftig gestikulierend auf das Schwert an der Wand über ihrer Mutter. »Er muss doch verstehen, was das Geheimnis dieses Metalls für die Menschen hier im Dorf bedeutet. Warum sagt ihr ihm nicht einfach, was ihr plant? Vielleicht wird er uns sogar helfen, wenn er weiß, dass es um das Zaubermetall geht.« »Manchmal wünschte ich mir, noch einmal so jung zu sein wie du«, sagte ihre Mutter sanft. »Das Leben ist um so vieles einfacher, wenn man geradeaus denkt.«

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Rahn lachte, und Arri wurde wütend. »Geradeaus oder dumm?«, fragte sie zornig. »Das war nicht böse gemeint«, sagte Lea. »Glaub mir, Arianrhod, ich wünschte wirklich, es wäre so einfach, wie du glaubst. Aber leider ist es das nicht.« »Und was ist so falsch daran?«, fragte Arri. Sie war noch immer wütend, und trotz des ungewohnt versöhnlichen Tones, in dem ihre Mutter mit ihr sprach, wurde sie sogar immer noch wütender. »Nichts«, antwortete Lea. »Das ist es ja gerade, was es so schlimm macht.« Sie atmete hörbar ein und ließ Hinterkopf und Schultern wieder gegen die Rückenlehne des Stuhles sinken. »Es ist spät geworden. Lasst uns alle ein wenig schlafen. Danach denken wir vielleicht klarer. Morgen werde ich mir den Schaden noch einmal genauer ansehen und entscheiden, was zu tun ist. Jetzt kann ich nicht mehr denken.« Sie stand schwerfällig auf, und auch Arri wollte sich erheben, sank aber wieder zurück, als ihre Mutter eine abwehrende Geste machte. »Bleib einfach, wo du bist. Für heute schlafen Achk und du hier. Wenn ich wieder in der Lage bin, einen klaren Gedanken zu fassen, lasse ich mir eine bessere Lösung einfallen.« Arri war von diesem Vorschlag wenig begeistert, aber sie konnte ihrer Mutter ansehen, dass sie viel zu müde und erschöpft war, um sich auf eine lange Auseinandersetzung einzulassen. Und wenn sie ehrlich war, erging es ihr selbst nicht viel anders. Die wenige Zeit, die sie halb sitzend gedöst hatte, hatte längst nicht ausgereicht, um ihr das zurückzugeben, was sie die Anstrengungen während der Löscharbeiten an Kraft gekostet hatten. »Und du?« »Ich finde schon einen Platz zum Schlafen«, sagte Lea. Rahn grinste anzüglich.

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13 Arri erwachte erst am späten Nachmittag desselben Tages oder des darauffolgenden, das kam ganz auf den Standpunkt an. Für Arri war morgen immer dann, wenn sie geschlafen hatte; ein reiner Verteidigungsmechanismus, den sie entwickelt hatte, nachdem ihre Mutter damit begonnen hatte, nahezu jede Nacht für sie zum Tage zu machen. Die Hütte war leer. Achks penetranter Altmännergeruch hing noch in der Luft, und die fast noch taufrische Matratze, auf der er gelegen hatte, war zerwühlt und an mehreren Stellen aufgerissen. Arri musterte sie kritisch - ein halber Tag Arbeit, der auf sie wartete und reckte sich dann ausgiebig, bevor sie aufstand und die Hütte fast fluchtartig verließ, um mit wenigen Schritte die mit Kalk gefüllte Grube anzusteuern, die ihre Mutter für die Verrichtung ihrer Notdurft angelegt hatte. Bevor sie in den Schatten der umstehenden Bäume eintauchte, warf sie einen raschen Blick zum Dorf hinauf. Sie war ein wenig enttäuscht. Die Stelle, an der noch gestern Achks Hütte gestanden hatte, klaffte jetzt wie eine schwarze Wunde, die tief in den Wald hineingerammt war - das hatte sie erwartet - und in der sich nichts rührte. Das hatte sie nicht erwartet. Ganz im Gegenteil: Nach dem, was ihre Mutter in der vergangenen Nacht gesagt hatte, hätte sie zumindest geglaubt, Rahn emsig hantieren und sägen und hämmern zu sehen, um die verbrannte Schmiede wieder aufzubauen. Stattdessen sah sie gar nichts, und plötzlich fiel ihr auch die Stille auf. Ihre Hütte lag weit genug vom Dorf entfernt, dass es hier immer recht ruhig war, aber nun hörte sie gar nichts. Es schien, als wäre das Dorf, das sich bisher auf der Anhöhe gegenüber erhoben hatte, einfach nicht mehr da. Arri setzte den Weg fort, folgte dem Ruf ihres Körpers und kehrte erst eine ganze Weile später und deutlich entspannter aus dem Schutz der Bäume zurück. Sie sah in den Himmel hinauf. Die Sonne hatte den Zenit schon lange überschritten und befand sich wieder auf dem absteigenden Teil ihrer Wanderung, und das gefiel Arri nicht. Wo war ihre Mutter? Und wo waren Rahn und der Schmied? Plötzlich fühlte sie sich furchtbar allein, und vor allem: allein ge-

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lassen. Wieso sagte ihr niemand, was sie tun sollte? Vielleicht wäre es eine gute Idee, sich erst einmal zu waschen. Arri ging gemächlichen Schrittes zur Hütte und steuerte den in mühsamer Schnitzarbeit ausgehöhlten Eichentrog an, in dem ihre Mutter Regenwasser sammelte. Auf halbem Wege ergriff ein spöttisches Lächeln von ihren Lippen Besitz. Wie lange war es her, dass sie sich furchtbar über die Macke ihrer Mutter aufgeregt hatte, sich ständig zu waschen, auch wenn sie gar nicht schmutzig war? Jetzt dachte sie ganz genau wie Lea. War es das, was ihre Mutter gemeint hatte, wenn sie behauptete, sie wäre jetzt erwachsen? Sie beugte sich so tief über den Eichentrog, dass ihre Haare beinahe im kühlen Wasser eintauchten, und schaufelte sich ein paar Hand voll des eiskalten Wassers ins Gesicht. Sie prustete und japste nach Luft und bedachte sich selbst in Gedanken mit einer ganzen Reihe wenig schmeichelhafter Bezeichnungen, weil sie nicht auf sich selbst gehört und die morgendliche Wäsche einfach übersprungen hatte zumal es nicht Morgen, sondern Nachmittag war. Dann zwang sie sich mit einer gewaltsamen Anstrengung, den unterbrochenen Gedanken fortzuführen: Wo waren alle? Ihr Magen meldete sich mit einem hörbaren Knurren zu Wort und erinnerte sie daran, wie lang der gestrige Tag gewesen war und wie wenig sie gegessen hatte. Sie dachte an den Rest Fladenbrot, den sie in der Hütte gesehen hatte, aber die bloße Vorstellung, dass Achk vor ihr seine fauligen Zahnstümpfe hineingeschlagen haben könnte, löste ein so heftiges Gefühl von Übelkeit in ihr aus, dass sie sich plötzlich gar nicht mehr so hungrig fühlte. Statt zurück in die Hütte zu gehen, lief sie in die Richtung, in der sich der Weg ins Dorf mit dem gewundenen Pfad zur alten Schmiede kreuzte. Was hatte ihre Mutter in der vergangenen Nacht gesagt? Nach dieser Nacht steht das ganze Dorf noch tiefer in meiner Schuld. Vielleicht würde es ja wenigstens für ein Stück Brot und einen Bissen Fleisch reichen. Obwohl seit der Katastrophe ein halber Tag verstrichen war, war der Brandgeruch, der ihr entgegenschlug, noch immer eindringlich genug, um ihr den Atem zu nehmen. Sie hob die Hand vor den Mund

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und hielt sogar die Luft an, als sie den Bereich aus verbranntem Erdreich passierte, blieb dann aber trotzdem noch einmal stehen. Sie war allein. Und das Heiligtum, das ihr schon seit geraumer Zeit Unbehagen verursachte, war so nah, dass sie nur den Kopf hätte drehen müssen, um einen Blick auf die steinernen Riesen zu werfen, den Wohnort der Götter, wie die Sippe glaubte. Vielleicht war das ja noch nicht einmal so verkehrt. Vielleicht hatten Sarns zornige Götter das Feuer geschickt, um die ungläubige fremde Frau in ihre Schranken zu weisen, und vielleicht hatten sie auch schon zuvor Unglück über den Schmied gebracht, indem sie seinen Brennofen hatten zerbersten lassen. Es gelang Arri nicht, diesen Gedanken endgültig zu verscheuchen. Schauplätze von Katastrophen zogen Menschen für gewöhnlich an wie drei Tage altes Aas die Fliegen, und sie hätte zumindest erwartet, ein paar Neugierige anzutreffen, selbst wenn es nur ein paar Kinder waren. Rings um sie herum rührte sich jedoch nichts. Selbst der unversehrte Teil des Waldes, der sich an den verbrannten Bereich aus verkohlten Baumstämmen und zu Asche zerfallenem Unterholz anschloss, schien wie ausgestorben zu sein, als hätte das Inferno der vergangenen Nacht jedes Leben aus diesem Teil der Welt vertrieben. Arri verspüre ein kurzes, aber eisiges Frösteln und hatte es plötzlich sehr eilig, auf den direkten Weg zum Dorf abzubiegen. Es waren allerdings nur einige wenige Schritte, bevor sie wieder stehen blieb und ihr Herz heftig zu klopfen anfing. Im allerersten Moment konnte sie nicht einmal sagen, was es war, das ihr solche Angst einjagte, aber es war da, und es wurde mit jedem Atemzug schlimmer. Ihr Herz hämmerte. Ihr Mund war mit einem Mal so trocken, als hätte sie seit drei Tagen nichts mehr getrunken, und ihre Hände und Knie zitterten immer stärker. Denn ganz plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht hierher gehörte. Vielleicht war es dieser Moment, der ihr Leben endgültig und unwiderruflich änderte. Nicht all die zahllosen Gespräche mit ihrer Mutter. Nicht all die Gelegenheiten, bei denen sie weinend vor Angst oder Wut oder Scham nach Hause gerannt war. Nicht all die schlaflosen Nächte, in denen sie mit einem scheinbar grundlosen, aber quä-

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lend intensiven Gefühl von Einsamkeit und… Anderssein und mit klopfendem Herzen aufgewacht war. Sie verstand all das plötzlich, sie erinnerte sich an jeden einzelnen Moment der Enttäuschung und Scham, aber es war dieser Anblick, der ihr die Augen öffnete, und eine ganz einfache, aber grundlegende Erkenntnis: Nicht sie und ihre Mutter waren es, die anders waren. Es waren alle anderen, die anders waren, und obwohl sie zuerst noch Schwierigkeiten hatte, diesem scheinbar unsinnigen Gedanken zu folgen, spürte sie doch zugleich, was für ein gewaltiger Unterschied das war. Natürlich war das Dorf nicht wirklich ausgestorben, aber es bot doch einen so ganz anderen, beunruhigenden Anblick, dass dieser allein vielleicht schon der Auslöser für jenes sonderbare Gefühl der Fremdartigkeit war, das Arri in diesem Moment ergriff und ihr Leben auf so nachhaltige Weise veränderte. Auf dem großen Dorfplatz bewegten sich Menschen, aber es waren zu wenige für diese Tageszeit, und die meisten von ihnen schlichen mit hängenden Schultern und müden Bewegungen dahin, manche hockten oder standen auch einfach nur da und starrten ins Leere. Auf der anderen Seite, nahe beim Fluss, spielten ein paar Kinder, doch auch ihr Spiel erschien Arri lustlos und matt; wie eine Pflichtübung, die sie hinter sich bringen mussten, weil ihre Eltern sie aus der Hütte geschickt hatten, und nicht wie etwas, das sie tun wollten. Eine allgemeine Stimmung dumpfer Müdigkeit lag über dem Dorf, die nicht nur alle Bewegungen, sondern auch alle Geräusche und jegliches Anzeichen von Leben dämpfte. Aber das allein war es nicht. Das hätte Arri nachvollziehen können: Das ganze Dorf war schlichtweg müde. Alle hier, gleich ob Mann, Frau, Kind oder Greis, hatten eine ungemein anstrengende und Kräfte zehrende Nacht hinter sich, und wahrscheinlich hatten nur die allerwenigsten lange geschlafen, so wie sie. Doch es war nicht nur die körperliche Müdigkeit, die sie gewahrte. Darunter lag eine andere, dumpfere Mattigkeit, die sie vielleicht schon von Anfang an gespürt hatte, die ihr aber nun tatsächlich zum allerersten Mal bewusst wur-

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de. Zugleich sah sie, wie anders all diese Menschen waren, verschieden von der Gestalt her und dem Schnitt ihrer Gesichter, anders in ihrer Art, sich zu bewegen und zu reden, anders in ihrer Art, zu sein. Sie war inmitten dieser Menschen aufgewachsen. Ihr Anblick hatte zu ihrem täglichen Leben gehört, so lange sie sich zurückerinnern konnte. Und doch hatte sie plötzlich das Gefühl, sie zum allerersten Mal so zu sehen, wie sie wirklich waren. Alle hier waren von gedrungenerem Wuchs als sie und ihre Mutter, kräftiger, aber auch deutlich kleiner; selbst Rahn, der von allen Männern im Dorf der Allerstärkste und Kräftigste war, war nicht einmal so groß wie ihre Mutter, und kaum eine Handbreit größer als sie selbst. Die Gesichter der Leute hier waren flacher, grober und einfacher, und das unsichtbare Feuer in ihren Augen, das vielleicht einzig den wirklichen Unterschied zwischen dumpfem tierischem Verstand und dem eines Wesens ausmachte, das den Blick zum Himmel wandte und sich fragte, ob dort oben nicht vielleicht doch die Götter wohnten, schien weniger hell zu brennen. Arri wusste, dass das ungerecht war. Diese Menschen waren weder besser noch schlechter als ihre Mutter und sie, sie waren einfach nur anders. Und das bedeutete, dass sie nicht hierher gehörten. Lange Zeit blieb Arri reglos und schweigend am Rande des großen Platzes stehen und versuchte mit dem Verstand zu erfassen, was ihr Herz längst begriffen hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie allerspätestens im nächsten Frühjahr von hier weggehen würden, und nun wusste sie auch, warum. Es hatte vielleicht noch nicht einmal wirklich etwas mit Nors Drohung zu tun, und wenn doch, dann auf eine viel tiefere, umfassende Weise, die außer den Menschen hier auch Mardan und die anderen Götter mit einschloss, zu denen sie beteten, und mit der Lebensweise, die sie als die richtige erachteten. Eine Bewegung am Rande ihres Gesichtsfelds erregte ihre Aufmerksamkeit. Arri sah genauer hin und erkannte eine sonderbar schief wirkende Gestalt, die auf der anderen Seite des Dorfplatzes aufgetaucht war und mitten im Schritt innegehalten hatte. Kron. Der

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Jäger musste sie im gleichen Moment erkannt haben wie sie ihn, und obwohl Arri viel zu weit entfernt war, um sein Gesicht zu erkennen, spürte sie seine Überraschung, sie hier zu sehen. Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion von ihr zu warten, aber Arri wusste nicht, auf welche. Sie blieb noch einige weitere Atemzüge lang stehen und erwiderte Krons Blick, dann drehte sie sich wieder um und schlug den Weg zur alten Schmiede ein, um über diesen Umweg nach Hause zurückzukehren; warum sie das tat und warum sie damit auch wieder direkt auf das Heiligtum zuhielt, hätte sie nicht einmal zu sagen vermocht. Ganz plötzlich brannten ihr tausend Fragen auf der Seele, die sie ihrer Mutter stellen musste. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Stelle passierte, an der Achks Hütte gestanden hatte. Selbst jetzt schien noch ein spürbarer Hauch von Wärme in der Luft zu hängen; nicht die Wärme der Herbstsonne, die zu dieser Tageszeit noch immer eine erstaunliche Kraft hatte, sondern eine vollkommen andere, zerstörerische Kraft, die sich in der zurückliegenden Nacht hier ausgetobt hatte und deren Echo noch immer zu spüren war. Unter ihren Füßen wirbelte die weiße Asche auf, die alles war, was das Feuer von Achks Schmiede übrig gelassen hatte. Ganz wie in der Nacht zuvor schlug sie unwillkürlich einen fast furchtsamen Bogen um den schwarz verbrannten Kreis auf der Erde, und es war auch dasselbe Gefühl wie zu jenem Zeitpunkt: Sie glaubte nicht nur das Feuer zu spüren, das hier getobt hatte, sondern noch etwas anderes, viel Dunkleres, als hätte das, was Sarn oder seine Götter getan hatten, unsichtbare Spuren hinterlassen, die man weder greifen noch sehen noch riechen konnte und die doch die Kraft hatten, ihrer aller Leben zu verändern und sie zu zwingen, sich mit unangenehmen Wahrheiten auseinander zu setzen. Warum hatte sich Sarn so offen gegen sie gewandt? Arri hatte durchaus verstanden, was ihre Mutter ihr gesagt hatte, aber das bedeutete nicht, dass sie es auch begriff. Wie war es möglich, dass Sarn die Zukunft des ganzen Dorfes aufs Spiel setzte, nur aus verletztem Stolz heraus? Oder hatte es doch etwas mit dem Glauben an die alten

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grausamen Götter zu tun, der tief in die Seele des Schamanen und der ganzen anderen Sippe eingebrannt war? Sie hatte den halben Weg zur Hütte hinab hinter sich gebracht, als sie eine Bewegung am Waldrand wahrnahm. Etwas schimmerte hell zwischen den Schatten der Bäume, und silberfarbenes Metall blitzte im Sonnenlicht. In Erwartung, dass es ihre Mutter war, beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr und hob zugleich den Arm, um ihr zuzuwinken. Ihr Gruß wurde nicht erwidert, und die Gestalt trat auch nicht weiter aus dem Wald heraus, sondern verschmolz ganz im Gegenteil erneut mit den Schatten und war einen Augenblick später endgültig verschwunden. Arri war verwirrt. Ihre Mutter musste sie gesehen haben. Wieso hatte sie nicht auf ihr Winken reagiert oder war wenigstens stehen geblieben? Sie beschleunigte ihre Schritte abermals, erreichte die Stelle am Waldrand und blieb wieder stehen. Sie lauschte. All die üblichen Geräusche des Waldes drangen aus dem schattigen Grün an ihr Ohr, und vielleicht - aber auch wirklich nur vielleicht - das Geräusch leichter Schritte, die sich rasch entfernten. Arri war beunruhigter, als sie zugeben wollte. Wenn es ihre Mutter war, die sie gesehen hatte, warum zeigte sie sich dann nicht, sondern lief im Gegenteil davon - und wenn es ein Fremder war, was wollte er dann hier, und wieso zeigte er sich nicht, um das Gastrecht in Anspruch zu nehmen? Sie dachte daran, der vermeintlichen Gestalt nachzugehen, aber ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, ganz allein diesen düsteren, von Schatten und sonderbaren Geräuschen erfüllten Wald ganz in der Nähe des Heiligtums zu betreten. Mit aller Gewalt zwang sie sich, nicht daran zu denken, dass der Schatten von etwas ganz anderem stammen könnte, von etwas, das mit Sarns Göttern zu tun hatte und mit den blutigen Beschwörungsriten, die der greise Schamane ab und zu in dem düsteren Kreis steinerner Giganten zelebrierte… Es musste ihre Mutter gewesen sind. Ganz sicher. Und wenn das tatsächlich stimmte, dann hatte sie ihre Gründe gehabt, nicht auf ihr

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Winken zu reagieren, und wäre ganz bestimmt nicht erfreut, wenn sie ihr jetzt nachging. Und wenn nicht… Arri konnte ein eisiges Frösteln nicht unterdrücken, das ihr zwischen den Schulterblättern den Rücken hinablief. Es gab Gerüchte, dass sich im Steinkreis etwas herumtrieb, das nichts Menschliches an sich hatte. Aber das war mit Sicherheit dummes Gerede. Es gab ja auch noch ganz andere, viel greifbarere Gefahren. Plötzlich musste Arri an den sonderbaren Fremden denken, der ihr das Leben gerettet hatte. Was, fragte sie sich, wenn Sarn und die anderen Recht hatten und dieser Mann nur der Späher war, dem andere folgen würden; vielleicht ein ganzes Heer, das sich jetzt schon bereitmachte und ihren Untergang plante… Die Vorstellung war kindisch. Schon ihre Vernunft sagte ihr, dass es nicht so sein konnte. Wäre dieser Fremde, auf den sie im Wald gestoßen war, in feindlicher Absicht hier, hätte er ihr schwerlich das Leben gerettet und somit die Gefahr auf sich genommen, seine Anwesenheit frühzeitig zu offenbaren. Er hätte nicht einmal die Hand gegen sie zu erheben brauchen; es hätte ja vollkommen ausgereicht, wenn er gar nichts getan und einfach abgewartet hätte, bis der Wolf sie tötete. Der Fehler in diesem Gedankengang fiel ihr auf, noch bevor sie ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Wenn dieser Fremde tatsächlich nur die Vorhut einer ganzen Horde wilder Krieger darstellte, konnte er es sich gar nicht leisten, dass jemand vermisst wurde und womöglich das ganze Dorf nach ihm suchte und die umliegenden Wälder durchkämmte. Was war denn dieser unheimliche Fremde nun - ihr geheimer Schutzengel oder ihr schlimmster Feind? Oder stammte der Schatten, den sie gesehen hatte, doch von jemand - oder etwas - ganz anderem, von etwas, das mit dem Heiligtum und ihrem heimlichen Besuch dort zu tun hatte? Es war verwirrend. Verwirrend und sehr beängstigend. Sie scheute davor zurück, wieder ins Dorf zu gehen. Dort gab es nichts für sie zu tun, und sie wollte auch nicht dorthin, schon aus Angst, den Schamanen oder vielleicht auch Kron zu treffen. Aber

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auch ihr eigenes Zuhause erschien ihr im Augenblick nicht sicher genug. Wäre doch nur ihre Mutter hier gewesen! Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ sie zusammenzucken. Gehetzt sah sie nach rechts und links, drehte sich schließlich um, und ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie die beiden Gestalten erkannte, die oben am Ende des Weges aufgetaucht waren. Es waren Kron und der Schamane. Im allerersten Augenblick hatte sie Angst, sie hätten sie gesehen (was zumindest auf Kron ja auch zutraf) und wären ihretwegen gekommen, dann aber bemerkte sie, dass die beiden in einen heftigen Streit verwickelt waren. Kron deutete immer wieder mit seinem verbliebenen Arm dorthin, wo sich gestern zu dieser Zeit noch die Hütte des Schmieds befunden hatte, und auch Sarn tat dasselbe, allerdings abwechselnd mit dem linken Arm und seinem Stock, wobei er immer wieder heftig den Kopf schüttelte. Mehrmals deutete er auch zu Arris Hütte hinunter, und schließlich schien es ihm zu bunt zu werden, denn er umfasste seinen Stock mit beiden Händen und stampfte wütend damit auf den Boden. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, wenigstens nicht da, wo er gerade stand, denn das Ergebnis seiner jähzornigen Bewegung war eine gewaltige weiße Staub- und Aschewolke, die hochwirbelte und ihn und Kron zum Husten brachte. Beide wedelten unverzüglich mit der Hand vor dem Gesicht herum und wichen hastig ein paar Schritte zurück, und auch Arri trat ein kleines Stück in die Schatten des Waldes hinein; falls Kron und der Schamane sie nicht bereits gesehen hatten, dann mussten sie es ja auch nicht unbedingt noch tun. Sarns Laune war durch sein Ungeschick ganz gewiss nicht gestiegen - und wie sie den Schamanen kannte, würde er wahrscheinlich sie für seine eigene Dummheit verantwortlich machen. Ihr schadenfrohes Grinsen erlosch schlagartig, als sie zwischen die Bäume trat. Es war hier spürbar kühler als draußen im Sonnenschein; eine unangenehme, feuchte Kälte, die das Nahen des Herbstes ungleich brutaler ankündigte, als es das warme Licht der Spätsommersonne draußen glauben ließ. Und ihre eigenen Gedanken, die sie gerade bewegt hatten, waren noch nicht vergessen. Der fremde Schatten war noch in ihrem Kopf, intensiv genug, sie schon wieder die

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Blicke unsichtbarer, lauernder Augen spüren zu lassen, die sie aus dem Hinterhalt heraus beobachteten. Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung und zwang sich, sich langsam und sehr aufmerksam umzusehen. Der Wald war düster und kalt und feucht, aber das war auch schon alles. Niemand war da. Solcherart beruhigt - wenn auch nicht so sehr, wie sie es sich gewünscht hätte -, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden Männern oben am Weg zu und stellte verärgert fest, dass Kron zwar mittlerweile gegangen war, der Schamane aber gar nicht daran dachte, ihr denselben Gefallen zu tun und wieder zu verschwinden. Im Gegenteil: Er blieb eine geraume Weile reglos und mit trotzig gespannten Schultern stehen und sah schließlich so genau in Arris Richtung, dass sie nahezu sicher war, er habe sie gesehen, unbeschadet des Umstands, dass sie tief in den Schatten des Waldes zurückgewichen war. Sein Blick suchte aufmerksam den Waldrand ab, nicht nur den Punkt, wo Arri stand, sondern auch den Bereich rechts und links davon, verharrte für eine geraume Weile auf der Hütte und kehrte dann wieder ziemlich genau zu der Stelle zurück, an der sich Arri verborgen hatte. Sie überlegte ernsthaft, noch ein Stück tiefer in den Wald hineinzugehen und einen Bogen zu schlagen, um sich der Hütte so zu nähern, dass Sarn sie von seiner Position oben auf dem Weg nicht sehen konnte, doch der Schamane nahm ihr die Entscheidung ab. Schwer auf seinen Stock gestützt, kam er den abschüssigen Pfad herunter. Einen Augenblick lang fand sie Gefallen an der Vorstellung, dass Sarn auf dem abschüssigen Weg den Halt verlieren, stürzen und sich den Hals brechen könnte, aber auch diesen Gefallen tat er ihr nicht. Er ging sehr langsam, und er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als eine weitere Gestalt hinter ihm erschien. Im ersten Moment konnte Arri sie im Gegenlicht der bereits tief stehenden Sonne nur als schwarzen Schatten erkennen, der dem Schamanen folgte, und als Sarn, der offensichtlich seine Schritte gehört hatte, stehen blieb und sich zu ihm umdrehte, erkannte ihn auch Arri. Es war Grahl, Krons Bruder. Gebannt und mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie Grahl rasch

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auf den Schamanen zuging und einige wenige, von heftigen Gesten und einem fast wütenden Deuten und Winken begleitete Worte mit ihm wechselte. Schließlich deutete Grahl wieder zum Dorf hin, doch Sarn schüttelte entschieden den Kopf und vollführte eine befehlende Geste mit seinem Stock, indem er auf Arris Hütte wies. Grahl zögerte sichtbar, gab sich dann aber mit einem Schulterzucken geschlagen, und die beiden setzten nebeneinander ihren Weg in diese Richtung fort. Arri löste sich aus ihrem Versteck und folgte den beiden im Schutz der Bäume. Als die beiden Männer schließlich vor der Hütte angekommen waren, sah Arri mit wachsendem Ärger zu, wie der Schamane die Stufen zur Tür hinaufstieg und dann in der Hütte verschwand, dicht gefolgt von Grahl. Vielleicht sollte sie froh sein, dass ihre Mutter nicht da war. Sarn und der Jäger waren gewiss nicht gekommen, um sich für die vergangene Nacht zu entschuldigen oder ihrer Mutter einen Freundschaftsbesuch abzustatten. Was sollte sie nun tun? Einen Moment lang dachte sie ernsthaft daran, die letzten Schritte bis zur Hütte hinabzulaufen und die beiden unverschämten Eindringlinge zur Rede zu stellen, verwarf diesen Gedanken aber fast so schnell wieder, wie er ihr gekommen war. Bevor sie einen Entschluss fassen konnte, was sie als Nächstes tun sollte, tauchte der Schamane bereits wieder unter der Türöffnung auf und tastete sich mit seinem Stock vorsichtig die schmalen Stufen hinab, sodass sich Arri nur noch mit einem schnellen Sprung hinter dem nahen Holunderbusch in Sicherheit bringen konnte. Grahl folgte ihm nach einer Weile, die gerade lang genug andauerte, um Arri sicher sein zu lassen, dass er nicht nur einen schnellen Blick in die Runde geworfen, sondern die Hütte gründlich durchsucht hatte. Die beiden entfernten sich ein paar Schritte von der Stiege, dann blieb Sarn wieder stehen und deutete mit seinem Stock fordernd auf den Waldrand. Arri wich vorsichtshalber ein paar Schritte tiefer in das Unterholz zurück, obwohl sie vollkommen sicher war, dass die beiden Männer sie nicht sehen konnten. Grahl und der Schamane stritten aufgeregt weiter miteinander, dann machte Sarn eine abschließende Geste, und

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Grahl fügte sich. Nebeneinander und so schnell, wie es der alte Mann gerade noch konnte, gingen sie am Eichentrog vorbei und steuerten den Waldrand an. Arri drohte in Panik zu geraten. Im allerersten Augenblick war sie sicher, dass die beiden sie nicht nur gesehen hatten, sondern auch auf dem Weg zu ihr waren, um ihr irgendetwas Schreckliches anzutun. Dann endlich fiel ihr auf, dass sich Sarn gar nicht direkt auf sie zubewegte, und sie erkannte, wie unsinnig dieser Gedanke war. Wenn Sarn ihr etwas zu sagen hatte, dann würde er sie einfach zu sich befehlen. Es fiel ihr nicht besonders schwer, schneller in die Schatten zurückzuweichen, als Sarn und Grahl sich dem Waldrand näherten, aber ihre Beunruhigung steigerte sich, als sie sah, wie die beiden in den Wald eindrangen, wobei Grahl sein Messer zu Hilfe nehmen musste, um einen Pfad für den greisen Schamanen frei zu hacken. Sarn stolperte dennoch mehr, als dass er ging, und ohne seinen Stock hätte er nicht einmal die ersten drei Schritte geschafft, ohne auf die Nase zu fallen. Arri fand die Vorstellung einigermaßen erbaulich, aber es gab ihr auch zu denken. Sarn war ein alter Mann; wenn er stürzte, dann war das für ihn ganz und gar nicht komisch. Er musste schon einen triftigen Grund haben, ein solches Wagnis auf sich zu nehmen. Wie dieser Grund aussah, das wurde Arri in dem Moment klar, als sie sah, dass Grahl nicht nur den Blick gesenkt hatte, um einen Pfad für den Dorfältesten frei zu hacken. Grahl suchte etwas. Eine Spur. Arris ungutes Gefühl zerstob schlagartig zu reinem Entsetzen, als ihr klar wurde, dass Grahl der Spur ihrer Mutter folgte. Sie wusste nicht, warum sich ihre Mutter so heimlich davongemacht hatte, und das sogar, ohne auf ihr Winken zu reagieren; doch warum und immer sie es getan hatte, sie hatte ganz gewiss einen triftigen Grund dafür gehabt. Und wenn das, weswegen sie in den Wald gegangen war, schon nicht für ihre Augen bestimmt war, dann erst recht nicht für die des Schamanen. Für die Dauer eines Herzschlags drohte sie in Panik zu geraten, dann aber zwang sie sich mit einer gewaltsamen Anstrengung zur

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Ruhe und erwog hastig alle Möglichkeiten, die ihr offen standen. Besonders viele waren es nicht. Sie konnte versuchen, Grahl und den Schamanen irgendwie abzulenken (was aber vermutlich vollkommen aussichtslos war), sie konnte jemanden um Hilfe bitten (aber wen? Kron vielleicht oder den blinden Schmied? Lächerlich!), und sie konnte versuchen, ihre Mutter irgendwie zu warnen. Da das ohnehin die einzige Möglichkeit war, die im Mindesten Erfolg versprach, entschloss sie sich für Letzteres. Reglos und mit angehaltenem Atem wartete sie, bis die beiden ungleichen Männer an ihrem Versteck vorübergegangen waren, spähte gebannt in die Richtung, in die sie sich entfernten, und erinnerte sich voller Unbehagen daran, dass Grahl des Spurenlesens mindestens ebenso mächtig war wie sie selbst und vermutlich sogar um einiges besser. Schließlich war er Jäger und noch dazu einer der Besten, die der Stamm jemals hervorgebracht hatte. Hinzu kam, dass er vermutlich nicht einmal besonders begabt sein musste, um die Spur ihrer Mutter zu finden. Sie waren in den letzten Tagen so oft in diese Richtung gegangen, das es selbst für einen Mann mit weitaus weniger scharfen Augen ein Leichtes sein musste, ihrer Fährte zu folgen. Immerhin hatte sie einen Vorteil: Sie ahnte, wohin sich ihre Mutter gewandt hatte, und war nicht darauf angewiesen, ihrer Spur zu folgen, und sie musste auch nicht auf einen uralten Greis Rücksicht nehmen, der fünf Schritte brauchte, wenn Grahl einen einzigen machte, und der mindestens bei zweien davon gestützt werden musste. Arri ließ noch einige weitere Augenblicke verstreichen, bis sie ganz sicher war, dass sich die beiden tatsächlich außer Hörweite befanden, dann huschte sie los. Da sie darauf baute, dass Sarn den Jäger auch weiter so zuverlässig behindern würde wie bisher, ging sie das Wagnis ein, die beiden in großem Bogen zu umgehen, was sie zwar weitere Zeit kostete, die sie jedoch durch ihre größere Schnelligkeit und bessere Kenntnis des Waldes leicht wieder wettzumachen hoffte. Sie kam jedoch nicht annähernd so gut von der Stelle, wie sie gehofft hatte, denn auch sie musste immer wieder stehen bleiben und lauschen, um sicherzugehen, dass sie Grahl und seinem Begleiter nicht

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etwa ganz aus Versehen in die Arme lief. Der Weg zur Lichtung war ihr noch nie so weit vorgekommen wie jetzt. Sie stieß unterwegs zwei- oder dreimal auf frische Spuren, die von ihrer Mutter stammten, und ihre Hoffnung stieg, dass Grahl einer älteren Fährte aufgesessen war, die zwar unweigerlich auch zur Lichtung führen musste, aber vielleicht nicht auf direktem Weg, sodass ihr ein wenig mehr Zeit blieb, um ihre Mutter zu warnen. Warum hatte sie nur das Risiko auf sich genommen, am helllichten Tag dorthin zu gehen? Nach einer schieren Ewigkeit erreichte sie den Rand der kleinen Waldlichtung. Alles war ruhig. Von ihrer Mutter war weder etwas zu sehen noch zu hören, so wenig wie von Sarn und seinem Begleiter. Aber das konnte sich bald ändern. Arri war so schnell gelaufen wie sie konnte, doch sie hatte trotzdem viel Zeit verloren. Die beiden konnten nicht allzu weit hinter ihr sein. Unschlüssig sah sie sich um. Sie hatte fest damit gerechnet, ihre Mutter hier vorzufinden, und war nun zugleich erleichtert wie enttäuscht. Aber wenn sie nicht hier war, wo dann? Als ob sie die Antwort nicht wüsste. Arri sah mit klopfendem Herzen zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung und noch einmal über die Schulter zurück. Sie glaubte die Stimmen Grahls und des Schamanen bereits zu hören, was vielleicht Einbildung war. Aber sie hatte keine Zeit, hier herumzustehen und zu trödeln! Entschlossen straffte sie die Schultern und machte sich daran, die Lichtung mit schnellen Schritten zu überqueren. Obwohl ihr die Zeit unter den Nägeln brannte, nahm sie den kleinen Umweg in Kauf und ließ ihren Blick auch über die Felsen schweifen, die die Quelle umgaben, nur um sicher zu sein, dass sich ihre Mutter nicht dahinter verbarg - warum auch immer sie das hätte tun sollen. Fast widerstrebend steuerte sie dann das gegenüberliegende Ende der Lichtung an. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass es im angrenzenden Verbotenen Wald rein gar nichts Unheimliches oder gar Gefährliches gab, und sie glaubte ihr - schließlich hatte sie ihn in ihrer Begleitung mittlerweile mehrmals durchquert. Dennoch machte ihr der bloße Anblick Angst. Die Gräuelgeschichten über diesen Teil des Waldes, die sie

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ihr Leben lang gehört hatte, und der Schatten, den sie vorhin ganz in der Nähe des Heiligtums gesehen hatte, verdichteten sich zu einem Gefühl purer Beunruhigung. Ihre Schritte wurden immer langsamer, je näher sie dem Waldrand kam, und vielleicht wäre sie tatsächlich stehen geblieben und hätte sogar kehrtgemacht, wäre ihr nicht plötzlich etwas aufgefallen. Nahezu genau dort, wo die ersten Buchen standen, gewahrte sie einen geknickten Ast, nicht weit daneben ein niedergedrücktes Mooskissen… Arri versuchte die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen, aber es half nichts: Es war eine Spur. Eine Spur, die zweifellos ihre Mutter hinterlassen hatte, als sie unvorsichtig - vielleicht in großer Eile? - in den Wald eingedrungen war. Arri machte sich nichts vor - wenn sie diese Spur sah, dann musste Grahl sie erst recht entdecken. Sie verstand nicht, wieso ihre Mutter so leichtsinnig gewesen war, eine so deutlich sichtbare Spur zu hinterlassen. Hatte nicht ausgerechnet sie ihr immer wieder eingeschärft, wie wichtig es war, das Geheimnis zu wahren, das hinter diesem verbotenen Wald verborgen lag? Es gab im Grunde nur zwei Erklärungen: Ihre Mutter begann leichtsinnig zu werden - was Arri gerade nach der vergangenen Nacht wenig wahrscheinlich erschien -, oder sie hatte es wirklich verdammt eilig gehabt… Irgendwo auf der anderen Seite der Lichtung raschelte es. Arri fuhr erschrocken herum und atmete im nächsten Augenblick erleichtert auf, als sie sah, dass es nur ein Schwarm Vögel war, der sich lärmend aus einer Baumkrone erhob. Ihre Erleichterung hielt aber nur einen winzigen Moment vor; gerade so lange, wie sie brauchte, um zu begreifen, dass diese Vögel bestimmt nicht von ungefähr aufgeflogen waren. Ihre Verfolger waren ihr dicht auf den Fersen. Arri wies auch die letzten Bedenken von sich, die die Vorstellung in ihr auslöste, sich ganz allein einen Weg zwischen den mächtigen Eichen und Buchen zu bahnen, wo frisches Tannengrün, dichte Büsche und hüfthohes Gras wie ein natürlicher Schutzwall wucherten

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und ein paar unüberlegte Schritte nur zu schnell in den Sumpf führen mochten, vor dem ihre Mutter sie eindringlich gewarnt hatte. So schnell sie nur konnte, folgte sie der Spur, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Es fiel ihr nicht besonders schwer. Obwohl es mit jedem Schritt, den sie tiefer in den Wald eindrang, dunkler zu werden schien, verlor sie die Fährte, die den Weg ihrer Mutter markierte, kein einziges Mal. Nach einer Weile gab es keinen Zweifel mehr: Ihre Mutter war auf dem Weg zu den Pferden. Arris Besorgnis wuchs. Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihren Vorsprung vor den beiden Männern auszubauen, obwohl sie dadurch Gefahr lief, ein Hindernis zu übersehen und zu stürzen oder sich anderweitig zu verletzen. Sie hatte noch nicht einmal einen nennenswerten Bruchteil der Entfernung zum anderen Rand des Verbotenen Waldes zurückgelegt, als sie eine Bewegung vor sich wahrzunehmen glaubte und einen Moment später ein Geräusch hörte. Abrupt hielt sie mitten im Lauf inne und wäre vom Schwung ihrer eigenen Bewegung um ein Haar aus dem Gleichgewicht gerissen worden. Im letzten Moment fand sie an einem Baumstamm Halt, schloss für einen Moment die Augen und wartete, bis sich ihr Herzschlag wenigstens so weit wieder beruhigt hatte, dass sein dumpfes Hämmern nicht jeden anderen Laut übertönte. Sie hob die Lider und blinzelte in das schattenerfüllte Halbdunkel vor sich. In ihren Ohren rauschte das Blut noch immer so laut, dass sie gar nicht erst versuchte, etwas anderes zu hören, aber nun sah sie wenigstens die Bewegung wieder: Etwas Helles regte sich im Unterholz, direkt hinter einem mannshohen Gebüsch, kaum eine Armeslänge vor ihr, und sie spürte die Nähe von jemand anderem mehr, als dass sie ihn sah oder hörte. Ohne ihre aufgewühlten Gedanken unter Kontrolle zu bringen, bewegte sie sich direkt darauf zu, obwohl ihr eine Stimme immer drängender zuflüsterte, dass sie sich sofort umdrehen und so schnell wie möglich weglaufen sollte… Im nächsten Augenblick war sie sehr froh, nicht darauf gehört zu haben. Zunächst erkannte Arri nur die Stimme, obwohl ihre Mutter gar nichts sagte, sondern nur ein tiefes, lang anhaltendes Seufzen hören

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ließ, dann bewegte sie sich vorsichtig weiter, ließ sich vor dem dornigen Gebüsch in die Hocke sinken und bog unendlich behutsam die Zweige auseinander. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Es war ihre Mutter, und sie war nicht allein. Auf der anderen Seite des Gebüschs befand sich eine freie Stelle am Waldboden, auf dem Moos und wuchernde Flechten fast so etwas wie eine natürliche Lagerstatt bildeten. Ihre Mutter lag nackt auf dem Rücken auf diesem weichen Bett und hatte die Beine um die Hüften einer muskulösen, dunkelhaarigen Gestalt geschlungen, die auf ihr lag und sich langsam und rhythmisch vor und zurück bewegte. Arri konnte das Gesicht des Mannes in dem schattigen Halbdunkel nicht erkennen, aber zweifellos war es niemand anderes als Rahn (wer sollte es sonst sein?), den sie nun das zweite Mal zusammen mit ihrer Mutter überraschte. Nur, dass es Lea diesmal nicht annähernd so unangenehm zu sein schien wie vor ein paar Nächten in ihrem Haus. Ganz im Gegenteil: Ihr Seufzen und Stöhnen wurde immer heftiger (und es waren ganz eindeutig keine Schmerzenslaute), und ihre Schenkel umklammerten Rahns Leib mit immer größerer Kraft. Ihre Hände gruben sich so fest in seinen Rücken, dass ihre Fingernägel blutige Schrammen auf seiner Haut hinterließen. Arri bog die Äste vorsichtig noch ein wenig weiter auseinander, um besser sehen zu können, obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte. Durch das nahezu vollkommen geschlossene Blätterdach des Waldes drang nur sehr wenig Licht, sodass sie kaum mehr als Schemen wahrnahm; zwei ineinander verschlungene Leiber, die sich jetzt immer schneller und hektischer bewegten, im gleichen Maße, wie auch das Seufzen ihrer Mutter zunahm und Rahns Atemzüge schneller und schärfer wurden. Es war sonderbar. Der Anblick war Arri ebenso peinlich, wie er sie auch in den Bann schlug und es ihr fast unmöglich machte, sich von ihm zu lösen. Sie wollte das nicht sehen, nicht bei ihrer Mutter, und dennoch saugte sich ihr Blick beinahe gierig an jeder Bewegung fest, löste das, was sie eigentlich viel mehr erahnte als sah, doch eine sonderbare Sehnsucht in ihr aus; ein Sehnen nach etwas, das sie gar

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nicht kannte und auf das sie doch zeit ihres Lebens gewartet hatte, ohne es bis zu diesem Moment auch nur zu wissen. Nach jener Nacht, in der sie Lea und Rahn überrascht hatte, hatte ihre Mutter ihr geduldig und in aller Ausführlichkeit erklärt, was sie da eigentlich gesehen hatte, und sie hatte geglaubt, es auch verstanden zu haben. Aber das stimmte nicht. Sie hatte die Worte verstanden, aber nicht, was sie bedeuteten. Jetzt verstand sie es, aber zugleich wuchs ihre Verstörtheit ins Unermessliche. Was sie sah, wurde ihr mit jedem Atemzug peinlicher, aber auch das Sehnen und Wünschen in ihr nahm zu; wenngleich auf eine erschreckende, verbotene Weise. Das Ringen stöhnender Schatten ging weiter, und plötzlich warf sich ihre Mutter herum, schob Rahn von sich und glitt mit einer fließenden Bewegung hoch, bis sie rittlings auf ihm saß und mit einem Seufzen, das schon fast wie ein kleiner Schrei klang, den Kopf in den Nacken warf. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der irgendwo zwischen höchster Verzückung und abgrundtiefer Qual zu schwanken schien, aber sie hatte das Gesicht jetzt genau in Arris Richtung gedreht, und wenn sie die Augen auch nur um einen winzigen Spalt öffnete, dann musste sie sie einfach sehen. Vorsichtig ließ Arri den Zweig wieder an seinen Platz zurückgleiten, bewegte sich dann in der Hocke zwei, drei Schritte weit zurück und stand lautlos auf - was im Grunde wenig Sinn ergab, denn Leas Keuchen und Seufzen musste mittlerweile weithin hörbar sein -, und sie wich auch dann noch einmal ein gutes Stück auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem zurück, bevor sie es auch nur wagte, sich umzudrehen und hörbar aufzuatmen. Ihre Wangen glühten, und ihr Herz schlug als bitterer, harter Kloß direkt in ihrem Hals. All ihre Gedanken und Gefühle befanden sich in hellem Aufruhr. Sie wollte nur noch weg von hier, so weit und so schnell weg, wie sie nur konnte, aber zugleich wurde die Faszination des Verbotenen, Verruchten, das sie gesehen und getan hatte, immer stärker. Sie musste… … ihre Mutter und Rahn warnen. Sarn und sein Führer konnten

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nicht mehr allzu weit entfernt sein, und es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis sie Rahn und ihre Mutter hörten. Arri hätte selbst nicht sagen können warum, aber sie wusste einfach, dass es zu einer Katastrophe führen würde, wenn Sarn Lea und den Fischer miteinander sah. Sie drehte sich vollends herum, und ein eisiger Schauer rann ihr über den Rücken, als ihr klar wurde, dass Sarn sie unweigerlich finden musste und dass niemand anderes als sie daran schuld war. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass Grahl der Spur ihrer Mutter folgen würde. Aber das war gar nicht mehr nötig. In ihrem Bemühen, ihre Mutter möglichst schnell zu finden und zu warnen, war sie vollkommen rücksichtslos durch Gestrüpp und Unterholz gebrochen und hatte ihrerseits eine Fährte hinterlassen, wie sie breiter und auffälliger kaum sein konnte. Der Jäger musste schon blind sein, um die Spur aus zertrampeltem Moos, abgebrochenen Ästen und geknickten Zweigen zu übersehen, die ihren Weg hierher markierte. Arris Gedanken überschlugen sich. Sie wusste nicht, wie weit Grahl und der Dorfälteste noch hinter ihr waren, doch es konnte nicht mehr allzu weit sein. Was sollte sie tun? Sie spielte mit dem Gedanken, ihre Mutter und Rahn zu warnen. Aber es war tatsächlich nur ihr allererster Gedanke. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Mutter mit der Situation fertig werden würde und nötigenfalls auch mit Grahl und dem Schamanen -, aber das Allerletzte, was ihre Mutter jetzt gebrauchen konnte, war eine weitere, offene Konfrontation mit Sarn. Und letzten Endes war sie nicht ganz unschuldig daran, dass es überhaupt so weit gekommen war. Warum hatte sie nicht viel früher reagiert und Sarn und den Jäger aufgehalten oder irgendwie abgelenkt, noch bevor sie überhaupt die Verfolgung ihrer Mutter aufgenommen hatte? Arri warf einen raschen, fast gequälten Blick über die Schulter auf das Gebüsch zurück, hinter dem noch immer die keuchenden Atemzüge Rahns und ihrer Mutter hörbar waren, dann kam sie zu einem Entschluss. Rasch wandte sie sich um und ging auf ihrer eigenen Spur zurück, die die ihrer Mutter tatsächlich zum größten Teil überdeckte und fast unkenntlich machte.

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Sie musste nicht allzu weit gehen. Schon nachdem sie zwei oder drei Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, hörte sie vor sich Geräusche - das Brechen von Zweigen, Schritte auf dem weichen, mit Moos bedeckten federnden Boden und eine gedämpfte, misstönende Stimme, die sie zweifelsfrei als die des Schamanen erkannte. Arri erschrak. Hatte sie so lange dagesessen und ihre Mutter und Rahn beobachtet? Ihr blieb keine Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Ein Schatten tauchte vor ihr auf und wurde zu der breitschultrigen Gestalt des Jägers, zu der sich nur einen Augenblick später auch der Schamane gesellte. Arri hätte nicht sagen können, wer von beiden erschrockener war, aber Sarn sah eindeutig zornig aus, kaum, dass er sie erkannt hatte. Abrupt verhielt er mitten im Schritt, zog die Augenbrauen zusammen und fuhr sie übergangslos an: »Was suchst du hier? Wo ist deine Mutter?« Es lag Arri auf der Zunge zu antworten, dass ihn das nichts angehe, doch sie beherrschte sich im letzten Moment. Sarn war auch jetzt schon wütend genug, ohne dass sie ihn noch weiter reizen musste. »Ich suche sie ebenfalls«, antwortete sie, die Überraschte spielend. »Ich dachte, sie wäre hier, aber ich habe sie nicht gefunden.« Sie machte eine Kopfbewegung in den Wald hinter sich und sprach ganz bewusst mit leicht veränderter Stimme weiter; nicht einmal wirklich lauter, aber in jener hellen, durchdringenden Tonlage, vor der ihre Mutter sie eindringlich gewarnt hatte, weil man sie ganz besonders weit hörte, selbst wenn man nicht besonders laut sprach. Wenn ihre Mutter nicht ganz in einem Strudel aus Leidenschaft versunken war, würde sie ihre Stimme hören und entsprechend handeln. Unglückseligerweise war Arri sich in diesem Fall ganz und gar nicht sicher, was ihre Mutter unter entsprechend handeln verstehen würde, wenn sie begriff, dass Sarn und der Jäger ihr nachgeschlichen waren. Oder auch ihre eigene Tochter… Doch sie hatte gar keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen. »Der Wald wird dort hinten immer dichter«, fuhr sie fort. »Ich hatte Angst, mich zu verirren. Außerdem ist es hier sumpfig.« Sie zögerte

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einen ganz kurzen, genau berechneten Moment und fuhr mit einem schiefen Lächeln fort: »Und es ist… seltsam hier. Meine Mutter hat mir erzählt, dass es hier Ungeheuer und böse Geister gibt.« Sarn zog eine Grimasse. »Ja, das sagt man«, murmelte er. Das misstrauische Funkeln in seinen vom Alter trüb gewordenen Augen legte sich kein bisschen. »Aber wenn es so ist, dann frage ich mich, was deine Mutter hier verloren hat. Es sei denn, sie ist mit diesen bösen Geistern im Bunde.« Arri lächelte unerschütterlich weiter. Grahl sagte gar nichts, aber sein Blick tastete aufmerksamer und misstrauisch das Dunkel hinter ihr ab. »Sie wollte in den Wald gehen, um Kräuter zu suchen«, sagte sie. »Es sind eine Menge Verletzter zu versorgen, und sie muss neue Medizin herstellen.« »Und die sucht sie ausgerechnet hier, im Verbotenen Wald?«, fragte Sarn misstrauisch. Arri zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich finde sie hier, aber ich habe ihre Spur verloren.« Sie ließ abermals eine winzige Zeitspanne verstreichen und fügte dann in leicht schuldbewusstem Ton hinzu: »Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Weiter als bis zur Lichtung sind wir eigentlich nie gegangen. Meiner Mutter ist dieser Wald auch nicht geheuer.« Grahls Gesichtsausdruck nach zu schließen erging es ihm ganz genauso, und auch Sarn wirkte unruhig, auch wenn Arri nicht sicher war, ob es nicht zum allergrößten Teil Zorn war, den sie in seinen Augen las. Ihr fiel allerdings auch noch etwas auf: als sie das Wort Spur aussprach, wurde Grahls Blick eindeutig misstrauischer. Seine Augen tasteten sich an der tatsächlich schwer übersehbaren Fährte entlang, die Arri selbst hinterlassen hatte, und für einen winzigen Moment erschien ein sehr nachdenklicher Ausdruck darin. Dann aber wandte er zu ihrer Erleichterung den Blick ab, zuckte mit den Achseln und starrte sie an. Er gab sich Mühe, möglichst gelangweilt zu wirken, aber im Grunde, das spürte Arri, war ihm die Situation einfach nur unangenehm. »Du lügst doch, du unverschämtes Balg«, behauptete Sarn. »Jetzt sag die Wahrheit! Was sucht deine Mutter, die Hexe, gerade hier?«

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»Kräuter«, antwortete Arri mit einer Ruhe, die sie selbst überraschte. Aber obwohl sie wusste, dass es nicht besonders klug war, konnte sie nicht anders, als hinzuzufügen: »Sie braucht eine Menge Heilkräuter, um den Menschen im Dorf zu helfen. Es sind so viele Verletzte, und sie ist ganz allein.« Sarn japste hörbar nach Luft und sah einen Moment lang so wütend aus, dass Arri allen Ernstes darauf wartete, dass er sich auf sie stürzte und sie schlug, während Grahl einen Atemzug lang einfach nur verblüfft wirkte und dann alle Mühe hatte, nicht breit zu grinsen. Vielleicht war es an der Zeit, die Wogen wieder ein wenig zu glätten. »Du könntest mir helfen, nach meiner Mutter zu suchen«, wandte sie sich direkt an den Jäger. »Je schneller sie im Dorf ist, desto rascher kann sie ein neues Heilmittel herstellen, um die Verwundeten zu versorgen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Grahls Hände, auf denen eine ganze Anzahl hässlicher, frischer Brandblasen glänzten. »Du hast ja auch etwas abgekriegt, wie ich sehe.« »Ja, und es ist nur Mardans Gnade zu verdanken, dass es nicht noch mehr und schlimmere Opfer gegeben hat«, lamentierte Sarn. »Wir alle hätten zu Tode kommen können, nur weil deine Mutter ihr Gift in die Köpfe zweier kranker Männer gepflanzt hat.« Er fuchtelte aufgebracht mit seinem Stab herum, wie um seinen auf so abrupte Weise unterbrochenen Auftritt von vergangener Nacht fortzusetzen, und Arri wich unauffällig einen halben Schritt zurück, nur falls er etwa auf die Idee käme, erneut mit seinem Stock auf sie loszugehen. »Wenn du wirklich nach deiner Mutter suchst, warum rufst du nicht einfach nach ihr?«, erkundigte sich Grahl. Er sah sie an, als wolle er ihr unauffällig etwas signalisieren, aber sie verstand nicht, was. Hatte er das etwa nur gesagt, um sie zu unterbrechen und sie auf diese Weise zu beschützen? Seltsam - sie war in den letzten Tagen der Meinung gewesen, dass Grahl vollkommen auf Sarns Seite stand. Aber vielleicht bildete sie sich auch nur ein, etwas zu sehen, was sie unbedingt sehen wollte. »Ich… ich weiß nicht«, sagte sie ausweichend. Das verlegene Lächeln, das sich dabei auf ihr Gesicht schlich, musste sie nicht schau-

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spielern. »Ich meine… meine Mutter hat mir verboten, in diesen Teil des Waldes zu gehen und… und vielleicht gibt es hier ja tatsächlich Geister und… und andere Dinge. Dinge, die man besser nicht weckt.« Sarn machte ein verächtliches Geräusch. »Vielleicht treibt sie hier aber auch nur Dinge, die niemand von uns sehen soll«, sagte er böse, womit er der Wahrheit ziemlich nahe kam, wenn auch in vollkommen anderem Sinne, als er annehmen mochte. Wieder war es zu ihrem Erstaunen Grahl, der ihr zu Hilfe kam. »Vielleicht hat das Mädchen Recht.« Sarn schenkte ihm einen bösen Blick, doch der Jäger fuhr mit einem verkrampften Lächeln fort. »Es stimmt, was man sich über diesen Wald erzählt. Hier geschehen seltsame Dinge. Ich selbst habe des Nachts unheimliche Lichter gesehen, die zwischen den Bäumen brannten. Und man sagt, dass gefährliche Kreaturen ihr Unwesen treiben, die einen in den Sumpf locken, bis man im Morast versinkt und erbärmlich verreckt. Wir sollten… vielleicht nicht weitergehen.« »Hast du Angst?«, fragte Sarn verächtlich. »Jeder Jäger weiß, dass es Momente gibt, in denen man mit Vorsicht weiterkommt statt mit falschem Mut.« Grahl machte eine unschlüssige Geste an Arri vorbei. »Es ist schwer, bei diesem Licht einer Spur zu folgen.« Sarns Gesicht wurde noch missmutiger, und Arri fragte sich, ob der Jäger den Bogen nicht überspannte. Die Spur, die sie selbst in den Wald getrampelt hatte, war so breit, dass selbst Sarn sie sehen musste. Dennoch nickte er schließlich widerwillig. »Also gut«, sagte er. »Aber damit ist die Sache nicht erledigt. Sag deiner Mutter, dass ich mit ihr zu sprechen habe. Noch heute.« Arri schluckte die patzige Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag, und beließ es bei einem bloßen trotzigen Blick; schon, weil Sarn dies vermutlich von ihr erwartete und allerhöchstem misstrauisch werden würde, wenn sie plötzlich zu gefügig wurde. Sarn drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort, und auch Grahl schloss sich ihm an, allerdings nicht, ohne Arri noch einen weiteren dieser sonderbaren Blicke zugeworfen zu haben. Arri sah

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ihm sehr nachdenklich hinterher. Sie wurde nicht schlau aus dem Jäger. Er gehörte zu den Wenigen im Dorf, zu denen ihre Mutter bisher ein einigermaßen gutes Verhältnis gehabt hatte. Selbst nach Krons Unglück hatte er sich mehr oder weniger offen auf ihre Seite gestellt, und nun schien er erst Sarns treuester Verbündeter zu sein, um dann in gleichem Maße doch wieder von ihm abzurücken. Wenigstens hatte sie das bis vor ein paar Augenblicken noch gedacht. Es war verwirrend. Der Machtkampf, der zwischen ihrer Mutter und dem Schamanen seit dem Tag ihrer Ankunft im Dorf tobte, war nun ganz offen ausgebrochen, aber er wurde anscheinend nach sehr viel undurchsichtigeren Regeln ausgetragen, als Arri verstand. Vielleicht wollte sie sie auch gar nicht verstehen. Sie wartete, bis sie ganz sicher war, dass die beiden auch wirklich gegangen waren und sich nicht etwa nur ein paar Schritte weit entfernt hatten, um sie zu beobachten; dann drehte sie sich um, machte einen einzelnen Schritt und blieb dann wieder stehen. Ein ärgerlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie das Knacken eines Zweiges hinter sich vernahm, aber dieser Ärger galt ausschließlich ihr selbst. Sie war sicher gewesen, dass Sarn und der Jäger tatsächlich gegangen waren, aber ganz offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Sie war zu vertrauensselig - auch sich selbst gegenüber - und was sie über ihre Mutter gedacht hatte, das schien für sie selbst erst recht zu gelten: Sie begann Fehler zu machen. Und das war nicht gut. Ärgerlich fuhr sie auf dem Absatz herum… … und riss erstaunt die Augen auf. Nur wenige Schritte hinter ihr war tatsächlich eine Gestalt hinter einem Baum hervorgetreten, aber es war weder Sarn noch der Jäger, sondern… »Rahn?«, murmelte sie überrascht. »Was… ich meine wie…« Sie brach ab, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. »Was tust du denn hier?«, fragte sie schließlich. Die Frage schien Rahn zu überraschen. »Das, was deine Mutter mir aufgetragen hat«, antwortete er. »Ich passe auf, dass dir nichts pas-

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siert.« Arri starrte ihn nur weiter an, und das offenbar so verständnislos, dass Rahn sich genötigt sah, einen Schritt auf sie zuzutreten und mit einer erklärenden Geste in die Richtung fortzufahren, in die Grahl und der Schamane verschwunden waren. »Ich war die ganze Zeit in deiner Nähe, keine Angst. Wenn Grahl auch nur versucht hätte, dir ein Haar zu krümmen…« Er überließ es ihrer Phantasie, sich auszumalen, was dann geschehen wäre, legte den Kopf schräg und fuhr fort: »Ich dachte nur, es wäre besser, wenn ich mich nicht zeige.« »Du… du warst… die ganze Zeit über hier?«, vergewisserte sich Arri. »Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Rahn. »Eigentlich hätte er mich hören müssen, unser großer Jäger und Spurenleser. Vielleicht ist es mit seinen Fähigkeiten ja doch nicht so weit her, wie er immer behauptet.« Er lachte leise. »Wer weiß - vielleicht ist das ja auch der Grund, aus dem er sich plötzlich so bei Sarn Liebkind macht.« Und was ist der Grund, aus dem du dich bei meiner Mutter Liebkind machst?, dachte Arri. Sie sprach es nicht aus - sie war ja schließlich nicht verrückt -, aber Rahn bemerkte immerhin ihr Schweigen, auch wenn er es falsch deutete. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.« Er klang ein wenig beleidigt. »Deine Mutter hat mir aufgetragen, auf dich Acht zu geben, und das tue ich.« Ein schmutziges Grinsen erschien auf seinem Gesicht, und Arri bemerkte erst jetzt, dass er einen fast armlangen Knüppel in der rechten Hand hielt, den er jetzt schwungvoll in die geöffnete Linke klatschen ließ. Dennoch fiel es ihr schwer, sich auf Rahns Worte zu konzentrieren. »Und du warst wirklich die ganze Zeit über in meiner Nähe?«, vergewisserte sie sich. »Ja«, behauptete Rahn unwillig, schlug sich noch einmal mit dem Stock in die geöffnete Linke und schränkte dann ein: »Beinahe, jedenfalls. Ich habe gesehen, wie du im Wald verschwunden bist, und dann sind Grahl und der Dorfälteste dir nach. Also habe ich sie verfolgt.« Arri spürte, dass er die Wahrheit sagte. Aber wenn es so war, dach-

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te sie verwirrt - dann erklärte es vielleicht, wessen Schatten ihr in der Nähe des Heiligtums einen Schrecken eingejagt hatte. Aber wer war dann der Mann, den sie gerade zusammen mit ihrer Mutter gesehen hatte?

