Exit Ghost

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Philip Roth

Exit Ghost Roman Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Exit Ghost bei Houghton Mifflin in Boston.

1 2 3 4 5 12 11 10 09 08 ISBN 978-3-446-23001-9 © Philip Roth 2007 Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Carl Hanser Verlag München 2008 Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany

Für B.T.

Bevor der Tod dich nimmt, nimm dies zurück Dylan Thomas: Find Meat on Bones

1 Der gegenwärtige Augenblick

ICH WAR SEIT ELF JAHREN nicht mehr in New York gewesen. Abgesehen von einem Aufenthalt in Boston, wo man mir die von Krebs befallene Prostata entfernt hatte, war ich in diesen elf Jahren kaum je anderswo unterwegs gewesen als auf der kleinen Landstraße in den hügeligen Berkshires, und überdies hatte ich seit dem Attentat vom 11. September drei Jahre zuvor nur selten eine Zeitung gelesen oder eine Nachrichtensendung gesehen; ohne ein Gefühl des Verlustes – es war anfangs lediglich eine Art innerer Dürre gewesen – hatte ich aufgehört, ein Bewohner der großen Welt oder auch nur des gegenwärtigen Augenblicks zu sein. Den Impuls, in dieser Welt zu sein und zu ihr zu gehören, hatte ich längst abgetötet. Doch nun war ich die zweihundert Kilometer nach Süden, nach Manhattan, gefahren, um einen Urologen am Mount Sinai Hospital aufzusuchen, der sich auf eine Methode zur Behandlung jener Tausende von Männern spezialisiert hatte, die, wie ich, nach einer Prostataoperation inkontinent waren. Er führte einen Katheter in die Harnröhre ein und injizierte am Blasenmund Kollagen in gelatiner Form, wodurch er bei etwa fünfzig Prozent seiner Patienten eine signifikante Besserung des Zustands erreichte. Die Chancen standen nicht überwältigend gut, zumal »signifikante Besserung« lediglich eine teilweise Linderung der Symptome bedeutete: aus »schwerer

Inkontinenz« konnte »moderate Inkontinenz« werden, aus »moderater« möglicherweise eine »leichte«. Doch weil seine Resultate besser waren als die anderer Urologen, die so ziemlich dieselbe Technik anwendeten (an der zweiten möglichen Folge einer radikalen Prostatektomie – Impotenz infolge einer Schädigung des Nervengewebes –, von der verschont zu werden mir, wie Zehntausenden von Männern, nicht vergönnt gewesen war, ließ sich ohnehin nichts ändern), fuhr ich zu einer Konsultation nach New York, obgleich ich mir seit langem einbildete, mich mit den praktischen Widrigkeiten dieses Zustands abgefunden zu haben. In den Jahren seit der Operation hatte ich sogar geglaubt, die Beschämung über die Tatsache, dass ich mir in die Hose pinkelte, überwunden zu haben, den verwirrenden Schock, der in den ersten eineinhalb Jahren besonders groß gewesen war, in jenen Monaten nämlich, als der behandelnde Arzt mir Hoffnungen gemacht hatte, diese Unannehmlichkeit werde im Lauf der Zeit langsam verschwinden, wie es bei einigen wenigen glücklichen Patienten der Fall ist. Doch obwohl die Maßnahmen, die ich traf, um sauber und geruchsfrei zu bleiben, zur täglichen Routine geworden waren, hatte ich mich anscheinend nie wirklich daran gewöhnt, besondere Unterhosen zu tragen, die Einlagen zu wechseln und mit den wiederkehrenden »Malheurs« fertig zu werden, ebensowenig wie es mir gelungen war, die damit verbundene Erniedrigung hinzunehmen, denn da war ich nun, einundsiebzig Jahre alt, zurück in der Upper East Side von Manhattan, nur ein paar Blocks von der Gegend entfernt, wo ich als tatkräftiger, gesunder jüngerer Mann gelebt hatte, und saß im Empfangsbereich der urologischen

Abteilung des Mount Sinai Hospital, wo man mir in Kürze versichern würde, dass ich, sofern es gelang, das Kollagen dauerhaft am Blasenmund zu befestigen, Chancen hatte, meinen Harnfluss ein wenig besser unter Kontrolle zu halten als ein Kleinkind. Ich saß da, stellte mir die Prozedur vor, blätterte in den Stapeln von People und New York und dachte: Völlig sinnlos. Geh raus und fahr nach Hause. In den vergangenen elf Jahren hatte ich allein in einem kleinen Haus an einem Feldweg in der hintersten Provinz gelebt; den Entschluss dazu hatte ich, etwa zwei Jahre bevor der Krebs diagnostiziert wurde, gefasst. Ich komme mit wenigen Menschen zusammen. Seit mein Nachbar und Freund Larry Hollis vor einem Jahr gestorben ist, vergehen manchmal zwei, drei Tage, an denen ich allenfalls mit der Haushälterin, die einmal pro Woche zum Putzen kommt, und ihrem Mann, meinem Hausmeister, spreche. Ich gehe nicht zu Dinnerpartys. Ich gehe nicht ins Kino. Ich sehe nicht fern. Ich besitze weder ein Handy noch einen Videorekorder, einen DVD-Spieler oder einen Computer. Ich lebe weiterhin im Zeitalter der Schreibmaschine und habe keine Ahnung, was das World Wide Web eigentlich ist. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, zur Wahl zu gehen. Den größten Teil des Tages und oft auch des Abends verbringe ich mit Schreiben. Ich lese viel, hauptsächlich die Bücher, die ich als Student entdeckt habe, die Meisterwerke der Literatur, die mich heute nicht weniger und in einigen Fällen sogar mehr faszinieren als bei meinen allerersten erregenden Begegnungen mit ihnen. Unlängst habe ich zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder Joseph Conrad gelesen, zuletzt Die Schattenlinie, ein Buch, das ich nach New York mitgenommen hatte, um noch einmal hineinzusehen, nachdem ich es kürzlich an einem Abend

durchgelesen hatte. Ich höre Musik, ich wandere in den Wäldern, und wenn es heiß ist, schwimme ich in meinem Teich, dessen Wasser selbst im Sommer nie wärmer wird als knapp über zwanzig Grad. Ich schwimme nackt, denn dort kann mich niemand sehen, und das bedeutet, dass ich, wenn ich eine blasse, schlierige Urinwolke hinter mir herziehe, die das Wasser des Teichs wahrnehmbar verfärbt, weitgehend gelassen bin und mir die Peinlichkeit erspart bleibt, die mich gewiss zu Boden drücken würde, sollte meine Blase sich gegen meinen Willlen in einem öffentlichen Schwimmbad entleeren. Für inkontinente Schwimmer gibt es Plastikunterhosen mit starken Gummizügen, die, wie die Werbung verspricht, wasserdicht sind, doch als ich mir, nach langem inneren Hin und Her, eine solche Hose von einem Hersteller für SwimmingpoolZubehör hatte kommen lassen und im Teich ausprobierte, stellte ich fest, dass das Tragen dieser eher großen weißen Dinger unter der Badehose das Problem zwar verringerte, jedoch nicht in ausreichendem Maße, um meine Befangenheit zu überwinden. Anstatt das Risiko einzugehen, mich bloßzustellen und Anstoß zu erregen, gab ich den Gedanken auf, während des größten Teils des Jahres regelmäßig (und in Unter- und Badehose) im Schwimmbad des örtlichen College zu schwimmen, und fand mich damit ab, in den wenigen Monaten, in denen es in den Berkshires warm genug ist und ich, bei gutem wie schlechtem Wetter, täglich eine halbe Stunde schwimme, zuweilen das Wasser meines eigenen Teichs zu verunreinigen. Ein paarmal pro Woche verlasse ich meinen Hügel und fahre hinunter ins zwölf Kilometer entfernte Athena zum Supermarkt oder zur Reinigung; gelegentlich gehe ich

etwas essen, kaufe ein Paar Socken oder eine Flasche Wein, benutze die College-Bibliothek. Nach Tanglewood ist es nicht weit, und im Sommer fahre ich etwa zehnmal dorthin, um ein Konzert zu hören. Ich gebe keine Lesungen, ich halte keine Vorträge, ich unterrichte nicht, ich trete nicht im Fernsehen auf. Wenn meine Bücher erscheinen, bleibe ich zu Hause. Ich schreibe jeden Tag – im übrigen schweige ich. Der Gedanke, nichts mehr zu veröffentlichen, erscheint mir verführerisch: Ist das, was ich brauche, nicht das Arbeiten und Überarbeiten? Was spielt es denn noch für eine Rolle, ob ich inkontinent und impotent bin? Larry und Marylynne Hollis waren von West Hartford in die Berkshires gezogen, nachdem Larry, der sein ganzes Berufsleben als Anwalt bei einer Versicherungsgesellschaft in Hartford verbracht hatte, in Ruhestand gegangen war. Larry war zwei Jahre jünger als ich, ein penibler, ja pedantischer Mann, der zu glauben schien, das Leben sei nur dann sicher, wenn man alles bis ins Letzte plante, und dem ich in den Monaten, als er versuchte, mich an seinem Leben teilhaben zu lassen, nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Schließlich gab ich jedoch nach, nicht nur, weil er so unbeirrbar war in seinem Wunsch, meine Einsamkeit zu lindern, sondern auch, weil ich einen Menschen wie ihn nie kennengelernt hatte – einen Erwachsenen, dessen traurige Kindheit nach eigener Einschätzung jede einzelne Entscheidung beeinflusst hatte, seit er zehn gewesen und seine Mutter an Krebs gestorben war, bloß vier Jahre nachdem sein Vater, Inhaber eines Linoleumgeschäfts in Hartford, auf ebenso qualvolle Weise derselben Krankheit zum Opfer gefallen war. Larry war ein Einzelkind und kam

zu Verwandten, die südwestlich von Hartford lebten, am Naugatuck, knapp außerhalb der trostlosen Industriestadt Waterbury, Connecticut, und dort entwarf er in einem Tagebuch einen detaillierten Plan für die Zukunft, an den er sich für den Rest seines Lebens buchstabengetreu hielt; von da an war alles, was er tat, äußerst zielgerichtet. Er war nur mit den besten Noten zufrieden und legte sich schon als Schüler mit allen Lehrern an, die seine Leistungen nicht angemessen beurteilten. Er nahm am Ferienunterricht teil, um die Highschool früher abschließen zu können und noch vor seinem siebzehnten Geburtstag die Zulassung zum College zu bekommen; auch an der University of Connecticut, wo er ein Vollstipendium hatte und das ganze Jahr über im Heizungsraum der Bibliothek für Unterkunft und Verpflegung arbeitete, belegte er Sommerseminare, um so schnell wie möglich den Collegeabschluss zu machen, seinen Namen von Irwin Golub in Larry Hollis ändern zu lassen (wie er es sich bereits mit zehn vorgenommen hatte), in die Air Force einzutreten, sich als Jagdflieger Lieutenant Hollis einen Namen zu machen und ein Militärstipendium für ein Universitätsstudium zu bekommen; nach seiner Dienstzeit schrieb er sich in Fordham ein, und die Regierung bezahlte ihm für seine drei Jahre in der Air Force ein dreijähriges Jurastudium. Als Pilot war er in Seattle stationiert und warb intensiv um ein hübsches Mädchen namens Collins, das gerade die Highschool hinter sich hatte und genau Larrys Vorstellungen von seiner zukünftigen Ehefrau entsprach – dazu gehörte unter anderem, dass sie aus einer irischen Familie stammte und dunkles, lockiges Haar sowie eisblaue Augen hatte wie er selbst. »Ich wollte kein jüdisches Mädchen heiraten. Meine Kinder sollten nicht jüdisch erzogen werden oder sonst irgend etwas

Jüdisches haben.« »Warum nicht?« fragte ich ihn. »Weil ich das eben nicht wollte«, lautete seine Antwort. Dass er wollte, was er wollte, und nicht wollte, was er nicht wollte, war seine Antwort auf praktisch alle meine Fragen nach der ungeheuer konventionellen Struktur, die er seinem Leben gegeben hatte, nachdem er seine jungen Jahre in ständiger Eile und mit dem Schmieden von Plänen verbracht hatte. Als er zum erstenmal an meine Tür klopfte, um sich vorzustellen – ein paar Tage nachdem er und Marylynne in das Haus, das meinem am nächsten stand, gezogen waren, etwa achthundert Meter den Feldweg hinunter –, beschloss er sogleich, dass ich nicht jeden Abend allein sein, sondern fortan mindestens einmal pro Woche mit ihm und seiner Frau in ihrem Haus zu Abend essen sollte. Er wollte nicht, dass ich die Sonntage allein verbrachte – der Gedanke, dass irgendjemand so allein sein könnte, wie er selbst es als Waisenkind gewesen war, wenn er mit seinem Onkel, einem staatlichen Milchinspekteur, sonntags im Naugatuck geangelt hatte, war ihm unerträglich –, und so bestand er darauf, dass wir jeden Sonntag morgen eine Wanderung unternahmen oder, wenn das Wetter zu schlecht war, Tischtennis spielten. Das war zwar ein Zeitvertreib, den ich kaum erträglich fand, doch lieber tat ich ihm diesen Gefallen, als mit ihm über das Verfassen von Büchern zu sprechen. Er stellte mir die abgedroschensten Fragen über das Schreiben und gab keine Ruhe, bis ich sie zu seiner Befriedigung beantwortet hatte. »Woher kriegen Sie Ihre Ideen?« »Woher wissen Sie, ob eine Idee gut oder schlecht ist?« »Woher wissen Sie, ob Sie einen Dialog einsetzen oder eine Situation ohne Dialog beschreiben sollen?«

»Woher wissen Sie, wann ein Buch fertig ist?« »Wonach wählen Sie den ersten Satz aus? Wonach wählen Sie den Titel aus? Wonach wählen Sie den letzten Satz aus?« »Welches Buch ist Ihr bestes?« »Welches Buch ist Ihr schlechtestes?« »Mögen Sie Ihre Protagonisten?« »Haben Sie je einen Protagonisten umgebracht?« »Im Fernsehen hab ich einen Schriftsteller sagen hören, dass die Personen in dem Buch die Führung übernehmen und es selbst schreiben. Stimmt das?« Er hatte einen Jungen und ein Mädchen haben wollen, und erst nach der Geburt der vierten Tochter hatte Marylynne aufbegehrt und sich geweigert, weiterhin zu versuchen, den männlichen Erben hervorzubringen, den ihr Mann schon im Alter von zehn Jahren geplant hatte. Er war ein großer Mann mit einem viereckigen Gesicht und sandfarbenem Haar, und seine Augen waren verrückt, eisblau und verrückt, ganz anders als Marylynnes eisblaue Augen, die wunderschön waren, oder die eisblauen Augen der vier hübschen Töchter, die allesamt in Wellesley gewesen waren, weil sein bester Freund damals in der Air Force eine Schwester hatte, die in Wellesley gewesen war und die, als Larry sie kennenlernte, genau die guten Umgangsformen und den Schliff hatte, die er von seiner eigenen Tochter erwartete. Wenn wir in ein Restaurant gingen (was wir jeden zweiten Samstagabend taten – auch hier duldete er keinen Widerspruch), konnte man sich darauf verlassen, dass er ein schwieriger Gast war. Jedesmal beschwerte er sich über das Brot. Es war nicht frisch. Es war nicht die Art von Brot, die er mochte. Es war nicht genug

für alle da. Eines Abends nach dem Abendessen kam er unangemeldet vorbei und gab mir zwei orangefarbene Kätzchen, ein langhaariges und ein kurzhaariges, etwas über acht Wochen alt. Ich hatte ihn weder darum gebeten, noch hatte er mich zuvor davon in Kenntnis gesetzt, dass er mir dieses Geschenk machen wollte. Er sagte, er sei morgens zu einer Routineuntersuchung beim Augenarzt gewesen und habe am Tisch der Sprechstundenhilfe ein Schild gesehen, auf dem gestanden habe, sie wolle junge Katzen verschenken. Am Nachmittag sei er zu ihr gefahren und habe aus dem Wurf von sechs Kätzchen die beiden schönsten für mich ausgesucht. Beim Anblick des Schildes habe er sofort an mich gedacht. Er setzte die beiden Kätzchen auf den Boden. »Sie führen nicht das Leben, das Sie führen sollten«, sagte er. »Wer tut das schon?« »Ich, zum Beispiel. Ich habe alles, was ich immer haben wollte. Ich werde nicht zulassen, dass Sie weiterhin einem Leben in solcher Einsamkeit ausgesetzt sind. Sie gehen bis an die verdammten Grenzen. Sie treiben es ins Extrem, Nathan.« »Sie ebenfalls.« »Ganz und gar nicht! Ich bin doch nicht derjenige, der so lebt. Ich sorge nur dafür, dass Sie ein bisschen Normalität haben. Sie leben zu abgeschieden für einen Menschen. Da können Sie wenigstens ein paar Katzen als Gesellschaft haben. Ich hab das ganze Zeug, das Sie brauchen, draußen im Wagen.« Er ging hinaus, kehrte zurück und leerte einige große Supermarkttüten auf den Boden: ein halbes Dutzend

Spielzeugtierchen, denen sie nachjagen konnten, ein Dutzend Dosen Katzenfutter, ein Katzenklo und eine große Tüte Katzenstreu, zwei Plastiknäpfe für das Futter und zwei Plastikschüsseln für Wasser. »Mehr brauchen Sie nicht«, sagte er. »Sehen Sie nur, wie schön sie sind. Sie werden eine Menge Freude an ihnen haben.« Er war dabei äußerst bestimmt, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu sagen: »Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, Larry.« »Wie werden Sie sie nennen?« »A und B.« »Nein. Sie brauchen richtige Namen. Sie verbringen schon den ganzen Tag mit dem Alphabet, Nathan. Sie können die Kurzhaarige Shorty und die Langhaarige Longy nennen.« »Dann werde ich das wohl tun.« In meiner einzigen engen Beziehung zu einem anderen Menschen erfüllte ich genau die Rolle, die Larry mir zugedacht hatte. Ich fügte mich, wie alle in Larrys Leben, gehorsam in das, was er sagte. Man stelle sich vor: vier Töchter, und nicht eine hatte gesagt: »Aber ich würde lieber nach Barnard gehen. Ich würde lieber nach Oberlin gehen.« Obgleich ich, wenn ich mit ihm und seiner Familie zusammen war, nie das Gefühl hatte, er sei ein schrecklicher Haustyrann, fand ich es doch seltsam, dass meines Wissens keine von ihnen je Einwände erhoben hatte, wenn ihr Vater bestimmte: Du gehst nach Wellesley, und damit basta. Doch ihre Bereitschaft, als Larrys gehorsame Kinder keinen eigenen Willen zu zeigen, war in

meinen Augen nicht ganz so bemerkenswert wie meine eigene Willenlosigkeit. Für Larry war Macht der uneingeschränkte Gehorsam der geliebten Menschen in seinem Leben – für mich war Macht, keine Menschen in meinem Leben zu haben. Er hatte mir die Katzen an einem Donnerstag gebracht. Ich behielt sie bis zum nächsten Sonntag. In dieser Zeit arbeitete ich praktisch überhaupt nicht an meinem Buch. Statt dessen verbrachte ich die Tage damit, ihnen ihr Spielzeug hinzuwerfen, sie gleichzeitig oder abwechselnd auf dem Schoß zu haben und zu streicheln oder einfach dazusitzen und ihnen zuzusehen, wie sie fraßen, spielten, sich putzten oder schliefen. Ich stellte das Katzenklo in eine Ecke der Küche, und abends brachte ich die beiden ins Wohnzimmer und schloss die Schlafzimmertür. Nach dem Aufwachen ging ich als erstes hinüber, um zu sehen, was sie machten. Und dann saßen sie neben der Tür und warteten darauf, dass ich sie öffnete. Am Montag morgen rief ich Larry an und sagte: »Bitte kommen Sie und holen Sie die Katzen ab.« »Sie hassen sie.« »Im Gegenteil. Wenn ich sie behalte, werde ich nie wieder ein Wort schreiben. Ich kann diese Katzen nicht im Haus haben.« »Warum nicht? Was haben Sie denn bloß, verdammt?« »Sie sind einfach zu süß.« »Gut. Hervorragend. Das war ja auch der Sinn der Sache.« »Kommen Sie und holen Sie sie ab, Larry. Wenn Sie wollen, bringe ich sie selbst der Sprechstundenhilfe von Ihrem Augenarzt zurück. Aber ich kann sie nicht behalten.«

»Was soll das sein? Trotz? Wollen Sie mich provozieren? Ich bin ja selbst ein disziplinierter Mensch, aber Sie schlagen mich um Längen. Ich hab Ihnen doch – Gott bewahre – nicht zwei Menschen ins Haus gebracht, sondern zwei Katzen. Kleine Kätzchen.« »Und ich habe sie freundlich aufgenommen, oder nicht? s versucht, oder nicht? Aber jetzt holen Sie sie bitte wieder ab.« »Das werde ich nicht.« »Ich habe Sie nicht um zwei Katzen gebeten.« »Das heißt gar nichts. Sie bitten nie um etwas.« »Geben Sie mir die Telefonnummer der Sprechstundenhilfe.« »Nein.« »Na gut, dann werde ich mich selbst darum kümmern.« »Sie sind verrückt«, sagte er. »Larry, zwei junge Katzen machen mich nicht zu einem neuen Menschen.« »Doch, das ist genau das, was passiert. Das ist genau das, was Sie nicht zulassen wollen. Ich verstehe das nicht – dass ein Mann von Ihrer Intelligenz es zulässt, so zu werden. Das begreife ich nicht.« »Es gibt im Leben viele unerklärliche Dinge. Sie sollten sich über diesen kleinen blinden Fleck in meiner Person keine Gedanken machen.« »Na gut. Sie haben gewonnen. Ich komme und hole die Katzen ab. Aber ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Zuckerman.« »Ich habe auch keinen Grund zu der Annahme, dass Sie mit mir fertig sind oder es je sein könnten. Sie sind

ebenfalls ein bisschen verrückt, müssen Sie wissen.« »Ganz und gar nicht!« »Hollis, bitte. Ich bin zu alt, um mich umzukrempeln. Kommen Sie und holen Sie die Katzen ab.« Kurz bevor die vierte Tochter in New York heiratete – einen jungen Anwalt aus einer irischamerikanischen Familie, der, wie Larry, in Fordham studiert hatte –, wurde bei Larry Krebs diagnostiziert. An dem Tag, an dem die Familie zur Hochzeit nach New York fuhr, wies Larrys Onkologe ihn in das Universitätskrankenhaus in Farmington, Connecticut, ein. Am ersten Abend im Krankenhaus nahm Larry, nachdem die Schwester Blutdruck und Temperatur gemessen und ihm eine Schlaftablette und ein Glas Wasser gegeben hatte, etwa hundert Schlaftabletten, die er in seinem Reisenecessaire verwahrt hatte, löste sie auf und trank das Glas in dem dunklen Zimmer. Früh am nächsten Morgen erhielt Marylynne einen Anruf vom Krankenhaus, in dem man ihr mitteilte, ihr Mann habe sich umgebracht. Sie bestand darauf, dass die Hochzeit und das Hochzeitsessen wie geplant stattfanden – schließlich war sie nicht umsonst all die Jahre seine Frau gewesen –, und kehrte erst danach in die Berkshires zurück, um die Beerdigung in Angriff zu nehmen. Später erfuhr ich, dass Larry seinen Arzt gebeten hatte, ihn an diesem Tag anstatt am Montag der folgenden Woche einzuweisen, was durchaus möglich gewesen wäre. Auf diese Weise war sichergestellt, dass die Familie an einem Ort versammelt war, wenn die Nachricht von seinem Tod eintraf; außerdem hatte Larry, indem er sich im Krankenhaus umbrachte, wo Fachleute sich um seinen Leichnam kümmern würden, Marylynne und den Kindern

die mit einem Selbstmord verbundenen Groteskerien soweit wie möglich erspart. Bei seinem Tod war er achtundsechzig und hatte, mit Ausnahme des in seinem Tagebuch vermerkten Plans, eines Tages einen Sohn namens Larry Hollis jun. zu haben, erstaunlicherweise jedes einzelne Ziel erreicht, das er sich als zehnjähriger Waisenjunge gesteckt hatte. Es war ihm gelungen, so lange zu warten, bis seine jüngste Tochter verheiratet war und die ersten Schritte in ein neues Leben tat, und dennoch war er imstande gewesen, zu vermeiden, was er am meisten fürchtete: dass seine Kinder würden zusehen müssen, während ein Elternteil unter Qualen starb, so wie er hatte zusehen müssen, als sein Vater und seine Mutter langsam und unter Schmerzen an Krebs gestorben waren. Sogar mir hatte er eine Nachricht hinterlassen. Am Montag nach dem Sonntag, an dem wir von seinem Tod erfuhren, fand ich diesen Brief in der Post: »Nathan, mein Junge, ich lasse Sie nicht gern so zurück. In dieser großen weiten Welt darf man nicht allein sein. Man darf nicht ohne Kontakt mit allem anderen sein. Sie müssen mir versprechen, dass Sie nicht so weiterleben werden wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Ihr treuer Freund Larry.« Blieb ich also darum im Wartezimmer der urologischen Abteilung sitzen – weil Larry mir beinahe auf den Tag genau ein Jahr zuvor diesen Brief geschrieben und sich dann umgebracht hatte? Ich weiß es nicht, und hätte ich es damals gewusst, so hätte das auch keinen Unterschied gemacht. Ich saß da, weil ich eben da saß, und blätterte in Zeitschriften, wie ich sie seit Jahren nicht gesehen hatte: Ich sah Fotos von berühmten Schauspielern, berühmten

Models, berühmten Modedesignern, berühmten Köchen und Wirtschaftsbossen, ich erfuhr, wo ich das teuerste, billigste, hipste, engste, weichste, witzigste, geschmackvollste und geschmackloseste von praktisch allem kaufen konnte, was für den amerikanischen Markt produziert wurde, und wartete darauf, dass man mich aufrief. Am Nachmittag zuvor war ich in die Stadt gekommen. Ich hatte ein Zimmer im Hilton reserviert, und nachdem ich meine Reisetasche ausgepackt hatte, war ich die Sixth Avenue entlangspaziert, um die Stadt in mich aufzunehmen. Doch wo sollte ich anfangen? Sollte ich die Straßen aufsuchen, wo ich früher gewohnt hatte? Die Cafés und Restaurants, wo ich zu Mittag gegessen hatte? Den Stand, wo ich meine Zeitung gekauft, und die Buchhandlungen, wo ich herumgestöbert hatte? Sollte ich noch einmal die Wege gehen, die ich bei meinen langen Spaziergängen am Ende des Arbeitstages eingeschlagen hatte? Oder sollte ich, da ich nicht mehr so viele von ihnen zu sehen bekam, einige andere Angehörige meiner Zunft aufsuchen? In den Jahren meiner Abwesenheit hatte ich Anrufe und Briefe erhalten, aber mein Haus in den Berkshires ist klein, und ich hatte niemanden ermuntert, mich zu besuchen, und so war der persönliche Kontakt im Lauf der Zeit sehr sporadisch geworden. Lektoren, mit denen ich lange zusammengearbeitet hatte, waren zu anderen Verlagen gegangen oder im Ruhestand. Viele Kollegen hatten, wie ich, die Stadt verlassen. Die Frauen in meiner Bekanntschaft arbeiteten in anderen Berufen, hatten geheiratet oder waren fortgezogen. Die beiden Menschen, die mir zuerst einfielen, als ich überlegte, wen ich besuchen könnte, waren tot. Ich wusste, dass sie

gestorben waren, dass es ihre unverwechselbaren Gesichter und ihre vertrauten Stimmen nicht mehr gab – und doch, als ich vor dem Hotel stand und nachdachte, wie und wo ich für ein, zwei Stunden noch einmal in das Leben eintauchen könnte, das ich hinter mir gelassen hatte, wie ich am einfachsten wieder zurückkehren könnte, fühlte ich mich für einen Augenblick wie Rip Van Winkle, der zwanzig Jahre geschlafen hatte, als er, in dem Glauben, er sei nur eine Nacht fort gewesen, die Berge verließ und durch sein Heimatdorf ging. Erst als er sich überrascht über den langen grauen Kinnbart strich, ging ihm auf, wieviel Zeit vergangen war, und wenig später erfuhr er, dass er nicht mehr Untertan der britischen Krone, sondern Bürger der neu gegründeten Vereinigten Staaten war. Ich hätte mich nicht fremder fühlen können als er, wenn ich mit Rips rostigem Gewehr und in seinen alten Kleidern an der Ecke Sixth Avenue und West 54th Street gestanden hätte, umgeben von einer Heerschar Neugieriger, die mich begafften, diesen zwischen ihnen umherwandelnden abgezehrten Fremden, dieses Relikt aus vergangenen Zeiten inmitten des Lärms und der Gebäude, inmitten der Arbeiter und des Verkehrs. Ich ging in Richtung U-Bahn, um zum Ground Zero zu fahren. Fang da an, wo das größte Ereignis stattgefunden hat – doch weil ich mich, als Beteiligter wie als Zuschauer, aus allem zurückgezogen hatte, schaffte ich es nicht mal bis zur U-Bahn. Zu dem Menschen, der ich geworden war, hätte das nicht gepasst. Statt dessen fand ich mich, nachdem ich den Park durchquert hatte, in den vertrauten Räumlichkeiten des Metropolitan Museum wieder, wo ich den Nachmittag herumbrachte wie jemand, der nichts aufzuholen hat.