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14 Ihre Mutter kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück, und sie war weder in einer Stimmung, in der es Arri angeraten schien, sie auf die Ereignisse vom Nachmittag anzusprechen, noch hätte sich die Gelegenheit dazu ergeben. Achk war zurück und hatte sie während der ganzen Zeit, die sie gemeinsam auf Leas Rückkehr gewartet hatten, aufs Übelste beschimpft, weil sie ihm nichts zu essen gegeben hätte - was nicht stimmte. Arri hatte aufgetragen, was sie im Haus hatten - einen erst gestern von Grahl erlegten und von ihrer Mutter bereits angebratenen Hasen, frische Möhren und Erbsen aus ihrem Garten und zwei dünne Scheiben Fladenbrot - und Achk hatte gut die Hälfte davon in sich hineingestopft, bevor er zuerst behauptet hatte, es sei ungenießbar, und nur wenige Augenblicke später, sie wolle ihn mit dem »bereits stinkenden Hasenfleisch« vergiften. Und kaum war ihre Mutter zurück, erdreistete er sich sogar zu der Lüge, sie hätte ihm gar nichts zu essen gegeben. Arri setzte zu einem geharnischten Protest an, aber ihre Mutter ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen, sondern brachte sie mit einem ebenso stummen wie vorwurfsvollen Blick zum Schweigen und ging wieder hinaus, um aus der verbliebenen Hasenkeule und dem, was Arris Garten hergab, eine Mahlzeit für den Blinden zuzubereiten. Arri war empört. Dass Achk sich so benahm, wie er sich nun einmal benahm, überraschte sie nicht wirklich; der Alte war nun einmal verrückt und hatte allenfalls in der vergangenen Nacht so etwas wie einen lichten Moment gehabt. Aber dass ihre Mutter ihr nicht einmal die Gelegenheit gab, sich zu verteidigen, war einfach ungerecht. Hatte sie selbst ihr nicht immer und immer wieder erklärt, dass Gerechtigkeit vielleicht das Höchste aller Güter war, beinahe so wertvoll wie Freiheit, und vielleicht sogar wertvoller, denn wie konnte es Freiheit ohne Gerechtigkeit geben? Für eine - nicht allzu lange - Zeit saß sie einfach nur da und starrte wütend abwechselnd den blinden Schmied und die Tür an, durch die ihre Mutter verschwunden war, dann aber sprang sie auf und folgte ihr. Achk rief ihr irgendeine Beleidigung hinterher, auf die sie gar

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nicht mehr achtete. Ihre Füße berührten nur zwei der fünf Stufen, bevor sie den Boden erreichte und sich mit weit ausgreifenden, fast schon rennenden Schritten dorthin wandte, wo sie ihre Mutter hantieren hörte. Sie fand Lea in dem kleinen Verschlag hinter dem Haus, in dem sie seit vergangener Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatte, um in der Hütte Platz für ihren (zumindest so weit es Arri betraf) unwillkommenen Gast zu schaffen. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und schien etwas zu suchen. Ihre Bewegungen waren hektisch und fahrig. »Wenn du das übrig gebliebene Essen von gestern suchst, dann spar dir die Mühe«, sagte Arri zornig. »Es ist nicht mehr da.« Lea drehte mit einem so wutentbrannten Ruck den Kopf, dass Arri einen erschrockenen Schritt zurückwich, bevor ihr wieder einfiel, warum sie eigentlich gekommen war. »Dein neuer Freund hat es gegessen«, sagte sie. »Kurz bevor du gekommen bist.« Ihre Mutter schwieg dazu. Arri versuchte vergebens in ihrem Gesicht zu lesen. Es war zu dunkel dazu. Aber sie konnte den Aufruhr, der hinter ihrer Stirn tobte, regelrecht spüren, und das war seltsam. Nach dem, was sie vorhin mit angesehen hatte, hätte sie erwartet, sie glücklich zu sehen, oder zumindest zufrieden, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Ihre Mutter war so aufgewühlt, dass es sie große Kraft zu kosten schien, sie nicht anzuschreien. Irgendetwas war geschehen, nachdem Arri sie draußen im Wald aus den Augen verloren hatte. Wusste sie vielleicht, dass Arri sie und den Unbekannten hinter den Büschen gesehen hatte? »Er sagt, er sei hungrig.« Leas Stimme klang schleppend, als fiele es ihr schwer, sich auf die Antwort zu konzentrieren. »Er hat gelogen«, sagte Arri. »Er ist ein böser alter Mann. Wie lange muss er noch bei uns bleiben? Er beschimpft mich unentwegt, und er lügt.« »Er ist ein verbitterter alter Mann, dem wehgetan wurde«, antwortete Lea unerwartet sanft. »Und deshalb tut er anderen weh.« »Er ist ein Lügner«, beharrte Arri. Sie war nicht bereit, irgendwelche Einwände zu Achks Gunsten zu akzeptieren. Noch einmal: »Wie lange bleibt er bei uns?«

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»So lange es nötig ist«, antwortete Lea. Ihre Augen funkelten aus dem Halbschatten heraus, in dem ihr Gesicht verborgen lag. Sie versuchte Schärfe in ihre Stimme zu legen, aber es gelang ihr nicht. »Er braucht Hilfe. Wir können sie ihm geben, also geben wir sie ihm.« »Warum?«, fragte Arri feindselig. »Weil du glaubst, ihm etwas schuldig zu sein!« »Weil ich ihm etwas schuldig bin«, antwortete Lea betont, schüttelte aber zugleich den Kopf. »Aber das spielt keine Rolle. Ich würde ihm auch helfen, wenn ich ihm nichts schuldig wäre. Weil es das ist, was uns von diesen Menschen hier unterscheidet, weißt du?« Noch gestern hätten Arri diese Worte vermutlich beeindruckt oder doch zumindest nachdenklich gestimmt, aber jetzt machten sie sie nur noch zorniger. »Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er schlecht riecht, verrücktes Zeug brabbelt und überall seinen Dreck hinterlässt, wenn er mich nicht gerade belügt oder mir Beschimpfungen hinterher ruft.« »Naja, zumindest sind es keine anzüglichen Blicke«, sagte Lea kühl. »Du willst mir nicht erzählen, dass dich die Worte eines harmlosen alten Mannes wirklich treffen.« Sie zog die Augenbrauen zusammen und wartete vergebens auf eine Antwort. »Er wird nicht mehr lange bleiben«, fuhr sie fort. »Nur noch wenige Tage… bis Rahn die Schmiede wieder aufgebaut hat…« »Rahn«, unterbrach Arri sie scharf, »wird kaum Zeit haben, um die Schmiede wieder aufzubauen. Er ist voll und ganz damit beschäftigt, den ganzen Tag lang hinter mir herzuschnüffeln. Sollte er sich nicht besser um seine schuppigen Brüder und Schwestern kümmern, die sich in der Zella tummeln?« »Rahn schnüffelt dir nicht hinterher«, antwortete Lea sanft. »Ich habe ihn gebeten, auf dich aufzupassen, wenn ich nicht da bin.« »Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst«, protestierte Arri. Es gelang ihr einfach nicht, ihre Mutter aus der Ruhe zu bringen, und das machte sie noch wütender. »Ich weiß«, gab Lea zu. »Aber vielleicht brauche ich jemanden, der mir Rahn vom Leib hält. Wenigstens dann und wann.« Ja, und ich kann mir auch denken, warum, dachte Arri böse. Sie

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behielt diesen Gedanken vorsichtshalber für sich, aber ihre Mutter schien trotzdem zu spüren, dass sie aus diesen Worten etwas anderes heraushörte als das, was sie eigentlich gemeint hatte, denn ihr Stirnrunzeln vertiefte sich noch, und sie trat vollends aus der Tür heraus und hob die Hand, um sie an der Schulter zu berühren. Arri prallte einen halben Schritt zurück. Sie wusste selbst nicht, warum sie das getan hatte, aber ihr Herz klopfte, und ihre Hände zitterten plötzlich so stark, dass sie sie zu Fäusten ballen musste, um es zu verbergen. »Was ist los mit dir, Liebling?« Lea ließ den Arm wieder sinken, aber ihre Stimme wurde hörbar sanfter, und aus dem ungeduldigen Zorn auf ihrem Gesicht wurden Betroffenheit und Sorge. »Stimmt etwas nicht?« Ob etwas nicht stimmte? Wäre Arri nicht schier zum Heulen zumute gewesen, sie hätte vermutlich laut aufgelacht. Nichts stimmte mehr. Ihr Leben war aus den Fugen geraten, und das gründlicher und schneller, als sie es sich vor wenigen Tagen auch nur hätte vorstellen können. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Sie war nicht die, für die sie sich gehalten hatte. Ihre Zukunft - das ganze Leben, das noch vor ihr lag - würde vollkommen anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Ihre Mutter war nicht die, für die sie sie gehalten hatte. Nichts von dem war vielleicht jemals so gewesen, wie sie geglaubt hatte, aber das war ihr einerlei, und es war ihr in diesem Moment auch vollkommen gleichgültig, ob sie etwas daran ändern konnte oder nicht. Sie wollte ihr altes Leben wieder haben, und sie wollte vor allem ihre alte Mutter wieder haben. Sie war doch alles, was sie überhaupt besaß! »Ich verstehe dich so gut, mein armer Liebling«, fuhr Lea nach einer Weile fort, noch immer in diesem sonderbar sanften Ton, der Arri immer wütender machte, obwohl sie nicht einmal wusste, warum. Sie setzte erneut dazu an, die Hand nach ihr auszustrecken, brach die Bewegung aber dann schon im Ansatz ab, vielleicht, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, abermals ausweichen zu müssen. Ein Ausdruck vager Trauer erschien jetzt auf ihrem Gesicht.

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»Ich wollte, ich könnte dir helfen, aber das kann ich nicht«, fuhr sie fort. »Das ist etwas, was du ganz allein durchstehen musst.« »Was?«, fragte Arri. Die Feindseligkeit in ihrer Stimme erschreckte sie selbst, auch wenn sie allmählich begriff, dass dieses aus Hilflosigkeit geborene Gefühl in viel stärkerem Maße ihr selbst galt als ihrer Mutter. Sie war zornig, wütend wie noch nie zuvor in ihrem Leben, und sie wusste nicht einmal warum oder gar worauf. »Die Zeit, die jetzt vor dir liegt«, antwortete ihre Mutter. »Es ist eine Zeit der Veränderungen, für dich in viel stärkerem Maße als für mich.« Arri sah ihre Mutter völlig verständnislos an, und Lea fuhr fort: »Du hast es mir vielleicht noch nicht verziehen, aber indem ich behauptet habe, du seist zwei Jahre jünger als du wirklich bist, habe ich dir diese zwei Jahre geschenkt. Jetzt ist diese Schonfrist abgelaufen. Künftig wirst du als eine Erwachsene behandelt werden, ob du das nun möchtest oder nicht.« »Ich wusste nicht, was sich dadurch ändern sollte!« Lea lächelte leicht und auf eine Weise, die Arris Trotz vollends entfachte. »Du wirst anfangen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Du hast schon damit angefangen, habe ich Recht? Plötzlich ist alles anders, und du verstehst das nicht. Du beginnst zu zweifeln, an allem und jedem, sogar an mir. Vielleicht wirst du mich sogar hassen, für eine gewisse Zeit. Das ist vollkommen in Ordnung - so lange du die Grenzen des Anstands dabei nicht überschreitest.« »Und wenn ich das nicht will?« »Auch das ist ganz in Ordnung«, erwiderte ihre Mutter sanft. »Jeder fürchtet sich vor einer Veränderung, weil es leichter ist, an dem festzuhalten, was man kennt, statt sich dem Neuen zu stellen. Aber es geht nicht. Du kannst die Zeit nicht festhalten, ganz gleich, wie sehr du es auch versuchst.« Sie kam nun doch näher, legte den Arm um Arris Schultern und drückte sie sanft an sich. Im allerersten Moment versteifte sich Arri unter ihrer Berührung, denn sie war ihr fast schon unangenehm. Um ein Haar hätte sie den Arm ihrer Mutter abgeschüttelt, auch wenn ihr klar war, wie sehr sie sie damit verletzen musste. Aber dann erinnerte sie sich, dass diese Berührung nicht unangenehm sein sollte; ganz im

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Gegenteil. Die Umarmungen ihrer Mutter waren immer etwas ganz Besonderes für sie gewesen; vielleicht gerade, weil sie so selten waren und dadurch zu einem kostbaren Gut wurden, das sie möglichst lange festzuhalten trachtete. Obwohl ihr klar war, dass es nicht stimmen konnte, meinte sie sich an jede einzelne davon zu erinnern: Augenblicke voller köstlicher Wärme, in denen sie sich geborgen und sicher gefühlt hatte wie sonst niemals und von denen sie sich gewünscht hatte, sie mochten niemals enden. »Das alles ist jetzt neu und verwirrend für dich«, fuhr Lea fort, »und es muss dich erschrecken, aber es ist nun einmal der Lauf der Natur. Keiner von uns hat die Macht, sie zu ändern.« »Dann ist es dir… auch so ergangen?«, fragte Arri zögernd. Sie wusste nicht, warum, aber während sie diese Worte aussprach, schienen sie wiederum das Bild vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören, das sie am Nachmittag gesehen hatte: ihre Mutter, deren Beine den Leib des Mannes umklammerten, den sie für Rahn gehalten hatte, während sich ihre Fingernägel in seinen Rücken gruben und sie stöhnend den Kopf hin und her warf. Diesmal war ihr die Erinnerung nicht peinlich, sie fand die bloße Vorstellung abstoßend; als wäre das, was sie bei so vielen anderen mehr oder auch weniger heimlich beobachtet hatte, etwas vollkommen anderes und Unnatürliches, nur weil ihre Mutter es tat. Lea lachte leise, bevor sie antwortete, als hätte sie eine ganz besonders naive Frage gestellt, aber es war nichts Verletzendes oder gar Abfälliges an diesem Lachen. »Natürlich. Jedermann macht es durch, auf die eine oder andere Weise.« »Und wie… wie bist du damit umgegangen?«, fragte sie zögernd. Diesmal verging spürbar etwas Zeit, bevor Lea antwortete, und ihre Stimme nahm einen sonderbaren, fast melancholischen Klang an. »Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch erinnere. Ich glaube, ich war ziemlich unausstehlich, damals.« »Also so wie heute?«, neckte sie Arri. »Schlimmer«, antwortete Lea ernst. »Ich glaube, es gab ein paar Jahre, in denen ich meine ganze Umgebung fast in den Wahnsinn

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getrieben habe.« Sie entfernte sich mit langsamen Schritten von der Hütte, und da ihr Arm noch immer auf Arris Schulter lag, musste diese der Bewegung folgen, ob sie nun wollte oder nicht. »Aber ich fürchte, nicht das ist unser Problem. Es sieht eher so aus, als würden wir beide zusammen Sarn in den Wahnsinn treiben. Denn ob er will oder nicht - wir werden einen Weg finden, um bis zum Frühjahr hier zu bleiben, das verspreche ich dir.« Während der nächsten beiden Tage geschah genau das, was Arri erwartet hatte: nämlich gar nichts. Ihre Mutter ging noch zwei- oder dreimal in den Wald, ohne sich die Mühe zu machen, sie über ihre Ziele aufzuklären oder ihr auch nur zu sagen, wann sie zurückkommen würde, und Arri ergab sich nach anfänglichem Murren in ihr Schicksal, das im Großen und Ganzen darin bestand, in der Hütte zu bleiben und Achks Beschimpfungen und Willkürlichkeiten zu ertragen. Auch was sie über die Schmiede prophezeit hatte, erwies sich als nur zu wahr: Rahn rührte keinen Finger, um sie wieder aufzubauen, und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, am Waldrand herumzulungern und Leas Hütte zu beobachten; das Fischen hatte er offensichtlich ganz aufgegeben und den Einbaum auf Dauer trockengelegt, was mehr als merkwürdig war, da Sarn so etwas unter gewöhnlichen Umständen niemals geduldet hätte. Im Dorf herrschte eine sonderbare Stille, was aber vielleicht an der Jahreszeit lag. Alles, was auch nur halbwegs gehen und krauchen konnte und zu keinen anderen Arbeiten eingeteilt war, machte sich den Rücken mit der Ernte der letzten Felder krumm, die - Arris Mutter sei Dank - auch dieses Jahr wieder prächtig ausfallen würde. Nur ein einziges Mal kam Lea mit finsterem Gesicht aus dem Dorf zurück. Sie sagte nichts, aber sie strahlte einen solchen Zorn aus, dass Arri auch nicht fragen musste, um zu wissen, dass sie wieder einmal mit Sarn gestritten hatte. Am dritten Morgen weckte sie ihre Mutter ungewöhnlich früh noch deutlich vor Sonnenaufgang - und auf noch ungewöhnlichere Weise: Was sie weckte, war Leas Hand, die sich auf ihren Mund legte, und das Erste, was sie sah, als sie müde die Augen öffnete, war Leas andere Hand, deren ausgestreckter Zeigefinger über ihren Lip-

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pen lag und ihr auf diese Weise bedeutete, möglichst still zu sein. Arri deutete mit den Augen ein Nicken an, und ihre Mutter zog die Hand zurück, sodass sie wenigstens wieder atmen konnte, gab ihr aber mit einem Wink der anderen Hand noch einmal zu verstehen, dass sie nur keinen Laut machen solle. Arri stemmte sich umständlich auf die Ellbogen hoch und drehte unwillkürlich den Kopf, um nach Achk zu schauen. Der blinde Schmied lag zusammengerollt auf seiner Matratze am anderen Ende des Zimmers und schnarchte so laut, dass sich Arri fast wunderte, nicht allein davon wach geworden zu sein. Aber das musste nichts bedeuten. Schließlich hatte sie selbst erlebt, dass Achk ganz offensichtlich gleichzeitig zuhören und schnarchen konnte. Lautlos stand sie auf, schlüpfte in ihre Kleider und folgte ihrer Mutter. Lea hielt den Muschelvorhang zurück, damit es kein verräterisches Geräusch gab - Arri hatte niemals gelernt, so lautlos hindurchzuschlüpfen wie sie -, winkte ihr jedoch nur ungeduldig zu, als sie stehen bleiben und ihr einen fragenden Blick zuwerfen wollte. Erst als sie sich ein gutes Stück von der Hütte entfernt hatten - sicher aus der Hörweite der scharfen Ohren eines Blinden, schätzte Arri -, blieb sie wieder stehen. Sie wirkte übernächtigt und fahrig, als hätte sie in der zurückliegenden Nacht kein Auge zugetan, und Arri fiel erst jetzt auf, dass sie nicht nur ihr Schwert umgebunden hatte, sondern auch ihren warmen Kapuzenumhang trug. »Was ist los?«, begann sie. »Ist etwas geschehen?« »Nein«, antwortete Lea, eine Spur zu hastig für Arris Empfinden, und auch der schuldbewusste Ausdruck auf ihrem Gesicht besagte etwas anderes. Nach einem Moment zuckte sie unglücklich mit den Schultern und schränkte selbst ein: »Jedenfalls nichts Schlimmes. Ich… wollte dir nur etwas sagen.« »Und das ist so geheim, dass du mich mitten in der Nacht aus der Hütte schleifen musst«, murmelte Arri verschlafen. Lea warf einen bezeichnenden Blick in den Himmel hinauf. »Es ist zwar noch eine Weile hin bis Sonnenaufgang«, verbesserte sie sie, »aber nicht mitten in der Nacht. Und es ist nicht so geheim. Ich wollte Achk nur nicht wecken, das ist alles.«

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»Wie rücksichtsvoll von dir«, sagte Arri spöttisch. »Wo er doch ein so lieber Gast ist, den man gar nicht mehr missen möchte.« »Er ist vor allem ein alter Mann, der schon zu viele Enttäuschungen erlitten hat«, antwortete Lea ernst. »Noch eine weitere würde er vielleicht nicht verkraften. Deshalb ist es besser, wenn er nicht erfährt, was ich vorhabe.« »Und was wäre das?«, fragte Arri. Das ungute Gefühl in ihr wuchs im gleichen Maße, in dem sie richtig wach wurde und sich ihre Gedanken klärten. Sie war nicht einmal sicher, ob sie die Antwort auf ihre eigene Frage überhaupt hören wollte. »Ich muss für ein paar Tage weg«, antwortete Lea und fügte hastig hinzu: »Nicht allzu lange, keine Angst. In spätestens fünf, sechs Tagen bin ich zurück.« Nein, diese Antwort hatte sie wirklich nicht hören wollen; aber sie war im Grunde nicht einmal überrascht. Ihre Mutter hatte zwar versprochen, dafür zu sorgen, dass sie bis zum Frühjahr hier bleiben konnten, aber vielleicht glaubte sie ja selbst nicht daran und machte sich jetzt trotz aller gegenteiligen Bedenken daran, eine andere Bleibe für sie zu suchen. »Ich soll mich also die nächsten Tage um Achk kümmern…«, begann Arri aufgebracht. »Nicht allein«, unterbrach Lea sie hastig und im Tonfall einer Verteidigung. »Rahn wird dir helfen. Und auch Kron wird dann und wann vorbeischauen und dir zur Hand gehen, wenn es sein muss.« »Wenigstens zu einer Hand«, schimpfte Arri. »Wo willst du hin?« »Das Feuer hat alles zerstört«, antwortete Lea. »Achks Werkzeug, sein Erz, der Blasebalg… es ist alles weg. Jemand muss Ersatz besorgen.« Arri starrte ihre Mutter vollkommen fassungslos an. »Was soll das? Haben wir nichts Wichtigeres zu tun, als dafür zu sorgen, dass das Dorf wieder einen Schmied bekommt?« »Ich wüsste nicht, was im Augenblick wichtiger wäre«, sagte ihre Mutter kühl. »Ich werde jedenfalls alles daran setzen, meine - und damit auch deine! - Position bis zum Wintereinbruch zu stärken.« »Und dabei sollen dir ausgerechnet die zänkischen beiden Männer helfen?«, fragte Arri ungläubig. »Hast du vergessen, was beim letz-

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ten Mal geschehen ist?« »Nein, dass habe ich nicht, genauso wenig wie Sarn, der mit Sicherheit die Finger dabei im Spiel hatte.« Lea warf einen unruhigen Blick in die Runde, als fürchte sie, jemand könne sie belauschen. »Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt: Aber ich liefere mir einen erbitterten Kampf mit Sarn. Er will meine Position schwächen und ich sie stärken. Und letztlich geht es dabei um Nors Bedingung - und darum, dass ihn unser umtriebiger Schamane in diesem Punkt voll und ganz unterstützt. Es geht…« »Um mich«, beendete Arri den Satz ärgerlich. »Das habe ich schon verstanden.« Ihre Mutter brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Nicht nur um dich. Vielmehr um mein Schwert und alles, was damit zusammenhängt.« Sie wischte den nächsten Einwand Arris mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Lass mich nur machen. Ich habe einen Plan, und wenn der gelingt, dürfte es Nor kaum gelingen, uns in die Knie zu zwingen.« »Das ist ja alles schön und gut«, meinte Arri, »aber warum musst du selbst weggehen? Warum kann Rahn das nicht machen, wie das letzte Mal?« »Weil es nicht wie das letzte Mal ist.« In Leas Stimme war jetzt ein leicht ungeduldiger Klang, den Arri nur zu gut kannte. Dennoch beherrschte sie sich. »Das letzte Mal musste er nur ein paar Brocken Kupfererz, etwas Zinn und das notwendigste Werkzeug besorgen, und selbst da hat er so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann.« Sie schüttelte bekräftigend den Kopf. »Es ist nichts mehr davon da. Die Schmiede muss von Grund auf neu eingerichtet werden. Ich bin selbst nicht ganz sicher, dass ich dieser Aufgabe gewachsen bin. Rahn wäre jedenfalls hoffnungslos überfordert. Nein - ich muss selbst gehen.« »Dann komme ich mit!« »Das geht nicht«, erwiderte Lea. »Die Reise wäre viel zu anstrengend - und gefährlich. Und du würdest mich nur aufhalten. Ich bin viel schneller, wenn ich allein gehe.« »Du willst sagen, dass ich dir lästig wäre?«

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Sowohl Leas Stimme als auch ihr Gesicht wurden um mehrere Grade kühler. »Ich will sagen, dass ich keine Lust habe, mich mit dir auf irgendwelche Wortklaubereien einzulassen, Arianrhod.« Ihre linke Hand schmiegte sich um den Schwertgriff in ihrem Gürtel. »Du wirst hier bleiben«, fuhr sie in bestimmtem Ton fort. »Rahn wird dich beschützen, keine Angst.« »Rahn?«, vergewisserte sich Arri in abfälligem Ton. »Bist du sicher, dass wir von demselben Rahn sprechen?« »Er wird dich beschützen«, beharrte Lea. »Wenn es sein muss, mit seinem Leben - schon, weil ich ihm klargemacht habe, dass ich ihn persönlich für alles zur Rechenschaft ziehen werde, was immer dir in meiner Abwesenheit auch widerfährt. Du bleibst einfach im Haus, bis ich zurück bin. Sollten Sarn oder irgendeiner der anderen Ärger machen, wendest du dich an Rahn um Hilfe.« Arri spürte, dass es vollkommen sinnlos war, weitere Einwände anzubringen, aber sie versuchte es trotzdem. »Und wenn ich verspreche, dir nicht zur Last zu fallen?«, fragte sie. »Ich werde ganz still sein. Ich halte dich ganz bestimmt nicht auf!« »Das tust du bereits«, antwortete Lea gereizt. »Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten.« Sie nahm die Hand vom Schwert und seufzte. »Schade. Ich wollte es nicht so, aber wenn es denn sein muss, dann befehle ich dir, hier zu warten. Du wirrst tun, was nötig ist, und dich an Rahn und Kron wenden, wenn es Schwierigkeiten gibt.« Sie klang jetzt sehr bestimmt, zugleich aber auch enttäuscht, dass Arri nicht schneller einlenkte. »Und wann willst du los?«, fragte sie. »Heute«, antwortete Lea, zögerte einen Moment und verbesserte sich dann: »Jetzt.« »So schnell?« Warum überraschte sie das? Dieses Gespräch wäre vollkommen sinnlos, wollte sie nicht jetzt aufbrechen. »Ich möchte schon ein gutes Stück weg sein, wenn die anderen im Dorf wach werden.« Lea lachte heiser auf. »Ich glaube es zwar nicht, aber Sarn ist immer für eine Überraschung gut, und meist leider für eine schlechte. Ich möchte schon ein gutes Stück Weges hinter mich gebracht haben, bis er überhaupt merkt, dass ich weg bin.«

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»Soll ich dein Kleid anziehen und unauffällig auf und ab gehen, damit er denkt, du wärst noch hier?«, fragte Arri. Es sollte ein Scherz sein, aber sie spürte selbst, wie gründlich er schief ging. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte boshaft und verletzend. Leas Gesicht erstarrte endgültig zu Stein. Einen Moment lang blickte sie Arri noch mühsam beherrscht an, dann sagte sie ganz leise: »Ich bin so schnell zurück, wie ich kann«, drehte sich mit einem Ruck um und verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit. Eine Weile lauschte Arri noch auf das Geräusch ihrer Schritte, dann war auch das verklungen, und Arri war nicht nur allein, sie fühlte sich auch so, unendlich allein und vor allem allein gelassen. Auf eine Art einsam, die fast schon körperlich wehtat. Ihre Augen füllten sich mit brennender Hitze. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter wehgetan hatte, aber wieso begriff diese denn nicht, wie weh sie umgekehrt auch ihr tat? Fünf oder sechs Tage? Das kam ihr nicht nur so vor, das war eine Ewigkeit, länger als sie jemals zuvor allein gewesen war und das ausgerechnet jetzt! Ein paar Augenblicke lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, ihr einfach nachzugehen. Wenn sie erst weit genug vom Dorf entfernt waren, hatte ihre Mutter gar keine andere Wahl mehr, als sie mitzunehmen, wenn sie nicht einen gewaltigen Umweg in Kauf nehmen wollte. Aber ihr war auch fast sofort klar, wie närrisch dieser Gedanke war. Sie bildete sich nicht ernsthaft ein, ihrer Mutter womöglich den ganzen Tag nachschleichen zu können, ohne dass sie es merkte. Und sie kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie durchaus imstande wäre, kehrtzumachen und sie zurückzubringen, wenn sie nur wütend genug war. Sie blieb noch eine geraume Zeit reglos in der Dunkelheit stehen und sah in die Richtung, in der ihre Mutter verschwunden war, aber schließlich drehte sie sich um und ging mit hängenden Schultern zur Hütte zurück.

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15 Arri wäre nicht Arri gewesen, wenn sie das so einfach hingenommen hätte. Trotz aller Bedenken machte sie sich auf den Weg, um ihrer Mutter zu folgen. Nicht annähernd so leise wie Lea vorhin schlug sie den Vorhang beiseite und achtete diesmal auch nicht darauf, möglichst wenig Lärm auf der Stiege zu machen; wodurch sie Achk vermutlich endgültig weckte, dessen Schnarchen schon zuvor angefangen hatte, auffällig unregelmäßig zu werden. Aber dieses Problem löste sie kurzerhand, indem sie sich weit genug von der Hütte entfernte, um seine Stimme nicht hören zu können, wenn er mit seinen üblichen Nörgeleien begann. Erst in gut zwei Dutzend Schritten Entfernung zur Hütte blieb sie stehen und schlang fröstelnd die Arme um den Oberkörper - und erstarrte, als sie im Wald neben sich ein Geräusch hörte, das typische helle Knacken, mit dem ein trockener Ast unter einem unvorsichtigen Fuß zerbrach… Fast entsetzt fuhr sie herum. Und starrte in Rahns grinsendes Gesicht, während dieser vollends zwischen den Bäumen hervortrat. »Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?«, fuhr sie ihn an. »Wieso schleichst du dich an mich an?« Rahn kam näher und blieb gerade dicht genug vor ihr stehen, dass es ihr unangenehm war, und sie erkannte jetzt, dass sie sich getäuscht hatte. Sein Grinsen war noch viel breiter, als sie angenommen hatte. »Hat dir deine Mutter nicht gesagt, dass du nicht hierher kommen sollst?« »Ich kann gehen, wohin ich will«, antwortete Arri patzig. Die Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren einfach nur dumm. Rahn reagierte dann auch genau so, wie sie es sich eigentlich hätte denken können: Er griente noch breiter, verschränkte die Arme vor der Brust und maß sie mit einem langen, nicht anders als abfälligen Blick von Kopf bis Fuß, unter dem Arris Zorn noch weiter aufloderte. »Was fällt dir ein?«, fauchte sie. »Ich werde meiner Mutter sagen…«

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»Dass ich genau das tue, was sie mir aufgetragen hat?«, unterbrach sie Rahn kopfschüttelnd und mit schlecht geschauspielertem Bedauern auf dem Gesicht. »Nur zu. Sie wird sich bestimmt freuen, das zu hören.« Zu Arris Zorn gesellte sich ein Gefühl von Hilflosigkeit, das alles noch schlimmer machte. Am liebsten hätte sie die Fäuste gehoben und sich auf Rahn gestürzt, und nach allem, was ihre Mutter ihr in den vergangenen Wochen beigebracht und gezeigt hatte, hätte der Fischer möglicherweise eine unangenehme Überraschung erlebt. Aber sie war trotz allem noch klug genug zu wissen, dass sie diesem muskelbepackten Riesen nicht gewachsen wäre, wenn er es wirklich ernst meinte. Darüber hinaus war ihr klar, dass es vermutlich ganz genau das war, was Rahn mit seinem Benehmen zu erreichen versuchte. Sie weit genug zu reizen, damit sie etwas wirklich Dummes tat. »Was hattest du eigentlich vor?«, fragte Rahn. »Willst du dich vor der Pflicht drücken, deinen lieb gewonnenen Gast zu versorgen?« Das sagte er zweifellos nur, um sie zu ärgern, und obwohl Arri das wusste, funktionierte es. »Gerade deshalb habe ich mich ja auf den Weg gemacht«, antwortete sie spitz. »Ich wollte zu dir, weil ich Achk eine Suppe kochen will und deshalb noch ein paar schöne spitze Fischgräten von dir brauche.« Rahn sah sie geradezu verblüfft an, aber dann lachte er und streckte den Arm aus, wie um sie an der Schulter zu ergreifen. Arri wich rasch einen Schritt zurück, und Rahn ließ die Hand eindeutig enttäuscht wieder sinken, versuchte aber nicht noch einmal, sie zu berühren. »Komm schon«, sagte er, jetzt aber in eher gutmütigem Ton. »Ich weiß, dass dir euer Besuch nicht gefällt, aber du solltest es einfach hinnehmen und tun, was deine Mutter dir aufgetragen hat.« »Und woher willst du wissen, was das ist?«, erkundigte sich Arri, drehte sich aber zugleich auch gehorsam um und machte zumindest einen ersten, zögernden Schritt in die Richtung, in die Rahn wies nur, damit er nicht auf die Idee kam, sie am Ende doch noch anzufassen. »Sie hat es mir gesagt.«

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»Was?«, erkundigte sich Arri feindselig. »Dass du mich wie eine Gefangene behandeln sollst oder wie ein kleines Kind?« »Wie ich dich behandele«, antwortete Rahn ruhig, »liegt ganz bei dir. Ich werde einfach so mit dir umgehen, wie du es verdienst.« Er schwieg einen ganz kurzen Augenblick. »Im Moment benimmst du dich wie ein störrisches kleines Kind. Also werde ich dich auch ganz genau so behandeln.« Arri schluckte die wütende Antwort, die ihr auf der Zunge lag, vorsichtshalber herunter. Auch wenn sie es nie für möglich gehalten hätte, so war ihr Rahn zumindest im Moment eindeutig überlegen, auch mit Worten. Sie fragte sich, ob sie den Fischer in der Vergangenheit tatsächlich so völlig falsch eingeschätzt hatte oder ob es vielleicht der Einfluss ihrer Mutter war, den sie spürte. Nicht, dass diese sonderbare Veränderung Rahn auch nur im Geringsten sympathischer gemacht hätte, ganz im Gegenteil. Bisher war er für sie nicht mehr als ein großer, schrecklich starker, aber dummer Tölpel gewesen, den sie im Grunde nach Belieben herumschubsen und beleidigen konnte, ohne dass er es die meiste Zeit auch nur gemerkt hatte. Jetzt fragte sie sich, ob es nicht vielleicht doch ein bisschen anders gewesen war. Was, wenn Rahn während der ganzen Zeit, in der sie mit ihm zu spielen geglaubt hatte, seinerseits sein Spiel mit ihr gespielt und nur auf den Augenblick gewartet hatte, um es ihr heimzuzahlen? Und welchen besseren Augenblick konnte es geben als den, in dem sie vier oder fünf oder vielleicht auch noch mehr Tage ganz allein mit ihm war? »Und wenn ich dir einfach befehle, mir zu sagen, wohin meine Mutter gegangen ist, und mich zu ihr zu bringen?«, fragte sie trotzig. Rahn lachte. »Deine Mutter hat mich schon davor gewarnt, dass du versuchen würdest, mir auf der Nase herumzutanzen. Aber keine Sorge: Damit kommst du bei mir nicht durch, und wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Ohren schlackerst.« Arri blieb stehen und drehte sich mit einer ärgerlichen Bewegung zu ihm herum. »Ich könnte meiner Mutter erzählen, dass du aufdringlich geworden wärst. Wie würde dir das gefallen?« Rahn schüttelte fast gelassen den Kopf, was ihrem Zorn neue Nah-

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rung gab. »Nicht besonders«, gestand er, machte dabei aber ein Gesicht, das diesen Worten jegliche Glaubwürdigkeit nahm. »Aber du scheinst deine Mutter zu unterschätzen. Sie ist eine sehr kluge Frau und hat genau das vorausgesehen, weißt du? Und sie weiß auch, dass ich nicht so dumm bin, wie du immer behauptest.« Er machte einen Schritt nach hinten, um sie abermals auf diese durchdringende und nicht anders als anzügliche Art von Kopf bis Fuß zu mustern, wobei sich auf seinem Gesicht schon wieder dasselbe breite Grinsen bemerkbar machte. Sein Blick tastete auf eine vollkommen… neue, unangenehme Weise nicht nur über ihr Gesicht, sondern über ihre Schultern, ihre Arme und blieb eindeutig länger als notwendig an ihrem Oberkörper hängen. Ganz kurz blitzte eine Erinnerung vor Arris geistigem Auge auf: Sie sah ihre Mutter, die auf dem weichen Mooskissen im Wald lag und die Beine um den dunkelhaarigen Fremden geschlungen hatte, und diese Erinnerung, so kurz sie auch währen mochte, machte Rahns Blick eindeutig zu etwas Schmutzigem, das sie zugleich mit einem vollkommen unsinnigen, aber heftigen Gefühl schlechten Gewissens erfüllte. Nur mit Mühe konnte sie den Impuls unterdrücken, die Arme vor der Brust zu verschränken. »Du bist ein hübsches Ding«, fuhr Rahn fort. »Und ich bin bestimmt nicht der Einzige im Dorf, der das bemerkt hat. Aber so hübsch, dass ich deinetwegen mein Leben aufs Spiel setzen würde, nun auch wieder nicht.« »Was soll das heißen?«, schnappte Arri. Rahn grinste unerschütterlich weiter, aber irgendwie gelang es ihm trotzdem, zugleich mit einem Male sehr ernst zu wirken. »Weil deine Mutter mich töten würde, hätte sie auch nur den Verdacht, dass ich dich angerührt hätte.« Dann wurde sein Grinsen boshaft. »Außerdem - warum soll ich ein Kind nehmen, wenn ich die Frau haben kann? Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, das ist wahr, aber bis du an sie heranreichst, vergeht noch eine Weile.« Arri musste all ihre Willenskraft aufbieten, um sich nicht einfach auf ihn zu stürzen. Seine letzte Bemerkung erinnerte sie wieder daran, wie sie ihn zusammen mit ihrer Mutter gesehen hatte, und die

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Bilder, die aus ihrer Erinnerung aufstiegen, machten aus der bloßen Anzüglichkeit seiner Worte etwas Schlimmeres, für das sie keine wirkliche Bezeichnung fand. Hätte sie in diesem Augenblick eine Waffe gehabt, hätte sie ihn angegriffen. Und Rahn schien wohl auch zu spüren, dass er einen Schritt zu weit gegangen war, denn er versuchte - wenn auch vergeblich -, besänftigend zu lächeln, und fügte in verändertem Ton hinzu: »Aber dieses Gespräch ist ohnehin überflüssig. Ich könnte dich gar nicht zu deiner Mutter bringen, selbst wenn ich es wollte.« Arri glaubte ihm kein Wort, fragte aber trotzdem: »Wieso?« »Weil ich nicht weiß, wohin sie will«, erwiderte Rahn. »Sie hat es mir nicht gesagt. Ich habe ihr ja noch abgeraten, ausgerechnet jetzt zu gehen, wo wir bald das Jagd-Ernte-Fest feiern werden und Sarn alles daran setzen wird, um die alten Götter im Steinkreis um Hilfe anzuflehen - und ganz nebenbei ein paar Boshaftigkeiten über deine Mutter loszulassen, gegen die sie sich dann nicht wehren kann. Aber sie hat behauptet, sie wäre rechtzeitig zurück, um Sarn in seine Schranken zu verweisen.« »Du lügst doch!«, behauptete Arri. »Du behauptest, ausführlich mit meiner Mutter über den Zeitpunkt ihrer Reise gesprochen zu haben und willst dann nicht wissen, wohin sie gegangen ist? Warum sollte dir meine Mutter das verschweigen?« »Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie es dir nicht gesagt hat?«, schlug Rahn vor. »Oder vielleicht auch, damit ich es niemandem verraten kann.« Für einen Moment war Arri einfach nur verwirrt. Rahns Behauptung erschien ihr vollkommen unsinnig; nichts anderes als eine Ausrede, aber zugleich glaubte sie auch zu spüren, dass er die Wahrheit sagte. Dennoch erwiderte sie nach einem Moment und mit einem trotzigen Kopfschütteln: »Unsinn. Mir hat sie gesagt, dass sie weggeht, um Ersatz für das verlorene Werkzeug und neues Erz zu holen. Du warst schon einmal zu demselben Zweck fort. Du kennst also den Weg.« »Wenn es so ist, dann muss sie wohl ihre Zauberkräfte bemühen, um mit einer Ladung Erz und anderen Dingen hierher zurückzu-

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kommen«, erwiderte Rahn. »Was soll das heißen?« Rahn hob die Schultern. »Es ist wahr, ich war im nächsten Dorf, um dort Vorräte und einige andere Dinge einzutauschen, nach denen deine Mutter mich geschickt hat. Aber ich habe den Ochsenkarren genommen und bin den Umweg über die Feuchtwiesen gefahren, immer gefährlich nah am Sumpf, denn nur dort kommt man überhaupt mit einem Wagen durch. Doch selbst der Wagen hätte kaum ausgereicht, um all die Dinge zu transportieren, die deine Mutter braucht, um eine vollkommen neue Schmiede für Achk einzurichten.« »Und?«, fragte Arri verwirrt. »Glaubst du, sie wäre nicht in der Lage, einen Ochsenkarren zu lenken? Sie hat es doch immerhin auch geschafft, dir ihren Willen aufzuzwingen.« Rahn nahm die Beleidigung hin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wahrscheinlich schon«, räumte er ein, »aber dazu hätte sie ihn auch mitnehmen müssen, meinst du nicht?« »Was soll das jetzt wieder heißen?«, murmelte Arri verwirrt. »Sie hat den Wagen nicht genommen«, antwortete Rahn, »also können wir auch schwerlich seiner Spur folgen.« »Sie hat den Wagen…« »… nicht angerührt, natürlich auch, weil sie Sarn vorher um Erlaubnis hätte bitten müssen.« Rahns Augen funkelten belustigt. »Sarn hätte es ihr niemals erlaubt, und ich glaube auch nicht, dass sie so leichtsinnig wäre, ein Gefährt zu benutzen, dessen Spuren man so einfach folgen kann.« Diesmal schwieg Arri eine ganze Weile. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie weggehen würde, um alles zu beschaffen, was nötig war, um Achks niedergebrannte Schmiedewerkstatt wieder aufzubauen, und sie glaubte nicht, dass sie sie belogen hatte. Welchen Grund sollte sie dafür haben? »Warum schließen wir nicht Frieden?«, fragte Rahn. »Wenigstens für die Zeit, bis deine Mutter zurück ist?« Arri war für einen Moment hin- und hergerissen. Rahns Angebot klang nicht nur verlockend, es klang ehrlich, auch wenn es ihr nicht

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behagte, das zuzugeben, und vielleicht würde sie es später annehmen, aber noch war sie nicht bereit dazu. Sie beließ es bei einem feindseligen Blick in sein Gesicht, drehte sich mit einem Ruck um und ging mit trotzig in den Nacken geworfenem Kopf auf die Stiege zu. Ihre Gedanken kreisten um das, was Rahn gesagt hatte. Der Ochsenkarren, von dem er gesprochen hatte, war der einzige, den es im ganzen Dorf gab, das einzige Transportmittel, das groß genug war, um mehr als einen Ballen Heu oder zwei große Wasserkrüge damit von der Stelle zu bewegen. Wenn Lea ihn nicht genommen hatte, wie wollte sie dann all die Dinge hierher schaffen, von denen sie gesprochen hatte? Falls sie es überhaupt wollte. Arri schrak noch immer vor dem bloßen Gedanken zurück - aber was, wenn ihre Mutter tatsächlich nicht die Wahrheit gesagt hatte? Wenn sie nicht fortgegangen war, um Material und Werkzeug für Kron und den Blinden zu holen, sondern aus einem ganz anderen Grund? Was, wenn sie nicht wiederkommen würde, weil sie nur für sich allein eine Bleibe für den Winter suchte? Dieser Gedanke war so erschreckend, dass Arri ihn hastig von sich schob, oder es doch wenigstens versuchte. Aber es gelang ihr nicht ganz. Er war wie ein schleichendes Gift, mit dem sie sich einmal infiziert hatte und das nun seine Wirkung entfaltete, langsam, aber auch unaufhaltsam. Wenn ihre Mutter in diesem einen Punkt die Unwahrheit gesagt hatte, wieso dann auch nicht in einem anderen? Und schließlich hatte sie ihre Unsicherheit und Verwirrung selbst gespürt, vorhin noch, als Lea sich von ihr verabschiedet hatte. Noch bevor sie die Stiege erreichte, kam sie zu einem Entschluss. Sie würde das tun, was sie von Anfang an hätte tun sollen, nämlich, ihren Befehl missachten und ihr folgen. Zu Fuß konnte ihre Mutter nicht sehr viel schneller vorankommen als sie selbst, wenn sie sich beeilte, und sie hatte in den letzten Wochen keine Gelegenheit ausgelassen, ihrer Tochter all ihre Fähigkeiten und Kenntnisse beizubringen, zu denen auch ein Geschick im Spurenlesen gehörte, das dem Grahls und der anderen Jäger gleichkam. Spätestens wenn die Sonne

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aufging, würde sie ihre Spur finden. Sie musste nur Rahn loswerden, und als sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte und ihr ein besonders lautes, grunzendes Schnarchgeräusch aus der Hütte entgegendrang, wusste sie auch, wie. Statt sich umzudrehen und dem Fischer mit ein paar energischen Worten nachhaltig zu verbieten, der Hütte auch nur nahe zu kommen - wozu sie eben noch fest entschlossen gewesen war -, eilte sie die wenigen Stufen hinauf, blieb unter der Tür stehen und winkte ihm im Gegenteil zu, ihr zu folgen. Rahns Gesicht lag im Schatten des Hauses, aber sie spürte seine Überraschung und sah auch, dass er einen Moment zögerte, ihr dann aber mit umso energischeren Schritten nachkam. Arri dachte vorsichtshalber erst gar nicht darüber nach, was jetzt in seinem Kopf vorgehen mochte; aber was immer es auch war, er würde gleich eine ziemlich unangenehme Überraschung erleben. »Bring einen Krug Wasser mit«, rief sie ihm zu. »Ich mache uns ein Frühstück. Es ist noch etwas kaltes Fleisch von gestern Abend da.« Sie wartete nicht ab, ob Rahn ihrer Bitte nachkam oder nicht, sondern schlug den Vorhang bewusst grob zur Seite und schlich auch nicht auf Zehenspitzen ins Haus, so wie sie es vorhin verlassen hatte, sondern trampelte regelrecht hinein. Achk warf sich betont auffällig auf seinem Lager herum und ließ einen einzelnen, fast explosiven Schnarcher hören, aber sie spürte, dass er nicht echt war. Der Schmied war wach; das war er schon gewesen, als sie hereingekommen war. Arri polterte weiter nach Kräften herum, und Achk tat weiter sein Bestes, um den Schlafenden zu spielen, während sie Feuerholz und Späne holte und mit geschickten Bewegungen die Lampe anzündete. Als Rahn, einen langsam, aber beständig leckenden Krug in beiden Händen tragend, gebückt durch die Tür trat, war der Raum vom milden, gleichmäßig gelb brennenden Schein der Öllampe erhellt. Rahn maß die kaum fingergroße Flamme mit einem unruhigen Blick, während er seine Last zum anderen Ende des Raumes trug und ebenso behutsam wie ungeschickt abstellte. Arri kommentierte sein Ungeschick mit einem spöttischen Lächeln, gab sich aber alle Mühe, es

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wie etwas anderes aussehen zu lassen, und es funktionierte, denn in den Augen des Fischers erschien ein überraschter Ausdruck. Wie die allermeisten im Dorf benutzte Rahn keine Öllampen, um seine Hütte zu beleuchten, sondern - wenn überhaupt - ein qualmendes Feuer, das mehr Rauch als Licht verbreitete und im Sommer darüber hinaus unerträgliche Hitze. Es war Arri ein Rätsel, wieso das Dorf nicht regelmäßig drei oder vier Mal im Jahr abbrannte, bei all den offenen Feuerstellen, die es in den aus Holz, Weidengeflecht und Schilf gebauten Hütten gab, und wieso sich der Großteil seiner Einwohner nach wie vor beharrlich weigerte, die viel sichereren und vor allem leichter zu handhabenden Öllampen zu verwenden. Aber es gab so viele Rätsel in diesem Dorf, dass sie schon längst damit aufgehört hatte, sich wirklich den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht fing sie auch gerade erst damit an. Sie hantierte noch eine Weile an der Lampe herum, wobei sie Rahn ein freundliches Lächeln schenkte, als er in ihre Richtung sah, dann stand sie auf und ging zu dem kleinen Schemel neben der Tür, auf dem tatsächlich noch die Reste der letzten Mahlzeit standen. Es waren kaum mehr als ein paar kümmerliche Reste, nicht einmal wirklich der Rede wert, sie zu essen, aber dieser eine Blick und ihre ganz bewusst nicht vollkommen natürlich wirkende Bewegung schienen Rahn vollkommen ausgereicht zu haben, um zu begreifen, dass sie ihn nicht hereingebeten hatte, um zusammen mit ihm zu essen. Sie sah nicht in seine Richtung, doch sie meinte seine Blicke zu spüren, wie die Berührung einer warmen, unangenehmen Hand, die ihren Rücken hinabstrich, über ihre Schenkel und Waden tastete und dann wieder hinauf. Ein sonderbares Gefühl breitete sich in ihr aus, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Was es auch war, das sie in letzter Zeit immer öfter und immer heftiger empfand, jetzt war nicht der Moment, darüber nachzudenken oder gar dieser sonderbaren Neugier nachzugeben. Bewusst langsam drehte sie sich um, hielt den Teller mit den kümmerlichen Essensresten in beiden Händen und machte ein verlegendes Gesicht, aber nicht nur. Sie hatte zwar keinerlei Übung in solchen Dingen, hoffte aber, dass dieses ganz bestimmte, angedeutete

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Lächeln, das sie in ihr entschuldigendes Achselzucken einfließen ließ, Rahn ganz genau das denken ließ, was er denken sollte, und allem Anschein nach erreichte sie ihr Ziel: Er sah die Schale in ihren Händen nicht einmal wirklich an, sondern ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer Matratze nieder, und aus der Verwirrung und Überraschung und - ja, auch der Spur von Misstrauen - in seinen Augen wurde etwas anderes. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Arri schüttelte rasch den Kopf und warf einen warnenden Blick auf den scheinbar schlafenden Schmied. »Wir müssen leise sein.« Rahn machte ein abfälliges Geräusch und eine ebensolche Handbewegung. »Er schläft wie ein Stein«, antwortete er, allerdings im gleichen, fast flüsternden Tonfall, in dem auch Arri gesprochen hatte. Der Anteil von Misstrauen in seinem Blick war nun vollkommen erloschen, wie Arri zufrieden feststellte, und nun machte sich wieder jenes anzügliche Grinsen auf seinen Lippen breit, das es Arri immer schwerer machte, nicht einfach die Schale zu nehmen und sie ihm ins Gesicht zu werfen. Er klopfte mit der flachen Hand zweimal neben sich auf die Matratze, als hielte er sie für einen Hund, den er auf diese Weise heranbefehlen konnte, und Arri trat auch wirklich einen Schritt auf ihn zu, blieb aber dann wieder stehen und warf einen weiteren, diesmal stirnrunzelnden Blick zu Achk hin. Der Schmied schnarchte noch immer und gab in fast regelmäßigen Abständen helle, schmatzende Geräusche von sich. Er hatte ihnen den Rücken zugedreht, aber Arri spürte so deutlich, dass er wach war und lauschte, als hätte er aufrecht dagestanden und ihr mit beiden Armen zugewinkt. Rahn spürte es offensichtlich nicht, denn er folgte ihrem Blick und fragte dann, eine Spur lauter und in verächtlichem Ton: »Warum lasst ihr diesen alten Stinker in eurer Hütte schlafen?« Achk schnarchte bestätigend, und Arri gab sich Mühe, so zu tun, als ob sie nur noch mit Mühe ein Grinsen unterdrücken könnte. »Warum nennst du ihn so?« »Weil er es ist, ganz einfach.« Rahn klopfte noch einmal neben sich und unterstrich seine Aufforderung diesmal mit einer entsprechenden Kopfbewegung, und Arri tat ein paar Schritte auf ihn zu, setzte sich

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dann aber gerade weit genug neben ihm auf die Matratze, damit er sie nicht mit der Hand erreichen konnte, ohne sich zur Seite zu beugen oder aufzustehen. »Meine Mutter wollte, dass er hier bleibt, bis seine Schmiede wieder aufgebaut ist«, fuhr sie fort. Sie fügte in leicht schnippischem Ton hinzu: »Wenn ich mich richtig erinnere, hätte das doch längst der Fall sein müssen, oder nicht?« »Ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun«, behauptete Rahn. »Im Augenblick bin ich damit beschäftigt, dich zu beschützen.« Und im Augenblick, dachte Arri, war der Einzige, vor dem sie vermutlich wirklich beschützt werden musste, er selbst. Sie ließ sich aber auch davon nichts anmerken, sondern sah ihn nur an und lächelte stumm. Rahn tat so, als ob er die Hand nach einem Brotkrumen ausstrecken würde, nutzte die Gelegenheit aber, ein Stück zur Seite und damit auf sie zuzurutschen, sodass sie sich nun eindeutig in seiner Reichweite befand. Arri spannte sich innerlich, riss sich aber dann zusammen und schenkte ihm im Gegenteil ein weiteres, ganz bestimmtes Lächeln. Gleichzeitig beugte auch sie sich zur Seite und streckte die Hand nach dem Teller aus, und diesmal sorgte sie dafür, dass sie sich weit genug vorbeugte, um Rahn einen langen Blick in den Halsausschnitt ihrer Bluse und somit auf ihre Brüste zu gewähren. Seine Augen wurden ein bisschen größer, aber fast zu ihrer Überraschung beherrschte er sich noch. »Du solltest ihn nicht so nennen«, sagte sie mit einer neuerlichen Kopfbewegung auf den sich immer noch schlafend stellenden Schmied, hatte zugleich aber auch alle Mühe, Rahn nicht laut zuzustimmen. Er hatte Recht: Achk war ein verrückter alter Mann, und er stank. Rahn wirkte ein wenig unwillig. »Vielleicht sollten wir lieber…«, begann er, und streckte zugleich den Arm nach Arri aus, aber sie wich mit einer raschen Bewegung, dennoch aber mit einem neuerlichen, noch aufreizenderen Lächeln zurück, legte den Zeigefinger über die Lippen und deutete mit der anderen Hand auf Achk. Rahn wirkte jetzt erst recht enttäuscht, ließ den Arm aber wieder sinken und klaubte sich den letzten Rest Brot vom Teller. »Keine

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Angst, der Alte schläft wie ein Stein. Wenn er einmal eingeschlafen ist, dann weckt ihn so schnell nichts mehr. Ich wundere mich fast, dass er nicht im Schlaf verbrannt ist, ohne überhaupt zu merken, was passierte.« »Vielleicht hat er es ja gemerkt«, antwortete Arri, »und will im Augenblick nur nicht darüber sprechen.« Rahn wirkte jetzt völlig enttäuscht, auch er wollte im Moment nicht über dieses Thema reden. Arri vermutete, dass ihm überhaupt nicht nach Reden zumute war. Trotzdem antwortete er: »Warum sollte er?« »Vielleicht, weil er Angst hat?«, vermutete Arri. Rahn schluckte den letzten Bissen Brot herunter, griff nach dem leeren Teller und fegte ihn mit einer schwungvollen Bewegung zur Seite. Er schlitterte scheppernd über den Boden und prallte mit einem noch lauteren Geräusch gegen die Wand neben der Tür. Achk warf sich mit einem widerstrebenden Grunzen herum und schnarchte nach einem Augenblick unbeeindruckt weiter. Rahn stutzte und sah ihn stirnrunzelnd an, wandte sich dann aber wieder zu ihr um. Achk war ein besserer Schauspieler, als Arri angenommen hatte; oder war Rahn ein schlechterer Beobachter? »Du meinst, weil er herausbekommen hat, dass Sarn die Schmiede angezündet hat?«, fragte er. »Das wäre doch immerhin eine Erklärung, oder?« Arri deutete mit den Augen eine Bewegung auf den vermeintlich schlafenden Schmied an, legte abermals den Zeigefinger über die Lippen und ließ sich dann ein Stückchen zurücksinken, bis sie sich nur noch mit den Ellbogen aufstützte und sich die Bluse deutlich über ihren Brüsten spannte, die in dieser Haltung viel größer und voller erschienen, als sie waren. Rahn machte zwar ein Gesicht, das klar werden ließ, für wie überflüssig er ihre Vorsicht hielt, schien aber entweder Gefallen an dem Spiel zu finden oder gab sich einfach geschlagen, denn er rückte zwar ein gutes Stück näher, fuhr aber fast schon zu laut fort: »Vielleicht sucht er auch einfach nur nach einem Dach über dem Kopf, unter dem er es sich auf Dauer gemütlich machen kann. Hast du schon einmal daran gedacht?«

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Arri schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Haar flog. »Sobald die Schmiede wieder steht, wird er dorthin übersiedeln.« »Und wenn es ihm nun hier besser gefällt, wo er Nahrung und Gesellschaft im Überfluss hat und er gar nicht daran denken muss, je wieder einen Schmiedehammer in die Hand zu nehmen?«, beharrte Rahn und ließ sich, ähnlich wie sie, auf die Seite und einen Ellbogen sinken. Den anderen Arm streckte er in ihre Richtung aus, zögerte dann aber im allerletzten Moment, sie zu berühren, und griff stattdessen nach ihrem Haar. Seine Finger begannen mit einer Strähne zu spielen und berührten dabei wie zufällig ihren Hals. Arri fuhr heftig zusammen, brachte es aber irgendwie fertig, ihm dennoch weiter zuzulächeln, und Rahn wurde mutiger und rutschte ein Stück näher. Seine Finger spielten weiter mit ihrem Haar, aber nur zwei davon; die anderen berührten ganz sacht ihren Hals, nun jedoch nicht mehr zufällig und auf eine ganz bestimmte Art. »Lass das«, sagte Arri, aber sie lächelte unerschütterlich weiter, und ihr Blick sagte etwas ganz anderes. »Wie hast du das gemeint: Er will vielleicht nie wieder einen Schmiedehammer in die Hand nehmen?« »Davon hat dir deine Mutter nichts erzählt, wie?«, vermutete Rahn. Er nickte, um seine eigene Frage zu beantworten, und seine Finger ließen nun endgültig ihr Haar los und strichen sanft über ihre Wange, über ihr Kinn und weiter hinab über ihren Hals. Es kribbelte, als liefen Ameisen über ihre Haut, und es war nicht so unangenehm, wie es sein sollte. »Nach dem Feuer hat er ihr klipp und klar gesagt, dass er nicht mehr mitmachen will«, antwortete er. »Und dass er Kron nicht mehr helfen will.« »Davon hat mir meine Mutter nichts erzählt«, antwortete Arri wahrheitsgemäß. »Wie von einer Menge anderer Dinge auch.« Rahn lachte leise und warf einen verächtlichen Blick in Richtung des schlafenden Schmiedes. »Dabei war er schon vor dem Unfall alles andere als ein übervorsichtiger Schmied, sondern sogar dafür bekannt, nur allzu leichtfertig mit seinem Feuer umzugehen. Warum, meinst du wohl, lag seine Schmiede ganz am Rande des Dorfes? So weit weg von allen

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anderen?« Es kostete Arri alle Überwindung, die sie aufbringen konnte, aber sie schaffte es irgendwie, sich seiner Berührung nicht zu entziehen, sondern ganz im Gegenteil den Kopf zur Seite zu drehen und ihre Wange an seiner rauen Hand zu reiben. Erneut lief ihr ein rasches, unbekanntes Frösteln über den Rücken. Sie staunte über sich selbst. Sie sollte aufschreien, schon bei dem bloßen Gedanken, von diesen Fingern angefasst zu werden, die auf so obszöne Weise über den Körper ihrer Mutter geglitten waren, doch die Berührung löste etwas völlig anderes in ihr aus: ein Kribbeln und Vibrieren, das ihren ganzen Körper zu ergreifen begann; dann eine Woge brennender Wärme, die in ihrem Schoß ihren Ausgang nahm und wie siedendes Öl durch ihre Adern floss. An dem Gefühl selbst war rein gar nichts Schlechtes oder Verbotenes, das spürte sie, aber es sollte nicht Rahn sein, der es in ihr auslöste, nicht ausgerechnet Rahn, der schon ihre Mutter gehabt und niemals einen Hehl daraus gemacht hatte, wie sehr er sie verachtete. »Lass das«, sagte sie noch einmal, aber ihr Atem ging plötzlich schneller, sodass sie Mühe hatte, mit normaler Stimme zu sprechen, was Rahn natürlich nicht verborgen blieb. Statt es zu lassen, wurde seine Hand im Gegenteil immer mutiger, glitt weiter an ihrem Hals hinab und über ihre Schulter bis zu ihrer Brust, die sich unter der Berührung zu spannen schien. Die Wärme in Arris Schoß zerbarst zur lodernden Glut eines Waldbrands im Hochsommer, und Arri presste mit aller Kraft die Lippen aufeinander, um ein Seufzen zu unterdrücken. Es war ganz gleich, was sie tat, so lange Achk es nicht hörte. »Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau«, fuhr Rahn fort. »Manchmal frage ich mich, ob sie nicht vielleicht zu klug ist.« »Wie meinst du das?«, fragte Arri. »Vielleicht ist es hin und wieder besser, die Dinge einfach als das zu nehmen, was sie sind, und nicht hinter allem und jedem ein Geheimnis zu vermuten.« Rahns Hand strich ihr liebkosend über die Wölbung ihrer Bluse, und Arri schloss für einen Moment die Augen und sammelte Kraft, um seinen Arm wegzuschieben. Etwas in ihr

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wollte es nicht einmal. Sie musste aufpassen, dass sie nicht selbst in die Falle tappte, die sie für Rahn aufgestellt hatte. Und es wurde Zeit, sie zuschnappen zu lassen. »Lass das«, sagte sie noch einmal, jetzt in hörbar schärferem Ton, aber noch immer lächelnd und ihn dabei auf eine herausfordernde Art ansehend, die ihn offensichtlich vollkommen verwirrte, aber keineswegs entmutigen konnte. »Gerade hast du noch gesagt, dass meine Mutter viel hübscher ist als ich.« »Es gibt verschiedene Arten von Schönheit«, antwortete Rahn. Seine Hand ließ ihre Brust tatsächlich los, aber nur, um langsam, aber zielstrebig über ihren Leib und weiter nach unten zu wandern, und Arri folgte der Bewegung mit gerunzelter Stirn und einem Ausdruck gespielter kindlicher Verwirrung. »Meine Mutter bringt dich um, wenn sie davon erfährt«, fuhr sie fort. Unauffällig warf sie einen weiteren Blick auf das andere Bett. Achk schnarchte unverdrossen weiter, und er spielte noch immer den Schlafenden, beging dabei aber denselben Fehler, den fast jeder begeht, der zu sehr darauf bedacht ist, sich schlafend zu stellen: Er bewegte sich gar nicht mehr. »Sie muss es ja nicht erfahren«, antwortete Rahn. Seine Hand hatte den Saum ihres Rockes mittlerweile erreicht und versuchte, darunter zu schlüpfen, und Arri setzte sich rasch auf, schlug seinen Arm mit einer - wie er annehmen musste - spielerischen Bewegung zur Seite und zog die Beine an den Körper, um die Knie mit den Armen zu umschlingen. »He!«, sagte Rahn. »Stell dich nicht so an.« Auch er richtete sich auf und versuchte erneut und diesmal eindeutig fordernd nach ihr zu greifen, doch Arri kam ihm zuvor. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung sprang sie auf, holte aus und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht; fest und so schnell, dass er den Hieb vermutlich nicht einmal kommen sah. Noch bevor er reagieren konnte, wich sie rasch zwei, drei Schritte zurück und sagte noch einmal und in schärferem Ton, in den sie ganz bewusst einen sachten Unterton von Panik zu legen versuchte: »Lass das! Rühr mich nicht an! Ich will das nicht!«

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Rahn hatte unwillkürlich die rechte Hand auf die Wange gepresst, wo ihn ihr Schlag getroffen hatte, schien aber darüber hinaus nicht einmal zu begreifen, was überhaupt geschah. Er glotzte sie einfach nur an. Arri machte zwei weitere stolpernde und trampelnde Schritte rückwärts, bis sie mit einem hörbaren Poltern gegen die Wand neben der Tür stieß, keuchte laut und griff dann mit beiden Händen nach dem Saum ihres Rockes. Sie zerrte mit aller Kraft, und der Stoff zerriss mit einem hellen Geräusch fast bis zum Knie hinauf. »Nein!«, keuchte sie. »Rahn, bitte nicht!« Endlich hatte der Fischer seine Überraschung überwunden, wenigstens weit genug, um die Hand herunterzunehmen und gleichzeitig aufzustehen. Er kam auf sie zu, aber langsam und noch immer mit einem Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit auf den Zügen, und Arri wartete gerade lange genug ab, bis er auf Armeslänge heran war, dann trat sie seinerseits blitzschnell auf ihn zu und versetzte ihm einen Stoß; genau auf die Art, die ihre Mutter ihr gezeigt hatte: schnell und hart, mit den flachen Händen und die Finger steif nach oben gerichtet, legte sie alle Kraft in ihre Unterarme und drückte die Ellbogen so wuchtig durch, wie es ging. Wäre Rahn auf den Angriff vorbereitet gewesen, hätte er ihm zweifelsohne widerstehen können, denn Arri war sehr wohl bewusst, dass sie nicht annähernd so schnell war, wie sie geglaubt hatte, und ihr Stoß nicht einmal den Bruchteil der Kraft hatte, den er eigentlich hätte haben müssen. Aber Rahn sah den Angriff nicht kommen. Er war vollkommen unvorbereitet und schien immer noch nicht wirklich zu begreifen, was sie tat. Vielleicht hielt er all dies sogar noch für den Teil eines neckischen Spiels, das sie mit ihm spielen wollte. Ihre Handflächen trafen seine nackte Brust mit einem hörbaren Klatschen, und er stolperte zurück, ruderte zwei, drei Mal hilflos mit den Armen und fiel dann der Länge nach auf den Rücken. Arri fuhr auf dem Absatz herum und stürmte durch die Tür, noch bevor das dumpfe Poltern seines Sturzes ganz verklungen war, aber sie warf trotzdem noch einen Blick über die Schulter zurück und stellte erleichtert fest, dass Achk seine Maskerade endlich aufgegeben hatte und sich mit einer erschrockenen Bewegung auf seinem Lager auf-

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setzte. Sie machte sich nicht die Mühe, die Stiege hinunterzulaufen, sondern sprang mit einem einzigen Satz bis zum Boden hinab, rollte sich über die Schulter ab und nutzte den Schwung ihres eigenen Sturzes, um wieder auf die Füße zu kommen. Hinter und über sich hörte sie Rahn wütend brüllen, und dann das Geräusch, mit dem er aufsprang und durch die Hütte trampelte. Da schien noch eine zweite Stimme zu sein, die wohl Achk gehörte, aber sie verschwendete auch keine Zeit damit, zur Hütte zurückzublicken, sondern rannte auf den Waldrand zu, so schnell sie nur konnte. Vielleicht ein bisschen zu schnell, denn sie übersah in der Dunkelheit irgendein Hindernis, in dem sich ihr Fuß verfing. Ein scharfer Schmerz warnte sie im letzten Moment, aber es war zu spät. Arri versuchte, sich mit einer hastigen Bewegung herum- und zurückzuwerfen, doch diesmal wurde ihr ihre eigene Schnelligkeit zum Verhängnis. Der Schmerz in ihrem Knöchel wurde zu lodernder Glut, dann hatte sie das Gefühl, ihr Bein würde ihr aus dem Gelenk gerissen. Hilflos fiel sie zu Boden, schlug schwer und der Länge nach auf und blieb einen Moment lang benommen liegen. Als sich ihre Gedanken wieder klärten, schmeckte sie Blut, und in ihren Ohren wummerte ihr Herz wie verrückt. Rahns Gebrüll hinter ihr war lauter geworden, und Arri richtete sich hastig auf und machte trotz der pochenden Schmerzen mit einem Ruck ihren Fuß frei, als sie das hastige Poltern seiner Schritte auf der Stiege hörte. Sie stolperte weiter, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Bein tat schrecklich weh, gehorchte ihr aber noch, was zumindest bedeutete, dass sie sich nichts gebrochen hatte, aber ihre Mutter hatte ihr mehr als einmal erzählt, dass eine Prellung schmerzhafter als ein Bruch sein konnte, und Arri begriff in diesem Moment, dass das nur zu wahr war. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, den pochenden Schmerz in ihrem rechten Knöchel zu ignorieren und sich zu noch größerer Schnelligkeit zu zwingen, doch es ging nicht. Statt schneller zu werden, kam sie nur aus dem Takt und drohte abermals zu fallen. Hinter ihr wurde Rahns wütendes Gebrüll noch lauter, und sie konnte

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seine stampfenden Schritte hören, die entsetzlich schnell näher kamen, und als sie nun doch im Laufen einen Blick über die Schulter zurückwarf, stellte sie fest, dass er höchstens noch sieben oder acht Schritte hinter ihr war und mit jedem einzelnen Schritt weiter aufholte. Arris Gedanken rasten. Der Waldrand war noch ein Dutzend Schritte entfernt, doch wenn sie ihn erreichte, dann wäre sie im Vorteil. Rahn mochte schneller und auch stärker sein als sie, aber sie kannte sich dort drinnen ungleich besser aus als er. Hier draußen würde die Morgendämmerung bald ihre Kraft entfalten, im Wald selbst aber herrschte noch immer vollkommene Finsternis, die ihr Schutz gewähren würde. Sie hatte ihr ganzes Leben an diesem Wald verbracht und kannte zumindest in einigem Umkreis jeden Baum, jeden Strauch und jede Wurzel. Aber sie begriff auch, dass sie es bis dahin nicht schaffen würde. Als sie spürte, dass Rahn nur noch zwei Schritte hinter ihr war, schlug sie einen Haken, ließ sich blitzschnell auf Hände und Knie herabfallen und krümmte den Rücken. Rahn prallte wunschgemäß in vollem Lauf gegen sie, rammte ihr dabei, ganz und gar nicht wunschgemäß, das Knie in die Rippen und schrie vor Wut auf, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor, in hohem Bogen durch die Luft flog und eine gute Mannslänge entfernt und mit solcher Wucht auf den Boden aufprallte, dass der ganze Wald zu beben schien. Sein Aufprall hatte nicht nur Arri die Luft aus den Lungen gepresst, sondern sie ebenfalls zu Boden geschleudert. Hilflos rollte sie herum, kam endlich auf dem Rücken zu liegen und biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, für den sie wahrscheinlich gar keine Luft gehabt hätte. Zu dem wütenden Pochen in ihrem rechten Knöchel hatte sich nun ein fast noch schlimmerer Schmerz in ihrem Rücken gesellt, und jeder Atemzug wurde von einem dünnen, aber tief gehenden Stich begleitet, der ihr verriet, dass ihr Rahns Knie mindestens eine Rippe gebrochen hatte, wenn nicht mehr. Trotzdem biss sie die Zähne zusammen, arbeitete sich auf die Ellbogen hoch und drehte mit einem Ruck den Kopf, um nach Rahn

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Ausschau zu halten. Dem Fischer war es nicht besser ergangen als ihr. Er lag ein gutes Stück von ihr entfernt da und schien Mühe zu haben, sich hochzustemmen. Aber er lag zwischen ihr und dem rettenden Waldrand, und er arbeitete sich zwar taumelnd und unsicher und eindeutig benommen hoch, aber er kam hoch, und das sogar schneller als sie. Während sich Arri noch auf die Füße stemmte, vorsichtig nur den linken Fuß belastend und eine Hand mit zusammengebissenen Zähnen gegen ihre Rippen gepresst, stand er auf, schüttelte zwei oder drei Mal abgehackt den Kopf und fuhr sich schließlich mit der linken Hand über das Gesicht. In dem Blick, der Arri danach traf, loderte nichts als blanke Mordlust. »Das war nicht besonders lustig«, sagte er. Arris Blick tastete fast verzweifelt über den Waldrand und suchte nach irgendeinem Fluchtweg, aber da war keiner. Hinter ihr lagen nur der dunkle Schatten der Hütte und der ihr plötzlich unendlich lang erscheinende und steil ansteigende Weg zum Dorf hinauf, und selbst, wenn es dort oben jemanden gegeben hätte, der ihr helfen konnte, wäre sie mit ihrem verstauchten Knöchel niemals so weit gekommen. Obwohl es ihr heftige Schmerzen bereitete, machte sie zwei Schritte zurück, ohne dabei zu humpeln, und hob beide Arme vor die Brust, die Finger ausgestreckt und die Handflächen nach außen gedreht. »Komm mir nicht zu nahe«, drohte sie. »Oder was?«, fragte Rahn. »Ich warne dich«, wiederholte Arri. »Meine Mutter hat mir gezeigt, wie ich mich wehren kann.« »Anscheinend hat dir deine Mutter eine ganze Menge gezeigt«, bestätigte Rahn mit finsterem Gesicht. Seine Hände tasteten an seinem Körper entlang, als wollte er sich davon überzeugen, dass noch alles unversehrt und einigermaßen an seinem Platz war, dann schüttelte er den Kopf und bedachte sie erneut mit einem wütenden Blick. Sonderbarerweise verzichtete er aber darauf, sich sofort auf sie zu stürzen, womit Arri fest gerechnet hatte. Stattdessen fragte er: »Was sollte das? Ist das irgendein verrücktes Spiel, das dir deine Mutter beigebracht hat?«

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Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, und Arri prallte hastig um die gleiche Distanz zurück und sagte noch einmal: »Komm nicht näher.« Wieder reagierte Rahn völlig anders, als sie erwartet hatte. Er machte tatsächlich noch einen weiteren Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt eher verstört als wütend. Vielleicht nachdenklich. »Was soll denn dieser Unsinn?«, schnappte er. »Ich werde jetzt gehen«, antwortete Arri. »Ich werde meine Mutter schon finden, auch ohne deine Hilfe.« Rahn reagierte einige Augenblicke lang gar nicht, dann machte er einen weiteren, einzelnen Schritt in ihre Richtung und sagte in fast bedauerndem Tonfall: »Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann. Deine Mutter hat mir…« »Meine Mutter wird dich umbringen, wenn ich ihr erzähle, was du getan hast«, fiel ihm Arri ins Wort. Ihre Stimme klang dabei nicht annähernd so überzeugt, wie sie es gern gehabt hätte, und auch ihre Hände zitterten immer heftiger, so stark, dass Rahn es einfach sehen musste, aber sie bezweifelte trotzdem, dass er es bemerkte. Auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck von allmählich aufdämmernder Erkenntnis, aber unendlich viel größerer Verblüffung breit. »Was habe ich denn getan?«, murmelte er. Konnte es sein, dass er tatsächlich nicht begriff?, fragte sich Arri verwirrt. Egal. »Ich werde ihr erzählen, dass du versucht hast, mich anzufassen. Du weißt, was sie dann mit dir macht.« Und endlich begriff Rahn. Sein Gesicht verdüsterte sich, und in seinen Augen blitzte purer Hass auf. »Sie würde dir kein Wort glauben«, sagte er, aber er klang dabei nicht sehr überzeugt. »Das braucht sie auch nicht«, erwiderte Arri. »Achk hat alles gehört. Er hat nicht geschlafen.« Sie machte eine Kopfbewegung über die Schulter zurück. »Geh hinauf in die Hütte und frag ihn, wenn du willst.« Für eine geraume Weile stand Rahn einfach nur da und starrte sie an. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und Arri konnte sehen, wie sich seine gewaltigen Muskeln spannten, doch dann ließ er die Arme

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wieder sinken und schüttelte abermals den Kopf. Er gab sich redliche Mühe, ein verächtliches Lächeln auf seine Lippen zu zwingen, auch wenn es ihm nicht gelang. »Das würdest du nicht wagen. Und deine Mutter würde dir auch nicht glauben. Sie kennt mich. Sie vertraut mir.« »Ja, deswegen hat sie dir ja auch gesagt, dass sie dich umbringt, wenn du mich auch nur anrührst«, erwiderte Arri. Ihre Gedanken rasten noch immer. Sie spürte, nein, sie konnte sehen, wie es hinter Rahns Stirn arbeitete, und ihr war klar, dass sie dieses Spiel nicht endlos weiter treiben konnte. Ihre Worte hatten ihn wütend gemacht, aber auch verunsichert, und sie musste die Gelegenheit ausnutzen. »Wenn du mich gehen lässt, sage ich nichts. Das verspreche ich. Aber wenn nicht….« Sie ließ den Satz absichtlich unbeendet, und vielleicht war das das Falscheste, was sie hatte tun können. Rahn war kein Mann, den man mit unausgesprochenen Drohungen beeindrucken konnte. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, ihn wütend zu machen. Sie konnte regelrecht mit ansehen, wie seine Unsicherheit erneut blanker Wut wich. »Du verdammtes, kleines Biest! Du glaubst wirklich, mich erpressen zu können? Damit?« »Ich gehe jetzt«, erwiderte Arri ungerührt. »Wenn du mich aufhalten willst, versuch es ruhig. Selbst wenn du es schaffst, wird sich meine Mutter ihren Teil dabei denken, wenn sie zurückkommt und ich grün und blau geschlagen bin.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Rahn und stürzte sich auf sie. Arri hatte gehofft, dass es nicht so weit käme, es aber vorausgesehen. Ihr Bein schmerzte noch immer, und ihre zumindest angebrochene Rippe quittierte jeden Atemzug mit einem dünnen Nadelstich, der sich tief in ihre Brust bohrte, aber sie erwartete ihn trotzdem ruhig und diesmal mit besonnener Überlegung. Sie wusste jetzt, was sie vorhin falsch gemacht hatte. Sie hatte sich hinreißen und Wut und Panik ihre Bewegungen bestimmen lassen, statt kühl zu überlegen, wie es ihre Mutter ihr immer und immer wieder gepredigt hatte. Noch einmal würde sie denselben Fehler nicht machen. Als Rahn

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heranstürmte, täuschte sie eine Bewegung nach rechts an und wich dann blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung aus, und er fiel tatsächlich darauf herein und stolperte einen halben Schritt an ihr vorbei. Diesmal reagierte Arri richtig. Rasch streckte sie das Bein aus, damit er darüber stolperte, und riss gleichzeitig den rechten Arm in die Höhe, um ihm den Ellbogen in den Nacken zu schmettern, sobald er an ihr vorbei war. Rahn stolperte nicht an ihr vorbei. Er fiel auch nicht. Statt dass ihr ausgestrecktes Bein ihn aus dem Gleichgewicht brachte, schmetterte sein Schienbein ihren Unterschenkel mit solcher Wucht zur Seite, dass Arri nicht nur einen keuchenden Schmerzensschrei ausstieß, sondern auch das Gleichgewicht verlor und zum zweiten Mal und noch härter zu Boden fiel. Was sie rettete, das war vielleicht nur der Umstand, dass ihr Tritt Rahn zumindest aus dem Takt brachte. Er stolperte ungeschickt und mit beiden Armen rudernd ein halbes Dutzend Schritte weit und fand nur mit Mühe sein Gleichgewicht zurück, sodass Arri Zeit genug blieb, ihre Benommenheit abzuschütteln und sich zumindest herumzuwälzen. Als Rahn sich gefangen hatte und wieder heranstürmte, warf sie sich zur Seite und entging mit knapper Not einem stampfenden Fußtritt, der nach ihrem Gesicht gezielt und so hart gewesen war, dass er sie vermutlich umgebracht hätte. Ganz instinktiv griff sie nach seinem Knöchel und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Genauso gut hätte sie auch versuchen können, eine der seit Urzeiten im Wald stehenden Eichen mit bloßen Händen zu entwurzeln. Rahn schnaubte nur wütend, riss sein Bein los und trat abermals nach ihr. Sein Fuß streifte ihre Wange nur, aber selbst das reichte schon aus, um sie an den Rand der Bewusstlosigkeit zu treiben. Er aber hopste albern auf einem Bein neben ihr herum - anscheinend hatte sie ihn doch aus dem Gleichgewicht gebracht - und fing sich dann wieder, aber die winzige Atempause hatte ihr gereicht. Zwar unsicher und halb blind, aber doch sehr schnell kam sie auf die Füße und wich rasch zwei, drei Schritte vor Rahn zurück. Alles drehte sich um sie. Rahns Gestalt verschwamm immer wieder vor ihren Augen,

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und es schien keine Stelle an ihrem Körper zu geben, die nicht wehtat. »Jetzt nimm endlich Vernunft an, du dumme Göre!«, keuchte Rahn. »Hör mit diesem Unsinn auf, und ich verspreche dir, dass deine Mutter nichts davon erfährt.« Arri trat nach ihm. Rahn stieß ihr Bein mit solcher Wucht zur Seite, dass sie beinahe schon wieder gestürzt wäre, machte einen Schritt auf sie zu, und Arri überließ endlich ihren Instinkten die Kontrolle über ihre Bewegung und empfing ihn mit einer schnellen und sehr präzise gezielten Schlagkombination: Ihr linker Handballen knallte hart in seine Rippen unmittelbar unter dem Herzen, die versteiften Finger ihrer Rechten stachen wie ein Dolch nach seiner Kehle. Sie traf. Rahn tat ihr immerhin den Gefallen, ein schmerzerfülltes Grunzen von sich zu geben. Das war aber auch schon alles. Das Nächste, was sie spürte, war eine regelrechte Explosion von dumpfem Schmerz, als sich seine Faust in ihren Leib bohrte. Sie brach in die Knie. Der Schrei, der über ihre Lippen wollte, wurde zu einem pfeifenden Laut, mit dem die Luft aus ihren Lungen wich. Ihr wurde so übel, dass sie fest davon überzeugt war, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen. Rahns Hand krallte sich in ihr Haar, und mit einem brutalen Ruck riss er ihren Kopf zurück. Seine Faust ballte sich vor ihrem Gesicht und holte aus, und Arri hob schwächlich die Arme, um seinen Hieb abzuwehren, der nicht abzuwehren war. Statt ihr jedoch das Gesicht zu Brei zu schlagen, versetzte Rahn ihr nur einen Stoß, der sie endgültig nach hinten und auf den Rücken schleuderte. Wieder drohte sich eine verlockende, allumfassende Schwärze um ihre Gedanken zu legen, eine Dunkelheit, an der nichts Erschreckendes war, sondern im Gegenteil ein verführerisches Versprechen von Ruhe… und Erlösung von Schmerz und Angst; vor allem Angst. Sie war nicht sicher, ob sie noch einmal erwachen würde, wenn sie dieser Verlockung nachgab. Mit aller Willenskraft zwang sie sich, die Augen zu öffnen, und stellte mit einem Gefühl leiser Überraschung fest, dass sie nicht nur auf dem Rücken lag, sondern Rahn dergestalt auf ihr saß, dass seine Knie ihre Arme gegen

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den Boden pressten und seine Beine ihren Leib blockierten. »Du verdammtes kleines Miststück!«, zischte er. »Ich sollte dich windelweich prügeln, du Biest!« In seinen Augen loderte eine Wut, die er offensichtlich kaum noch beherrschen konnte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. »Schlag doch… zu«, antwortete Arri keuchend. »Aber dann bringst du mich besser gleich um. Sonst… macht meine Mutter nämlich dasselbe mit dir.« Vielleicht war das die falsche Antwort, denn plötzlich war da etwas in seinem Blick, was sie bisher trotz allem noch nie darin gesehen hatte und was sie zutiefst erschreckte. Noch einmal ballte er die Hand zu einer schrecklich großen, verheerenden Faust, aber dann ließ er den Arm plötzlich wieder sinken, und nur einen Augenblick später stand er mit einem Ruck auf. Arri biss die Zähne zusammen, als sich seine Knie dabei grausam hart in ihren Oberarm bohrten, aber einen kleinen wimmernden Laut konnte sie trotzdem nicht unterdrücken. Rahns Mitleid hielt sich anscheinend in Grenzen, denn er sah noch einen Augenblick lang verächtlich auf sie herab, dann beugte er sich vor, griff nach ihrem Handgelenk und zerrte sie grob, fast schon brutal, am Arm in die Höhe. »Nimmst du jetzt endlich Vernunft an?«, fragte er. »Du kannst mich tot schlagen oder mich gehen lassen«, antwortete Arri lahm. »Aber irgendetwas musst du jetzt tun.« »Ich weiß nicht, was du bist«, sagte Rahn mit bebender Stimme, »besonders dumm oder besonders dreist. Aber eines bist du ganz bestimmt - die Tochter deiner Mutter. Weißt du eigentlich, wie ähnlich du ihr bist?« Er machte eine zornige Handbewegung, als sie antworten wollte oder er zumindest das Gefühl hatte. »Mit einem Unterschied allerdings: Du bist nicht annähernd so klug wie sie.« Arri hatte Mühe, seine Worte überhaupt zu verstehen. Ihre Knie zitterten immer stärker, und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren schien jeden anderen Laut einfach hinwegzufegen. Und trotzdem: »Schlag mich tot oder lass mich gehen«, nuschelte sie. Deutlich reden konnte sie nicht mehr. »Ich werde… nach meiner

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Mutter suchen. Du weißt, was sie dir… was dir passiert, wenn ich ihr… die Wahrheit sage.« »Welche Wahrheit?«, fragte Rahn verächtlich. »Sie wird mir glauben«, behauptete Arri. »Und Achk wird meine Geschichte bestätigen.« »Dieser verrückte blinde alte Mann?«, fragte Rahn verächtlich. Er lachte. »Verrückt und blind vielleicht«, erwiderte Arri. Sie atmete hörbar ein, fuhr sich unsicher mit dem Handrücken über den Mund und holte noch einmal tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Aber nicht taub. Er hat alles gehört.« Rahn setzte zu einer Entgegnung an, aber dann zog er nur eine wütende Grimasse, schwieg eine geraume Weile und sagte schließlich: »Gut ausgedacht, das muss ich zugeben. Aber Achk ist ein alter Mann. Ein ziemlich kranker alter Mann, der noch dazu blind und halb verrückt ist. Ihm könnte ein Unglück zustoßen, bevor deine Mutter zurück ist, weißt du?« »Das wagst du nicht«, nuschelte Arri. Sie hatte immer größere Mühe zu sprechen. Sie konnte spüren, wie ihr Gesicht anschwoll, und als sie sich mit dem Unterarm über die Lippen fuhr, blieb ein schmieriger, rotbrauner Streifen auf ihrer Haut zurück. »Wenn du ihn umbringst, kannst du mich genauso gut auch gleich selbst töten.« Rahn riss die Hand in die Höhe, um sie zu schlagen, aber dann ergriff er sie stattdessen nur grob bei den Armen. Er packte so fest zu, dass sie schon wieder vor Schmerz keuchte, und schüttelte sie ein paar Mal. Ihr Kopf flog haltlos in den Nacken, und ihre Zähne schlugen so fest aufeinander, dass sie Blut schmeckte. »Sarn und die anderen haben Recht, weißt du?« Seine Stimme bebte vor Wut. »Du bist wirklich die Tochter deiner Mutter! Sie kann stolz auf dich sein!« Einen Moment lang funkelte er sie an, erfüllt von einer so bodenlosen Wut, dass Arri fast körperlich spüren konnte, wie schwer es ihm fiel, nicht einfach so lange auf sie einzuschlagen, bis sie sich nicht mehr rührte, dann aber ließ seine Linke plötzlich ihren Arm los und grabschte ihr mit solcher Kraft zwischen die Beine, dass sie ein klägliches Wimmern ausstieß. Arri wand sich in seinem Griff und ver-

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suchte sich loszureißen, aber es war sinnlos. »Wenn ich schon für etwas bezahlen soll, was ich nicht getan habe, dann kann ich es mir doch eigentlich auch nehmen, oder?«, zischte er hasserfüllt. Sein Gesicht war jetzt so nahe vor dem Arris, dass sie seinen Atem spüren konnte. Er roch schlecht und ging fast so schnell wie ihr eigener. »Vielleicht ist es ja das, was du brauchst! Du glaubst, du wärst alt genug, um mit Erwachsenen deine Spielchen spielen zu können, du dumme Göre? Meinetwegen, aber dann musst du auch darauf gefasst sein, wie eine Erwachsene behandelt zu werden!« Er griff noch fester zu. Seine Finger wollten für einen Moment durch den Stoff ihres Rockes in sie eindringen, und es tat weh, so sehr, dass Arri sich krümmte und mit der freien Hand nach ihm schlug. Rahn grunzte vor Schmerz, als ihre Fingernägel seine Wange zerkratzten, und versetzte ihr einen Stoß, der sie ein paar Schritte weit zurücktaumeln ließ. »Verschwinde bloß!«, sagte er. »Lauf doch zu deiner verdammten Mutter! Vielleicht fressen euch ja beide die Wölfe!« Und damit fuhr er auf dem Absatz herum und stampfte wütend davon. Arri sank wimmernd auf die Knie. Noch immer drehte sich alles um sie. Rahns Griff war so brutal gewesen, dass sie seine Hände noch immer schmerzhaft auf ihrem Körper zu spüren glaubte. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herz pochte, als wollte es aus ihrer Brust springen, und sie fühlte sich so elend wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie hatte alles falsch gemacht. Sie war sich so schlau vorgekommen, mit ihrem genialen Plan, dabei hatte nur eine Winzigkeit gefehlt, und sie hätte sich selbst um Kopf und Kragen gebracht. Rahn hatte Recht: Sie war sicherlich kein Kind mehr, aber sie hatte sich eindeutig wie eines benommen. Was sie getan hatte, war dumm, dumm, dumm gewesen. Und so ganz nebenbei hatte sie ihr Ziel erreicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Erkenntnis in ihre Gedanken sickerte. Es war riskant gewesen, aber am Ende hatte sie Erfolg gehabt. Oder vielleicht auch einfach nur Glück. Sie blieb noch eine Zeit lang auf den Knien hocken und wartete ab, bis die Dämmerung mit

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ganzer Kraft hereingebrochen war und auch aus dem Schwarz zwischen den Bäumen ein allmählich lichter werdendes Grau wurde, dann stemmte sie sich mühsam hoch und humpelte los, um nach der Spur ihrer Mutter zu suchen.

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16 Schon sehr bald war es auch unter dem dichten Blätterdach des Waldes halbwegs hell geworden, doch dafür hatte Arris Verzweiflung eine Düsternis erreicht, die sie sich zuvor nicht einmal hatte vorstellen können. Sie hatte die Spur ihrer Mutter gefunden und wieder verloren, wieder gefunden und noch einmal verloren, und abermals gefunden, vielleicht ein halbes Dutzend Mal oder mehr, und sie war längst nicht mehr sicher, ob es tatsächlich noch die richtige Fährte war, der sie folgte, oder eine der zahllosen anderen Spuren, die sie selbst zusammen mit ihr hinterlassen hatte. Alles war falsch. Jeder Muskel in ihrem Körper tat weh, und der Wald, der bisher ein vertrauter Ort der Zuflucht für sie gewesen war, schien sich in etwas anderes verwandelt zu haben, einen düsteren Ort voller unheimlicher und bedrohlicher Dinge, die ihr Angst machten, statt ihr Schutz zu versprechen. Ihr Bein schmerzte. Jeder Atemzug, den sie nahm, wurde noch immer von einem dünnen Stich begleitet, und manchmal, wenn sie besonders tief einatmete, glaubte sie Blut zu schmecken. Mittlerweile hatte sie die Lichtung längst hinter sich gelassen und befand sich im verbotenen Wald, in den die Spur ihrer Mutter sie geführt hatte; eine Spur, von der sie nur hoffen konnte, dass es die richtige und keine, die Tage alt war. Vielleicht war ihre Mutter ja zu den Pferden gegangen - auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, warum -, und vielleicht würde sie sie ja einholen, wenn sie nur schnell genug war. Sie musste es. Wenn nicht… Nicht zum ersten Mal kam Arri in den Sinn, dass sie sich in Lebensgefahr befand. Es war nicht dieser Wald mit seinen unheimlichen Schatten und seinen bedrohlichen Geräuschen - das war eine Furcht, die ganz allein aus ihr selbst kam und die sie in Zaum halten konnte, wenn sie sich nur ein bisschen beherrschte. Zweifellos gab es gerade in diesem Teil des Waldes außer wilden Tieren noch eine ganze Reihe anderer Gefahren, die auf sie lauerten, aber ihre Mutter hatte ihr gezeigt, worauf sie zu achten hatte. So lange sie aufpasste, dass sie nicht in den Sumpf geriet oder gar in Treibsand oder sich an einem giftigen Busch verletzte, war sie nicht wirklich in Gefahr. A-

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ber was, wenn sie sich geirrt hatte und ihre Mutter nicht hier war oder sie sie einfach nicht einholen konnte? Arri bemühte sich nach Kräften, den pochenden Schmerz in ihrem Knöchel zu missachten und so rasch auszuschreiten, wie es das dichte Unterholz und der von Wurzeln und gefährlichen Löchern und Fallgruben übersäte Boden nur zuließen, aber sie kam trotzdem nur quälend langsam von der Stelle. Wenn sie ihre Mutter nicht fand, wenn sie ihre Spur verlor oder sie sie schlicht und einfach nicht einholte, dann war sie in Schwierigkeiten; in gewaltigen Schwierigkeiten sogar. Sie konnte nicht zurück. Vielleicht würde sich Rahn wieder beruhigen, wenn sie ihm nur ein bisschen Zeit ließ, aber das kam sogar selbst Arri wie bloßes Wunschdenken vor. Und selbst wenn nicht, so würde er sie jetzt ganz bestimmt nicht mehr beschützen, und wahrscheinlicher war ohnehin, dass er auf Rache für die Demütigung sann, die sie ihm zugefügt hatte. Das Allermindeste, was sie zu gewärtigen hatte, war, dass er sie schikanieren und quälen würde, bis ihre Mutter zurückkehrte. Und an alledem war sie ganz allein schuld, und das war vielleicht das Schlimmste überhaupt. Trotzdem musste sie jetzt vorwärts denken und nicht rückwärts, ganz wie es ihre Mutter ihr beigebracht hatte. Sie nahm sich vor, bis zur Grasebene zu gehen und sich bis dahin einfach an die Hoffnung zu klammern, dass sie ihre Mutter schon irgendwie finden würde; oder zumindest eine Spur, die deutlich genug war, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es die richtige war, nicht nur, um daran zu glauben. Wenn sie sie dort nicht fand… Nein, Arri zog es vor, diesen Gedanken zumindest im Moment nicht weiterzuverfolgen. Löse immer ein Problem nach dem anderen, nicht alle gleichzeitig. Auch das war einer der Lieblingssprüche ihrer Mutter. Schließlich wurde es wenigstens heller. Arri hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, doch sie spürte trotzdem, dass sie lange unterwegs gewesen war, viel länger als ihr recht war, und auf jeden Fall länger, als ihre Mutter gebraucht haben konnte, um hierher zu gelangen. Auf dem allerletzten Stück wurden ihre Schritte dann doch wieder langsamer, und eine ganz kurze Strecke vor dem Waldrand blieb sie beinahe stehen; vielleicht um den Moment, in dem sie sich selbst

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eingestehen musste, dass alles vergebens gewesen war, noch ein allerletztes Mal hinauszuzögern. Sie war so dumm gewesen. Alles, was sie erreicht hatte, war ein ebenso sinnloser wie anstrengender Marsch durch den Wald, eine gehörige Tracht Prügel, zerrissene Kleider und ein Rahn, den sie so wütend gemacht hatte, dass sie einfach nur hoffen konnte, dass er ihr nicht gleich die Kehle durchschnitt, wenn sie reumütig ins Dorf zurückkehrte. Sie ging weiter und blieb nach nur einem einzigen Schritt schon wieder stehen, als sie das helle Lachen ihrer Mutter hörte und einen Moment später ihre Stimme, die irgendetwas rief, das sie nicht verstand. Sprach sie mit jemandem? Arris Erleichterung hielt nicht einmal so lange vor, wie das glockenhelle Lachen ihrer Mutter brauchte, um in ihren Ohren zu verklingen. Ja, sie war jetzt ganz sicher, dass Lea mit jemandem gesprochen hatte, und das wiederum bedeutete, dass sie nicht allein war. Aber hatte sie nicht gesagt, dass sie allein reisen würde? Irgendwie hatte Arri plötzlich das sichere Gefühl, dass ihre Mutter nicht begeistert sein würde, sie zu sehen, aber es war auch eindeutig zu spät, um jetzt umzukehren. Vorsichtig ging sie weiter, hielt unmittelbar vor dem Waldrand wieder an und ließ sich halb in die Hocke sinken, um die Deckung eines großen Farns auszunutzen, der dort wuchs. Der Anblick, der sich ihr bot, war so verblüffend, dass sie für einen Moment mitten in der Bewegung innehielt. Sie hatte sich nicht getäuscht. Ihre Mutter stand tatsächlich nur ein kleines Stück vor ihr, kaum fünf oder vielleicht sechs Schritte entfernt. Sie sprach jetzt nicht mehr und hatte den rechten Arm halb erhoben, wie um jemandem mit einem Wink zu verstehen zu geben, dass er verschwinden sollte, aber sie drehte ihr den Rücken zu. Und sie trug nun nicht mehr den schwarzen Kapuzenumhang, sondern nur noch ihr knöchellanges Kleid, das für die Jahreszeit und vor allem die Witterung viel zu dünn war. Das Haar fiel ihr offen bis weit über die Schultern hinab und in ungebändigten Strähnen fast bis in die Mitte des Rückens, statt zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden zu sein wie am Morgen, als Arri sie das letzte Mal gesehen hatte, und auf

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den zweiten Blick fiel Arri auch auf, dass sie selbst ihr Schwert abgeschnallt hatte. Das war mehr als ungewöhnlich, denn ihre Mutter trennte sich nie von ihrem Schwert, so lange es nicht an seinem Platz an der Wand neben ihrem Stuhl hing. Jetzt lehnte es zwei Schritte entfernt an einem Baum. Ihr Umhang und auch die einfachen Schnürsandalen, die sie am Morgen getragen hatte, lagen daneben im Gras. Den erstaunlichsten Anblick aber bot das klobige, vierrädrige Gefährt, das neben ihrer Mutter stand. Bei flüchtigem Hinsehen hätte man es mit dem Ochsenkarren verwechseln können, von dem Rahn vorhin gesprochen hatte, aber dieser Vergleich hätte nicht einmal einem zweiten Blick standgehalten. Der Wagen war flacher und ein Stück länger als der Ochsenkarren, der allen Dorfbewohnern gemeinsam gehörte, hatte aber höhere Seitenwände, und auch die schweren hölzernen Räder entsprangen zwar dem gleichen Grundgedanken, wirkten aber irgendwie eleganter, und vor allem - er hatte vier Räder statt der üblichen zwei. Von den beiden Ochsen, die das Gefährt ziehen sollten, war keine Spur zu sehen. Arri stand behutsam wieder auf und versuchte noch vorsichtiger, den Farn auseinander zu biegen, um kein verräterisches Geräusch zu machen, aber sie war entweder nicht vorsichtig genug gewesen, oder die Sinne ihrer Mutter waren noch schärfer, als sie ohnehin angenommen hatte. Vollkommen ansatzlos wirbelte Lea herum, und noch bevor sie die Bewegung ganz zu Ende gebracht hatte, wurde aus ihrem gelösten Dastehen die sprungbereite Haltung einer Raubkatze. Die Überraschung verschwand so schnell, wie sie gekommen war und machte blankem Zorn Platz. »Arri?«, murmelte sie. »Also habe ich mich doch nicht getäuscht. Du bist nachlässig. Ich habe dich gehört und deinen Schritt erkannt, da warst du noch nicht ganz aus dem Wald herausgetreten.« Ihre Stimme wurde härter. »Was hast du hier zu suchen, Arianrhod?« Arri gab ihren ohnehin sinnlos gewordenen Versuch auf, möglichst lautlos durch den Farn zu treten, und machte einen entschlossenen Schritt ganz aus dem Wald heraus, und beinahe wäre es ihr sogar gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass das Zittern ihrer

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Knie tatsächlich an dem anstrengenden Weg hierher lag. »Ich habe dich gefragt, was du hier…«, setzte Lea ein weiteres Mal an und in noch schärferem Ton, brach aber dann mit einem erschrockenen Laut ab, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich abermals und noch gründlicher, als sie sah, in welchem Zustand ihre Tochter war. Sie machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen und warf einen hastigen Blick über die Schulter in die Richtung, in die sie zuvor gesehen und auch gewunken hatte, dann ging sie weiter, und für einen Moment wünschte sich Arri nichts mehr, als dass sie sie einfach in die Arme schließen und festhalten würde. Aber sie kannte ihre Mutter auch gut genug, um zu wissen, dass sie es nicht tun würde. »Was ist passiert?«, fragte Lea. »Wer hat das getan? Woher weißt du, dass ich hier bin?« »Deine Spur«, antwortete Arri. »Ich bin einfach deiner Spur gefolgt. Es war leicht. Du warst nicht besonders vorsichtig.« »Ist dir jemand gefolgt?« Leas Blick tastete aufmerksam über den Waldrand hinter Arri und kehrte dann wieder zu ihrem Gesicht zurück. Jetzt, nachdem ihr erster Schrecken verstrichen war, sollte sich eigentlich Sorge um sie oder doch wenigstens Erleichterung auf ihren Zügen bemerkbar machen, aber Arri suchte vergebens nach irgendeinem Anzeichen dafür. Ihre Mutter wirkte nur zutiefst verwirrt und in die Enge getrieben, fand sie. »Was ist passiert?«, fragte Lea noch einmal. »Wer hat das getan?« Vielleicht war das der Moment, vor dem sich Arri bisher am allermeisten gefürchtet hatte. Ihre Mutter trat mit zwei raschen Schritten ganz auf sie zu, streckte die Hand aus und fasste sie fast grob am Kinn, um ihren Kopf zur Seite zu drehen. Arri sog schmerzerfüllt die Luft zwischen den Zähnen ein, aber das schien ihre Mutter gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie zwang sie, den Kopf auf die andere Seite zu drehen, und musterte ihr Gesicht kritisch und aus eng zusammengekniffenen Augen. »Jemand hat dich verprügelt«, sagte sie. »Wer?« Arri schwieg noch immer. Es wäre so leicht, Rahn die ganze Schuld an allem zu geben. Die Geschichte, die sie sich auf dem Weg hierher

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zurechtgelegt hatte, klang überzeugend, gerade weil sie sich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernte, aber sie brachte sie plötzlich nicht mehr über die Lippen. Sie verstand selbst nicht, warum. Sie hatte nicht den allermindesten Grund, Rücksicht auf Rahn zu nehmen. »Rahn«, sagte ihre Mutter schließlich und ließ ihr Gesicht los. Sie trat einen Schritt zurück. »Habe ich Recht?« Arri schwieg noch immer. Sie gewann ein paar Augenblicke damit, die Hand zu heben und sich übertrieben behutsam über das Kinn zu streichen, so als hätte ihr der Griff ihrer Mutter sehr viel mehr wehgetan, als er es wirklich hatte, aber sie wusste natürlich, dass sie Leas Frage auf Dauer nicht ausweichen konnte. »Ja«, sagte sie schließlich, »aber…« »Bist du verletzt?«, unterbrach sie ihre Mutter. »Nein«, antwortete Arri. »Jedenfalls nicht schlimm.« »Und dir ist auch wirklich niemand gefolgt?«, wollte Lea wissen. Arri schüttelte abermals den Kopf, und Lea fuhr auf dem Absatz herum, sagte: »Warte hier. Ich bin gleich zurück.« Sie lief mit schnellen Schritten um den Wagen herum und verschwand nur ein kleines Stück dahinter im Wald. Arri verstand nun überhaupt nichts mehr. Von allen Reaktionen ihrer Mutter, die sie vorausgesehen, erhofft oder auch befürchtet hatte, war diese die sonderbarste. Bevor sie sich auch nur einigermaßen wieder beruhigt hatte, glaubte sie Stimmen zu hören, nicht nur die ihrer Mutter, sondern auch die von einem oder mehreren Männern. Ihre Ungeduld wuchs, und sie war drauf und dran, ihrer Neugier freien Lauf zu lassen und auf den Wald zuzueilen, verwarf diesen Gedanken aber augenblicklich wieder, als sie erst ein Rascheln hörte und dann Schritte, die direkt auf sie zuhielten. Ihre Mutter tauchte im Unterholz auf, und wenn sie im Wald mit jemandem gesprochen hatte, dann ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Im Vorbeigehen nahm sie ihr Schwert auf und band es sich um, ohne im Schritt innezuhalten. Arri war beunruhigt. Sie hatte diese einfachen Bewegungen schon so oft gesehen, dass sie für sie ebenso zur Selbstverständlichkeit geworden waren, wie sie ihrer Mutter in Fleisch und Blut übergegangen sein mussten. Und

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doch war mit einem Male etwas vollkommen Neues, schwer in Worte zu Fassendes, Bedrohliches daran. Zum allerersten Mal hatte sie das Gefühl, dass ihre Mutter das Schwert nicht nur um die Hüfte band, weil es auf diese Weise einfacher zu transportieren war, sondern sich zum Kampf rüstete. »Mit wem hast du gesprochen?«, fragte sie. »Gesprochen?«, wiederholte Lea, und diesmal hatte Arri das sichere Gefühl, dass sie es jetzt war, die diese Frage nur stellte, um Zeit zu gewinnen. »Als ich gekommen bin«, antwortete sie. »Und gerade jetzt wieder. Du hast mit jemandem geredet.« »Oh, das.« Lea machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe die Pferde gerufen.« Arri trat einen halben Schritt zur Seite und sah sich mit einer fast schon übertriebenen Geste in der Runde um. Die wellige Grasebene lag vollkommen leer vor ihr. Weder von Nachtwind noch von seiner Herde war irgendetwas zu sehen, und sie hätte es auch gewusst, wären die Pferde noch vor einigen Augenblicken hier gewesen. Als sie Nachtwind das letzte Mal zusammen mit ihrer Mutter besucht hatte, hatte es Tage gedauert, bis der nicht einmal unangenehme, aber durchdringende Geruch, der den Tieren anhaftete, völlig aus ihren Kleidern und ihrem Haar verschwunden war. »Also, was ist passiert?«, fragte Lea noch einmal, jetzt ruhiger, aber auf eine bestimmende Art, die keine Ausflüchte mehr zulassen würde. »War das Rahn? Warum?« »Ja«, antwortete Arri. Der Blick ihrer Mutter verfinsterte sich, und Arri hörte sich beinahe zu ihrer eigenen Überraschung und sehr hastig fortfahren: »Aber es war nicht seine Schuld.« »Nicht seine Schuld?« Leas Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. »Was soll das heißen? Hast du ihn vielleicht darum gebeten, dich grün und blau zu schlagen?« Arri suchte vergebens nach einer Antwort. Sie war mindestens ebenso überrascht von dem, was sie gesagt hatte, wie es ihre Mutter sein musste, und wahrscheinlich noch viel mehr. Dass ausgerechnet sie Rahn in Schutz nahm, das wäre ihr selbst noch vor einem Atem-

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zug wie ein Ding der Unmöglichkeit vorgekommen. Schließlich sagte sie: »Es war… ich habe ihn gereizt. Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen. Ich war dumm. Es war meine Schuld, wirklich. Schließlich kenne ich Rahn lange genug und hätte wissen müssen, wie weit ich gehen kann.« Vielleicht waren auch diese Worte nicht besonders klug gewählt. Lea wirkte alles andere als überzeugt, und in Arri breitete sich ein sachtes Gefühl von Panik aus, während sie sich fragte, was sie wohl antworten sollte, wenn ihre Mutter sie nach Einzelheiten fragte. Sie würde sich zweifellos sofort in Widersprüche und Ungereimtheiten verstricken. »Und dann bist du hierher gekommen, um nach mir zu suchen?«, vergewisserte sich ihre Mutter, noch immer in gleichermaßen ungläubigem wie zweifelndem Ton. »Wieso?« »Rahn hat mir gesagt, dass du den Ochsenkarren nicht genommen hast«, antwortete Arri. »Deshalb bin ich deiner Spur durch den Wald gefolgt.« Sie deutete auf den sonderbaren, vierrädrigen Karren. »Woher kommt dieser Wagen?« Lea tat, als hätte sie die Frage gar nicht gehört. »Rahn ist ein verdammter Dummkopf. Ich sollte zurückgehen und ihm die Kehle durchschneiden. Was hast du getan, um ihn so wütend zu machen?« »Wenn ich das wüsste«, antwortete Arri ausweichend. »Ein Wort hat das andere gegeben, und ich war so wütend, und…« Sie hob hilflos die Schultern. »Und dann bist du einfach davongerannt«, vermutete ihre Mutter. Ihre Miene wurde noch finsterer. »Ich sollte dir eine gehörige Tracht Prügel verabreichen, aber das hat Rahn ja anscheinend schon erledigt…« Sie stutzte. Aus dem Ärger auf ihrem Gesicht wurde ein eher nachdenklicher, dann misstrauischer Ausdruck, während ihr Blick an Arri hinabwanderte und an einem Punkt dicht über ihren Füßen hängen blieb. Arris Blick folgte dem ihren, und sie fuhr zusammen, als ihr klar wurde, dass ihre Mutter den Riss in ihrem Rock entdeckt hatte. »Das ist auf dem Weg hierher passiert«, sagte sie hastig und hätte sich im nächsten Moment am liebsten selbst geohrfeigt, das über-

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haupt gesagt zu haben. Sie hatte eine Frage beantwortet, die ihre Mutter gar nicht gestellt hatte, und damit aus einem möglicherweise einfach nur neugierigen Blick einen Verdacht gemacht, den sie ja gerade hatte zerstreuen wollen. Das Misstrauen in den Augen ihrer Mutter loderte auch prompt höher auf, und sie war sichtlich dicht davor, eine Frage zu stellen, die Arri nun vermutlich endgültig in Bedrängnis gebracht hätte. Aus ihrer unterschwelligen Panik war längst wirkliche geworden, und sie verstand sich selbst immer weniger. Wieso verteidigte sie Rahn? Zu ihrer Erleichterung gab sich ihre Mutter jedoch mit dieser wenig überzeugenden Erklärung zufrieden, auch wenn ihre Laune eher noch tiefer zu sinken schien. »Was hast du dir nur dabei gedacht, hierher zu kommen?«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich bin einfach deiner Spur gefolgt, und…« »Das meine ich nicht, und das weißt du auch ganz genau, mein liebes Kind.« Lea machte eine ärgerliche Handbewegung. »Weißt du eigentlich, dass mich deine Gedankenlosigkeit einen ganzen Tag kostet? Wie gesagt - hätte Rahn es nicht schon getan…« »Was meinst du damit: Es kostet dich einen ganzen Tag?«, fragte Arri. »Der Weg zurück ins Dorf«, antwortete Lea. »Bis ich wieder hier bin, ist es viel zu spät, um noch aufzubrechen.« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Jetzt muss ich zurückgehen und noch mehr Zeit damit vergeuden, diesen Dummkopf wieder zu beruhigen.« »Nein!«, entfuhr es Arri erschrocken. »Was - nein?« Lea legte den Kopf schräg und sah sie aus schmaler werdenden Augen an, und Arri verspürte schon wieder das heftige Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. Es war nicht das Wort, welches das Misstrauen ihrer Mutter schürte, sondern ihr Ton. »Ich… ich gehe nicht zurück«, antwortete sie stockend. »Das will ich nicht.« »So, das willst du nicht«, wiederholte Lea mit sonderbarer Betonung. »Und du meinst, das wäre Grund genug für mich, meine Pläne zu ändern?«

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»Ich meine: Ich… ich kann nicht zurück«, antwortete Arri hastig. »Rahn war… er war wirklich sehr wütend, und… und ich weiß nicht… ich glaube nicht, dass er sich wieder beruhigt.« Ihre Mutter sagte einige Augenblicke lang gar nichts, aber ihr Blick tastete noch einmal und auf nun andere Weise über ihr Gesicht und ihre Arme, so als überlege sie misstrauisch, woher diese Verletzungen wohl wirklich stammen mochten. »Ich kann nicht zurück«, sagte Arri noch einmal. »Bitte. Ich… ich will…« »Was?«, fragte Lea. »Ich will mit dir gehen«, stieß Arri hervor. »Ich will nicht bei Rahn und den anderen bleiben - und schon gar nicht bei Achk. Er ist ein widerlicher alter Mann, der mir Angst macht.« »Er ist vor allem ein blinder alter Mann, der Hilfe braucht«, antwortete Lea. Es klang nicht wirklich überzeugt, sondern eher wie etwas, das sie sich zurechtgelegt hatte. »Du kannst ihn nicht einfach allein lassen.« »Er ist auch bis jetzt ganz gut allein zurecht gekommen. Die anderen werden sich schon um ihn kümmern. Und ich… ich will nicht zurück. Lass mich mit dir gehen.« »Das ist unmöglich«, antwortete Lea. »Es wäre viel zu gefährlich. Du…« »Ich gehe nicht zurück«, unterbrach Arri sie. Sie schrie fast, und wäre ihre Mutter nicht ohnehin schon misstrauisch gewesen, so hätte allerspätestens der Ton, in dem sie diese Worte hervorstieß, sie es werden lassen. »Und das ist also alles, was du zu sagen hast?«, fragte Lea kühl. »Du gehst nicht zurück?« Arri schwieg verstockt. Sie kannte ihre Mutter wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie mit ihrem Schweigen alles nur noch schlimmer machte, aber das galt zumindest in diesem Augenblick auch für jedes Wort, das sie hätte anbringen können. »Was ist wirklich geschehen?«, fragte ihre Mutter plötzlich. Arri schwieg weiter, auch wenn sie nicht einmal selbst genau wusste, warum. Ihre Mutter konnte kaum wütender werden, als sie es oh-

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nehin schon war, und allerspätestens nach ihrer Rückkehr ins Dorf würde sie ohnehin erfahren, was sie getan hatte, und ob das noch heute oder in etlichen Tagen geschah, machte vermutlich keinen Unterschied. Aber sie brachte es einfach nicht über die Lippen. Sie stand einfach da, starrte ihre Mutter an und war sich selbst sehr genau bewusst, dass sie sich wie ein verstocktes kleines Kind benahm, aber es half nicht. »Wie du willst«, sagte ihre Mutter schließlich, nachdem sie eine geraume Weile ebenso vergeblich wie mit wachsender Ungeduld auf eine Antwort gewartet hatte. Sie drehte sich mit einem Ruck herum, hob im Vorbeigehen ihren Umhang und die Sandalen auf und verschwand mit schnellen Schritten im Wald. Sie blieb nicht sehr lange fort, aber trotzdem lange genug, um Arri Zeit zu lassen, ihren Entschluss, hierher gekommen zu sein, hundertmal zu bedauern und ganz ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen, einfach kehrtzumachen und ins Dorf zurückzulaufen, um sich Rahns Zorn zu stellen und allem anderen, was dort vielleicht noch auf sie warten würde. Hatte sie sich tatsächlich eingebildet, dass sie nur hierher zu kommen brauchte, um ihre Mutter von ihrem einmal gefassten Entschluss abzubringen? Sie sollte sie eigentlich gut genug kennen, um zu wissen, wie lächerlich diese Vorstellung war. Vielleicht hätte sie es sogar wirklich getan, hätte der sonderbare Wagen, der unmittelbar vor ihr stand, ihre Aufmerksamkeit nicht erneut geweckt. Bisher war sie viel zu aufgeregt und zu verstört gewesen, um dem fremdartigen Gefährt mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken - und sich vielleicht ein ganz kleines bisschen zu wundern, wo er überhaupt herkam. Auch jetzt war diese Frage von keinem wirklich großen Interesse für sie - nicht in diesem Augenblick aber sie näherte sich ihm trotzdem und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick über die hohe Seitenwand auf die Ladefläche zu werfen. Überrascht runzelte sie die Stirn. Der Wagen war nicht leer, wie sie erwartet hatte. Auf der Ladefläche lagen mehrere Bündel, die ganz offensichtlich Kleider, Decken, und eine überraschend große Menge an Nahrungsmitteln enthielten. Auch wenn ihre Mutter am Morgen

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mit leeren Händen in den Wald gegangen war, so schien sie ihre Reise doch sorgfältig geplant und noch sorgfältiger vorbereitet zu haben. Das allein war nichts, was Arri hätte überraschen dürfen; ihre Mutter tat selten etwas ohne Grund, und noch seltener, ohne sich gut vorzubereiten, doch mit einem Male fielen ihr (neben der Kleinigkeit seiner bloßen Existenz) noch etliche andere Besonderheiten an dem Wagen auf. Obwohl er auf den ersten Blick plumper wirkte als die ganz ähnlichen Gefährte, die sie bisher gesehen hatte, wirkte er bei genauerem Hinsehen doch um einiges gefälliger. Die einzelnen Teile waren mit großer Kunstfertigkeit gebaut und auf eine Weise zusammengefügt, die Arri noch nie gesehen hatte. Doch es war und blieb das, was sie auf der Ladefläche sah, was sie am allermeisten aufwühlte. Als sie die Schritte ihrer Mutter hinter sich hörte, drehte sie sich um und fragte: »Warum hast du ihn nicht mitgebracht?« »Wen?«, fragte Lea. Arri machte eine zornige Handbewegung auf den Wald hinter ihr. »Den Mann, mit dem du gesprochen hast, als ich gerade gekommen bin.« »Ich habe mit niemandem gesprochen, und…«, begann ihre Mutter, aber Arri machte nur eine ärgerliche Geste und unterbrach sie, lauter und in fast schon vorwurfsvollem Ton. »Das war er, nicht wahr? Der Mann, mit dem ich dich im Wald gesehen habe. Wer ist er?« »Du hast uns…«, begann Lea, biss sich auf die Unterlippe und sah sie einen Moment lang so verstört an, als hätten sie plötzlich die Rollen getauscht, als wäre sie es, die sich verteidigen musste und Arri diejenige, die einen Grund hatte, empört zu sein. Dann aber erinnerte sie sich wieder daran, dass Arri ihre Tochter war, und aus dem Ausdruck ertappter Betroffenheit auf ihrem Gesicht wurde Zorn. »Ich wüsste nicht, was dich das anginge. Oder warum ich eine so unverschämte Frage überhaupt beantworten sollte.« Arri entging der drohende Unterton in ihrer Stimme so wenig wie das nur noch mühsam zurückgehaltene Funkeln in ihren Augen, aber sie war so aufgebracht, so verletzt und so zornig, dass es ihr voll-

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kommen gleich war. »Du wolltest mich nicht mitnehmen, weil du schon einen anderen Begleiter für die Reise hattest, nicht wahr?«, fragte sie. »Du hast gesagt, ich würde dich nur aufhalten, und es wäre viel zu gefährlich, aber in Wahrheit wolltest du, dass ich hier bleibe, weil du mit ihm allein sein wolltest.« Ihre Mutter setzte zu einer Antwort an, aber Arri schnitt ihr erneut und mit einer noch zornigeren Geste das Wort ab und deutete aus der gleichen Bewegung heraus auf den Wagen. »Das sind Vorräte und Decken für zwei. Du hast mich nicht zurückgelassen, weil es zu anstrengend oder zu gefährlich für mich wäre, sondern weil du mich nicht gebrauchen konntest, habe ich Recht?« Lea starrte sie an. Sie hatte die Kiefer so fest aufeinander gepresst, dass Arri ein leises Knirschen zu hören glaubte, mit dem ihre Zähne aufeinander mahlten, und ihre rechte Hand schloss sich mit aller Kraft um den Schwertgriff. Sie sagte nichts, aber Arri spürte auch, dass das einzig und allein daran lag, dass sie in diesem Augenblick nur die Wahl hatte, überhaupt nichts zu sagen oder schlichtweg zu bersten. Aber ihr selbst erging es kaum anders. Ein Teil von ihr war fast entsetzt über den geradezu unglaublichen Ton, den sie ihrer Mutter gegenüber anschlug, und doch war es ihr zugleich nicht möglich innezuhalten. Sie war empört; empört und verletzt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ihre Mutter hatte sie unter einem Vorwand bei Rahn und diesem widerlichen alten Mann zurückgelassen, um ein paar Tage allein mit diesem fremden Mann zu sein. Offensichtlich war ihr das eigene Leben wichtiger als das ihrer Tochter. Fast noch lauter und in herausforderndem, beinahe schon herrischem Ton fuhr sie fort: »Wer ist er? Kommt er aus dem Nachbardorf? Oder ist es einer von Nors Kriegern? Kenne ich ihn? Ich meine: Ist es vielleicht der, dem ich zuvor im Wald begegnet bin? Ich hoffe doch, ihr habt euch gut unterhalten, als er dir erzählt hat, dass mich der Wolf beinahe umgebracht hätte.« Ihre Mutter sagte noch immer nichts, aber in ihrem Blick erschien plötzlich ein neuer Ausdruck, der zwischen immer noch wachsendem Zorn und Betroffenheit schwankte und dem ohnehin schalen Triumph, den Arri bei ihren eigenen Worten empfand, einen noch

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schlechteren Beigeschmack verlieh. Keine Überraschung. Ihre Vermutung, die ihr tatsächlich erst in genau diesem Moment gekommen war, war offensichtlich richtig: Ihre Mutter wusste von ihrer unheimlichen Begegnung im Wald und auch von dem Zwischenfall mit dem Wolf - was ihre Frage im Grunde ja schon beantwortete. Dennoch blieb das Gefühl von gerechtem Zorn, das sie erwartete, aus. Sie war wütend, sie war verletzt und furchtbar enttäuscht, und trotzdem spürte sie zugleich, wie ungerecht das war, was sie gesagt hatte, und wie ichbezogen. Aber sie war auch zumindest jetzt einfach zu stolz, um irgendetwas davon zurückzunehmen. Es wäre auch zu spät gewesen. Ihre Mutter starrte sie noch einen Augenblick lang auf diese sonderbare Weise an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte regelrecht davon. Aber es war keine Flucht, und wenn, dann eine vor sich selbst oder dem, was sie vielleicht getan hätte, wenn sie geblieben wäre. Arri taten ihre eigenen Worte bereits wieder Leid, und wäre ihre Mutter auch nur eine Winzigkeit langsamer gewesen, wäre sie ihr nachgelaufen oder hätte ihr zumindest etwas zugerufen. Doch so war sie schon wieder im Wald verschwunden, noch ehe Arri die Bewegung auch nur wirklich bemerkte, und zum zweiten Mal blieb sie allein und niedergeschlagen zurück. Das kurze Gefühl von Triumph, mit dem es sie erfüllt hatte, ihrer Mutter die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, war vergangen, und zurück blieben Leere und Niedergeschlagenheit, die ihr fast die Tränen in die Augen steigen ließen. Für einen Moment hasste sie sich beinahe selbst. Sie kam sich vor, als läge mit einem Mal ein Fluch auf ihr, der alles, was sie anfing, in einer Katastrophe enden ließ. Vielleicht aus keinem anderen Grund als reinem Trotz drehte sie sich wieder dem Wagen zu, kletterte nach kurzem Zögern auf die Ladefläche hinauf und tat etwas, das eben noch geradezu unvorstellbar für sie gewesen wäre: Sie begann die Sachen zu durchwühlen, die ihre Mutter darauf abgeladen hatte. Bei den allermeisten handelte es sich, genau wie sie angenommen hatte, um Lebensmittel, genug für zwei Personen und mindestens acht oder zehn Tage, aber es gab auch Felle und Decken, einen Umhang, der nicht ihrer Mutter gehör-

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te, und allerlei Dinge des täglichen Bedarfs, die sie ebenfalls noch nie in Leas Besitz gesehen hatte. Auf den ersten Blick schien nichts Außergewöhnliches daran, doch auf den zweiten war es dasselbe wie mit dem Wagen - alles war zugleich vertraut und bekannt, wie auch auf schwer in Worte zu fassende Weise fremd; als wäre der grundsätzliche Gedanke, der dahinter stand, vielleicht derselbe, die Handwerkskunst, die all diese Dinge hervorgebracht hatte, aber eine vollständig andere. Zwei der großen Felle, die sie fand, waren seltsam - bei dem einen vermutete sie, dass es sich um das Fell eines Wolfes handelte, war aber nicht ganz sicher, das andere war ihr gänzlich unbekannt und stammte offensichtlich von einem Tier, das sie noch nie gesehen hatte. Statt wassergefüllter Schweinsblasen fand sie einen aus Leder gefertigten, prall gefüllten Wasserschlauch, dessen Nähte so fein und kunstfertig waren, dass nicht einmal ein einziger Tropfen daraus entwich, und einen wuchtigen Dolch, dessen Klinge aus Stein gefertigt war und nicht aus Bronze; sie war dennoch so scharf, dass sich Arri daran schnitt, als sie behutsam mit dem Finger darüber strich. Darüber hinaus entdeckte sie eine Kette, an der eine große Anzahl bedrohlich aussehender Raubtierzähne aufgefädelt war, und einen kleinen Lederbeutel, dem ein sonderbarer Geruch entströmte, von dem sie nicht sagen konnte, ob er nun besonders angenehm oder besonders abstoßend war. Als sie ihn öffnete und einen neugierigen Blick hinein warf, gewahrte sie jedoch nichts anderes als einige kleine Knochen und ein feines grünes Pulver, das sie lieber nicht anrühren wollte. Sorgsam knotete sie den Beutel wieder zu, legte ihn und alles andere zurück an seinen Platz und verschnürte das Bündel gerade noch rechtzeitig, bevor sie die Schritte ihrer näher kommenden Mutter hörte. Ihre Zeit reichte nicht mehr aus, vom Wagen zu steigen, bevor Lea aus dem Wald heraustrat und sie sah, doch wenn ihre Mutter daran Anstoß nahm, so verlor sie zumindest kein Wort darüber. Schweigend wartete sie, bis Arri - sehr viel umständlicher, als sie hinaufgekommen war - wieder von dem Wagen herunterstieg und ihr entgegentrat.