Als ich am Tag darauf das Sprechzimmer des Arztes verließ, hatte ich einen Termin für eine Kollageninjektion am nächsten Morgen. Ein anderer Patient hatte abgesagt, und der Arzt konnte mich einschieben. Die Krankenschwester sagte mir, er halte es für ratsam, nach der Behandlung nicht sogleich in die Berkshires zurückzukehren, sondern noch eine Nacht im Hotel zu bleiben – Komplikationen träten zwar nur selten auf, doch sei es vorsichtshalber empfehlenswert, in der Nähe des Krankenhauses zu bleiben. Wenn alles glatt verlaufen sei, könne ich anschließend nach Hause fahren und meinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen. Der Arzt rechnete mit einer erheblichen Verbesserung und schloss nicht aus, dass ich nach der Injektion wieder nahezu vollständige Kontrolle über meine Blase haben würde. Gelegentlich komme es vor, dass das Kollagen »wandere«, erklärte er mir, und in diesem Fall müsse er dann eine zweite oder dritte Injektion vornehmen, um das Material dauerhaft am Blasenmund zu befestigen; andererseits sei es aber auch gut möglich, dass eine einzige Behandlung ausreiche. Gut, sagte ich, und anstatt die Entscheidung erst zu treffen, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, mir das alles zu Hause durch den Kopf gehen zu lassen, überraschte ich mich selbst, indem ich den frei gewordenen Termin annahm, und nicht einmal später, als ich die ermutigende Umgebung des Sprechzimmers verlassen hatte und im Aufzug hinunter ins Erdgeschoss fuhr, gelang es mir, das Gefühl der Verjüngung mit etwas Nüchternheit zu dämpfen. Im Aufzug schloss ich die Augen und sah mich am Ende eines Tages im College-Schwimmbad, sorglos und ohne Angst vor Peinlichkeiten.

Dieses Triumphgefühl war lachhaft und vielleicht weniger auf die verheißene Veränderung als auf den Preis zurückzuführen, den ich für die Selbstdisziplin eines zurückgezogenen Lebens und den Entschluss zu zahlen hatte, alles aus meinem Leben zu verbannen, was zwischen mir und meiner Aufgabe stand – einen Preis, der mir bis dahin gar nicht bewusst gewesen war (und gewollte NichtWahrnehmung war ja ein wesentlicher Bestandteil der Selbstdisziplin). Auf dem Land gab es nichts, was mich in Versuchung geführt hätte, zu hoffen. Ich hatte mich von der Hoffnung verabschiedet. Doch dann war ich nach New York gefahren, und New York hatte innerhalb von Stunden getan, was es bei allen Menschen tut: Es hatte mir Möglichkeiten bewusst gemacht. Die Hoffnung hatte sich Bahn gebrochen. Im Stockwerk unter der Abteilung für Urologie hielt der Aufzug an, und eine gebrechliche altere Frau stieg ein. Der Stock, auf den sie sich stützte, und ein verblasster roter Regenhut, den sie weit über den Kopf gezogen hatte, verliehen ihr ein exzentrisches, wunderliches Aussehen, doch als ich sie leise mit dem Arzt sprechen hörte, der mit ihr in den Aufzug getreten war – einem Mann von Mitte Vierzig, der sie leicht am Arm stützte –, nahm ich eine schwache ausländische Färbung ihres Englisch wahr und fragte mich, ob ich sie von früher her kannte. Die Stimme war so unverwechselbar wie der Akzent, besonders da sie nicht zu ihrer gespenstischen Erscheinung passte, sondern die eines jungen Menschen war, ganz unpassend mädchenhaft und unberührt von Not und Strapazen. Ich dachte: Ich kenne diese Stimme. Ich kenne diesen Akzent. Ich kenne diese Frau. Im Erdgeschoss ging ich hinter den beiden durch die Eingangshalle zum Ausgang und hörte

den Arzt den Namen der Frau sagen. Und darum folgte ich ihr hinaus auf die Straße und ein paar Blocks weit die Madison Avenue entlang zu einem Schnellimbiss. Ich kannte sie tatsächlich. Es war halb elf, und in dem Lokal waren nur vier oder fünf Gäste, die frühstückten. Die Frau setzte sich in eine Nische. Ich nahm an einem freien Tisch Platz. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass ich ihr gefolgt war, schien mich, der ich nur wenige Meter von ihr entfernt saß, nicht einmal wahrzunehmen. Sie hieß Amy Bellette. Ich war ihr nur einmal begegnet. Ich hatte sie nie vergessen. Amy Bellette trug keinen Mantel, nur den roten Regenhut, eine helle Strickjacke und etwas, was ein dünnes Baumwollkleid zu sein schien, bis ich merkte, dass es sich um ein blassblaues Krankenhausnachthemd handelte, dessen Bandverschlüsse auf dem Rücken durch Knopfe ersetzt waren. Um die Taille hatte sie einen Gürtel geschnürt, der wie ein Stück Seil aussah. Ich dachte: Sie ist entweder völlig verarmt oder verrückt. Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf, und als er gegangen war, öffnete sie ihre Handtasche und zog ein Buch hervor. Während sie darin las, setzte sie den Hut ab und legte ihn neben sich. Die mir zugewandte Seite ihres Kopfes war kahl, vor nicht allzu langer Zeit rasiert, dort wuchs nur ein zarter Flaum, und über den Schädel zog sich eine geschwungene Operationsnarbe, eine frische, sich scharf abzeichnende Narbe von einem Punkt hinter dem Ohr bis zum Rand der Stirn. Alles längere Haar, das sie noch besaß, war auf der anderen Seite des Kopfes, ergrauendes Haar, lose zu einem Zopf geflochten, über den die Finger ihrer rechten Hand jetzt geistesabwesend strichen – die Hand spielte mit dem Haar wie es die eines lesenden Kindes tun

mochte. Ihr Alter? Fünfundsiebzig. Als wir uns 1956 kennengelernt hatten, war sie siebenundzwanzig gewesen. Ich bestellte einen Kaffee, nippte daran, ließ ihn eine Weile stehen, trank ihn aus, stand dann auf, ohne sie anzusehen, und verließ den Schnellimbiss und die überraschend wieder in meinem Leben aufgetauchte und mitleiderregend veränderte Amy Bellette, deren Leben – das bei unserer ersten Begegnung so reich an Aussichten und Verheißungen gewesen war – offenbar eine Wendung zum unverkennbar Schlechten genommen hatte. Der Eingriff am nächsten Morgen dauerte fünfzehn Minuten. So simpel! Ein Wunder! Ein medizinisches Wunder! Wieder sah ich mich im College-Schwimmbad, bekleidet nur mit einer ganz normalen Badehose, und ich zog keine Urinspur hinter mir her. Ich sah mich unbekümmert durch den Tag schreiten, ohne die Watteeinlagen, die ich neun Jahre lang Tag und Nacht in meinen Plastikunterhosen hatte tragen müssen. Ein fünfzehn Minuten währender schmerzloser Eingriff, und das Leben erschien mir wieder frei von Einschränkungen. Ich war ein Mann, der nicht mehr machtlos war, wenn es um so elementare Dinge ging wie um die Fähigkeit, in eine Kloschüssel zu pinkeln. Die Beherrschung der Blasenfunktion – welcher gesunde Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte denkt je über die damit verbundene Freiheit nach oder über das Gefühl ängstlicher Verletzlichkeit, das der Verlust dieser Fähigkeit auch in den Selbstsichersten unter uns erzeugen kann? Ich, der ich nie über dergleichen nachgedacht hatte, der ich schon mit zwölf Jahren darauf aus gewesen war, meine Einzigartigkeit zu unterstreichen und alles Ungewöhnliche an mir willkommen geheißen

hatte – ich konnte jetzt sein wie jeder andere. Als wäre der ständig drohende Schatten der Demütigung nicht in Wirklichkeit das, was einen mit allen anderen verbindet. Lange vor Mittag war ich wieder in meinem Hotel. Ich hatte genug, um mich den Tag über zu beschäftigen, bevor ich nach Hause zurückkehrte. Am Nachmittag zuvor war ich – nachdem ich beschlossen hatte, Amy Bellette in Ruhe zu lassen – zum Antiquariat Strand gegangen, dem ehrwürdigen Geschäft südlich des Union Square, wo ich für nicht einmal hundert Dollar eine Originalausgabe der sechsbändigen Sammlung von E. I. Lonoffs Kurzgeschichten erstanden hatte. Diese Bücher hatte ich auch zu Hause in meinem Regal, aber ich kaufte sie trotzdem und trug sie ins Hotel, denn ich wollte in der restlichen Zeit, die ich in New York verbringen müsste, in chronologischer Reihenfolge darin lesen. Wenn man das Werk eines Schriftstellers zwanzig oder dreißig Jahre lang nicht mehr gelesen hat und dann ein solches Experiment unternimmt, weiß man nicht, was dabei herauskommen wird: Vielleicht stellt man fest, dass der einst bewunderte Autor völlig veraltet ist oder dass die damalige Begeisterung von Naivität gespeist war. Gegen Mitternacht war ich allerdings nicht weniger als in den fünfziger Jahren überzeugt, dass die schmale Bandbreite von Lonoffs Prosa, die Begrenztheit seiner Interessen und die eiserne Zurückhaltung, die er sich auferlegte, weder die Implikationen einer Erzählung in sich zusammenstürzen ließen noch ihre Wirkung schmälerten, sondern im Gegenteil den geheimnisvollen Widerhall eines Gongs erzeugten, einen Widerhall, der einen mit Verwunderung erfüllte, wie so viel Ernst und so viel Leichtigkeit sich auf so

engem Raum mit einem so weitgreifenden Skeptizismus verbinden konnte. Ebendiese Beschränkung der Mittel war es, die jede der kleinen Erzählungen nicht hemmte oder lähmte, sondern in ein Wunderwerk verwandelte – als würden ein Märchen oder ein Kinderlied von innen erleuchtet durch den Geist von Pascal. Er war so gut, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war besser. Es war, als hätte in unserem literarischen Spektrum eine Farbe gefehlt, als wäre sie uns vorenthalten worden, als wäre Lonoff der einzige, der über sie verfügte. Lonoff war diese Farbe, ein amerikanischer Autor des 20. Jahrhunderts, der nicht seinesgleichen hatte, und dabei war sein Werk seit Jahrzehnten vergriffen. Ich fragte mich, ob er so vollständig in Vergessenheit geraten wäre, wenn er seinen Roman vollendet und die Veröffentlichung erlebt hätte. Und ich fragte mich, ob er gegen Ende seines Lebens überhaupt an einem Roman gearbeitet hatte. Wenn nicht, wie sollte man dann das Schweigen vor seinem Tod verstehen, in jenen fünf Jahren, in denen er, von seiner Frau Hope getrennt, ein neues Leben an der Seite von Amy Bellette begonnen hatte? Ich erinnerte mich noch gut, wie er mir, einem jungen, respektvollen Verehrer, der entschlossen war, ihm nachzueifern, mit nüchternen, sarkastischen Worten die Monotonie eines Lebens geschildert hatte, das daraus bestand, tagsüber gewissenhaft Erzählungen zu schreiben, abends eifrig zu lesen und sich dabei Notizen zu machen und, beinahe stumm vor geistiger Erschöpfung, Tisch und Bett mit einer treuen, schrecklich einsamen Frau von fünfunddreißig Jahren zu teilen. (Denn die Disziplin erlegt man nicht nur der eigenen Person auf, sondern auch den Menschen in seiner Umgebung.) Bei einem außergewöhnlichen

Schriftsteller von so beeindruckender Kraft, der noch nicht einmal sechzig war, der endlich den Ausbruch aus dem Gefängnis der Bevormundung durch seine Frau geschafft hatte (oder vielmehr von ihr, die ihn wütend und überstürzt verlassen hatte, hinausgestoßen worden war) und nun sein Leben mit einer charmanten, intelligenten, verehrungsvollen Gefährtin teilte, halb so alt wie er, hätte man meinen können, die Intensität würde wieder erstarken. Nachdem er sich mit einem Kraftakt aus der Einengung durch die ländliche Umgebung und seine Ehe befreit hatte – zwei Dinge, die seine künstlerische Arbeit zu einem so gewaltigen Opfer hatten werden lassen –, hätte man meinen können, es sei nicht nötig, E. I. Lonoff für diesen Ausbruch so schwer zu bestrafen, ihn zu einem so vollständigen Schweigen zu verurteilen, nur weil er gewagt hatte zu glauben, es sei ihm vielleicht gestattet, einen Absatz fünfzigmal an einem Tag umzuschreiben, ohne dabei in einem Käfig leben zu müssen. Was war in jenen fünf Jahren wirklich geschehen? Wenn diesem ruhigen, zurückgezogen lebenden Schriftsteller, der sich – gestützt von der bitteren Ironie, die seine gesamte Weltsicht beherrschte – tapfer damit abgefunden hatte, dass ihm nie etwas widerfahren würde, schließlich doch etwas widerfahren war, was war dann geschehen? Amy Bellette würde es wissen – sie war es ja immerhin gewesen, die ihm widerfahren war. Und sofern es irgendwo ein fertiges oder unfertiges Manuskript eines Lonoff-Romans gab, dann würde sie auch dies wissen. Wenn nicht der gesamte Nachlass an Hope und die drei Kinder gefallen war, befand sich das Manuskript in ihrem Besitz. Und selbst für den Fall, dass die Rechte an dem Roman nicht bei ihr lagen, sondern bei den Familienangehörigen des Autors,

würde Amy, die an seiner Seite gewesen war, als er das Buch geschrieben hatte, jede Seite eines jeden Entwurfs gelesen haben und wissen, wie gut oder schlecht das neue Projekt verlaufen war. Aber selbst wenn sein Tod die Fertigstellung des Romans verhindert hatte – warum waren dann abgeschlossene Passagen nicht in den literarischen Vierteljahreszeitschriften erschienen, die regelmäßig seine Erzählungen gedruckt hatten? War der Roman so schlecht, dass sich niemand um eine Veröffentlichung bemüht hatte? Und wenn ja, war dieses Scheitern die Folge davon, dass Lonoff alles hinter sich gelassen hatte, was ihn zuverlässig an sein Talent band, dass er endlich die Freiheit und die Freude gefunden hatte, vor denen ihn seine Gefangenschaft hatte bewahren sollen? Oder hatte er nie die Beschämung darüber verwinden können, dass er sein Leiden auf Hopes Kosten beendet hatte? Aber war es nicht Hope gewesen, die es für ihn beendet hatte, indem sie ihn verlassen hatte? Wie hatte es bei einem derart entschlossenen und erfahrenen Schriftsteller, für den die Gestaltung seines unverkennbaren, lakonischen umgangssprachlichen Stils eine nie endende Schwerarbeit gewesen war, die er nur durch überaus gewissenhaft eingesetzte Geduld und Willenskraft zu bewältigen vermochte, zu einer fünfjährigen Schreibblockade kommen können? Warum sollte eine so gewöhnliche Veränderung – ein in mittleren Jahren eingeschlagener, gewöhnlich frische Energie verleihender neuer Lebenskurs, eine neue Partnerin, ein Umzug in eine neue Umgebung – einen Mann, der über Lonoffs Geduld verfügte, brechen? Wenn es das war, was ihn gebrochen hatte. Als ich mich daranmachte, zu Bett zu gehen, wusste ich, wie wenig diese Fragen geeignet waren, mir zu einem

Verständnis dessen zu verhelfen, was Lonoff in seinen letzten Jahren zum Schweigen gebracht hatte. Wenn es ihm zwischen seinem sechsundfünfzigsten und einundsechzigsten Lebensjahr nicht gelungen war, einen Roman zu schreiben, so lag das vermutlich daran, dass (wie er vielleicht schon immer vermutet hatte) die Leidenschaft des Romanschriftstellers für Verstärkungen und Vergrößerungen eine Form von Übertreibung darstellt, die im Widerspruch zu seinem eigenen besonderen Talent für die Verdichtung und Reduktion stand. Die Leidenschaft des Romanschriftstellers für Verstärkungen und Vergrößerungen erklärte wahrscheinlich auch, warum ich den Tag überhaupt mit Gedanken über diese Fragen verbracht hatte. Was sie nicht erklärte, war, warum ich Amy Bellette in jenem Schnellimbiss nicht angesprochen und versucht hatte, wenn schon nicht alles, so doch wenigstens das herauszufinden, was sie mitzuteilen bereit war. Als ich Lonoff und Hope 1956 kennenlernte, waren ihre drei Kinder bereits erwachsen und hatten das Haus verlassen, und obwohl diese Tatsache ebensowenig an der harten Disziplin seines täglichen Lebens als Schriftsteller änderte wie das Verschwinden der Leidenschaft, zu dem es im Verlauf einer Ehe kommt, war während der wenigen Stunden, die ich dort verbrachte, deutlich zu spüren, wie sehr Hope unter der Isolation in der Abgeschiedenheit dieses Bauernhauses in den Berkshires litt. Beim Essen an dem Abend, an dem ich dort eintraf, hatte sie sich noch tapfer bemüht, ruhig und liebenswürdig zu sein, doch schließlich war sie zusammengebrochen und, nachdem sie ihr Weinglas an die Wand geworfen hatte, in Tränen aus

dem Zimmer gestürzt. Sie überließ es Lonoff, mir zu erklären, was eigentlich los war – wobei sich allerdings herausstellte, dass er keineswegs der Ansicht war, er müsse mir irgend etwas erklären. Beim Frühstück am nächsten Morgen, bei dem Amy und ich anwesend waren und die hinreißende junge Frau, wie ich zu Gast in diesem Haus, mit ihrer bezaubernden Heiterkeit und Selbstbeherrschung, mit der Klarheit ihres Geistes, ihrer Schauspielerei, ihrem geheimnisvollen Wesen und dem Esprit ihrer witzigen Bemerkungen eine besonders angenehme Gesellschaft war, bröckelte Hopes stoische Fassade abermals, und als sie diesmal vom Tisch aufstand, packte sie eine Reisetasche, zog einen Mantel an und verließ, trotz der Kälte und der verschneiten Straßen, das Haus, wobei sie verkündete, sie übergebe hiermit den Posten der vernachlässigten Frau des großen Schriftstellers an niemand anderen als seine ehemalige Studentin und (nach allem Anschein) gegenwärtige Geliebte. »Dies ist jetzt offiziell dein Haus!« erklärte sie der jungen Siegerin und machte sich auf den Weg nach Boston. »Du bist jetzt diejenige, mit der er nicht zusammenlebt!« Ich ging eine Stunde später und sah keinen von ihnen wieder. Es war ein purer Zufall, dass ich bei dieser Szene anwesend war. Ich wohnte damals in einer nicht weit entfernten Schriftstellerkolonie und hatte Lonoff ein Päckchen mit meinen ersten veröffentlichten Kurzgeschichten sowie einen eifrigen Brief geschickt, in dem ich mich ihm vorstellte. Auf diese Weise war ich zu einer Einladung zum Abendessen gekommen – über Nacht geblieben war ich nur, weil schlechtes Wetter mich daran gehindert hatte, nach Hause zurückzukehren. Von den späten vierziger Jahren bis zu seinem Tod an Leukämie im

Jahr 1961 war Lonoff wahrscheinlich Amerikas angesehenster Kurzgeschichten-Autor – wenn schon nicht für die breite Öffentlichkeit, so doch für die meisten Angehörigen der intellektuellen und akademischen Elite. Er hatte sechs Sammlungen veröffentlicht, in denen die Mischung aus Komödie und Düsterkeit die sattsam bekannten Geschichten vom harten Los der jüdischen Einwanderer vollkommen ihrer Sentimentalität beraubt hatte; seine Erzählungen waren wie ein Panorama aus unzusammenhängenden Träumen, ohne dass er allerdings die Sachlichkeit von Ort und Zeit zugunsten von surrealistischem Hokuspokus oder magisch realistischen Knalleffekten geopfert hätte. Seine jährliche Produktion von Geschichten war nie groß gewesen, und in den letzten fünf Jahren, als er angeblich an seinem ersten Roman arbeitete, der ihm, wie seine Bewunderer behaupteten, internationale Anerkennung und den Nobelpreis einbringen würde, den er schon längst hätte bekommen sollen, publizierte er gar nichts. In dieser Zeit lebte er mit Amy in Cambridge und hatte eine lose Verbindung zur Harvard University. Er heiratete Amy nicht; anscheinend war er in diesen fünf Jahren juristisch nicht imstande gewesen, irgend jemanden zu heiraten. Und dann war er tot. Am Abend vor meiner Heimfahrt ging ich zum Essen in ein kleines italienisches Restaurant unweit des Hotels. Es hatte noch immer denselben Besitzer wie damals, in den frühen neunziger Jahren, als ich zuletzt dort gewesen war, und zu meiner Überraschung wurde ich von Tony, dem jüngsten Sohn der Familie, mit Namen begrüßt und zu dem Tisch in der Ecke geführt, an dem ich immer am liebsten gesessen

hatte, weil er der ruhigste war. Man verlässt einen Ort, während andere – wenig verwunderlich – dort bleiben und weiterhin tun, was sie immer getan haben. Und wenn man zurückkehrt, ist man überrascht und für einen Augenblick ganz aufgeregt, wenn man sieht, dass sie noch immer da sind, und auch beruhigt, weil es jemanden gibt, der sein ganzes Leben an einem Ort verbringt und nicht den Wunsch hat, von dort fortzugehen. »Sie sind weggezogen, Mr. Zuckerman«, sagte Tony. »Wir kriegen Sie gar nicht mehr zu sehen.« »Ich bin in den Norden gezogen. Ich lebe jetzt in den Bergen.« »Muss schön sein dort. Schön und ruhig, so dass Sie gut schreiben können.« s der Familie?« s gut. Aber Celia ist gestorben. Erinnern Sie sich an meine Tante? Die immer an der Kasse gesessen hat?« »Natürlich erinnere ich mich. Das tut mir leid. Sie war doch noch gar nicht alt.« »Nein. Aber letztes Jahr ist sie krank geworden und ziemlich schnell gestorben. Aber Sie sehen gut aus«, sagte s?« Tonys Haar war so stahlgrau geworden wie das seines Großvaters Pierluigi, das bewies ein Blick auf das Ölporträt des aus Italien eingewanderten Gründers des Restaurants, in Kochschürze dargestellt und blendend aussehend wie ein Schauspieler, das noch immer neben der Tür zur Garderobe hing, und obwohl Tony rundlich und weich geworden war, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte – damals war er Anfang Dreißig gewesen, das einzige schlanke, knochige

Familienmitglied in einem wohlgenährten Restaurant-Clan, und inzwischen hatte er etwa hunderttausend Pastaportionen verspeist –, hatten sich die Speisekarte, die Spezialitäten und das Brot in den Brotkörben nicht verändert, und als der Oberkellner den Dessertwagen an meinem Tisch vorbeischob, sah ich, dass die Desserts und der Oberkellner sich ebenfalls nicht verändert hatten. Man hatte meinen sollen, dass auch meine Beziehung zu all dem sich kein bisschen verändert hätte und dass ich mich, sobald ich ein Glas Wein in der Hand hatte und auf einem Stück Brot von der Art kaute, wie ich es hier schon Dutzende Male gegessen hatte, ganz zu Hause fühlte, doch dem war nicht so. Ich fühlte mich wie ein Hochstapler – als gäbe ich nur vor, der Mann zu sein, den Tony einst gekannt hatte, und als sehnte ich mich mit einemmal danach, es tatsächlich zu sein. Aber diesen Mann hatte ich hinter mir gelassen, indem ich elf Jahre lang größtenteils ein Einsiedlerleben geführt hatte. Ich war vor einer echten Bedrohung geflohen und war fortgeblieben, nicht nur, um Ruhe zu haben vor dem, was mich nicht mehr interessierte, sondern auch – und wer träumt nicht davon? –, um die fortbestehenden Konsequenzen der Fehler eines Lebens loszuwerden (in meinem Fall waren das mehrere gescheiterte Ehen, heimliche Affären und der emotionale Bumerang erotischer Bindungen). Vermutlich dadurch, dass ich gehandelt hatte, anstatt nur davon zu träumen, hatte ich mich selbst verloren. s gegangen war, hatte ich etwas zum Lesen mitgebracht. Da ich allein lebte, hatte ich mir angewöhnt, beim Essen zu lesen, doch an diesem Abend legte ich die Zeitung beiseite und betrachtete die anderen Gäste, die an diesem 28. Oktober 2004 in New