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»Du wirst mich begleiten«, sagte sie. »Aber glaub nicht, dass die Sache damit erledigt ist. Du kannst es mir jetzt sagen, oder ich werde nach unserer Rückkehr ins Dorf herausfinden, was wirklich vorgefallen ist.« Trotz der nun wirklich nicht mehr zu überhörenden Drohung in ihrer Stimme schnitt sie Arri mit einer zornigen Bewegung das Wort ab, als diese etwas erwidern wollte, und nahm den Umhang von den Schultern. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie das Kleidungsstück auf den Wagen, verfuhr auf die gleiche Weise mit ihrem Schwert und machte dann eine befehlende Geste hin zum Kutschbock. »Warte hier«, sagte sie, während sie sich bereits wieder umdrehte. »Ich bin bald zurück. Rühr dich nicht von der Stelle.« Zum dritten Mal binnen kurzer Zeit verschwand ihre Mutter im Unterholz und kehrte diesmal schon nach wenigen Augenblicken zurück, war jedoch nicht mehr allein. Arri wandte sich erwartungsvoll zum Waldrand um, als sie das Geräusch schwerer Schritte und das Brechen von Zweigen hörte, doch sie erlebte eine Überraschung: Als ihre Mutter aus den Schatten des Waldes heraustrat, tat sie es nicht in Begleitung des schwarzhaarigen Fremden, wie Arri erwartet hatte. Stattdessen hielt sie in jeder Hand einen Strick, den sie um Hals und Kopf zweier Pferde gebunden hatte. Arri riss erstaunt die Augen auf, als sie sah, wie friedlich und gehorsam diese riesigen, starken Tiere hinter ihrer Mutter hertrotteten; und ein einziger Blick genügte, um ihr klarzumachen, dass die beiden Pferde durchaus gewohnt waren, am Zügel geführt zu werden. Anscheinend gab es da doch noch das eine oder andere, was ihre Mutter ihr nicht erzählt hatte. Von dem Mann, auf den Arri wartete, war keine Spur zu sehen, und als sie zur Seite trat, um ihrer Mutter Platz zu machen und lauschte, hörte sie auch keine Schritte. »Hilf mir«, befahl Lea unwirsch. Arri beeilte sich, an ihre Seite zu treten, und ihre Mutter drückte ihr wortlos den Strick eines der beiden Pferde in die Hand. Arri griff gehorsam zu, tat dann aber einen erschrockenen Satz zurück, als das Pferd den Kopf in den Nacken warf und ein unwilliges Schnauben ausstieß. »Halt den Zügel ruhig«, sagte Lea scharf. »Es tut ihm nichts, solan-

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ge du es nicht erschreckst.« Arri hatte rein gar nichts anderes getan, als einfach nur den Strick festzuhalten, aber sie schluckte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, vorsichtshalber herunter. Das Tier scheute noch einmal und sogar noch heftiger, beruhigte sich dann aber binnen eines einzigen Augenblicks und begann an dem saftigen Gras zu seinen Füßen zu zupfen, als wäre nichts geschehen. Arri hielt den Strick gehorsam fest, wich aber trotzdem so weit an sein Ende zurück, wie es nur ging, und beäugte das Tier weiter misstrauisch aus den Augenwinkeln. Sie war verwirrt, auch wenn sie schon mehrmals zusammen mit ihrer Mutter hier gewesen war, um Nachtwind und seine Herde zu besuchen oder auch mit den Tieren zu spielen, was ihr allerdings nur mit sehr wenigen wirklich gelungen war. Die allermeisten zeigten zwar keine wirkliche Angst, wohl aber so etwas wie eine natürliche Scheu vor Menschen und erlaubten es nicht, ihnen wirklich nahe zu kommen oder sie gar anzufassen. Dieses Tier hier war anders; ebenso wie das zweite, das ihre Mutter nun am Zügel zum vorderen Ende des Wagens führte, schien es die Nähe von Menschen durchaus gewohnt zu sein und sie auch zu akzeptieren. Arri war plötzlich sicher, diese beiden Pferde noch nie bei Nachtwinds Herde gesehen zu haben. Jetzt fiel ihr auch auf, dass auf den Rücken der beiden Tiere große Felle lagen, deren Zweck ihr nicht klar war. Neugierig und mit wachsendem Staunen sah sie zu, wie ihre Mutter das Pferd mit einem zwar aus groben Stricken, dennoch aber kunstvoll geflochtenen Geschirr an den Wagen anspannte. Arri hätte erwartet, dass es sich sträubte, doch es schien überhaupt nichts dagegen zu haben und fing ganz im Gegenteil friedlich und scheinbar vollkommen gleichmütig an zu grasen, während ihre Mutter noch damit beschäftigt war, die Leinen und Stricke festzuknoten. Als sie fertig war, gebot sie Arri mit einer wortlosen Geste, das andere Tier herbeizubringen. Arri gehorchte und sah weiter zu, wie ihre Mutter die Prozedur wiederholte und ihr Werk anschließend kritisch begutachtete, so als wüsste sie zwar, was sie tat, hätte aber nicht allzu viel Übung darin, sodass sie es vorzog, ihre eigene Arbeit noch einmal zu kontrollieren. Auch eine Konstruktion wie diese hatte Arri

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noch nie zuvor gesehen. Im Grunde ähnelte sie der Deichsel, mit der auch die Ochsen vor den Karren gespannt wurden, hatte aber kein Joch, sondern nur eine große Schlaufe, die über Hals und Brust der Pferde gelegt wurde und zusätzlich mit weichen Blättern umwickelt war, vermutlich, damit sich die Tiere nicht wund scheuerten. »Woher kommen diese Pferde?«, fragte sie. Ihre Mutter sah nicht einmal in ihre Richtung, geschweige denn, dass sie geantwortet hätte, sondern fuhr wortlos fort, das Geschirr zu überprüfen. »Sie gehören nicht zu Nachtwind und seiner Herde, habe ich Recht?«, bohrte Arri weiter. Auch jetzt schien es im allerersten Moment so, als wolle Lea einfach nur weiter beharrlich schweigen, dann aber deutete sie zumindest ein Kopfschütteln an und rang sich zu einem einsilbigen »Nein« durch. »Dann gibt es noch mehr als diese eine Herde?«, fragte sie. Ihre Mutter war endlich fertig damit, den festen Sitz des Geschirrs zu überprüfen. Sie ging in weitem Bogen um den Wagen herum, tätschelte im Vorbeigehen die Nüstern eines der Tiere, was dieses mit einem zufriedenen Schnauben quittierte, und stieg dann mit einer raschen Bewegung auf die schmale Sitzbank am vorderen Ende des Gefährts. »Sie gehören Dragosz«, antwortete sie mit einiger Verspätung und in unwilligem Ton auf Arris Frage. Zugleich machte sie eine knappe Handbewegung auf den freien Platz neben sich. »Dragosz?«, wiederholte Arri, während sie gehorsam zu ihrer Mutter hinaufkletterte. Immerhin wusste sie jetzt schon seinen Namen. Er klang sonderbar, fand sie. Ganz anders als die Namen der Männer aus dem Dorf. Aber wenn sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern, dann musste sie zugeben, dass er auch irgendwie sonderbar ausgesehen hatte, wenngleich sie nicht in der Lage war, diesen Unterschied genau in Worte zu fassen. »Und wer ist er?«, fragte sie. Ihre Mutter warf einen langen, aufmerksamen Blick in die Runde, vielleicht, weil sie sich überzeugen wollte, dass sie nichts vergessen oder zurückgelassen hatte, eher aber wohl, weil sie nach jemand ganz Bestimmten Ausschau hielt… Arris Augen schweiften aufmerksam

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über das nahe Unterholz, und dann setzte sich der Wagen auch schon mit einem sanften Ruck in Bewegung und riss sie aus ihren aufgewühlten Gedanken. »Jemand, den du nicht kennst. Und den du auch nicht kennen gelernt hättest, wenn es nach mir ginge. Wenigstens jetzt noch nicht.« »Aber…«, begann Arri, aber Lea unterbrach sie sofort und in unwilligem Ton. »Schweig jetzt«, sagte sie. »Ich will jetzt nicht reden. Wir haben noch Zeit genug dazu. Wir haben einen langen Weg vor uns.«

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17 Bis spät in den Nachmittag hinein fuhren sie in gemäßigtem, aber gleichmäßigem Tempo nach Osten, ohne dass ihre Mutter auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Auch ihr Gesicht blieb während der ganzen Zeit vollkommen ausdruckslos und starr. Arri warf ihr dann und wann einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu - der Lea natürlich nicht verborgen belieb -, verfiel aber darüber hinaus in dasselbe verstockte Schweigen wie sie. Ihre Mutter war immer noch übelster Laune, das spürte sie trotz der vollkommenen Ausdruckslosigkeit, die sie wie eine Maske über ihr Gesicht gestülpt hatte. Aber es war nicht nur Zorn oder der Ärger über ihren Ungehorsam, der sie zwang, ihre Pläne so überstürzt zu ändern. Da war noch mehr. Arri kannte ihre Mutter gut genug, um zu spüren, dass sie schwere Sorgen plagten. Vielleicht Angst. Und schließlich war es auch Arri, die das immer drückender werdende Schweigen nicht mehr ertrug. Den ganzen Nachmittag über waren sie durch eine ständig wechselnde Landschaft gefahren. Die weite, nur von einigen wenigen, in kleinen Gruppen wachsenden Bäumen unterbrochene Grasebene war einer sumpfigen Flusslandschaft gewichen, durch die sich der Wagen nur mühsam und äußerst vorsichtig seinen Weg hatte bahnen können, dann war es ein gutes Stück - weit weniger gefährlich, dafür aber umso langsamer - am Rande dichter Wälder vorbeigegangen, in denen die Zeit schneller voranzuschreiten schien, denn ein Großteil der Blätter hatte sich schon goldgelb gefärbt oder lag bereits als allmählich verfaulendes Laub am Boden, und schließlich wieder eine weite, flache Ebene, auf der nichts anderes als Gras und kümmerliches Gebüsch wuchsen. Einmal waren ihnen mehrere Wisente begegnet, die ihrer Gegenwart aber nur flüchtig Beachtung schenkten und nicht einmal die Mahlzeit unterbrachen, die ihnen das noch immer saftig wachsende Gras bot. Arri betrachtete die großen, kräftigen Tiere mit den mächtigen Hörnern mit angemessenem Respekt, aber auch der Neugier, die sie aufgrund der großen Entfernung, an der sie an ihnen vorbeifuhren, ohne Scheu aufbringen konnte. Die Herde bot nicht nur einen

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beeindruckenden Anblick, die Gelassenheit, mit der die Tiere auf ihre Anwesenheit reagierten, brachte sie auch zu der Vermutung, dass sie sich in einem Landstrich befanden, in den sich nur sehr wenige Jäger verirrten, die hinter den riesigen, aber eigentümlich gutmütigen Tieren her waren; vielleicht überhaupt keine. Ein anderes Mal galoppierte eine Gruppe wilder Pferde in großem Abstand an ihnen vorbei, bei der es sich aber vermutlich nicht um Nachtwind und seine Familie handelte; so vertraut, wie ihre Mutter mit dem Hengst und seiner Herde war, wäre er sicherlich herangekommen, um sie zu begrüßen. Für eine Weile beschäftigte Arri all das Neue und Unbekannte, das sie sah, hinlänglich genug, dass ihr die Zeit nicht lang wurde. Aber als sie dann auf Geheiß ihrer Mutter an einem Bach vom Bock kletterte und ihr half, die Pferde zu tränken, wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte. Mit einem heftigen Anflug schlechten Gewissens sah sie die Sorge in Leas Augen, denn letzten Endes war sie es, die schuld an der niedergeschlagenen Stimmung war, in der sich ihre Mutter befand. Sie war immer noch ein wenig wütend, und sie empfand immer noch ein Gefühl tiefer Enttäuschung, dass das Wiedersehen mit ihrer Mutter so vollkommen anders verlaufen war, als sie gehofft hatte. Aber sie war immer weniger sicher, ob sie tatsächlich das Recht hatte, so zu empfinden. Sicherlich hatte sie das Recht, enttäuscht über die Erkenntnis zu sein, dass ihre Mutter die Gesellschaft dieses Fremden der ihren offensichtlich vorzog, und sei es nur für eine Weile - aber auf der anderen Seite sagte sie sich, dass auch ihre Mutter eine Frau mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen war. Vermutlich hatte Lea bei diesem Fremden - Dragosz - etwas gefunden, was ihr weder Rahn noch Grahl oder irgendein anderer aus dem Dorf geben konnte; und das ganz sicherlich nicht nur in körperlicher Hinsicht. »Du wolltest wissen, was wirklich passiert ist«, begann sie, nachdem sie den Bach schon wieder eine ganze Weile hinter sich gelassen hatten. Lea tat ihr nicht den Gefallen, es ihr leichter zu machen, indem sie darauf einging. Aber sie erwies sich zumindest als eine Spur erwach-

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sener als sie, denn sie sagte zwar nichts, wandte aber nach ein paar Augenblicken den Kopf und sah sie scheinbar gleichgültig an. »Es… es war nicht Rahns Schuld«, fuhr Arri stockend fort, jetzt, wo sie sich dazu durchgerungen hatte zu reden, sollte es ihr eigentlich leichter fallen, die richtigen Worte zu finden, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Sie hatte sich fest vorgenommen, bei der Wahrheit zu bleiben, ganz gleich, wie ärgerlich ihre Mutter auch darauf reagieren würde, und doch ertappte sie sich schon wieder dabei, nach Worten und Wendungen zu suchen, die ihre eigene Rolle in dieser unrühmlichen Geschichte in einem etwas besseren Licht erscheinen ließen. Die Worte, die ihr über die Lippen kommen wollten, waren nicht die, die sie sich eigentlich zurechtgelegt hatte. »Ich war wütend auf dich. Ich wollte nicht allein bleiben, und als Rahn mir dann auch noch erzählt hat, was du ihm aufgetragen hast, habe ich ihn so lange gereizt, bis er zornig wurde und auf mich losgegangen ist.« Leas Blick wurde fragend, aber sie sagte immer noch nichts. Arri fuhr sich hastig mit dem Handrücken über den Mund, sammelte all ihre Kraft und erzählte dann, stockend und immer wieder innehaltend, um ihrer Mutter einen scheuen Blick zuzuwerfen und in ihrem Gesicht nach irgendeiner Reaktion auf das Gehörte zu suchen, sich aber dennoch streng an die Wahrheit haltend, was wirklich passiert war. Als sie bei der Stelle angelangt war, an der sie den sich schlafend stellenden Schmied zu einem glaubwürdigen Zeugen für etwas gemacht hatte, was in dieser Form niemals passiert war, glaubte sie es kurz und belustigt in Leas Augen aufblitzen zu sehen, war aber nicht ganz sicher, ob sie vielleicht nur etwas gewahrte, was sie sehen wollte. Ihre Mutter schwieg weiter und forderte sie mit keinem Wort, keiner Geste auf, irgendetwas zu erklären, sondern sah sie nur aufmerksam an. Als Arri erzählte, wie Rahn sie draußen vor der Hütte angegriffen und was genau er getan hatte, verdüsterte sich ihr Blick tatsächlich für einen kurzen Moment, aber sie sagte auch jetzt nichts, sondern wartete ab, bis Arri zu Ende berichtet hatte. »Und dann bist du meiner Spur bis zur Ebene gefolgt?«, fragte sie in leicht zweifelndem Ton. »Habe ich eine so deutliche Fährte hinter-

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lassen? Ich erinnere mich gar nicht, so unvorsichtig gewesen zu sein.« »Ich weiß es nicht«, antwortete Arri wahrheitsgemäß. »Als Rahn erzählt hat, dass du den Ochsenkarren nicht genommen hättest, habe ich einfach gehofft, dich dort zu finden.« Diese Antwort schien ihrer Mutter nicht unbedingt zu gefallen; oder zumindest nicht das zu sein, was sie gern gehört hätte. »Bist du sicher, dass er dir nicht gefolgt ist?« »Rahn?« Arri schüttelte überzeugt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihm nach einem Spaziergang zumute war.« Lea blieb ernst. »Es wäre nicht gut, wenn er uns gesehen hätte.« »Er ist mir nicht gefolgt«, versicherte Arri. »Ich hoffe«, seufzte ihre Mutter. »In den letzten Tagen ist er mir mehrmals nachgeschlichen. Er ist ein solcher Tölpel, dass ich schon taub sein müsste, um ihn nicht zu hören, aber man kann nie wissen.« »Rahn ist dir nachgeschlichen?«, vergewisserte sich Arri. »Glaubst du, er weiß von…« »Von Dragosz?« Lea schüttelte heftig den Kopf und ließ die Bewegung dann übergangslos in einem Schulterzucken enden. »Ich weiß es nicht. Am Anfang habe ich es gedacht, aber vielleicht war es nur meine eigene Eitelkeit, die mich das glauben ließ.« Sie lachte leise und zuckte abermals und irgendwie bitterer mit den Schultern. »Vielleicht hofft er auch nur, dass ich ihn zu der Stelle führe, an der ich meinen Schatz vergraben habe.« »Was für ein Schatz?«, entfuhr es Arri. »Der, von dem dieser Dummkopf glaubt, dass ich ihn habe«, antwortete Lea abfällig. Arri verstand immer noch nicht, wenigstens nicht gleich. Aber dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Die Oraichalkos-Perle?« »Anscheinend bildet sich dieser Dummkopf ein, dass ich einen ganzen Sack voll davon irgendwo vergraben habe. Und wahrscheinlich wird dieser Sack in seiner Einbildung jedes Mal ein bisschen größer, wenn er darüber nachdenkt.« »Und wie viel Oraichalkos hast du wirklich?«, fragte Arri. Statt zu antworten, griff ihre Mutter unter ihr Kleid und streckte ihr

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dann den Arm hin. Auf ihrer Handfläche lag eine kleine, honigfarbene Träne. Die Perle, die Lea Rahn in jener Nacht angeboten hatte, als sie dabei gewesen war. »Nur… nur diese eine?«, vergewisserte sie sich. Ihre Mutter lachte leise und vollkommen humorlos und steckte ihren Schatz wieder ein. »Glaubst du, wir würden hier leben, wenn ich reich wäre?« Arri wusste nicht genau, was das Wort reich bedeutete, zumindest nicht in dem Zusammenhang, in dem ihre Mutter es jetzt gebrauchte, aber sie begriff immerhin, was sie meinte. »Aber wenn du nur diesen einen Stein hast…«, begann sie. »Dann wird Rahn nicht besonders begeistert sein, wenn das Frühjahr kommt«, fügte Lea mit einem kühlen Lächeln hinzu. »Ich weiß.« »Du hast ihm zwei Steine versprochen.« »Und ich habe nur einen. Immerhin hat es den Vorteil, dass er mir meinen Schatz auch nicht stehlen kann.« Arri lächelte zwar pflichtschuldig, aber sie verstand die Beiläufigkeit nicht, mit der ihre Mutter das sagte. Rahn war kein Mann, der sich ungestraft betrügen ließ. »Und was willst du ihm sagen, wenn es Frühjahr wird, und er zwei Steine erwartet?« »Bis zum Frühjahrsfest werde ich ihn vertrösten können. Und sei dir sicher: Bevor das letzte Feld bestellt ist, sind wir schon längst über alle Berge.« Plötzlich warf Lea den Kopf in den Nacken und begann laut und schallend zu lachen. »Schade, dass ich nicht dabei war, um sein Gesicht zu sehen, als er auf dich losgegangen ist«, kicherte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich überrascht war.« Sie blinzelte ihr zu. »Und mach dir keine Sorgen. Er wird niemandem etwas erzählen. Rahn würde niemals zugeben, von einem Kind verprügelt worden zu sein.« »Eigentlich hatte ich eher das Gefühl, dass er mich verprügelt hat«, antwortete Arri zerknirscht. Um ganz genau zu sein, hatte sie dieses Gefühl nicht gehabt, sondern hatte es noch immer. Die Zeit, die sie ruhig neben ihrer Mutter

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auf dem Kutschbock gesessen und wenigstens innerlich etwas zur Ruhe gekommen war, hatte es sie fast vergessen lassen, aber nun, durch die Erinnerung geweckt, glaubte sie erneut jeden einzelnen Hieb und Tritt zu spüren, den der Fischer ihr versetzt hatte. Selbst das dünne Stechen in ihrer Seite, mit dem ihre angeknackste Rippe jeden einzelnen Atemzug kommentierte, war wieder da. Spätestens morgen früh, dachte sie missmutig, würde sie sich wohl nicht einmal mehr bewegen können, ohne vor Schmerz die Zähne zusammenzubeißen. »Du hast mehr Glück als Verstand gehabt«, antwortete ihre Mutter in - zumindest Arris Meinung nach - vollkommen unangemessenem, fröhlichem Ton. »Rahn hätte dich ebenso gut auch umbringen können.« Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Tochter prüfend an. »Du hast doch nicht etwa wirklich geglaubt, es mit ihm aufnehmen zu können?« Tatsächlich war es genau das gewesen, was Arri geglaubt hatte, obwohl ihr natürlich längst klar war, wie närrisch diese Vorstellung gewesen war. Sie zog es vor, nicht auf diese Frage zu antworten, aber ihr Gesichtsausdruck schien Lea Antwort genug zu sein, denn sie runzelte die Stirn und schüttelte abermals den Kopf. »Wenn das wirklich so ist, dann war ich eine schlechte Lehrerin. Und du hast die Tracht Prügel, die er dir versetzt hat, wahrscheinlich verdient.« »Aber…« »Ich habe dir ein paar Kniffe und ein paar kleine Gemeinheiten gezeigt, mit denen du dich deiner Haut erwehren kannst, wenn es nötig ist«, fuhr Lea unbeeindruckt fort. »Aber ich habe dir oft genug gesagt, dass du dich nicht überschätzen sollst. Rahn ist sicherlich ein Dummkopf, aber er ist ein verdammt starker Dummkopf. Abgesehen von Grahl und seinem Bruder ist er wahrscheinlich der stärkste Mann im Dorf. Nicht einmal ich hätte den Mut, ihn so zu reizen; zumindest nicht, wenn ich unbewaffnet wäre. Du hast verdammtes Glück, überhaupt noch an Leben zu sein, ist dir das klar?« »Ja«, gestand Arri kleinlaut. Ihr Gefühl von Enttäuschung und Zorn verschwand zusehends. Ihre Mutter reagierte weitaus weniger heftig auf ihre Eröffnung, als sie erwartet hatte. Sie ging einfach zur Tages-

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ordnung über, und vielleicht war das ihre Art, ihr zu sagen, dass sie verstand, was sie getan hatte, und warum. Arri aber gestand sich ihrerseits ein, dass sie allen Zorn und jede Strafe verdient hatte, die ihre Mutter sich für ihren Ungehorsam vielleicht noch einfallen lassen konnte. Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte Lea in diesem Augenblick: »Ich hoffe, dir ist klar, was du beinahe angerichtet hättest, Arianrhod. Es hätte dich das Leben kosten können.« »Ich weiß«, antwortete Arri zerknirscht. »Es tut mir auch Leid, aber…« Hilflos hob sie die Schultern und wusste mit einem Male nicht mehr, wohin mit ihrem Blick und ihren Händen. Auch ohne sie anzusehen, spürte sie, dass diese Worte ihrer Mutter nicht reichten. »Ich sollte enttäuscht sein«, fuhr Lea fort. »Ich dachte, du hättest verstanden, was ich dir beizubringen versucht habe, aber ich bin wohl doch keine so gute Lehrerin, wie ich mir eingebildet habe.« »Aber ich wollte doch nur…«, begann Arri, aber Lea hörte ihr gar nicht zu, sondern fuhr mit einem Seufzen fort: »Du hast so ziemlich alles falsch gemacht, was man überhaupt nur falsch machen kann. Du musst lernen, vorher über die Folgen dessen nachzudenken, was du tust. Diesmal bist du mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Aber es hätte auch anders ausgehen können. Es hätte auch ihn das Leben kosten können. Wolltest du das?« Arri war ein wenig erstaunt, als ihr klar wurde, dass sie diese Frage nicht wirklich beantworten konnte. Abermals hob sie hilflos die Schultern. Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen, murmelte sie nach einer Weile: »Was stört mich dieser Dummkopf.« Ohne dass sie hätte sagen können, warum, spürte sie, dass diese Antwort vielleicht die falscheste war, die sie in diesem Moment hätte geben können. Ihre Mutter sah sie eine kleine Ewigkeit lang durchdringend an, dann überzeugte sie sich mit einem raschen Blick davon, dass das Gelände vor ihnen eben und frei von Hindernissen war, sodass die Pferde zumindest für das nächsten Stück allein ihren Weg finden würden, ließ die Zügel in den Schoß sinken und drehte sich auf der schmalen Bank ganz zu ihr um. »Ist das alles, was er für dich ist? Ein Dummkopf?«

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Arri wollte antworten, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf, um ihr das Wort abzuschneiden, und fuhr mit ein wenig traurig klingender Stimme fort: »Du hasst ihn, nicht wahr? Ich meine, nicht erst, seitdem du ihn zusammen mit mir gesehen hast… Er hat dich ein Leben lang gequält und gedemütigt, und du hast dir schon lange gewünscht, es ihm heimzuzahlen. Ist es das, was du wolltest? Seinen Tod?« »Nein!«, sagte Arri fast erschrocken - und vielleicht gerade so hastig, weil da ein winziger Teil in ihr war, der genau das gewollt hätte. Nur hatte sie es bis zu diesem Moment nicht wirklich begriffen. Oder nicht wahrhaben wollen. »Die Welt wäre bald ein ziemlich einsamer Ort, wenn wir jedem, der uns einmal gedemütigt oder beleidigt hat, den Tod wünschen und alle diese Wünsche in Erfüllung gehen würden«, fuhr Lea fort. »Ich mag Rahn ebenso wenig wie du, aber das gibt mir nicht das Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um eines kleinen Vorteils willen. Was hättest du getan, hätte ich deine Lüge geglaubt und ihn zur Rechenschaft gezogen? Hättest du zugesehen, wie ich ihn töte?« Arri wusste es nicht. Aber sie fühlte sich zunehmend unwohler. Ihre Mutter hatte vollkommen Recht, mit jedem Wort. Sie hatte so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. »Es tut mir Leid«, murmelte sie nur noch einmal. »Das hoffe ich«, sagte Lea ernst. »Ich werde dich nicht für das bestrafen, was du getan hast, obwohl du es wahrlich verdient hättest. Aber ich will, dass du darüber nachdenkst. Nicht so sehr über das, was du getan hast, sondern über das, was hätte passieren können. Versprichst du mir das?« Arri nickte. Sie meinte es ernst. »Gut«, sagte Lea. »Dann ist die Angelegenheit für mich erledigt. Ich werde nie wieder darüber sprechen, es sei denn, du willst es.« Sie wandte sich wieder nach vorn, hob die Zügel und ließ die geflochtenen Stricke abermals mit dieser schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk heraus knallen. Ein sachter Ruck ging durch den Wagen, als die Pferde rascher ausgriffen und dann wieder in ihre gewohnte, gleichmäßige Geschwindigkeit zurückfielen. Wieder fuhren sie eine geraume Weile schweigend dahin. Die

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Landschaft, durch die das Fuhrwerk rollte, änderte sich jetzt zusehends, aber es fiel Arri sonderbar schwer, sich darauf zu konzentrieren. Ganz gleich, was Lea auch gesagt hatte, es gelang ihr nicht, tatsächlich Verständnis für Rahn aufzubringen oder ihn auch nur als etwas zu sehen, das auch nur entfernt mit einem menschlichen Wesen zu tun hatte, und doch hatten Leas Worte an etwas gerührt, das ihr zu schaffen machte. Der Tod und das Sterben gehörten so selbstverständlich zum Leben der Menschen im Dorf, dass sie eigentlich noch nie bewusst darüber nachgedacht hatte. Und doch glaubte sie plötzlich zu spüren, dass von allen Lektionen, die ihre Mutter ihr in diesem Sommer erteilt hatte, diese eine vielleicht die allerwichtigste gewesen war. Es gab Dinge, mit denen man spielen durfte, und andere, mit denen nicht. Und das Leben eines Menschen - selbst eines solchen, wie Rahn es war - gehörte ganz eindeutig nicht dazu. Aber wenn ein Menschenleben so kostbar und wertvoll war, wieso hatte ihre Mutter ihr dann allein in den zurückliegenden beiden Wochen mindestens ein Dutzend Möglichkeiten beigebracht, um es mit einer einzigen Handbewegung auszulöschen? »Wir müssen uns bald eine Stelle zum Übernachten suchen«, sagte Lea nach einer Weile. Arri schrak aus ihren Gedanken hoch und sah erst sie an, dann in den Himmel hinauf. Fast wäre sie erschrocken, als sie sah, wie tief die Sonne schon stand, und als hätte es dieses Anblicks bedurft, spürte sie auch plötzlich, wie empfindlich kalt es bereits geworden war. Der wolkenlose, strahlend blaue Himmel und das saftige Grün der Landschaft rund um sie herum vermochten jetzt nicht mehr darüber hinwegzutäuschen, wie nah der Winter bereits war. Nicht mehr lange, und am Morgen würde sich bereits der erste Raureif im Gras zeigen. Ohne auf eine Antwort zu warten, deutete Lea mit einer Kopfbewegung auf eine kleine Felsgruppe, nur noch einen guten Steinwurf entfernt. Der Wagen steuerte bereits in gerader Linie darauf zu. »Das da vorn scheint ein günstiger Platz zu sein. Was meinst du?« Arri wusste genau, dass ihre Mutter sich längst entschieden hatte; vermutlich schon lange, bevor sie sie überhaupt auf die Felsgruppe aufmerksam gemacht hatte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie

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diese Frage vielleicht nur stellte, damit sie sie bejahte, dann aber wurde ihr klar, dass Lea sie einfach auf die Probe stellen wollte. Sie hatte keine wirkliche Lust zu antworten. An diesem Tag war zu viel geschehen, als dass ihr der Sinn noch nach irgendwelchen Spielchen stand. Sie hob nur die Schultern. Ihre Mutter bedachte sie mit einem tadelnden Blick, beließ es zu Arris Erleichterung aber dabei und hielt den Wagen an, als sie sich den Felsen bis auf ein paar Schritte genähert hatten. Arri wollte aufstehen und vom Bock klettern, doch ihre Mutter machte eine rasche, abwehrende Geste, sprang vom Wagen und verschwand mit schnellen Schritten in dem dicht wuchernden Grün, das die Felsen an drei Seiten einrahmte. Arri entging keineswegs, dass sie dabei den Umhang zurückschlug und die rechte Hand griffbereit auf das Schwert legte. Ganz abgesehen von den wilden Tieren, die sich vielleicht ganz in ihrer Nähe herumtrieben, gab es hier noch ganz andere, möglicherweise weit gefährlichere Räuber: Menschen. Oder um genauer zu sein: Menschen, die ihnen nicht wohlgesonnen waren. Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis ihre Mutter zurückkam. Sie bemühte sich zwar, möglichst gelassen zu erscheinen, aber es gelang ihr nicht wirklich, den Ausdruck von Erleichterung auf ihrem Gesicht zu verbergen. »Wonach hast du gesucht?«, fragte Arri. »Gesucht?« Lea schüttelte unwirsch den Kopf. »Nach nichts. Ich habe mich umgesehen, das ist alles. Es bietet sich an, das zu tun, wenn man sein Lager in einer Umgebung aufschlägt, die man nicht kennt. Es sei denn, es macht dir nicht aus, in unmittelbarer Nähe einer Bärenhöhle zu übernachten oder im Revier einer Wildschweinrotte.« Arri stieg wortlos vom Wagen. Ihre Mutter hatte zwar Recht, aber das änderte nichts daran, dass das ganz bestimmt nicht der Grund für die Erleichterung gewesen war, die sie in ihren Augen las. Sie hatte etwas ganz Bestimmtes erwartet - nein: befürchtet - und es nicht vorgefunden. Sie hütete sich, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, sondern maß ihre Umgebung mit einem zwar verstohlenen,

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aber dennoch sehr aufmerksamen Blick. Die verwitterten Felsen, vor denen der Wagen angehalten hatte, bildeten eine nach drei Seiten hin geschlossene Barriere, die sie zuverlässig gegen Wind und Kälte, aber auch allzu neugierige Blicke schützen würde. Aber sie waren sichtlich nicht die ersten, die diesen Ort zu einer Übernachtung nutzten: Die Erde zwischen den Felsen trug die schwarzen Brandspuren zahlreicher Lagerfeuer, und hier und da meinte sie auch etwas zu gewahren, was verrottete Abfälle sein konnten. Misstrauisch geworden, blieb sie stehen und sah noch einmal in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Schon seit einer geraumen Weile waren sie bergab gefahren, obwohl das Gelände unweit vor ihnen wieder anstieg und, vielleicht noch mehrere Pfeilschüsse entfernt, zu einer steilwandigen Schlucht zwischen karstigen Hügeln wurde, die die Landschaft vor ihnen beherrschten. Arri hatte nicht wirklich auf den Weg geachtet, aber jetzt, als sie darüber nachdachte, war sie doch ziemlich sicher, dass der Wagen die meiste Zeit über in gerader Linie auf diesen Durchlass zwischen den Hügeln zugerollt war. Nur auf dem letzten Stück war er deutlich von diesem Kurs abgewichen und hatte einen regelrechten Schlenker gemacht. Nein, es war kein Zufall, dass sie an dieser kleinen Felsgruppe vorbeikamen, und ihre Mutter hatte sie ebenso wenig rein zufällig entdeckt. »Wie oft bist du schon hier gewesen?«, fragte sie geradeheraus. Ihre Mutter bedachte sie nur mit einem kühlen Blick und eilte an ihr vorbei zum hinteren Ende des Wagens. Während sie weiter geflissentlich so tat, als hätte sie ihre Frage gar nicht gehört, nahm sie zwei der großen Bündel, die auf der Ladefläche lagen, warf sie sich so mühelos über die Schultern, als wögen sie gar nichts, und trug sie, immer noch schweigend, zum Felsen hin. Arri fasste sich in Geduld, bis sich Lea ihrer Last entledigt hatte und abermals zurückkam, diesmal aber die Pferde ansteuerte. »Du kennst diesen Platz, habe ich Recht?«, fragte sie. »Du übernachtest nicht zum ersten Mal hier.« Wenn auch eindeutig widerwillig, so wandte Lea doch jetzt zumindest den Kopf in ihre Richtung und bedachte sie mit einem langen,

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stirnrunzelnden Blick. »Ja«, gestand sie. »Aber das ist schon eine Ewigkeit her. Hilf mir.« Dies war auch wieder eine von Leas Antworten, die im Grunde keine waren, sondern vielmehr ihre Art klarzumachen, dass sie über diese Angelegenheit nicht reden wollte. Aber Arri gedachte dieses Mal nicht, sich so einfach abspeisen zu lassen. Sie hatte kein besonders gutes Gefühl dabei - das Eis, auf dem sie sich bewegte, war dünn. Ihre Mutter hatte ihr offensichtlich vergeben, aber das bedeutete ganz gewiss nicht, dass sie dieses gerade erst so mühsam zurückgewonnene Vertrauen nach Belieben belasten und auf die Probe stellen konnte. Und trotzdem: Ihre Mutter wurde nicht müde, ihr immer wieder zu versichern, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine beinahe erwachsene Frau. Aber dann sollte sie sie gefälligst auch nicht länger wie ein Kind behandeln! Ihre Mutter ergriff den Zügel eines Pferdes und führte die Tiere so weit um die Felsen und an den Waldrand dahinter heran, bis das Gefährt im Schutz des grauen Gesteins verschwunden war, und auch das war Arris Meinung nach ganz und gar kein Zufall, denn wenn jetzt jemand auf demselben Weg wie sie zuvor näher käme, dann konnte er es praktisch erst sehen, wenn er eigentlich schon daran vorbei war. Arri stieg vom Wagen und setzte vorsichtig den Fuß auf. Der Knöchel schmerzte noch ein wenig, schien aber ansonsten wieder in Ordnung zu sein, und aus einem unerklärlichen Grund war sie vor allem deswegen darüber erleichtert, weil sie ihre Mutter nicht bitten musste, ihn sich anzusehen. Stattdessen half sie mit, die Tiere von ihrem sonderbaren Geschirr zu befreien und ein kleines Stück weit weg zu führen, bevor sie sie am Waldrand wieder anbanden. Als Lea jedoch mit einem ärgerlichen Kopfschütteln die Leine wieder löste, mit der Arri ihr Pferd ganz absichtlich lang genug an einem Baumstamm festgebunden hatte, dass es sich ein wenig bewegen und zumindest ein paar kümmerliche Grashalme erreichen konnte, und es zwei Schritte weit ins Unterholz hineinführte, um es dort kürzer anzubinden, war es mit ihrer Geduld endgültig vorbei. »Warum sagst du mir nicht endlich, was hier los ist?«, forderte sie. »Du hast Angst, dass uns jemand verfolgt, habe ich Recht? Wer ist

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es?« Leas Gesicht verdüsterte sich noch weiter; ob als Reaktion auf ihren unverschämten Ton oder weil sie mit ihrer Vermutung der Wahrheit ziemlich nahe gekommen war, konnte Arri nicht sagen. Sie rechnete auch nicht wirklich mit einer Antwort, doch sie bekam eine. »Vielleicht«, gestand Lea, ausweichend und ohne sie direkt anzusehen. »Ich glaube es eigentlich nicht, aber es ist besser, wir sind vorsichtig.« »Warum?«, fragte Arri. »Hast du Angst, dass uns jemand überfällt, oder möchtest du nicht, dass man im Dorf erfährt, wohin wir eigentlich gehen?« Diesmal starrte ihre Mutter sie schon länger und fast feindselig an. Mit einer ihrer beiden Vermutungen hatte Arri ganz offensichtlich ins Schwarze getroffen. »Vielleicht von beidem etwas«, antwortete sie nach einer Weile. Dann hob sie die Schultern und rang sich ein Lächeln ab. »Du hast Recht. Es wäre mir nicht angenehm, wenn man im Dorf wüsste, wohin ich unterwegs bin. Obwohl es wahrscheinlich überhaupt keine Rolle spielt. Jetzt nicht mehr.« Ihr Lächeln entgleiste ihr zusehends. »Aber alte Gewohnheiten lassen sich so schnell nicht ablegen, weißt du?« »Nein«, sagte Arri. »Ich weiß nicht.« Der Blick ihrer Mutter wurde anklagend. Zu Arris Überraschung aber beließ sie es bei einem Seufzen und einem traurigen Kopfschütteln, bevor sie sich umdrehte und zu den Felsen zurückging. Arri folgte ihr, schweigend und hin- und hergerissen zwischen Zorn und einem Gefühl von tiefem Mitleid, das fast gegen ihren Willen in ihr aufkam, als sie den inneren Zweikampf spürte, den ihre Mutter ausfocht. Aber sie konnte auch nicht mehr zurück. Vielleicht, dachte sie, gehörte auch das zu dem, was ihre Mutter so gern als erwachsen werden bezeichnete; Fragen zu stellen, die man eigentlich nicht stellen wollte, weil man Angst vor der Antwort hatte. Ihre Mutter warf noch einen langen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, dann ließ sie sich mit untergeschlagenen Beinen niedersinken, lehnte den Hinterkopf und Rücken gegen

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den rauen Fels und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Arri konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Als sie die Lider wieder hob, hatte sich etwas in ihrem Blick geändert. »Ja, du hast Recht«, sagte sie. »Ich möchte nicht, dass man im Dorf weiß, wohin ich gegangen bin. Es wäre nicht gut. Nicht gut für uns und nicht gut für die Menschen, zu denen wir gehen.« Auch Arri setzte sich, verharrte aber in stocksteif aufgerichteter Haltung, fast als hätte sie Angst, ihre Entschlossenheit könne ins Wanken geraten, wenn sie es sich auch nur erlaubte, die Muskeln zu entspannen. »Und wohin genau fahren wir?« »Zu Freunden«, antwortete Lea. »Menschen, die ich schon seit langer Zeit kenne und schätze. Gerade deshalb wäre es mir nicht angenehm, wenn Sarn oder gar Nor erführen, dass ich mit diesen Leuten Handel treibe.« Handel? Arri fragte sich, womit ihre Mutter eigentlich handeln wollte. Sie besaß doch nichts. »Liegen sie im Streit mit dem Hohepriester?«, fragte sie. Ein kurzes, humorloses Lächeln huschte über Leas Züge, und ihre Stimme wurde abfällig. »Goseg liegt mit jedem im Streit, der sich seinem Willen nicht beugt und keinen Tribut zahlt«, antwortete sie, schüttelte aber gleich darauf den Kopf und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Nein. So weit würde ich nicht gehen. Diese Leute haben nichts mit Nor und den anderen Priestern aus Goseg zu schaffen, und sie wollen es auch nicht. Aber es ist trotzdem besser, wenn niemand weiß, dass ich sie kenne. Ich habe schon genügend Menschen Unglück gebracht, nur weil ich da war. Und manchmal ist es durchaus von Vorteil, wenn man einen Ort hat, an den man gehen kann und von dem nicht jedermann weiß.« »Oder einen Menschen«, vermutete Arri. Diesmal bekam sie nur ein geheimnisvolles Lächeln zur Antwort, doch ihre Mutter wirkte versöhnlicher, als sie weitersprach. »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen, Arianrhod. Ich verlange von dir, dass du aufhörst, dich wie ein Kind zu benehmen, und dabei behandle ich dich die ganze Zeit über noch immer wie eines. Es war nicht recht von mir, dir nicht zu sagen, was ich wirklich plane.«

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»Dafür sagst du es mir ja jetzt«, vermutete Arri, wartete jedoch vergebens auf eine Antwort und fügte mit schräg gehaltenem Kopf und fragendem Ausdruck hinzu: »Oder?« Lea zögerte weiterhin. Die Finger ihrer rechten Hand fuhren über den verzierten Griff ihres Schwertes und zeichneten die Konturen der darauf abgebildeten Sonnen- und Mondsymbole nach, ohne dass sie sich der Bewegung selbst bewusst zu sein schien. »Ich könnte dir sagen, was ich vorhatte«, antwortete Lea schließlich und mit einem neuerlichen, traurigen Lächeln. »Aber wozu über Pläne reden, die sich längst zerschlagen haben?« »Zerschlagen?« »Ich hatte alles genau geplant«, bestätigte Lea. »Perfekt, wie ich dachte. Vielleicht ein bisschen zu perfekt. Ich dachte, ich hätte alles vorausgesehen, aber anscheinend habe ich mich für klüger gehalten als ich bin, und das nicht zum ersten Mal.« »Was ist denn passiert?«, fragte Arri. »Ich habe mich zu wichtig genommen, das ist passiert«, antwortete ihre Mutter. »Als wir damals hierher kamen, habe ich mich für klüger gehalten als die Menschen, die hier lebten, und ich fürchte, das rächt sich jetzt.« »Klüger noch als Rahn?«, fragte Arri in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. »Das war in der Tat vermessen.« Ihre Mutter lachte zwar leise, aber ihr Blick wurde eher noch trauriger. »Damals glaubte ich, ich wäre so viel klüger als all diese Leute hier«, fuhr sie fort. »Ich meinte, alles zu verstehen und ganz genau zu wissen, was ich zu tun hätte. Ich wusste es nicht.« »Wie meinst du das?« »Die Leute in diesem Land sind nicht dumm«, antwortete Lea. »Wenn jemand dumm war, dann ich. Ich habe mich ihnen überlegen gefühlt, nur weil ich mehr wusste als sie. Oder es mir wenigstens eingebildet habe.« Sie stieß sich mit einer müde wirkenden Bewegung von ihrem steinernen Halt ab und streckte ächzend den rechten Arm nach einem der beiden Bündel aus, die sie vom Wagen genommen hatte. Arri war dem Bündel deutlich näher und hob ihrerseits die Hand,

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um ihrer Mutter zu helfen, aber dann erkannte sie, dass es genau das war, das sie vorhin durchsucht hatte, und stockte mitten in der Bewegung. Glücklicherweise entging Lea ihre schuldbewusste Geste. Ächzend zog sie das Bündel zu sich heran, knotete es auf und begann darin zu kramen. »Wir können kein Feuer machen«, fuhr Lea fort, »aber wir haben kaltes Fleisch und Brot, und nur ein paar Schritte hinter dem Wald fließt der Bach, an dessen Unterlauf wir vorhin die Pferde getränkt haben. Wenn du uns etwas Wasser holst, zaubere ich uns etwas Essbares.« Arri verbiss sich gerade noch rechtzeitig die Frage, warum sie nicht das Wasser aus dem Schlauch nahm, der sich in ihrem Bündel befand. Obwohl im Grunde nichts Verbotenes an dem war, was sie getan hatte, wäre es ihr in diesem Augenblick unangenehm gewesen zuzugeben, dass sie das Gepäck durchsucht hatte. Widerstrebend stand sie auf, ging zwei Schritte weit und kam dann wieder zurück. »Und worin soll ich es herschaffen?« Lea sah sie einen Moment lang fast ratlos an, dann kramte sie hastig in dem Bündel und förderte eine hölzerne Schale zutage, die sie ihr reichte. »Du bist wirklich auf alles vorbereitet, wie?«, fragte Arri leicht überrascht. »Ich will nie wieder in die Verlegenheit geraten, mich mit nichts anderem als einem alten Schwert am Gürtel und einem schreienden Säugling im Arm mitten im Meer wieder zu finden«, antwortete ihre Mutter mit todernstem Gesicht. Arri blinzelte. »Wie?« »Geh schon.« Lea wedelte ungeduldig mit der Hand, aber in ihren Augen war nun auch ein verräterisches Funkeln. Arri sah sie noch einen weiteren Herzschlag lang verwirrt an, dann aber beeilte sie sich, nach dem Bach zu suchen, von dem ihre Mutter gesprochen hatte. Angelockt von einem plätschernden Geräusch umging sie ein kleines Waldstück und stieß an seinem Rand auf den Bach, der diesen Namen überdies nicht wirklich verdiente, denn er war nicht einmal

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zwei Schritte tief und vielleicht doppelt so breit, nur einer der für diesen Teil des Landes so typischen schmalen Wasserläufe, die das wogende Meer aus Gras und hüfthohem Heidekraut durchschnitten. Arri kam diese Landschaft ungewöhnlich und anziehend vor, aber auch ein bisschen unheimlich. Das Dorf, an dessen Rand sie aufgewachsen war und ihr gesamtes Leben verbracht hatte, lag inmitten dichter, scheinbar endloser und vielerorts wortwörtlich undurchdringlicher Wälder, sodass sie die ungewohnte Weite ringsum erschreckte. Wenn ihre Mutter ihr von ihrem früheren Leben und dem Meer erzählt hatte, hatte sie diese Geschichten immer sehr aufregend gefunden, aber eigentlich nicht wirklich verstanden, wovon sie sprach. Doch es musste dem hier nahe kommen - eine Landschaft, die nahezu vollkommen leer war, so weit das Auge reichte, und in der sich der Blick verlieren konnte, wenn man nicht Acht gab. Arri ließ sich Zeit, dem Befehl ihrer Mutter nachzukommen. Nachdem sie sich am Ufer des kaum zwei Handflächen breiten Baches in die Hocke gelassen und die Schale randvoll mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie sie behutsam zu Boden, ließ sich vollends auf die Knie sinken und trank lange und ausgiebig von dem Wasser, das zwar kristallklar war und köstlich schmeckte, aber auch so kalt, dass sich ihre Lippen beinahe taub anfühlten, nachdem sie ihren Durst endlich gelöscht hatte. Sie stand auch jetzt noch nicht auf, sondern setzte sich ganz im Gegenteil ins Gras und schloss für einen Moment die Augen, um zu lauschen; nicht nur auf das leise Geräusch des Windes, der knisternd mit dem trocken werdenden Laub der Baumkronen über ihr spielte und auf dem kniehohen Gras Töne wie auf den Saiten eines fremdartigen, aber nicht unangenehm klingenden Instruments hervorrief, sondern auch und vor allem in sich hinein, auf das Durcheinander von Gefühlen und Gedanken, die sich zum Teil so heftig widersprachen, dass sie einfach nicht wusste, was nun richtig und was falsch war, oder überhaupt etwas davon. Da war eine dünne, schwache Stimme in ihr, die ihr sagte, dass sie zurückgehen sollte, bevor ihre Mutter anfing, sich Sorgen um sie zu machen und vielleicht kam, um nach ihr zu suchen, aber zugleich spürte sie auch, dass es nicht geschehen würde. Ihre Mutter hatte sie

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wahrscheinlich nicht wirklich fortgeschickt, um Wasser zu holen. In dem Beutel, aus dem sie die Schale genommen hatte, befand sich mehr als genug Wasser für sie beide und einen einzigen Abend. Vielleicht hatte sie sie weggeschickt, weil sie einfach allein sein wollte, und vielleicht hatte sie auch gespürt, dass es ihr, Arri, ganz genau so erging. Arri war verstört, verunsichert, verwirrt und ängstlich wie schon seit langer Zeit nicht mehr, und sie wusste auch nicht mehr, was sie glauben sollte. Alles war plötzlich so ganz anders. Die wenigen Worte, die ihre Mutter vorhin gesprochen hatte, hatten ihr Leben erneut und vielleicht noch grundlegender aus der Bahn geworfen als all die Veränderungen zuvor, die sie für so gewaltig gehalten hatte. Vielleicht hatte sie ihre Mutter zum allerersten Mal wirklich zweifelnd erlebt. Trotz allem, trotz aller Fehler, die sie gemacht hatte, allem, was Arri als ungerecht empfand und nicht annehmen mochte, trotz ihrer Launen und des unbestreitbaren Umstandes, dass sie manchmal ungerecht und selbstsüchtig war, auch ihrer eigenen Tochter gegenüber, war sie Arri bisher zugleich dennoch unfehlbar erschienen; der Mensch auf der Welt, der ihr Leben wie kein anderer bestimmte und letzten Endes behütete. Nun hatte sie zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben, und auch wenn Arri noch nicht wirklich verstand, was sie damit gemeint hatte, so spürte sie zugleich doch tief in sich drinnen, dass dieser Fehler gewaltig gewesen sein musste. Schlimm genug, um ihrer beider Leben vollkommen aus der Bahn zu werfen. Vielleicht war es das. Vielleicht fing sie an zu begreifen, dass ihre Mutter nicht unfehlbar war und dass sie eben nicht immer da sein würde, um ihre Tochter zu beschützen und alles wieder ins rechte Lot zu bringen, wenn diese Fehler beging oder das Schicksal ihr übel mitspielte. Leas Eingeständnis machte aus der Mutter, die für Arris Verständnis bisher schlichtweg die stärkste Macht unter dem von den Göttern gespannten Himmel war, stärker noch als das Schicksal selbst, einen ganz gewöhnlichen Menschen. Aber das wollte sie nicht glauben. Ein leises Knacken drang in ihre Gedanken. Arri schrak auf, sah sich hastig nach rechts und links um und zwang ein gequältes Lä-

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cheln auf ihre Lippen, als sie nichts sah. Vermutlich war es auch nichts gewesen. Ein trockener Zweig, der unter seinem eigenen Gewicht abgebrochen war, ein verspätetes Echo auf ihre Schritte oder ein kleines Tier, das vor dem unbekannten Eindringling in seine Welt floh. Es gab ein Dutzend Erklärungen, und eine war so überzeugend wie die andere. Dennoch schlug ihr Herz immer schneller, und sie hatte plötzlich wieder das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. Sie versuchte - vergeblich -, sich selbst in Gedanken zur Ordnung zu rufen, gab aber fast sofort wieder auf und erhob sich. Als sie sich nach der Schale bückte und sie behutsam aufhob, um nichts von ihrem Inhalt zu verschütten, löste sich ein Schatten aus dem Waldrand und trat auf sie zu. Arri schrak so heftig zusammen, dass sie sich das Wasser nicht nur über den Rock schüttete, sondern die Schale gänzlich fallen ließ. Sie prallte auf dem Uferstreifen auf, sprang noch einmal in die Höhe und fiel ins Wasser, wo sie der Strömung einen Moment lang schaukelnd Widerstand entgegenzusetzen versuchte und dann wie ein winziges Boot davontrieb. Arri starrte die Gestalt, die unversehens aus dem Wald gekommen war, aus entsetzt aufgerissenen Augen an. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte keinen Laut hervor. Trotzdem schlug sie die Hand vor den Mund und prallte einen Schritt zurück, als der Fremde weiter auf sie zukam. Sie erkannte ihn jetzt. Es war der schwarzhaarige Mann, der sie vor dem Wolf gerettet hatte. Der, den sie zusammen mit ihrer Mutter im Wald gesehen hatte. Dragosz. Rasch, aber ohne Hast ging er an ihr vorbei, machte zwei schnellere Schritte, um die davonschwimmende Schale einzuholen, und fischte sie mit einer übertriebenen Bewegung aus dem Wasser. Dann kam er zurück und streckte ihr die Schale hin. »Das hast du fallen lassen, Arianrhod. Du solltest vorsichtiger sein. Deine Mutter wäre nicht erfreut, wenn du sie verlieren würdest.« Arri griff unwillkürlich nach der Schale, aber sie nahm die Worte kaum zur Kenntnis. Ihr Herz hämmerte, und ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich eher an der Schale festklammerte, statt sie zu hal-

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ten. Sie war der Panik so nahe, dass sie am liebsten schreiend davongelaufen wäre, und gleichzeitig auch gelähmt vor Schrecken und vollkommen unfähig, sich zu bewegen. Dragosz blieb eine ganze Weile einfach so stehen und sah sie an. Er sagte nichts, und in seinem sonderbar geschnittenen Gesicht rührte sich nicht der kleinste Muskel, aber in seinen Augen erschien plötzlich ein nahezu belustigtes Funkeln, auch wenn Arri das unangenehme Gefühl hatte, den wahren Grund für seinen Spott nicht zu kennen; und auch gar nicht kennen zu wollen. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er schließlich. Sein Akzent kam Arri viel stärker vor als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Er sprach zwar klar verständlich, aber langsam, als müsse er über jedes einzelne Wort nachdenken, bevor er es wählte, und was er sagte, klang sonderbar hart und auf schwer zu greifende Weise fremdartig. »Ich… habe auch keine Angst«, antwortete Arri schleppend. Es klang selbst in ihren eigenen Ohren albern. Das Funkeln in Dragosz’ Augen nahm zu. »Ja, das scheint mir auch so«, sagte er spöttisch. »Obwohl du es solltest… ich meine, nicht vor mir. Aber es ist nicht ungefährlich für zwei Frauen, allein unterwegs zu sein.« »Wir sind ja nicht allein. Du bist doch hier, um auf uns aufzupassen«, antwortete Arri, und hätte ihre Stimme nicht vor Furcht und Anspannung gezittert, dann hätten die Worte vielleicht auch tatsächlich so patzig geklungen, wie sie es sollten. Trotzdem lachte Dragosz. »Leandriis irrt sich, weißt du das?«, meinte er. »Sie hat behauptet, du wärst nicht wie sie. Aber das stimmt nicht. Ihr seid euch ähnlicher, als sie ahnt.« Vielleicht nur ähnlicher, als sie wahrhaben will, dachte Arri. »Hast du dich nur an mich angeschlichen, um mit das zu sagen?« »Hätte ich mich angeschlichen«, antwortete Dragosz, »hättest du mich nicht bemerkt, Arianrhod.« Er lächelte unerschütterlich weiter, und auch sein Gesicht blieb nahezu ausdruckslos, und doch meinte Arri etwas wie eine ganz sachte Drohung aus seinen Worten herauszuhören.