York zu Abend aßen. Eine der bemerkenswerten Befriedigungen des Lebens in der Stadt: Fremde huldigen der Schimäre menschlichen Einklangs, indem sie zusammen mit anderen in einem guten kleinen Restaurant zu Abend essen. Und ich war einer von ihnen. Es war ein wenig spät, eine so gewöhnliche Erfahrung bedeutsam zu finden, doch für mich war sie es. Erst als der Kaffee vor mir stand, schlug ich die Zeitung auf, die aktuelle Ausgabe der New York Review of Books. Ich hatte keine mehr in der Hand gehabt, seit ich New York verlassen hatte. Ich hatte sie nicht lesen wollen, obwohl ich seit ihrer Gründung in den frühen sechziger Jahren ein Abonnement gehabt und anfangs gelegentlich Beitrage für s war ich an einem Zeitungsstand vorbeigekommen und hatte die obere Hälfte der Titelseite gesehen, wo über einigen Karikaturen von David Levine ein Banner prangte, auf dem mit gelben Buchstaben stand »Spezialausgabe zur Präsidentschaftswahl« und darunter, über einer Liste von etwa einem Dutzend Journalisten und Kommentatoren, die Worte »Die Wahl und Amerikas Zukunft«, und ich hatte dem Zeitungsverkäufer vier Dollar fünfzig gegeben und die Zeitung ins Restaurant mitgenommen. Doch nun tat es mir leid, dass ich sie gekauft hatte, und selbst als meine Neugier zu groß wurde, sah ich nicht im Inhaltsverzeichnis nach und schlug die Seite mit den Meinungen und Kommentaren zur bevorstehenden Wahl auf, sondern begann meine Wiederannäherung, indem ich mich, gleichsam auf Zehenspitzen, von hinten hineinschlich und die Kleinanzeigen las. »SCHÖNE Fotografin/Kunsterzieherin, liebevolle Mutter …«

»KOMPLEXE, GEDANKENVOLLE, BEGEHRENDE und begehrenswerte Frau, verheiratet …« »ENERGISCHER, LEBENSLUSTIGER, DURCHTRAINIERTER, fest im Leben stehender Mann mit vielen Interessen …« »GRÜNÄUGIGE, witzige, verrückte, kurvenreiche …« Ich blätterte weiter zur Rubrik Immobilien und stolperte in der Spalte »Vermietungen« – über der viel längeren Spalte »Vermietungen, international«, wo die angebotenen Wohnungen meist in Paris oder London lagen – über eine Anzeige, die so explizit für mich bestimmt zu sein schien, dass ich mich vom Zufall, einem puren und doch scheinbar ganz und gar von Absicht erfüllten Zufall, wie mit einer Peitsche angetrieben fühlte, weiterzulesen. ZUVERLÄSSIGES Schriftstellerehepaar, Anfang Dreißig, möchte gemütliche 3-Zimmer-Wohnung mit großer Bibliothek in der Upper West Side gegen ruhiges Haus in ländlicher Umgebung 150 km von New York tauschen. Neuengland bevorzugt. Termin sofort, vorzugsweise für ein Jahr … Ohne zu warten – so spontan, wie ich meine Einwilligung zu der Kollagen-Behandlung gegeben hatte, über die ich doch eigentlich erst zu Hause hatte nachdenken wollen, bevor ich mich ihr unterzog, so spontan, wie ich die New York Review gekauft hatte –, ging ich die Treppe neben der Küche hinunter, wo, wie ich mich erinnerte, gegenüber der Tür zur Herrentoilette ein Telefon hing. Die in der Anzeige angegebene Telefonnummer hatte ich auf einem Zettel notiert, auf den ich den Namen »Amy Bellette« geschrieben

hatte. Ich sagte dem Mann, der sich meldete, ich riefe wegen der Anzeige an, in der es um einen Wohnungstausch für ein Jahr gehe. Mir gehöre ein kleines Haus auf dem Land im Westen von Massachusetts, es liege an einem Feldweg auf einem Hügel neben einer großen, sumpfigen Marsch, die ein Vogel- und Naturschutzgebiet sei, rund zweihundert Kilometer von New York entfernt. Bis zum nächsten Haus seien es achthundert Meter, und unten im Tal, zwölf Kilometer entfernt, gebe es eine Kleinstadt mit einem College, einem Supermarkt, einer Buchhandlung, einer Weinhandlung, einer ausgezeichneten CollegeBibliothek und einer gutbesuchten Bar, wo man auch anständig essen könne. Wenn das ungefähr dem entspreche, was er sich vorgestellt habe, würde ich gern vorbeikommen, mir die Wohnung ansehen und den Tausch besprechen. Ich sei im Augenblick in der Upper West Side, nur wenige Blocks entfernt; wenn er nichts dagegen habe, könne ich in wenigen Minuten dasein. Der Mann lachte. »Sie hören sich an, als wollten Sie noch heute nacht einziehen.« »Wenn Sie heute nacht ausziehen wollen«, sagte ich und meinte es ernst. Bevor ich zu meinem Tisch zurückkehrte, ging ich auf die Herrentoilette, trat in eine Kabine und ließ die Hose herunter, um zu sehen, ob die Behandlung gewirkt hatte. Um auszulöschen, was ich sah, schloss ich die Augen, um auszulöschen, was ich empfand, fluchte ich laut. »Scheißtraum!« rief ich und meinte damit den Traum, plötzlich wie alle anderen zu sein. Ich machte mich daran, die Watteeinlage aus der Plastikunterhose zu entfernen und durch eine neue aus dem kleinen Päckchen, das ich in der Innentasche meines

Jacketts hatte, zu ersetzen. Ich wickelte die benutzte Einlage in Toilettenpapier, warf sie in den mit einem Deckel versehenen Papierkorb neben dem Waschbecken, wusch mir die Hände und stieg, gegen die Düsternis meiner Stimmung ankämpfend, wieder die Treppe hinauf. Ich ging zur West 71st Street und war am Columbus Circle überrascht zu sehen, dass sich das massige, festungsartige Coliseum in zwei Wolkenkratzer aus Glas verwandelt hatte, die an der Hüfte miteinander verbunden waren und in deren Erdgeschossen sich schicke Geschäfte niedergelassen hatten. Ich schlenderte durch die Passage, und als ich meinen Weg den Broadway entlang in nördlicher Richtung fortsetzte, fühlte ich mich nicht so sehr wie in einem fremden Land als vielmehr wie das Opfer einer optischen Täuschung, als würde ich alles in einem Zerrspiegel sehen, wie man sie von Jahrmärkten kennt und in denen einem die Dinge vertraut erscheinen und doch nicht zu erkennen sind. Ich hatte mich, wie gesagt, nicht ohne Schwierigkeiten an das Leben eines Einsiedlers gewöhnt; ich kannte seine Prüfungen und Belohnungen, hatte die Palette meiner Bedürfnisse an seine Beschränkungen angepasst, hatte Aufregungen, Intimitäten, Abenteuer und Widersprüche längst zugunsten von Lesen, Arbeit und einem ruhigen, beständigen, berechenbaren Kontakt mit der Natur aufgegeben. Warum das Unerwartete einladen, warum sich um mehr Schocks und Überraschungen bemühen als die, welche das Alter mir auch ohne mein Zutun präsentieren würde? Dennoch setzte ich meinen Weg fort – vorbei an den Menschenmengen vor dem Lincoln Center, denen ich mich nicht anschließen wollte, an den Kino komplexen, deren Filme ich nicht sehen

wollte, an den Geschäften für Lederwaren und Feinkost, deren Produkte ich nicht kaufen wollte –, nicht willens, gegen die überwältigende, verrückte Hoffnung auf Verjüngung anzukämpfen, die verrückte Hoffnung, dass die Behandlung das stärkste Symptom meines Verfalls beseitigen würde, und in dem Bewusstsein, dass ich einen Fehler beging, indem ich, ein Mann, der dem dauerhaften Kontakt mit anderen Menschen und seinen Möglichkeiten entsagt hatte, zurückkehrte und mich der Illusion hingab, ich könne noch einmal neu beginnen. Und zwar nicht aufgrund meiner individuellen mentalen Fähigkeiten, sondern durch eine Modifikation meines Körpers, die das Leben wieder grenzenlos machen würde. Natürlich ist das falsch, ist das verrückt, dachte ich, aber wenn es so ist, was ist dann das richtige, das Gesunde, und wer bin ich, zu behaupten, ich hätte je genug gewusst, um das Richtige zu tun? Ich habe getan, was ich getan habe – das ist alles, was man weiß, wenn man zurückblickt. Ich selbst habe mir diese Prüfung geschaffen, aus meiner eigenen Inspiration heraus, meiner eigenen Unfähigkeit – die Inspiration war die Unfähigkeit –, und höchstwahrscheinlich tue ich nun wieder dasselbe. Und das auch noch in dieser wahnwitzigen Eile, als fürchtete ich, meine Verrücktheit könnte jeden Augenblick verschwinden, so dass ich nicht mehr imstande wäre, das zu tun, was ich tue und was ich, wie ich nur zu gut weiß, nicht tun sollte. Der Aufzug in dem fünfstöckigen kleinen Mehrparteienhaus aus weißen Ziegeln trug mich in die oberste Etage, wo ich am Eingang zu Wohnung 6B mit sympathischer Verbindlichkeit von einem pausbäckigen jungen Mann empfangen wurde, der sogleich sagte: »Sie

sind der Schriftsteller.« »Stimmt. Und Sie?« »Ein Schriftsteller«, sagte er lächelnd. Er bat mich herein und stellte mich seiner Frau vor. »Noch jemand, der schreibt«, sagte er. Sie war eine große, schlanke junge Frau, die, im Gegensatz zu ihrem Mann, nichts Kindliches, Verspieltes an sich hatte, jedenfalls nicht an diesem Abend. Ihr langes, schmales Gesicht war von feinen, gerade fallenden schwarzen Haaren eingerahmt, die bis über die Schultern reichten – der Schnitt sollte anscheinend einen Fehler verdecken, der allerdings kaum äußerlicher Natur sein konnte, denn, ganz gleich, was sie verbergen wollte, ihr Äußeres war erlesen sanft und makellos. Sie wurde von ihrem Mann grenzenlos geliebt und war der Quell seiner Lebenskraft, das war aus der unverstellten Zärtlichkeit ersichtlich, mit der seine Bücke und Gesten sie einhüllten, selbst wenn sie etwas sagte, was ihm nicht unbedingt gefiel. Es war deutlich, dass beide sie als die Brillantere betrachteten und dass seine Persönlichkeit in ihre eingebettet war. Sie hieß Jamie Logan, sein Name war Billy Davidoff, und als sie mir die Wohnung zeigten, schien er Gefallen daran zu finden, mich respektvoll Mr. Zuckerman zu nennen. Es war eine hübsche Wohnung mit drei großen Zimmern, möbliert mit modernen, teuren europäischen Möbeln, Kelims und einem wunderschönen Perserteppich im Wohnzimmer. Im Schlafzimmer gab es einen großen Arbeitsplatz mit Bück auf eine hohe Platane im Hof und im Wohnzimmer einen zweiten, von dem aus man auf eine Kirche blickte. Überall waren Bücherstapel, und wo keine mit Büchern gefüllten Regale standen, hingen gerahmte Fotos von Statuen, die Billy in italienischen Städten

aufgenommen hatte. Woher kam das Geld, mit dem die beiden Dreißigjährigen diese bescheidene Opulenz finanzierten? Ich nahm an, dass es von ihm stammte und dass sie sich in Amherst oder Williams oder Brown kennengelernt hatten: ein fügsamer, reicher, weichherziger jüdischer Junge und ein starkes, leidenschaftliches armes Mädchen, irisch, vielleicht halb italienisch, das von der Grundschule an immer alle Erwartungen übertroffen hatte, mit enormem Ehrgeiz, vielleicht sogar so etwas wie eine Aufsteigerin … Doch ich irrte mich. Es war ihr Geld, und es stammte aus Texas. Ihr Vater war in Houston in der Ölindustrie, und seine Herkunft war so amerikanisch, wie eine amerikanische Herkunft nur sein kann. Billys jüdischer Familie gehörte ein Geschäft für Koffer und Schirme in Philadelphia. Die beiden hatten sich in einem Schreibseminar für Graduierte an der Columbia University kennengelernt. Beide hatten noch kein Buch veröffentlicht, doch vor fünf Jahren war eine ihrer Kurzgeschichten im New Yorker erschienen, worauf Verleger und Agenten sich erkundigt hatten, ob sie vielleicht einen Roman habe. Ich hätte nicht gedacht, dass sie diejenige mit der höherentwickelten künstlerischen Veranlagung war. Nachdem ich die Wohnung gesehen hatte, setzten wir uns in das ruhige Wohnzimmer, dessen Fenster doppelt verglast waren. Die kleine lutherische Kirche gegenüber, ein hübsches Gebäude mit schmalen Fenstern, Spitzbögen und einer Fassade aus rauhem Naturstein, war zwar vermutlich Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut worden, sollte die Gemeindemitglieder der Upper West Side anscheinend jedoch in ein nordeuropäisches Dorf im 14. oder 15. Jahrhundert zurückversetzen. Gleich vor dem

Fenster verloren die fächerförmigen Blätter eines gesunden Ginkgobaums ihre sommerlich grüne Farbe. Als ich eingetreten war, war im Hintergrund leise eine Aufnahme Vier letzten Liedern erklungen, und als Billy nun den CD-Spieler ausschaltete, fragte ich mich, ob Jamie und er die Lieder zufällig gehört hatten oder ob einer von ihnen mein Kommen zum Anlass genommen hatte, diese dramatisch elegische, atemberaubend emotionale Musik aufzulegen, geschrieben von einem alten Mann am Ende seines Lebens. »Sein Lieblings Instrument ist die weibliche Stimme«, sagte ich. »Oder zwei«, sagte Billy. »Am liebsten ließ er zwei Frauen zusammen singen. Am Ende vom Rosenkavalier. Am Ende von Arabella. In der Ägyptischen Helena.« »Sie kennen sich aus mit Strauss.« »Na ja, auch mein Lieblingsinstrument ist die weibliche Stimme.« Damit wollte er seiner Frau schmeicheln, doch ich tat, als hätte ich es nicht gemerkt. »Komponieren Sie auch?« fragte ich ihn. »Nein, nein«, sagte Billy. »Ich hab mit dem Schreiben genug zu tun.« »Tja, in meinem Haus im Wald«, sagte ich, »ist es auch nicht friedlicher als hier.« »Wir wollen nur für ein Jahr tauschen«, sagte Billy. »Darf ich fragen, warum?« »Es war Jamies Idee«, antwortete er und klang nicht so fügsam, wie ich ihn eingeschätzt hatte. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, Jamie zu

verhören, und so sah ich sie nur an. Sie hatte eine starke sinnliche Ausstrahlung – vielleicht war sie darauf bedacht, schlank zu bleiben, damit diese Ausstrahlung nicht noch stärker wurde. Oder vielleicht, um sie im Gegenteil zu unterstreichen, denn ihre Brüste waren nicht die einer unterernährten Frau. Sie trug Jeans, ein tief ausgeschnittenes, spitzenbesetztes Oberteil aus Seide, das aussah wie ein Unterhemd – und, wie ich bei genauerem Hinsehen feststellte, tatsächlich ein Unterhemd war –, und darüber eine lange Jacke mit einem breiten gerippten Saum sowie einem ebenfalls gerippten Gürtel, den sie lose um die schmale Taille geschlungen hatte. Es war ein Kleidungsstück, das, verglichen mit dem von Amy Bellette zum Kleid umgewandelten Krankenhausnachthemd, am anderen Ende der Skala weiblicher Garderobe stand, in einem blassen, sanften Hellbraun, aus dicker, weicher Kaschmirwolle gewebt. Die Jacke mochte gut und gern tausend Dollar gekostet haben, und Jamie sah darin lässig aus, lässig und verführerisch, als trüge sie einen Kimono. Sie sprach jedoch leise und rasch, wie hochkomplizierte Menschen es oft tun, besonders wenn sie unter Druck stehen. »Warum wollen Sie nach New York?« war ihre Antwort auf meinen Blick. »Ich habe hier eine kranke Freundin«, sagte ich. Ich hatte noch immer keine klare Vorstellung davon, was ich in ihrer Wohnung tat, was ich mir wünschte. Wollte ich meine Lebensumstände verändern? Wie eigentlich? Wollte ich, wenn ich arbeitete, vor meinem Fenster eine viktorianische Kopie einer mittelalterlichen Kirche sehen anstatt meine riesigen Ahornbäume und unregelmäßigen Steinmauern? Wollte ich Autos sehen, wenn ich hinunter

auf die Straße blickte, anstatt Hirsche und Kühe und wilde Truthähne, die meinen Wald bevölkerten? »Sie hat einen Gehirntumor«, erklärte ich, lediglich aus dem Bedürfnis heraus, etwas zu sagen. Etwas zu ihr zu sagen. »Tja, wir wollen weg«, sagte Jamie, »weil ich keine Lust habe, im Namen Allahs umgebracht zu werden.« »Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?« fragte ich. »In der West 71st?« »Diese Stadt steht in ihren kranken Hirnen ganz oben auf der Liste. Bin Laden träumt nur vom Bösen, und dieses Böse nennt er ›New York‹.« »Davon weiß ich nichts«, sagte ich. »Ich lese keine Zeitungen. Schon seit Jahren nicht mehr. Die New York Review habe ich mir nur wegen der Kleinanzeigen gekauft. Ich habe keine Ahnung, was in der Welt geschieht.« »Aber Sie wissen von der Wahl«, sagte Billy. »Praktisch nichts«, antwortete ich. »In der Provinzstadt, in der ich lebe, reden die Leute nicht offen über Politik, schon gar nicht, wenn ein Außenstehender wie ich dabei ist. Und den Fernseher schalte ich nicht oft ein. Nein, ich habe keine Ahnung.« »Sie haben den Krieg nicht verfolgt?« »Nein.« »Sie wissen nichts von Bushs Lügen?« »Nein.« »Wenn ich an Ihre Bücher denke«, sagte Billy, »fallt es mir schwer, das zu glauben.« »Ich habe meine Dienstzeit als aufgebrachter Liberaler und empörter Bürger abgeleistet«, sagte ich, scheinbar an

ihn gewandt, während ich in Wirklichkeit abermals zu ihr sprach, und zwar aus einem Motiv heraus, das ich, als ich begann, nicht einmal selbst kannte, aus einer Sehnsucht, von deren Stärke ich gehofft hatte, sie sei dahingeschwunden. Die Kraft, die mich im Alter von einundsiebzig Jahren aufs neue antrieb, die Kraft, die mich überhaupt zum Urologen nach New York hatte fahren lassen, gewann in Gegenwart von Jamie Logan und ihrer Tausend-Dollar-Jacke über einem tief ausgeschnittenen Mieder rasch an Stärke. »Ich will keine Meinung zum Ausdruck bringen, ich will mich nicht zu ›den anstehenden Fragen‹ äußern – ich will nicht mal wissen, wie sie lauten. Ich habe kein Interesse daran, etwas zu wissen, und das, woran ich kein Interesse habe, tilge ich aus meinem Leben. Darum lebe ich dort, wo ich lebe. Darum wollen Sie dort leben, wo ich lebe.« »Jamie will das«, sagte Billy. »Stimmt. Ich habe die ganze Zeit Angst«, sagte sie. »Vielleicht hilft eine neue Perspektive.« Sie hielt inne, nicht weil sie es für besser hielt, ihre Ängste gegenüber jemandem zu verbergen, der daran interessiert war, sein Haus in sicherer ländlicher Abgeschiedenheit gegen eine potentiell gefährdete New Yorker Wohnung zu tauschen, sondern weil Billy sie ansah, als versuchte sie bewusst, ihn in meiner Gegenwart zu provozieren. Wenn seine Beziehung zu ihr von Verehrung geprägt war, so doch nicht ausschließlich von Verehrung. Es war immerhin eine Ehe, und er konnte auch von seiner wunderbaren Ehefrau auf die Probe gestellt werden. »Verlassen denn auch andere die Stadt«, fragte ich Jamie, »weil sie Angst vor einem terroristischen Angriff haben?«

»Andere sprechen jedenfalls davon«, gab Billy zu. »Einige sind auch weggezogen«, warf Jamie ein. »Leute, die Sie kennen?« fragte ich. »Nein«, sagte Billy mit Nachdruck. »Wir sind die ersten.« Mit einem nicht übermäßig großzügigen Lächeln, mit einer Miene, die ich, fasziniert von ihr (so rasch bezwungen, wie es Billy in meiner Vorstellung gewesen war, wenn auch aus Gründen, die damit zu tun hatten, dass ich mich, im Gegensatz zu ihm, am anderen Ende der Erfahrung befand, an jenem Ende, hinter dem die Auslöschung wartet), als die einer Verführerin – einer spöttisch distanzierten Verführerin – deutete, sagte Jamie: »Ich bin gern die erste.« »Tja, wenn Sie mein Haus haben wollen«, sagte ich, »können Sie es haben. Warten Sie, ich zeichne Ihnen den Grundriss auf.« Als ich wieder im Hotel war, telefonierte ich mit Rob Massey, einem Tischler, der seit zehn Jahren mein Hausmeister ist, und mit seiner Frau Belinda, die in dieser Zeit einmal wöchentlich zum Putzen kommt und die Einkäufe erledigt, wenn ich keine Lust habe, die zwölf Kilometer nach Athena zu fahren. Ich diktierte ihnen eine Liste von Dingen, die sie einpacken und nach New York bringen sollten, und erzählte ihnen von dem jungen Ehepaar, das in der nächsten Woche in mein Haus ziehen und für ein Jahr dort wohnen würde. »Ich hoffe, das hat nichts mit Ihrer Gesundheit zu tun«, sagte Rob. Als vor neun Jahren die Prostataoperation vorgenommen worden war, hatte Rob mich nach Boston und anschließend vom Krankenhaus nach Hause gefahren,

und Belinda hatte für mich gekocht und mir in den unangenehmen Wochen der Genesung mit der Behutsamkeit und dem Einfühlungsvermögen, die ein Kranker braucht, geholfen. Seither war ich nicht mehr im Krankenhaus gewesen und hatte nichts Schlimmeres als eine Erkältung gehabt, doch sie waren ein freundliches, kinderloses Ehepaar in mittleren Jahren – ein drahtiger, scharfsinniger, sympathischer Mann und seine vollbusige, gesellige, unerhört tüchtige Frau –, und seit der Operation hatten sie meine kleinsten Bedürfnisse behandelt, als wären diese von größter Bedeutung. Hätte ich eigene Kinder gehabt, die verfolgten, wie ich alt wurde, so hätte ich nicht besser versorgt sein können – und möglicherweise wesentlich schlechter. Beide hatten noch nie ein Wort von dem gelesen, was ich geschrieben hatte, doch wann immer sie meinen Namen oder mein Foto in einer Zeitung oder Zeitschrift entdeckten, schnitt Belinda den Artikel aus und brachte ihn mir. Dann bedankte ich mich, gestand, dass ich ihn noch nicht kannte, und um jede unabsichtliche Kränkung dieser warmen, großherzigen Frau zu vermeiden, die überzeugt war, dass ich diese Ausschnitte in etwas aufbewahrte, was sie als mein »Album« bezeichnete, zerriss ich ihn später ungelesen in winzig kleine, umdentifizierbare Fetzen, die ich in die Mülltonne warf. Auch das hatte ich aus meinem Leben getilgt. An meinem siebzigsten Geburtstag hatte Belinda zum Abendessen in meinem Haus Hirschsteaks und Rotkohl für uns drei zubereitet. Das Fleisch – Rob hatte den Hirsch im Wald hinter meinem Grundstück erlegt – schmeckte wunderbar, und ebenso wunderbar waren die freundliche Großherzigkeit und warme Zuneigung dieser beiden Freunde. Sie prosteten mir mit Champagner zu und

schenkten mir einen dunkelbraunen Pullover aus Lammwolle, den sie in Athena gekauft hatten; dann baten sie mich, eine kleine Rede darüber zu halten, wie es war, siebzig zu sein. Nachdem ich ihren Pullover angezogen hatte, erhob ich mich von meinem Platz am Kopf der Tafel und sagte: »Es wird eine kurze Rede sein. Stellen Sie sich das Jahr 4000 vor.« Sie lächelten, als wäre ich im Begriff, einen Witz zu erzählen, und so fügte ich hinzu: »Nein, nein. Stellen Sie es sich vor. Ganz im Ernst. In allen Dimensionen und allen Aspekten. Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit.« Nach einigen Augenblicken ernsten Schweigens sagte ich leise: »So ist es, wenn man siebzig ist«, und setzte mich wieder. Rob Massey war der ideale Hausmeister, von dem jeder träumt, Belinda die ideale Putzfrau, die jeder will. Ich hatte zwar nicht mehr Larry Hollis, der über mich wachte, wohl aber diese beiden, und die Zeit, die ich dem Schreiben widmen konnte, ja sogar das Schreiben selbst, verdankte ich zum Teil der Tatsache, dass sie sich so gut um alles kümmerten. Und nun wollte ich mich von ihnen trennen. »Nein, mit meiner Gesundheit ist alles in Ordnung. Aber ich habe hier einiges zu tun, und darum haben wir die Wohnungen getauscht. Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen, und wenn Sie mich über irgend etwas benachrichtigen wollen, rufen Sie mich per R-Gespräch an.« Rob antwortete gutmütig: »R-Gespräche führt seit zwanzig Jahren kein Mensch mehr.« »Tatsächlich? Na ja, Sie wissen schon, was ich meine. Ich werde den Leuten sagen, dass Belinda einmal wöchentlich zum Putzen kommt und dass sie sich an Sie wenden sollen,

wenn irgend etwas im Haus zu tun ist. Ich werde Sie weiterhin bezahlen, außer für Dinge, die Jamie Logan oder Billy Davidoff für sich selbst erledigt haben wollen – das können sie dann mit Ihnen aushandeln.« Ich verspürte einen überraschenden Stich, als ich Jamies Namen aussprach und daran dachte, dass ich nicht nur Rob und Belinda, sondern auch sie verlor – und diesen Verlust auch noch selbst einfädelte. Es war, als würde ich das verlieren, was mir auf der Welt am liebsten war. Ich sagte ihnen, sobald ich in die Wohnung in der West 71st Street gezogen sei, sollten sie mir gemeinsam die Sachen, die ich noch benötigte, bringen, und anschließend solle einer von ihnen meinen Wagen zurückfahren und in ihrer Garage unterstellen – und übrigens solle er in meiner Abwesenheit bhin und wieder bewegt werden. Ich hatte zwei Monate zuvor ein Buch beendet und noch kein neues begonnen, daher waren keine Manuskripte oder Notizbücher zu transportieren. Hätte ich bereits an einem neuen Buch gearbeitet, so hätte ich diesen Ortswechsel vermutlich nicht in Erwägung gezogen, und wenn, dann hätte ich das Manuskript gewiss keinem anderen anvertraut. Und außerdem: Wäre ich aus irgendeinem Grund in mein Haus am Wald zurückgekehrt, dann wäre ich, das wusste ich genau, nicht wieder nach New York gefahren, und zwar nicht aus Jamies Gründen, nicht weil ich Angst vor einem terroristischen Angriff hatte, sondern weil sich alles Nötige dort befand, wo ich war: die ununterbrochene Ruhe, die ich mittlerweile zum Schreiben brauchte, die Bücher, die meinen Interessen dienten, und eine Umgebung, in der ich besser als anderswo mein seelisches Gleichgewicht bewahren und mich fit genug halten konnte, um so lange wie möglich zu arbeiten. In der