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Sie spürte, dass ihre Hände noch immer zitterten, jetzt vielleicht sogar noch mehr als zuvor, versuchte einen Moment lang vergeblich, es zu unterdrücken, indem sie die Finger mit aller Kraft um die hölzerne Schale schloss, bis sie diese schließlich verärgert auf den Boden stellte. Dragosz beobachtete sie aufmerksam, und sie musterte umgekehrt nun ihn ganz offen und mit schon fast herausfordernder Neugierde. Was sie sah, überraschte und irritierte sie gleichermaßen. Sie hatte Dragosz im Grunde ja bisher nur einmal gesehen, und damals war sie in Todesangst und vollkommen verstört gewesen, sodass sie sein Gesicht nicht einmal dann hätte wirklich beschreiben können, hätte sie es schon wenige Augenblicke nach der unheimlichen Begegnung versucht. Nun stand er knapp auf Armeslänge und im hellen Tageslicht vor ihr, geradezu als wollte er ihr Gelegenheit geben, ihn genauer in Augenschein zu nehmen, und da er offensichtlich nichts dagegen hatte, tat sie es auch. Sie korrigierte ihre Schätzung, was sein Alter anging, um etliche Jahre nach unten; er war deutlich älter als sie und auch älter als Rahn, aber auch ein gutes Stück jünger als ihre Mutter. Er war von kräftigem Wuchs und seine Haut war eine Spur dunkler als die der Dorfbewohner. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, und das Auffälligste an ihm überhaupt war sein Bart, der nicht ungezügelt bis auf die Brust hinabhing, sondern so kurz abgeschnitten war, dass man hier und da die Haut seiner Wangen und seines kräftigen Kinns hindurchschimmern sehen konnte. »Was willst du von mir?«, fragte sie, als Dragosz auch weiter keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder in irgendeiner anderen Art auf ihre fragenden Blicke einzugehen. »Hast du das nicht gerade selbst gesagt?«, entgegnete Dragosz. »Ich passe auf, dass euch nichts geschieht.« »Meine Mutter kann gut auf sich selbst aufpassen«, erwiderte Arri. »Ich weiß. Und wenn sie allein unterwegs wäre, würde ich mir auch keine Sorgen um sie machen.« Dragosz lachte ganz leise. »Allerhöchstem um denjenigen, der so dumm wäre, einen Streit mit ihr anzufangen. Unglücklicherweise ist sie nicht allein unterwegs.« Arris Blick verdüsterte sich noch mehr, als ihr klar wurde, was der

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Fremde damit sagen wollte. »Du meinst, du willst darauf aufpassen, dass ich keine Dummheiten mache? Hat meine Mutter dir das aufgetragen?« »Leandriis?« Dragosz schüttelte den Kopf. Erst jetzt, im Nachhinein, fiel Arri auf, dass er ihren wahren Namen gebrauchte, so, wie er auch sie mit Arianrhod angesprochen hatte, nicht mit der verkürzten Form, als die sie jedermann im Dorf kannte. Ihre Mutter musste diesem Fremden wirklich sehr vertrauen, wenn sie ihm ihre wahren Namen verraten hatte, die sie sonst jedem anderen gegenüber hütete wie einen kostbaren Schatz. »Nein. Ganz im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass sie sehr begeistert wäre, wenn sie uns jetzt hier miteinander reden sähe.« »Wieso?«, fragte Arri. »Ich gestehe, dass ich anfangs ein wenig verärgert war, dass sie mich mit ein paar eiligen Worten wie einen Bettler fortgejagt hat, nur weil du plötzlich aufgetaucht bist.« Dragosz trat einen halben Schritt zurück und maß Arri mit einem langen Blick von der Art, wie sie auch Rahn angesehen hatte, und der ihr beinahe ebenso unangenehm war. Aber dann lächelte er, und obwohl auch dieses Lächeln fast ebenso anzüglich war wie das des Fischers, fehlte ihm doch etwas, das Rahns Blick ganz besonders schwer zu ertragen gemacht hatte. »Aber jetzt, wo ich dich genauer sehe, kann ich sie beinahe verstehen. Wenn ich eine Tochter hätte, die so hübsch wäre wie du, dann würde ich sie auch vor jedem Mann verstecken.« Arri spürte, dass sie rot wurde. Sie versuchte sich einzureden, es geschähe aus Zorn, aber das stimmte nicht. »Ist es denn nötig?« »Was? Dich vor jedem fremden Mann zu verstecken?« »Mich vor dir zu verstecken«, antwortete Arri. Dragosz lachte. »Wenn es nur meine Blicke sind, die sie fürchtet, ja. Aber darüber hinaus? Nein.« »Meine Mutter scheint da anderer Meinung zu sein«, antwortete Arri spitz. »Irgendeinen Grund wird sie schon haben, warum sie nicht will, dass du mich siehst.« »Deine Mutter ist deine Mutter«, erwiderte Dragosz, »und ich glaube fast, das ist Grund genug. Jedenfalls wäre es für jede Mutter mei-

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nes Volkes Grund genug, hätten sie eine Tochter wie dich.« »Deines Volkes?«, wiederholte Arri. »Welches Volk ist es denn?« Dragosz wirkte überrascht, aber nicht sehr. »Deine Mutter scheint dir nicht sehr viel über mich erzählt zu haben«, sagte er, statt ihre Frage zu beantworten. Er deutete ein Schulterzucken an. »Wahrscheinlich wird sie ihre Gründe dafür haben. Und wahrscheinlich ist es doch besser, wenn ich diese Gründe achte, auch wenn ich sie nicht kenne.« »Du meinst, du willst meine Frage nicht beantworten«, sagte Arri verärgert. Es war ihr selbst nicht bewusst in diesem Moment, aber ihre Angst war längst verflogen, so wie auch ihre Hände und Knie schon lange aufgehört hatten zu zittern; und auch das spürte sie nicht einmal. »Warum bist du dann hergekommen, außer um meine Fragen nicht zu beantworten und mich zu verspotten?« Sie hätte erwartet, dass Dragosz jetzt ärgerlich reagieren oder sie zumindest zurechtweisen würde, aber er wirkte nur leicht überrascht und lachte plötzlich wieder. »Tatsächlich - deine Mutter hat die Unwahrheit gesagt. Du bist ihr noch ähnlicher, als ich sowieso geglaubt habe. Zumindest hast du ihre Zurückhaltung und Scheu geerbt.« Das verstand sogar Arri. Sie lauschte zwar vergebens auf einen Unterton von Tadel oder gar Drohung in diesen Worten, rief sich in Gedanken aber dennoch scharf zur Ordnung. Dragosz würde ihr nichts tun, davon war sie mittlerweile überzeugt, aber sie würde auch nichts von ihm erfahren, wenn sie ihn unnötig reizte. »Was willst du von mir?«, fragte sie nur noch einmal und jetzt in gezwungen ruhigem Ton. »Im Grunde wollte ich einfach nur ein paar Worte mit dir wechseln«, antwortete der schwarzhaarige Fremde. »Ich war neugierig auf dich, das ist alles.« »Wieso?«, erkundigte sich Arri misstrauisch. »Hat meine Mutter so viel über mich erzählt?« Dragosz schüttelte heftig den Kopf. Die aus Reißzähnen und Klauen gefertigte Kette an seinem Hals klimperte leise. »Im Gegenteil. Sie hat eigentlich gar nichts über dich erzählt, und genau das hat mich neugierig gemacht.«

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»Und?«, fragte sie. »Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?« »Zumindest verstehe ich sie jetzt ein wenig besser«, antwortete Dragosz. Arri verspürte einen leisen Anflug von Ärger. Auch wenn Dragosz das bestimmt nicht wusste, so waren er und ihre Mutter sich doch zumindest in diesem einen Punkt ähnlich: Sie verstanden es meisterhaft, auf Fragen, die ihnen nicht gefielen, einfach nicht zu antworten. Doch was für ihre Mutter galt, das musste sie diesem Fremden nicht unbedingt auch durchgehen lassen. »Was suchst du hier?«, fragte sie erneut und in noch schärferem und fast schon unverschämtem Ton. »Bist du nur gekommen, um dich über mich und meine Mutter lustig zu machen?« »Nein«, antwortete Dragosz rasch. Sein Lächeln erlosch endgültig, und an seiner Stelle machte sich ein Ausdruck von tiefer, ehrlich empfundener Sorge in seinen Augen breit. »Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich da bin. Früher oder später hättest du es ohnehin gemerkt. Ich nehme doch an, deine Mutter hat dir das Spurenlesen beigebracht?« »Ja«, antwortete Arri. »Aber ich bin nicht so gut wie sie.« »Dann wäre sie auch keine gute Lehrerin«, antwortete Dragosz, was Arri im allerersten Moment nicht verstand, bevor er hinzufügte: »Die Frage ist wohl eher, ob du so gut bist wie sie in deinem Alter.« Er legte eine hörbare Pause ein, und Arri hatte das Gefühl, als wäre er nicht gänzlich sicher, ob er tatsächlich weitersprechen sollte. Als er es dann tat, war seine Rede möglicherweise nicht nur deshalb noch ein wenig schleppender, weil er sich die Worte mühsam zurechtzulegen musste. »Ich möchte dich um etwas bitten«, sagte er. »Mich?«, entfuhr es Arri überrascht. Dragosz nickte. Er griff unter seinen schwarzen Fellumhang, und Arri konnte sehen, wie er die Hand um etwas schloss, das er darunter trug, dann aber zog er den Arm wieder zurück. Seine Hand war leer. »Ihr habt noch einen langen und nicht ungefährlichen Weg vor euch«, fuhr er fort. »Ich möchte, dass du ein wenig auf deine Mutter Acht gibst.« Diesmal musste Arri ihre Überraschung nicht mehr vorspiegeln. »Ich?«, vergewisserte sie sich. »Aber wieso denn ich?«

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»Weil deine Mutter zwar eine ebenso tapfere wie kluge Frau ist«, antwortete Dragosz, »aber auch eine sehr stolze. Vielleicht ein bisschen zu stolz. Sie würde meine Hilfe niemals annehmen. Sie weiß, wie gefährlich diese Reise ist, aber sie würde mir nicht erlauben, euch zu begleiten, um euch zu beschützen und darauf Acht zu geben, dass euch nichts passiert.« Arri war noch immer so überrascht, dass sie gar nicht antworten konnte. Sie starrte den schwarzhaarigen Fremden nur an. Dragosz seinerseits schien auf eine ganz bestimmte Reaktion ihrerseits zu warten und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, als sie nicht kam. »Und… was genau… erwartest du von mir?«, fragte sie schließlich lahm. »Nicht viel«, antwortete Dragosz. Arri war ziemlich sicher, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Vielleicht nur, dass du die Augen aufhältst - und ein wenig auf deine Mutter achtest. Sie ist eine sehr kluge Frau, aber im Augenblick neigt sie zu unbedachten Reaktionen, fürchte ich. Und es wäre gut, wenn du ihr nichts von unserem Gespräch erzählst. Es würde sie nur zusätzlich belasten, wenn sie wüsste, dass wir uns begegnet sind.« Es dauerte noch einen Moment, aber dann begriff Arri - endlich -, wovon Dragosz überhaupt sprach. Ihre Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben, und sie konnte selbst hören, wie sich ein schriller Unterton in ihre Stimme schlich, als sie antwortete: »Du meinst, ich soll sie für dich bespitzeln?« »Unsinn«, erwiderte Dragosz - im unduldsamen Ton des ertappten Sünders. »Wie kommst du darauf?« »Weil du es gerade gesagt hast?«, schlug Arri vor. Dragosz’ Augen blitzten noch zorniger. »Für wie dumm hältst du mich?«, fauchte er. »Sie ist deine Mutter, oder? Und ich bin ein vollkommen Fremder für dich, habe ich Recht? Wie kommst du auf die Idee, ich könnte ernsthaft von dir erwarten, deine eigene Mutter für einen Mann zu belügen, über dessen Ziele und Absichten du rein gar nichts weißt?« Arri kam in diesem Moment vor allem der Gedanke, dass dies ein äußerst komplizierter Satz für einen Mann war, der ihrer Sprache

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anscheinend nur mit Mühe mächtig zu sein schien; zumal er ihn fließend und ohne das geringste Stocken hervorgebracht hatte. Sie sagte nichts dazu. »Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen«, fuhr Dragosz fort, nachdem er eine geraume Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass sie ihm eine Antwort gab. Er schüttelte den Kopf und sah Arri dabei beinahe erwartungsvoll an, doch sie hüllte sich weiterhin in beharrliches Schweigen. »Ich überlasse es dir, ob du deiner Mutter etwas davon erzählst oder nicht«, fuhr er fort, allerdings in einem Ton, der wenig Zweifel daran aufkommen ließ, welcher der beiden Möglichkeiten er den Vorzug gab. »Letzten Endes spielt es wahrscheinlich gar keine Rolle. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich in der Nähe bin, um auf euch aufzupassen.« Nein, dachte Arri, das war ganz gewiss nicht der Grund, aus dem er sich ihr gezeigt hatte; zumindest nicht der einzige. Sie behielt auch diesen Gedanken vorsichtshalber für sich, aber sie sah Dragosz nun noch aufmerksamer an und versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was ihm ganz eindeutig unangenehm zu sein schien, denn irgendwie gelang es ihm plötzlich nicht mehr, vollkommen ruhig dazustehen oder auch nur seine Hände still zu halten. Auch wenn es ihr noch immer nicht wirklich gelang, in seinem fremdartig geschnittenen Gesicht zu lesen, so war jedoch zumindest eines klar: Dragosz bedauerte es längst, überhaupt gekommen zu sein. »Ich werde in eurer Nähe bleiben, solange ich es kann«, fuhr er fort. Seine Hand bewegte sich abermals unter den Umhang, und als sie diesmal wieder aus den schwarzen Fellen auftauchte, hielt sie einen kleinen Beutel aus Leder umklammert, den er ihr nach kurzem Zögern reichte. Arri zögerte deutlich länger, die Hand auszustrecken, tat es aber schließlich doch, und Dragosz ließ den Beutel in ihre Handfläche fallen. Er war unerwartet schwer und schien irgendetwas von körnig-grober Konsistenz zu enthalten. »Falls ihr in Gefahr geratet und ich nicht in der Nähe bin, um euch sofort zu helfen«, sagte er, »dann wirf einfach diesen Beutel ins Feuer. Er brennt sehr hell, sodass man den Feuerschein nachts weit sieht, und tagsüber entwickelt er einen starken Rauch.«

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Arri schloss unsicher die Finger um das kleine Säckchen. Es war nicht so, dass sie Dragosz nicht glaubte - aber diesen Beutel anzunehmen war fast so, wie einen Pakt mit ihm zu schließen; einen Pakt, der vielleicht weit mehr beinhaltete, als ihr zu diesem Zeitpunkt schon klar war. Schließlich aber nickte sie zustimmend. Was hatte sie schon zu verlieren? »Was ist denn an unserer Reise so gefährlich?«, erkundigte sie sich zögernd. Sie war ziemlich sicher, dass die ehrliche Antwort nichts gelautet hätte und sich Dragosz nur wichtig machen wollte; und sie war mehr als nur ziemlich, sondern vollkommen sicher, dass es ein Fehler war, überhaupt mit ihm zu reden. Das Einzige, was sie vernünftigerweise tun sollte, wäre, auf der Stelle zu ihrer Mutter zurückzugehen und ihr von diesem Treffen zu berichten. »Reisen sind immer gefährlich«, antwortete Dragosz, »vor allem, wenn sie durch unbekanntes Land führen. Ist euch nicht aufgefallen, dass ihr verfolgt werdet?« »Doch. Gerade jetzt, vor ein paar Augenblicken.« Dragosz blieb ernst. »Ich weiß nicht, wer es ist, aber jemand folgt euch, seit du bei deiner Mutter aufgetaucht bist.« Er hob rasch die Hand, als Arri etwas sagen wollte. »Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern. Aber ihr solltet ein wenig vorsichtiger sein.« Arri fragte sich, was genau er unter sich darum kümmern verstand, auch wenn sie die Antwort im Grunde gar nicht wissen wollte. Laut fragte sie: »Du weißt, wohin wir fahren?« »Deine Mutter hat es mir nicht gesagt«, antwortete Dragosz - was im Grunde keine Antwort war. Aber dergleichen hatte sie beinahe schon erwartet. »Weißt du es denn nicht?« Dann hätte ich wohl nicht gefragt, dachte Arri verärgert. Sie schüttelte nur den Kopf, worauf sich ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, das Dragosz schließlich mit einem unechten Räuspern beendete. »Verlier den Beutel nicht, den ich dir gegeben habe«, sagte er hastig. »Und sei vorsichtig damit, wenn ein Feuer in der Nähe ist. Das Pulver brennt sehr leicht.« Er sah sie auffordernd an, trat noch unbehaglicher von einem Fuß auf den anderen und bückte sich schließlich

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nach der Schale, die sie ins Gras gestellt hatte. Mit einer raschen Bewegung füllte er sie, richtete sich wieder auf und hielt ihr die randvoll gefüllte Schale hin. »Geh jetzt zurück, bevor sich deine Mutter zu fragen beginnt, wo du bleibst. Nimm.« Als Arri nach der Schale griff, berührten sich ihre Finger, und Arri fuhr so heftig zusammen, dass sie wiederum einen Teil des Wassers verschüttete, aber sie merkte es kaum. Dragosz zog die Hand nicht zurück, obwohl das kalte Wasser auch über seine Finger lief. Stattdessen griff er plötzlich zu und umfasste ihre rechte Hand und das Gelenk; auf eine sonderbare Weise zugleich fest wie auch so sacht, dass sie es kaum spürte. Dennoch jagte ihr die Berührung einen eisigen Schauer über den Rücken, ein Gefühl, das sie im allerersten Moment für Furcht hielt, bevor sie begriff, dass es etwas völlig anderes und Neues war. Sie konnte nicht sagen, ob ihr dieses Gefühl angenehm war oder ob es sie in Panik versetzte. Vielleicht beides zugleich. »Was…?«, begann sie. Dragosz ließ ihre Hand los, aber nur, um ihr im nächsten Moment den Zeigefinger über die Lippen zu legen und zugleich sacht den Kopf zu schütteln. Arris Herz begann zu hämmern. Aus dem kalten Schauer wurde eine ganzes Heer winziger eiskalter Ameisen, die ihr Rückgrat hinunterliefen, und die Panik war nun da, auch wenn es eine seltsam stille Art der Panik war, frei von jeglicher Furcht. Ihre Hände und Knie begannen zu zittern. Dragosz’ Zeigefinger blieb einen scheinbar endlosen Augenblick auf ihren Lippen liegen, dann fuhr er ihr mit dem Handrücken sanft über die Wange. Sein Gesicht war dem ihren plötzlich so nahe, dass sie seinen Atem spüren konnte, der sonderbar roch, warm und nach einem Gewürz, das sie nicht kannte, aber nicht unangenehm. Ihr Herz schlug jetzt unmittelbar in ihrem Hals, und ihre Finger fühlten sich so kalt an, als wären sie erfroren. Sie hatte furchtbare Angst, aber zugleich war da auf einmal auch der absurde Wunsch in ihr, er möge weitermachen mit dem, was er tat. Und einen Moment lang schien es tatsächlich so. Er hörte auf, ihre Wange zu streicheln, und umfasste stattdessen ihr Gesicht mit beiden

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Händen. Er kam noch näher. Aber nur für einen Moment. Dann konnte sie regelrecht sehen, wie etwas in seinem Blick erlosch. Fast hastig ließ er ihr Gesicht los und zog sich zwei Schritte weit zurück. Er wirkte erschrocken, fast ein bisschen schuldbewusst. »Geh jetzt«, sagte er. Und war verschwunden. Arri blinzelte benommen in die Runde. Ihr Herz hämmerte noch immer so hart, als wollte es ihr aus der Brust springen, und es vergingen noch einige weitere verwirrende Augenblicke, bis Arri begriff, dass Dragosz sich natürlich nicht einfach in Luft aufgelöst hatte. Vielmehr war sie es gewesen, die einfach aufgehört hatte, die Welt um sich herum wahrzunehmen. Dafür brach diese Welt nun mit um so größerer Wucht über sie herein. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es längst nicht mehr nur ihre Hände und Knie allein waren, die zitterten. Sie bebte am ganzen Leib. Die Wasserschale, die sie in den Händen hielt, war längst wieder leer. Ihre Wangen glühten, als hätte sie Fieber, das Blut, das durch ihre Adern rauschte, schien sich in siedendes Öl verwandelt zu haben. Ihre Finger fühlten sich an, als wären sie zu Eis erstarrt. Die Welt schien sich rings um sie zu drehen, und fast kam es ihr vor, als bewege sich selbst der Boden, auf dem sie stand. Was war nur mit ihr los? Tief in sich drinnen wusste sie sehr wohl, was es war, aber es war ein verbotenes Wissen, vor dem sie zurückschrak wie vor einer ebenso verlockenden wie verzehrenden Flamme. Wo war Dragosz? Arris Blick tastete unstet über den Waldrand, suchte in den Schatten nach ihm und versuchte eine Spur zu erhaschen, irgendein Zeichen, dass er da gewesen war, als benötige sie einen Beweis dafür, dass es diese Begegnung überhaupt gegeben hatte. Es gab keinen. Der geheimnisvolle Fremde war so lautlos und rasch wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Sie musste zurück! Sie musste ihrer Mutter davon berichten, von allem, was er gesagt hatte, und vor allem davon, was er beinahe getan hätte! Hastig fuhr sie herum, war mit zwei Schritten am Waldrand und

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machte dann noch einmal kehrt, um zum Bach zu gehen und die Wasserschale zum dritten Mal zu füllen. Im Grunde war es völlig aberwitzig. Ihre Mutter hatte Wasser, und nach dem, was gerade geschehen war, spielte es überhaupt keine Rolle, und zugleich war es ihr mit einem Mal unglaublich wichtig, dieses Wasser zurückzubringen; nicht weil Lea das Wasser brauchte, sondern weil sie ihr aufgetragen hatte, es zu holen. Ihr schlechtes Gewissen (warum eigentlich?) brannte wie eine Flamme in ihr und machte es ihr fast unmöglich, auch nur zu atmen. Behutsam, die Schale mit Wasser mit ausgestreckten Armen vor sich haltend wie einen unendlich kostbaren Schatz, von dem sie unter gar keinen Umständen auch nur den winzigsten Tropfen verschütten durfte, machte sie sich auf den Rückweg.

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18 All ihre Bedenken und Ängste, ob und vor allem wie sie ihrer Mutter von ihrer Begegnung mit Dragosz beichten sollte, erwiesen sich als überflüssig, als sie zu der kleinen Felsengruppe auf der anderen Seite des Waldes zurückkehrte. Obwohl die Sonne den Horizont zwar bereits berührte, aber noch nicht untergegangen war, fand sie ihre Mutter schlafend vor, in der gleichen Haltung, in der sie vorhin dagesessen hatte, mit Kopf und Rücken gegen den Felsen gelehnt und einem Ausdruck vollkommener Erschöpfung auf den im Schlaf erschlafften Zügen. Viel mehr vielleicht als alles, was Dragosz gesagt hatte, machte ihr dieser Anblick klar, wie Recht er gehabt hatte: Arri war es den ganzen Tag über nicht aufgefallen, denn sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, doch das Gefühl von schlechtem Gewissen, das sie auf dem Weg hierher begleitet hatte, schien nun regelrecht aufzulodern, als ihr klar wurde, wie erschöpft ihre Mutter wirklich war. Wahrscheinlich hatte sie während der gesamten Nacht zuvor kein Auge zugetan, und der Weg, der hinter ihnen lag, musste sie überdies zusätzlich angestrengt haben, auch wenn sie ihn vermeintlich bequem auf dem Kutschbock zugebracht hatte. Obwohl das nun vollkommen sinnlos geworden war, setzte Arri die Schale mit Wasser so behutsam vor ihrer Mutter ab, wie sie sie hierher getragen hatte; das ganze Stück, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten, als wäre es tatsächlich eine Opfergabe, die sie ihrer Mutter brachte und nicht einfach nur eine Schale mit kaltem Wasser, das sie überdies nicht wirklich brauchte. Im allerersten Moment fühlte sie sich einfach nur hilflos - auf dem Weg hierher, so quälend lang er ihr auch vorgekommen sein mochte, war sie der Frage, wie sie ihrer Mutter von Dragosz erzählen sollte, schlichtweg dadurch ausgewichen, dass sie sich vollkommen auf die Aufgabe konzentriert hatte, keinen einzigen Wassertropfen zu verschütten. Nun aber hatte sie diese Ausrede nicht mehr. Anfangs verspürte sie eine tiefe Erleichterung: Lea schlief den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung, und sie, Arri, hatte nicht das Recht, sie daraus zu wecken.

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Und außerdem spielte es keine Rolle, ob sie ihr jetzt oder erst später von ihrem Gespräch mit Dragosz berichtete. Aber auch das war nicht wirklich die Wahrheit. Da war ein Teil in ihr, der ihr einflüstern wollte, dass es nicht nötig sei, ihr überhaupt davon zu erzählen, dass es ihrer Mutter keinen Nutzen brachte, wenn sie sie immer noch weiter belastete, ein Teil, der ihr, leise und mit einschmeichelnder Überzeugungskraft, klarmachen wollte, dass Dragosz Recht hatte, dass es besser war, wenn sie gar nichts von seiner Nähe wusste, denn schließlich hätte sie ihr dann auch von den Verfolgern berichten müssen, von denen Dragosz erzählt hatte, und das wiederum würde ihre Mutter sicherlich nur noch mehr beunruhigen. Arri schüttelte sacht den Kopf, als ihr klar wurde, was diese Stimme wirklich war: nichts anderes als ihr eigener, fast verzweifelter Wunsch, Ausreden zu finden, um ihrer Mutter nichts von Dragosz erzählen zu müssen. Denn da war auch noch etwas anderes in ihr: keine Stimme, keine wirkliche Begründung, wohl aber ein Durcheinander von Gefühlen und Bildern, die sie mit einem Gefühl tiefer Scham erfüllten; und die zugleich doch so unbeschreiblich süß und kostbar waren, dass sie sie mit aller Macht festzuhalten versuchte. Sie glaubte, die Berührung von Dragosz’ Fingern auf ihrer Wange noch immer zu spüren, glaubte seine Augen zu sehen, in denen etwas geschrieben stand, das nicht sein durfte und vor dem sie sich mehr fürchtete als vor allem anderen auf der Welt und das sie zugleich auch mehr herbeisehnte als alles andere. Wie konnte sie sich so nach etwas verzehren, das sie gar nicht kannte? Für einen kurzen Moment wurde das nagende Gefühl von Schuld so stark in ihr, dass sie die Hand ausstreckte, um ihre Mutter an der Schulter zu berühren und sie wachzurütteln. Sie hatte das Gefühl, sterben zu müssen, wenn sie ihr nicht sofort beichtete, was sie erlebt - und vor allem, was sie sich gewünscht - hatte. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen wich sie vorsichtig ein kleines Stück zurück, ließ sich auf der anderen Seite der Felsennische mit untergeschlagenen Beinen zu Boden sinken und warf einen Blick in den Himmel hinauf. Die Sonne war mittlerweile zu einem kaum noch fingerbreiten Kreisausschnitt über den Bergen im Westen geworden,

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und die Schatten wurden länger und dunkler. Es war jetzt schon spürbar kühler als vorhin, als sie fortgegangen war, um Wasser zu holen, und Arri dachte voller Schaudern daran, wie kalt die Nächte jetzt bereits wurden, und dass ihre Mutter sie ja schon gewarnt hatte, dass sie kein Feuer machen konnten. Immerhin hatte sie aber zwei Decken vom Wagen geholt, die Arri zuvor noch gar nicht entdeckt hatte, sodass sie jetzt der Kälte zumindest nicht vollkommen schutzlos ausgeliefert war. Mit diesem Gedanken und dem festen Vorsatz, ihrer Mutter in dieser Nacht einen Teil ihrer Last abzunehmen, sie schlafen zu lassen und an ihrer Stelle Wache zu halten, nickte sie ein. Und erwachte mitten in der Nacht und mit klopfendem Herzen, und weniger von einem Geräusch als eher von einem Gefühl allgemeiner Unruhe oder vielleicht auch Bedrohung. Sie war allein. Obwohl es so dunkel war, dass sie selbst die kaum drei Schritte entfernten Felsen ihrer Nische nur als massive Wand aus undurchdringlicher Schwärze wahrnehmen konnte, spürte sie doch, dass ihre Mutter nicht mehr da war. Vielleicht war es auch einfach das Fehlen ihrer regelmäßigen Atemzüge, das sie geweckt hatte. Arri hatte plötzlich ein Gefühl von absoluter Stille - auf der anderen Seite der Felsen spielte der Wind weiter raschelnd mit dem Gras, das trockene Laub der Bäume knisterte, als strichen unsichtbare Finger darüber, und sie hörte sogar die leisen Geräusche, die die beiden Pferde im Schlaf verursachen mochten, und trotzdem meinte sie zugleich von einer allumfassenden Stille eingehüllt zu sein, dem Schweigen, das aus dem Wissen stammte, plötzlich allein gelassen worden zu sein. Arri sprang so hastig auf, dass ihr schwindelig wurde, aber sie unterdrückte das Gefühl und streckte nur rasch die Hand aus, um sich an dem Felsen hinter ihr abzustützen. Ihr Herz begann zu rasen. Wo war ihre Mutter? Sie hatte ihr versprochen, Wache zu halten und sie zu beschützen, während sie schlief, und dass sie dieses Versprechen nicht laut, sondern nur sich selbst gegenüber abgegeben hatte, änderte rein gar nichts. Sie hatte ihr Wort gebrochen - schon wieder -, und das war alles, was zählte. Obwohl sie noch immer so schlaftrunken war, dass sie mehr tau-

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melte als ging, stürmte sie zwischen den Felsen hervor, streifte die Decke ab, in die sie sich gewickelt hatte, und ließ sie achtlos zu Boden fallen, während sie sich gleichzeitig blindlings nach rechts wandte. Um ein Haar wäre sie gegen den Wagen geprallt, der als riesiges, gefährliches Hindernis jäh aus der Dunkelheit vor ihr auftauchte. Es gelang ihr im letzten Moment, die Hand auszustrecken, sodass sie nur einen dumpfen Schmerz spürte, der durch ihr Handgelenk schoss, statt sich ernsthaft zu verletzen, aber sie torkelte einen Schritt zurück und musste hastig mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen. Das dumpfe Geräusch, mit dem sie gegen den Wagen geprallt war, vielleicht auch ihre heftige Bewegung, hatte eines der Pferde geweckt. Das Tier, das anscheinend im Stehen geschlafen hatte, drehte mit einem unwilligen Schnauben den Kopf in ihre Richtung und scharrte mit den Hufen, und im nächsten Moment hörte Arri hinter sich einen neuen Laut: das seidige Flüstern einer Stimme, die nahezu die gleiche Tonlage hatte wie der Wind, der über das Gras strich, sodass sie sie bisher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Ihre Mutter. Sie sprach mit jemandem. Hatte sich Dragosz doch entschlossen, sich zu zeigen, oder hatte er sich vorhin gar einen Scherz mit ihr erlaubt, als er sie bat, ihrer Mutter nichts von seiner Anwesenheit zu verraten oder sie möglicherweise sogar auf die Probe stellen wollen? Arris Benommenheit war mittlerweile vollkommen verflogen. Langsam und mit schon wieder heftig klopfendem Herzen drehte sie sich um und versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchbohren, aber es war ein sinnloses Unterfangen. Die Nacht war so kalt, wie sie es befürchtet hatte, aber noch sehr viel dunkler, und der Himmel hatte sich fast gänzlich zugezogen, sodass weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Das wenige Licht, das irgendwie seinen Weg durch die geschlossene Wolkendecke gefunden hatte, reichte gerade aus, damit man die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte, aber kaum weiter. Ihre Mutter und Dragosz konnten eine Pfeilschusslänge entfernt sein und auf der anderen Seite der Felsen stehen, genauso gut aber auch direkt vor ihr. Was sollte sie tun? Wenn Dragosz wirklich zurückgekommen war,

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um mit ihrer Mutter zu reden, dann würde sie alles erfahren, und auch, wenn Arris Vernunft ihr klarzumachen versuchte, dass an ihrem Gespräch eigentlich rein gar nichts Verbotenes oder auch nur Verfängliches gewesen war, begann ihr Herz doch allein bei der Vorstellung schneller zu klopfen, und ihr schlechtes Gewissen wurde noch stärker. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich zu schämen brauchte, und dennoch erfüllte sie der Gedanke, dass Dragosz jetzt mit ihrer Mutter reden könnte, beinahe mit Entsetzen. Sie war davon überzeugt, dass ihre Mutter sie nur ein einziges Mal ansehen musste, um zu wissen, was sie in diesem Augenblick gefühlt und gedacht und vor allem, was sie sich gewünscht hatte. Trotzdem ging sie nach kurzem Zögern weiter. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach an ihren Schlafplatz zurückzukehren und so zu tun, als wäre sie gar nicht erwacht, aber sie erwog diese Möglichkeit gerade so lange, wie sie brauchte, um den Gedanken zu Ende zu denken. Die Dunkelheit würde ihr Schutz gewähren, sodass ihre Mutter ihr kleines Täuschungsmanöver gewiss nicht durchschauen würde, aber die Ungewissheit war schon jetzt so gut wie unerträglich. Nicht zu wissen, mit wem Lea dort auf der anderen Seite der Felsen sprach - und vor allem worüber! -, wäre mehr, als sie ertragen konnte. So leise sie konnte, den linken Arm tastend vorgestreckt, um nicht in der Dunkelheit erneut gegen ein Hindernis zu prallen und sich vermutlich zu verraten, ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und umrundete die Felsgruppe in der anderen Richtung. Das Wispern der Stimme wurde lauter, aber nicht verständlicher. Doch jetzt war sie beinahe sicher, dass es die Stimme ihrer Mutter war, und zwar nur ihre Stimme; wenn sie mit jemand anderem sprach, dann beschränkte sich dieser andere aufs Zuhören und sagte selbst nichts. Sie konnte ein wenig besser sehen, als sie die Felsen umrundet hatte und die weite Grasebene wieder vor ihr lag; in der Dunkelheit ein Meer aus Schwärze, die nur ein wenig tiefer war als die über ihr, und doch reichte dieser winzige Unterschied aus, um die schlanke Gestalt auszumachen, die in einem Dutzend Schritte Entfernung dastand und zum Himmel hinaufsah. Es war ihre Mutter, und sie war allein.

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Arri konnte nicht erkennen, was sie tat - oder ob sie überhaupt etwas tat -, aber sie schien sich auf etwas zu stützen, und jetzt, als sie näher war und sich darauf konzentrierte, hörte sie auch, dass ihre Stimme monoton klang; gleichförmig und nahezu ohne Betonung, und es war irgendetwas Seltsames darin, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Sie zögerte wieder. Ein spürbares Gefühl von Erleichterung machte sich in ihr breit, ihre Mutter allein zu sehen und nicht etwa zusammen mit Dragosz, aber zugleich nahm ihre Verwirrung eher noch zu. Sie verstand nicht, mit wem ihre Mutter da redete. Anscheinend mit niemandem, aber das war allerhöchstens etwas, was sie von den kleinen Kindern im Dorf kannte oder dem verrückten Achk, doch nicht von ihrer Mutter. Sie zögerte noch einen allerletzten Augenblick, aber dann ging sie weiter. Sie hatte sich verschätzt, was die Entfernung anbetraf; Lea war noch viel weiter entfernt, als sie geglaubt hatte, aber der Wind stand günstig, sodass sie sie jetzt deutlich hören konnte. Trotzdem verstand sie sie nicht. Es war die Stimme ihrer Mutter, doch sie redete in einer Sprache, die sie nicht kannte und die ihr auch nicht im Geringsten vertraut vorkam. Schließlich hielt Lea in ihrem sonderbaren Singsang inne und drehte sich zwar nicht zu ihr um, wandte aber den Kopf, und trotz der vollkommenen Dunkelheit, die ihre Gestalt und auch ihr Gesicht noch immer zu einem flachen, tiefenlosen Schatten herabminderte, glaubte Arri ihr sanftes Lächeln zu spüren; wie die flüchtige, aber sehr warme Berührung einer großen, beschützenden Hand. »Komm ruhig näher, Arianrhod«, sagte sie. »Du musst nicht schleichen.« »Ich… wollte dich nicht stören«, antwortete Arri stockend. Sie war ihrer Mutter nun nahe genug, um trotz der Dunkelheit erkennen zu können, dass sie tatsächlich allein war. »Was tust du hier?« Eine geraume Weile verstrich, so als müsse Lea erst über die Antwort nachdenken - vielleicht aber auch über den Sinn ihrer Frage -, und sie wandte den Kopf wieder und sah in die gleiche Richtung wie zuvor, ehe sie sprach. »Ich halte Zwiesprache mit den Göttern. Aber

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bisher haben sie nicht geantwortet.« »Mit den Göttern?« Arri war stehen geblieben, als ihre Mutter sie angesprochen hatte, doch nun ging sie langsam weiter, hielt aber auf gut drei- oder vierfacher Armeslänge wieder inne, fast ohne es selbst zu merken. Plötzlich verspürte sie beinahe so etwas wie Scheu, ihrer Mutter noch näher zu kommen. »Aber du hast mir doch selbst gesagt, es gäbe sie gar nicht.« »Das ist kein Grund, nicht mit ihnen zu reden.« Lea lachte; wenigstens nahm Arri an, dass das Geräusch ein Lachen sein sollte. Es klang bitter, aber nicht so bitter, wie sie erwartet hätte. »Einen Versuch war es wert, oder?« Arri war nicht sicher, ob sie wirklich verstand, was ihre Mutter ihr sagen wollte. Sie war nicht einmal sicher, ob die Worte tatsächlich ihr galten. Sie schwieg. Nachdem eine weitere, kleine Ewigkeit vergangen war, in der weder sie noch ihre Mutter etwas gesagt hatten, überwand sie ihre Scheu und ging weiter, bis sie unmittelbar neben ihr stand. Lea reagierte auch darauf nicht, jedenfalls nicht im ersten Moment. Erst nach einiger Zeit streckte sie den Arm aus und legte die Hand sacht auf ihre Schulter, sah aber nicht auf sie herab, sondern blickte weiter in den wolkenverhangenen schwarzen Himmel hinauf. »Es gab eine Zeit, da habe ich täglich mit ihnen gesprochen«, flüsterte sie, legte eine neuerliche, lange Pause ein, und fuhr dann plötzlich und übergangslos in derselben, fremdartigen Sprache fort, die Arri vorhin gehört hatte; einer Sprache, von der sie plötzlich gar nicht mehr sicher war, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sie hörte nichts, was sie jemals gehört hatte, ja, sie war nicht einmal ganz sicher, ob es Worte waren oder vielleicht etwas völlig anderes, Geheimnisvolleres. Möglicherweise etwas wie ein Lied. Doch wenn, dann war es ein unendlich trauriges Lied. »Ist das… die Sprache deiner…« Arri verbesserte sich fast hastig, »… unserer Heimat?« Wenn Lea ihren Versprecher überhaupt bemerkt hatte, überging sie ihn. Ohne den Blick von den schwarzen Wolken am Himmel loszureißen, nickte sie. »Ja. Eine davon.«

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»Eine?«, wiederholte Arri verwirrt. »Hattet ihr… wir denn mehr als eine Sprache?« Diese Vorstellung erschien ihr sinnlos. Wozu sollte ein einziges Volk mehr als eine Sprache haben? Sie fand es schon höchst verwirrend, dass die Menschen in ihrem Dorf einen anderen Dialekt als die in den Nachbardörfern sprachen, sodass es manchmal schwer war, sie überhaupt zu verstehen. Trotzdem nickte Lea - wieder nach einem spürbaren Zögern, fast, als folge sie einem sonderbaren Zeremoniell, das es ihr verbot, irgendetwas sofort oder auch nur schnell zu tun, und sie ließ noch einmal dieses leise, nun aber eindeutig bittere Lachen hören, bevor sie antwortete. »Wir hatten viele Sprachen, Arianrhod. Die Sprache der gemeinen Menschen, die Sprache der Seeleute, die Sprache der Soldaten und die Sprache der Könige.« »Aber warum?«, erkundigte sich Arri. »Warum tun Menschen die Dinge, die sie tun?«, gab ihre Mutter zurück. Sie sah sie immer noch nicht an. Ihr Blick suchte den schwarzen Himmel ab, und nun, als Arri ihr nahe genug war, um ihr Gesicht erkennen zu können, sah sie ganz deutlich, dass sie tatsächlich nach etwas suchte, vielleicht auch auf etwas wartete. »Du hast mich gerade gehört, nicht wahr?« Arri nickte nur, und ihre Mutter schien die Bewegung zu spüren, obwohl sie nicht zu ihr herabsah. Vielleicht hatte sie auch keine Antwort erwartet. »Was du gehört hast, war die Sprache der Hohepriester. Nur sehr wenige Auserwählte durften sie sprechen, denn es war die Sprache, in der wir mit den Göttern geredet haben.« »Du warst eine Hohepriesterin?«, murmelte Arri. Ihre Stimme bebte vor Ehrfurcht, obwohl sie diese Erkenntnis nicht hätte überraschen dürfen; sie war nicht neu für sie. Und zugleich war sie es trotzdem. Vielleicht erst jetzt, nachdem sie diese sonderbaren, gleichzeitig unendlich fremdartigen wie berührenden Worte gehört hatte, begriff sie wirklich, was dieses Wort bedeutete. Es war nicht nur irgendein Titel, nicht nur irgendeine Bezeichnung für das, was Männer wie Sarn oder Nor oder die Jäger taten. »Fast mein halbes Leben lang habe ich in dieser Sprache mit den

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Göttern geredet«, fuhr Lea fort. »Und fast mein halbes Leben lang haben sie mir geantwortet. Ich hätte dich diese Sprache so gern gelehrt, Arianrhod. Sie ist wunderschön. Manche sagen, sie sei so alt wie die Welt, und andere behaupten, sie allein sei es, die die Götter zum Leben erweckt habe.« »Und was davon ist nun wahr?«, fragte Arri. »Ich weiß es nicht«, gestand Lea. Sie klang jetzt nicht mehr bitter, sondern allenfalls ein wenig traurig; aber nicht sehr. »Und… wirst du mich lehren, sie zu sprechen?«, fragte Arri. Diesmal verging eine lange, wirklich sehr lange Zeit, bis ihre Mutter antwortete. Sie blickte noch immer in den Himmel hinauf, doch ihre Hand, die auf Arris Schulter lag, schien mit einem Mal schwerer zu werden, als wäre ein Teil ihrer Kraft aus ihrem Körper gewichen, sodass sie sich mit der Berührung, die ihr bisher Schutz und Sicherheit vermittelt hatte, jetzt auf sie stützte. »Nein.« »Warum nicht?« »Weil ich es nicht mehr kann«, antwortete Lea leise. »Ich habe sie verlernt.« »Aber du hast sie doch gerade noch…«, begann Arri und brach mitten im Satz ab, als ihre Mutter traurig den Kopf schüttelte. »Was du gehört hast, das waren nur die Worte. Aber ich fürchte, sie allein reichen nicht. Es sind nicht die Worte, die die Götter zum Leben erwecken, sondern das, was sie bedeuten.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Arri, und diesmal lächelte ihre Mutter. »Irgendwann wirst du es verstehen. Wenigstens hoffe ich das. Vielleicht wirst du klüger sein als ich, wenn diese Welt dir die Gelegenheit dazu lässt.« Der Wind frischte auf, und obwohl er noch immer nicht wirklich stark war, reichte er doch, eine Lücke in die schwarze Wolkendecke über ihnen zu reißen, sodass sie das Funkeln der Sterne darüber erkennen konnten, und es war seltsam - Arri konnte ihrer Mutter ansehen, dass sie nicht nur darauf gehofft, sondern ganz genau gewusst hatte, dass das passieren würde, und wahrscheinlich sogar darauf gewartet hatte. Vielleicht hatten die Götter ihrer alten Heimat, zu denen sie in dieser fremdartigen Sprache gebetet hatte, ihr ein Zei-

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chen geschickt. Ein verirrter Lichtstrahl spiegelte sich auf Metall, und Arri sah erst jetzt, dass ihre Mutter das Schwert aus dem Gürtel gezogen und vor sich in den weichen Boden gerammt hatte, um sich mit der rechten Hand auf dem verzierten Knauf abzustützen. »Siehst du diesen einen, besonders hellen Stern dort oben?«, fragte Lea. Sie löste weder die rechte Hand vom Schwert, noch nahm sie die andere von Arris Schulter, und doch begriff Arri fast sofort, was sie meinte: Zwischen den zahllosen Sternen, die wie glitzernde Eiskristalle auf schwarzer Asche am Himmel schimmerten, blinkte ein ganz besonders heller, weißer Funke. Sie nickte. »Er hat unseren Seefahrern als Leuchtfeuer gedient«, fuhr Lea fort. »Wo auch immer auf der Welt sie waren, sie mussten sich nur nach seinem Licht richten, um wieder nach Hause zu kommen. Merk ihn dir gut. Vielleicht wird er dir eines Tages das Leben retten. Auch wenn er deinen Vater und so viele andere das Leben gekostet hat.« Arri lauschte vergeblich nach einem Unterton von Bitterkeit oder gar Vorwurf in der Stimme ihrer Mutter. Nichts davon war zu hören. Es war eine Feststellung, mehr nicht, und vielleicht war es gerade das, was diese Worte so schrecklich machte, denn hätte es dieses Leuchtfeuer am Himmel nicht gegeben, hätte dieser eine, funkelnde Stern ihren Vater in jener schicksalhaften Nacht nicht nach Hause gebracht, dachte Arri, dann wäre er vielleicht jetzt noch am Leben. Aber dann wären sie und ihre Mutter vielleicht schon tot. Ganz plötzlich ergriff sie ein entschlossener Zorn auf die vergessenen Götter, über die ihre Mutter sprach. Wenn es sie wirklich einmal gegeben hatte, dachte sie, dann hatten sie einen grausam hohen Preis für all die vermeintlichen Geschenke verlangt, die sie den Menschen gaben, welche sie mit ihren Gebeten zum Leben erweckt hatten. Der Wind frischte weiter auf, vergrößerte die Lücke in der Wolkendecke, und es wurde spürbar kälter. Lea löste nun doch die rechte Hand vom Schwert, das, sicher in den Boden gerammt, weiter dastand, und machte eine flatternde Bewegung nach oben. »Erinnerst du dich an die Sterne, die ich dir gezeigt habe?« »Die sieben, von denen nur fünf sichtbar sind?«, fragte Arri.

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»Die Plejaden. Ja. Zeig sie mir.« Arri hatte den Namen vergessen, nicht aber die Position des zum Teil unsichtbaren Sternbildes am Himmel. Sie brauchte nur einen Augenblick, um es wieder zu finden und mit dem ausgestreckten Arm in seine Richtung zu deuten. »Dort.« »Ja.« Lea sagte nur dieses eine Wort, aber Arri konnte ihr ansehen, mit welchem Stolz es sie erfüllte, dass sie diese kleine Aufgabe so schnell und mühelos gelöst hatte. Dabei war sie nicht schwer gewesen. Die Sterne hatten Arri immer fasziniert, und sie hatte sich schon als kleines Kind gefragt, ob sich hinter diesen kalt funkelnden Lichtern am Himmel nicht vielleicht tatsächlich mehr verbarg als eben nur Lichter am Himmel, und wenn ja, was. Erst von ihrer Mutter und erst vor sehr kurzer Zeit hatte sie erfahren, dass manche dieser Sterne Namen hatten und manche Bilder und Gestalten am Himmel bildeten, aber gespürt hatte sie es schon immer. Möglicherweise hatte ihre Mutter ihr mehr vererbt als nur ihr silberfarbenes Haar und ihre schlanke Gestalt, die sie so oft zum Gespött aller anderen gemacht hatten. »Haben all diese Sterne Namen?«, fragte sie. »Nicht alle«, antwortete Lea. »Aber viele. Du wirst sie lernen müssen.« »Aber es sind so viele«, murmelte Arri. »Was bedeuten sie?« »Alles«, antwortete Lea. »Vielleicht habe ich zeit meines Lebens zu den falschen Göttern gebetet, Arianrhod. Vielleicht sind wir alle dumm und mit Blindheit geschlagen. Wir heben den Blick in den Himmel und suchen die Götter hinter der Welt, die wir sehen können, und doch ist die Antwort vielleicht die ganze Zeit dort oben.« »In den Sternen?«, vergewisserte sich Arri. »Sie sind alles«, antwortete ihre Mutter, doch sie tat es in einem Ton, der diese Worte irgendwie nicht wirklich zu einer Antwort machte, als hätte es Arris Frage nur bedurft, damit sie sich selbst eine Frage stellte, deren Antwort sie längst kannte und nur nicht wahrhaben wollte. »Sie wachen über uns, weißt du? Wenn du ihre Sprache verstehst, dann verraten sie dir so viel. Sie sagen dir, wohin du gehen musst, um nach Hause zu kommen. Sie sagen dir, wann die Saat aus-

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gebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen. Sie verraten dir, ob der nächste Winter hart oder mild wird, der nächste Sommer trocken oder kalt, ob der Schnee früh fällt und die Flüsse Hochwasser führen, wenn das Frühjahr kommt. Alle Antworten sind dort oben zu finden, Arianrhod. Wir müssen nur lernen, die richtigen Fragen zu stellen.« Und ganz plötzlich begriff sie, wie wenig sie in Wahrheit über ihre Mutter wusste. Sie hatte geglaubt, alles über sie zu wissen, spätestens seit ihrem Gespräch auf der Waldlichtung, als sie vom Untergang ihrer Heimat und ihrer verzweifelten Flucht erfahren hatte, und in gewissem Sinn stimmte das sogar - sie wusste so unendlich viel mehr über ihre Mutter als irgendein anderer Mensch auf der Welt, vermutlich sogar mehr als Dragosz - und zugleich wusste sie rein gar nichts von ihr. Arris bewusste Erinnerungen reichten vielleicht sieben oder acht Sommer zurück, und sie wurden dünner und schemenhafter, je weiter sie zurückreichten, doch das Leben ihrer Mutter hatte nicht in jener Zeit begonnen, nicht einmal erst dann, als sie aus ihrer Heimat geflohen oder als sie, ihre Tochter, zur Welt gekommen war. Es war dieser Augenblick, in dem Arri zum ersten Mal und mit erschütternder Wucht klar wurde, dass die Frau, die nun neben ihr stand und ihre Mutter war - und der sie nicht nur ihr Leben verdankte (und das gleich zweimal), nein, alles, was sie wusste, was sie war und was sie vielleicht irgendwann einmal werden würde -, nicht sehr viel mit der Leandriis zu tun hatte, die sie einst gewesen war. Mit ihrer Flucht aus ihrer sterbenden Heimat hatte sie nicht nur ihren Namen abgelegt und all ihr weltliches Hab und Gut verloren, ihre Familie, ihr Zuhause, sondern wortwörtlich ihr Leben. Ein kalter Schauer rann über Arris Rücken, als sie noch einmal an den sonderbaren Gesang zurückdachte, der sie hierher gelockt hatte. So fremd und vollkommen anders, wie diese Worte in ihren Ohren geklungen hatten, so vollkommen fremd und anders musste ihr Leben gewesen sein, das sie vor dem Untergang ihrer Heimat geführt hatte. Vielleicht dachte sie nicht einmal wie die Menschen hier. Vielleicht nicht einmal so wie sie. Als hätte sie die Trauer gespürt, die Arri mit einem Mal ergriffen

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hatte, riss Lea den Blick vom Himmel los und drehte sich nicht nur ganz zu ihr um, sondern ließ sich leicht in die Hocke sinken, sodass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Und als sie weitersprach, bewiesen ihre Worte, dass sie ihre Gedanken, wenn schon nicht gelesen, so doch ziemlich genau erraten hatte. »Ich werde dich diese Sprache nicht lehren, Arianrhod«, sagte sie, »denn sie ist so tot wie die Götter, die sie einst gesprochen haben. So tot wie unsere Vergangenheit. Und ich werde auch keine weiteren Fragen über meine Heimat und mein früheres Leben beantworten. Die Vergangenheit ist tot, und keine Macht der Welt kann sie zurückbringen. Du musst nach vorn schauen, hörst du? Du gewinnst nichts dabei, einer Zeit nachzutrauern, die nie wieder kommen wird und die du niemals erlebt hast.« Ohne die Hand von Arris Schulter zu nehmen oder ihren Blick loszulassen, griff sie mit der anderen Hand hinter sich und zog das Schwert aus dem Boden. Sie hielt Arri den verzierten Griff so dicht vor das Gesicht, dass sie zurückgeprallt wäre, hätte Leas andere Hand sie nicht zugleich so festgehalten. »Du musst mir etwas versprechen, Arianrhod«, sagte sie, und in ihrer Stimme war plötzlich ein Klang, der Arri schaudern ließ. Sie versuchte abermals und mit nun schon deutlich mehr als sanfter Gewalt, sich loszureißen, doch der Griff von Leas so zart erscheinenden Händen war so hart wie das Zaubermetall, aus dem ihr Schwert geschmiedet war. Ihr Blick wurde bohrend, und schließlich nickte Arri zögernd. »Ich habe dich schon einmal darum gebeten, aber ich weiß, dass du es damals wahrscheinlich nicht verstanden hast. Das konntest du gar nicht. Aber jetzt meine ich es bitter ernst, Arianrhod. Ich weiß nicht, was morgen geschieht, oder am Tag danach. Doch was immer es ist, du musst mir eines versprechen. Wenn du dich zwischen mir und diesem Schwert entscheiden musst, Arianrhod, dann wähle das Schwert. Es ist alles, was zwischen dir und einem Leben in Barbarei und Schrecken steht.« Sie ließ Arris Schulter los, richtete sich auf und forderte sie zugleich auf, nach dem Schwert zu greifen. Arri zögerte, doch ihre Mutter wiederholte die Geste so heftig, dass sie diesmal zum Befehl

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wurde, und sie streckte zögernd die Hand aus und schloss die Finger um den verzierten Griff der Waffe. Das Schwert kam ihr schwerer vor als bisher, als ginge etwas Lautlos-Bedrohliches von ihm aus, das sie in all den Jahren zuvor noch nie bemerkt hatte. Plötzlich war sie sich sicher, dass diese Klinge viel größeres Unheil anzurichten vermochte als Fleisch zu zerschneiden und Knochen zu zertrümmern. Der grüne Stein, aus dem der goldverzierte Knauf geschnitzt war, fing einen Spritzer aus silberfarbenem Sternenlicht ein und schien für ein Lidzucken wie unter einem kalten, inneren Feuer aufzuleuchten, und währenddessen hatte Arri den völlig verrückten Gedanken, dass dieses Schwert tatsächlich von einem unheimlichen, düsteren Leben erfüllt sein mochte und auf diese Weise auf ihre Gedanken antwortete. Dann erlosch das Schimmern, das vermutlich ohnehin nur in ihrer Phantasie existiert hatte, und zurück blieb ein Gefühl tiefer, vollkommener Verwirrung. »Wirst du mir das versprechen?«, fragte Lea noch einmal. Arri starrte sie nur weiter verstört an. Wäre die Situation nicht so unheimlich und schrecklich verdreht zugleich gewesen, hätte sie möglicherweise laut aufgelacht. War ihre Mutter verrückt geworden? Sie erwartete im Ernst von ihr, dass sie sich für ein Stück lebloses Metall entschied, wenn sie vor diese Wahl gestellt wurde? Das war verrückt! »Nein«, sagte sie. Für die Dauer eines Herzschlags verfinsterte sich Leas Gesicht. Ihre alte Ungeduld war wieder da, und Arri sah genau, wie dicht sie davor stand, die Beherrschung zu verlieren und sie einfach anzufahren, wie sie es oft tat, wenn Arri nicht sofort gehorchte oder irgendetwas nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit erledigte. Dann aber zwang sie sich mit einer sichtbaren Anstrengung zu einem Lächeln. »Vielleicht hast du ja sogar Recht. Ich kann so etwas schwerlich von dir verlangen, wenn du nicht weißt, warum.« Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte eine ganze Weile wortlos in den Himmel hinauf, als erwarte sie, dort oben Rat zu finden oder vielleicht auch eine Antwort auf all die Fragen, die sie vielleicht quälten. Dann straffte sie mit einem lautlosen Seufzen die

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Schultern, trat einen halben Schritt zurück und nahm Arri das Schwert wieder aus der Hand. »Der kommende Winter wird sehr mild werden. Und die Schneeschmelze im nächsten Jahr sehr früh einsetzen. Aber Eis und Schnee werden zurückkehren, spät im Frühjahr, und mit großer Kraft.« Arri sah ihre Mutter nun noch verwirrter an. Was hatten das Wetter und das nächste Frühjahr mit dem zu tun, worum sie sie gerade gebeten hatte? Sie behielt jedoch sowohl ihre Verwirrung als auch all die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, für sich und geduldete sich, bis ihre Mutter von sich aus fortfuhr. »Erinnerst du dich, was ich dir über dieses Schwert erzählt habe? Die Sterne, die in seinem Griff abgebildet sind?« Sie hielt Arri abermals den Schwertgriff hin, und ihr auffordernder Blick machte deutlich, was sie von ihr erwartete. Arri gehorchte und sah den kunstvoll verzierten, im schwachen Licht nun wieder fast schwarz erscheinenden Knauf gehorsam an, doch sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Die Erinnerung an das, was gerade geschehen war, war noch zu frisch. Es nutzte ihr rein gar nichts, sich selbst zu versichern, dass sie die düstere Seele dieser Waffe nicht wirklich gespürt, sondern sich das unheimliche Erlebnis nur eingebildet hatte. »Zeig sie mir noch einmal«, verlangte Lea. »Die Plejaden?« Lea nickte, und Arri deutete gehorsam auf den Kreis aus sieben goldenen Punkten auf dem Schwertgriff und dann auf die fünf sichtbaren, in kaltem Weiß schimmernden Sterne über ihnen am Himmel. »Und weißt du noch, was ich dir darüber erzählt habe?« Leas ausgestreckter Finger deutete auf den winzigen, goldfarbenen Viertelkreis unter dem Siebengestirn auf dem Schwertknauf. »Der… Himmelswagen?«, murmelte Arri. Sie erinnerte sich nur mühsam. Ihre Mutter hatte ihr eine Menge über dieses Schwert erzählt, aber vieles davon hatte mit den Göttern und ihrem Glauben zu tun, die beide zusammen mit ihrer Heimat untergegangen waren, und warum hätte sie sich etwas merken sollen, das für sie von keinerlei Belang mehr war? Trotzdem schien sie nicht ganz falsch gelegen zu haben, denn ihre Mutter sah zwar nicht völlig zufrieden aus, nickte

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aber trotzdem. »Der Himmelswagen, mit dem die Sonne ihre Reise durch die Nacht antritt, um am Morgen wieder am Himmel zu erscheinen«, bestätigte sie, schüttelte aber fast gleichzeitig den Kopf. Ein kurzes, flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen und erlosch ebenso rasch wieder, wie es erschienen war. »Jedenfalls ist es das, was die meisten glauben. Und was sie auch glauben sollen.« »Aber es ist nicht die Wahrheit«, vermutete Arri. Statt sofort zu antworten, drehte ihre Mutter das Schwert herum, sodass sich der goldene Viertelkreis nun über dem winzigen Siebengestirn befand; eine fragend hochgezogene Augenbraue über einem leblos starrenden Götterauge. Arri war verwirrt und sah ihre Mutter auch mit dem gleichen Ausdruck an, doch Lea lächelte nur weiter und ließ noch ein paar Augenblicke verstreichen, wie um sicherzugehen, dass ihre Tochter auch tatsächlich gesehen hatte, was sie ihr zeigen wollte, dann deutete sie mit der anderen Hand zum Himmel, hinauf zu dem unvollkommenen Zwilling des Sternbildes auf dem Schwertgriff, und Arris Blick folgte der Geste, und dann sah sie es so deutlich, dass sie sich verblüfft fragte, wieso es ihr nicht die ganze Zeit über schon aufgefallen war: Auch über dem Vorbild des Schwertknaufs dort oben am Himmel spannte sich ein fast vollkommener Viertelkreis, nur dass er nicht aus Gold bestand, sondern aus zahllosen blitzenden Lichtpunkten, hunderte und tausende und abertausende von Sternen, die sich in einem gewaltigen Band dort oben entlangzogen. Es war ein wunderschöner Anblick, der Arri umso mehr verblüffte, als ihr klar wurde, dass es ihn nicht erst seit jetzt gab, sondern diese Sterne dort oben leuchteten, so lange sie lebte, und schon sehr viel länger. Und trotzdem hatte sie sie bis eben noch niemals wirklich gesehen. »Was… ist das?«, murmelte sie stockend. Ihre Stimme bebte ganz leicht. Auch wenn sie die Antwort auf ihre eigene Frage kannte - es waren Sterne, was sonst? -, so spürte sie doch jetzt vielleicht zum ersten Mal, aber mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es eben nicht nur Lichter am Himmel waren, nicht nur die schlafenden Götter oder Geister oder Dämonen, für die die meisten anderen sie halten

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mochten, falls sie sich überhaupt Gedanken darüber machten, sondern mehr. Sie hatte das Gefühl, von etwas Großem berührt zu werden, von etwas fast Heiligem. »Alles«, antwortete ihre Mutter, und auch in ihrer Stimme klang ein schwacher Anflug jener Ehrfurcht an, die Arri empfand. Sie drehte das Schwert wieder um und amüsierte sich einen Moment lang sichtlich über Arris Stirnrunzeln, als der goldene Halbkreis nun wieder unterhalb des Siebengestirns war. »Siehst du? Manchmal ist es das Allereinfachste, das größte Geheimnis im Offensichtlichen zu verbergen.« »Dann ist das…?« Arri deutete fast schüchtern auf den Schwertknauf. »… so etwas wie… wie Goseg?« Lea wirkte für einen Moment ehrlich verblüfft. »Ja. Wenn du so willst. Nor und seine Priester richten Steine auf und bauen gewaltige Heiligtümer, aber nur die Wenigsten von denen, die in diesen Heiligtümern beten und ihren Tribut entrichten, ahnen, dass sie im Grunde nur einem einzigen Zweck dienen: die Zeit zu messen.« Sie lächelte traurig. »Auch ich war einst ganz ähnlich wie Nor und die anderen. Eine Priesterin, Arianrhod. Unser Glaube war vielleicht nicht ganz so grausam wie der dieser Menschen hier, und unser Einfluss auf das Leben der Menschen nicht ganz so groß, und doch ist der Unterschied nicht so gewaltig, wie ich mir immer eingeredet habe.« Eine unbestimmte Trauer schwang in ihrer Stimme mit, und Arri fragte: »Aber was ist daran so schlimm?« »Vielleicht nichts«, erwiderte Lea, allerdings in einem Ton, der das genaue Gegenteil besagte. »Wir belügen die Menschen, das ist alles. Wir tun es zu ihrem Besten, aber das ändert nichts daran, dass wir sie belügen.« Sie schwieg einen Moment, dann schüttelte sie abgehackt und irgendwie zornig den Kopf und hob noch einmal das Schwert. »Du hast Recht, Arianrhod. Alles, wozu Nor und seine Priester mit ihrem gewaltigen Heiligtum in Goseg fähig sind, ist auch in diesem Schwert verborgen, und noch viel mehr. Die meisten halten es für eine Waffe, und das ist es auch, aber es ist darüber hinaus auch ein Instrument gewaltiger Macht. Denn wer den genauen Verlauf der

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Jahreszeiten kennt, den Tag der Sommer- und Wintersonnenwende, der weiß auch, wann die Saat ausgebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen, wann die Zeit der Stürme beginnt und die Flüsse steigen.« Sie machte eine unbestimmte Bewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Das ist es, was Nor und Sarn und all die anderen fürchten, Arianrhod. Nicht meine Heilkunst, denn die können sie verstehen. Nicht mein Wissen um die Natur, das Verhalten der Tiere, denn das ist gar nicht so viel größer als das ihre. Manches habe ich erst in diesem Land und von den Menschen hier gelernt. Was sie fürchten, ist mein Wissen um die Zeit, um den Weg der Sonne und des Mondes, und um die Jahreszeiten. Es hat nichts mit den Göttern oder Magie zu tun, Arianrhod. Unser Volk hat den Himmel über zahllose Generationen hinweg beobachtet, und vor unserem ein anderes und davor wieder ein anderes. Es ist nur das gesammelte Wissen zahlloser Generationen. Nicht mehr.« »Aber warum sagen sie es den Menschen dann nicht einfach?«, wunderte sich Arri. Zu ihrer Überraschung lachte Lea auf. »Aber wo kämen wir hin, wenn jeder einfache Bauer und Fischer wüsste, wann es Zeit ist, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen?« Sie lachte erneut und schüttelte heftig den Kopf, als hätte Arri einen besonders guten Scherz gemacht. »Du hast es bereits begriffen, Arianrhod, auch wenn du es vielleicht selbst nicht weißt. Das hier ist das letzte Geheimnis der Priester. Wenn du es offenbarst, beraubst du sie ihrer Macht über die Menschen, und das ist es, was sie fürchten. Wüsste Nor genau, wo mein geheimes Wissen verborgen ist, hätte er es mir längst gestohlen und mich getötet.« Arri erinnerte sich an das Gespräch mit dem greisen Hohepriester. »Deshalb hat er von dir verlangt, dass du es ihm sagst?« Lea nickte. »Ja. Und ich hätte den Moment, in dem ich es getan hätte, nicht einmal um einen Atemzug überlebt, so wenig wie du.« Sie ließ sich wieder in die Hocke sinken und rammte das Schwert genau zwischen sich und Arri in den weichen Boden. Ihre rechte Hand lag flach auf dem Knauf. »Ich werde dich lehren, es zu gebrauchen. Es

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ist nicht einmal so schwer, wenn man das Geheimnis kennt. Aber du darfst es niemals preisgeben, hörst du? Niemandem, ganz gleich, wie sehr du ihm auch vertraust.« »Das verspreche ich«, sagte Arri, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf und machte zugleich eine abwehrende Bewegung. »Nein«, sagte sie, »versprich nichts vorschnell. Bald wird eine Zeit kommen, in der du andere Menschen triffst, denen du glaubst, vertrauen zu können. Du wirst die Liebe kennen lernen, und das wünsche ich dir von ganzem Herzen. Und doch darfst du nie jemandem das Geheimnis dieses Schwertes verraten.« Arri begriff erst ganz langsam, wovon ihre Mutter überhaupt sprach - nämlich nicht nur von diesem Schwert und seinem Geheimnis, sondern von einer Zeit, in der sie selbst nicht mehr da sein würde. Aber sie wollte nicht darüber reden. Der Tod gehörte so selbstverständlich zu dem Leben, das sie bisher geführt hatte, dass er kaum noch Schrecken für sie barg, aber das galt nicht für ihre Mutter. Sie würde ewig leben, das war für Arri vollkommen sicher. »Aber du…«, begann sie, wurde aber sofort wieder mit einem noch heftigeren Kopfschütteln ihrer Mutter unterbrochen. »Irgendwann wirst du selbst Kinder haben«, sagte Lea. »Eines davon wird eine Tochter sein, und ihr wirst du dein Wissen weitergeben, nur ihr und sonst niemandem. So ist es immer gewesen, und so wird es auch weiter sein.« »Aber warum sagen wir es nicht einfach allen?«, murmelte Arri. »Wenn das, was Nor und die anderen tun, nur eine Lüge ist, warum erzählen wir es dann nicht allen? Und warum sagen wir ihnen nicht die Wahrheit? Dann hätten sie keinen Grund mehr, dich zu fürchten.« Lea lächelte, als hätte sie einen dummen, aber verzeihlichen Fehler begangen. »O Arri, glaubst du, du wärest die Erste, die auf diesen Gedanken gekommen ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich.« »Warum?« »Weil es die Ordnung der Dinge durcheinander bringen würde«, antwortete Lea, womit Arri nicht wirklich etwas anfangen konnte.

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»Die Menschen brauchen Führer. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen und wann, und was sie nicht tun sollen. Vielleicht wird irgendwann einmal eine Zeit kommen, in der das anders ist, aber heute und jetzt würde es unermesslichen Schaden anrichten, diese alte Ordnung zu zerstören. Das Ergebnis wären Krieg und Leid. Glaub mir. Ich habe es gesehen.« »Warum bekämpfen wir Nor und die anderen dann?«, wunderte sich Arri. »Wir bekämpfen ihn nicht«, erwiderte Lea ernst. »Er und die anderen fürchten mich, und deshalb versuchen sie, mich loszuwerden, aber nicht ohne zuvor mein Wissen an sich gebracht zu haben. Und früher oder später wird es ihnen auch gelingen. Aber ihn nicht zu bekämpfen bedeutet nicht, ihn zu unterstützen oder das, was er und die anderen tun, gutzuheißen. Vor langer Zeit waren unsere Vorfahren genau wie die Menschen hier. Wir haben diese Zeit überwunden und es geschafft, das Leben eine Spur erträglicher zu machen - und vielleicht ein wenig gerechter.« Ihre Stimme wurde leiser, und wieder trat dieser sonderbare Ausdruck von Trauer in ihren Blick. Als sie fortfuhr, schienen die Worte gar nicht so sehr Arri zu gelten, sondern klangen fast wie eine Entschuldigung, die sie für sich selbst benötigte. »Ich habe genau so gedacht wie du, als ich hierher gekommen bin, Arianrhod. Ich dachte, ich brauchte nur hierher zu kommen und den Menschen zu sagen, was sie falsch machen und wie es besser geht. Ich habe mich getäuscht. Du darfst nicht denselben Fehler begehen wie ich. Lass den Dingen ihre Zeit. Wir können den Menschen hier helfen, sich ein wenig schneller zu entwickeln, aber wir können sie nicht zwingen, unzählige Generationen in wenigen Sommern zu überspringen. Und nun…«, sie stand mit einem plötzlichen Ruck auf, und sowohl ihr Gesichtsausdruck als auch ihr Ton änderten sich schlagartig und radikal, »… sag mir, wie lange es noch dauert, bis die Sonne aufgeht.« Arri hatte Mühe, dem jähen Gedankensprung zu folgen. Völlig verwirrt sah sie zu ihrer Mutter hoch, und ihre Verwirrung wuchs noch, als Lea das Schwert wieder aus dem Boden zog und ihr die

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Waffe hinhielt, als könne sie die Antwort auf Leas Frage auf dem blanken Metall ablesen. Zögernd hob sie den Blick in den Himmel und suchte nach dem Mond, aber er war noch immer hinter dichten Wolken verborgen. »Nein«, sagte Lea. »Du sollst es nicht schätzen. Ich will es ganz genau wissen.« »Aber das ist unmöglich!«, begehrte Arri auf. »Und wenn ich dir sage, dass es das nicht ist?«, fragte Lea lächelnd. Sie hob das Schwert, deutete mit der freien Hand zuerst in den Sternenhimmel hinauf, dann wieder auf den verzierten Griff. »Sieh her. Ich zeige dir, wie man es macht.«

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19 Obwohl es bis Sonnenaufgang noch eine Weile hin war, war an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken; weder für Arri noch für ihre Mutter. Lea hatte ihr nicht gezeigt, wie man den Himmelsstein nutzte, um in Verbindung mit dem genauen Stand von Mond und Sternen den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, und ihr auch sonst keine weiteren Geheimnisse des Schwertes offenbart, und obwohl Arri zutiefst enttäuscht darüber gewesen war, war sie doch zugleich fast erleichtert, denn sie bezweifelte, dass sie auch nur noch ein einziges weiteres Wort der Erklärung verstanden hätte. Nun endlich wusste sie um den geheimen Schatz ihrer Mutter, der nicht aus Silber oder Gold bestand oder weiteren prachtvollen Oraichalkos-Perlen, sondern aus etwas viel Wertvollerem, dem Kostbarsten vielleicht überhaupt, was es auf der ganzen Welt gab: Wissen. Ohne dass eine von ihnen es hätte laut aussprechen müssen, waren sie übereingekommen, nicht bis Sonnenaufgang zu warten, sondern ihren Weg direkt fortzusetzen und so viel Strecke wie möglich gutzumachen. Die beiden Pferde zeigten sich nicht begeistert von der Störung ihrer wohlverdienten Ruhepause und gaben sich störrisch, sodass es Lea etliche Mühe kostete, ihnen die Geschirre wieder anzulegen und sie überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Schließlich aber rollten sie unter der mittlerweile wieder vollkommen geschlossenen Wolkendecke weiter auf den Durchlass zwischen den Bergen zu, und obwohl Arri ein durchaus mulmiges Gefühl dabei hatte, fanden die beiden Tiere auch in der tiefen Dunkelheit sicher ihren Weg. Sie sprachen kaum ein Wort miteinander, bis die Sonne aufging, aber es war eine vollkommen andere Art des Schweigens als die, die tagsüber zwischen ihnen geherrscht hatte; jeder saß in seine eigenen Gedanken versunken da, doch zugleich war da auch ein Gefühl von tiefem Vertrauen zwischen ihnen, das keiner Worte bedurfte und sie in ein Empfinden von Geborgenheit und Wärme hüllte, und nicht das schuldbewusst-verstockte Schweigen vom Tage. Einmal - kurz vor Sonnenaufgang - fuhr ihre Mutter neben ihr fast unmerklich zusammen. Als Arri den Kopf wandte und sie ansah, reagierte sie nur mit

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einem sanften Lächeln, und weder ihrer Haltung noch ihrem Gesichtsausdruck war irgendetwas Außergewöhnliches anzumerken; dennoch spürte Arri die Spannung, die plötzlich von ihr Besitz ergriffen hatte, und auch die kleinen, verstohlenen Blicke aus den Augenwinkeln, mit denen sie ihre Umgebung abtastete, entgingen ihr keineswegs. Sie hatte etwas gehört. Etwas, das nicht hierher gehörte. Auch in Arri machte sich Unruhe breit, doch nur für einen Augenblick; dann beruhigte sie sich selbst mit dem Gedanken, dass es wahrscheinlich nur ein Tier gewesen war, das das Geräusch der Pferdehufe oder das Knarren und Quietschen des Wagens in seiner Nachtruhe gestört hatte - vielleicht auch Dragosz, denn der Fremde hatte ihr ja gesagt, dass er in ihrer Nähe bleiben würde, um auf sie und ihre Mutter Acht zu geben. Spätestens jetzt, dachte sie, wäre der unwiderruflich letzte Moment, ihrer Mutter von ihrer Begegnung am vergangenen Abend zu erzählen, ohne sich der unangenehmen Frage stellen zu müssen, warum sie so lange damit gewartet hatte. Aber aus irgendeinem Grund… schaffte sie es wieder einmal nicht, ihrer Mutter etwas wirklich Wichtiges zu sagen. Sie schwieg beharrlich weiter und warf ihrer Mutter nur dann und wann einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu, bis Leas Anspannung wieder wich. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein Tier gewesen oder irgendein anderes, zufälliges Geräusch. Einen Moment lang amüsierte sich Arri bei der Vorstellung, was Dragosz wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er im Morgengrauen aufwachte und feststellte, dass die beiden Frauen, über die er seinen unsichtbaren, schützenden Arm gebreitet hatte, schon längst auf und davon waren. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich gerade in Gedanken selbst als Frau bezeichnet hatte. Zum allerersten Mal, und sie musste lächeln. Vielleicht war es tatsächlich so, wie ihre Mutter behauptete, und sie wurde allmählich erwachsen. Der Morgen graute, doch sie kamen nicht schneller voran, denn im gleichen Maße, in dem es heller wurde, wurde der Weg auch schwieriger, sodass ihr Tempo eher sank, statt zuzunehmen. Außerdem

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wurde es kälter, nicht wärmer. Gestern Morgen, als sie aufgebrochen waren, waren Arri die Berge so fern und unerreichbar erschienen, dass sie nicht einmal darüber nachgedacht hatte, jemals dorthin zu gelangen. Jetzt waren sie den Bergen nicht wirklich näher gekommen, aber das Gebiet, durch das sie sich bewegten, unterschied sich doch ganz und gar von den dichten Wäldern, in denen sie aufgewachsen war. Der Boden war steinig. Immer wieder tauchten gewaltige Findlinge aus dem Wurzelgeflecht auf, das die trockene Erde bedeckte, sodass der Wagen stecken zu bleiben oder sich gleich ganz fest zu fahren drohte, und einmal mussten sie absteigen und das schwerfällige Gefährt ein gutes Stück den Weg zurück und noch dazu bergauf schieben, um sich einen anderen Weg zu suchen. Auf diese Weise verging die Hälfte des Tages. Als die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn erreicht hatte, hielt Lea den Wagen an und bereitete wortlos aus ihren Vorräten eine Mahlzeit zu. Sie bestand weiterhin darauf, kein Feuer zu machen, auch wenn Arri diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr ganz einsah; während der Nacht war ein Feuerschein weithin sichtbar und verräterisch, aber tagsüber bestand diese Gefahr kaum, und so ziemlich das Erste, was Lea ihr beigebracht hatte, war, wie man ein Feuer dazu brachte, vollkommen ohne Rauch zu brennen. Trotzdem widersprach sie nicht, sondern sah ihrer Mutter nur wortlos zu, wie sie Wasser und Essen aus ihren Beuteln nahm und die notwendigen Vorbereitungen traf. Immerhin verzichtete sie diesmal wenigstens darauf, sie auf einen vollkommen überflüssigen Botengang zu schicken. Sie aßen so schweigend, wie sie den ganzen Tag miteinander auf dem Kutschbock gesessen hatten, dann setzten sie ihren Weg fort. Zweimal noch fragte Arri ihre Mutter, wohin sie eigentlich unterwegs waren, bekam aber jedes Mal nur eine ebenso wortkarge wie mürrische Antwort, sodass sie auf einen dritten Versuch gleich ganz verzichtete. Als es zu dämmern begann, steuerte Lea den Wagen in den Schatten einiger dürrer Bäume, deren schon nahezu blattlose Äste allerdings kaum wirklich Schutz vor Entdeckung boten. Der Boden war auch hier mit Felsbrocken und spitzen Steinen übersät, und da, wo er

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es nicht war, sumpfig und nass, und ein unangenehmer, fast fauliger Geruch ging davon aus, sodass Lea kurzerhand entschied, die Nacht auf der Ladefläche des Wagens zu verbringen. Arri knurrte mittlerweile der Magen, aber wenn sie daran dachte, was sie gestern und heute Mittag gegessen hatte, verspürte sie eigentlich keine große Lust auf eine weitere, so wenig schmackhafte Mahlzeit. Trotz der satten Zeiten, die das Dorf gerade erlebte, war sie es gewohnt, hin und wieder zu hungern, und ihre Mutter hatte ja selbst gesagt, dass sie nicht viel mehr als zwei Tage brauchen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Was machte da schon eine Nacht mit leerem Magen, wenn sie am nächsten Tag am Ziel waren und die festliche Mahlzeit auf sie wartete, die die Gastfreundschaft vorschrieb, wenn Freunde zu Besuch kamen? Sie schlief auch in dieser Nacht mit dem festen Vorsatz ein, ihrer Mutter gleich am nächsten Morgen von ihrer Begegnung mit Dragosz zu erzählen, doch als ihre Mutter sie weckte, war sie noch viel zu benommen und schlaftrunken, um auch nur einen Laut hervorzubringen. »Still!«, zischte Lea. »Da ist jemand.« »Ich weiß«, nuschelte Arri schlaftrunken. Natürlich war da jemand. Dragosz hatte ihr ja versichert, die ganze Zeit in ihrer Nähe zu bleiben, um auf sie Acht zu geben, und vermutlich war er nun in seinem Bestreben, sie und ihre Mutter nicht noch einmal aus den Augen zu verlieren, unvorsichtig geworden oder hatte die Schärfe von Leas Sinnen einfach unterschätzt. »Es ist…« »Still!«, unterbrach sie ihre Mutter erneut und in noch schärferem Ton. »Keinen Laut!« Mit den umständlichen Bewegungen eines Menschen, der viel zu schnell aus einem tiefen Schlaf gerissen worden ist, setzte sich Arri vollends auf. Umständlich, aber alles andere als vorsichtig, sodass der ganze Wagen zu schaukeln anfing und die hölzerne Konstruktion ein hörbares Knarren und Quietschen von sich gab - was ihr einen weiteren, ärgerlichen Blick ihrer Mutter einbrachte. Sie setzte noch einmal dazu an, ihrer Mutter zu erklären, wer es war, dessen Nähe sie bemerkt hatte, aber Leas Blick ließ sie sich anders besinnen. Mochte ihre Mutter doch ihr Schwert nehmen und losschleichen. Sie würde

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eine Überraschung erleben. Und dasselbe galt vermutlich nicht minder für Dragosz. Und was Arri anging: Sie gönnte es ihnen beiden. Mit einem stummen Achselzucken setzte sie sich endgültig auf, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und unterdrückte ein Gähnen, während sie müde in den Himmel hinauf und nach Osten blinzelte. Sie konnte die Berge als gezackte Schattenlinie vor einem dunstigen Streifen aus fast schwarzem Grau erkennen. Bis zum Sonnenaufgang war es noch eine geraume Weile hin, anscheinend, dachte sie resignierend, war es allmählich ihr Schicksal, in keiner Nacht mehr ausreichend Schlaf zu bekommen. »Bleib, wo du bist«, beschied ihre Mutter, während sie sich bereits erhob und nahezu lautlos von der Ladefläche des Wagens herunterglitt. Arri hatte nicht vorgehabt, irgendetwas anderes zu tun, und so hob sie nur abermals die Schultern und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Anders als ihre Mutter wusste sie sowohl, was sie gehört hatte, als auch, dass ihnen nicht die mindeste Gefahr drohte, sodass sie ganz ernsthaft erwog, sich auszustrecken und weiter zu schlafen. Wenn ihre Mutter Dragosz tatsächlich traf, dann war es ganz und gar nicht sicher, dass sie so schnell zurückkam. Aber sie war nun einmal wach, und obwohl sie so müde war, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan, spürte sie zugleich auch, dass sie jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Also beschloss sie, sich in Geduld zu fassen, und vertrieb sich die Zeit damit, sich alle möglichen lustigen oder auch peinlichen Situationen vorzustellen, in die ihre Mutter und Dragosz kommen mochten, wenn sie sich unversehens gegenübersahen. Ganz am Rande ihres Bewusstseins tauchte plötzlich ein anderer, hässlicher Gedanke auf: Was, wenn ihre Mutter oder Dragosz falsch reagierten und der eine den jeweils anderen in der Dunkelheit für einen Angreifer hielt? Was das anging, wusste sie wenig über Dragosz, dafür aber umso mehr, wozu ihre Mutter imstande war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihrer Mutter nicht zu sagen, auf wen sie treffen würde. Arri beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Lea eine kluge Frau war. Und auch Dragosz hatte nicht den Eindruck erweckt, dass er ein Dummkopf wäre.

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Sie musste länger warten, als sie gehofft, aber nicht annähernd so lange, wie sie befürchtet hatte, bis sie die Schritte ihrer Mutter hörte, und sie spürte schon, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, bevor sie sie sah. Das näher kommende Geräusch verriet ihr, dass ihre Mutter vielleicht noch nicht rannte, aber auch alles andere als langsam ging oder gar vorsichtig. Etwas stimmte nicht. Beunruhigt setzte Arri sich auf, doch sie kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen, bevor ihre Mutter auch schon aus der Dunkelheit herangestürmt kam. Etwas blinkte silberhell in ihrer Hand; sie hatte ihr Schwert gezogen. »Was ist passiert?«, fragte Arri erschrocken. »Schnell!«, befahl ihre Mutter, ohne ihre Frage zu beantworten. »Hilf mir, wir müssen weg!« Arris Beunruhigung explodierte zu purer Angst, als sie den gehetzten Ton in Leas Stimme hörte. Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein - und sie hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, was es war. Mit einem einzigen Satz sprang sie vom Wagen, aber ihre Mutter war bereits um das Gefährt herum und zu den Pferden gelaufen und begann damit, die Tiere mit fliegenden Fingern anzuschirren. »Was ist denn nur passiert?«, fragte Arri. Ihr Herz begann zu hämmern. Sie wusste, was passiert war, und es war ihre Schuld. Warum hatte sie nur nichts gesagt? »Nichts«, zischte Lea. »Später. Jetzt hilf mir, die Pferde anzuspannen. Ich möchte hier verschwunden sein, wenn es hell wird.« »Es… es tut mir Leid«, stammelte Arri. »Ich hätte es dir sagen müssen. Ich weiß, aber…« Arri brach mit einem erschrockenen Keuchen ab, als ihr Blick auf das Schwert fiel. Auf der Klinge schimmerten dunkle Flecken, die noch nicht auf dem Metall gewesen waren, als Lea fort gegangen war. Blut. Plötzlich hatte Arri das Gefühl, dass sich eine unsichtbare, eisige Hand nach ihrem Herzen ausstreckte und es langsam, aber mit unbarmherziger Kraft zusammendrückte. Das war Blut auf dem Schwert ihrer Mutter!

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»Worauf wartest du?«, fuhr Lea sie an. »Wir müssen weg!« Arri hörte gar nicht hin. Einen endlosen, schweren Atemzug lang starrte sie die dunklen Flecken auf der Schwertklinge noch aus aufgerissenen Augen an, dann fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte in die Richtung los, aus der ihre Mutter gerade gekommen war. Lea rief ihr nach, aber Arri reagierte nicht darauf, sondern beschleunigte ihre Schritte nur noch mehr. Etwas Entsetzliches war passiert, und es war ganz allein ihre Schuld! Warum hatte sie nur nichts gesagt? Wahrscheinlich war Dragosz verletzt, möglicherweise sogar tot, und das alles nur, weil sie zu feige gewesen war, um ihrer Mutter ihr lächerliches kleines Geheimnis zu beichten! Blindlings stürmte sie in die Dunkelheit hinein, stolperte über irgendein Hindernis, das sie nicht einmal sah, und fand durch mehr Glück als irgendetwas anderes und mit wild rudernden Armen ihr Gleichgewicht wieder. Lea schrie erneut und mit schriller Stimme ihren Namen, aber Arri rannte nur noch schneller. Es war ihre Schuld! Dragosz war tot, nur weil sie feige gewesen war! »Arri!«, schrie Lea hinter ihr. »Komm zurück!« Arri stürmte weiter, prallte in der Dunkelheit gegen ein weiteres Hindernis und fiel auf die Knie, rappelte sich wieder auf und stolperte weiter, blindlings und fast ohne zu wissen, wohin. Vielleicht wäre sie noch weiter und weiter in die Nacht hineingestolpert, hätte ihre Mutter sie nicht am Ende eingeholt und grob zurückgerissen. »Verdammt, was soll das?«, fuhr sie sie an. »Hast du den Verstand verloren?« Arri riss sich mit einer so heftigen Bewegung los, dass ihre Mutter fast erschrocken zurückprallte und sie verstört ansah. »Aber was ist denn…?«, begann sie. »Was ist passiert?«, unterbrach sie Arri beinahe schreiend. »Woher kommt das Blut auf deinem Schwert? Was hast du getan?« Der Ausdruck von Verwirrung auf dem Gesicht ihrer Mutter nahm eher noch zu. »Aber…« »Antworte!«, schrie Arri. »Du hast ihn umgebracht!« »Umgebracht?« Lea schüttelte verwirrt den Kopf. »Wen?« »Lüg nicht!«, schrie Arri ihre Mutter an. »Du hast ihn umgebracht!

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Ich weiß es!« Und es ist ganz allein meine Schuld! Einen Moment lang kämpfte ihre Mutter sichtlich um ihre Beherrschung. Ihre Hand umklammerte immer noch das Schwert, aber sie tat es nun so fest, als müsse sie sich mit aller Macht zusammenreißen, nun nicht nach ihr zu schlagen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie schließlich. »Ich habe niemanden getötet.« »Und woher kommt dann das Blut an deinem Schwert?«, fragte Arri aufgebracht. Wieder starrte ihre Mutter sie nur mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und immer mühsamer zurückgehaltenem Jähzorn an, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und befahl Arri gleichzeitig mit einer herrischen Geste, ihr zu folgen. »Komm mit!« Sie verschwand mit so raschen Schritten in der Dunkelheit, dass Arri alle Mühe hatte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie war vollkommen aufgewühlt. Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken. Ihre Mutter hatte Dragosz erschlagen, den vielleicht einzigen Menschen auf der Welt, der noch ihr Freund gewesen war, oder zumindest nicht ihr Feind, und das nur, weil sie zu feige gewesen war, einen winzigen Fehler zuzugeben, oder - schlimmer noch Spaß an ihrer albernen Heimlichtuerei gehabt hatte! Wenn Dragosz tot war, wenn ihre Mutter ihn tatsächlich erschlagen hatte, weil sie ihn in der Nacht für jemanden gehalten hatte, der sich an ihr Lager anschlich, dann war es ganz genau so, als hätte Arris eigene Hand das Schwert geführt. Sie bewegten sich ein gutes Stück weit in die Dunkelheit hinein, und so sehr sich Arri auch anstrengte, gelang es ihr doch nicht, wirklich zu ihrer Mutter aufzuschließen. Erst, als Lea schließlich langsamer wurde und dann ganz stehen blieb, holte sie sie ein. Ihr Blick irrte fahrig über den mit dürrem Gras und Steinen übersäten Boden, und ihr Herz begann schon allein bei der Vorstellung wie wild zu hämmern, Dragosz’ reglos ausgestreckten Körper zu erblicken. Aber da war nichts. Nur Gras und Steine und knorrige Wurzeln, die wie verkrüppelte Finger aus dem Boden herausgriffen. »Nun?«, fragte Lea. »Bist du zufrieden - oder hast du irgendetwas anderes erwartet? Etwas ganz Bestimmtes?«

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Arri hätte den lauernden Unterton in der Stimme ihrer Mutter nicht einmal hören müssen, um zu begreifen, dass hier nicht nur etwas völlig anders war, als sie erwartet hatte, sondern Lea auch spätestens jetzt wissen musste, dass es da etwas gab, was ihre Tochter ihr offensichtlich vorenthalten hatte. Verstört drehte sie sich einmal im Kreis und versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, aber sie gewahrte auch jetzt nichts anderes als knorrige Schatten und fast baumlose Umrisse, die zweifellos natürlichen Ursprungs waren. Dann aber spürte sie doch etwas. Ein ganz leiser, aber bezeichnender Geruch lag in der Luft, so schwach, dass sie ihn nur spürte, weil er nicht hierher gehörte und etwas ungemein Alarmierendes mit sich brachte. »Blut«, flüsterte sie. Lea nickte. Ohne, dass Arri sie ansehen musste, spürte sie, dass sich ihr Gesichtsausdruck noch weiter verfinsterte. Sie sagte nichts, winkte Arri aber mit einer knappen Geste vollends zu sich heran und ließ sich in die Hocke sinken. Als Arris Blick ihrer Bewegung folgte, sah sie einen dunklen, noch feucht glänzenden Fleck im Gras. Lea wiederholte ihre auffordernde Geste, und Arris streckte gehorsam die Hand danach aus, wagte es aber schließlich doch nicht, ihn zu berühren. Der Geruch wurde noch stärker. Es war Blut. Eine Menge Blut, das hier geflossen war. »Ich weiß nicht, was hier passiert ist«, sagte Lea leise. Arri hielt den Blick weiter auf den in der Nacht schwarz aussehenden Blutfleck im Gras gerichtet, aber sie konnte fast körperlich spüren, wie misstrauisch ihre Mutter sie anstarrte. »Ich habe Geräusche gehört. Einen Kampf. Aber als ich hergekommen bin, war niemand da.« Ihre freie Hand machte eine flatternde Bewegung. Arris Blick folgte ihr, und sie entdeckte weitere und noch größere Blutflecken, eine Spur, die von einer Fährte aus zertrampeltem Gras und geknickten Wurzeln flankiert wurde und in der Dunkelheit verschwand. »Anscheinend hat es einen Kampf gegeben«, fuhr Lea fort. Was eine Erklärung war, klang wie eine Frage, und ihre misstrauischen Blicke schienen nun wie Feuer auf Arris Haut zu brennen. »Wer immer es war, muss schwer verletzt worden sein. Vielleicht wurde er weggetragen. Ich

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weiß nicht, von wem oder warum. Weißt du es vielleicht?« »Nein«, antwortete Arri. Sie war fast entsetzt über ihre eigene Antwort. Warum tat sie das? Warum gestand sie nicht spätestens jetzt, was gestern geschehen war? Ihre Mutter würde nicht erfreut sein, aber ihr - berechtigter - Zorn würde so nur noch weiter zunehmen, mit jedem Moment, den Arri verstreichen ließ, ohne ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Und dennoch hörte sie plötzlich ihre eigene Stimme wie die einer Fremden antworten: »Ich… ich dachte… es… es wäre…« »Ja?«, fragte Lea lauernd. Arri fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und folgte der Spur aus Blut und aufgewühlter Erde ein paar Schritte weit, bevor sie wieder stehen blieb. Nicht, um ihr wirklich nachzugehen, sondern um auf diese Weise einen Vorwand zu haben, ihre Mutter nicht anzusehen. »Ich muss wohl geträumt haben«, murmelte sie. »Es… es tut mir Leid.« »Und mir tut es Leid, dass du mich anscheinend für so dumm hältst«, antwortete ihre Mutter kopfschüttelnd. »Du bist keine gute Lügnerin, Arianrhod. Wen hast du hier erwartet?« Dragosz, dachte Arri. Warum sprach sie den Namen nicht aus? Welcher Teil von ihr war das, der sogar stärker war als ihr eigener Wille und es ihr unmöglich machte, dieses eine Wort auszusprechen? Sie schwieg beharrlich weiter, auch als sie hörte, wie ihre Mutter mit zwei, drei schnellen Schritten auf sie zukam. Als Lea sie hart an der Schulter packte und herumriss, konnte sie sich gerade noch beherrschen, ihre Hände nicht beiseite zu schlagen. »Das ist jetzt kein Spiel mehr, Arianrhod!«, fuhr ihre Mutter sie an. »Jemand war hier. Jemand folgt uns, und du weißt, wer es ist!« Und sie wusste auch, was er getan hatte. Dragosz hatte Wort gehalten. Jemand hatte sich an sie angeschlichen, und Dragosz hatte seinen Teil des Paktes eingelöst, den sie beide geschlossen hatten, und über sie gewacht. Sie konnte ihn nicht verraten. »Ich… ich dachte, es wäre…«, begann sie und brach wieder ab. Ihre Mutter schüttelte sie so kräftig, dass ihr Kopf hin und her flog. »Wer?«, herrschte sie sie an. »Arri - zwing mich nicht, etwas zu tun,

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das ich nicht tun will!« Aber sie konnte doch auch sie nicht zwingen, etwas zu tun, was sie nicht tun durfte. Hatte ihre Mutter ihr nicht immer und immer wieder gesagt, dass nichts heiliger war als ein gegebenes Wort? »Rahn«, stieß sie schließlich atemlos hervor. »Ich dachte, es wäre Rahn.« Lea ließ ihre Schultern los, wich einen halben Schritt zurück und starrte sie verblüfft an. »Rahn?«, wiederholte sie ungläubig. »Aber wieso Rahn?« »Weil…« Auch Arri machte vorsichtshalber einen Schritt zurück und legte die Hand auf die Schulter. Ihre Mutter hatte so fest zugepackt, dass es immer noch wehtat. »Ich dachte, er wäre mir gefolgt«, fuhr sie fort. »Du… du hast doch selbst gesagt, dass er hinter deinem Schatz her ist, und… und als ich aus dem Dorf weggelaufen bin, da…« Sie brach ab und begann, mit den Händen zu ringen. »Da hast du geglaubt, er wäre dir heimlich nachgelaufen, um auf diese Weise meine Spur aufzunehmen«, führte Lea den Satz zu Ende. Arri nickte. Ein Teil von ihr schrie entsetzt auf. War sie verrückt geworden? Diese Geschichte mochte für den Augenblick glaubhaft klingen - aber eigentlich nicht einmal das -, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Mutter die Wahrheit herausfände, spätestens, wenn sie das nächste Mal mit Dragosz sprach, und dann würde alles nur noch viel schlimmer werden. Und doch konnte sie nicht anders. Da war etwas zwischen dem schwarzhaarigen Fremden und ihr geschehen, was sie nicht verstand und was sie erschreckte, aber es war auch etwas, das große Macht über sie hatte und stärker war als ihr Wille, stärker als jede Vernunft. »Ja. Gestern dachte ich ein paar Mal, ich… ich hätte etwas gehört. Aber ich… ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen.« »Warum?« Das Misstrauen verblieb noch in den Augen ihrer Mutter, ja, es schien sogar fast noch zuzunehmen, dann aber machte es einem plötzlichen Ausdruck tiefer Trauer Platz. Sie schüttelte den Kopf und beantwortete mit leiserer Stimme ihre eigene Frage: »Weil du Angst hattest, dass ich dir Vorwürfe mache, nicht wahr?« Arri hob nur die Schultern und raffte all ihre Kraft zusammen, um

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dem Blick ihrer Mutter standhalten zu können. »Ich muss wohl eine noch schlechtere Lehrerin sein, als ich dachte«, sagte Lea traurig. »Warum hast du so wenig Vertrauen zu mir?« »Das stimmt nicht«, antwortete Arri. »Es… es war doch alles meine Schuld. Ich hätte Rahn nicht so wütend machen dürfen. Wenn ich einfach weggelaufen wäre, dann wäre gar nichts passiert. Aber jetzt… Du hast gesagt, dass niemand von dem Ort wissen darf, zu dem wir unterwegs sind. Weil es doch deine Freunde sind und du sie nicht in Gefahr bringen willst. Und wenn Rahn von ihnen wüsste…« Lea seufzte tief, schlug ihren Umhang zurück und wischte sorgsam die Blutflecken von der Klinge ihres Schwertes, bevor sie die Waffe wieder in die mit einer Bronzeeinfassung verstärkte Lederschlaufe an ihrem Gürtel schob. Ihr Blick tastete aufmerksam und sehr lange in die Runde, und Arris vorsichtige Erleichterung bekam zumindest einen Dämpfer, denn in den Augen ihrer Mutter flackerten noch einmal Misstrauen und Zweifel auf, während sie die Blutflecken und unübersehbaren Kampfspuren im Gras musterte. Dann aber schüttelte sie betrübt den Kopf. »Du musst dir keine Vorwürfe machen, Arianrhod. Wenn es jemanden gibt, der Schuld an all dem hier ist, dann bin ich es.« »Aber warum?«, fragte Arri. »Du hast doch nur…« »Weil es mir offensichtlich nicht gelungen ist, dein Vertrauen zu erringen«, unterbrach sie ihre Mutter. »Es tut mir Leid. Vielleicht war ich in meinem Bestreben, dich Vorsicht und Misstrauen zu lehren, ein bisschen zu erfolgreich.« Sie lächelte bitter. »Aber man kann nicht alles haben, nicht wahr?« »Das ist nicht wahr!«, begehrte Arri auf. »Ich vertraue dir, aber…« »Aber nicht so weit, dass du zu mir kommst, um einen Fehler zuzugeben, der uns allen zum Verhängnis hätte werden können«, unterbrach Lea sie, und es waren diese Worte, die irgendetwas zwischen ihnen endgültig zu zerstören schienen. Die zur Versöhnung ausgestreckte Hand, die Lea ihr dargeboten hatte, war plötzlich nicht mehr da. Auch wenn der Vorwurf, den Arri in ihren Worten hörte, sicherlich nicht beabsichtigt war, er war da, und er machte es ihr nun vollends

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unmöglich, vielleicht doch noch die Wahrheit zu sagen. Nachdem Lea eine Weile vergebens auf eine Antwort gewartet hatte, wiederholte sie dieses flüchtige, bittere Lächeln, dann drehte sie sich mit einer abrupten Bewegung um und deutete in die Richtung, in der der Wagen stand. »Komm«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was hier geschehen ist, aber wir sollten trotzdem so schnell wie möglich verschwinden - und aufpassen, dass uns keiner der Raufbolde folgt, die hier aufeinander eingedroschen haben. Vielleicht ist es sogar ganz gut so. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir unser Ziel vielleicht noch bei Tageslicht.« Sie erreichten ihr Ziel nicht mehr vor Sonnenuntergang, was wohl daran lag, dass Lea für eine Weile den Wagen mit aller Vorsicht durch einen Bach lenkte, um so gut es ging ihre Spur zu verwischen, und später noch einmal aus dem gleichen Grund einen Umweg über ein holpriges Gesteinsfeld wählte, was den Wagen in allen Fugen ächzen und krachen ließ, sodass Arri schon Angst hatte, er würde auseinander fallen. Den übrigen Tag waren sie ununterbrochen nach Osten gefahren, und Lea hatte den Wagen nur ein einziges Mal für längere Zeit angehalten, damit die Pferde ihren Durst an dem kleinen Tümpel löschen konnten, an dem sie vorüberkamen. Auch Arri hatte absteigen und trinken wollen, doch ihre Mutter hatte sie mit einer raschen Handbewegung und einem kaum angedeuteten, aber warnenden Kopfschütteln zurückgehalten und stattdessen wortlos auf den ledernen Wasserschlauch gedeutet, der hinter ihnen auf der Ladefläche lag. Arri hatte sich zwar darüber gewundert - wenn das Wasser für die Pferde gut war, wieso dann nicht für sie? -, sich aber dennoch wortlos gefügt, so, wie sie auch fast den gesamten Tag über schweigend neben ihrer Mutter gesessen hatte. Die gesamte holprige Fahrt war in gedrückter Stimmung verlaufen, der jedoch sonderbarerweise nichts wirklich Feindseliges angehaftet hatte. Vielmehr hatte sie gespürt, dass ihre Mutter überhaupt nicht zornig auf sie war, wohl aber von großer Sorge erfüllt, und da sie - viel besser als ihre Mutter selbst - den Grund für diese Sorge kannte, war auch sie selbst immer schweigsamer und verschlossener geworden. Darüber hinaus gab es noch einen weiteren, handfesten Grund für

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Leas Anspannung: Ganz gleich, ob sie Arris Lügengeschichte nun geglaubt hatte oder nicht; das Blut und die Kampfspuren, die sie gefunden hatten, bewiesen ganz eindeutig, dass sie nicht so allein in diesem Teil der Welt waren, wie Lea es bisher angenommen zu haben schien; oder sie zumindest glauben machen wollte. Abgesehen von der einen Rast, die sie den Pferden gönnte, rollte der Wagen den ganzen Tag über ununterbrochen dahin, wenn auch manchmal so langsam, dass selbst ein Kind zu Fuß schneller gewesen wäre, denn das Gelände wurde im gleichen Maße schwieriger, in dem sie sich den Bergen näherten. Sie waren noch immer nicht sichtbar näher gekommen, doch ihre Umgebung hatte nun rein gar nichts mehr mit der Landschaft gemein, in der Arri aufgewachsen war. Es gab keinen Weg oder Pfad, und was Arri schon am Tag zuvor vermutet hatte, wurde nun zur Gewissheit, nämlich dass ihre Mutter diesen Weg noch nicht sehr oft genommen hatte; wahrscheinlich das letzte Mal vor ein paar Sommern, als sie über Gebühr verspätet von einem Besuch in Goseg zurückgekehrt war, weil sie angeblich auf dem Rückweg noch tagelang in einem Nachbardorf aufgehalten worden war. Arri hatte diesen Vorfall schon fast vollständig vergessen, doch jetzt fiel er ihr nicht nur wieder ein, sondern bekam auch eine ganz andere Bedeutung. Offensichtlich hatte ihre Mutter ihr all die Jahre mehr Dinge vorenthalten, als sie auch nur im Entferntesten geahnt hatte. Sie verzichtete darauf, Lea darauf anzusprechen - schließlich hatte sie selbst ihrer Mutter auch die eine oder andere Kleinigkeit verschwiegen - und konzentrierte sich stattdessen lieber darauf, sich bei der gleichermaßen holprigen wie rasanten Fahrt so abzustützen, dass sie nicht aus dem Wagen fiel. Mehr als einmal mussten sie umkehren und einen großen Umweg in Kauf nehmen, wenn sich die Strecke als zu schwierig für den Wagen erwies, und auch wenn Lea ihr Bestes tat, sich ihre wirklichen Gefühle nicht anmerken zu lassen, so spürte Arri doch, dass sie in zunehmendem Maße unruhiger wurde. Als die Sonne zu sinken begann, trieb sie die Pferde immer unbarmherziger und rücksichtsloser an, was Arri, die ja wusste, dass ihre Mutter ein ganz besonderes Verhältnis zu diesen Tieren hatte, mehr als alles

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andere davon überzeugte, dass sie in Gefahr waren; oder dass Lea es zumindest annehmen musste. Mit dem letzten Licht der untergehenden Sonne lenkte Lea das Gespann einen zwar sanften, aber sehr lang ansteigenden und mit einem Gewirr aus Felstrümmern und Findlingen übersäten Hang hinauf, dessen oberes Ende sie gerade in dem Augenblick erreichten, in dem die Sonne endgültig unterging. Rings um sie herum herrschte noch ein Rest von grauem Zwielicht, das einen die Umrisse der Dinge mehr erahnen als wirklich erkennen ließ und in dem es beinahe schwerer war, sich zu orientieren, als bei tatsächlicher Dunkelheit, aber vor ihnen fiel der Hang ebenso steil wieder ab, wie er auf der anderen Seite angestiegen war, und in dem tief eingeschnittenen Tal, das sich unter ihnen erstreckte, herrschte bereits tiefste Nacht. Dennoch gab es Licht dort unten. Nicht einmal allzu weit entfernt gewahrte Arri eine Anzahl winziger flackernder roter Punkte, wie Leuchtkäfer, die auf der Stelle tanzten, und der charakteristische Geruch von brennendem Holz schlug ihr entgegen. Da waren auch Geräusche, aber sie waren zu schwach, um sie eindeutig zuzuordnen. »Ist es das?«, fragte sie. »Ja«, antwortete Lea. »Nur noch ein kleines Stück, und wir haben es geschafft.« Falls diese Worte aufmunternd oder beruhigend gemeint waren, so verfehlten sie ihre Wirkung vollständig. Lea klang unsicher und fahrig, und was ein Seufzer der Erleichterung hatte werden sollen, geriet eher zu einem Stoßgebet, als rechne sie fest damit, dass ihnen das Schicksal oder irgendeine andere boshafte Macht zuletzt doch noch einen Streich spielen würde. Arri hütete sich, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, und sie hatte sich sogar gut genug in der Gewalt, um sich nicht auf dem Kutschbock umzudrehen und einen besorgten Blick in die Richtung zurückzuwerfen, aus der sie gekommen waren. Doch im nächsten Augenblick tat ihre Mutter ganz genau das, was sie sich gerade verboten hatte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war vielleicht noch nicht ganz der von Angst, aber er war nicht mehr sehr weit davon entfernt. Als sie weiterfuhren und Kurs auf den Schwarm roter Glühwürm-

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chen unter ihnen nahmen, trieb sie die Pferde zu einer Geschwindigkeit an, die vielleicht nicht einmal besonders hoch war, angesichts der fast völligen Dunkelheit und des Gewirrs aus Felsen, Schutt und gefährlichen Wurzeln und Löchern im Boden aber geradezu mörderisch. Der Wagen schaukelte so heftig hin und her, dass Arri sich mit aller Kraft an der schmalen Sitzbank festklammern musste und es ihr fast wie ein kleines Wunder vorkam, dass sie nicht den größten Teil ihrer Ladung verloren. Der Weg hinunter dauerte auf diese Weise nur wenige Augenblicke, doch als sie endlich wieder über halbwegs ebenen Boden rollten und aus ihrem Schwarm tanzender roter Geister vor ihnen eine gerade Reihe regelmäßiger rechteckiger Flecke geworden war, die kaum noch einen Steinwurf entfernt sein konnten, atmete sie so erleichtert auf, als wäre sie den halben Tag von Wölfen durch den Wald gehetzt worden und hätte endlich die Sicherheit menschlicher Behausungen erreicht. Auch Lea gestattete es sich, sich vorsichtig zu entspannen, trieb die Pferde aber nur zu noch größerer Schnelligkeit an, sodass der Wagen zwar über ebenen Boden dahinrollte, aber beinahe noch mehr schaukelte und ächzte als bisher. Ein Hund kam ihnen aus der Dunkelheit entgegen und rannte eine Weile kläffend neben dem Wagen her, und Arri wurde so heftig hin und her geworfen, dass sie ernsthaft befürchtete, vom Wagen zu fallen. Hätte die Fahrt auch nur noch einige Augenblicke länger angedauert, sie hätte ihrer Mutter möglicherweise gesagt, dass es keinen Grund für diese Hast gab und ihr alles gebeichtet. Dann jedoch war es so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Die Lichter vor ihnen wuchsen immer rascher an und wurden zu einer Reihe erstaunlich großer und auch erstaunlich zahlreicher Fenster, wie Arri sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte und allenfalls aus den Erzählungen kannte, mit denen Lea Gebäude ihrer alten Heimat beschrieben hatte. Hinter ihnen glomm nicht nur roter Feuerschein, sondern es drang auch ein Durcheinander von Geräuschen und Gerüchen zu ihnen heraus. Es war so dunkel, dass Arri das dazugehörige Haus nicht einmal erkennen konnte, als sie unmittelbar davor anhielten, doch es musste sich um ein wirklich riesiges Gebäu-

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de handeln, denn obwohl der schwarze Umriss vor ihnen übergangslos mit der Dunkelheit des wolkenverhangenen Himmels verschmolz, konnte sie seine Größe schlichtweg spüren. In diesem Haus mussten nahezu so viele Menschen Platz haben wie in ihrem gesamten Dorf. Lea ließ den Wagen, zumindest auf dem letzten Stück, zwar ein wenig langsamer rollen, lenkte ihn aber so dicht an das Haus heran, wie es überhaupt nur ging, und sprang vom Kutschbock, noch bevor sie vollkommen angehalten hatten. Der Hund, der ihnen entgegengekommen war, war plötzlich wieder da und sprang kläffend auf sie los, doch noch bevor Arri auch nur wirklich Gelegenheit fand zu erschrecken, ließ sich ihre Mutter in die Hocke sinken und streckte den Arm aus, und aus dem wütenden Gekläff des Hundes wurde ein freudiges Winseln. Schwanzwedelnd legte er sich vor ihrer Mutter auf den Rücken und ließ sich von ihr Bauch und Hals streicheln. Offensichtlich kannte er sie, dachte Arri; oder es war der schlechteste Wachhund, von dem sie je gehört hatte. Wahrscheinlich angelockt vom Bellen des Hundes, öffnete sich eine niedrige Tür in dem Haus nur ein kleines Stück entfernt, und in dem flackernden, rotgelben Lichtschein, der herausdrang, konnte Arri eine gedrungene Gestalt erkennen. Ihre Mutter stand auf, hob grüßend die Hand und ging dem Mann entgegen, und auch Arri machte Anstalten, vom Wagen zu steigen, doch Lea hielt sie mit einer raschen Geste zurück. Arri gehorchte zwar, dachte sich aber ihren Teil - vielleicht war es mit der großen Freundschaft, die ihre Mutter angeblich mit den Bewohnern dieses Hauses verband, doch nicht so weit her; zumindest mit denen, die weniger als vier Beine hatten. Der Mann, der unter der Tür erschienen war - Arri konnte ihn gegen das rote Licht nur als gesichtslosen Schatten erkennen, aber sie sah immerhin, dass er sehr groß und von sehr massiger Statur war -, rief ihrer Mutter ein Wort in einer Sprache zu, die Arri nicht verstand, und Lea antwortete mit einem raschen Winken und einer Bemerkung in derselben Sprache, die Arri ebenso wenig verstand, die aber eindeutig scherzhaft klang. Der Fremde legte den Kopf schräg, und seine Haltung spannte sich ein wenig, dann aber schien

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er Lea zu erkennen. Er drehte den Kopf und rief irgendjemandem innerhalb des Hauses etwas zu, bevor er ihrer Mutter entgegenging. Arri konnte die Worte nicht verstehen, die sie miteinander wechselten. Und dennoch meinte sie aus dem Tonfall und den kurzen, abgehackten Sätzen herauszuhören, dass es sich kaum um die Wiedersehensfreude unter alten Freunden handelte, sondern eher um ein kühles Gespräch, bei dem sich ihre Mutter eher aufs Bitten als aufs Fordern verlegte, was ungewöhnlich genug war. Arri versuchte eine Weile, zumindest den Sinn des Gespräches zu erraten, gab es aber schließlich auf und riss ihren Blick von der Gestalt ihrer Mutter und des Fremden los, um das Haus näher in Augenschein zu nehmen. Auch jetzt, als sie ihm so nahe war, dass sie es fast hätte berühren können, war es wenig mehr als ein riesiger Schatten, der einen gut Teil des Himmels zu verdunkeln schien - oder verdunkelt hätte, hätte sie den Himmel sehen können. Den ganzen Tag über war es bewölkt und kalt gewesen, und daran hatte sich nach Sonnenuntergang nichts geändert. Die Dunkelheit ringsum wäre vollkommen gewesen, hätte es nicht die hell erleuchteten Fenster gegeben, und Arri fragte sich, ob sie den Grund für die so gefährliche Hast, in der sie diese letzte Wegstrecke zurückgelegt hatten, nicht falsch eingeschätzt hatte. Wenn es etwas gab, worauf sich ihre Mutter wirklich verstand, dann war es das Wetter. Möglicherweise hatte sie gewusst, wie bedeckt der Nachthimmel sein würde, und deshalb alles getan, damit sie ihr Ziel noch vor Einbruch einer Dunkelheit erreichten, die tatsächlich vollkommen war; auf jeden Fall zu stark, als dass sie nach Sonnenuntergang noch nennenswert hätten weiter fahren können. Auch im roten Streulicht, das aus den Fenstern und der offen stehenden Tür drang, konnte sie wenig von dem riesigen Haus erkennen. Immerhin sah sie, dass es sich nicht nur in seiner Größe und durch die ungewöhnlichen Fenster vollständig von den Hütten ihres Heimatdorfes unterschied. Seine Wände bestanden bis auf Hüfthöhe aus zwar groben, aber kunstvoll zusammengefügten Steinen und Felsbrocken, die mit Lehm oder nasser Erde verschmiert worden waren, um Kälte und Feuchtigkeit draußen und die Wärme des Feu-

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ers drinnen zu halten. Darüber war das Haus aus Holz und einem Gemisch aus Baumrinde und Blättern erbaut, dessen Ritzen aber ebenfalls sorgsam verschmiert und abgedichtet worden waren, und zu beiden Seiten der Fenster hingen dicke Bretter von jeweils der exakten Größe eines halben Fensters, die man wohl vor die Öffnung klappen konnte. Arri hatte so etwas noch nie gesehen, erinnerte sich dann aber vage daran, dass ihre Mutter ihr einmal von Fensterläden erzählt hatte, die in ihrer alten Heimat üblich gewesen waren, um Feuchtigkeit und Kälte aus den Häusern auszusperren. Hier zumindest schien niemand die Notwendigkeit dazu zu sehen. Obwohl es bitterkalt war, waren die Läden ausnahmslos an den Seiten eingehakt. Nicht nur der Geruch nach brennendem Holz und Torf und ein Durcheinander von Stimmen und anderen Lauten drangen zu Arri heraus, sondern auch ein Schwall trockener Wärme, der sie die beißende Kälte, die der Dämmerung auf dem Fuße gefolgt war, doppelt schmerzhaft spüren ließ. Sie sah wieder zu ihrer Mutter hin. Lea unterhielt sich weiter und heftig gestikulierend mit dem Fremden. Arri hoffte, dass die beiden sich möglichst rasch einig würden, bevor sie hier oben auf dem Kutschbock erfror. Unruhig rutschte sie auf dem harten Holz der Bank hin und her, das sich mittlerweile so kalt wie Eis anfühlte. Der Hund, der ihrer Mutter nicht gefolgt war, sondern noch immer auf der anderen Seite des Wagens stand, stellte sich auf die Hinterläufe, wodurch er spielend seine gewaltigen Vordertatzen auf die Sitzbank neben ihr legen konnte, und beäugte sie misstrauisch. Eingedenk dessen, was Arri gerade beobachtet hatte, wollte sie ganz instinktiv die Hand ausstrecken, um ihn zu streicheln - sie mochte Hunde über alles und hatte nie verstanden, warum ihre Mutter nicht wollte, dass auch sie zumindest einen Hund hatten -, prallte aber dann im allerletzten Moment erschrocken zurück, als sie genauer hinsah und feststellte, dass der Hund kein Hund war. Es war ein Wolf. Er war nicht so groß wie der, der sie im Wald angefallen hatte, und so gut genährt und gepflegt, dass er auf den ersten Blick tatsächlich als Hund durchgehen konnte, aber auch wirklich nur auf einen sehr flüchtigen ersten Blick.

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Der Wolf legte die Ohren an, fletschte die Zähne und stieß ein leises, drohendes Knurren aus, als er ihre Angst spürte, und der Mann bei der Tür unterbrach sein Gespräch mit Lea und rief einen einzelnen, scharfen Befehl, auf den hin sich das Tier sofort zurückzog und gehorsam an seine Seite trottete. Arri blickte ihm aus ungläubig aufgerissenen Augen nach. Was waren das für Leute, die sich Wölfe als Haustiere hielten?

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20 Es verging noch eine geraume Weile, bis sich ihre Mutter endlich umdrehte und zu ihr zurückkam. »Du kannst herunterkommen. Es ist alles in Ordnung. Wir können heute Nacht hier bleiben.« »Und das hat so lange gedauert?«, erwiderte Arri. »Ich dachte, diese Leute wären deine Freunde.« »Das sind sie auch«, sagte Lea unwirsch. »Aber das heißt nicht, dass man unangemeldet und zu jeder Zeit einfach zu ihnen kommen kann.« Das verwirrte Arri nun völlig. Das Gesetz der Gastfreundschaft war heilig. Nicht einmal Sarn, da war sie sicher, würde einen Fremden abweisen, der zu ihm kam und um eine Mahlzeit und Obdach für eine Nacht bat. Aber sie schluckte die entsprechende Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, herunter, und als sie umständlich und steif gesessen von dem ganzen Tag auf dem Kutschbock vom Wagen kletterte, fuhr ihre Mutter von selbst und in hörbar besorgtem Ton fort: »Wir sind nicht die ersten Gäste, die heute gekommen sind. Diese Menschen sind vorsichtig.« Arri sah ihre Mutter fragend an, aber diesmal bekam sie keine Antwort. Stattdessen bedeutete ihr Lea mit einer knappen Geste, ihr zur Hand zu gehen, während sie die Pferde abschirrte. Nachdem sie damit fertig waren, nahm sie die Zügel der Tiere und führte sie nach links in die Dunkelheit hinein, fort von der offen stehenden Tür, in der der Mann, mit dem sie geredet hatte, noch immer stand und sie beobachtete. Arri folgte ihrer Mutter, schon, weil ihr diese schattenhafte Gestalt unheimlich war - und vor allem wegen des Wolfes! -, und all ihre Zweifel zerstreuten sich, als ihr schon nach wenigen Schritten klar wurde, dass Lea sich hier tatsächlich auskannte. In der fast völligen Dunkelheit führte sie die Pferde um das Haus herum und zu einer niedrigen, aber sehr breiten Tür auf seiner Rückseite, die mit einem schweren Balken verschlossen war. Sie gebot Arri mit einer Kopfbewegung, ihr zu öffnen, und nachdem es dieser mit einiger Mühe gelungen war, hakte sie den Fuß um einen der Türflügel und zog ihn auf. Dahinter lag ein dunkler Raum unbekannter

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Größe, aus dem ihnen ein intensiver, aber nicht unbedingt unangenehmer Tiergeruch entgegenschlug; nicht nur der vertraute Geruch nach Kühen und Ziegen, sondern auch ein anderer, an den sich Arri in den zurückliegenden Tagen so sehr gewöhnt hatte, dass er ihr nicht mehr fremd erschien, obwohl er es im Grunde war: der Geruch nach Pferden. Der dunkle Raum, in den Lea die beiden Tiere am Zügel hineinführte, diente offensichtlich als Pferdestall. Das war so ungewöhnlich wie das Haus selbst. Offensichtlich war ihre Mutter doch nicht die Einzige, die wusste, dass Pferde nicht nur herrlich anzusehende Geschöpfe waren, sondern auch von großem Nutzen. Sie fragte sich, wer dieses Geheimnis eigentlich von wem erfahren hatte, aber ihre Neugier ging nicht so weit, ihrer Mutter ins Innere des Stalls zu folgen. Leute, die Wölfe und Pferde hielten, mochten auch noch für ganz andere, viel unangenehmere Überraschungen gut sein. Sie musste auch nicht lange warten. Lea kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück, schloss wortlos die Tür und legte ebenso wortlos den Balken wieder vor. Arri sah mit einem kurzen, aber heftigen Anflug von absurdem Neid, wie mühelos sie den schweren Stamm handhabte, unter dessen Gewicht sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Was sind das für Leute?«, fragte sie, während sie ihrer Mutter zurück zum Wagen folgte. »Freunde«, antwortete Lea, wenn auch in einem Ton, der diesem Wort eine Menge von seinem warmen Klang nahm. »Trotzdem solltest du vorsichtig sein. Sprich mit niemandem und sag nichts, es sei denn, ich erlaube es dir.« »Aber ich spreche ihre Sprache doch sowieso nicht«, antwortete Arri. Ihre Mutter lachte kurz. »Oh, sie sprechen die gleiche Sprache wie wir, ungefähr wenigstens. Targan macht sich nur manchmal einen Spaß daraus, Fremde in einem Kauderwelsch zu begrüßen, das er sich wahrscheinlich selbst ausgedacht hat.« »Aha«, machte Arri. Das klang genauso hilflos, wie sie sich nach der Antwort ihrer Mutter fühlte, und Lea lachte noch einmal, und

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diesmal echt. »Du wirst schon sehen. Aber jetzt hilf mir. Es sei denn, du bist ganz versessen darauf, noch länger hier draußen in der Kälte zu bleiben, statt an einem warmen Feuer zu sitzen und dich satt zu essen.« Sie hatten den Wagen wieder erreicht. Lea lud sich zwei der schweren Bündel, die darauf lagen, auf die Schultern und reichte Arri das dritte, leichteste; was nicht hieß, dass es leicht war. Arri taumelte unter dem Gewicht des Gepäckstücks und musste rasch einen Schritt zur Seite machen, um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren. Der Tag, den sie auf dem Wagen zugebracht hatte, hatte sie mindestens genauso viel Kraft gekostet, als wäre sie die ganze Strecke zu Fuß gegangen. Targan machte zwar einen gemächlichen Schritt zur Seite, um sie und ihre Mutter ins Haus zu lassen, rührte aber keinen Finger, um ihnen ihre Last abzunehmen, obwohl er ganz so aussah, als könne er sich alle drei Bündel auf eine Schulter laden, ohne ihr Gewicht auch nur zu spüren. Dennoch atmete Arri so hörbar erleichtert auf, dass es ihr fast selbst peinlich war, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür trat. Das Allererste, was sie spürte, war die Wärme. Die Luft hier drinnen war so rauchgeschwängert und stickig, dass sie anfangs das Gefühl hatte, kaum atmen zu können, aber sie spürte auch plötzlich, wie kalt es draußen geworden war. Ihr Gesicht und ihre Finger und Zehen fühlten sich an, als wären sie mit einer dünnen Schicht aus Eis überzogen. »Legt eure Sachen einfach ab«, sagte Targan. »Ich kümmere mich schon darum.« Arri gehorchte zwar, froh, das Gewicht des sperrigen Bündels los zu sein, setzte aber praktisch im gleichen Moment den Fuß darauf und sah ihre Mutter fragend an. Auch Lea hatte sich ihrer Last entledigt und wirkte so erleichtert, als hätte sie sie den ganzen Weg hierher auf den Schultern getragen und nicht nur wenige Schritte weit. Sie erwiderte Arris Blick auf eine besondere Art, aber in ihren Augen blitzte es fast spöttisch auf, was sie nicht verstand. »Nimm es ruhig mit, wenn du Angst um dein Bündel hast«, sagte Targan belustigt. »Du kannst es aber auch hier lassen, und einer mei-

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ner Söhne kümmert sich darum, dass es sicher verwahrt wird - es sei denn, in dem Beutel da ist etwas, wovon du dich auf keinen Fall trennen kannst.« Verwirrt sah Arri den großen Mann an. Zum ersten Mal konnte sie Targans Gesicht erkennen, aber es war ihr nicht möglich, ihn wirklich einzuschätzen. Er war tatsächlich noch größer, als sie geglaubt hatte, dabei aber so massig, dass seine Größe kaum auffiel. Sein Haar war so kurz geschoren, dass er fast kahlköpfig wirkte, und Arri hatte noch nie einen Mann mit so schmutzigem Gesicht und Händen gesehen. Auf den allerersten Blick machte er einen fast grimmigen Eindruck, aber er wirkte gleichzeitig auch auf eine schwer in Worte zu fassende Weise freundlich; ein Riese, der aussah, als zerbräche er manchmal nur zum Zeitvertreib Baumstämme, könne aber zugleich auch keiner Fliege etwas zuleide tun. Arri sah rasch zu ihrer Mutter hin, dann wieder in Targans Gesicht. Sie überlegte, ob sich in seiner vermeintlich scherzhaften Bemerkung vielleicht eine Anspielung verbarg, denn das Bündel, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, hatte tatsächlich gerade noch etwas enthalten, von dem außer ihr niemand etwas wusste: das Säckchen, das sie von Dragosz bekommen hatte. Sie verscheuchte den Gedanken daran. Ihre Mutter konnte nichts von Dragosz’ Geschenk wissen, das sie sich soeben erst unter die Bluse geschoben hatte, und Targan schon gar nicht. Sie musste aufhören, hinter jeder harmlosen Bemerkung eine Anspielung und in jedem Scherz eine Falle zu vermuten. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht gehabt, als sie sagte, dass sie in ihrem Bemühen, ihre Tochter Misstrauen zu lehren, möglicherweise zu erfolgreich gewesen war. »Lass es ruhig hier«, sagte Lea. »Was in Targans Haus ist, ist sicher.« »Ich… natürlich«, sagte Arri hastig und direkt an Targan gewandt. Dabei trat sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Es war nur…« »… ein bisschen viel«, fiel ihr Lea ins Wort, allerdings genau wie sie an den riesigen Mann gewandt. »Für uns beide. Der Weg war sehr anstrengend.« Irrte sich Arri, oder versuchte ihre Mutter, ihr einen raschen, verstohlenen Blick zuzuwerfen? Sag nichts.