Stadt würde ich nur etwas finden, was ich, wie ich beschlossen hatte, nicht mehr brauchte: das Hier und Jetzt. Hier und Jetzt. Damals und Jetzt. Der Anfang und das Ende des Jetzt. Das waren die Zeilen, die ich auf den Zettel kritzelte, auf dem ich zuvor Amy Bellettes Namen und die Telefonnummer meiner neuen New Yorker Wohnung notiert hatte. Titel für irgend etwas. Vielleicht für dieses Buch. Oder sollte ich ganz unverblümt sein und es Ein Mann in Windeln nennen? Ein Buch über einen, der weiß, wohin er zu gehen hat, um seine Qual zu erleben, und dann dorthin geht. Am nächsten Morgen rief mich die Sprechstundenhilfe des Urologen an und fragte, ob alles in Ordnung sei und ob ich Unregelmäßigkeiten festgestellt hätte: Fieber, Schmerzen, irgend etwas Ungewöhnliches. Ich sagte, es gehe mir gut, die Inkontinenz sei jedoch, soweit ich das sagen könne, unverändert. Auf ihre ruhige, tröstliche Art riet sie mir, Geduld zu haben und weiter darauf zu warten, dass eine Verbesserung eintrat – das sei durchaus nicht unwahrscheinlich und in manchen Fällen erst Wochen nach der Behandlung der Fall. Sie erinnerte mich auch daran, dass gelegentlich ein zweiter oder sogar dritter Eingriff nötig sei, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, und dass man sich ohne Bedenken drei Monate hintereinander einmal monatlich dieser Prozedur unterziehen könne. »Es ist gut möglich, dass es durch die Verengung des Blasenmunds gelungen ist, das Tröpfeln zu vermindern oder ganz abzustellen. Bitte rufen Sie uns an

und schildern Sie dem Doktor möglichst genau Ihren Zustand. Ganz gleich, was passiert – rufen Sie uns innerhalb einer Woche noch einmal an. Tun Sie uns den Gefallen, Mr. Zuckerman, bitte.« Ich verspürte den übermächtigen Wunsch, die seichte, blödsinnige Phantasie von meiner Regeneration über Bord zu werfen, meinen Wagen aus der Garage um die Ecke zu holen und schleunigst nach Hause zu fahren, wo ich meine Gedanken wieder dorthin lenken konnte, wohin sie gehörten, nämlich auf die alles verändernden Anforderungen der Schriftstellerei, die keine Traumtänze duldet. Was du nicht hast, musst du entbehren – du bist einundsiebzig, finde dich damit ab. Die Zeiten prahlerischer Überheblichkeit sind vorbei. Von etwas anderem zu träumen ist lächerlich. Es war nicht nötig, irgendetwas über Amy Bellette oder Jamie Logan herauszufinden, und ebensowenig war es nötig, etwas über mich selbst herauszufinden. Auch das war nur lächerlich. Das Drama der Selbsterforschung war längst abgeschlossen. Ich hatte in all den Jahren nicht wie ein Kind gelebt und wusste über dieses Thema mehr, als ich wissen musste. Bis weit über die Sechzig hinaus hatte ich den Blick nicht abgewendet, den Dingen den Rücken gekehrt und mich mit etwas anderem beschäftigt. Ich hatte mich bemüht, keine Furcht zu zeigen, doch was immer noch zu erledigen war, konnte erledigt werden, ohne dass ich mich mit Al Qaida, Terrorismus, dem Krieg im Irak und der möglichen Wiederwahl von George W. Bush beschäftigte. Es war nicht ratsam, sich dieser empörten, hochemotionalen Krisenhysterie auszusetzen – in der Zeit des Vietnamkriegs war ich für meine persönliche Form dieses Gemütszustands nur zu empfänglich gewesen –, und wenn ich wieder in die

Stadt zog, würde es nicht lange dauern, bis sie mich erfasste, sie und die nicht unbedingt erhellende Geschwätzigkeit, mit der sie einherging und die einen, wenn man eine ganze Nacht in der Leere dieser Erregtheit verbracht hatte, innerlich kochen lassen konnte wie einen Verrückten, dumm und hoffnungslos, und gewiss hatte das auch zu Jamie Logans Entschluss beigetragen, die Flucht zu ergreifen. Oder hatte das, was in den vergangenen Jahren geschehen war, ausgereicht, um sie mit einem zweiten schrecklichen Angriff rechnen zu lassen, der sie und Billy und Tausende anderer auslöschen würde? Ich konnte nicht beurteilen, ob sie die richtigen Schlüsse gezogen hatte, ob sie einfach durch die Situation halb wahnsinnig vor Angst war (wie ihr vernunftorientierter, geduldiger junger Ehemann anscheinend glaubte), ob ihre Annahme durch Bin Laden bestätigt werden würde oder ob ich dadurch, dass ich in der Stadt blieb, eine Katastrophe auf mich herabbeschwören würde, die weit schlimmer war als die Verwirrung, die Rip Van Winkle überkommen hatte. Ich, der ich einst auf alles mögliche sofort reagiert hatte, um dann aber während der vergangenen zehn Jahre ein Leben in ereignisarmer Einsamkeit zu führen, hatte mir abgewöhnt, jedem Impuls nachzugeben, der mir durch den Kopf schoss, und doch hatte ich vor nur wenigen Tagen einen spontanen Entschluss gefasst, der sich vielleicht als die gedankenloseste Entscheidung meines ganzen Lebens erweisen würde. Das Telefon in meinem Hotelzimmer läutete. Der Mann am anderen Ende sagte, er sei ein Freund von Jamie Logan und Billy Davidoff. Er kenne Jamie aus Harvard, wo sie zwei

Jahre vor ihm studiert habe. Freier Journalist. Richard Kliman. Artikel über literarische und kulturelle Themen. Für die Sonntagsbeilage der Times, für Vanity Fair, New York und Esquire. Ob ich heute Zeit hätte? Ob er mich zum Mittagessen einladen könne? »Was wollen Sie?« fragte ich. »Ich schreibe über einen alten Bekannten von Ihnen.« Ich hatte wenig Geduld mit Journalisten – sofern ich überhaupt je Geduld mit ihnen gehabt hatte –, und es gefiel mir nicht, dass er meinen Aufenthaltsort so mühelos herausgefunden hatte, denn das berührte einen der Umstände, die mich ursprünglich aus New York vertrieben hatten. Ohne weitere Erklärungen legte ich auf. Innerhalb von Sekunden läutete das Telefon abermals. »Unser Gespräch ist unterbrochen worden«, sagte Kliman. »Ich habe es unterbrochen.« »Mr. Zuckerman, ich schreibe eine Biographie über E. I. Lonoff. Ich habe Jamie um Ihre Nummer gebeten, weil ich weiß, dass Sie Lonoff in den fünfziger Jahren kennengelernt und mit ihm korrespondiert haben. Ich weiß auch, dass Sie als junger Schriftsteller ein großer Bewunderer von Lonoff waren. Ich bin jetzt ein paar Jahre alter, als Sie es damals waren. Ich bin nicht das literarische Wunderkind, das Sie waren – das ist mein erstes Buch, und es ist kein Roman. Aber will nicht mehr und nicht weniger erreichen als Sie. Ich weiß, was ich nicht bin, aber ich weiß auch, was ich bin. Ich werde mein Bestes geben. Wenn Sie Jamie anrufen und meine Referenzen überprüfen wollen –« Nein, ich wollte Jamie anrufen und sie fragen, warum sie Mr. Kliman meine Telefonnummer gegeben hatte.

»Das Letzte, was Lonoff wollte, war ein Biograph«, sagte ich. »Er hatte nicht den Ehrgeiz, zum Gegenstand von Gesprächen zu werden. Oder von Büchern. Er wollte anonym bleiben – ein harmloser Wunsch, der für die meisten automatisch in Erfüllung geht und ganz leicht zu respektieren ist. Sehen Sie, er ist seit über vierzig Jahren tot. Niemand liest seine Bücher. Niemand erinnert sich an ihn. Man weiß so gut wie nichts über ihn. Jede Biographie müsste weitgehend imaginär sein – mit anderen Worten, ein Zerrbild.« »Aber Sie haben ihn gelesen«, erwiderte Kliman. »Sie haben sogar sein Werk erwähnt, als Sie damals, in meinem zweiten Studienjahr, mit ein paar Studenten in der Signet Society zu Mittag gegessen haben. Sie haben uns gesagt, welche seiner Erzählungen wir lesen sollten. Ich war dabei. Jamie war Mitglied der Signet Society und hatte mich eingeladen, auch zu kommen. Erinnern Sie sich an die Signet Society? Es ist eine künstlerisch orientierte Studentenvereinigung, und wir haben gemeinsam an einem großen Tisch zu Mittag gegessen und sind danach in den Salon gegangen – erinnern Sie sich? Am Abend davor hatten Sie in der Memorial Hall aus Ihrem Werk gelesen, und eine der Studentinnen hatte Sie eingeladen, und so sind Sie am nächsten Tag vor Ihrer Abreise zum Mittagessen gekommen.« »Nein, ich erinnere mich nicht«, sagte ich, obwohl ich mich sehr wohl erinnerte – an die Lesung, weil es meine letzte vor der Prostataoperation gewesen war, die letzte überhaupt, und sogar an das Essen, als Kliman es erwähnte, weil mir gegenüber eine dunkelhaarige Studentin gesessen und mich die ganze Zeit angesehen hatte. Das musste Jamie Logan mit Zwanzig gewesen sein. In der West 71st Street

hatte sie so getan, als wären wir uns noch nie begegnet, doch das stimmte nicht, und damals war sie mir aufgefallen. Was war an ihr so ungewöhnlich gewesen? Nur die Tatsache, dass sie die Hübscheste von allen gewesen war? Das wäre natürlich möglich – das und die selbstsichere Zurückhaltung, auf die ihr gelassenes Schweigen hindeutete, das jedoch ebensogut ein Zeichen dafür hätte sein können, dass sie damals zu schüchtern war, um den Mund aufzumachen, wenn auch nicht so schüchtern, um mich anzustarren und nichts dagegen zu haben, ihrerseits von mir angestarrt zu werden. »Und Sie interessieren sich noch immer für ihn«, sagte Kliman. »Das weiß ich, weil Sie neulich die gebundene Scribner-Ausgabe seiner Erzählungen gekauft haben. Bei Strand. Eine Freundin von mir arbeitet bei Strand und hat es mir erzählt. Sie war ganz aufgeregt, weil sie Sie dort gesehen hatte.« »Eine taktisch sehr ungeschickte Bemerkung gegenüber jemandem, der ein zurückgezogenes Leben führt, Kliman.« »Ich bin kein Taktiker. Ich bin ein Enthusiast.« »Wie alt sind Sie?« »Achtundzwanzig«, sagte er. »Was soll das alles überhaupt?« »Was mich motiviert? Ich würde sagen, der Forschergeist. Meine Neugier treibt mich voran, Mr. Zuckerman. Das ist nicht unbedingt etwas, was einen beliebt macht. Bei Ihnen zum Beispiel hat es mich bereits unbeliebt gemacht. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Das ist mein stärkster Antrieb.« War er naiv unausstehlich oder unausstehlich naiv – oder bloß jung oder bloß gerissen?

»Stärker als der Antrieb, Karriere zu machen?« fragte ich. »Für Furore zu sorgen?« »Ja, Sir. Lonoff ist mir ein Rätsel. Ich versuche, hinter sein Geheimnis zu kommen. Ich will ihm Gerechtigkeit zuteil werden lassen, und ich dachte, Sie könnten mir dabei helfen. Es ist wichtig, mit Leuten zu sprechen, die ihn gekannt haben. Glücklicherweise sind einige noch am Leben. Ich brauche Leute, die meine Theorie über ihn stützen oder, wenn sie es für angebracht halten, in Frage stellen. Lonoff hat sich versteckt, nicht nur als Mensch, sondern auch als Schriftsteller. Das war unabdingbar für die Entfaltung seines Genies. Die Wunde und der Bogen. Er hat ein großes Geheimnis aus seinen frühen Jahren bewahrt. Es ist ein Zufall, dass er in derselben Gegend wie Hawthorne gelebt hat, aber es gibt Menschen, die behaupten, dass auch Nathaniel Hawthorne ein großes Geheimnis hatte, und zwar eines, das einige Ähnlichkeit mit Lonoffs aufwies. Sie wissen, worauf ich anspiele.« »Nein, ich habe keine Ahnung.« »Hawthornes Sohn schrieb, Melville sei in späteren Jahren überzeugt gewesen, dass Hawthorne sein Leben lang ›ein großes Geheimnis verborgen‹ habe. Tja, und ich bin mehr als überzeugt, dass für Lonoff dasselbe gilt. Es würde vieles erklären. Unter anderem sein Werk.« »Warum sollte sein Werk erklärt werden müssen?« »Weil ihn, wie Sie schon sagten, niemand liest.« »Genaugenommen liest niemand irgend jemanden. Andererseits hat die breite Öffentlichkeit, wie ich Ihnen ja nicht zu sagen brauche, einen riesigen Appetit auf Geheimnisse. Was biographische ›Erklärungen‹ betrifft, so macht es die Dinge im allgemeinen nur schlimmer, wenn

man Komponenten hinzufügt, die es gar nicht gibt und die, wenn es sie gäbe, keinen ästhetischen Unterschied machen würden.« »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte er, offenbar entschlossen, meine Worte an sich abperlen zu lassen, »aber ich kann nicht so zynisch sein und gute Arbeit abliefern. Das Verschwinden von Lonoffs Werk ist ein kultureller Skandal. Einer von vielen, aber einer, den ich vielleicht ansprechen kann.« »Und darum«, sagte ich, »haben Sie es auf sich genommen, diesen Skandal zu beenden, indem Sie das große Geheimnis aus seiner Jugend enthüllen, das alles erklärt. Ich nehme an, es ist sexueller Natur.« Trocken erwiderte er: »Das ist sehr scharfsinnig, Sir.« Normalerweise hätte ich abermals aufgelegt, doch nun war ich der Neugierige: Ich war neugierig, wie weit er in seiner Entschlossenheit und Selbstgefälligkeit gehen würde. Seine Stimme klang nicht eigentlich streitlustig, doch ihre Unbeirrbarkeit machte deutlich, dass er bereit war, mit mir die Klinge zu kreuzen. Zu meiner Überraschung erinnerte er mich flüchtig an mich selbst in seinem Alter, als ahmte er die Art nach, wie ich damals vorangestürmt war (oder, wie es mir inzwischen wahrscheinlicher erschien, als machte er sich darüber lustig). Da war sie, die taktlose Strenge des tatkräftigen jungen Mannes, der nicht den leisesten Zweifel an der Klarheit seiner Gedanken hat, der blind ist vor Selbstvertrauen, überzeugt, genau das zu wissen, worauf es ankommt. Das rücksichtslose Durchsetzen dessen, was man für notwendig hält. Der Impuls, jedes Hindernis zu vernichten. Diese großartige Zeit, in der man sich fortwährend in Szene setzt, vor nichts zurückschreckt und immer recht hat. Alles ist ein Ziel, man

befindet sich ständig im Angriff, und nur man selbst ist im Recht. Der unverwundbare Junge, der sich für einen Mann hält und darauf brennt, eine große Rolle zu spielen. Nun, sollte er sie spielen. Er würde schon sehen. »Ich wollte, Sie wären nicht so dagegen«, sagte er, klang aber nicht so, als würde ihm das etwas ausmachen. »Ich wollte, sie würden mir Gelegenheit geben, Ihnen zu erklären, welche Bedeutung in meinen Augen seiner persönlichen Geschichte zukommt und wie sie sich auf seine Arbeit ausgewirkt hat, nachdem er Hope verlassen hatte und mit Amy Bellette zusammen war.« Die Worte »nachdem er Hope verlassen hatte« machten mich wütend. Ich verstand ihn – die kompromisslose Hartnäckigkeit, die Unverblümtheit, der unausrottbare Virus der Überlegenheit (er würde so freundlich sein, mir etwas zu erklären) –, doch das bedeutete nicht, dass ich ihm vertraute. Was konnte er, abgesehen von Klatsch und Gerüchten, über die Zeit wissen, »nachdem er Hope verlassen hatte«? »Auch das muss nicht erklärt werden«, sagte ich. »Eine gründlich dokumentierte kritische Biographie könnte sehr dazu beitragen, Lonoff wiederauferstehen zu lassen und ihm zu seinem angestammten Platz in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zu verhelfen. Aber seine Kinder weigern sich, mit mir zu reden, seine Frau ist der älteste Alzheimer-Patient in Amerika und kann nicht mit mir reden, und Amy Bellette beantwortet meine Briefe nicht mehr. Auch Sie haben meine Briefe nicht beantwortet.« »Ich kann mich an keine erinnern.«

»Ich habe sie an Ihren Verlag geschickt, weil ich dachte, das sei die beste Methode, jemanden zu kontaktieren, von dem man weiß, dass er auf seine Privatsphäre so großen Wert legt wie Sie. Die Briefe kamen zurück, mit einem Aufkleber versehen, auf dem stand: ›Zurück an Absender – unverlangte Sendungen werden nicht mehr angenommene« »Das ist ein Service, den alle Verlage anbieten. Das habe ich übrigens von Lonoff gelernt. Als ich so alt war wie Sie.« »Dieser Aufkleber, den Sie verwendeten – ist das Lonoffs Sprache? Seine Formulierung?« Es war tatsächlich Lonoffs Formulierung – ich hätte sie nicht verbessern können –, doch ich schwieg. »Ich habe eine Menge über Miss Bellette herausgefunden und würde es gern verifizieren. Ich brauche eine glaubwürdige Quelle, und Sie sind glaubwürdig. Stehen Sie in Kontakt mit ihr?« »Nein.« »Sie lebt in Manhattan und arbeitet als Übersetzerin. Sie hat einen Gehirntumor, und wenn er wächst, bevor ich Gelegenheit habe, noch einmal mit ihr zu sprechen, wird alles, was sie weiß, verloren sein. Sie könnte mir mehr erzählen als jeder andere.« »Warum sollte sie das tun?« »Ich weiß, alte Männer hassen junge Männer. Das versteht sich von selbst.« So beiläufig, dieses kryptische Aufblitzen von Weisheit. Ist der Kampf zwischen den Generationen etwas, über das er gelesen hat, oder hat ihm jemand davon erzählt, oder ist es etwas, mit dem er eigene Erfahrungen gemacht hat, oder kam die Erkenntnis plötzlich und unerwartet? »Ich

versuche nur, verantwortungsvoll zu sein«, fügte Kliman hinzu, und jetzt war es das Wort »verantwortungsvoll«, das mich wütend machte. »Ist nicht Amy Bellette der Grund, warum Sie in New York sind?« fragte er. »Das haben Sie doch zu Billy und Jamie gesagt: dass Sie hier sind, weil Sie sich um eine Freundin kümmern wollen, die Krebs hat.« »Wenn das Gespräch das nächste Mal unterbrochen wird«, sagte ich, »rufen Sie lieber nicht zurück.« Fünfzehn Minuten später rief Billy an und entschuldigte sich für seine und Jamies Indiskretion. Er habe nicht gewusst, dass unsere Unterhaltung vertraulich gewesen sei, und es tue ihm leid, wenn er und seine Frau mir Ungelegenheiten bereitet hätten. Bei Kliman, der ihn soeben angerufen habe, um ihm zu sagen, wie schlecht das Gespräch mit mir verlaufen sei, handele es sich um einen Freund von Jamie aus Collegezeiten, mit dem sie noch immer befreundet sei, und sie habe sich nichts Böses gedacht, als sie ihm gesagt habe, wer sich auf ihre Anzeige gemeldet habe. Billy sagte, weder er noch Jamie hätten vorhergesehen, dass ich Vorbehalte haben würde, mit dem Biographen von E. I. Lonoff zu sprechen, einem Autor, den ich, wie sie alle wüssten, bewunderte – und das sei, wie er jetzt sehe, ein Fehler gewesen. Er versicherte mir, sie würden die getroffene Vereinbarung für sich behalten, ich müsse mir aber der Tatsache bewusst sein, dass es, sobald ich in ihre Wohnung gezogen sei, nicht lange dauern werde, bis sich unter ihren Freunden und Bekannten herumgesprochen habe, wer jetzt dort wohne, und dasselbe gelte umgekehrt für mein Haus … Er war höflich und gewissenhaft, was er sagte, hatte Hand und Fuß, und so erwiderte ich: »Nicht so schlimm.«

Natürlich war Kliman ein Freund von Jamie gewesen. Ein weiterer Grund, warum ich ihn nicht ausstehen konnte. Der Grund. »Richard kann ziemlich aufdringlich sein«, sagte Billy. »Aber«, fuhr er fort, »wir möchten uns dafür entschuldigen, dass wir ihm gesagt haben, in welchem Hotel Sie abgestiegen sind. Das war gedankenlos.« »Nicht so schlimm«, wiederholte ich und sagte mir in Gedanken abermals, ich solle in den Wagen steigen und nach Hause fahren. New York war voller Leute, die vom »Forschergeist« getrieben wurden, und nicht alle besaßen das dazugehörige Ethos. Sollte ich die Wohnung in der West 71st Street – sowie das Telefon – übernehmen, so würde ich mich zwangsläufig in Lebensumstände begeben, deren ich überdrüssig war und die zu bewältigen mir, wie ich soeben demonstriert hatte, die Finesse fehlte. Nicht dass meine Neugier nicht geweckt worden wäre durch das, was Kliman über Lonoff gesagt hatte. Nicht dass ich nicht überrascht gewesen wäre, dass ich – ein unglaublicher Zufall – Lonoffs Amy nach beinahe fünfzig Jahren wiedergesehen hatte, dass ich ihr vom Krankenhaus zu jenem Schnellimbiss gefolgt war und dass Kliman mich dann angerufen, mir von Amys Gehirntumor erzählt und versucht hatte, mich mit seinen vertraulichen Informationen über Lonoffs an Hawthorne gemahnendes »Geheimnis« aus der Reserve zu locken. Für mich, der ich das Leben in der Abgeschiedenheit kultiviert, mich Wiederholungen unterworfen und an die Monotonie ausgeliefert hatte, der ich alles aus meinem Leben verbannt hatte, was mir nicht unerlässlich erschien (vorgeblich im Dienste meines Werks, wahrscheinlicher aber, um ein Versagen zu kaschieren), war es, als würde ich mit einem

seltenen astronomischen Ereignis konfrontiert, als hätte eine Sonnenfinsternis stattgefunden, und zwar so, wie sie sich in vorwissenschaftlichen Zeiten ereignet hatte, nämlich ohne dass die Menschen etwas davon geahnt hatten. Ich war spontan in eine neue Zukunft eingetreten und doch, ohne es zu wollen, in die Vergangenheit zurückgekehrt – eine rückwärts gerichtete Flugbahn, die nicht so ungewöhnlich, aber dennoch irgendwie unheimlich war. »Wir möchten Sie einladen, die Wahlnacht bei uns zu verbringen«, sagte Billy. »Es werden nur Jamie und ich dasein. Wir werden zu Hause sitzen und die Auszählung verfolgen. Wir können gemeinsam zu Abend essen, und danach bleiben Sie, so lange Sie wollen. Tun Sie uns doch den Gefallen.« »Dienstag abend?« Er lachte. »Ja, noch immer der erste Dienstag nach dem ersten Montag im November.« »Ich werde kommen«, sagte ich. »Ich nehme Ihre Einladung an.« Dabei dachte ich nicht an die Präsidentschafts wähl, sondern an Billys Frau und Klimans ehemalige Freundin und an die Lust, die ich einer Frau auch dann nicht mehr bereiten könnte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe. Alte Männer hassen junge Männer? Junge Männer erfüllen sie mit Neid und Hass? Warum auch nicht? Die Absurditäten drangen von allen Seiten auf mich ein, und mein Herz schlug mit verrückter Ungeduld, als könnte die medizinische Behandlung, die meine Inkontinenz mildern sollte, irgend etwas gegen meine Impotenz bewirken, was sie natürlich nicht konnte – als hätte sich, ganz gleich, wie

sexuell ungeübt und unfähig ich nach elfjähriger Abwesenheit sein mochte, der durch die Begegnung mit Jamie geweckte Trieb mit wildem Ungestüm als die eigentliche Lebenskraft zurückgemeldet. Als gäbe es in der Gegenwart dieser jungen Frau Hoffnung. Durch eine einzige kurze Begegnung mit Billy und Jamie war ich nicht nur wieder eingetaucht in eine Welt literarisch ehrgeiziger Jugend, die mich nicht mehr interessierte, sondern hatte mich auch für die Irritationen, die Reize, die Versuchungen und die Gefahren des gegenwärtigen Augenblicks geöffnet. In meinem Fall ging damals, als ich beschlossen hatte, die Stadt für immer zu verlassen, die spezifische Gefahr – die Gefahr eines Angriffs auf mein Leben – nicht vom islamischen Terrorismus aus, sondern von mehreren Morddrohungen, die, wie das FBI festgestellt hatte, von einer einzigen Person stammten. Jede einzelne dieser Drohungen stand auf einer Postkarte, die irgendwo im Norden von New Jersey abgestempelt worden war, der Gegend, in der ich aufgewachsen war. Es war nie zweimal derselbe Ort, doch das abgebildete Motiv war jedesmal der damalige Papst, Johannes Paul II, der die Menge auf dem Petersplatz segnete, kniend betete oder in brokatverziertem weißem Ornat Audienz gewährte. Auf der ersten Karte stand: Liebe Judensau, wir gehören zu einer neuen internationalen Organisation zur Bekämpfung der rassistischen, ekelhaften Philosophie des ZIONISMUS. Als einer der jüdischen Parasiten, die »gojische« Länder und ihre Einwohner aussaugen, bist du

als Ziel ausgewählt worden. Da du in Jew York wohnst, ist unsere »Abteilung« mit der »Ausführung« beauftragt worden. Dies ist die erste Warnung. Der Text der zweiten Karte mit dem Bild Johannes Pauls war mit dem der ersten identisch, nur dass der letzte Satz lautete: »DIES IST DIE ZWEITE WARNUNG, JUDE!« Ich hatte auch früher schon Schmäh- oder Drohbriefe erhalten, aber niemals mehr als zwei oder drei pro Jahr, und in den meisten Jahren gar keine. Außerdem hatten mich auf den Straßen von New York immer wieder Fremde angesprochen und mir unangenehme Diskussionen aufgedrängt, weil ich in einem Roman etwas geschrieben hatte, was sie faszinierte oder wütend machte oder sie faszinierte, weil es sie wütend machte, oder wütend machte, weil es sie faszinierte. Mehr als einmal war ich zum Opfer solcher beunruhigenden Aufdringlichkeiten geworden, weil meine Bücher Menschen, die von Erdichtetem leicht zu Phantasien verleitet wurden, zu gewissen Auffassungen anregten. Doch nun wurde ich zum Ziel erklärt: Monatelang erhielt ich diese Postkarten Woche für Woche, und zur gleichen Zeit bekam ein im Mittleren Westen lebender Kritiker, der eins meiner Bücher in der New York Times Book Review äußerst lobend rezensiert hatte, ebenfalls eine Postkarte mit dem Bild des Papstes. Diese war an das College adressiert, an dem er unterrichtete, und zwar an die »Abteilung für Speichelleckerei und Englisch«. Keine Anrede, bloß dies, in winzigen Buchstaben: Nur ein billiger kleiner Schmalspur-Arschkriecher von einem Scheiß-»Professor für Englisch« kann sich so weit erniedrigen, den neuesten Haufen Scheiße dieser Judensau

als »das Beste und Lohnendste, was er je hervorgebracht hat« zu bezeichnen. Wie schade, dass Abschaum wie du die Gehirne junger Menschen ungestraft verschmutzen darf. Eine Salve aus einer AK-47. Das würde die höhere Bildung in Amerika wieder zu dem machen, was sie mal war. Oder jedenfalls dazu beitragen. Mein New Yorker Anwalt stellte den Kontakt zum FBI her. In meiner Wohnung in der East 91st Street erhielt ich Besuch von einer Agentin namens M. J. Sweeney, einer kleinen, munteren, aus den Südstaaten stammenden Frau von Anfang Vierzig, die die Postkarten an sich nahm (um sie, zusammen mit der, die der Kritiker erhalten hatte, zur Untersuchung und Analyse nach Washington zu schicken) und mir sagte, welche Vorsichtsmaßnahmen ich treffen sollte, als würde sie mir die Grundregeln eines mir unbekannten Sports oder Spiels erklären. Ich sollte ein Gebäude erst verlassen, wenn ich mich davon überzeugt hatte, dass weder gegenüber noch rechts und links verdächtig wirkende Personen zu sehen waren. Wenn auf der Straße jemand auf mich zukam, sollte ich nicht auf sein Gesicht, sondern auf seine Hände achten, für den Fall, dass er nach einer Waffe griff. Sie gab mir noch mehr solcher Ratschläge, die ich auch befolgte, obwohl ich nicht sehr überzeugt war, dass sie einen wirksamen Schutz gegen jemanden darstellten, der entschlossen war, mich niederzuschießen. Die Bezeichnung »AK-47«, die auf der an den Rezensenten adressierten Postkarte gestanden hatte, tauchte nun auch in den an mich gerichteten Botschaften auf. Es gab Wochen, in denen die Nachricht lediglich aus den mit schwarzem Filzstift geschriebenen fünf Zentimeter hohen Buchstaben und Ziffern »AK-47«

bestand. Jedesmal, wenn wieder eine Postkarte eintraf, telefonierte ich mit M.J. Ich fotokopierte beide Seiten der Karte, bevor ich sie in einen Umschlag steckte und an die Agentin schickte. Als ich sie eines Tages anrief und ihr sagte, mein neuestes Buch sei für einen Preis nominiert worden und man habe mich zur Preisverleihung in einem Hotel in Manhattan eingeladen, fragte sie: »Wie sind die Sicherheitsmaßnahmen?« »Ich nehme an, dass es so gut wie keine gibt.« »Hat die Öffentlichkeit Zutritt?« »Sie hat jedenfalls nicht keinen Zutritt«, sagte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der hineinwill, auf ernsthafte Schwierigkeiten stößt. Ich schätze, es werden an die tausend Leute dasein.« »Na, dann passen Sie gut auf sich auf«, sagte sie. »Das hört sich an, als würden Sie mir abraten, hinzugehen.« »Ich kann nicht für das FBI sprechen«, sagte M.J. »Das FBI kann Ihnen in dieser Sache nicht raten.« »Sollte ich den Preis erhalten, muss ich auf die Bühne gehen, um ihn entgegenzunehmen. Da wäre ich ein leichtes Ziel, oder?« »Wenn ich Ihre Freundin wäre«, antwortete sie, »würde ich sagen: Ja.« »Wenn Sie meine Freundin wären, was würden Sie mir dann raten?« »Bedeutet es Ihnen viel, dorthin zu gehen?« »Nein, es bedeutet mir nichts.« »Also, wenn ich diejenige wäre, der es nichts bedeutet«, sagte M.J., »und ich hätte über zwanzig Morddrohungen

bekommen, würde ich nicht mal in die Nähe dieses Hotels gehen.« Am nächsten Tag mietete ich einen Wagen und fuhr in den Westen von Massachusetts, Innerhalb von achtundvierzig Stunden kaufte ich ein Haus mit zwei großen Räumen – in dem einen gab es einen offenen Kamin, in dem anderen einen Holzofen –, zwischen denen sich eine kleine Küche befand; durch ihr Fenster sah man einen Hain aus knorrigen alten Apfelbäumen, einen recht großen, zum Schwimmen geeigneten ovalen Teich und eine hohe, vom Sturm beschädigte Weide. Die zwölf Morgen Land, die zum Haus gehörten, grenzten an einen malerischen, von Wasservögeln bevölkerten Sumpf. Am Haus führte in einiger Entfernung ein Feldweg vorbei, auf dem man nach vier bis fünf Kilometern eine Asphaltstraße erreichte – nach Athena ging es dann durch viele Kurven noch weitere sieben bis acht Kilometer zu Tal. In Athena hatte E. I. Lonoff unterrichtet, als ich ihn, seine Frau und Amy Bellette 1956 kennengelernt hatte. Das Haus der Lonoffs, 1790 erbaut, war in der Familie seiner Frau von einer Generation an die nächste weitergegeben worden, und man konnte es von dem Haus, das ich soeben gekauft hatte, mit dem Wagen in zehn Minuten erreichen. In diese Gegend hatte Lonoff sich zurückgezogen, und deshalb suchte ich instinktiv ebenfalls dort Zuflucht – deshalb, und weil ich damals dreiundzwanzig gewesen war und diese Begegnung nie vergessen hatte. In der Armee hatte ich gelernt, mit einem Gewehr umzugehen, und so kaufte ich mir in einem Waffengeschäft eine.22er und verbrachte ein paar Nachmittage damit, im Wald zu schießen, bis ich wieder einigermaßen treffsicher war. Das Gewehr und die Munition bewahrte ich im

Schrank neben meinem Bett auf. Ich ließ eine Alarmanlage mit einer direkten Verbindung zur nächsten Station der Staatspolizei einbauen und eine Außenbeleuchtung an den Ecken des Hausdachs installieren, damit das Grundstück nicht im Dunkeln lag, wenn ich abends nach Hause zurückkehrte. Dann rief ich M.J. an und erzählte ihr von meinen Maßnahmen. »Vielleicht bin ich hier draußen gefährdeter, aber bis jetzt fühle ich mich sicherer und habe weniger Angst als in der Stadt. Ich werde meine Stadtwohnung noch behalten, aber vorerst bleibe ich hier draußen, jedenfalls so lange, bis ich keine Drohungen mehr bekomme.« »Weiß irgend jemand, wo Sie sind?« »Bislang nur Sie. Ich lasse mir die Post an eine andere Adresse nachschicken.« »Tja«, sagte M.J., »das wäre nicht meine erste Empfehlung gewesen, aber Sie müssen natürlich tun, was Ihnen das größte Gefühl der Sicherheit gibt.« »Ich werde immer wieder mal in der Stadt sein, aber hier draußen wohnen.« »Viel Glück«, sagte sie und fügte hinzu, dass sie meine Akte nun an das FBI-Büro in Boston werde schicken müssen. Nachdem sie sich verabschiedet und aufgelegt hatte, wälzte ich mich die ganze Nacht unruhig im Bett herum und dachte über das nach, was ich getan hatte, denn ich war überzeugt, dass es M.J. Sweeney gewesen war, die in der ganzen Zeit, in der ich die Drohungen erhalten hatte, zwischen mir und der AK-47 des Absenders gestanden hatte. Auch als schließlich keine Morddrohungen mehr kamen, blieb ich in meinem Haus auf dem Land. Es war inzwischen

zu meinem Zuhause geworden, und ich lebte dort elf Jahre lang, schrieb Bücher, hielt mich fit, bekam Krebs, unterzog mich einer radikalen Therapie und wurde, ohne es zu wissen oder zu registrieren, mit jedem Tag alter. Die Gewohnheit, allein zu sein, ohne darunter zu leiden, hatte von mir Besitz ergriffen, und mit ihr kamen die Freuden, niemandem Rechenschaft schuldig und frei zu sein – paradoxerweise frei vor allem von mir selbst. Ich widmete mich tagelang ausschließlich meiner Arbeit und genoss den Luxus der Zufriedenheit. Einsamkeit, bittere Einsamkeit war selten und konnte mit Hilfe von Strategien abgewehrt werden: Überfiel sie mich tagsüber, so verließ ich den Schreibtisch und machte einen langen Spaziergang durch den Wald oder am Fluss entlang, kam sie in der Nacht, dann legte ich das Buch, das ich las, beiseite und hörte mir etwas an, was meine ganze Aufmerksamkeit erforderte, beispielsweise ein Quartett von Bartók. So gewann ich meine Stabilität zurück und machte die Einsamkeit erträglich. Alles in allem war ein Dasein ohne die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, weit besser als eines mit den Spannungen und Aufregungen, den Konflikten, der Sinnlosigkeit und dem Abscheu, welche, wenn man altert, die vielfältigen Beziehungen, aus denen ein reiches, erfülltes Leben besteht, ganz und gar nicht erstrebenswert erscheinen lassen. Ich hielt mich von alldem fern, weil ich mir im Lauf der Jahre eine Lebensweise zu eigen gemacht hatte, die ich (und nicht nur ich) für unmöglich gehalten hätte, und darauf war ich stolz. Ich hatte New York aus Angst verlassen, doch indem ich Schicht um Schicht meines Lebens abtrug, fand ich in meiner Abgeschiedenheit eine Art von Freiheit, die mir meist sehr gefiel. Ich hatte die Tyrannei meiner Intensität abgeschüttelt –

aber indem ich über ein Jahrzehnt lang für mich allein gelebt hatte, war ich vielleicht auch nur ihrer strengsten Form erlegen. Am letzten Tag im Juni 2004 kehrte die Bezeichnung »AK-47« zurück, um mich zu erschrecken. Ich weiß, dass es der 30. Juni war, weil an diesem Tag die weiblichen Schnappschildkröten die Teiche und Wasserlöcher in diesem Teil Neuenglands verlassen, um eine offene, sandige Stelle zu finden, wo sie eine Mulde graben und darin ihre Eier ablegen. Es sind starke, langsame Tiere, große Schildkröten mit dreißig Zentimeter langen, am Rand gezackten Panzern und langen, mit dicken Schuppen besetzten Schwänzen. Sie tauchen in Scharen am südlichen Ende von Athena auf und überqueren die zweispurige Straße, die in die Stadt führt. Autofahrer warten geduldig minutenlang, um keine von ihnen zu überfahren, wenn sie aus dem dichten Wald kriechen, in dessen Marschen und Tümpeln sie leben, und viele Einheimische haben es sich, wie ich, zur Gewohnheit gemacht, nicht nur anzuhalten, sondern auch auf dem Seitenstreifen der Straße zu parken und der Parade dieser selten gesehenen Reptilien zuzusehen, die sich auf kurzen, starken, schuppigen Beinen und prähistorisch wirkenden Klauen Zentimeter für Zentimeter vorwärts schieben. Jedes Jahr hört man so ziemlich dieselben Witze, dasselbe Gelächter, dieselben Äußerungen der Verwunderung und erfährt von pädagogisch gesinnten Eltern, die mit ihren Kindern gekommen sind, um ihnen das Spektakel zu zeigen, wieviel die Schildkröten wiegen, wie lang ihre Hälse sind, wie stark sie zubeißen können, wieviel Eier sie legen und wie alt sie werden. Dann steigt man wieder in seinen

Wagen und fährt in die Stadt, um etwas zu erledigen, so wie auch ich es an diesem sonnigen Tag tat, vier Monate bevor ich nach New York fuhr, um mich über die KollagenBehandlung beraten zu lassen. Ich parkte schräg vor der Grünanlage im Zentrum und traf einige Geschäftsinhaber, die ich persönlich kannte und die aus ihren Läden getreten waren, um die Sonne zu genießen. Wir standen da und unterhielten uns über Nebensächlichkeiten, in der freundlichen Grundstimmung von Menschen, die über alles nur das Beste denken – ein Herrenausstatter, ein Spirituosenhändler und ein Schriftsteller –, und wir verströmten die Zufriedenheit von Amerikanern, die sicher und außerhalb der Reichweite der nervenaufreibenden Welt lebten. Nachdem ich die Straße überquert hatte, ging ich zum Haushaltswarengeschäft, und jemand, der mir entgegenkam, sagte, als er auf gleicher Höhe mit mir war: »AK-47.« Ich fuhr herum und erkannte an dem breiten Rücken und den einwärtsgerichteten Füßen sogleich, wer es war: der Maler, den ich im Sommer zuvor beauftragt hatte, die Fassade meines Hauses zu streichen, und dem ich, weil er jeden zweiten Tag nicht erschienen war – und, wenn er aufgetaucht war, nur zwei, drei Stunden gearbeitet hatte –, den Auftrag hatte entziehen müssen, obwohl die Arbeit nicht einmal zur Hälfte erledigt war. Die Rechnung, die er mir geschickt hatte, war so exorbitant, dass ich sie, anstatt mich mit ihm herumzustreiten – wir hatten am Telefon oder im direkten Gespräch beinahe täglich lautstarke Auseinandersetzungen über seine Arbeitsstunden oder sein Nichterscheinen gehabt –, an meinen örtlichen Rechtsanwalt weitergeleitet hatte. Der Name des Mannes

war Buddy Barnes, und ich hatte, leider zu spät, erfahren, dass er einer von Athenas notorischen Alkoholikern war. Der Aufkleber auf seinem Wagen – CHARLTON HESTON IST MEIN PRÄSIDENT – hatte mir nie besonders gefallen, aber ich hatte nicht viel darauf gegeben, denn obwohl der legendäre Filmstar es auch als Präsident der rücksichtslos unverantwortlichen National Rifle Association zu Berühmtheit gebracht hatte, war er, als ich Buddy den Auftrag gab, schon weitgehend dement, und so war mir dieser Aufkleber eher dumm und harmlos erschienen. Ich war natürlich verblüfft über das, was ich auf der Straße gehört hatte, so verblüfft, dass ich, anstatt kurz nachzudenken, wie ich darauf reagieren könnte oder ob ich überhaupt darauf reagieren sollte, quer über den Rasen zu der Stelle rannte, wo Buddys Pickup geparkt war. Er war gerade eingestiegen, und ich rief seinen Namen und schlug mit der Faust auf den Kotflügel, bis er das Fenster herunterkurbelte. »Was haben Sie gerade zu mir gesagt?« fragte ich ihn. Buddy war ein Mann von Mitte Vierzig mit groben Manieren und hatte ein rosiges und, trotz des schütteren blonden Barts auf Oberlippe und Kinn, beinahe engelsgleiches Gesicht. »Ich hab mit Ihnen nichts zu bereden«, erwiderte er mit seiner hohen, näselnden Stimme. »Was haben Sie zu mir gesagt, Barnes?« »Herrgott«, sagte er und verdrehte die Augen. »Antworten Sie mir. Antworten Sie mir, Barnes. Warum haben Sie das gesagt?« »Sie hören anscheinend Stimmen, Sie Spinner«, sagte er, legte den Rückwärtsgang ein, setzte aus der Parklücke und fuhr davon, wobei er wie ein Teenager die Reifen quietschen ließ. Nach einer Weile kam ich zu dem Schluss, dass der

Zwischenfall nicht die dramatische Bedeutung besaß, die ich ihm zunächst beigemessen hatte. Ja, er hatte »AK-47« gesagt, und ja, ich war mir dessen so sicher, dass ich, sobald ich wieder zu Hause war, das New Yorker Büro des FBI anrief und M.J. Sweeney zu sprechen verlangte, nur um zu erfahren, dass sie vor zwei Jahren ausgeschieden sei. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, dass ich diese Postkarten Monate vor meinem Umzug erhalten hatte, lange bevor jemand wie Buddy Barnes überhaupt von meiner Existenz wußte. Barnes konnte sie mir unmöglich geschickt haben, zumal sie im Norden von New Jersey, mehr als hundertfünfzig Kilometer südlich von Athena, abgestempelt gewesen waren. Dass er mich ausgerechnet mit dem Begriff gequält hatte, mit dem ich etwa elf Jahre zuvor per Post gequält worden war, konnte nur ein äußerst seltsamer Zufall sein. Dennoch öffnete ich zum erstenmal, seit ich die .22er gekauft und im Wald Schießübungen veranstaltet hatte, die Schachtel mit der Munition und legte die Waffe, anstatt sie, wie in all den Jahren zuvor, ungeladen im Schlafzimmerschrank aufzubewahren, geladen auf den Boden neben meinem Bett. Und dabei blieb es, bis ich nach New York aufbrach, obgleich ich mich irgendwann fragte, ob Buddy vielleicht gar nichts gesagt hatte, und zu dem Schluss kam, dass ich an diesem wunderschönen Frühsommermorgen, nachdem ich mich an dem Anblick der Schnappschildkröten ergötzt hatte, die mühsam über die Straße gekrochen waren, um ihre Eier abzulegen, eine überaus lebensechte auditorische Halluzination gehabt hatte, aus Gründen, die mir jedenfalls unerklärlich waren. An der Inkontinenz hatte sich durch die Kollagen-

Behandlung nichts geändert, und als ich am Tag der Präsidentschaftswahl in der urologischen Abteilung des Krankenhauses anrief, um es der Sprechstundenhilfe mitzuteilen, schlug sie vor, ich solle einen Termin für eine zweite Behandlung in einem Monat vereinbaren. Falls es in der Zwischenzeit zu einer Verbesserung kam, konnte ich den Termin immer noch absagen, falls nicht, würde man die Behandlung wiederholen. »Und wenn die auch nicht wirkt?« »Dann machen wir es ein drittes Mal, aber nicht durch die Harnröhre«, erklärte sie mir, »sondern durch die Narbe der Prostataoperation. Das ist nur eine Punktion. Mit örtlicher Betäubung. Schmerzlos.« »Und wenn die dritte Behandlung auch nichts bringt?« fragte ich. »Ach, das ist noch lange hin, Mr. Zuckerman. Wir machen einen Schritt nach dem anderen. Lassen Sie den Mut nicht sinken. Es wird schon besser werden.« Als wäre die Inkontinenz noch nicht entwürdigend genug, musste man sich auch noch wie ein widerspenstiger Achtjähriger behandeln lassen, der sich sträubte, seinen Lebertran zu nehmen. Aber so ist es eben, wenn ein älterer Patient sich weigert, die unvermeidlichen Leiden hinzunehmen und folgsam dem Grab entgegenzuschlurfen: Ärzte und Schwestern haben es mit einem Kind zu tun, das mit sanften Worten überredet werden muss, in seiner aussichtslosen Situation noch ein wenig durchzuhalten. Das jedenfalls dachte ich, als ich den Hörer auflegte, jeden Stolzes beraubt und im Wissen um die Begrenztheit meiner Kraft – ein Mann an dem Punkt, wo er scheitert, ganz gleich, ob er Widerstand leistet oder sich fügt. Was überraschte mich in den ersten Tagen am meisten, wenn ich durch die Stadt spazierte? Das Offensichtlichste:

die Mobiltelefone. Auf dem Berg, wo ich gelebt hatte, gab es noch keinen Empfang, und unten in Athena, das mit Antennen versorgt war, hatte ich auf den Straßen nur selten Menschen gesehen, die ungehemmt in ihr Handy sprachen. Ich erinnerte mich an ein New York, in dem die einzigen, die den Broadway entlanggingen und dabei scheinbar Selbstgespräche führten, verrückt waren. Was war in diesen zehn Jahren passiert, dass es plötzlich so viel zu sagen gab, dass so vieles derart dringend war und sogleich gesagt werden musste? Wo ich auch ging und stand, kam mir jemand entgegen, der in ein Telefon sprach, und hinter mir war ebenfalls jemand, der telefonierte. In den Wagen telefonierten die Fahrer. Wenn ich mir ein Taxi nahm, hing der Chauffeur am Telefon. Als ein Mensch, der oft tagelang mit niemandem sprach, fragte ich mich, was es gewesen sein mochte, das die Leute zuvor aufrechterhalten hatte und nun zusammengebrochen war, so dass sie lieber pausenlos in ein Telefon sprachen, als unüberwacht und für den Augenblick allein durch die Straßen zu gehen, die Umgebung mit ihren animalischen Sinnen wahrzunehmen und die zahllosen Gedanken zu denken, zu denen das Treiben in einer Stadt anregt. In meinen Augen ließ all dieses Telefonieren die Straßen komisch und die Menschen lächerlich erscheinen, doch zugleich war es wie eine wirkliche Tragödie. Wenn die Erfahrung des Getrenntseins ausgelöscht wird, muss das dramatische Konsequenzen haben. Worin werden sie bestehen? Wenn man weiß, dass man den anderen jederzeit erreichen kann, und ihn dann doch nicht erreicht, wird man ungeduldig – ungeduldig und wütend wie ein dummer kleiner Gott. Ich hatte mich damit abgefunden, dass Stille schon längst aus Restaurants, Aufzügen und Baseballstadien verschwunden war – aber

dass die ungeheure Einsamkeit der Menschen diese grenzenlose Sehnsucht erzeugte, gehört zu werden, gepaart mit der Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass alles, was man sagte, unentwegt belauscht wurde … Nun, ich hatte den größten Teil meines Lebens in einer Zeit zugebracht, in der es Telefonzeilen gab, deren Türen man schließen konnte, und war beeindruckt von der Öffentlichkeit, in der diese Telefongespräche stattfanden. Mir kam die Idee zu einer Geschichte, in der Manhattan sich in ein sinistres Gemeinwesen verwandelt hat, in dem jeder den anderen bespitzelt, in dem jeder von dem Menschen am anderen Ende der Verbindung aufgespürt werden kann, in dem jeder ständig irgendwelche anderen Leute anruft, ganz gleich, wo er sich gerade befindet, und in dem all diese Telefonierer glauben, ein Höchstmaß an Freiheit zu genießen. Ich wusste, dass ich mich, indem ich mir ein solches Szenario ausmalte, zu einem jener verschrobenen Menschen machte, die seit den Anfängen der Industrialisierung überzeugt waren, Maschinen seien lebensfeindlich. Dennoch konnte ich nicht anders: Ich verstand nicht, wie irgend jemand glauben konnte, er lebe ein menschenwürdiges Leben, wenn er die Hälfte seiner Wachzeit damit verbrachte, herumzulaufen und in ein Telefon zu sprechen. Nein, diese Apparate waren der Reflexion und Selbstbesinnung wohl kaum förderlich. Und außerdem fielen mir die jungen Frauen auf. Es war unvermeidlich. In New York war es noch immer warm, und die Frauen waren auf eine Weise gekleidet, die ich nicht ignorieren konnte, sosehr ich mich auch dagegen wehrte, von ebenjenen Begierden erregt zu werden, die ich durch mein Leben in der Abgeschiedenheit eines Naturschutzgebietes bewusst zum Schweigen gebracht

hatte. Von meinen Ausflügen nach Athena wusste ich, wie viel College-Studentinnen von sich zeigten, ohne Scham oder Angst zu empfinden, doch so recht verblüfft war ich erst, als ich in die Großstadt kam, wo die Zahl der Frauen verfielfacht und die Altersspanne größer war und ich neiderfüllt begriff, dass die Frauen, die sich so kleideten, nicht bloß betrachtet werden wollten, nein, diese provokative Zurschaustellung war der Beginn der Entschleierung. Aber vielleicht empfand das auch nur jemand wie ich. Vielleicht verstand ich das alles ganz falsch, vielleicht war dies eben die Art, wie man sich jetzt kleidete, wie T-Shirts jetzt aussahen, wie die Kleider für Frauen jetzt geschnitten waren, und vielleicht waren die Frauen, die in engen Blusen und knappen Shorts und mit nackten Bauchen herumliefen und den Eindruck erweckten, als waren sie zu haben, in Wirklichkeit gar nicht zu haben – und zwar nicht bloß für mich nicht. Doch Jamie Logan war es, die mich am meisten verwirrte. Seit Jahren, möglicherweise seit jenem Tag, an dem ich ihr im Speisesaal einer Studentenvereinigung in Harvard gegenübergesessen hatte, war ich einer so unwiderstehlichen jungen Frau nicht mehr so nah gewesen. Und erst als wir den Wohnungstausch vereinbart hatten und ich wieder in meinem Hotelzimmer war und mich bei dem Gedanken ertappte, wie schön es doch wäre, wenn es nicht zu diesem Tausch käme – wenn Billy Davidoff dort bliebe, wo er bleiben wollte, nämlich in der Wohnung gegenüber der lutherischen Kirche in der West 7ist Street, während Jamie ihrer Angst vor einem terroristischen Gewaltakt entfliehen und mich in die friedlichen Berkshires begleiten würde –, wurde mir bewusst, wie sehr sie mich verwirrt hatte. Sie übte eine gewaltige Anziehungskraft auf

mich aus, auf den Geist meines Begehrens. Diese Frau war in mir gewesen, bevor sie überhaupt in mein Leben getreten war. Der Urologe, der den Krebs diagnostiziert hatte, als ich zweiundsechzig gewesen war, hatte bedauernd gesagt: »Ich weiß, dass es kein Trost ist, aber Sie sind nicht der einzige – diese Krankheit hat in Amerika epidemische Züge angenommen. Viele andere kämpfen denselben Kampf wie Sie. In Ihrem Fall ist es besonders schade, dass ich die Diagnose jetzt und nicht in zehn Jahren stellen musste« – womit er meinte, dass die Impotenz infolge der Entfernung der Prostata zehn Jahre später vielleicht einen kleineren Verlust bedeutet hätte. Und so hatte ich mich darangemacht, diesen Verlust so klein wie möglich zu halten, indem ich mich bemühte, so zu tun, als hatte das Begehren auf natürliche Weise nachgelassen – bis zu dem Tag, an dem ich kaum eine Stunde lang in Gesellschaft einer schönen, privilegierten, intelligenten, selbstbewussten, lässig wirkenden, in ihrer Angst verführerisch verletzlichen Dreißigjährigen war und die bittere Hilflosigkeit eines der Lächerlichkeit preisgegebenen alten Mannes empfand, der nichts so sehr ersehnte, wie wieder vollständig zu sein.