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»Du warst lange nicht mehr hier«, bestätigte Targan. »Umso mehr überrascht mich dein Besuch. Wir hatten nicht vor dem nächsten Frühjahr mit dir gerechnet.« Arri sah beunruhigt zu ihrer Mutter auf. Im nächsten Frühjahr? War Targans Haus etwa die erste Etappe auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat, wenn sie sich nach der Schneeschmelze vor Nors Nachstellungen in Sicherheit bringen würden? »Wir mussten… unsere Pläne ändern«, antwortete Lea. Das fast unmerkliche Stocken in ihren Worten konnte Targan ebenso wenig entgangen sein wie Arri, und Lea machte es noch schlimmer, indem sie sich in ein verlegenes Lächeln und ein hoffnungslos übertriebenes Schulterzucken rettete. »Aber wir bleiben nicht lange.« Sie hob noch einmal die Schultern und fügte dann - fast zu Arris Entsetzen - hinzu: »Nur diese eine Nacht.« »Vielleicht solltest du erst einmal ankommen, bevor du vom Gehen redest«, sagte Targan lächelnd. Er wandte sich direkt an Arri. »Du bist also Leandriis’ Tochter. Sie hat viel von dir erzählt. Aber sie hat nicht gesagt, dass du schon eine junge Frau geworden bist. Noch ein, zwei Sommer, und es wird schwer werden, euch zu unterscheiden.« Er machte einen halben Schritt zurück und maß Arri mit einem langen, von einem angedeuteten Kopfschütteln begleiteten, prüfenden Blick. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter. Vielleicht sollte ich sie mir bei Gelegenheit doch einmal genauer ansehen. Für mich ist sie noch ein Kind, aber vielleicht stimmt das ja nicht.« Allmählich wurde Arri das Gespräch peinlich. Fast feindselig starrte sie Targan an, von dem sie eher eine Frage zu ihrem ramponierten Äußeren erwartet hatte, statt dick aufgetragener Schmeicheleien, aber dieser lächelte nur. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, bückte sich ihr Gastgeber und lud sich sowohl Leas als auch Arris Bündel ohne die allermindeste sichtbare Mühe auf nur einen Arm; gleichzeitig deutete er mit einer Kopfbewegung tiefer ins Haus hinein. »Ihr müsst hungrig sein. Kommt. Ich hoffe doch, unsere anderen Gäste haben noch ein wenig übrig gelassen.« Bei der Erwähnung der anderen Gäste fuhr Lea abermals fast un-

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merklich zusammen, und ein Ausdruck von Unmut erschien auf ihrem Gesicht, verschwand jedoch wieder, als sie sich Arris fragender Blicke bewusst wurde. Ungeduldig winkte sie ihre Tochter an ihre Seite und wollte losgehen. Sie befanden sich in einem kleinen Vorraum, der gleich drei Türen hatte - die ungewöhnlichste Konstruktion, die Arri jemals zu Gesicht bekommen hatte. Mit Ausnahme des kleinen Vorratsraumes in ihrer eigenen Hütte und einigen ähnlichen Räumen im Dorf hatte sie noch niemals eine Unterteilung innerhalb eines Hauses gesehen, geschweige denn eine Tür, wie sie sie nur aus Leas Erzählungen über ihre alte Heimat kannte - und wozu sollte eine solche auch gut sein? Offensichtlich kannte sich Lea hier aus, denn sie steuerte ganz selbstverständlich eine dieser drei Türen an. Targan hielt sie jedoch mit einer fast schon erschrocken wirkenden, auf jeden Fall aber sehr hastigen Geste zurück. »Meine Frau hat die Kammer für dich und deine Tochter vorbereitet«, sagte er. »Vielleicht schaut ihr sie euch einmal an.« Lea wirkte ein bisschen verdutzt, und auch Arri drehte sich stirnrunzelnd zu ihrem Gastgeber um und maß ihn mit einem fragenden Blick. Es war nicht nur, dass Targan plötzlich fahrig klang; noch vor einem Augenblick hatte er ja selbst gesagt, wie sehr ihn Leas unangekündigter Besuch überrascht habe. Wie konnte da seine Frau - oder sonst wer - auch nur irgendetwas vorbereitet haben? Targan schien seinen Versprecher wohl im gleichen Moment bemerkt zu haben wie sie, denn er wirkte plötzlich ebenso verlegen wie hilflos, dann aber unterstrich er seine Worte nur noch einmal mit einer wedelnden Handbewegung, und Lea deutete ein Schulterzucken an und ging auf die Tür zu, die er bezeichnet hatte. Arri folgte ihr gehorsam, aber dennoch mit einem sonderbaren Gefühl. Von der vorsichtigen Erleichterung, die sie ergriffen hatte, der Dunkelheit und Kälte und allem, was sich darin verborgen haben mochte, endlich entronnen zu sein, war nicht mehr viel geblieben. Auch wenn sie der Versicherung ihrer Mutter, Targan sei ihr Freund und sie könnten ihm und seiner Familie vorbehaltlos trauen, nach wie vor glaubte, so machte doch allein Leas Reaktion klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte geschworen, dass

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Targan ihr plötzlicher Besuch mehr als unangenehm war und er sie viel lieber hätte gehen als kommen sehen. Sie sah sich mit unverhohlener Neugier um, während sie ihrer Mutter und Targan durch die Tür in einen kurzen, aus massiven Baumstämmen erbauten Korridor folgte. Die Tür, die sie durchschritten, war so schwer, dass es Lea sichtliche Mühe kostete, sie zu öffnen, und Arri entging auch nicht, dass auf ihrer Innenseite ein mehr als daumenbreiter bronzener Stab befestigt war, den man in eine metallverkleidete Vertiefung im Rahmen schieben konnte, um sie damit zu verschließen. Und endlich begriff sie den Sinn dieses kleinen Vorraumes mit seinen zusätzlichen Türen: Wer immer in dieses Haus hineinwollte, würde sich schwer tun, es ohne die Erlaubnis seiner Bewohner zu betreten. Es war nicht einfach nur ein großes Haus, es war zugleich eine Festung. Arri hatte noch niemals eine solche gesehen, aber ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, den Burgen und Festungen ihrer Heimat, großen wehrhaften Gebäuden, die ihren Bewohnern nicht nur Schutz vor den Jahreszeiten und den Unbilden der Natur boten, sondern auch jedweden Angreifer sicher zurückhielten. Eine sonderbare Aufregung ergriff von Arri Besitz, als sie sich klarmachte, wie wenig sie bisher begriffen hatte, wohin sie tatsächlich unterwegs waren. Diese Menschen hier waren nicht einfach nur Freunde ihrer Mutter. Es war eine vollkommen andere Welt, die sie nun betrat. Arri hatte noch niemals ein Haus gesehen, dessen Tür man verschließen konnte und das ganz offensichtlich viel mehr dem Zweck diente, andere draußen zu halten, als nur seinen Bewohnern Unterschlupf und Wärme zu gewähren. Aus einem Grund, den sie selbst nicht ganz nachvollziehen konnte, gefiel ihr diese Vorstellung nicht, aber sie war auch zugleich sehr aufregend. Sie folgten dem Gang bis zu seinem Ende, wo es eine weitere, ebenso massive Tür gab, hinter der eine steile Stiege nach oben führte. Der Anblick hätte Arri nicht überraschen dürfen - selbst das Wenige, was sie von außen hatte erkennen können, hatte ihr klargemacht, dass dieses Haus auch sehr viel höher war als jedes andere Gebäude, das sie je zu Gesicht bekommen hatte, obwohl es nicht auf Stelzen stand

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wie die Hütten in ihrem Heimatdorf; allerdings hatte sie noch nie davon gehört, dass es irgendwo außerhalb der alten Welt ihrer Mutter Häuser mit mehr als einem Stockwerk gab. Jetzt befand sie sich in einem solchen. Targan eilte voraus und rumorte einen Augenblick in der Dunkelheit am anderen Ende der Treppe herum, dann glomm ein vertrautes gelbes Licht über ihnen auf, und der große Mann erschien unter einer niedrigen Tür und winkte ihnen mit der linken Hand zu. In der anderen hielt er eine kleine Öllampe, deren Machart Arri vertraut vorkam. In Targans Händen wirkte sie wie ein Spielzeug, und er hielt sie so, als hätte er Mühe, sie mit seinen groben Fingern nicht zu zerbrechen. »Kommt«, sagte er, »macht es euch nur gemütlich. Ich lasse euch gleich eine Schale heißer Suppe bringen.« Er gab sich keinerlei Mühe, seine Unruhe und sein Unbehagen zu verhehlen, und wartete nicht einmal ab, bis sich Lea und Arri an ihm vorbei durch die niedrige Tür geschoben hatten, bevor er die Lampe auf den Boden stellte und wortlos verschwand. Lea drehte sich um und sah ihm stirnrunzelnd nach, antwortete auf Arris fragenden Blick aber nur mit einem wenig überzeugenden Schulterzucken und schloss dann die Tür hinter ihnen. Sie war nicht so massiv wie die, die sie unten passiert hatten, aber mit offensichtlich großer Kunstfertigkeit gebaut, sodass zwischen den einzelnen Brettern nicht der winzigste Spalt blieb. Die Angeln aus breiten Lederstreifen knarrten hörbar, als sie sich bewegten, doch die Tür schloss so dicht, dass die Flamme der kleinen Öllampe auf dem Boden nun ruhig und ohne das mindeste Flackern brannte. Was Arri in ihrem Licht sah, war ebenso faszinierend wie auch enttäuschend zugleich: Der Raum, in den Targan sie geführt hatte, war groß, aber nicht sehr hoch. Über ihren Köpfen berührten sich die beiden Hälften des schrägen Daches. Lea und auch sie selbst konnten gerade noch aufrecht darin stehen, Targan aber hätte sich allerhöchstens gebückt hier drinnen aufhalten können. Der Boden, der aus denselben, sorgsam gearbeiteten Brettern bestand wie die Tür, war unerwartet sauber, und der ganze Raum, der sich über einen gut Teil des Hauses erstrecken musste (es sei denn, das Gebäude war noch sehr viel größer, als Arri bisher ohnehin angenommen hatte), war

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vollkommen leer. In einer Ecke unweit der Tür befanden sich zwei, mit unordentlich zusammengeknüllten Tierfellen bedeckte Grasmatratzen, das war alles. »Ich dachte, seine Frau hätte das Zimmer für uns vorbereitet!«, murmelte Arri. »Targan ist immer auf Gäste eingerichtet«, antwortete ihre Mutter, halblaut und in einem sonderbaren Tonfall, als wäre ihr diese Antwort gerade in dem Moment eingefallen, in dem sie sie gegeben hatte, und als glaubte sie selbst nicht daran, zöge sie aber einer anderen, viel unangenehmeren Möglichkeit vor. Sie seufzte, zuckte noch einmal mit den Schultern und machte schließlich eine Kopfbewegung zur Matratze hin. »Ich werde später mit ihm reden. Warum versuchst du nicht, ein wenig zu schlafen? Du musst müde sein.« Das war Arri in der Tat, müde und so erschöpft wie schon seit langer Zeit nicht mehr - aber ihre Mutter konnte doch nicht im Ernst annehmen, dass sie sich jetzt einfach hinlegte und einschlief, als wäre nichts geschehen? »Besonders erfreut scheinen deine Freunde ja über unseren Besuch nicht zu sein. Oder ist das ihre Auffassung von Gastfreundschaft, Freunde in einen leeren Raum zu sperren?« Lea sah sie eine ganze Weile wortlos und stirnrunzelnd an, bevor sie schließlich - fast widerwillig - nickte. »Ja«, bestätigte sie. »Irgendetwas ist seltsam.« »Vielleicht liegt es an den anderen Gästen, von denen Targan gesprochen hat?«, vermutete Arri. »Targan hat oft Gäste. Sein Haus ist nicht umsonst so groß. Es vergeht kaum ein Tag, in dem niemand hierher kommt. Er lebt vom Handel, weißt du? Und es lässt sich schwer handeln, wenn man denjenigen, die kommen, um Ware zu tauschen, kein Dach über dem Kopf bietet.« Das klang zu überzeugend, um lediglich eine spontan ausgedachte Ausrede zu sein. »Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Arri. »Ich sage es dir«, antwortete Lea unwillig, »sobald ich es selbst herausgefunden habe.« Arri fuhr spürbar zusammen, als sie den scharfen Unterton in der Stimme ihrer Mutter hörte, aber sie war immerhin klug genug, nichts

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darauf zu sagen, und presste nur die Lippen aufeinander. Sie gewann nichts, wenn sie ihre Mutter auch noch zusätzlich bestürmte. Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen, was die Lage nicht noch schlimmer machte, fragte sie: »Was hast du damit gemeint, wir bleiben nur diese eine Nacht?« Lea sah sie so verwirrt an, als hätte sie plötzlich in einer völlig unverständlichen Sprache gesprochen. »Was ich damit gemeint habe?« Sie hob die Schultern. »Wie wäre es mit dem, was ich gesagt habe? Wir bleiben heute Nacht hier, und morgen bei Sonnenaufgang machen wir uns auf den Rückweg.« »So schnell?« »So schnell«, bestätigte Lea. »Ich möchte so schnell wie möglich zurück ins Dorf.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Wir hätten niemals weggehen sollen. Nicht ausgerechnet so knapp vor dem Jagd-ErnteFest, das Sarn nutzen wird, um das Dorf gegen mich aufzuwiegeln.« »Warum haben wir es dann getan?«, fragte Arri, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, als sie sich daran erinnerte, dass Rahn sie mit fast den gleichen Worten gewarnt hatte - und dass das Opferfest im Steinkreis stattfinden würde, dem Ort, an dem sich vor gar nicht allzu langer Zeit Sarns Greisenhand um ihr Handgelenk gewunden hatte, als wollte er sie dort für die Ewigkeit festhalten. »Weil es mit einem blinden Schmied und einem einarmigen Gehilfen schon schwer genug ist, eine Schmiede zu betreiben«, antwortete Lea mit sanftem Spott in der Stimme. »Aber ohne Werkzeug und Erz ist es noch viel schwerer. Deshalb«, fügte sie nach einer winzigen Pause mit ganz leicht veränderter Stimme hinzu, »habe ich entschieden, trotzdem zu gehen. Auch wenn es mir gar nicht passt, nicht da zu sein, wenn Sarn im Steinkreis seine lächerlichen Beschwörungen zum Opferfest vollführt und die Menschen gegen uns aufhetzt.« »Aber du hast es entschieden«, wiederholte Arri. »Ich verstehe.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Lea kühl. Sie tat Arri nicht den Gefallen, ihr zu vergeben oder auch nur ein Verständnis zu heucheln, das sie ganz und gar nicht hatte. Ganz im Gegenteil verspürte Arri plötzlich das Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen, als ihr klar wurde, dass sie ihrer Mutter anscheinend das Stichwort gegeben hatte, auf

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das sie seit zwei Tagen wartete. »Es war wichtig für mich, Achk und Kron nicht allein im Dorf zurückzulassen, weißt du? Ich traue Sarn nicht.« »Sarn?«, wiederholte Arri verständnislos. »Aber was sollte ich denn…« »Es hätte schon gereicht, wenn du einfach da gewesen wärest«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du darfst Männer wie Sarn niemals unterschätzen, Arianrhod. Sie sind vielleicht nicht besonders klug, aber das macht sie nicht weniger gefährlich; ganz im Gegenteil, sie spüren jede noch so winzige Schwäche, und sie nutzen sie gnadenlos aus.« »Aber was hätte ich tun können?«, murmelte Arri niedergeschlagen. »Einfach nur da sein«, antwortete Lea. »Sarn hätte dich wahrscheinlich beschimpft und vielleicht auch gedemütigt, aber ich glaube nicht, dass er es wirklich gewagt hätte, dir etwas anzutun. Er hätte zumindest nicht mit Achk und Kron sprechen können, nicht, wie er es jetzt kann.« Arri schwieg. Da war so viel, was sie hätte sagen können, so viel, was ihr auf der Zunge lag, und dennoch brachte sie keinen Laut hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es spielte keine Rolle, ob sie tausend Einwände gegen das hatte, was Lea ihr vorhielt oder nicht, tief in sich spürte sie einfach, dass sie Recht hatte. Plötzlich fühlten sich ihre Augen mit brennender Hitze. »Du hast gefragt«, sagte Lea kühl und mit einer Stimme, der jegliches Mitgefühl fehlte. Das mochte stimmen, dachte Arri bitter - aber was brachte ihre Mutter auf den Gedanken, dass sie diese Antwort hatte hören wollen? »Ja«, antwortete Arri mit einiger Verspätung. Sie erschrak selbst über den verbitterten Klang ihrer Stimme. »Das habe ich.« »Doch du wolltest die Antwort nicht hören.« Täuschte sie sich, oder genoss es Lea regelrecht, das Messer in der Wunde noch einmal herumzudrehen? »Dann solltest du vielleicht auch keine entsprechenden Fragen stellen.« Ganz plötzlich machte sie einen eher traurigen als vorwurfsvollen Eindruck. »Es tut mir Leid, Arianrhod, aber irgendwann musst du anfangen, es zu begreifen.«

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»Was?«, fragte Arri, als ob sie es nicht wüsste. »Dass es auch dazu gehört, zu seinen Fehlern zu stehen, wenn man erwachsen wird«, antwortete Lea, nun endgültig erbarmungslos. »Oder sie wenigstens einzusehen und daraus zu lernen.« Fehler? Es lag Arri auf der Zunge, mit einem schrillen Lachen zu antworten, aber sie presste auch jetzt nur die Lippen zu einem dünnen, fast blutleeren Strich aufeinander und schwieg. Bildete sich ihre Mutter tatsächlich ein, keine Fehler gemacht zu haben? Aber auch das sprach sie nicht aus. Sie konnte es nicht. Lea schwieg eine ganze Weile. Als klar wurde, dass ihre Tochter nichts mehr zu dem Thema sagen würde, nickte sie sichtbar zufrieden und deutete noch einmal auf das einfache Lager neben der Tür. »Ruh dich einfach ein wenig aus. Targan wird uns sicher gleich etwas zu essen bringen, und dann…« Schritte auf der Stiege unterbrachen sie. Lea war mit einer so schnellen Bewegung bei der Tür, dass Arri schon wieder erschrocken zusammenfuhr. Während sie die linke Hand nach dem ausstreckte, was ihre Mutter kurz zuvor auf ihre dementsprechende Frage als Riegel bezeichnet hatte, schlug sie mit der anderen den Umhang zurück und schloss die Finger um den Schwertknauf. So viel zu ihrer Behauptung, dachte Arri besorgt, es wäre alles in Ordnung. Die Tür wurde von außen geöffnet, noch bevor Lea es tun konnte, doch es war nicht Targan, der hereinkam. In dem unsteten Licht, zu dem der Kerzenschein wieder wurde, nachdem die Tür die Zugluft nicht mehr zurückhielt, erkannte Arri ein dunkelhaariges Mädchen, das ungefähr in ihrem Alter sein mochte und vermutlich sehr hübsch war, auch wenn das unter all dem Schmutz und eingetrockneten Ruß auf ihrem Gesicht eher zu erraten als wirklich zu erkennen war. Vielleicht das Mädchen, von dem Targan gesprochen hatte, überlegte Arri. Seine Tochter. Schmutzig genug dazu war sie allemal. Ihre Mutter entspannte sich sichtbar, als sie sah, wer da zu ihnen hereinkam, und trat rasch einen Schritt zurück und zugleich zur Seite, um Platz zu machen. Arri wunderte sich ein bisschen, wie es dem Mädchen überhaupt gelungen war, die Tür zu öffnen, denn es trug in jeder Hand eine große Schale mit dampfender Suppe, und unter jeden

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Arm hatte es zusätzlich ein dickes Fladenbrot geklemmt. »Runa«, sagte ihre Mutter erfreut. »Wie schön, dich zu sehen!« Das Mädchen suchte sich mit seiner Last einen Weg zwischen ihr und Arri hindurch und setzte die beiden Schalen mit einer geschickten Bewegung zu Boden. Die Suppe konnte doch nicht ganz so heiß sein, wie Arri angenommen hatte - oder die Kleine war ziemlich hart im Nehmen, denn sie hatte beide Daumen in die Schalen gehakt, um sie sicher tragen zu können. Als Runa aufstand, nahm Arri ihr rasch die beiden Brote ab, bevor sie sie ihr am Ende noch mit den Füßen zuschob. »Mein Vater bittet dich, noch ein bisschen Geduld zu haben«, sagte Runa, nachdem sie sich vollends aufgerichtet (und die Daumen an ihrem Kleid abgewischt) hatte. »Er kommt zu dir, sobald er Zeit hat.« »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Lea. Runa hob die Schultern. »Weiß nicht. Einer von unseren Gästen ist verletzt, ziemlich schlimm. Er sieht sogar noch übler aus als du.« Runa grinste Arri frech an. »Wer hat dich eigentlich so zugerichtet? Du siehst ja furchtbar aus.« »Verletzt?« Leas erschrockener Tonfall erstickte Arris Empörung über Runas Bemerkung schon im Ansatz. »Wie viele sind es denn? Wenn du sagst, einer ist verletzt?« »Drei«, antwortete Runa zögernd. »Aber mein Vater scheint zu glauben, dass sie nicht allein sind.« »Wieso?«, fragte Arri. Runa maß sie mit einem Blick, als fragte sie sich, ob sie einer Antwort überhaupt wert wäre, hob dann aber die Schultern und sagte: »Weil Vater ein paar meiner Brüder losgeschickt hat, um sich umzusehen. Vielleicht hat er Angst, dass noch mehr von ihnen draußen herumschleichen.« Ihre Mutter sah sie erneut und fast noch erschrockener an. Vielleicht dachte sie in diesem Moment an dasselbe wie Arri; Blutflecken im Gras, die in der Nacht schwarz schimmerten. Als sie jedoch weitersprach, klang ihre Stimme ruhig und allenfalls auf eine mitfühlende Weise besorgt, aber nicht alarmiert. »Wenn dein Vater es

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wünscht, sehe ich mir den Verletzten gern an.« »Nein«, antwortete Runa, »das möchte er nicht.« »Du hast ihn doch noch gar nicht gefragt«, sagte Arri. Diesmal war der Blick, den ihr das dunkelhaarige Mädchen zuwarf, nicht abschätzend, sondern eindeutig verächtlich. »Aber er hat gewusst, dass du diese Frage stellen wirst«, antwortete sie, allerdings an Lea gewandt, nicht an Arri. »Und mir aufgetragen, dir zu sagen, dass es nicht nötig ist.« Sie machte eine Kopfbewegung auf die beiden hölzernen Schalen. »Esst eure Suppe, so lange sie heiß ist. Ich bringe euch später noch mehr, wenn ihr wollt. Ihr braucht nur zu rufen.« Arri sah ihr verwirrt nach, als sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog, und auch zwischen den Augenbrauen ihrer Mutter entstand eine steile Falte. Arri wiederholte in Gedanken das, was sie schon mehr als einmal gedacht hatte, seit sie hierher gekommen waren: Dafür, dass Lea diese Leute als ihre Freunde bezeichnete, benahmen sie sich ziemlich sonderbar. Auch wenn Runa es nicht laut ausgesprochen hatte, so bedeuteten ihre Worte doch nichts anderes, als dass sie in dieser Kammer bleiben und sie nicht ohne Erlaubnis verlassen sollten. »Ich glaube, Runa hat Recht«, seufzte ihre Mutter. »Lass uns essen, solange die Suppe noch heiß ist.« Wie zur Antwort begann Arris Magen genau in diesem Moment hörbar zu knurren. Sie reichte ihrer Mutter eines der beiden Brote, bückte sich nach der Schale und nippte vorsichtig von ihrem Inhalt. Die Suppe war so heiß, dass sie ihren Geschmack im ersten Moment nicht einmal feststellen konnte, aber sie duftete köstlich, und zwischen den Gemüse- und Wurzelstücken, die sie enthielt, schwamm auch das eine oder andere Stück Fleisch, das von ebenso zäher wie faseriger Konsistenz war, aber ausgezeichnet schmeckte. Arri kannte dieses Fleisch nicht, doch als sie ihre Mutter danach fragte, erntete sie nur ein unwilliges Stirnrunzeln, als hätte sie sie mit ihrer Frage an etwas erinnert, das sie lieber nicht wissen wollte. Arri schnüffelte misstrauisch an ihrem Brot. Es roch gut, wie gerade frisch gebacken, aber Arri musste daran denken, wo Runa es ge-

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tragen hatte. »Iss ruhig«, sagte ihre Mutter. Sie selbst ging mit gutem Beispiel voran, biss herzhaft in ihr Brot und fuhr mit vollem Mund kauend fort: »Targans Frau ist eine ausgezeichnete Köchin.« Sie lachte. »Ich glaube, so mancher kommt in Wahrheit nur hierher, um ihr Essen zu genießen.« Arri fragte sich, warum sie in Wahrheit hierher gekommen waren, aber statt die Frage laut auszusprechen, raffte sie all ihren Mut zusammen, brach ein Stück von ihrem Brot ab und knabberte zaghaft daran. Es schmeckte nicht ganz so gut, wie sie es nach den Worten ihrer Mutter erwartet hatte, aber auch nicht schlecht. »Und?«, fragte Lea. »Wie schmeckt es dir?« »Immerhin nicht nach Achselschweiß«, antwortete Arri. Lea stutzte, sah sie einen Moment lang verwirrt an - und begann dann herzhaft zu lachen. »Warum sind diese Leute so schmutzig?«, beschwerte sich Arri. »Und das ausgerechnet von einer gewissen jungen Dame, die mich als verrückt bezeichnet hat, weil ich von ihr verlangt habe, sich wenigstens dann und wann zu waschen?« Lea schüttelte den Kopf und wurde wieder ernst. »Sie sind nicht schmutzig. Jedenfalls nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst.« »Du meinst, es gibt verschiedene Arten von Schmutz?« Sie legte den Kopf schräg. »Oder ist Schmutz bei verschiedenen Leuten nur unterschiedlich schlimm?« »Wie?« »Bin ich schmutziger, wenn ich genau so schmutzig bin wie Runa?« »Irgendwie schon.« Lea schüttelte rasch den Kopf, als Arri auffahren wollte. »Es liegt an ihrer Arbeit.« »An ihrer Arbeit?« »Sie schürfen Erz«, antwortete Lea. »Wenn du nur lange genug in Staub und Schmutz herumgewühlt hast, dann bekommst du das Zeug irgendwann nicht mehr ab, weil es sich in die Haut gefressen hat… Aber ich glaube, du hast auch Recht, und sie waschen sich nicht sehr oft.« Sie hob die Schultern und brach ihr Brot, um den Rest Suppe

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aus ihrer Schale zu tunken, die sie im Gegensatz zu Arri schon fast geleert hatte. »Hier in der Nähe?« »Wenn uns morgen noch die Zeit bleibt, dann zeigt dir Targan vielleicht die Mine«, sagte Lea. »Falls du sie sehen möchtest, heißt das aber stell dir nichts allzu Großartiges vor. Eigentlich ist es nicht viel mehr als ein Loch im Boden, das sich unterirdisch weiter verzweigt… allerdings ziemlich weit.« »Müssen wir wirklich gleich morgen früh wieder zurück?« Lea wirkte leicht verärgert, dass sie schon wieder davon anfing, aber zu Arris Überraschung verzichtete sie darauf, diese Verärgerung in Worte zu kleiden, sondern reagierte nur mit einem bedauernden Schulterzucken und einem Nicken. Arri versuchte nicht noch einmal, ihre Mutter zum Bleiben zu überreden, aber sie machte auch keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. Immerhin war es das erste Mal, so lange sie sich erinnern konnte, dass sie sich wesentlich weiter als einen halben Tagesmarsch von ihrer Hütte entfernte und andere Menschen traf als die Bewohner des Nachbardorfes; und vielleicht einen gelegentlichen Besucher, den sie aber meist nur von weitem sah, falls sie nicht sowieso erst davon hörte, wenn er bereits wieder abgereist war. Sie konnte die Einwände ihrer Mutter ja durchaus nachvollziehen, aber sie war trotzdem zutiefst enttäuscht. Da verließ sie zum allerersten Mal überhaupt ihr heimatliches Dorf, reiste fast zum anderen Ende der Welt, und das alles nur, um ein leeres Zimmer zu sehen und einen Mann mit einem schmutzigen Gesicht und seine ziemlich unfreundliche Tochter zu treffen - o ja, und vielleicht noch einen Blick in ein ziemlich tiefes Loch im Boden zu werfen! Ein leises Scharren an der Tür ließ sie aufsehen. Auch Lea hob mit einem Ruck den Kopf. Ein alarmierter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, doch sie winkte Arri trotzdem beruhigend zu, während sie mit einer fließenden Bewegung aufstand und sich zur Tür wandte. Ihre Hand glitt zum Schwert. Sie hatte noch nicht den ersten Schritt getan, als die Tür aufging und der Wolf hereinkam.

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Lea atmete erleichtert auf und entspannte sich, doch Arri reagierte genau entgegengesetzt: Sie fuhr so heftig zusammen, dass sie beinahe ihre Schale fallen gelassen hätte, und wäre am liebsten entsetzt aufgesprungen, hätte sie der bloße Anblick des Ungeheuers nicht gleichzeitig auch gelähmt. Der Wolf blieb vor ihrer Mutter stehen und sah mit einem Ausdruck, den Arri nicht anders als freundliche Neugier bezeichnen konnte, zu ihr hoch, dann tappte er weiter und geradewegs auf sie zu. Arris Herz schien einen Schlag zu überspringen und dann doppelt schnell und direkt in ihrem Hals weiter zu hämmern, als das riesige Tier näher kam, für einen Moment verharrte und sie mit der gleichen, unübersehbaren Neugier (wie es ihr vorkam, aber nicht annähernd so freundlich) anstarrte und seinen Weg dann fortsetzte. Langsam kam es näher, hielt unmittelbar vor Arri an und beschnüffelte erst ihre Hände, dann ihre Arme. Arri stockte der Atem, als der Wolf den Kopf hob und ihr Gesicht beschnüffelte - und dann einen halben Schritt zurücktrat und die Schnauze in ihre gerade zur Hälfte geleerte Suppenschale senkte. Ihre Mutter lachte. »Ich glaube, du hast gerade einen neuen Freund gefunden.« Arri ächzte vor Unglauben und Schrecken, aber sie war noch immer so gelähmt, dass sie keinen einzigen Muskel rühren konnte, sondern die Schale festhielt, während der Wolf in aller Seelenruhe deren Inhalt ausschlabberte. »Er ist vollkommen harmlos, keine Angst«, sagte Lea belustigt. »So lange du ihm nichts tust oder er spürt, dass du Angst vor ihm hast.« Arri war klar, dass sie den zweiten Teil dieses Satzes nur gesagt hatte, um sie zu foppen. Hätte das Tier wirklich mit einem Angriff auf Angst reagiert, dann hätte es sie schon unten vor dem Haus in Stücke gerissen. Trotzdem wagte sie es nicht, sich zu rühren oder gar die Schüssel zu senken. Reglos und wie erstarrt saß sie da, bis der Wolf die Schale zur Gänze geleert hatte, endlich wieder den Kopf hob und sie so vorwurfsvoll und verlangend anblickte, als hätte er fest mit einem Nachschlag gerechnet und wäre jetzt enttäuscht, ihn nicht zu bekommen, wobei er sich genießerisch mit der Zunge über

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das Maul leckte. »Wenn du ihn jetzt auch noch streichelst«, sagte ihre Mutter, »dann hast du wirklich einen neuen Freund.« Arri starrte sie einen Herzschlag lang ungläubig an, aber Lea machte eine auffordernde Bewegung, und so setzte sie schließlich die Schale zu Boden, streckte zögernd die Hand aus und fuhr dem Tier mit den Fingerspitzen flüchtig über den Schädel, bevor sie die Hand hastig wieder zurückzog. Der Wolf legte den Kopf auf die Seite und sah ihr ins Gesicht, und hätte Arri nicht ganz genau gewusst, wie unmöglich so etwas war, sie hätte in diesem Moment geschworen, es in seinen Augen spöttisch aufblitzen zu sehen. »Du brauchst wirklich keine Angst vor ihm zu haben«, sagte Lea noch einmal. »Er ist zahmer und harmloser als die meisten Hunde, die ich kenne, und vor allem viel gelehriger - so lange man ihn nicht reizt oder er glaubt, Targan und seine Familie verteidigen zu müssen. Ich nehme an, für ihn sind sie so etwas wie sein Rudel, das er beschützen muss.« »Das ist ein Wolf«, sagte Arri. Ihre Stimme zitterte. »Targan hat ihn als kaum zwei Monate alten Welpen mitgebracht«, erwiderte ihre Mutter, »nachdem er seine Mutter und den Rest des Rudels getötet hatte. Dieses eine Tier hat er mitgebracht und gezähmt.« Sie kam näher, ließ sich neben dem Wolf in die Hocke sinken und schlug ihm zwei oder drei Mal mit der flachen Hand so kräftig auf den Rücken, dass jeder normale Hund, den Arri kannte, wahrscheinlich nach ihr geschnappt hätte. Das riesige Raubtier aber sah sie nur einen Moment lang an und begann dann, ihre Hand abzulecken. Arri kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihre eigenen Erfahrungen mit Wölfen beschränkten sich auf eine einzige, wenig angenehme Gelegenheit, aber sie hatte genug über diese gefährlichen Räuber gehört, um zu wissen, wie erstaunlich das war, was ihre Mutter gerade vor ihren Augen getan hatte. Und wie gefährlich. »Seit wann bist du so ängstlich?«, fragte Lea. »Bin ich nicht«, erwiderte Arri, was aber nicht einmal in ihren eigenen Ohren irgendwie überzeugend klang. Sie rettete sich in ein Lächeln und ein verlegendes Schulterzucken. »Ich habe… schlechte

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Erfahrungen mit Wölfen gemacht«, erinnerte sie. »Ich weiß«, antwortete Lea. »Aber das war etwas anderes. Der Wolf, der dich angegriffen hat, war krank und halb verrückt vor Hunger, und er war ein wildes Tier.« Etwas in ihrem Blick veränderte sich, aber Arri konnte nicht sagen, in welche Richtung. »Dragosz hat mir davon erzählt. Du hast dich gut geschlagen.« Für Leas Verhältnisse war dies ein gewaltiges Lob und vielleicht auch etwas wie ein Friedensangebot, aber Arri war weder in der Stimmung für das eine noch empfänglich für das andere. »Gut geschlagen?«, wiederholte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn Dragosz nicht gekommen wäre, dann hätte er mich getötet.« »Selbstverständlich hätte er das. Ein Kind mit einem Stock als Waffe gegen einen kampferprobten alten Wolf, den der Hunger fast wahnsinnig gemacht hat, das ist kein gerechter Kampf.« Lea schüttelte bekräftigend den Kopf. »Du hattest keine Aussicht zu überleben.« Arri streifte den Wolf, der zwar noch immer die Hand ihrer Mutter ableckte, dabei aber so unverwandt zu ihr aufsah, als verfolge er ihre Unterhaltung und sei gespannt auf ihre Antwort, mit einem besorgten Blick und wich vorsichtshalber ein kleines Stück vor beiden zurück, bevor sie antwortete. »Warum hast du es mir nicht gesagt?« »Was?« »Dass du von meiner Begegnung mit dem Wolf gewusst hast… und Dragosz.« »Das hätte ich«, erwiderte ihre Mutter ruhig, »wenn ich davon gewusst hätte. Dragosz hat mir erst zwei Tage später erzählt, was geschehen ist. Warum hast du nichts gesagt?« Arri hätte sich ohrfeigen können, diese Frage überhaupt gestellt zu haben. Sie hätte sich die Antwort ihrer Mutter denken können. Aber nun war es zu spät. Sie kannte ihre Mutter wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie nur auf ein Stichwort gewartet hatte und nun nicht mehr locker lassen würde. Vielleicht, überlegte sie, war es an der Zeit, einmal eine ihrer eigenen Lektionen auszuprobieren, nämlich die, dass Angriff oft die beste Verteidigung war. »Du wolltest nicht, dass ich etwas von ihm erfahre, habe ich Recht?«

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Lea hörte auf, den Wolf zu streicheln. »Wie meinst du das?« »Du hättest mir nichts von ihm erzählt, wenn ich euch nicht im Wald gesehen hätte, nicht wahr?«, fragte Arri. »Warum?« »Warum sollte ich mich vor dir rechtfertigen?«, gab Lea spröde zurück. »Ich hätte dir von ihm erzählt, aber noch nicht.« »Und warum nicht?« »Ich hatte meine Gründe«, erwiderte ihre Mutter. »Ich war…« Sie brach ab, schwieg einen Moment und setzte dann neu an. »Dragosz ist nicht der, für den du ihn hältst, Arianrhod. Ich war nicht sicher, ob es richtig ist, dass du ihn kennen lernst. Oder er dich.« »Aber er hatte mich doch schon gesehen«, erinnerte Arri. »Spätestens, als er mich vor dem Wolf gerettet hat.« »Aber da wusste er nicht, dass du meine Tochter bist«, antwortete Lea. Arri sagte zwar nichts dazu, sah ihre Mutter aber ungläubig an. Sie konnte doch unmöglich so naiv sein, tatsächlich zu glauben, dass Dragosz durch einen reinen Zufall ganz genau im richtigen Augenblick aufgetaucht war, um sie vor dem Wolf zu retten. Solche Zufälle gab es nicht. Er hatte sie beobachtet, und nicht erst seit diesem Tag. »Erzähl mir von ihm«, verlangte sie geradeheraus. Was nach den Maßstäben ihrer Mutter eine reine Unverschämtheit war. Dennoch antwortete Lea. »Ich weiß nicht viel über ihn. Nur das, was er mir erzählt hat.« »Und du glaubst ihm nicht.« Lea zögerte gerade einen Moment zu lange, um ihre Antwort glaubhaft klingen zu lassen. »Es spielt keine Rolle, ob ich ihm glaube oder nicht«, sagte sie, um fast im selben Atemzug zu sagen: »Selbstverständlich glaube ich ihm. Dragosz ist kein Mann, der lügen würde. Das hat er nicht nötig.« »Du liebst ihn?«, vermutete Arri. Ihre Mutter blickte sie stirnrunzelnd an, blieb aber immer noch ruhig. »Ich fürchte, auch das spielt keine Rolle. Dragosz ist…« Sie hob die Schultern. »Er ist ein aufrechter Mann, das ist vielleicht schon mehr, als ich erwarten durfte.« »Woher kommt er?«, fragte Arri. »Von hier?«

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Lea lächelte flüchtig. »Nein. Er kommt von weit her. Sein Volk kommt aus dem Osten.« Sie machte eine unbestimmte Geste. »Von jenseits der Berge.« Es dauerte eine kleine Weile, aber dann begriff Arri. »Das sind nicht die Männer, die…« Sie atmete hörbar ein. »Das sind nicht die Männer, die Grahl und seine Brüder angegriffen haben?«, setzte sie neu an. »Ich weiß nicht, wer wen angegriffen hat«, antwortete Lea. »Ich war nicht dabei.« »Also waren sie es«, sagte Arri. Diesmal wartete sie vergeblich auf eine Antwort. »Dann ist… alles andere auch wahr?«, fragte sie unsicher. »Was Grahl und die anderen behaupten?« »Dieser Unsinn? Dass sie einen Angriff planen und alle töten wollen?«, fragte Lea verächtlich. »Ja, das ist genau so überzeugend wie Sarns Behauptung, dass ich vor zehn Jahren ins Dorf gekommen bin, um es auszuspähen.« Sie lächelte wieder. »Nein. Sie planen keinen Angriff. Das wäre dumm. Warum sollten sie von so weit her kommen, nur um Krieg zu führen? Noch dazu einen Krieg, den sie nicht gewinnen können?« »Wieso nicht?« »Goseg ist viel zu stark«, antwortete Lea. »Selbst wenn Dragosz die Krieger besiegen könnte, wäre der Preis viel zu hoch.« Sie schüttelte noch einmal und vielleicht sogar eine Spur zu heftig den Kopf. »Und selbst wenn es nicht so wäre: Warum sollte Dragosz einen Krieg führen? Er hätte viel zu verlieren, aber kaum etwas zu gewinnen. Dieses Land ist groß. Es bietet mehr als genug Platz für eine weitere Sippe.« Das klang nicht besonders überzeugend, fand Arri. Nicht einmal so, als glaube ihre Mutter selbst daran. Auf welche Frage wollte sie eigentlich nicht antworten?, dachte sie. Auf die nach Dragosz’ Sippe oder auf die nach Dragosz selbst? Als ob sie die Antwort nicht wüsste! Sie dachte an Dragosz und daran, wie sie ihn am Bach getroffen hatte. Sie war verwirrt. Prompt meldete sich auch ihr schlechtes Gewissen wieder, denn es war nun das zweite Mal, dass sie ihrer Mutter

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das Zusammentreffen mit Dragosz verschwieg, wobei sie selbst nicht sagen konnte, warum. Da war irgendetwas an Dragosz gewesen, das sie unendlich verstörte. Ihr Verstand, alles, was sie von ihrer Mutter gehört hatte, alles, was sie selbst erlebt und über diesen Mann in Erfahrung gebracht hatte, das alles schrie ihr zu, dass sie ihm nicht trauen durfte - aber da war zugleich noch eine andere Stimme in ihr, der all diese Gründe vollkommen gleichgültig waren. Etwas war zwischen Dragosz und ihr, das sie nicht in Worte fassen konnte, das aber immer stärker wurde. Erst jetzt, im Nachhinein, wurde ihr klar, dass seit ihrer letzten Begegnung mit diesem ungewöhnlichen Mann kein Augenblick vergangen war, in dem nicht ein Teil von ihr an ihn gedacht hatte. Vorsichtig und in - wie sie hoffte - beiläufigem Ton sagte sie: »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er mitgekommen wäre.« Vielleicht hatte sie nicht beiläufig genug geklungen, denn ihre Mutter sah sie mit gerunzelter Stirn an, bevor sie - allerdings mit einem Kopfschütteln - antwortete: »Nein, er wäre sowieso nicht mit hierher gekommen.« »Wieso?«, fragte Arri. »Weil ich nicht wollte, dass er… das hier sieht«, antwortete ihre Mutter zögernd. Aber traute sie ihm denn nicht?, dachte Arri verwirrt. Ein Teil von ihr konnte sie sehr gut verstehen, aber ein anderer war regelrecht empört. Und vielleicht sah man ihr ihre Gedanken deutlicher an, als es ihr recht sein konnte, denn ihre Mutter fuhr rasch und in fast um Verzeihung heischendem Ton fort: »Targan ist in dieser Beziehung etwas… sonderbar. Er lebt davon, dass Fremde hierher kommen und mit ihm Handel treiben, und dennoch misstraut er ihnen grundsätzlich.« »Vielleicht hat er schlechte Erfahrungen gemacht«, murmelte Arri eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen. »Vielleicht«, antwortete ihre Mutter. Aber das war nicht der wirkliche Grund, fügte Arri in Gedanken hinzu, so wenig, wie es tatsächlich an Targan lag, dass sie Dragosz nicht hatte mit hierher bringen wollen. Irgendwie schien das Verhält-

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nis zwischen Lea und dem schwarzhaarigen Fremden doch um einiges komplizierter zu sein, als Arri bisher angenommen hatte. Und ihre eigene Rolle dabei machte es auch nicht unbedingt einfacher. »Irgendwann wird er es kennen lernen«, sagte sie. »Nein«, antwortete Lea. »Das glaube ich nicht. Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich hierher komme.« »Wieso?« »Weil wir fortgehen werden«, erinnerte Lea. »Und du willst mir immer noch nicht sagen, wohin«, vermutete Arri. Ihre Mutter schwieg eine ganze Weile. Sie ließ sich wieder in die Hocke sinken und fuhr dem Wolf mit der Hand über Kopf und Nacken, aber das tat sie zweifellos nur, um ihre Finger zu beschäftigen und Zeit zu gewinnen. Der Wolf schien das zu spüren, denn er entzog sich ihrer Berührung zwar nicht, blickte aber weiter sehr aufmerksam in Arris Gesicht hinauf, und schließlich, gerade als Arri zu dem Schluss gekommen war, dass ihre Mutter gar nicht auf ihre Frage antworten würde, sagte sie: »Wir gehen mit Dragosz.« Seltsam - Arri war nicht einmal überrascht. Irgendwie hatte sie es gewusst. »Und wann?« Lea hob die Schultern. »Ich hoffe immer noch, dass uns Zeit bis zum Frühjahr bleibt, aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Sarns Aktivitäten gefallen mir nicht. Vielleicht müssen wir schon bald gehen.« Arri fragte sich ganz ernsthaft, ob Dragosz überhaupt etwas von den Plänen ihrer Mutter wusste. Wahrscheinlich schon, aber sicher war es nicht. Dann verscheuchte sie den Gedanken. »Zu seinem Volk?«, vermutete sie. »Ja«, antwortete Lea. »Es wird dir dort gefallen.« »Woher weißt du das?«, fragte Arri. »Du warst doch noch gar nicht bei ihnen.« »Weil ich sicher bin, dass es an jedem Ort besser ist als an dem, an dem wir jetzt leben«, antwortete Lea. »Zumindest, seitdem Sarn die Schlinge enger um meinen Hals zu ziehen versucht.« Und wenn nicht?, dachte Arri. Was ist, wenn du dich täuschst? Sie

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war völlig verstört. Ein Teil von ihr war zwar vollkommen empört über ihre eigenen Gedanken - wie konnte sie es nur wagen, Dragosz irgendetwas anderes als gute Absichten zu unterstellen? -, ein viel größerer aber wunderte sich doch sehr über die Reaktion ihrer Mutter. Abgesehen von dem Wenigen, was er selbst erzählt hatte, konnte Lea kaum mehr über Dragosz wissen als sie selbst, und wenn es tatsächlich stimmte, dass sein Volk jenseits der Berge lebte, konnte sie darüber erst recht nichts wissen, denn sie war so wenig wie Arri oder irgendein anderer, den sie kannten, jemals in diesem Land hinter den Bergen gewesen. Dass Lea einem anderen Menschen so vorbehaltlos glaubte (oder wenigstens so tat als ob), war mehr als ungewöhnlich, und es konnte dafür eigentlich nur zwei Gründe geben - sie war entweder blind vor Liebe oder vollkommen verzweifelt. Arri war nicht sicher, welche Möglichkeit sie mehr fürchten sollte. Leichte Schritte näherten sich auf der Treppe. Der Kopf des Wolfes fuhr mit einer ruckartigen Bewegung herum, und ein aufmerksamer, aber nicht besorgter Ausdruck erschien in seinen Augen. Auch Lea sah hoch und wirkte für einen winzigen Moment, in dem sie sich nicht vollends in der Gewalt hatte, einfach nur erleichtert. Das Gespräch musste ihr wohl doch unangenehmer gewesen sein, als sie zugeben mochte. Gleich darauf erschien Runa wieder unter der Tür, und kaum erblickte sie Lea und den Wolf, verfinsterte sich ihr Gesicht auch schon wieder - falls es darauf überhaupt jemals so etwas wie einen freundlichen Ausdruck gegeben hatte, dachte Arri. »Da bist du ja«, sagte sie, in tadelndem Ton und an den Wolf gewandt. »Ich habe dich schon im ganzen Haus gesucht. Du weißt doch, dass Vater nicht will, dass du unseren Besuch belästigst.« Als hätte der Wolf die Worte verstanden, senkte er den Kopf und trat rasch und mit angelegten Ohren an Runas Seite, während Arris Mutter sich zu sagen beeilte: »Es ist nicht seine Schuld. Wenn du auf jemanden böse sein willst, dann auf mich. Er hat anscheinend nicht vergessen, wie sehr ich ihn als Welpe verwöhnt habe.« Während Arri sich verwirrt fragte, warum ihre Mutter eigentlich einen Wolf in Schutz nahm, blickte Runa nun zu ihr hinüber, und der Ausdruck von mit Ärger gemischter Herablassung auf ihrem Gesicht

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nahm tatsächlich noch zu. Dann aber hob sie die Schultern und machte eine unfreundliche Kopfbewegung auf die offene Tür hinter sich. »Vater möchte dich sehen. Ich glaube, er braucht deine Hilfe.« »Was ist geschehen?«, fragte Lea besorgt. »Ich weiß nicht«, antwortete Runa. Arri spürte, dass das nicht die Wahrheit war, aber das Mädchen gab sich nicht einmal Mühe, überzeugend zu wirken. »Ich soll dich nur holen.« Leas Unruhe wuchs, was Arri gut verstehen konnte - nachdem Targan so gegen die Regeln der Gastfreundschaft verstoßen hatte, indem er sie praktisch hier oben einsperrte, würde er sie gewiss nicht aus einer bloßen Laune heraus zu sich rufen. Irgendetwas musste passiert sein. Irgendetwas passierte eigentlich immer in letzter Zeit. »Gut«, sagte Lea nach kurzem Überlegen. »Ich komme mit. Arianrhod, du wartest hier auf mich.« »Ich komme auch mit«, erwiderte Arri vielleicht ein bisschen zu scharf. Ihre Mutter blickte sie kurz und beinahe wütend an, gab dann jedoch zu Arris Überraschung nach. »Also gut«, seufzte sie. »Aber du redest mit niemandem. Hast du das verstanden?« Arri war so überrascht, dass sie nur wortlos nickte, während es in Runas Augen eindeutig schadenfroh aufblitzte. Als sie sich umdrehte, um als Erste die dunkel daliegende Stiege hinunterzugehen, zog sie den Wolf grob an einem Ohr mit sich. Arri zog ärgerlich die Stirn kraus, verbiss sich aber jede Bemerkung. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht, und das Tier war für einen Wolf außergewöhnlich sanftmütig, wenigstens hoffte sie es für Runa. Wenn nicht, würde sie vielleicht auf eine ziemlich drastische Weise den Unterschied zwischen einem Hund und einem Wolf herausfinden… Runa bewegte sich auf der vollkommen dunklen Stiege mit der traumwandlerischen Sicherheit eines Menschen, der in dieser Umgebung geboren war und sein gesamtes Leben hier verbracht hatte, und auch Lea wirkte fast ebenso sicher. Arri gab sich alle Mühe, mit den beiden Schritt zu halten, streckte aber trotzdem im Dunkeln beide Arme zur Seite aus, um sich mit den Händen an den rauen Wänden

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entlangzutasten. »Zieh den Kopf ein«, sagte Lea vor ihr, als sie das Ende der Stiege erreicht hatten. »Warum?«, fragte Arri und bedauerte die Frage schon im nächsten Augenblick, denn sie bekam prompt eine Antwort, wenn auch keine, die sie sich gewünscht hätte: Sie knallte mit der Stirn gegen ein Hindernis, das vermutlich ein niedriger Türsturz aus Holz war, sich in diesem Moment aber wie massiver Stein anfühlte. Arri biss die Zähne zusammen, als ein glühender Pfeil durch ihren gesamten Schädel bis in den Nacken hinunterschoss, und irgendwie gelang es ihr sogar, jeglichen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Dennoch musste der Laut, mit dem sie gegen den Türsturz geknallt war, verräterisch genug gewesen sein. Irgendwo in der Dunkelheit vor ihr erklang das leise, schadenfrohe Lachen ihrer Mutter. »Weil die Türen hier ziemlich niedrig sind. Aber ich glaube, das weißt du schon.« Arri verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort - schon, weil ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb und sie wusste, dass man es auch ihrer Stimme angehört hätte -, schloss aber dichter zu ihrer Mutter auf und verspürte eine heftige Erleichterung, als vor ihnen endlich wieder rotgelber Lichtschein zu sehen war. Sie vermutete vor sich eine weitere Tür und zog sicherheitshalber den Kopf ein, dann bogen sie um eine Ecke, und endlich konnte sie wieder sehen und nicht nur hören und tasten. Der Anblick, der sich ihr bot, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür trat, war überraschend. Nach dem massiven Eingangsbereich, der schmalen Stiege und der fast leeren Kammer, in die Targan sie geführt hatte, hatte sie einen weiteren, kleinen und finsteren Raum erwartet, der wehrhaft und eng wirkte. Doch zumindest was die Enge anging, befand sie sich im Irrtum. Vor ihnen erstreckte sich ein Raum, der sich über einen gut Teil des gesamten Gebäudes erstrecken musste, denn in der Wand zu ihrer Linken gewahrte sie die allermeisten der Fenster, deren Lichtschein sie hierher geführt hatte, und er wirkte eng, war es aber nicht wirklich. Dieser Eindruck kam eher zustande, weil er trotz seiner erstaunlichen Größe hoffnungslos überfüllt war. Es gab gleich drei offene Feuerstellen, die nicht nur

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rotes Licht, sondern auch anheimelnde Wärme verbreiteten, und Arri gewahrte in der rauchgeschwängerten Luft auf Anhieb ein halbes Dutzend Lager, die so um diese Feuerstellen gruppiert waren, dass die darauf schlafenden Menschen möglichst viel Wärme abbekamen. Die Fenster an der gegenüberliegenden Wand sahen auf den ersten Blick ebenfalls geöffnet aus, doch dann erkannte Arri, dass sie sich getäuscht hatte. Sie waren mit straff gespannten Rinder- oder Schweineblasen verschlossen, sodass zwar Tageslicht durchschimmern, aber nicht übermäßig viel Wärme entweichen konnte. An der Wand erhob sich eine Konstruktion, die dem Vorratsregal ihrer Mutter ähnelte, aber ungleich größer und massiver war und so hoffnungslos voll gestopft mit allen möglichen Dingen, dass Arri erst gar nicht versuchte, sie allesamt zu erkennen. Vielleicht ein Dutzend Menschen hielten sich hier drinnen auf: Männer, Frauen und Kinder unterschiedlichen Alters, aber nahezu alle mit den gleichen schmutzigen Gesichtern und Händen. Sie sah (und vor allem roch sie sie!) auch Tiere, die ganz offensichtlich zusammen mit den Bewohnern dieses Hauses hier drinnen lebten - ein oder zwei Ziegen, ein Schwein, das in einer Ecke lag und ein halbes Dutzend Ferkel säugte, die die Menschen nach Einbruch der Dunkelheit wohl hereingeholt hatten, damit sie keinem Raubtier zum Opfer fielen oder einfach davonliefen. All die unterschiedlichen Bewohner dieses höchst sonderbaren Hauses schienen sie und ihre Mutter (vor allem aber sie) mit der gleichen, misstrauischen Neugier anzustarren. Über Targans Gesicht huschte ein flüchtiges Stirnrunzeln, als er sah, dass Lea nicht allein heruntergekommen war, doch er enthielt sich jeder Bemerkung, drehte sich nur um und bedeutete Lea mit einem ungeduldigen Wink, ihm zu folgen. Arri machte zwei rasche Schritte, um noch schneller zu ihrer Mutter aufzuschließen. »Was ist?«, fragte Lea. »Ich hatte gehofft, deine Hilfe nicht zu brauchen. Aber der Zustand eines unserer Gäste hat sich verschlechtert.« Targan wedelte weiter mit einer Hand herum, sodass es Arri fast wie eine zweite, lautlose Sprache vorkam, mit der er ihrer Mutter vielleicht etwas mitzuteilen

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versuchte, was er nicht laut aussprechen wollte, wies aber zugleich auch mit der anderen Hand auf einen Punkt fast am Ende des großen Raumes. Neugierige Blicke folgten ihnen, als sie darauf zusteuerten. Arri hätte sie gern erwidert, doch stattdessen eilte sie so dicht hinter ihrer Mutter her, dass sie Acht geben musste, ihr nicht in die Fersen zu treten, und hielt den Blick dabei fast furchtsam gesenkt. Hier drinnen herrschte eine sonderbare Stimmung; etwas, das sie nicht wirklich in Worte fassen, aber überdeutlich spüren konnte. Targan führte sie zum anderen Ende des Raumes und trat dann beiseite, um Lea Platz zu machen. Im allerersten Moment konnte Arri nicht viel erkennen, denn ihre Mutter und Targan versperrten ihr die Sicht, dann aber bemerkte sie drei Männer, die um eine mit sorgsam ausgesuchten, gleich großen Steinen eingefasste Feuerstelle saßen. Genauer gesagt, saßen zwei von ihnen. Der dritte lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, aber er schlief nicht, und wenn doch, dann phantasierte er, denn er warf unentwegt den Kopf hin und her, und auch seine Hände bewegten sich unablässig, wobei seine schmutzigen Fingernägel scharrende Geräusche auf dem Boden aus hartem Holz verursachten. Wie auch die beiden anderen hatte er langes, verfilztes Haar und einen womöglich noch ungepflegteren Bart, und genau wie sie trug er einfache Schnürsandalen und einen Rock aus einem struppigen Fell sowie einen Umhang, der früher einmal das flauschige Vlies eines Wisents gewesen war. Während seine beiden Kameraden den Umhang jedoch eng um die Schultern geschlungen hatten, als frören sie trotz der anheimelnden Wärme hier drinnen noch immer, war der seine wie eine Decke über seinen Körper ausgebreitet und bis zum Kinn hochgezogen. Das Gesicht des Fremden glänzte vor Schweiß, und Arri konnte seiner Haut ansehen, wie sehr sie glühte. »Was ist mit ihm?«, fragte Lea, während sie mit raschen Schritten um das Feuer herumging und sich neben dem Fiebernden auf ein Knie herabsinken ließ. Einer der beiden Männer starrte sie nur finster an, und hätte es irgendeinen Grund für diese Annahme gegeben, Arri hätte geschworen, einen gehörigen Anteil Feindseligkeit in seinem Gesicht zu lesen, doch der andere sagte: »Er war unvorsichtig. Woll-

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te einen Wisent erlegen, aber wir haben ihn gewarnt, der Herde nicht zu nahe zu kommen. Es war ein Bulle dabei. Er wollte nicht hören.« Lea bedachte den Mann mit einem kurzen, zweifelnden Stirnrunzeln, dann streckte sie die Hand aus und schlug den zur Decke umgewandelten Umhang über dem Brustkorb des Verletzten mit einem Ruck zurück. Darunter kam ein wenig kunstvoll angelegter Verband aus Blättern zum Vorschein, der fast zur Gänze durchgeblutet war und dem Verletzten das Aussehen eines Buckeligen verlieh. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, griff Lea zu und entfernte den Verband. Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie die schreckliche Wunde sah, die darunter zum Vorschein kam. Obwohl sie schon einen halben Tag alt sein musste, blutete sie noch immer, und Arri kam es beinahe wie ein kleines Wunder vor, dass der Mann überhaupt noch lebte. Seine Schulter war schrecklich verstümmelt. Das Schlüsselbein trat in einem offenen Bruch zutage, und unter dem roten, nässenden Fleisch war auch der weiße Knochen seines Schulterblatts zu sehen. Die Wunde verströmte einen schwachen, aber ebenso bezeichnenden Geruch, der Arri verriet, dass der zerschmetterte Knochen und die durchtrennten Muskeln und Adern nicht einmal das Schlimmste waren, was dieser Mann davongetragen hatte. »Das war ein Bulle, sagt Ihr?«, fragte Lea. Der Mann, der schon einmal geredet hatte, nickte abgehackt. Irgendwie wirkte die Bewegung trotzig. »Wir haben ihn gewarnt«, wiederholte er. »Und Euer Freund hätte besser auf Euch gehört«, fügte Lea hinzu. Sie begutachtete die Wunde noch einmal ausgiebig, ohne sie mit den Fingern zu berühren, richtete den Oberkörper dann wieder auf und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann nichts mehr für ihn tun. Er hat schon zu viel Blut verloren, und die Wunde ist brandig.« Der Mann schwieg, doch Targan sagte: »Aber er wäre nicht der Erste, den du rettest. Deine Heilkünste sind überall im Land berühmt.« »Hättest du mich eher gerufen, hätte ich vielleicht noch etwas tun können.« Leas Stimme klang sonderbar teilnahmslos. »Jetzt ist es zu

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spät. Und die Wunde sitzt an einer unglücklichen Stelle. Wäre es ein Arm oder die Hand, hätte er vielleicht noch eine Aussicht zu überleben. Aber so?« Sie schüttelte abermals den Kopf. »Was soll ich tun? Ihm die Schulter abschneiden?« »Ich habe euch gleich gesagt, dass sie ihm nicht helfen wird«, mischte sich der andere Mann ein, der bisher kein Wort gesprochen, Lea aber unentwegt und mit wachsender Feindseligkeit gemustert hatte. »Lasst uns lieber zu den Göttern beten und ein Opfer bringen, statt ihren Zorn auf uns alle herabzubeschwören, nur weil wir der fremden Hexe vertrauen.« Lea maß den Mann mit einem Blick, den sie ansonsten vielleicht für einen besonders abstoßenden, aber an sich harmlosen Wurm aufgebracht hätte, und reagierte darüber hinaus gar nicht, beugte sich nach einem Moment aber noch einmal über den Fiebernden und unterzog nicht nur seine Schulter, sondern auch den Rest seines Körpers einer aufmerksamen Musterung. Arri tat dasselbe, und es verging nur ein Augenblick, bis ihr auffiel, dass die schreckliche Wunde in der Schulter nicht die einzige war. Dicht unterhalb des Herzens klaffte ein fingerlanger, gebogener Schnitt, der anders als die Schulterwunde nicht mehr blutete, aber ebenfalls tief genug war, dass man an zwei Stellen den weißen Knochen hindurchschimmern sehen konnte, und mindestens drei seiner Finger an der rechten Hand waren gebrochen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch die beiden anderen Männer verletzt waren. Verglichen mit dem, was ihrem Kameraden zugestoßen war, waren es nicht viel mehr als lächerliche Schrammen; ein frisch verschorfter Kratzer auf der Wange des einen, eine noch im Wachstum begriffene Schwellung unter dem Auge des anderen, und die Hände beider waren voll eingetrockneten Blutes, bei dem es sich aber vielleicht auch um das ihres Freundes handeln mochte, den sie hierher getragen hatten. Arri versuchte, den Blick ihrer Mutter aufzufangen, um ihr eine lautlose Frage zu stellen, aber es gelang ihr nicht. Lea musterte den Sterbenden lange und konzentriert und auf eine Art, in der sich teilnahmslose Gleichgültigkeit mit einer vagen Trauer zu mischen schien, dann schüttelte sie noch einmal den Kopf und

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sagte: »Er wird die Nacht nicht überleben. Ich kann euch einen Trank mischen, der sein Fieber dämpft und ihm das Sterben leichter macht. Das ist aber auch schon alles. Es tut mir Leid.« »Wage es nicht, ihn zu berühren!«, zischte der Mann, der sie gerade schon einmal angegriffen hatte. Sein Kamerad warf ihm einen warnenden Blick zu, der dessen Zorn aber nur noch zu schüren schien. »Wage es nicht, ihn anzurühren«, sagte er noch einmal. »Ganz wie du willst«, antwortete Lea kühl und richtete sich endgültig auf. Ihr Umhang fiel bei dieser Bewegung auseinander, sodass man das Schwert sehen konnte, das sie darunter trug. Der Ruhigere der beiden hatte sich gut genug in der Gewalt, um fast überzeugend so zu tun, als hätte er es nicht gesehen, in den Augen des anderen aber blitzte es auf. »Was ist das?«, fragte er. »Ein Weib, das ein Schwert trägt? Wer bist du? Eine Hexe oder einfach nur ein Weib, das seinen Platz in der Welt nicht kennt?« »Warum stehst du nicht auf und versuchst, es herauszufinden?«, fragte Lea in beinahe freundlichem Ton. Nicht nur Arri fuhr erschrocken zusammen. Nach allem, was in den letzten Tagen und vor allem heute geschehen war, konnte sie verstehen, dass ihre Mutter sich nicht mehr so gut in der Gewalt hatte wie sonst - aber eine derartige Antwort hätte sie dennoch nicht erwartet. Auch der andere schien im ersten Moment völlig fassungslos zu sein. Eine Frau mit einem Schwert an der Seite zu sehen mochte ihn verblüfft haben, aber von dieser Frau eine so offene Herausforderung zu hören war offensichtlich mehr, als er im ersten Moment verkraften konnte. Nach einem Atemzug straffte er jedoch die Schultern und machte Anstalten aufzustehen, doch diesmal mischte sich Targan ein. »Genug!«, sagte er scharf. »Ihr seid hierher gekommen, um eine Mahlzeit und einen Platz am Feuer zu verlangen, und ich habe euch beides gewährt, wie es die Gastfreundschaft gebietet. Aber ihr werdet euch wie Gäste benehmen. Ich dulde keinen Streit in meinem Haus!« Einen Herzschlag lang war Arri sicher, dass sich die Feindseligkeit des Bärtigen nun gegen Targan richten musste, und dem zornigen Auflodern in seinem Blick nach zu schließen war diese Vermutung

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zumindest nicht ganz falsch. Derselbe Blick zeigte ihm aber offensichtlich auch, welchem muskelbepackten Riesen er gegenüberstand und wie ernst Targans Warnung gemeint war. Er presste wütend die Lippen aufeinander und ließ sich dann wieder zurücksinken, und auch Lea beließ es bei einem verächtlichen Schulterzucken. »Kommt mit«, sagte Targan. Die Worte galten Lea und Arri. »Wenn ihr schon einmal hier seid, können wir gleich auch unseren Handel besprechen. Und ihr« - er wandte sich an die beiden Männer »bleibt bei eurem Freund und wacht über ihn, bis seine Seele zu den Göttern gegangen ist. Wenn ihr Wasser braucht oder noch hungrig seid, dann ruft nach mir.« Begleitet von ihm und seiner Tochter - und dem Wolf, der keinen Schritt von Runas Seite wich - durchquerten sie den Raum erneut und steuerten eine der anderen Feuerstellen an; ganz gewiss nicht zufällig die, die am weitesten von den drei Fremden entfernt war. Der Platz am Feuer war besetzt, doch die beiden älteren Frauen und der halbwüchsige Junge, die um die wärmende Glut herumsaßen, standen rasch auf und entfernten sich, als Targan und seine Begleiter näher kamen. Arri versuchte, einen Blick in ihre Gesichter zu erhaschen, aber es gelang ihr nicht, denn alle drei wandten fast erschrocken die Köpfe ab, als sie in ihre Richtung sah. Targan bedeutete ihr und ihrer Mutter mit einer fast groben Geste, Platz zu nehmen. Arri und Lea gehorchten, doch als sich auch Runa unaufgefordert zu ihnen setzen wollte, verscheuchte ihr Vater sie mit einer unwilligen Bewegung. Dann fragte er: »Seid ihr noch hungrig? Ich hole euch gern noch etwas zu essen.« Lea lehnte mit einer raschen Kopfbewegung ab, Arri hingegen nickte. Sie hatte ihr Brot ja nur angeknabbert, und den Großteil ihrer Suppe hatte der Wolf gefressen. »Gut«, sagte Targan. »Dann wartet hier.« Arri sah ihm verstört nach, während er auf dem Absatz herumfuhr und davoneilte, nutzte die Gelegenheit aber auch, um sich noch einmal unauffällig, aber auch sehr viel aufmerksamer als das erste Mal umzusehen. Ihre Aufmerksamkeit galt diesmal jedoch nicht der sonderbaren Einrichtung des Raumes, sondern einzig den Menschen.

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Die Ähnlichkeit der Männer, Frauen und Kinder mit Targan beschränkte sich nicht nur auf die schmutzigen Gesichter. Zwei der älteren Männer mochten seine Brüder sein, bei den anderen aber handelte es sich ganz offensichtlich um seine Söhne, möglicherweise auch schon Enkelsöhne. Fast alle senkten hastig die Blicke oder taten so, als wären sie plötzlich mit etwas anderem, furchtbar Wichtigem beschäftigt, wenn sie in ihre Richtung sah, aber der eine oder andere hielt ihrem neugierigen Blick auch stand. Arri las Verunsicherung in ihren Gesichtern, vielleicht in dem einen oder anderen sogar etwas wie Furcht oder Ablehnung, aber eigentlich keine Feindseligkeit. Die seltsame, unangenehme Stimmung, die sie schon beim Eintreten gespürt hatte, musste einen Grund haben, den sie noch nicht begriff. »Wer sind diese Leute?«, fragte sie schließlich, an ihre Mutter gewandt. Sie hatte damit Targan und seine Familie gemeint, aber Lea verstand die Frage offensichtlich falsch. »Auf jeden Fall keine harmlosen Reisenden oder Händler«, antwortete sie besorgt. »Dieser Mann wurde nicht von einem Tier verletzt.« »Es war ein Schwerthieb«, vermutete Arri. Ihre Mutter sah sie überrascht an, nickte dann aber. »Ja. Woher weißt du das?« Weil ich weiß, wer ihn geführt hat, dachte Arri. Laut sagte sie: »Er hatte noch mehr Verletzungen. Einen Schnitt in der Brust, und auch die beiden anderen sahen aus, als wären sie ordentlich verprügelt worden.« Die Antwort mochte nachvollziehbar klingen, war aber dennoch ein Fehler, das begriff sie, noch bevor sie die Worte ganz ausgesprochen hatte. Das Misstrauen in den Augen ihrer Mutter loderte noch heller auf, und Arri fügte hastig hinzu: »Glaubst du, dass sie selbst ihren Kameraden angegriffen haben?« Lea antwortete nicht, sondern sah sie nur mit schräg gehaltenem Kopf und fast noch misstrauischer an. »Vielleicht sind sie in Streit geraten«, fuhr Arri fort. »Zumindest der eine sah mir ganz so aus, als ob nicht viel dazugehören würde, um ihn dazu zu bringen, sein Schwert zu ziehen.« »Sie hatten keine Schwerter«, sagte Lea.

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»Die haben sie mit Sicherheit draußen versteckt«, antwortete Arri. »Vielleicht haben sie diese Geschichte nur erfunden, weil sie Angst vor der Rache der Familie des Sterbenden haben.« Leas Misstrauen war immer noch nicht ganz zerstreut, das sah Arri ihr an, aber immerhin schien sie über ihre Worte nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie sah sich rasch und sichernd nach rechts und links um, wie um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie belauschte, bevor sie antwortete. »Nein. Sie sind unseretwegen hier. Meinetwegen.« »Wieso?«, murmelte Arri überrascht. Woher konnte ihre Mutter das wissen? »Du hast die Spuren doch auch gesehen, oder?«, fragte Lea, und nun wurde ihr Blick bohrend. Arri hielt ihm vielleicht nur noch stand, weil sie wusste, dass ihre Mutter sie einfach durchschauen musste, wenn sie jetzt nicht unbeirrbar dabei blieb, die Unwissende zu spielen. Und sie war ziemlich sicher, dass sie ihr ein zweites Mal nicht so leicht vergeben würde. »Außerdem kenne ich einen von ihnen«, fügte Lea nach einer Weile und in leiserem, fast resignierendem Ton hinzu. Sie deutete mit den Augen eine Kopfbewegung an. »Der Ruhigere von beiden. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Er gehört zu Nors Kriegern.« »Sie kommen aus Goseg?«, entfuhr es Arri; offensichtlich eine Spur zu laut, denn ihre Mutter zuckte leicht zusammen und warf ihr einen erschrockenen Blick zu, vorsichtig zu sein. Fast unmerklich nickte sie. »Ja. Den einen habe ich schon einmal in Nors Begleitung gesehen, und die beiden anderen gehören ganz gewiss zu ihm. Sie müssen uns gefolgt sein. Er weiß vermutlich nicht, dass ich ihn erkannt habe, aber wir müssen vorsichtig sein.« »Aber du hast doch gesagt, dass niemand etwas von diesem Ort weiß.« »Das dachte ich bislang auch. Vielleicht habe ich sie hierher geführt. Ein Grund mehr, auf der Hut zu sein.« »Dann… dann müssen wir hier weg«, meinte Arri. »Bevor…« Ihre Mutter unterbrach sie mit einer besänftigenden Handbewegung. »Keine Angst. So lange wir hier in Targans Haus sind, kann

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uns nichts geschehen. Niemand hat es je gewagt, in diesem Haus gegen die Regeln der Gastfreundschaft zu verstoßen… oder sagen wir es so: Niemand hat diesen Versuch je überlebt.« Und das sollte sie beruhigen? »Aber wir können doch nicht…« »Wir müssen vor allem Ruhe bewahren«, unterbrach sie Lea abermals. »Ich weiß nicht, was diesen drei Männern zugestoßen ist, doch das bietet uns einen Vorteil, den wir nutzen sollten. Wenn sie von irgendjemandem angegriffen wurden, dann haben wir vielleicht einen Freund; unsere Feinde haben demnach Feinde, was ja auch nicht unbedingt das Schlechteste ist, was uns passieren kann.« Targan kam zurück. Er hielt eine Schale mit Suppe in der rechten Hand, und hätte Arri noch daran gezweifelt, dass Runa wirklich seine Tochter war, wären diese Zweifel jetzt zerstreut worden, denn auch er hatte den rechten Daumen in die Suppe getaucht. Wortlos nahm er zwischen ihr und ihrer Mutter Platz, reichte ihr die Schale und steckte den schmutzigen Daumen in den Mund. Arri hatte plötzlich gar keinen großen Hunger mehr, zumal Targan weder Brot noch einen Löffel mitgebracht hatte, bedankte sich aber dennoch mit einem artigen Nicken, als er ihr einen auffordernden Blick zuwarf, und setzte die hölzerne Schale gehorsam an die Lippen. Ihre Mutter versuchte ihr mit Blicken etwas zu bedeuten, das sie nicht verstand, und Targan wandte sich mit einem unbewusst ächzenden Laut endgültig an Lea. »Ich muss mich für das Benehmen dieser Männer entschuldigen, Leandriis.« Beim ersten Mal war es Arri nicht wirklich aufgefallen, jetzt aber bemerkte sie, dass Targan ihre Mutter offensichtlich immer mit ihrem wirklichen Namen anredete, was ihr weit mehr über das Vertrauen verriet, das sie diesem Mann entgegenbrachte, als alles andere. »Sie sind nicht lange vor euch gekommen und haben unsere Gastfreundschaft beansprucht. Ich hatte gleich kein gutes Gefühl dabei. Sie gefallen mir nicht.« »Aber du wirst niemals jemanden wegschicken, der zu dir kommt und ein Lager für die Nacht und eine warme Mahlzeit erbittet«, sagte Lea sanft. »Das ist einer der Gründe, aus denen ich stolz bin, dich meinen Freund nennen zu können.« Targan schüttelte fast ärgerlich den Kopf. »Es ist einer der Gründe,

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der mir schon oft eine Menge Ärger eingebracht hat. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde nicht dulden, dass dir unter meinem Dach ein Leid zugefügt wird. Obwohl…«, er schwieg einen Atemzug lang, und für die gleiche Zeitspanne huschte ein schwer zu deutendes Lächeln über seinen Lippen, »… obwohl ich nicht sicher bin, wer wem ein Leid zufügen würde, wenn es so weit käme.« »So weit wird es nicht kommen«, versprach Lea. »Wir werden gleich morgen bei Sonnenaufgang abreisen.« »Ach, Unsinn!«, sagte Targan mit einer wegwerfenden Geste. »Wenn jemand dieses Haus morgen verlässt, dann bestimmt nicht du, Leandriis. Das Gesetz der Gastfreundschaft gilt bei Sonnenaufgang nicht mehr. Wir werden sehen, wer dann geht.« »Ich will nicht, dass ihr unseretwegen…«, begann Lea, doch Targan unterbrach sie erneut und mit einer diesmal fast zornigen Handbewegung. »Mit dir oder deiner Tochter hat meine Entscheidung wenig zu tun, Leandriis. Du bist immer ein gern gesehener Gast in meinem Haus, doch es spielt keine Rolle, ob du es bist oder nur irgendein Fremder, der um ein Dach für eine Nacht bittet. Wer das Gesetz der Gastfreundschaft in meinem Haus beleidigt, der beleidigt mich. Diese beiden Männer werden gehen, sobald es hell wird, spätestens aber, wenn ihr Kamerad gestorben ist. Du und deine Tochter, ihr könnt bleiben, so lange ihr wollt.« Er machte eine scharfe Handbewegung, um jeden möglichen Widerspruch Leas von vornherein wegzufegen. »Meine Söhne und ich werden dich bis zur Grenze unseres Gebietes begleiten, und darüber hinaus bis zu deinem Dorf, wenn es nötig sein sollte.« »Bevor wir über das Gehen sprechen, sollten wir vielleicht erst einmal über den Grund unseres Kommens reden«, antwortete Lea mit einem knappen, aber sehr warmen Lächeln. »Es ist spät. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber unsere Zeit ist begrenzt.« Targan wirkte enttäuscht, vielleicht sogar ein bisschen verärgert. Vielleicht verstieß Lea mit ihrer direkten Art gegen irgendein schwer zu durchschauendes Ritual, das er beim Handeln voraussetzte. »Und was genau brauchst du?« »So ziemlich alles. Was ihr an Werkzeug erübrigen könnt, Kupfer,

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Zinn…« Targan zog leicht verwundert die Augenbrauen zusammen. »Du willst es tatsächlich noch einmal mit dem Schmieden riskieren?« »Vorerst nur mit dem Bronzeschmieden. Alles andere macht zur Zeit keinen Sinn.« »Du solltest dich trotzdem vorsehen«, beharrte Targan. »Nach allem, was ich gehört habe, traue ich eurem Schamanen jede Schandtat zu. Er wartet doch nur darauf, dass du einen Fehler machst.« »Ich habe tatsächlich schon einen Fehler gemacht«, sagte Lea hastig. Targans Worte waren ihr ganz offensichtlich unangenehm. »Aber derselbe Fehler wird mir nicht noch einmal unterlaufen, keine Sorge.« »Nach dem, was du erzählt hast, war es nicht deine Schuld, dass euer Schmied erblindete«, antwortete Targan. »Wie willst du verhindern, dass andere Fehler machen?« »Indem ich sie diesmal besser unterrichte«, sagte Lea. »Derselbe Fehler wird mir kein zweites Mal unterlaufen«, beharrte sie. »Und ich kann diese Menschen nicht einfach so zurücklassen, nach all der Zeit.« »Da sie so freundlich und zuvorkommend zu dir waren, vermute ich?«, fügte Targan spöttisch hinzu. »Das spielt keine Rolle«, entgegnete Lea. »Wir haben bei ihnen gelebt. Meine Tochter ist bei ihnen aufgewachsen. Hätten sie uns damals nicht aufgenommen, wären wir vielleicht heute beide nicht mehr am Leben.« Sie begleitete diese Worte mit einem sonderbaren Blick in Targans Gesicht, der ihm unangenehm zu sein schien, denn er hielt ihm nur ganz kurz stand, bevor er sich in ein unglückliches Lächeln rettete. Arri hatte plötzlich das intensive Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Unbehaglich drehte sie sich um und erkannte, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Nahezu lautlos hatte sich der Wolf wieder genährt. Er stand gerade einmal zwei Schritte hinter ihr und sah sie aus seinen unergründlichen Augen an, und als hätte er nur darauf gewartet, dass Arri aufsah, überwand er nun auch noch die restliche Entfernung und begann schon wieder, an ihren Händen zu schnüffeln. Arri wusste

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mittlerweile, dass das Tier vollkommen harmlos war, aber das änderte nichts daran, dass sie innerlich vor Furcht erstarrte. Alles, was sie konnte, war, ihrer Mutter einen stummen, Hilfe suchenden Blick zuzuwerfen, den Lea gewiss nicht übersah. Dennoch blickte sie geflissentlich in eine andere Richtung, und auch Targan tat so, als bemerke er gar nicht, was sich unmittelbar neben ihm abspielte. »Dann kommen wir zu einer anderen Frage«, fuhr er in verändertem Ton und mit einer fahrigen Geste in die Runde fort. »Du bist mit einem großen Wagen gekommen, weil du viel mitnehmen willst.« Der Wolf hatte mittlerweile aufgehört, Arris Hände zu beschnüffeln. Seine feuchte Nase näherte sich ihrer Suppenschale. Lea nickte. »Und jetzt möchtest du wissen, welche Gegenleistung ich dir bieten kann.« »Freundschaft ist ein kostbares Gut«, sagte Targan. »Aber es macht nicht satt, und es wärmt allenfalls die Seele, nicht den Körper, wenn draußen Schnee fällt und der Wind ums Haus heult.« »Den einen oder anderen vielleicht doch«, sagte Lea mit einem kurzen, belustigten Blick in Arris Richtung. Arri hatte sich mittlerweile so weit zurückgebeugt, wie sie es im Sitzen konnte, ohne Gefahr zu laufen, das Gleichgewicht zu verlieren und nach hinten zu kippen, aber die schnüffelnde Nase des Wolfes folgte der Bewegung beharrlich. Targan folgte ihrem Blick, runzelte die Stirn und machte eine wenig überzeugende Bewegung, um das Tier zu verscheuchen. Tatsächlich wich der Wolf einen halben Schritt zurück, aber nicht weiter, und setzte sich auf die Hinterläufe. Er begann zu hecheln. Sein Blick tastete gierig über die Suppenschale in Arris Händen; zumindest hoffte sie, dass es die Schale war, die er anstarrte. »Targan«, sagte Lea mild. Targan tat noch einen halben Atemzug lang so, als verstünde er gar nicht, was sie überhaupt wollte, doch schließlich drehte er sich um und winkte seine Tochter herbei. Arri sah erst jetzt, dass Runa offensichtlich schon die ganze Zeit in geringem Abstand dagestanden und die Szene mit unverhohlener Schadenfreude beobachtet hatte. »Runa. Bring dein Tier weg. Es belästigt unseren Besuch.« »Oh, das… das ist schon in Ordnung«, sagte Arri zögernd. »Er stört

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mich nicht… wirklich nicht.« Sie setzte die Suppenschüssel auf dem Boden ab, damit sie die Hände frei hatte, um dem Wolf über den Kopf zu streichen und ihre Behauptung zu beweisen (und vor allem, damit niemand sah, wie stark ihre Finger zitterten), und wenn schon nicht die Worte, so erwies sich doch zumindest die Bewegung schon wieder als Fehler, denn der Wolf kam unverzüglich wieder näher und tauchte die Schnauze in ihre Suppe. »Ich sehe, dass du die Kochkunst meiner Frau zu schätzen weißt«, sagte Targan spöttisch. »Ich werde ihr ausrichten, wie sehr es dir gemundet hat.« »Ich war… eigentlich gar nicht mehr hungrig«, sagte Arri hastig. »Aber die Suppe war sehr gut. Wirklich.« Targans Blick ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was er von dieser Behauptung hielt, doch sie las auch weiter nur gutmütigen Spott in seinen Augen, keinen wirklichen Ärger. Dennoch hatte sie plötzlich das Gefühl, vor Scham im Boden versinken zu müssen. »Warum zeigst du Arianrhod nicht das Haus, Runa?«, fragte Lea plötzlich. »Ich bin sicher, sie hält es vor Neugier schon gar nicht mehr aus, alles zu sehen und kennen zu lernen.« Das war so ungefähr das Allerletzte, wonach Arri in Wahrheit der Sinn stand, aber ihre Mutter ließ den fast entsetzen Blick unbeachtet, den sie ihr zuwarf, und winkte Targans Tochter im Gegenteil mit einer Handbewegung heran. »Und lasst euch ruhig Zeit«, sagte sie. »Dein Vater und ich haben eine Menge zu besprechen, und ich glaube nicht, dass Arri die ganze Zeit zuhören und sich langweilen will.« Arri presste wütend die Lippen aufeinander, als sie hörte, wie ihre Mutter - und sie war sicher, ganz bewusst - in so herablassendem Ton sprach. Sie sagte nichts dazu, doch in Leas Augen blitzte es kurz und spöttisch auf. Nein, es war kein Zufall gewesen. Was hatte sie ihr eigentlich getan? »Eine gute Idee«, lobte Targan. Wieder winkte er in Runas Richtung, ungeduldiger diesmal, denn das Mädchen hatte bisher keinerlei Anstalten gemacht, seiner Aufforderung nachzukommen, und es setzte sich auch jetzt mit sichtbarem Widerwillen in Bewegung. Targan runzelte flüchtig die Stirn, tat aber ansonsten so, als hätte er die-

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sen kleinen Tribut an Runas Trotz nicht bemerkt, und auch Lea lächelte ihre eigene Tochter an und machte darüber hinaus ein Gesicht, als hätte sie ihr gerade eine ganz besonders große Freude bereitet. Arri versuchte, sie mit Blicken aufzuspießen, was ihre Mutter aber eher noch weiter zu amüsieren schien, woraufhin sich Arri noch einmal und mit einem Gefühl wachsender Frustration in Gedanken dieselbe Frage stellte: Was hatte sie ihrer Mutter eigentlich getan? »Eigentlich bin ich müde«, sagte sie. »Ich würde lieber noch ein wenig hier sitzen bleiben und…« »… dich zu Tode langweilen?« Lea schüttelte entschieden den Kopf. »Glaub mir, es gibt nichts Öderes auf der Welt, als dabei zuzusehen, wie jemand mit diesem zähen alten Burschen hier schachert.« Sie blinzelte Targan zu. »Targan behauptet zwar, jedermanns Freund zu sein, doch beim Handeln hört die Freundschaft für ihn auf.« »Man muss sehen, wo man bleibt«, erwiderte Targan mit einem breiten Grinsen. »Ich habe eine große Familie und eine Menge Mäuler zu stopfen.« »Ja«, pflichtete ihm Lea bei. »Und jedes Mal, wenn ich dich besuchen komme, scheinen es ein paar mehr geworden zu sein.« Sie grinste plötzlich genau so breit und anzüglich wie der große Mann, wurde aber gleich darauf wieder ernst und wandte sich mit gespieltem Verständnis an Arri. »Aber wahrscheinlich hast du Recht. Der Weg hierher war ziemlich anstrengend, und du musst müde sein. Geh nur. Runa wird dich auf dein Zimmer bringen und dafür sorgen, dass dich niemand stört.«

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21 Runa und ihr vierbeiniger Begleiter hatten sie zurück in die Dachkammer gebracht, die Lea beschönigend als Zimmer bezeichnet hatte, für Arri aber nichts anderes als ein Gefängnis war. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, auf dem Weg nach oben, aber Arri hatte das schadenfrohe Grinsen auf Runas Gesicht regelrecht gespürt, obwohl sie hinter ihr ging. Wortlos hatte sie sie nach oben geführt und sich selbstverständlich auch nicht entblödet, einen anderen Weg zu nehmen als zuvor, sodass Arri in der nahezu vollkommenen Dunkelheit ununterbrochen irgendwo anstieß und sich zwar diesmal nicht den Kopf, wohl aber beide Schienbeine und das rechte Knie prellte und sich eine heftig brennende Schramme auf dem linken Handrücken zuzog. Sie verbiss sich jeden Schmerzenslaut und gab Runa auch nicht die Genugtuung, sich zu beschweren, aber sie verbrachte einen gut Teil der Zeit, die sie für den Weg nach oben brauchten, damit, sich alle möglichen hässlichen Dinge auszumalen, die sie ihr antun könnte. Die kleine Öllampe, die sie zurückgelassen hatten, brannte noch immer, doch es war spürbar kälter geworden. Arri warf dem Mädchen zum Abschied einen giftigen Blick zu, bei dem sie sich allerdings selbst ziemlich albern vorkam. Runa reagierte auch gar nicht darauf, sondern ging wortlos hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Arri wartete einen Moment lang auf das Geräusch ihrer Schritte auf der Stiege. Es kam nicht, aber sie verzichtete auch darauf, sofort zur Tür zu gehen und sie wieder zu öffnen. Sie war ziemlich sicher, dass Runa draußen stand und nur darauf wartete, dass sie ganz genau das tat, und auch diese Genugtuung gönnte sie ihr nicht. Stattdessen ging sie zu ihrer Matratze, setzte sich und wickelte sich so eng in ihren Umhang, wie sie konnte. Es half nicht viel. Es war mittlerweile so kalt hier drinnen, dass sie ihren eigenen Atem als grauen Dampf im blassen Licht der Lampe sehen konnte; aber sie hatte auch nicht vor, allzu lange so sitzen zu bleiben. Um genau zu sein, wartete sie gerade so lange, wie sie es an Runas Stelle getan hätte, wäre sie draußen vor der Tür gewesen - und noch

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eine Winzigkeit länger -, dann stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und presste mit angehaltenem Atem das Ohr gegen das dünne Holz, um zu lauschen. Nichts. Arri gab noch ein halbes Dutzend Herzschläge zu, dann öffnete sie lautlos die Tür, trat in die vollkommene Dunkelheit hinaus und wäre um ein Haar kopfüber die Stufen hinuntergefallen, als sie über den Wolf stolperte, der unmittelbar hinter der Tür lag. Im letzten Augenblick gelang es ihr, die Arme auszustrecken und Halt an den rauen Wänden rechts und links zu finden, dann stolperte sie hastig einen Schritt zurück und ging dann tatsächlich ungeschickt zu Boden, denn der Wolf zeigte sich von ihrem Fußtritt wenig begeistert und schnappte knurrend nach ihr. Mühsam rappelte Arri sich wieder hoch, machte abermals einen Schritt in Richtung Flur und blieb wieder stehen, als das Tier drohend die Zähne fletschte. Allerdings rührte es sich nicht von der Stufe weg, auf der es der Länge nach lag. Wenigstens war das dumme Vieh nicht hier, dachte Arri grimmig, um sie aufzufressen, sondern sollte offensichtlich nur dafür sorgen, dass sie das Zimmer nicht verließ. Einen Moment lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, es einfach darauf ankommen zu lassen und auszuprobieren, wie ernst das Tier seine Aufgabe nahm, aber ein einziger weiterer Blick auf seine gefletschten Zähne ließ sie diesen Gedanken genauso schnell wieder verwerfen, wie er ihr gekommen war. Dieses Ungetüm würde seine Aufgabe ernst nehmen. Übellaunig und in Wahrheit viel wütender auf sich selbst als auf Runa oder gar den Wolf, ging sie zu ihrem Lager zurück und wickelte sich abermals in ihren Umhang. Aus dem großen Abenteuer, als das sie diese Reise bisher trotz allem empfunden hatte, begann allmählich ein mindestens ebenso großer Albtraum zu werden. Dennoch fühlte sie sich fast sofort schläfrig, kaum dass sie sich auf ihrem Lager ausgestreckt und den Umhang eng um sich gewickelt hatte. Ihre Mutter mochte wohl Recht haben, auch wenn sie das niemals offen zugegeben hätte: Die Reise war anstrengend gewesen, und sie war sehr müde. Jetzt, wo sie an ihrem Ziel angelangt waren, glaubte sie jeden Stein und jedes Kaninchenloch noch einmal zu spü-

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ren, über das die großen, hölzernen Räder des Wagens gerumpelt waren. Wahrscheinlich wäre es tatsächlich das Vernünftigste, dass sie versuchte zu schlafen, um morgen wenigstens einigermaßen ausgeruht zu sein, wenn sie sich auf den Rückweg machten. Kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, da machte sich Schläfrigkeit in ihr breit, der fast unmittelbar ein Gefühl bleierner Schwere folgte, das ihre Glieder ergriff. Arri spürte, wie ihre Gedanken wegdrifteten, und verscheuchte das Gefühl hastig. Sie wollte nicht einschlafen, so müde sie auch war; nicht jetzt, eingesperrt und allein in diesem kalten Raum, wo dies doch eigentlich der aufregendste Tag ihres bisherigen Lebens sein sollte. Obwohl sie im Grunde ganz genau wusste, wie albern dieses Benehmen war, nahm sie sich schon aus schierem Trotz vor, wach zu bleiben, bis ihre Mutter kam, und sei es nur, um ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten, wenn sie zurückkam und sie frierend hier fand. Mit diesem Gedanken schlief sie ein und erwachte in vollkommener Dunkelheit und von dem eindringlichen Gefühl geweckt, nicht mehr allein zu sein. Im allerersten Moment dachte sie, es wäre ihre Mutter, die ihre Verhandlungen mit Targan endlich zum Abschluss gebracht hatte und heraufgekommen war, um sich schlafen zu legen, aber dann hörte sie das Tappen schwerer Pfoten und verspürte einen leisen Raubtiergeruch, und ein jäher Schrecken durchfuhr sie. Der Wolf war hier hereingekommen, und vielleicht würde er sich ja einen saftigeren Happen holen, wenn sie diesmal keine Suppe hatte, um ihn zu füttern. Mit einer hastigen Bewegung richtete sie sich auf und versuchte, aus weit aufgerissenen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Es gelang ihr nicht, aber links von ihr ertönte ein gedämpftes Scharren, wie der Laut scharfer Krallen auf Holz, und dann sagte eine Stimme aus der entgegengesetzten Richtung: »Das solltest du lieber nicht tun. Er kann hastige Bewegungen nicht leiden, weißt du?« Erschrocken - und noch hastiger - drehte Arri den Kopf in die andere Richtung und gewahrte immerhin einen blassen Schatten, der sich vor einem mattroten Rechteck abzeichnete; die Tür, an deren unterem Ende Licht schimmerte. »Runa?«, murmelte sie benommen.

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»Was tust du denn hier?« Der Schatten machte eine hastige, wedelnde Geste, und aus der Stimme wurde ein erschrockenes Zischen. »Nicht so laut! Oder willst du, dass sie uns hören?« »Wie?«, murmelte Arri benommen. »Wen meinst du mit sie?« Obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug, war sie noch immer schlaftrunken und hatte Mühe, den Worten eine Bedeutung abzugewinnen. Sie spürte, dass nicht viel Zeit vergangen war, seit ihr die Augen zugefallen waren, aber das Mädchen hatte sie aus einer Phase tiefsten Schlafes gerissen, sodass es ihr schwer fiel, mit der gewohnten Schnelligkeit ins Wachsein zurückzufinden. »Eure Freunde«, antwortete Runa. »Die Fremden.« »Die drei Männer?« Arri blinzelte verschlafen und gähnte im Dunkeln ungeniert mit weit offenem Mund. »Das sind nicht unsere Freunde.« »Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Runa spitz. »Aber warum verschwende ich überhaupt meine Zeit mit dir? Sag mir einfach, wo deine Mutter ist, und ich spreche gleich mit ihr.« Das reichte, um Arri endgültig aufzuwecken. »Was soll das heißen - sag mir, wo deine Mutter ist?« Sie wandte den Kopf in die Richtung, in der sie Lea vermutete, sah aber nichts anderes als vollkommene Dunkelheit. »Ist sie denn nicht unten bei euch?« »Wäre sie es, wäre ich kaum hier heraufgekommen«, antwortete Runa schnippisch, fügte aber dann doch erklärend hinzu: »Sie ist schon vor einiger Zeit gegangen und hat gesagt, sie wolle sich schlafen legen. Ich dachte, sie wäre hier.« Arri lauschte konzentriert in die Schwärze hinein, ob sie vielleicht die Atemzüge ihrer Mutter hörte; immerhin war es hier oben so dunkel, dass man nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Aber da war nichts. Die einzigen Atemzüge, die sie hörte, waren ihre eigenen und die des Mädchens und seines Wolfs. Außerdem hätte sie die Nähe ihrer Mutter einfach gespürt. »Was gab es denn so Wichtiges?«, fragte sie. Runa zögerte spürbar, dann hob sie die Schultern. »Der Fremde ist gestorben.«

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»So schnell?« »Deine Mutter hat gesagt, dass er die Nacht nicht überleben wird. Aber vielleicht hätte sie das besser nicht gesagt. Sein Kamerad ist jetzt sehr wütend auf sie. Ich glaube, er gibt ihr die Schuld.« »Meiner Mutter?«, keuchte Arri. »Aber das ist doch Unsinn! Er lag doch schon im Sterben, als wir ankamen.« »Der Kerl ist gefährlich«, maulte Runa. »Wenn ihr nicht gekommen wärt, hätte er sich wahrscheinlich einfach jemand anderen gewählt, dem er die Schuld geben kann. Aber ihr seid nun einmal gekommen.« »Was genau hat er gesagt?«, wollte Arri wissen. »Das weiß ich nicht«, behauptete Runa. »Sie haben geflüstert. Ich konnte nicht alles verstehen, aber der Eine - der vorhin schon so feindselig gegenüber deiner Mutter war - war sehr aufgebracht. Sein Kamerad hat versucht, ihn zu beruhigen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er besonders erfolgreich war. Ich habe ein paar Mal den Namen deiner Mutter gehört, und mehr weiß ich nicht… aber ich dachte mir, es ist besser, wenn ich es euch sage.« Arri nickte zustimmend, und erst dann fiel ihr ein, dass Runa die Bewegung bei der herrschenden Dunkelheit nicht sehen konnte. So weit, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen, war sie allerdings noch nicht. »Wir müssen sie suchen. Hast du gesehen, wo sie hingegangen ist?« »Sicher«, antwortete Runa ärgerlich. »Deshalb bin ich ja auch hierher gekommen, um nach ihr zu sehen, du Dummkopf.« »Aber du weißt doch bestimmt, wohin sie gegangen sein könnte«, sagte Arri gepresst. Sie stand auf. »Nein«, antwortete Runa. »Vielleicht.« Arri konnte hören, wie der Wolf an ihre Seite trat, dann bewegten sich die ledernen Türangeln knarrend. »Ich wüsste jedenfalls, wo ich nach ihr suchen würde.« »Worauf warten wir dann noch?«, fragte Arri. Runa zögerte. »Also eigentlich…« »… sollst du darauf achten, dass ich hübsch artig hier oben bleibe, ich weiß«, fiel ihr Arri ins Wort. »Aber du bist nun einmal hier. Bildest du dir wirklich ein, ich lege mich hin und schlafe in aller Seelen-

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ruhe weiter, wenn meine Mutter in Gefahr ist?« »Ich habe nicht gesagt, dass…«, begann Runa, brach dann aber mit einem Seufzen ab. »Meinetwegen komm mit. Aber ich habe dich nicht gehen lassen, damit das klar ist.« Arri nickte auch diesmal nur wortlos. Was Runa ihr über die Fremden erzählt hatte, war viel zu alarmierend, als dass sie sich noch Gedanken über die albernen Sticheleien des Mädchens machen konnte. Sie war sogar ziemlich sicher, dass Runa ganz genau gewusst hatte, dass ihre Mutter nicht hier oben war, und dieses sonderbare Spielchen nur spielte, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Möglicherweise war sogar die ganze Geschichte von dem toten Fremden und seinen zornigen Kameraden einfach nur ausgedacht; aber die Gefahr, dass sie es nicht war, war einfach zu groß, und so folgte sie ihr die Stiege hinab wie zuvor. Runa bedeutete ihr mit einer übertriebenen Geste, nur keinen verräterischen Laut zu machen, schüttelte aber auch fast im gleichen Augenblick und mindestens genauso übertrieben den Kopf, als Arri an ihr vorbei und durch die Tür in den großen Gemeinschaftsraum treten wollte. Es war wesentlich dunkler geworden - nur noch eine der drei Feuerstellen brannte, und auch sie war im Grunde kaum noch mehr als ein Häufchen dunkelroter Glut, die kaum noch nennenswertes Licht und keine Wärme mehr verbreitete -, und es war sehr still. Jedermann hier schien zu schlafen; abgesehen von einem Säugling, der halblaut und auf sonderbar regelmäßige Weise leise vor sich hinweinte. Dennoch konnte sie erkennen, dass der Platz, an dem die drei Fremden vorhin gesessen hatten, nun leer war. »Wo…«, begann sie, aber Runa unterbrach sie sofort, heftig winkend und Grimassen schneidend, wobei sie auf die andere Tür deutete. Arri war ziemlich sicher, dass sich Runa nur wichtig machte, aber sie verschluckte die spitze Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und folgte dem Mädchen nach draußen. »Wo sind sie?« Runa hob die Schultern; die Bewegung wirkte nicht sehr überzeugend. »Vorhin waren sie noch da«, behauptete sie. »Ich sage doch: Die haben irgendetwas vor.« Sie schwieg kurz, indem sie scheinbar

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konzentriert in die Dunkelheit starrte, und zuckte dann abermals mit den Achseln. »Wir sollten wirklich nach deiner Mutter suchen… Oder ich wecke meinen Vater und erzähle ihm alles.« »Nein!«, sagte Arri fast erschrocken. Runa blinzelte verwirrt, und Arri beeilte sich hinzuzufügen: »Ich meine… du weißt doch gar nicht, ob… ob sie wirklich etwas Böses planen. Vielleicht wollten sie sich ja nur wichtig machen.« Vor wem?, fragte Runas Blick. Sie haben mit niemandem gesprochen. »Wir suchen lieber nach meiner Mutter«, fuhr Arri hastig fort. »Sprechen wir erst mit ihr. Einverstanden? Danach können wir immer noch deinen Vater wecken. Er wird bestimmt ziemlich wütend werden, wenn wir ihn umsonst aufwecken.« Runa sah sie weiter zweifelnd an, was Arri nicht besonders überraschte. Ihre Worte klangen nicht überzeugend, nicht einmal für sie selbst. Und sie waren auch nicht wirklich der Grund für ihr so unübersehbares Erschrecken. Sie wusste nicht, ob Runa sich nicht doch nur über sie lustig machen wollte, aber sie konnte sich gut vorstellen, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie Targan weckten, statt zuerst zu ihr zu kommen. »Meine Mutter«, erinnerte sie. Runa warf ihr einen unwilligen Blick zu, sah sich aber darüber hinaus nur weiter unschlüssig um, sodass Arri nun allmählich überzeugt war, dass sie sich doch nur einen bösen Scherz mit ihr erlaubte. Schließlich deutete sie nach rechts. »Dort.« Arri folgte ihr zwar, aber sie blieb argwöhnisch. Irgendetwas stimmte hier nicht, doch sie hatte immer mehr das Gefühl, dass es nicht das war, was Targans Tochter vorgab. Sie bewegten sich in die Richtung zurück, aus der sie und ihre Mutter am Abend gekommen waren. Ihr Wagen stand noch scheinbar unberührt dort, wo Lea ihn zurückgelassen hatte, doch als Arri im Vorübergehen einen Blick auf die Ladefläche warf, gewahrte sie eine Anzahl Bündel und geflochtener Körbe, die sie ganz eindeutig nicht mit hierher gebracht hatten. Lea und Runas Vater waren sich anscheinend schon größtenteils handelseinig geworden, und offensichtlich hatte Targan auch keine allzu große Angst vor Dieben.

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Arri entging auch keineswegs der kurze, neugierige Blick, mit dem Runa den Wagen streifte. Obwohl sie sich Mühe gab, sich ihre Neugier nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, war Arri doch sicher, dass dem Mädchen diese Bauweise völlig fremd war, was der Behauptung ihrer Mutter, dieser Wagen stamme von Dragosz’ Volk, merklich mehr Gewicht verlieh und ihr zugleich eine Menge über dieses Volk verriet, denn zweifellos sah Runa oft fremde und zum Teil vermutlich auch seltsamere Gefährte. Wenn sie einen solchen Wagen noch nie gesehen hatte, dann musste er wohl tatsächlich von weit herkommen. Sie blieben stehen, als sie den Stall erreichten, in dem ihre Mutter die Pferde untergebracht hatte. Runa legte den Kopf schräg und schien zu lauschen, dann ging sie - schneller - weiter. Arri folgte ihr zwar weiter gehorsam, hielt aber einen vorsichtigen Abstand ein und war sehr angespannt. Wenn Runa glaubte, ihr irgendeinen kindischen Streich spielen zu können, würde sie eine unangenehme Überraschung erleben. Obwohl Arri erwartet hätte, dass sich das Mädchen hier so unmittelbar in seinem Zuhause selbst mit verbundenen Augen zurecht gefunden hätte, wurden seine Schritte immer langsamer, je weiter sie gingen, und auch merklich unsicherer. Schließlich blieb Runa abermals stehen und lauschte, und auch der Wolf hielt inne und stellte aufmerksam die Ohren auf. Arri trat neben Runa und sah sie fragend an. Auch sie lauschte sehr konzentriert, aber sie hörte nichts. Runa bedeutete ihr jedoch mit einem hastigen Blick, still zu sein, und wenn Arri bis zu diesem Moment noch Zweifel gehabt hätte, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte: das, was sie in Runas Augen las, hätte sie endgültig beseitigt. Es verging noch ein kurzer Moment, aber dann hörte sie es auch: Irgendwo in der Dunkelheit vor ihnen waren Stimmen. Zu weit entfernt und zu undeutlich, um die Worte zu verstehen, aber deutlich genug, um sie zu erkennen. Die eine gehörte ihrer Mutter, die andere erkannte sie erstaunlicherweise noch zweifelsfreier, obwohl sie sie bisher nur zweimal gehört hatte: Sie gehörte Dragosz. Runa machte einen zaghaften Schritt, blieb wieder stehen und sah

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sie unschlüssig (oder ängstlich?) an, und sie wirkte eindeutig erleichtert, als Arri ihr mit einer hastigen Geste bedeutete, nicht weiterzugehen. Ihr Wolf stieß ein leises Knurren aus und verstummte augenblicklich, als Runa ihm die Hand zwischen die Ohren legte. »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir zuerst…«, begann sie. »Nicht so laut«, zischte Arri. »Warte hier.« Ohne Runas Reaktion abzuwarten, bewegte sie sich ein paar Schritte weit in Richtung der flüsternden Stimmen und hielt dann inne. Sie war immer noch nicht nahe genug heran, um mehr als ein paar zusammenhanglose Wortfetzen verstehen zu können, aber näher wagte sie sich nicht. Der Himmel war immer noch zugezogen, und er war im wahrsten Sinne des Wortes pechschwarz. Sie sah nicht einmal genau, wo sie hintrat, aber dafür wusste sie nur zu genau, dass ihre Mutter besser hörte als eine Eule. Arri schloss die Augen und versuchte sich ebenfalls in dieser Kunst, aber ihr Erfolg war mäßig. Die Stimmen schienen ein kleines bisschen deutlicher zu werden, aber wirklich verstehen konnte sie immer noch nichts. »… bereit, glaub mir«, schien Lea zu sagen. Dragosz’ Antwort konnte sie gar nicht verstehen, aber seine Stimme klang scharf, und ausgelöst durch diese Erkenntnis wurde ihr im Nachhinein klar, dass sich auch ihre Mutter unwillig anhörte - vorsichtig ausgedrückt. Arri konnte nicht sagen, ob sie tatsächlich Zeugin eines Streits wurde, aber die beiden hatten sich nicht für ein heimliches Stelldichein hier getroffen, so viel war klar. Wenn sie doch wenigstens wüsste, ob Dragosz ihr von ihrem Treffen am Fluss erzählt hatte! Sie versuchte, noch konzentrierter zu lauschen, aber das Einzige, was lauter wurde, war das Geräusch ihres eigenen Herzschlages in ihren Ohren. Immerhin war sie jetzt sicher, einen Streit zu belauschen; oder zumindest doch etwas, das gute Aussichten hatte, zu einem solchen zu werden. Sie versuchte vergeblich, den Stimmen, die durch die Dunkelheit wehten, einen Sinn abzugewinnen, dann gab sie auf und kehrte so lautlos zu Runa zurück, wie sie gekommen war. »Mit wem… spricht deine Mutter da?«, fragte das Mädchen, diesmal unaufgefordert ganz von selbst im Flüsterton. Arri hob zur Ant-

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wort nur die Schultern. Sollte sie Runa etwa von Dragosz erzählen und davon, dass ihre Mutter ihr offensichtlich schon wieder etwas verschwieg (nein, verdammt - sie belog!)! Fast zu ihrer Überraschung gab sich Runa mit dem Schulterzucken zufrieden und drehte sich halb um, wie um zum Haus zurückzugehen, hielt dann aber nach einigen Schritten inne und machte ein unschlüssiges Gesicht, als wäre ihr plötzlich noch etwas eingefallen. »Wenn wir schon einmal hier sind«, sagte sie, »möchtest du dann die Mine sehen?« Arri benötigte einige Augenblicke, um dem Wort überhaupt eine Bedeutung zuzuordnen. Zweifelnd sah sie das Mädchen an. »Jetzt? Es ist mitten in der Nacht.« »Und?«, erwiderte Runa. »Dort unten ist es immer dunkel.« Arri blieb weiterhin argwöhnisch. Die Worte ihrer Mutter hatten sie neugierig gemacht, zweifellos - sie wollte nichts mehr als diese geheimnisvolle Mine mit eigenen Augen zu sehen -, aber sie war im Augenblick viel zu aufgewühlt, um sich auf irgendetwas anderes als auf die Frage konzentrieren zu können, was ihre Mutter und Dragosz gerade miteinander geredet hatten. Sie bedauerte längst, nicht einfach weitergegangen zu sein, um zu lauschen, selbst auf die Gefahr hin, dass die beiden sie bemerkten. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte dieses Versteckspiel ohnehin von Anfang an keinen Sinn gehabt, ja, wahrscheinlich hatten sich ihre Mutter und Dragosz insgeheim köstlich über das kleine dumme Mädchen amüsiert, das sich allen Ernstes einbildete, ein Geheimnis vor ihnen zu haben. Die Vorstellung machte sie wütend. Wieso verlangte ihre Mutter ständig von ihr, sich wie eine Erwachsene zu benehmen, behandelte sie aber nach wie vor wie ein kleines Kind? Und Dragosz? Zweifellos war er der Schlimmere von beiden. Von ihrer Mutter war sie eine solche Behandlung gewöhnt, und auf irgendeine Art, die Arri weder in Worte fassen konnte noch wollte, hatte sie sogar das Recht dazu, aber das galt nicht für Dragosz. Ihm stand das einfach… nicht zu. »Also?«, fragte Runa, als Arri noch immer nicht antwortete. Sie klang verunsichert. Aber vielleicht war ihr auch einfach nur kalt. »Also was?«, gab Arri unwillig zurück und im ersten Moment ehr-

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lich verständnislos. Ihre Gedanken kreisten so intensiv um Dragosz und ihre Mutter, dass sie für den Augenblick Mühe hatte, sich zu erinnern, worüber Runa und sie gerade gesprochen hatten. »Die Mine«, antwortete Runa. »Es ist wirklich nicht weit. Ich meine: Wenn wir schon einmal hier draußen in der Kälte sind…« »Eigentlich…«, begann Arri zögernd, rettete sich in ein hilfloses Achselzucken, mit dem sie noch einmal ein wenig Zeit gewann, und brachte immerhin genug Ordnung in ihre Gedanken, um sich wenigstens wieder daran zu erinnern, worüber sie vor einigen Augenblicken gesprochen hatten. Und genau das war auch der Moment, in dem ihr auffiel, was an Runas Benehmen nicht stimmte. »Warte«, sagte sie, leise, aber in einem plötzlich so misstrauischen Ton, dass Runa zusammenfuhr und einen Schritt vor ihr zurückwich. »Du hast doch gesagt, dass du meine Mutter und mich vor diesen Fremden warnen willst…« Sie kramte angestrengt in ihrem Gedächtnis, bekam aber den genauen Wortlaut nicht mehr zusammen, sehr wohl aber den Sinn. »Also: Wie kommst du auf die Idee, dass ich jetzt diese verdammte Mine sehen wollte?« Runa suchte so sichtbar angestrengt nach einer Ausrede, dass es im Grunde vollkommen egal war, was sie letzten Endes antwortete. Selbst wenn es die Wahrheit gewesen wäre, hätte Arri ihr unmöglich glauben können. »Ich… ich dachte ja nur… weil du dich vorhin so dafür interessiert hast und…« Nichts dergleichen hatte Arri getan, zumindest nicht in Runas Gegenwart. Sie warf dem Mädchen einen so eisigen Blick zu, dass es für einen Moment vollends ins Stammeln geriet und dann abbrach. »Was ist hier los?«, fragte Arri. Mit einem Mal war sie mehr als nur besorgt. »Wieso hast du mich wirklich hierher geführt?« Ganz sicherlich nicht, um Lea zu treffen. Und plötzlich hatte sie Angst. Aber auch dafür war es zu spät. Der Wolf stieß ein leises, drohendes Knurren aus; ein Geräusch, das tief aus seiner Brust kam und wie es kein Hund je zustande bringen konnte, und aus der Dunkelheit hinter Runa trat eine hoch gewachsene Gestalt mit langem Haar und einem knöchellangen Umhang aus dunklem Fell, und ohne dass es nötig gewesen wäre, sich auch nur

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umzudrehen oder einen Laut zu hören, wusste Arri einfach, dass neben ihr ein zweiter Schatten aufgetaucht war. Sie musste auch die Gesichter der beiden Männer nicht erkennen, um zu wissen, um wen es sich handelte. »Das hast du gut gemacht, Kind«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Danke dir.« Arri spannte sich. Für einen winzigen Moment war sie bereit, einfach herumzufahren und wegzulaufen, aber sie verwarf den Gedanken nahezu im gleichen Augenblick. In der vollkommenen Dunkelheit wäre sie ohnehin nur wenige Schritte weit gekommen, und der Mann hinter ihr hätte schon mehr als dumm sein müssen, um nicht mit genau dieser Reaktion zu rechnen und darauf vorbereitet zu sein. Aber vielleicht schätzte sie die Lage ja auch falsch ein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Vielleicht war ja alles ganz anders. Vielleicht… … hatten die beiden sie nur hier herausgelockt, um ein Schwätzchen mit ihr zu halten? Das war lächerlich! Sie versuchte die Panik niederzukämpfen, die wiederum Besitz von ihr ergreifen wollte, und fast zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr auch; zumindest ein wenig. »Was soll das?«, fragte sie so laut, wie sie konnte, ohne wirklich zu schreien. Zumindest aber laut genug, damit ihre Mutter und Dragosz die Worte - wenn schon nicht verstehen, so doch - hören mussten. »Was wollt ihr von mir?« »Wir wollen nur mit dir reden«, antwortete der Mann, der hinter ihr stand. Der andere hatte bisher geschwiegen, und er schwieg auch weiterhin, trat aber noch einen halben Schritt näher, sodass er nun fast unmittelbar hinter Runa aufragte. Trotz des schwachen Lichtes konnte Arri erkennen, dass es sich um denjenigen der beiden handelte, der vorhin schon so feindselig ihrer Mutter gegenüber gewesen war. Ihr Blick tastete über sein Gesicht, glitt dann an seiner Gestalt hinab und verharrte kurz, aber sehr aufmerksam auf seinen Händen. Sie waren leer. »Wir wollen nur mit dir reden, Kind«, fuhr die Stimme hinter ihr fort. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Vermutlich war es gerade die letzte Bemerkung, die Arris Angst

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erst richtig schürte. Ihr Herz begann so heftig zu pochen, dass sie meinte, das Geräusch allein müsse ausreichen, um ihre Mutter und Dragosz zu alarmieren. »Wer sagt, dass ich Angst habe?«, fragte sie mit einer Stimme, die ihre eigene Frage sogleich beantwortete. »Sie wollen wirklich nur mit dir reden«, sagte Runa hastig. »Das haben sie mir versprochen.« Hätte Arri nicht viel zu viel Angst gehabt, hätte sie ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen, aber das wäre wohl auch kaum mehr nötig gewesen. Runa sah weder so aus noch hörte sie sich so an, als ob sie selbst an das glaubte, was sie sagte. Vielmehr machte sie den Eindruck wie jemand, der etwas, was er gerade getan hatte, zutiefst bedauerte und verzweifelt nach einem Ausweg suchte. »Das Mädchen hat Recht, Arri«, sagte der Mann hinter ihr. »Das war doch dein Name, oder? Arri.« Er sprach ihn falsch aus, als könne er sich nicht mehr ganz genau darauf besinnen, doch Arri war nahezu sicher, dass das Absicht war. Sie maß den zweiten Mann, der hinter Runa Aufstellung genommen hatte, mit einem weiteren misstrauischen Blick, dann drehte sie sich betont langsam um und brauchte plötzlich all ihre Willenskraft, um nicht erschrocken einen Schritt zurückzuprallen. Jetzt, wo er unmittelbar hinter ihr stand, fiel Arri erst auf, wie groß und muskulös der Mann wirklich war; sicherlich so groß wie Rahn und mindestens ebenso so stark, wenn nicht stärker. Im Gegensatz zu seinem Kameraden, der einen brutalen Zug im Gesicht hatte und etwas eindeutig Tückisches ausstrahlte, hatte er ein eher gutmütiges Gesicht. Dennoch spürte Arri instinktiv, dass er eindeutig der Gefährlichere der beiden war. »Ist das wahr?«, fragte sie mit schon etwas ruhigerer Stimme, aber noch immer eine Spur lauter, als nötig war. Wo blieben nur ihre Mutter und Dragosz? »Wenn wir dir etwas zuleide tun wollten, hätten wir das schon längst getan, meinst du nicht?« Der Fremde schüttelte leicht den Kopf. »Wir wollen wirklich nur mit dir reden.« »Mit mir?« »Eigentlich eher mit deiner Mutter«, antwortete der Mann, »aber sie ist im Moment…« Er suchte nach Worten und setzte neu an:

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»Deine Mutter ist im Moment… nicht besonders gut auf uns zu sprechen, fürchte ich.« Er deutete auf den Mann hinter Runa. »Mein Kamerad war vielleicht ein wenig… unbedacht in der Wahl seiner Worte.« »Du meinst, weil er sie als Hexe bezeichnet hat?«, gab Arri zurück. Ein rasches, leicht verkniffenes Lächeln huschte über die Lippen des Bärtigen, aber er hatte sich augenblicklich wieder in der Gewalt. »Du musst ihn verstehen. Unser toter Kamerad war sein Bruder. Der Schmerz über seinen Tod war zu viel für ihn. Er hat in seinem Kummer vielleicht Dinge gesagt, die besser ungesagt geblieben wären.« »Ja, das scheint mir auch so«, meinte Arri. Sie musste sich beherrschen, um die Dunkelheit hinter der hoch aufragenden Gestalt nicht fast panisch mit Blicken abzusuchen. Wo blieb nur ihre Mutter? Sie musste ihre Worte doch einfach hören! »Ich kann mich irren«, fuhr Arri hastig fort, »aber hat er sie nicht schon beschimpft, bevor sein Bruder gestorben ist?« Abermals blitzte es kurz und beinahe gehetzt im Blick ihres Gegenübers auf; der Blick eines ertappten Sünders, der sich allmählich in die Enge getrieben sah. Ohne hinsehen zu müssen, spürte Arri, wie sich auch Runa spannte. Möglicherweise ging dem Mädchen ja nun endgültig auf, dass es eine ziemliche Dummheit begangen hatte, und möglicherweise ein wenig zu spät. Der Wolf knurrte leise. »Das ist richtig«, sagte der Fremde, diesmal mit unbewegtem Gesicht und vollkommen beherrscht, aber mit einer Stimme, in der irgendetwas falsch war. »Wir haben das eine oder andere über deine Mutter gehört.« »Und was?«, wollte Arri wissen. Der andere bewegte sich unruhig. »Deine Mutter ist eine mächtige Frau. Man sagt, ihre Heilkräfte vermögen wahre Wunderdinge zu vollbringen.« »Und ihr bittet also um diese Wunderdinge, indem ihr sie beschimpft?«, fragte Arri herausfordernd. Ein Teil von ihr schrie fast in Panik auf, der Teil, der sich darüber im Klaren war, dass sie sich gerade um Kopf und Kragen redete, aber im Grunde war es völlig egal,

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was sie sagte. Sie musste nur reden, damit ihre Mutter und Dragosz die Worte hörten und endlich herkamen. Sie konnte die Spannung, die von den beiden Männern Besitz ergriffen hatte, mittlerweile fast körperlich spüren. Etwas würde geschehen. Etwas Schlimmes, und zwar gleich. »Warum redet ihr nicht mit Leandriis selbst?«, mischte sich Runa ein. »Oder mit meinem Vater? Ich bin sicher, er kann alle Missverständnisse aufklären.« »Ja«, sagte der Mann hinter ihr, »aber wer sagt dir, dass wir das wollen?«

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22 Und dann schien plötzlich alles gleichzeitig zu geschehen. Arri fuhr herum. Runa prallte einen Schritt zurück und zur Seite, um der zupackenden Hand auszuweichen, mit der der Mann unversehens nach ihr griff, aus dem drohenden Knurren des Wolfes wurde etwas anderes, und das Tier stieß sich ansatzlos aus dem Stand ab und sprang mit geöffneten Fängen nach dem ausgestreckten Arm, der nach Runa grabschte. Hätten sich seine gewaltigen Kiefer um das Handgelenk des Mannes geschlossen, hätten sie ihm die Hand vermutlich einfach abgebissen. Aber er erreichte sein Ziel nicht. Auch der andere Arm des Mannes kam plötzlich hoch, und seine Hand war nicht mehr leer, sondern hielt einen faustgroßen, glatten Stein umklammert, den er unter dem Umhang verborgen getragen haben musste und den er nun mit aller Kraft auf den Schädel des Wolfes herunterkrachen ließ. Den Bruchteil eines Atemzuges, bevor sich die Fänge des Raubtiers in sein Fleisch rammen konnten, zerschmetterte der Stein dessen Schädel, und noch bevor der Wolf zuckend ins nasse Gras fiel, beendete die andere Hand des Mannes ihre Bewegung und riss das Mädchen von den Füßen. Runa fiel keuchend zu Boden. Arri hörte etwas hinter sich rascheln, deutete eine Bewegung nach rechts an und warf sich dann blitzartig nach links. Es gelang. Die zupackende Hand verfehlte sie so knapp, dass die Fingernägel des Mannes ihre Bluse zerrissen und eine brennende Spur auf ihrer Haut hinterließen, aber sie verfehlte sie; statt sie herumzureißen und festzuhalten, brachte sie sie nur zum Straucheln. Arri kämpfte mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, spürte, dass sie diesen Kampf so oder so verlieren würde, und warf sich stattdessen mit ausgestreckten Armen nach vorn. Etwas zischte so dicht über ihrem Hinterkopf entlang, dass sie den Luftzug spüren konnte. Vielleicht die Faust des Angreifers, vielleicht auch seine Waffe, mit der er nach ihr schlug, dann prallte sie auf und schlidderte ein gutes Stück weit über das nasse Gras davon. Noch ehe sie ganz zur Ruhe gekommen war, warf sie sich instinktiv herum und ver-

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suchte den Schwung ihrer eigenen Bewegung zu nutzen, um auf die Füße zu kommen, was ihr nicht gelang. Statt hochzuspringen, kippte sie gleich wieder nach hinten und schlug der Länge nach hin, entging auf diese Weise aber einem stampfenden Fußtritt, mit dem Nors Krieger ihren Kopf in den Boden zu rammen versuchte. Er meinte es wirklich ernst. Sie rollte sich über die Schulter ab, genau wie es ihre Mutter ihr gezeigt hatte, sah einen weiteren gemeinen Fußtritt auf sich zukommen und riss unwillkürlich beide Arme vors Gesicht. Diesmal konnte sie dem Tritt nicht mehr ausweichen, aber sie hatte aus der BeinaheKatastrophe mit Rahn gelernt. Statt den Tritt einfach nur abzufangen, was ihr möglicherweise die Handgelenke gebrochen hätte, ließ sie sich unter der brutalen Wucht des Angriffs zwar nach hinten kippen, packte aber auch gleichzeitig mit beiden Händen das Fußgelenk des Mannes und nutzte seine eigene Kraft, um ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ihr Gegner keuchte vor Überraschung, tanzte einen Moment lang geradezu komisch auf einem Bein herum und stürzte schließlich nach hinten. Arri bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sich der zweite Mann auf Runa gestürzt hatte und den Stein, mit dem er den Wolf erschlagen hatte, nun nach ihrem Gesicht schwang. Im letzten Moment warf Runa den Kopf zur Seite, riss gleichzeitig das Knie in die Höhe und zerkratzte dem Krieger mit den Fingernägeln beider Hände das Gesicht. Der Mann grunzte vor Wut und Schmerz und schlug mit umso größerer Wucht zu, aber sein Hieb ging fehl; der Stein grub sich mit einem dumpfen Laut nur einen Fingerbreit neben Runas Kopf in den Boden, und bevor er zu einem zweiten Hieb ausholen konnte, sprang Arri auf die Füße und rammte ihm die Schulter in den Rücken. Das Ergebnis war nicht so beeindruckend, wie sie es sich gewünscht hätte, aber es reichte: Der Angreifer kippte mit einem überraschten Laut von Runa herunter, und das Mädchen half noch ein wenig nach, indem es ein zweites Mal mit dem Knie zustieß. Diesmal traf sie. Aus dem wütenden Schnauben des Kriegers wurde ein atemloses Keuchen, und er krümmte sich am Boden. Arri streckte hastig die Hand aus, um Runa auf die Füße zu helfen;

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das Mädchen versuchte, danach zu greifen, und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Ihre Augen wurden groß. Vielleicht war es tatsächlich eine Spiegelung auf ihren Augäpfeln, vielleicht hörte Arri auch ein verräterisches Geräusch - oder es war einfach nur Glück. Im allerletzten Moment ließ sie sich auf das rechte Knie fallen, krümmte den Rücken und spannte sämtliche Muskeln. Diesmal war das Ergebnis beeindruckend: Der Mann prallte in vollem Lauf und mit solcher Wucht gegen sie, dass ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde, als sie zu Boden fiel; der Angreifer aber verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und segelte in hohem Bogen durch die Luft; und um das Maß voll zu machen, prallte er gegen seinen Kameraden, der sich in diesem Augenblick mit schmerzverzerrtem Gesicht hochzustemmen versuchte. Die Folge war ein zweizüngiger Schmerzensschrei und ein wahres Gewirr von ineinander verstrickten Gliedmaßen und Leibern. Arri versuchte zu atmen. Sie konnte es nicht. Ihre Rippen fühlten sich an, als wären sie in unzählige kleine Stücke zersprungen - und zwar jede einzelne -, und jeder Atemzug schien zwar keine Luft, dafür aber flüssiges Feuer in ihre Lungen zu treiben. Dennoch sprang sie auf die Füße, griff nach Runas Arm und riss sie in die Höhe. »Weg!«, keuchte sie; womit sie nicht nur ihren allerletzten Atem verschwendete, sondern auch einen weiß glühenden Schmerzpfeil tief in ihren Brustkorb hineinjagte. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, und es war Runa, die sie am Arm ergriff und herumzerrte, nicht umgekehrt. Schmerzgepeinigt und mit zusammengebissenen Zähnen torkelte sie los. Hinter ihnen randalierten die beiden Männer mittlerweile laut genug, dass man sie eigentlich noch auf der anderen Seite des Tales hören musste - zumindest ihre Mutter und Dragosz mussten sie doch einfach hören! -, und Arri verlor für einen Moment vollends die Orientierung. Sie konnte immerhin wieder atmen, auch wenn sie ganz und gar nicht sicher war, dass das wirklich eine Gnade war, und auch ihr Blick klärte sich langsam wieder. Obwohl sie in dieser Umgebung vollkommen fremd war, war sie doch ziemlich sicher, dass sie sich vom Haus entfernten, statt in die einzige Richtung zu laufen, in

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der sie Hilfe erwarten konnten. »Wohin…«, stieß sie atemlos hervor. »Lauf!«, unterbrach sie Runa. Gleichzeitig beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr, sodass Arri einen Moment ernsthaft fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren, bevor es ihr gelang, ihren Rhythmus dem des Mädchens anzupassen. Hinter ihnen wurden die wütenden Stimmen der beiden Männer noch lauter, und dann hörten sie das Stampfen schwerer Schritte, die in erschreckender Schnelligkeit näher kamen. Wo war ihre Mutter? Der Boden, über den sie rannten, veränderte sich plötzlich und war jetzt nicht mehr nass und kalt und rutschig, sondern mit scharfkantigen Steinen übersät, und Arri begriff gerade noch rechtzeitig, was Runa mit »Pass auf!«, meinte, um den Kopf einzuziehen, als es rings um sie herum schlagartig noch dunkler wurde. Sie berührte ihn nicht, aber sie streifte den harten Fels, der einen Fingerbreit über ihrem Hinterkopf entlangstrich. Sie befanden sich in einer Höhle. Das musste die Mine sein, von der Runa gesprochen hatte. »Wohin laufen wir?«, keuchte sie dennoch. »Nicht so laut!«, gab Runa gehetzt zurück. »Die Mine. Wir verstecken uns in den Stollen. Da finden die uns nie!« Das Geräusch näher kommender, stampfender Schritte schien das genaue Gegenteil zu beweisen, aber nur einen Augenblick später verkündeten ein dumpfer Schlag, ein schmerzerfülltes Keuchen und ein zweiter, schwerer Aufprall, dass zumindest einer ihrer Verfolger den Kopf nicht schnell genug eingezogen hatte. Arri verzog die Lippen zu einem dünnen, schadenfrohen Grinsen, aber sie machte sich nichts vor: Wenn der Kerl nicht so freundlich gewesen war, sich tatsächlich den Schädel einzurennen, würde er jetzt nur noch wütender sein. Sie stolperten noch ein paar Schritte durch vollkommene Dunkelheit, dann gewahrte Arri einen braunroten, matten Schimmer irgendwo vor sich; kaum mehr als ein Hauch, den sie unter gewöhnlichen Umständen nicht einmal wahrgenommen hätte. Jetzt schien dieses Licht die Rettung zu bedeuten, denn wo Licht war, da waren im Allgemeinen auch Menschen. Noch ein paar Schritte, und sie wä-

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ren gerettet. Trotzdem machte ihr Herz einen erschrockenen Satz in ihrer Brust, als sie sah, wie niedrig der Gang tatsächlich war, durch den sie hetzten - und dann einen zweiten und noch heftigeren, als sie die gefährlichen Felszacken und -spitzen erkannte, die in unregelmäßigen Abständen aus der Decke herauswuchsen. Runa wich diesen Hindernissen mit schlafwandlerischer Sicherheit aus, aber sie selbst hatte schließlich nicht ihr ganzes Leben hier unten verbracht, und sie verfügte auch nicht über den unterirdischen Orientierungssinn eines Maulwurfs. Ein einziger falscher Schritt, und es wäre um sie geschehen. Wenn sie sich nicht selbst umbrachte, indem sie gegen eines dieser Hindernisse lief, würden ihre Verfolger sie unweigerlich einholen, sollte sie auch nur ein einziges Mal ins Stolpern geraten oder gar fallen. Ihr einziger Trumpf war die Enge des Stollens. Selbst Runa und sie konnten sich nur gebückt darin bewegen - für die beiden groß gewachsenen Fremden musste es nahezu unmöglich sein, anders als auf allen vieren von der Stelle zu kommen. Dass sie es trotzdem taten, bewies das hastige Scharren und Poltern hinter ihnen; es kam nicht wirklich näher, aber es kam Arri eindeutig so vor. Runa ließ endlich ihre Hand los, lief aber nur noch schneller und winkte sie mit beiden Armen zu sich herüber. Arri versuchte ihrer Aufforderung zu folgen, allerdings mit dem einzigen Ergebnis, dass sie nun endgültig ins Stolpern geriet und auf Hände und Knie herunterfiel. Sofort rappelte sie sich auf und griff nach Runas Hand, die sie gleich wieder mit sich zog. Das rotbraune Licht war mittlerweile stärker geworden; nicht viel, nicht, dass es wirklich die Bezeichnung Helligkeit verdient hätte, doch es reichte immerhin aus, um Arri erkennen zu lassen, dass der Stollen vor ihnen womöglich noch tiefer und schmaler wurde. Waren die Wände am Anfang der Strecke noch einigermaßen behauen und glatt gewesen, so sah der Tunnel nun vollends aus wie eine auf willkürliche Weise entstandene Höhle, und auch die Decke senkte sich mehr und mehr herab, sodass Runa und sie schließlich auf Händen und Knien - und auf dem letzten Stück sogar auf dem Bauch - kriechen mussten.

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Doch gerade als der Punkt erreicht war, an dem sich Arri eingestand, dass sie ganz eindeutig an Platzangst litt, wichen Wände und Decke wieder zurück, und sie fanden sich fast unversehens in einer acht oder zehn Schritte messenden, unregelmäßig geformten Höhle wieder, deren Decke hoch genug war, um gebückt darin zu stehen. Runa ließ ihr jedoch nicht einmal die Zeit, um sich ganz aufzurichten, sondern packte sie unverzüglich wieder am Arm und zerrte sie grob auf ein finsteres Loch zu, das an der gegenüberliegenden Wand der Höhle im Boden gähnte. Das obere Ende einer grob zusammengezimmerten Leiter ragte daraus hervor, und erst jetzt sah Arri, dass diese Öffnung auch die Quelle des blassroten, flackernden Lichtes war, das die Höhle erfüllte und sie mit seinem unheimlichen Spiel von braunen Schatten zu etwas Angstmachendem werden ließ. Ein sonderbarer, ebenso fremdartiger wie unangenehmer Geruch drang aus der Tiefe zu ihnen empor, und nachdem Runa sich ohne zu zögern auf die Leiter geschwungen hatte und mit erstaunlichem Geschick und noch erstaunlicherer Schnelligkeit nach unten zu steigen begann und Arri sich vorbeugte, um ihr nachzusehen, wurde ihr fast auf der Stelle schwindelig. Sie konnte nicht sagen, wie tief der Schacht war, aber er war auf jeden Fall sehr tief. Doch sie hatte keine Wahl. Hinter ihr kamen die Schritte und die schnaubenden Atemzüge der Verfolger näher, und auch wenn sie vermutlich noch weiter entfernt waren, als ihre eigene Angst sie glauben machen wollte, waren sie trotzdem bereits nahe. Sie warf einen letzten, zögernden Blick über die Schulter zurück, dann griff sie entschlossen nach der Leiter, tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und hätte um ein Haar das Bein mit einem erschrockenen Laut zurückgezogen, als sie spürte, wie das gesamte Gebilde unter ihrem Gewicht zu wanken begann. Aber sie hatte keine Wahl. Hier bleiben konnte sie nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass ein Sturz in die Tiefe - und sei er tödlich - der Möglichkeit, diesen beiden Männern in die Hände zu fallen, allemal vorzuziehen war. Runa hatte fast die Hälfte der Entfernung nach unten überwunden, und auch die Geräusche der Verfolger waren nun hörbar näher ge-

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kommen, bis Arri genug Mut zusammengekratzt hatte, um ein zweites Mal nach der Leiter zu greifen und einen Fuß auf die oberste Sprosse zu setzen. Was sie schon einmal erlebt hatte, wiederholte sich, und ihre schwache Hoffnung, es wäre nur Einbildung gewesen, erwies sich als falsch: Die mit Lederriemen festgebundene Sprosse ächzte hörbar unter ihrem Gewicht, und sie konnte spüren, wie die gesamte Leiter bebte und einen Moment später ein bedrohliches, tiefes Knarren und Ächzen ausstieß. Aber sie ging über ihre Furcht kurzerhand hinweg, tastete mit dem anderen Fuß nach der zweiten Stufe und kletterte dann Hand über Hand in die Tiefe. Runa erreichte den Boden des scheinbar nicht enden wollenden Schachtes zwar ein gutes Stück vor ihr, aber Arri hatte dennoch aufgeholt. Ihr Abstand betrug allenfalls noch fünf oder sechs Stufen, und sie war beinahe selbst erstaunt, mit welcher Schnelligkeit und Sicherheit sie die letzten Leitersprossen überwunden hatte. Dennoch zitterten ihre Knie so stark, dass sie sich für einen Moment gegen die hölzerne Konstruktion lehnen musste, um wieder zu Kräften zu kommen.