2 Gebannt

AUF DEM WEG VON MEINEM HOTEL zur West 71th Street ging ich in ein Spirituosengeschäft und kaufte zwei Flaschen Wein für meine Gastgeber, dann setzte ich meinen Weg fort, um mir das Ergebnis dieses Wahlkampfs anzusehen, von dem ich, zum erstenmal seit 1940, als Willkie von Roosevelt geschlagen worden war und ich begonnen hatte, Wahlkämpfe zu verfolgen, so gut wie nichts wusste. Ich war mein Leben lang ein eifriger Wähler gewesen, der den Republikanern niemals eine Stimme gegeben hatte. Als Student hatte ich für Stevenson geworben, und meine jugendlichen Erwartungen hatten schwere Rückschläge erlitten, als Eisenhower ihn 52 und 56 vernichtend geschlagen hatte; und ich hatte meinen Augen nicht trauen wollen, als ich sah, dass ein so durch und durch pathologischer, offensichtlich betrügerischer und bösartiger Mensch wie Nixon 1968 Humphrey besiegte und dass in den achtziger Jahren ein von sich selbst eingenommener Holzkopf von unübertrefflicher Hohlheit, dessen abgedroschene Phrasen und absolute Blindheit für alle komplexen historischen Zusammenhänge zum Gegenstand nationaler Verehrung wurden, als »großer

Kommunikator« gefeiert wurde und bei beiden Wahlen Erdrutschsiege einfuhr. Und gab es je einen Wahlkampf wie den von Gore gegen Bush, der auf so niederträchtige Weise entschieden wurde, auf eine Art, die perfekt geeignet war, die letzten verschämten Reste der Naivität gesetzestreuer Bürger zu beseitigen? Ich hatte mich kaum je aus parteipolitischen Kämpfen herausgehalten, doch nachdem ich beinahe ein Dreivierteljahrhundert lang von amerikanischer Politik in Bann geschlagen worden war, hatte ich nun beschlossen, mich nicht mehr alle vier Jahre von den Gefühlen eines Kindes überwältigen zu lassen – von den Gefühlen eines Kindes und dem Schmerz eines Erwachsenen. Jedenfalls nicht, solange ich mich in meinem Häuschen vergraben konnte, wo es mir gelang, in Amerika zu sein, ohne mich von Amerika vereinnahmen zu lassen. Ich schrieb Bücher und befasste mich noch einmal, ein letztes Mal, mit den ersten großen Schriftstellern, die ich gelesen hatte – der ganze Rest, der einst so wichtig gewesen war, hatte seine Bedeutung vollkommen verloren, und ich hatte gut die Hälfte, wenn nicht sogar mehr, der politischen Werte und Ziele, die mein Leben bestimmt hatten, über Bord geworfen. Nach dem 11. September hatte ich all den Widersprüchen den Rücken gekehrt. Denn sonst, hatte ich mir gesagt, wirst du der typische verrückte Leserbriefschreiber, der Dorfnörgler, an dem sich das Syndrom in seiner ganzen Lächerlichkeit manifestiert: Du wirst beim Lesen der Zeitung schäumen und wüten, du wirst dich, wenn du abends mit Freunden telefonierst, lautstark über das bösartige Profitdenken ereifern, für das der authentische Patriotismus der verwundeten Nation von einem schwachköpfigen König ausgenutzt werden wird – und das in einer Republik: ein König in einem freien Land,

trotz all der Slogans von Freiheit, mit denen amerikanische Kinder aufwachsen. Die gnadenlose Verachtung, die einen gewissenhaften Bürger in der Zeit von George W. Bushs Präsidentschaft auszeichnete, war nichts für jemanden, der ein starkes Interesse daran entwickelt hatte, als einigermaßen gelassener Mensch zu überleben – und so begann ich, den beständigen Wunsch, etwas herauszufinden, nach und nach abzutöten. Ich kündigte Zeitschriftenabonnements, hörte auf, die Times zu lesen, und kaufte nicht einmal mehr hin und wieder eine Ausgabe des Boston Globe, wenn ich hinunter zum Lebensmittelgeschäft fuhr. Die einzige Zeitung, die ich regelmäßig las, war der Berkshire Eagle, eine lokale Wochenzeitung. Im Fernsehen sah ich mir nur Baseballspiele an, im Radio hörte ich lediglich Musik, und damit hatte es sich. Zu meiner Überraschung brauchte ich bloß einige Wochen, um mit der eingefleischten Gewohnheit zu brechen, die den größten Teil meines nicht auf das Schreiben gerichteten Denkens geprägt hatte, und mich ganz und gar wohl dabei zu fühlen, dass ich nicht wusste, was in der Welt geschah. Ich hatte mein Land aus meinen Gedanken ausgeschlossen und war meinerseits von allen erotischen Kontakten mit Frauen ausgeschlossen – infolge einer Kriegsneurose verloren für die Welt der Liebe. Ich hatte einen Verweis erteilt. Ich hatte mein Leben und meine Zeit hinter mir gelassen. Oder konzentrierte mich vielleicht nur auf das Wesentliche. Mein Häuschen hätte ebensogut auf hoher See dahintreiben können, anstatt in vierhundert Meter Hohe an einem Feldweg in Massachusetts zu stehen, eine dreistündige Autofahrt westlich von Boston und etwa ebensoweit nördlich von

New York. Als ich eintraf, war der Fernseher eingeschaltet, und Billy versicherte mir, die Wahl sei gelaufen – er stehe in Kontakt mit einem Freund im Hauptquartier der Demokratischen Partei, und deren Umfragen zeigten, dass Kerry all die Bundesstaaten gewonnen habe, die er brauche. Billy nahm dankend den Wein entgegen und sagte, Jamie sei ausgegangen, um etwas zu essen zu kaufen, und werde gleich wieder zurück sein. Wieder war er überschwenglich liebenswürdig und verströmte eine joviale Sanftheit, als läge Autorität ihm noch fern, als würde sie ihm vielleicht immer fernliegen. Ist er ein Relikt, dachte ich, oder gibt es sie noch immer, diese jüdischen Jungen aus der Mittelschicht, durchdrungen von der familientypischen Empathie, die einen, trotz der unvergleichlichen Befriedigung, die sie durch ihre Geborgenheit vermittelt, den Bosheiten seitens weniger freundlicher Menschen schutzlos ausliefert? Besonders im literarischen Milieu von Manhattan hätte ich etwas anderes erwartet als diese von Sanftheit erfüllten braunen Augen und die vollen, engelsgleichen Wangen, die ihn zwar nicht wie einen behüteten kleinen Jungen, aber doch wie einen großzügigen jungen Mann wirken ließen, gänzlich außerstande, zu verletzen oder verächtlich zu lachen oder auch nur die kleinste Verantwortung abzulehnen. Ich nahm an, dass Jamie jemand war, dem die nette Selbstlosigkeit dieses Mannes, dessen Worte und Gesten ausnahmslos von seinem Anstand kündeten, nicht annähernd gewachsen war. Die vertrauensvolle Unschuld, die Milde, das mitfühlende Verständnis – was für eine Einladung an einen Schurken, der es darauf anlegte, die Frau zu verführen,

deren Untreue für diesen Mann unvorstellbar war. Das Telefon läutete, als Billy im Begriff war, eine der Weinflaschen zu öffnen, und er reichte sie mir, damit ich sie entkorkte, während er zum Hörer griff und fragte: »Was s Neues?« Nach einer Sekunde sah er mich an und sagte: »New Hampshire ist sicher.« Und dann, an den Freund am anderen Ende der Leitung gerichtet: »Und Washington, D.C.?« W s acht zu eins für Kerry. Das ist die Entscheidung – die Schwarzen sind massenhaft zur Wahl gegangen. Okay, sehr gut«, sagte Billy in den Hörer und wandte sich, nachdem er aufgelegt hatte, strahlend mir zu. »Wir leben also doch in einer liberalen Demokratie.« Und damit wir auf die zunehmende freudige Erregung anstoßen konnten, schenkte er zwei große Gläser Wein ein. »Diese Kerle hätten das Land zugrunde gerichtet«, sagte er, »wenn sie ein zweites Mal gewonnen hätten. Wir hatten ja s überlebt, aber der hier schlägt alles. Ernsthafte kognitive Defizite. Dogmatisch. Ein unglaublich beschränkter Dummkopf, der im Begriff war, etwas sehr Großes zu zerstören. In Macbeth gibt es eine Zeile, die ihn perfekt beschreibt. Wir lesen uns laut vor, Jamie und ich. Im Augenblick die Tragödien. Die Stelle ist im dritten Akt, in der Szene mit Hekate und den Hexen. ›Ein verkehrter Sohn‹, sagt Hekate, ›trotzig und voll Übermut.‹ Das ist George Bush in sieben Worten. Es ist alles so ekelhaft. Wenn Sie für Ihre Kinder und für Gott sind, müssen Sie die Republikaner wählen – dabei sind diejenigen, die am meisten verarscht werden, genau diejenigen, die ihn unterstützen. Es ist schon erstaunlich,

dass diese Leute es bei der letzten Wahl geschafft haben. Und entsetzlich, sich auszumalen, was sie in einer zweiten Amtszeit gemacht hätten. Das sind schreckliche, böse Menschen. Aber ihre Arroganz und ihre Lügen haben sie schließlich doch zu Fall gebracht.« Mir gingen eigene Gedanken durch den Kopf, und ich ließ ihn noch ein paar Minuten lang zusehen, wahrend die ersten Ergebnisse eintrafen, bevor ich ihn fragte: »Wie haben Sie und Jamie sich eigentlich kennengelernt?« »Wie durch ein Wunder.« »Sie haben zusammen studiert.« Er lächelte überaus freundlich, während er doch, angesichts meiner Gedanken, besser daran getan hätte, den Dolch zu zücken, der Duncans Schicksal besiegelte. »Das macht das Wunder nicht kleiner«, sagte er. Ich erkannte, dass ich mich nicht aus Angst vor Entdeckung zu zügeln brauchte. Offenbar vermochte Billy sich nicht einmal ansatzweise vorzustehen, dass ein Mann meines Alters ihn nach seiner jungen Frau fragte, weil er an nichts anderes mehr denken konnte. Mein Alter führte ihn in die Irre, und meine Berühmtheit ebenfalls. Wie könnte er einem Schriftsteller, dessen Werke er in der Highschool gelesen hatte, so überaus niedrige Beweggründe unterstellen? Es war, als säße ihm Henry Wadsworth Longfellow gegenüber. Wie konnte der Verfasser von »Das Lied von Hiawatha« ein unzüchtiges Interesse an Jamie haben? Vorsichtshalber galt meine nächste Frage seiner Person. »Erzählen Sie mir von Ihrer Familie«, sagte ich. »Tja, ich bin der einzige in meiner Familie, der liest, aber das heißt nichts; es sind gute Menschen. Seit inzwischen

vier Generationen in Philadelphia. Mein Urgroßvater hat das Familienunternehmen gegründet. Er stammte aus Odessa und hieß Sam. Seine Kunden nannten ihn Onkel Sam, den Regenschirmmann. Er hat Schirme hergestellt und repariert. Mein Großvater hat ins Koffergeschäft expandiert. In den zehner und zwanziger Jahren fuhr alle Welt mit der Eisenbahn, und plötzlich brauchte jeder einen Koffer. Und es gab Schiffsreisen, transatlantische Schiffsreisen. Es war die Zeit der Schrankkoffer – Sie wissen schon, diese großen, schweren Dinger, die man auf lange Reisen mitnahm und wie einen Schrank öffnete, mit Schubladen und Kleiderbügeln.« »Ja, die kenne ich«, sagte ich. »Und auch die kleineren, die horizontal aufgeklappt wurden wie schwarze Piratentruhen. So einen hatte ich, als ich aufs College ging. Fast jeder hatte so einen. Diese Koffer waren aus Holz und hatten an den Ecken Metallbeschläge, und die teureren hatten Bänder aus verziertem Metall, und die Schlösser waren aus Messing und derart solide, dass sie ein Erdbeben überstanden hätten. So einen Koffer schickte man per Bahnexpress. Man fuhr damit zum Bahnhof und gab ihn am Gepäckschalter ab. Der Mann in der Penn Station in Newark trug damals noch einen grünen Augenschirm und hatte sich seinen Bleistift hinters Ohr geklemmt. Er wog den Koffer, denn die Gebühr wurde nach Gewicht berechnet, und dann gingen die Unterhosen und Socken auf die Reise.« »Ja, und in jeder Stadt gab es ein Koffergeschäft, und in den Warenhäusern gab es Abteilungen, wo man Gepäckstücke kaufen konnte. Erst die Stewardessen haben die Einstellung der Amerikaner zu ihrem Gepäck verändert«, sagte Billy. »Das war in den fünfziger Jahren.

Auf einmal sah man, dass Koffer leicht und chic sein konnten. Ungefähr zu der Zeit stieg mein Vater ins Geschäft ein, modernisierte den Laden und änderte den Namen in ›Davidoffs elegantes Gepäcks Bis dahin hatte die Firma ›Samuel Davidoff und Söhne‹ geheißen. Damals kamen auch die ersten Koffer mit Rädern auf – und das ist, stark gekürzt, die Geschichte der Gepäckbranche. Die vollständige Version umfasst etwa tausend Seiten.« »Sie schreiben die Geschichte des Familiengeschäfts?« Er nickte, er zuckte mit den Schultern, er seufzte. »Und der Familie. Jedenfalls versuche ich es. Ich bin ja sozusagen im Laden aufgewachsen. Ich habe von meinem Großvater tausend Geschichten gehört. Jedesmal, wenn ich ihn besuche, schreibe ich wieder ein Notizbuch voll. Ich hab genug Geschichten für ein ganzes Leben. Aber es ist eine s? Ich meine, wie man sie erzählt.« »Und Jamie? Wie ist sie aufgewachsen?« Er begann zu erzählen, wobei er sich lang und breit über ihre Leistungen ausließ: von Kinkaid, der exklusiven Privatschule in Houston, die sie als Jahrgangs beste abgeschlossen hatte, von ihrer steilen akademischen Karriere in Harvard, wo sie den Abschluss mit summa cum laude gemacht hatte, von River Oaks, dem vornehmen Viertel von Houston, wo ihre Familie lebte, vom Houston Country Club, wo sie Tennis gespielt hatte und geschwommen und gegen ihren Willen beim Debütantinnenball in die Gesellschaft eingeführt worden war, von ihrer spießigen Mutter, der sie es so gern recht machen wollte, und ihrem schwierigen Vater, dem sie es nie recht machen konnte, von ihren Lieblingsplätzen, die sie Billy gezeigt hatte, als sie zum ersten Mal gemeinsam nach Houston gefahren waren, um mit der Familie

Weihnachten zu feiern, von den Orten, wo sie als kleines Mädchen gespielt hatte und die er hatte sehen wollen, und von der bedrohlichen Schönheit der hässlichen Bayous, der Altwasser von Houston, bei Sonnenaufgang und wie Jamie mit ihrer wilden älteren Schwester, die, wie er sagte, das Wort wie die alten Einwohner von Houston »Buyohs« aussprach, trotzig in dem trüben Wasser geschwommen war. Ich hatte ihn lediglich gebeten, mir von ihr zu erzählen, doch was ich bekommen hatte, war eine Rede, die zur feierlichen Einweihung eines großen Gebäudes gepasst hätte. An dieser ausgeprägt zärtlichen Darbietung war nichts Sonderbares – ein bis über beide Ohren verliebter Mann kann, wenn die Frau seines Herzens in Buffalo aufgewachsen ist, diesen Ort in ein Xanadu verwandeln –, doch die Begeisterung für Jamie und ihre Kindheit in Texas war derart ungebremst, dass es war, als erzählte er mir von einer Frau, die er sich im Gefängnis erträumt hatte. Oder von der Jamie, die ich mir im Gefängnis erträumt hatte. Es war so, wie es bei vollendeter männlicher Hingabe zu sein hatte: Die Verehrung für seine Frau war seine stärkste Bindung an das Leben. Als er mir von der Strecke erzählte, die sie gemeinsam joggten, wenn sie Jamies Familie besuchten, wurde er regelrecht elegisch: »River Oaks – das ist das Viertel, in dem Jamies Eltern wohnen – ist völlig untypisch für Houston. Ein altes Viertel mit alten Häusern, obwohl auch ein paar schöne abgerissen worden sind, um Platz für Fertighäuser zu machen. Es ist eines der wenigen Viertel in Houston, wo man noch ein Gefühl für die Vergangenheit hat. Schöne Häuser, alte Eichen, Magnolien, ein paar Kiefern. Riesige, gutgepflegte

Gärten. Gärtnerkolonnen. Alles Mexikaner. Donnerstags und freitags stehen an den Straßen dicht an dicht die Pickups der Gartenbaufirmen, und Armeen von Arbeitern schneiden und schnippeln und mähen und pflanzen für das Wochenende, für die Partys und Feiern, die dann stattfinden. Wir joggen immer durch den älteren Teil von River Oaks, wo die Ölfamilien seit zwei, drei Generationen ihre riesigen Grundstücke haben, an den älteren Häusern vorbei und an einer ziemlich befahrenen Straße entlang, und dann kommen wir an ein Altwasser, das von River Oaks durch einen Park verläuft, in dem man kilometerlang bis fast zur Innenstadt joggen kann. Oder am Bayou entlang und wieder zurück. Kurz nach Sonnenaufgang ist es noch kühl, und die Gegend ist wunderschön. Der ruhige, diskrete Teil von River Oaks, wo die Leute nicht mit ihrem Reichtum angeben und ihre vielen Mercedes-Limousinen vor ihren neuen, protzigen Häusern parken, ist wirklich schön. Es gibt dort einen Rosengarten, der uns besonders gefällt und um den die Anwohner sich gemeinschaftlich kümmern. Ich liebe es, morgens mit Jamie an diesem Rosengarten vorbeizujoggen. Einige der alten Anwesen grenzen an das Wasser, und wenn man zum Bayou will, um daran entlangzulaufen, muss man River Oaks verlassen. Und dann ist da noch der Rest von Houston. River Oaks ist eine Insel, ein wohlhabender Rückzugsort, wo sich gleich zu gleich gesellt, das alte Geld und das neue Geld, die Familien an der Spitze des Kastensystems von Houston, und der Rest der Stadt ist größtenteils bloß heiß und feucht und flach und hässlich: Tätowierstudios neben Bürohäusern, Geschäfte für Joggingschuhe neben baufälligen Mietskasernen, alles irgendwie zusammengewürfelt. Das Schönste in der Stadt ist in

meinen Augen der alte Friedhof mit den alten immergrünen Eichen, wo ein paar von Jamies Vorfahren beerdigt sind, gleich neben den Bayous, beinahe in der Innenstadt.« »Ist das Geld in Jamies Familie alt oder neu?« fragte ich Billy. »Alt. Das alte Geld kommt aus dem Ölgeschäft, das neue aus selbständiger Arbeit.« »Und wie alt ist das alte Geld?« »Ach, nicht so alt, denn Houston ist relativ jung. Es stammt aus der Zeit der Ölmagnaten, wann immer das war. Jamies Großvater war einer von ihnen.« »Und wie reagierte das alte Houstoner Geld auf die Tatsache, dass Sie Jude sind?« fragte ich. »Ihre Eltern waren nicht begeistert. Die Mutter hat nur geweint. Aber der Vater hat den Vogel abgeschossen. Als Jamie sie besuchte und ihnen sagte, dass wir uns verlobt hätten, stützte er den Kopf in die Hände, und das tat er von da an jedesmal, wenn mein Name fiel. Sie schrieb ihm EMails von der Ostküste, die er drei, vier Wochen lang nicht beantwortete, mit voller Absicht. Sie sah einmal pro Stunde nach, aber er antwortete ihr nicht. Ein wirklich fieser Tyrann, dieser Typ. Die Karikatur eines Vaters. Egoistisch. Gedankenlos. Cholerisch. Vollkommen irrational. Dominierend. Giftig. Ein durch und durch widerwärtiger, ungehobelter Scheißkerl. Das muss man sich vorstellen: Indem er ihr nicht antwortet, versucht er, seine eigene Tochter zu brechen, nutzt bewusst und mit voller Überzeugung den Anstand seiner Tochter aus, um ihr das Gefühl zu geben, im Unrecht zu sein. Will sie kleinkriegen. Und mich natürlich auch. Wir waren einander noch gar

nicht begegnet, und doch wollte er mir weh tun. Und wer hätte mir je absichtlich weh tun wollen? Meines Wissens niemand, Mr. Zuckerman. Aber dieser brutale Kerl glaubt, völlig selbstverständlich das Recht zu haben, dem Mann weh tun zu dürfen, den seine Tochter zufällig liebt! Jamie ist eine gute Tochter, eine sehr gute Tochter – sie hat sich alle Mühe gegeben, diesen Menschen zu lieben, der immer im Unrecht war, sie hat sich bemüht, sosehr sie nur konnte, obwohl sie es gehasst hat, wie er ihre Mutter herumkommandiert hat, obwohl ihr seine politischen Ansichten und seine arroganten rechten Freunde zuwider waren. Einmal hat er ihr nach dreiwöchigem Schweigen eine E-Mail geschickt, die nur aus einem Satz bestand: ›Ich liebe dich, mein Schatz, aber ich kann diesen Mann nicht akzeptieren.‹ Aber Jamie hat Mumm, sie hat Mumm und Würde, und obwohl ihr Alter auf dem Geldsack saß und – nicht mal besonders zart –angedeutet hatte, dass er ihr, sollte sie tatsächlich einen Juden heiraten, den Hahn zudrehen würde, hat sie nicht nachgegeben. Sie hat durchgehalten, und schließlich stand dieses bigotte Arschloch vor der Wahl, entweder seine Feindseligkeit hinunterzuschlucken und sich mit mir abzufinden oder sein geliebtes Summacumlaude-Töchterchen zu verlieren. Eine schwächere Fünfundzwanzigjährige, eine, die nicht Jamies Mut und Selbständigkeit besitzt, hätte kapituliert. Aber Jamie ist nicht schwach. Jamie ist nicht verzogen, sie verstellt sich nicht, sie hat Ehrgefühl und würde sich nie und nimmer in etwas fügen, was ihr gegen den Strich geht. Jamie ist die Beste. Sie hat zu mir gesagt: ›Ich liebe dich, und ich will dich, und ich werde nicht die Sklavin seines Geldes sein.‹ Sie hat ihm praktisch gesagt, er soll sein Geld nehmen und es sich sonstwohin schieben, und so hat sie

schließlich ihn kleingekriegt. Ach, Mr. Zuckerman, es war so schon zu sehen, wie Jamie durchgehalten hat. Obwohl man hätte meinen sollen, dass ihr Vater sich bis zu dem Zeitpunkt, als sie mich kennengelernt hat, daran gewöhnt haben sollte. Mit ›daran‹ meine ich Jamie und Juden. Der Country Club dort unten nimmt inzwischen auch Juden auf. Zu Zeiten ihres Großvaters wäre das undenkbar gewesen, auch vor fünfzehn Jahren noch, in der Generation ihrer Eltern. Das ist alles noch ziemlich neu. Dass Juden und Schwarze in Kinkaid aufgenommen werden. Alles noch relativneu. Jamies Klassenkameradinnen waren jüdische Mädchen. Sie können sich vorstellen, was dieser Choleriker davon hielt. Aber sie waren intelligent und talentiert und versuchten nicht, das zu verbergen, nur um sich beliebt zu machen. Eine von Jamies Freundinnen hatte einen Bruder – Nelson Speilm s School besuchte, die andere renommierte Privatschule in Houston –, und der war zwei Jahre lang ihr Freund, bis er, in dem Jahr bevor sie in Kinkaid ihren Abschluss machte, nach Princeton ging. Jamie war eine sehr fleißige Schülerin in einem behüteten Umfeld, wo gesellschaftliche Anerkennung das Allerwichtigste ist. Es ist eine Schule, wo die Footballmannschaft die Schönheitskönigin für die alljährliche Versammlung der Ehemaligen wählt und sich kein Mädchen mit einem Jungen sehen lassen darf, der auf eine staatliche Schule geht – es muss schon Kinkaid oder St. s sein. Die Jungen auf der Kinkaid fahren Broncos und gehen auf die Jagd und sehen sich Sportsendungen an, alle wollen auf die University of Texas und trinken wie verrückt, und die Eltern drücken bei diesen Besäufnissen beide Augen zu.« »Sie wissen eine Menge über ihre Schule. Sie wissen auch

eine Menge über ihre Heimatstadt.« »Ich bin fasziniert«, sagte er und lachte. »Bin ich wirklich. Ich bin Jamies Herkunft hilflos ausgeliefert.« »Und mit anderen Freundinnen, die Sie früher hatten, ist Ihnen das nicht passiert?« »Nein, nie.« »Tja«, sagte ich, »als Heiratsgrund ist das wahrscheinlich nicht der schlechteste.« »Ach«, sagte er scherzend, »es gibt schon noch ein paar andere.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Ich bin die ganze Zeit stolz auf sie. Wissen Sie, was sie vor vier Jahren gemacht hat, als Jessie, die wilde ältere Schwester, im Endstadium der Charcot-Krankheit war? Sie hat ihre Sachen gepackt, ist nach Houston geflogen und hat Jessie bis zu ihrem Tod gepflegt. Ist fünf schreckliche, elende Monate Tag und Nacht bei ihr gewesen, während ich hier in New York war. Es ist eine furchtbare Krankheit. Normalerweise kriegt man sie erst mit über fünfzig, aber Jessie war erst dreißig, als ihre Hände und Füße plötzlich schwächer wurden und die Diagnose gestellt wurde. Im Verlauf der Krankheit werden alle motorischen Nervenbahnen zerstört, aber weil das Gehirn davon ausgespart bleibt, ist der Patient sich der Tatsache, dass er ein lebender Leichnam ist, vollkommen bewusst. Als es zu Ende ging, konnte Jessie nur noch die Lider bewegen, und so hat sie dann mit Jamie kommuniziert: durch Zwinkern. Fünf Monate lang ist Jamie nicht von ihrer Seite gewichen. Nachts hat sie in Jessies Zimmer geschlafen. Die Mutter war schon kurz nach der Diagnose zusammengebrochen und zu nichts zu gebrauchen, und der Vater blieb sich von Anfang

bis Ende treu: Er wollte nichts mit einer Tochter zu tun haben, die ihm Ungclegenheiten bereitete, indem sie eine tödliche Krankheit bekommen hatte. Er kümmerte sich nicht um sie, und nach einer Weile wollte er nicht mal mehr ihr Zimmer betreten, um sie mit väterlichen Worten zu trösten, geschweige denn sie zu berühren oder ihr einen Kuss zu geben. Er verdiente einfach weiter Geld, als wäre zu Hause alles in schönster Ordnung, während seine sechsundzwanzigjährige jüngere Tochter seiner vierunddreißigjährigen älteren Tochter beim Sterben half. Aber an dem Abend, bevor das geschah, an dem Abend, bevor Jessica schließlich ihrer Krankheit erlag, saß er mit Jamie in der Küche, wo ein Dienstmädchen ihnen etwas zu essen machte, und brach mit einemmal zusammen. In der Küche brach er endlich zusammen und begann zu weinen wie ein Kind. Er klammerte sich an Jamie, und wissen Sie, was er zu ihr sagte? ›Wenn es doch mich treffen würde anstatt Jessie!‹ Und wissen Sie, was Jamie ihm geantwortet hat? ›Ja, wenn es doch dich treffen würde.‹ Das ist die Frau, in die ich mich verliebt habe. Das ist die Frau, die ich geheiratet habe. Das ist Jamie.« Als Jamie mit den Tüten voller Lebensmittel durch die Tür trat, sagte sie: »Auf der Straße hat mir jemand gesagt, dass Ohio nicht so gut aussieht.« »Ich hab gerade mit Nick gesprochen«, sagte Billy. »Kerry wird Ohio gewinnen.« Sie wandte sich zu mir. »Ich weiß nicht, was ich mache, wenn Bush wiedergewählt wird. Es wäre das Ende einer bestimmten Art von politischem Leben. Diese Leute richten ihre ganze Intoleranz gegen eine liberale Gesellschaft. Die Werte des Liberalismus werden weiter in ihr Gegenteil

verkehrt. Das wird schrecklich. Ich glaube nicht, dass ich damit leben kann.« Während sie dies atemlos sagte, hatte Billy ihr die Tüten abgenommen und war in die Küche gegangen, um die Sachen einzuräumen. »Wir haben von unseren Vätern ein sehr anpassungsfähiges System geerbt«, sagte ich. »Es ist erstaunlich, wieviel wir verkraften.« Sie schien meinen Versuch, sie zu trösten, herablassend zu finden und reagierte auf diesen eingebildeten Affront beinahe bissig. »Haben Sie jemals eine Wahl wie diese erlebt? Eine von solcher Tragweite?« »Ja, einige. Diesen Wahlkampf habe ich nicht verfolgt.« »Nicht?« »Das habe ich Ihnen neulich abend schon gesagt: Um solche Dinge kümmere ich mich nicht.« »Dann ist es Ihnen also egal, wer gewinnt.« Sie bedachte mich mit einem strengen Blick der Missbilligung für meine gewollte Unwissenheit. »Das habe ich nicht gesagt.« »Das sind schreckliche, böse Menschen«, sagte sie – dieselben Worte, die ihr Mann benutzt hatte. »Ich kenne sie. Ich bin unter ihnen aufgewachsen. Es wäre nicht bloß schade, wenn sie gewinnen würden – es könnte sich als Tragödie erweisen. Die Hinwendung nach rechts, die dieses Land erlebt, ist der Versuch, politische Institutionen durch Moral zu ersetzen – durch ihre Moral. Sex und Gott. Fremdenfeindlichkeit. Eine Kultur totaler Intoleranz …« Sie war zu erregt von der bedrohlichen Welt, in der sie lebte, um sich zu bremsen oder mir gegenüber, aus

welchem Grund auch immer, wirklich höflich zu sein, und so hörte ich ihr zu, ohne noch einmal den törichten Versuch zu unternehmen, mich auf die ritterliche Suche nach dem Heiligen Gral ihrer Aufmerksamkeit zu machen. Der Anblick ihres schlanken, vollbusigen Körpers und des Vorhangs aus schwarzem Haar gefiel mir nicht weniger als an dem Abend, an dem ich mir die Wohnung angesehen hatte. Als sie vom Einkaufen nach Hause gekommen war, hatte sie ein weinrotes enggeschnittenes Kordjackett getragen, das sie, wie ihre flachen dunkelbraunen Stiefel, ausgezogen hatte, nachdem Billy mit den Tüten in der Küche verschwunden war. Darunter trug sie einen gerippten schwarzen Rollkragenpullover aus Kaschmirwolle, der so eng saß wie die dunklen Jeans, deren Beine etwas ausgestellt waren, vermutlich wegen der Stiefel. Dann hatte sie ein Paar flache Slipper angezogen, die wie Ballettschuhe aussahen. Obgleich ihre Berechnung subtil war, wirkte Jamie nicht, als verfolgte sie mit der Art, wie sie sich kleidete, unbedingt unschuldige Ziele oder als mangelte es ihr an Vertrauen in ihr Vermögen, männliche Bewunderung zu wecken. Kümmerte es sie einen Deut, ob ich so beeindruckt war wie andere? Wenn nicht, warum hatte sie sich dann so verführerisch gekleidet, da sie doch nur einkaufen und den Ausgang der Wahl im Fernsehen verfolgen wollte? Vielleicht hätte aber auch jeder andere unbekannte Gast sie bewogen, etwas Attraktives anzuziehen. Wie auch immer, dem Zauber ihrer Erscheinung entsprach der ihrer Stimme, die, obwohl sie schnell sprach, warm und melodisch klang, selbst wenn sie sich aufregte, und eine Menge Texas oder ihres Teils von Texas enthielt: Die Vokale waren entspannt, die Diphthonge klangen weich, und sie zog die Worte mit einer

gewissen Trägheit zusammen, so dass jedes sich mit dem folgenden verband. Es war nicht jenes ins Ohr stechende Näseln, nicht der Wildwest-Akzent, den George W Bush kultivierte, sondern vielmehr die gehobene texanische Sprechweise, die mehr an die alten Südstaaten erinnerte und die sein aus dem Norden stammender Vater sich zugelegt hatte. Es lag eine gewisse Vornehmheit darin, ganz gewiss aus Jamie Logans Mund. Vielleicht war es einfach der Akzent, den man in den besseren Vierteln von River Oaks und in der Kinkaid School sprach. Ich war ebenso froh wie Billy, dass sie nach Hause gekommen war. Es spielte keine Rolle, ob ihre Kleidung etwas mit meinem Besuch zu tun hatte oder nicht. Die Entschiedenheit, mit der sie keine weitere Notiz von mir nahm, hatte etwas enorm Erregendes. Es gibt keine Situation, aus der Vernarrtheit keinen Gewinn zieht. Bei Jamies Anblick durchfuhr mich ein Ruck – ich ließ sie in meine Augen ein, wie ein Schwertschlucker ein Schwert schluckt. »Du wirst nicht am Boden zerstört sein. Du wirst auf den Straßen tanzen«, sagte Billy, als wollte er ein krankes Kind trösten. »Nein«, erwiderte sie, »nein, dieses Land ist eine Zuflucht der Unwissenheit. Ich muss es wissen – ich stamme von daher, wo sie ihren Ursprung hat. Bush spricht genau den unwissenden Kern der Bevölkerung an. Amerika ist ein sehr rückständiges Land, die Leute lassen sich so leicht an der Nase herumführen, und er ist genau wie ein Jahrmarktschreier …« Sie hatte wohl seit Monaten ihre düsteren, wütenden Gedanken laut ausgesprochen und verstummte nun für einen Augenblick, und ich fragte mich, ob sie jemand war,

der gar nicht wusste, wie man etwas unernst sagte, oder ob diese Wahl alles andere überschattete und ich im Augenblick keine Vorstellung davon haben konnte, wie Jamie war, wenn nichts sie bedrängte, und ich fragte mich auch, ob ihre Reaktion auf die große Welt je anders als schmerzlich intensiv war. Wir setzten uns mit den Tellern, dem Besteck und den Leinenservietten, die Billy ausgeteilt hatte, an den Couchtisch, nahmen das Essen von den Servierplatten und ließen, während wir meine beiden mitgebrachten Flaschen Wein leerten, den Bildschirm nicht aus den Augen, wo die ausgezählten Ergebnisse Bundesstaat für Bundesstaat aufgelistet wurden. Kurz nach zehn wurden Nicks Anrufe aus dem Hauptquartier der Demokratischen Partei weniger optimistisch, und um Viertel vor elf klang er offenbar regelrecht niedergeschlagen. »Die Umfragen geben ein falsches Bild«, sagte Billy, nachdem er aufgelegt hatte. »In Ohio sieht es nicht gut aus, und er wird Iowa und New Mexico verlieren. Florida hat er schon verloren.« Das wussten wir bereits aus dem Fernsehen, doch Jamie traute den Tabellen im Wahlstudio nicht, und so brachte erst dieser Anruf sie, die schon ein wenig betrunken war, zum Weinen. »Das ist jetzt also die Nacht, bevor alles noch schlimmer wird! Ich weiß nicht, was ich denken soll!« Und ich dachte: Irgendwann wird sie kapitulieren, aber bis dahin wird die große Schwierigkeit darin bestehen, die Illusionen zu vertreiben. Bis dahin wird sie schmerzerfüllt um sich schlagen oder sich verstecken wie ein verletztes Tier. In meinem Haus. In diesen Kleidern. In keinen Kleidern. In meinem Bett, neben Billy, nackt. »Ich weiß nicht, was ich denken soll!« rief sie abermals. »Jetzt kann sie nichts mehr aufhalten, nur noch Al Qaida.«

»Schatz«, sagte Billy sanft, »wir wissen ja noch gar nicht, s ab.« »Ach, die Welt ist so dumm«, rief Jamie mit Tränen in den Augen. »Letztes Mal sah es so aus, als wäre es einfach bloß Pech gewesen. Da war Florida, und da war Nader. s nicht glauben! Es ist unglaublich! Ich werde eine Abtreibung machen lassen, egal, ob ich schwanger bin oder nicht. Lasst abtreiben, solange ihr noch dürft!« Als sie diesen bitteren Witz machte, sah sie mich an, ohne Antipathie jetzt – sie sah mich an wie jemanden, den man gerade aus einem brennenden Haus oder einem Unfallwagen gerettet hat, als wäre man als unbeteiligter Beobachter imstande, etwas zu sagen, was diese alles verändernde Katastrophe erklären könnte. Doch das, was mir einfiel, wäre ihr wahrscheinlich nur wie Gewäsch erschienen. Ich dachte daran, noch einmal zu sagen: Es ist erstaunlich, wieviel wir verkraften. Ich dachte daran zu sagen: Wenn man in Amerika so denkt wie Sie, wird man in neun von zehn Fällen scheitern. Ich dachte daran zu sagen: Das ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie nach der Bombardierung von Pearl Harbor aufzuwachen. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach Kennedys Ermordung aufzuwachen. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach der Ermordung von Martin Luther King aufzuwachen. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie am Morgen nach der Erschießung der Studenten an der Kent State University aufzuwachen. Ich dachte daran zu sagen: Wir alle haben so etwas durchmachen müssen. Doch ich sagte nichts. Sie wollte ohnehin keine Worte. Sie wollte Mord. Sie wollte am Morgen nach der Ermordung von George Bush aufwachen.

Es war Billy, der sagte: »Irgend etwas wird ihr Untergang sein, Schatz. Terror wird ihr Untergang sein.« »Ach, wozu damit leben?« sagte Jamie, und ihre Verzweiflung war so groß, ihre Verletzlichkeit lag so dicht unter der Oberfläche, dass sie zu schluchzen begann. Ihre beiden Handys begannen zu läuten: Grausam enttäuschte Freunde riefen an, viele von ihnen ebenfalls in Tränen. Das letzte Mal hatte es, wie Jamie gesagt hatte, so ausgesehen, als wäre es einfach bloß Pech gewesen, doch dies war der zweite schwere Wahlschock für ihren Idealismus, und nun dämmerte ihnen die unbarmherzige Erkenntnis, dass sie dieses Land nicht durch bloße Willenskraft in das Bollwerk eines Rooseveltschen Liberalismus zurückverwandeln konnten, das es vierzig Jahre vor ihrer Geburt gewesen war. Trotz ihrer Intelligenz, ihrer Artikuliertheit, ihres Savoirfaire und Jamies Vertrautheit mit dem reichen republikanischen Amerika und der Unwissenheit, wie man sie in Texas fand, hatten sie keine Ahnung, welcher Art die Menschen waren, die die große Masse der Amerikaner ausmachten, und ebensowenig war ihnen zuvor so deutlich bewusst gewesen, dass es nicht die Gebildeten wie sie selbst waren, die den Kurs des Landes bestimmten, sondern die vielen Millionen, die anders waren als sie, deren Lebenswelt sie nicht kannten und die Bush ein zweites Mal Gelegenheit gegeben hatten, »etwas sehr Großes zu zerstören«, wie Billy es ausgedrückt hatte. Ich saß da, in meinem künftigen Zuhause, wo ich bald jeden Morgen erwachen würde, und hörte den beiden zu, die bald jeden Morgen in meinem Haus erwachen würden, einem Ort, wo man, wenn man wollte, die Wut darüber, wieviel schlimmer alles war, als man gedacht hatte, und

den Kummer darüber, wie tief das Land gesunken war, auslöschen und, sofern man jung, hoffnungsvoll, engagiert und noch immer in seine Erwartungen verliebt war, lernen konnte, wie man aufhörte, sich über Amerika im Jahr 2004 Sorgen zu machen, wie man lebte, anstatt ständig in Wut über Dummheit und Verdorbenheit zu geraten, wo man lernen konnte, in Büchern, Musik, seinem Partner, seinem Garten Erfüllung zu finden. Ich sah diesen beiden zu und verstand ohne große Mühe, warum Menschen in ihrem Alter und mit ihrem Engagement vor diesem grausamen Liebhaber, in den ihr Land sich verwandelt hatte, fliehen wollten. »Terrorismus?« rief Jamie in ihr Telefon. »Aber alle Staaten, die davon betroffen waren, alle Staaten, wo irgendwas passiert ist oder wo Menschen lebten, die getötet worden sind, haben für Kerry gestimmt! New York, New Jersey, Washington, D.C., Maryland, Pennsylvania – keiner davon ist an Bush gegangen! Sieh dir die Staaten östlich des Mississippi an – es sind die Nordstaaten gegen die Südstaaten. Dieselbe Trennung. Bush hat in den alten Südstaaten gewonnen!« »Willst du wissen, wo der nächste ekelhafte Krieg stattfinden wird?« fragte Billy seinen Gesprächspartner. »Sie brauchen einen Sieg. Sie brauchen einen schönen, glatten Sieg ohne irgendeine schmutzige Besatzung. Tja, und die Gelegenheit dazu liegt hundertfünfzig Kilometer vor der Küste von Florida. Sie werden Castro mit Al Qaida in Verbindung bringen und Kuba den Krieg erklären. Die provisorische Regierung sitzt ja schon in Miami. Die Besitz Verhältnisse sind schon auf den Landkarten eingetragen. s ab. In ihrem Krieg gegen die Ungläubigen kommt als nächstes Kuba dran. Wer soll sie schon aufhalten? Sie

brauchen Al s nur auf noch mehr Gewalt abgesehen, und Kuba ist für sich schon kriminell genug. Die Leute, die ihn gewählt haben, werden begeistert sein. Die letzten Kommunisten werden ins Meer getrieben.« Ich blieb lange genug, um noch zu hören, wie sie mit ihren Eltern telefonierten. Sie waren inzwischen so erschöpft, dass sie sich nur noch wünschten, sie hätten Eltern, bei denen sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten und getröstet wurden. Sie waren pflichtbewusste Kinder, und als der Augenblick gekommen war, riefen sie an, wie es sich gehörte, doch Jamies Eltern waren, wie ich von Billys Schilderung des Houston, in dem Jamie aufgewachsen war, wusste, Mitglieder im selben Country Club wie George Bush senior, und so bemühte Jamie sich umsonst, nicht zu vergessen, dass sie eine verheiratete Frau war, die beinahe zweitausend Kilometer von dem Ort entfernt lebte, wo sie als privilegiertes Mädchen von erzkonservativen Texanern indoktriniert worden war, allen voran von ihrem Vater, den sie vor allem wegen seiner unerträglichen Gleichgültigkeit gegenüber ihrer sterbenden Schwester verachtete und dem sie sich offen und hartnäckig widersetzt hatte, indem sie gegen seinen Willen einen Juden geheiratet und ihn herausgefordert hatte, sie zu enterben. Sie war inzwischen weit mehr als eine schöne Frau, die Ich betrachtete. Ihre Stimme verriet, wie mitgenommen sie war, nicht zuletzt dadurch, dass ihre Eltern zu den Menschen gehörten, die ihr liberales Gewissen nicht ertragen konnte, und doch war sie ihre Tochter und hielt es offenbar für wichtig, ihnen von ihrem Kummer zu erzählen. Jamies Stimme kündete sowohl von der starken

Verbindung zwischen ihr und ihren Eltern als auch von ihrem heftigen Kampf dagegen. Man konnte hören, was es sie gekostet hatte, sich zu einem neuen Menschen zu machen, und was es ihr gebracht hatte. Billys Eltern in Philadelphia waren ihm keineswegs entfremdet, sie waren nicht seine Gegner oder Objekte seiner Verachtung, sondern standen ihm offensichtlich sehr nahe. Dennoch schüttelte er, als er den Hörer aufgelegt hatte, den Kopf und musste sein halbvolles Glas Wein austrinken, bevor er etwas sagen konnte. Sein sanftes Gesicht konnte über die Ernüchterung und Erniedrigung nicht hinwegtäuschen, und sein empfindsames Herz, das stets offen war für die Gefühle anderer, ließ nicht zu, dass er seinem Widerwillen Luft machte, was den Schmerz ein wenig gelindert hätte. Ein empfindsames Herz war nicht das, was dieser Augenblick erforderte, und Billy war ratlos. »Mein Vater hat Bush gewählt«, sagte er so entgeistert, als hätte er soeben erfahren, dass sein Vater eine Bank ausgeraubt hatte. »Meine Mutter hat es mir gesagt. Als ich sie fragte, warum, sagte sie: ›Israel.‹ Sie hatte ihm eingeschärft, Kerry zu wählen, und dann kommt er aus der Kabine und sagt: › s für Israel getan.‹ Meine Mutter hat gesagt: ›Ich hätte ihn umbringen können. Er glaubt noch immer, dass sie irgendwelche Massenvernichtungswaffen finden.« Als ich wieder im Hotel war, schrieb ich diese kleine Szene: ER Sie haben mir gar nicht gesagt, dass wir uns schon mal begegnet sind. SIE Ich dachte, es wäre nicht weiter wichtig. Ich dachte,

Sie würden sich nicht erinnern. ER Ich dachte, Sie würden sich nicht erinnern. SIE Nein, ich erinnere mich. ER Wissen Sie noch, wo das war? SIE In der Signet Society. ER Genau. Erinnern Sie sich an den Tag? SIE Ja, sehr gut. Ich war Mitglied der Signet Society, aber ich bin nicht oft zum Mittagessen dorthin gegangen. Eine Freundin hatte mich angerufen und gesagt, sie hätte Sie für den nächsten Tag zum Mittagessen eingeladen, aber sie wüsste nicht, ob Sie erscheinen würden, obwohl Sie zugesagt hätten, und ich sollte doch auch kommen. Also bin ich hingegangen. Ich habe Richard mitgenommen, und dann hatte ich das Glück, an Ihrem Tisch zu sitzen und nicht an dem nebenan. Ich hab mich hingesetzt, und dann kamen Sie und haben sich an den Tisch gesetzt, und ich habe Sie während des ganzen Mittagessens angesehen. ER Sie haben nichts gesagt, sondern mich nur angestarrt. SIE (lacht entschuldigend) Tut mir leid, dass ich so aufdringlich war. ER Ich habe zurückgestarrt. Und zwar nicht nur in Selbstverteidigung. Erinnern Sie sich daran? SIE Ich dachte, das hätte ich mir nur eingebildet. Ich konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich eine Reaktion hervorrufen würde. Ich konnte nicht glauben, dass Sie Notiz von mir nehmen würden. Ich dachte, Sie wären unnahbar. Sie erinnern sich wirklich, dass Sie mir gegenübersaßen? ER Es ist ja erst zehn Jahre her. SIE Zehn Jahre sind eine lange Zeit, um sich an jemanden

zu erinnern, mit dem man gar nicht gesprochen hat. Welchen Eindruck habe ich auf Sie gemacht? ER Ich wusste nicht, ob Sie schüchtern waren oder bloß eine heitergelassene Zurückhaltung besaßen. SIE Beides. ER Waren Sie am Abend zuvor bei der Lesung? SIE Ja. Ich weiß noch, dass wir uns nach dem Mittagessen auf die Ledersofas im Wohnzimmer gesetzt haben. Ungefähr die Hälfte von uns ist geblieben. Ich dachte: Was für eine unangenehme Situation muss das für diesen Mann sein. Wir alle drängen uns um ihn und warten darauf, dass er etwas sagt, damit wir nach Hause gehen und es in unser Tagebuch schreiben können. ER Und sind Sie nach Hause gegangen und haben etwas in Ihr Tagebuch geschrieben? SIE Ich muss mal nachsehen. Das könnte ich tun. Wenn Sie wollen, könnte ich nachsehen. Ich bewahre alle meine Tagebücher auf. Wie fanden Sie damals diesen Tag? ER Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn damals fand. Eine solche Bitte war jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Meistens fragte man mich, ob ich eine Seminarsitzung leiten würde. Das tat ich dann, und anschließend fuhr ich nach Hause. Warum haben Sie es neulich, bei unserer Begegnung, nicht erwähnt? SIE Warum sollte ich erwähnen, dass ich Sie bei einem Mittagessen angestarrt habe? Ich weiß nicht – ich wollte es nicht geheimhalten. Wir tauschen die Wohnungen. Ich habe keinen Grund gesehen, darüber zu sprechen, dass ich im College mal in einem Hörsaal gesessen und Sie angestarrt habe. Warum waren Sie damals einverstanden, mit einem Haufen Studenten im Vorstudium zu Mittag zu

essen? ER Wahrscheinlich habe ich gedacht, es könnte interessant sein. Am Abend zuvor hatte ich nur eine Stunde gelesen und ein paar Fragen beantwortet. Ich hatte nur die Leute kennengelernt, die mich eingeladen hatten. Mit Ausnahme von Ihnen kann ich mich an nichts und niemanden erinnern. SIE (lacht) Flirten Sie mit mir? ER Ja. SIE Das kommt mir so unwahrscheinlich vor, ich kann es fast nicht glauben. ER Das sollten Sie aber. Es ist ganz und gar nicht unwahrscheinlich. Ich ging zu Bett, las diese Szene vor dem Einschlafen noch einmal durch und dachte: Wenn es etwas gibt, was unnötig war, dann dies. Jetzt geht sie dir überhaupt nicht mehr aus dem Kopf. In New York war der nächste Tag schrecklich: Viele zornige Menschen liefen mit ungläubigen, verdrossenen Gesichtern herum. Es war ruhig, der Verkehr war so schwach, dass man ihn im Central Park, wo ich mich mit Kliman auf einer Bank unweit des Metropolitan Museum verabredet hatte, kaum hörte. Ich war gegen Mitternacht von der West 71st Street ins Hotel zurückgekehrt und hatte auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von ihm vorgefunden. Es wäre leicht gewesen, sie zu ignorieren, und das hatte ich auch tun wollen, bis ich dann, im Bann dieses spontanen Rückfalls in alte Muster – und beflügelt von der Aussicht auf ein Treffen mit Amy Bellette, deren Adresse ich

wahrscheinlich von ihm erfahren könnte – Kliman am nächsten Morgen unter der Nummer anrief, die er hinterlassen hatte, obgleich ich am Tag zuvor zwei Telefongespräche mit ihm abrupt beendet hatte. »Caligula hat gewonnen«, meldete er sich. Er hatte offenbar einen anderen Anruf erwartet. Nach einer Sekunde sagte ich: »So sieht es aus, aber hier ist Zuckerman.« »Es ist ein schwarzer Tag, Mr. Zuckerman. Ich koche schon den ganzen Tag vor mich hin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das passieren würde. Die Leute haben für moralische Werte gestimmt? Was für Werte sollen das sein? Dass wir mit Lügen in einen Krieg geführt worden sind? Diese Idiotie! Diese Idiotie! Der Oberste Gerichtshof. Rehnquist kann morgen schon tot sein, und dann ernennt Bush Clarence Thomas zum Obersten Richter. Er wird zwei, drei, vielleicht sogar vier neue Richter berufen – es ist nicht auszudenken!« »Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen, wegen eines Treffens.« »Tatsächlich?« fragte er. »Ich habe kein Auge zugetan. Niemand, den ich kenne, hat ein Auge zugetan. Ein Freund von mir, der in der Bibliothek an der 42nd Street arbeitet, hat mich angerufen und mir erzählt, dass auf den Stufen Leute sitzen und weinen.« Mit den vom Horror der Politik ausgelösten theatralischen Emotionen war ich wohlvertraut. Von der Wandlung des Friedenskandidaten Lyndon Johnson zum Vietnamkriegsfalken im Jahr 1965 bis zum Rücktritt des um ein Haar abgesetzten Richard Nixon im Jahr 1974 gehörten sie zum Standardrepertoire praktisch aller meiner Bekannten. Man ist niedergeschmettert und wütend und

ein bisschen hysterisch, oder man ist schadenfroh und hat zum erstenmal in zehn Jahren recht behalten, und die einzige Linderung besteht darin, Theater zu spielen. Doch ich war jetzt nur noch ein unbeteiligter Zuschauer. Ich wirkte nicht mit bei diesem öffentlichen Drama; das öffentliche Drama bewirkte bei mir nichts. »Religion!« rief Kliman. »Warum sehen die nicht in eine Kristallkugel, um die Wahrheit zu erkennen? Mal angenommen, die Theorie der Evolution erweist sich als falsch, mal angenommen, Darwin war tatsächlich verrückt – könnte er auch nur halb so verrückt gewesen sein wie das, was die Bibel über die Entstehung des Menschen sagt? Diese Leute glauben nicht an Wissen. Sie glauben genauso nicht an Wissen, wie ich nicht an Glauben glaube. Am liebsten würde ich rausgehen«, sagte Kliman, »und eine lange Rede halten.« »Würde nichts ändern«, sagte ich. »Sie haben mehr Erfahrung als ich. Was würde etwas ändern?« s.« »Sie sind nicht senil«, sagte Kliman. s vergessen.« »Alles?« fragte er und gab mir einen kleinen Einblick in die mögliche Beziehung, die er aufbauen und sich zunutze machen wollte: der junge Mann, der den älteren Mann um seinen weisen Rat bittet. »Alles«, antwortete ich wahrheitsgemäß – als wäre ich auf sein Spiel hereingefallen. Kliman joggte um das Oval der weiten Rasenfläche und

winkte mir zu, als ich mich der Bank im Central Park näherte, wo wir uns treffen wollten. Ich wartete auf ihn und dachte, dass ich, seit ich den ersten Fehler begangen hatte, indem ich nach New York gekommen war, um mich der Kollagen-Behandlung zu unterziehen, die Dinge nicht mehr durchdachte, sondern in Richtung einer Erneuerung taumelte, von der ich nicht mal geahnt hatte, dass ich mich auch nur ansatzweise danach sehnte. Mit einundsiebzig die grundsätzliche Geschlossenheit eines Lebens aufzubrechen und die Muster der Berechenbarkeit zu verändern – gibt es einen sichereren Weg zu Desorientierung und Frustration, ja sogar zum Zusammenbruch? Kliman sagte: »Ich musste diese Idioten aus dem Kopf bekommen und dachte, Joggen wäre genau das Richtige. Hat aber nicht funktioniert.« Er war kern freundlicher, pausbäckiger Billy, sondern wog mehr als hundert Kilo und war über eins neunzig groß, ein agiler, beeindruckender junger Mann mit dichtem dunklem Haar und fahlgrauen Augen, so bemerkenswert, wie fahlgraue Augen es bei einem Angehörigen der menschlichen Spezies immer sind. Ein Prachtexemplar von einem Fullback, dazu geschaffen, die gegnerischen Reihen zu durchbrechen. Mein erster (unzuverlässiger) Eindruck war der von einem Mann, der das Opfer einer generellen Verwirrung war – mit achtundzwanzig bereits gedemütigt durch die mangelnde Bereitschaft der Welt, sich seiner Kraft und Schönheit und den dringenden persönlichen Bedürfnissen, denen sie dienten, bereitwillig zu unterwerfen. Das war es, was aus seinem Gesicht sprach: die wütende Erkenntnis eines unerwarteten, gänzlich lächerlichen Widerstands. Er war für Jamie als Liebhaber gewiss ganz anders gewesen als der junge Mann, den sie

geheiratet hatte. Wo Billy den sanften, geschmeidigen Takt eines zuvorkommenden Bruders besaß, hatte Kliman viel von einem Schläger. So war es mir vorgekommen, als er mich angerufen hatte, und so stellte er sich auch jetzt dar: Selbstbeherrschung war nicht seine Stärke. Nur zu bald erwies sich, dass es auch nicht die meine war. In Joggingshorts, Laufschuhen und durchgeschwitztem Sweatshirt setzte er sich niedergeschlagen neben mich und stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Völlig verschwitzt präsentierte er sich jemandem, dem in seinem ersten beruflichen Projekt eine Schlüsselrolle zukam und den er unbedingt für sich gewinnen wollte. Na ja, wenigstens ist er authentisch, dachte ich, was immer er sonst noch sein mag, und wenn er ein Opportunist ist, dann jedenfalls nicht ganz der glatte, nur an sich selbst interessierte Opportunist, den ich mir nach unserem ersten Telefongespräch vorgestellt hatte. Er war noch nicht fertig damit, seine Ansichten über die Wahl vor mir auszubreiten. »Wie sollen wir mit der grotesken Tatsache leben, dass eine rechte Regierung, getrieben von unersättlicher Gier, getragen von krassen Lügen und angeführt von einem privilegierten Dummkopf, Amerikas infantilen Vorstellungen von Moral entspricht? Wie soll man sich vor einer so bodenlosen Dummheit schützen?« Seine Generation hatte das College vor sechs bis acht Jahren verlassen, dachte ich, und so nahm Kerrys Niederlage gegen Bush einen wichtigen Platz unter den historischen Schocks ein, die die Denkweise dieser jungen Amerikaner prägen würden, so wie Vietnam das Bild der Generation ihrer Eltern bestimmt hatte, so wie die Erwartungen meiner Eltern und ihrer Freunde von der

Wirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg geformt worden waren. Die kaum verhüllten Tricks, die Bush zu seiner ersten Präsidentschaft verholfen hatten, die terroristischen Angriffe von 2001 und die unauslöschliche Erinnerung an die wie Puppen wirkenden Menschen, die aus den oberen Stockwerken der Türme gesprungen waren, und jetzt dies: ein zweiter Triumph des »Dummkopfs«, den sie ebenso wegen seiner geistigen Beschränktheit verachteten wie wegen seiner berechnenden Märchen von atomarer Bedrohung – all das war Bestandteil einer gemeinsamen Erfahrung, die sie sowohl von ihren jüngeren Brüdern und Schwestern als auch von Angehörigen meiner Generation unterschied. Für sie war das, was George W. Bush installiert hatte, keine Regierung, sondern ein Regime, das mit Hilfe juristischer Kniffe an die Macht gekommen war. Sie hatten 2004 ihre Bürgerrechte zurückerobern wollen, doch zu ihrem Entsetzen war ihnen das nicht gelungen, und gegen elf Uhr am gestrigen Abend hatte sie das Gefühl überkommen, dass sie nicht nur abermals verloren hatten, sondern, schlimmer noch, auch wieder betrogen worden waren. »Sie wollten mir von Lonoffs unverzeihlichem Geheimnis erzählen«, sagte ich. »Ich habe nie etwas von ›unverzeihlich‹ gesagt.« »Das klang aber an.« »Wissen Sie über seine Kindheit Bescheid?« fragte er. »Wissen Sie etwas über die Umstände, unter denen er aufgewachsen ist? Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie nichts von dem, was ich Ihnen erzähle, weitersagen werden?« Ich lehnte mich zurück und brach zum erstenmal, seit ich

nach New York zurückgekehrt war, in lautes Gelächter aus. »Sie wollen das sorgfältig bewahrte und offenbar peinliche ›große Geheimnis‹ dieses auf seine Privatsphäre so sehr bedachten Mannes in die Welt hinausposaunen und verlangen von mir Verschwiegenheit? Sie sind im Begriff, ein Buch zu schreiben, das die Würde, auf die er so großen Wert legte, die ihm alles bedeutete und über die er allein zu bestimmen hatte, zerstören wird, und fragen mich, ob Sie sich auf mich verlassen können?« »Das entwickelt sich jetzt genauso wie unser Telefongespräch. Sie gehen mit jemandem, den Sie nicht mal kennen, hart ins Gericht.« Aber ich kenne dich doch, dachte ich. Du bist jung und siehst gut aus, und nichts gibt dir so viel Selbstvertrauen wie deine Verschlagenheit. Du hast einen Hang zur Verschlagenheit. Das ist eines der Rechte, die du besitzt: jemandem zu schaden, wenn du es willst. Und genaugenommen ist es nicht einmal ein Schaden, den du anrichtest – es ist lediglich die Ausübung eines Rechts, das nur ein Dummkopf ausschlagen würde. Ich kenne dich: Du strebst nach der Anerkennung der Erwachsenen, die du insgeheim in den Schmutz ziehen willst. Darin liegt eine verschlagene Lust – und auch eine Sicherheit. Rings um das große Oval des Rasens waren einige Fußgänger unterwegs: Frauen, die Kinderwagen schoben, alte, von schwarzen Pflegern gestützte Leute und in der Ferne zwei Jogger, die ich zunächst für Billy und Jamie hielt. Ich hätte ebensogut als Fünfzehnjähriger dort auf der Bank sitzen können, in Gedanken einzig und allein mit dem neuen Mädchen beschäftigt, das die Lehrerin auf den Platz neben mir gesetzt hatte.

»Lonoff hat eine Mitgliedschaft im Institute of Arts and Letters abgelehnt«, sagte Kliman. »Er hat es abgelehnt, sich an einer Biographie für Zeitgenössische Autoren zu beteiligen. Er hat in seinem ganzen Leben kein einziges Interview gegeben, er ist kein einziges Mal öffentlich aufgetreten. Er hat alles getan, um da draußen in der tiefsten Provinz so unsichtbar wie möglich zu bleiben. Warum?« »Weil er das beschauliche Leben jedem anderen vorzog. Lonoff hat geschrieben. Lonoff hat unterrichtet. Abends hat er gelesen. Er hatte eine Frau und drei Kinder, er lebte in einer wunderschönen, unberührten Umgebung, in einem hübschen Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert mit vielen offenen Kaminen. Er hatte ein bescheidenes Einkommen, das ihm vollkommen ausreichte. Ordnung. Sicherheit. Stabilität. Was wollte er mehr?« »Sich verstecken. Warum sonst hätte er sich sein Leben lang diese Zügel anlegen sollen? Er hat sich ohne Unterlass bewacht – man sieht es in seinem Leben, man sieht es in seinem Werk. Er hat sich diese Selbstbeschränkungen auferlegt, weil er in ständiger Furcht vor einer Enthüllung gelebt hat.« »Und Sie wollen ihm den Gefallen tun, sein Geheimnis zu enthüllen«, sagte ich. Es trat ein kurzer Augenblick der Verstimmung ein, in dem er nach einem Grund suchte, warum er mich für meine Weigerung, mich von seiner Beredsamkeit einwickeln zu lassen, nicht ins Gesicht schlagen sollte. Ich konnte mich gut an solche Momente erinnern, denn ich hatte sie als junger Literat erlebt, als ich in seinem Alter und neu in New York gewesen war: Damals hatten mich Autoren und Kritiker in den Vierzigern und Fünfzigern

behandelt, als wüsste ich nichts über irgend etwas, als könnte ich gar nichts wissen, es sei denn ein wenig über Sex, und dies war ein Wissen, das sie im Grunde albern und nebensächlich fanden, auch wenn sie selbst natürlich fortwährend Spielbälle ihrer eigenen Begierden waren. Aber was die Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, »Ideen« betraf … »Sie verstehen nicht mal, was ich meine, wenn ich sage, dass Sie nicht verstehen«, sagte einer von ihnen zu mir und wedelte mir dabei mit dem Finger vor dem Gesicht herum. Das waren meine berühmten Vorbilder, die intellektuell herausragenden amerikanischen Söhne jüdischer Einwanderer, die Söhne von Anstreichern, Metzgern und Schneidern, die damals ihre große Zeit hatten, die Partisan Review herausgaben und für Commentary, den New Leader und Dissent schrieben, reizbare Rivalen, die einander scharf im Auge behielten und schwer an der Bürde trugen, von ungebildeten, jiddischsprechenden Eltern abzustammen, deren Beschränktheit und kulturelle Unbedarftheit sie zu gleichen, erdrückenden Teilen mit Zorn und Zärtlichkeit erfüllten. Wenn ich es wagte, den Mund aufzumachen, befahlen diese Alteren mir sogleich voller Verachtung, zu schweigen, denn sie waren überzeugt, dass ich nichts wissen konnte, und zwar weil ich zu jung war und zu viele »Vorteile« genossen hätte – Vorteile, die nur in der Einbildung dieser Menschen existierten, deren Neugier eigenartigerweise niemals jemandem galt, der jünger war als sie selbst, es sei denn, dieser Jemand war sehr viel jünger, weiblich und gutaussehend. Erst in späteren Jahren, schwer mitgenommen (und finanziell ruiniert) von Ehekriegen, geschlagen mit Altersleiden und schwierigen Kindern, wurden einige von ihnen mir gegenüber

nachsichtiger, freundeten sich mit mir an und taten nicht mehr alles ab, was ich zu sagen hatte. »Die Sache ist: Es fällt mir schwer, mit Ihnen darüber zu sprechen«, sagte Kliman schließlich. »Sie gehen auf mich los, wenn ich Sie frage, ob ich Ihnen etwas anvertrauen kann – aber was glauben Sie, warum ich Sie das überhaupt frage?« »Kliman, warum vergessen Sie nicht einfach, was Sie glauben, herausgefunden zu haben? Niemand erinnert sich, wer Lonoff eigentlich war. Was soll das alles?« »Was es soll? Von Rechts wegen müsste er in der Library of America vertreten sein. Singer ist mit drei Bänden von Erzählungen dabei. Warum nicht auch E. I. Lonoff?« »Sie wollen also Lonoffs Ruf als Schriftsteller wiederherstellen, indem Sie seinen Ruf als Mensch zerstören. Sie wollen das Genie des Genies durch das Geheimnis des Genies ersetzen. Rehabilitation durch Schande.« Als er nach einer weiteren wütenden Pause antwortete, sprach er zu mir wie zu einem Kind, das etwas zum xtenmal nicht verstanden hat. »Sein Ruf wird keinen Schaden erleiden«, erklärte er mir, »wenn das Buch so geschrieben ist, wie ich es schreiben will.« »Es spielt keine Rolle, wie Sie es schreiben. Der Skandal wird dafür sorgen, dass sein Ruf ruiniert ist. Sie werden ihm nicht zu seinem verdienten Platz verhelfen – Sie werden ihn von seinem Platz vertreiben. Und um was geht es überhaupt? Ist jemandem etwas ›Ungehöriges‹ eingefallen, das Lonoff vor fünfzig Jahren getan hat? Schändliche Enthüllungen über einen weiteren verachtenswerten weißen Mann?«

»Warum müssen Sie das, was ich vorhabe, unbedingt trivialisieren? Warum müssen Sie etwas, von dem Sie noch gar nichts wissen, herabsetzen?« »Weil das Schnüffeln auf der Suche nach Schmutz, das sich als Forschung ausgibt, so ziemlich das Mieseste ist, was es im Literaturbetrieb gibt.« »Und das wilde Schnüffeln, das sich als Schriftstellerei ausgibt?« »Wollen Sie damit mich charakterisieren?« »Ich will damit Literatur charakterisieren. Auch die Literatur fördert die Neugier. Sie sagt, dass das öffentliche Leben nicht das wirkliche Leben ist. Sie sagt, dass hinter dem Bild, das man der Öffentlichkeit präsentiert, noch etwas anderes ist – nennen wir es die Wahrheit des Ichs. Ich tue nichts anderes als Sie. Als das, was jeder denkende Mensch tut. Das Leben fördert die Neugier.« Wir waren gleichzeitig aufgestanden. Zweifeilos hätte ich mich schnell entfernen sollen von diesen fahlgrauen Augen, die jetzt infolge unserer beiderseitigen Antipathie unheimlich funkelten. Ich spürte, dass die Einlage in meiner Plastikunterhose schwer war und keinen Urin mehr aufsaugen konnte und dass es an der Zeit war, schleunigst ins Hotel zurückzukehren und mich zu waschen und umzuziehen. Zweifellos hätte ich kein Wort mehr sagen sollen. Warum sonst hatte ich elf Jahre lang weitab von anderen Menschen gelebt, wenn nicht, um kein Wort zusätzlich zu denen zu äußern, die in meinen Büchern standen? Warum sonst hatte ich aufgehört, Zeitungen zu lesen, Nachrichten zu hören und fernzusehen, wenn nicht, um nichts von alldem zu erfahren, was mir zuwider war und was ich nicht ändern konnte? Aus freien Stücken lebte

ich an einem Ort, wo Enttäuschungen mich nicht mehr hinunterziehen konnten. Doch ich konnte nicht anders. Ich war zurück, ich war in Fahrt, und nichts hätte mich mehr inspirieren können als das Risiko, das ich einging, denn Kliman war nicht nur dreiundvierzig Jahre jünger als ich, ein schwerer, muskulöser Mann in Joggingkleidung, sondern auch wütend, auf ebenden Widerstand getroffen zu sein, den er nicht ertragen konnte. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihr Vorhaben scheitern zu lassen«, sagte ich. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um zu verhindern, dass ein Buch von Ihnen über E.I. Lonoff irgendwo erscheint. Kein Buch, kein Artikel, nichts. Kein Wort, Kliman. Ich weiß nicht, welches große Geheimnis Sie entdeckt haben, aber es wird nie ans Licht des Tages kommen. Ich kann verhindern, dass das, was Sie schreiben wollen, veröffentlicht wird, und ich werde es verhindern, koste es, was es wolle.« Zurück im Drama, zurück im Augenblick, zurück im Tumult der Ereignisse! Als ich bemerkte, dass ich meine Stimme hob, hielt ich mich nicht zurück. In der Welt zu sein ist mit Schmerz verbunden, aber auch mit Entschlossenheit. Wann hatte ich zuletzt die Erregung erlebt, die man verspürt, wenn man jemandem den Kampf ansagt? Lass sie raus, die Intensität. Die Freude an der Konfrontation. Der belebende Atem der altvertrauten Streitlust lockte mich, die längst abgelegte Rolle wieder anzunehmen – sowohl Kliman als auch Jamie hatten die Männlichkeit in mir wieder erweckt, die Männlichkeit des Geistes und der Seele und des Begehrens und der Absicht und der Sehnsucht, wieder unter Menschen zu sein, wieder zu kämpfen, wieder eine Frau zu haben und wieder die Freude an der eigenen Kraft zu spüren. Es war alles wieder

da – der männliche Mann war wieder zum Leben erweckt! Nur dass es keine Männlichkeit gab, sondern lediglich den kurzen Augenblick der Erwartung. Und da das so ist, dachte ich, kann ich mir nur eine blutige Nase holen, wenn ich mich auf einen Kampf mit der Jugend einlasse und all die Gefahren herausfordere, die damit verbunden sind. Als ein Mann meines Alters, der sich zu sehr auf einen Mann seines Alters einlässt, kann ich nur ein großes, verunstaltetes Ziel für diesen unwissenden jungen Mann sein, der voll im Saft steht und bis an die Zähne mit Zeit bewaffnet ist. »Ich warne Sie, Kliman: Lassen Sie Lonoff in Ruhe.« Die Leute, die um das Oval spazierten, musterten uns im Vorbeigehen. Manche blieben kurz stehen, offenbar besorgt, dieser ältere Mann und sein junges Gegenüber könnten gleich – höchstwahrscheinlich aufgrund eines Streits über den Ausgang der Wahl – mit Fäusten aufeinander losgehen, und sie würden zu Zeugen eines ungleichen Kampfes werden. »Sie riechen«, schrie er mich an, »Sie stinken! Kriechen Sie doch wieder in Ihr Loch und sterben Sie!« Mit lockeren, geschmeidigen Bewegungen trabte er athletisch davon und rief über seine muskulöse Schulter zurück: »Sie sterben, alter Mann, und bald werden Sie tot sein! Sie riechen nach Verwesung! Sie riechen wie der Tod!« Aber was wusste ein Subjekt wie Kliman schon vom Geruch des Todes? Ich roch nur nach Urin. Ich war nur wegen dem, was die Behandlung verheißen hatte, nach New York gekommen. Ich war wegen einer Besserung gekommen. Indem ich dem Wunsch

nachgegeben hatte, etwas Verlorenes wiederzugewinnen – einem Wunsch, den ich besser schon vor langer Zeit aufgegeben hätte –, war ich nun leichte Beute für den Glauben, ich könnte irgendwie wieder so leistungsfähig sein wie der Mann, der ich einmal war. Die Lösung lag auf der Hand: In der Zeit, die ich brauchte, um ins Hotel zurückzukehren, zu duschen und mich umzuziehen, kam ich zu dem Entschluss, den Plan, die Wohnungen zu tauschen, aufzugeben und sofort den Heimweg anzutreten. Als ich anrief, meldete sich Jamie. Ich sagte, ich müsse mit ihr und Billy sprechen, und sie antwortete: »Aber Billy ist nicht da. Er ist vor zwei Stunden losgefahren, um sich Ihr Haus anzusehen. Er müsste jetzt bald bei Ihrem Hausmeister sein, um die Schlüssel abzuholen. Er wollte mich anrufen, sobald er da ist.« Ich wusste jedoch nichts von einer Verabredung, nach der Billy sich das Haus ansehen und Rob ihm den Schlüssel geben sollte, damit er hineingehen konnte. Wann hätten wir sie treffen sollen? Nicht gestern abend. Eher am Abend davor. Dennoch konnte ich mich nicht daran erinnern. Allein in meinem Hotelzimmer und ohne Jamies Gesicht vor mir, spürte ich, dass ich wütend errötete, obwohl ich in den vergangenen Jahren tatsächlich Probleme gehabt hatte, mich an Kleinigkeiten zu erinnern. Um dem zu begegnen, hatte ich begonnen, neben meinem Tageskalender ein Schulheft – eine jener Kladden mit schwarzweiß marmoriertem Einband und auf der Innenseite des hinteren Deckels abgedruckten Multiplikationstabellen – zu führen, in dem ich zu erledigende Dinge, geschriebene und empfangene Briefe und, in Stichworten, den Inhalt meiner Telefongespräche notierte. Ohne dieses Aufgabenbuch konnte ich (wie sich soeben wieder erwiesen

hatte) nur zu leicht vergessen, mit wem und worüber ich gestern noch gesprochen hatte oder was jemand für mich am nächsten Tag erledigen sollte. Ich hatte vor drei Jahren damit angefangen, als ich bemerkte, dass mein bis dahin zuverlässiges Gedächtnis Lücken aufwies. Damals war ein Irrtum nicht mehr als ein kleines Ärgernis, doch ich hatte erkannt, dass die Vergesslichkeit voranschritt und dass, sollte mein Erinnerungsvermögen sich im selben Tempo verschlechtern wie in diesen ersten Jahren, meine Fähigkeit, etwas zu schreiben, bald ernsthaft beeinträchtigt sein würde. Was sollte ich tun, wenn ich eines Morgens eine am Vortag geschriebene Seite lesen würde, ohne mich zu erinnern, dass ich sie geschrieben hatte? Was sollte aus mir werden, wenn ich die Beziehung zu dem, was ich schrieb, verlor, wenn ich weder ein Buch schreiben noch eines lesen konnte? Was würde ohne mein Werk von mir bleiben? Ich ließ Jamie nicht merken, dass ich nicht wusste, wovon sie sprach, dass ich begonnen hatte, in einer Welt voller Löcher zu leben, und dass mein Geist – von dem Augenblick an, in dem ich wie eine außerirdische Spezies nach New York gekommen war, ein Fremder in dieser Welt, in der alle anderen lebten – zwischen Obsession und Vergesslichkeit hin und her schwang. Es ist, als wäre ein Schalter umgelegt worden, dachte ich, als würde eine Verbindung nach der anderen gekappt. »Wenn es irgendwelche Fragen gibt«, sagte ich, »soll er mich anrufen. Aber Rob kennt das Haus besser als ich, und Billy wird sehr gut zurechtkommen.« Ich fragte mich, ob das vielleicht genau die Worte waren, die ich gesagt hatte, als wir übereingekommen waren, dass Billy das Haus in Augenschein nehmen würde.

Es war nicht der rechte Zeitpunkt, um zu erklären, dass ich meine Meinung geändert hatte. Ich würde warten müssen, bis Billy zurück war. Möglicherweise fand er mein kleines Haus ja ungeeignet – dann würde sich der Plan ohne weitere Schwierigkeiten in Luft auflösen. »Ich hatte angenommen, dass Sie ihn begleiten würden. Zumal Sie ja ein bisschen angeschlagen sind.« »Ich bin gerade mitten in einer Erzählung«, sagte sie, doch ich glaubte nicht, dass das der Grund war, warum sie in New York geblieben war. Der wahre Grund war Kliman. Sie war es doch, die nach Massachusetts ziehen wollte – hätte sie dann nicht auch diejenige sein sollen, die sich das Haus ansah? Nein, sie war geblieben, weil sie sich mit Kliman treffen wollte. »Und wie gefällt Ihnen Ihr Amerika jetzt«, fragte sie mich, »am ersten Tag der Wiederkunft?« »Der Schmerz wird vergehen«, antwortete ich. »Aber Bush nicht. Cheney nicht. Rumsfeld nicht. Wolfowitz nicht. Und diese Rice ebenfalls nicht. Der Krieg wird nicht vergehen. Die Arroganz wird nicht vergehen. Dieser sinnlose, idiotische Krieg! Und bald werden sie den nächsten sinnlosen, idiotischen Krieg vom Zaun brechen. Und dann noch einen und noch einen, bis alle Welt uns in die Luft sprengen will.« »Tja, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Sie in meinem Haus in die Luft sprengt, ist ziemlich klein«, sagte ich, obgleich ich sie angerufen hatte, um die Vereinbarung zu widerrufen, die ihr diesen sicheren Hafen bot. Doch ich wollte nicht, dass das Telefongespräch endete. Sie brauchte gar nichts Einladendes oder Aufreizendes zu sagen – der bloße Klang ihrer Stimme in meinem Ohr vermittelte mir

ein angenehmes Gefühl, wie ich es seit Jahren nicht verspürt hatte. »Ich habe mich mit Ihrem Freund getroffen«, sagte ich. »Sie haben meinen Freund gründlich verwirrt.« »Woher wissen Sie das? Es ist keine zehn Minuten her.« »Er hat mich vom Park aus angerufen.« »Als Kind hab ich mal gesehen, wie ein ehrgeiziger Schwimmer im Meer ertrunken ist«, sagte ich. »Niemand hatte bemerkt, dass er in Schwierigkeiten war, bis es schließlich zu spät war. Mit einem Handy hätte er, wie Kliman, Hilfe holen können, als er spürte, dass die Strömung ihn hinauszog.« »Was haben Sie gegen ihn? Warum machen Sie ihn schlecht? Was wissen Sie überhaupt über ihn?« fragte Jamie. »Er verehrt Sie, Mr. Zuckerman.« »Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass sein Eifer eher in die andere Richtung geht.« »Für ihn war es ein wichtiges Gespräch«, sagte sie. »In letzter Zeit gibt es in seinem Leben nichts Wichtigeres als Lonoff. Er will, dass ein Autor wiederentdeckt wird, den er überragend findet und dessen Werk in Vergessenheit geraten ist.« »Die Frage ist das Wie.« »Richard ist ein ernsthafter Mensch.« »Warum nehmen Sie ihn in Schutz?« »Ich ›nehme ihn in Schutz‹, weil ich ihn kenne.« Ich malte mir lieber nicht allzu farbig aus, warum sie sich so für diesen ernsthaften Menschen einsetzte, der auf dem College ihr Freund gewesen war und mit dem sie (wie ich mir nur zu gut vorstellen konnte) eine sexuelle Beziehung

hatte, auch jetzt noch, nachdem sie den ihr so ergebenen Billy geheiratet hatte … der übrigens nicht da war, der in diesem Augenblick hundertfünfzig Kilometer nördlich von New York unterwegs war, während seine Frau allein in ihrer gemeinsamen Wohnung gegenüber der Kirche saß und sich über Bushs Wiederwahl grämte. Meine Torheit, aus den genannten Gründen nach New York zu fahren – und dann zu denken, ich sollte für ein ganzes Jahr dort bleiben –, hätte nicht besser abgerundet werden können als durch den Versuch, Jamie zu sehen, bevor Billy zurückkehrte. »Dann wissen Sie also, worum es bei dem Skandal geht«, sagte ich. »Bei welchem Skandal?« »Beim Lonoff-Skandal. Hat Kliman Ihnen nicht davon erzählt?« »Selbstverständlich nicht.« »Aber natürlich hat er das – Ihnen zuallererst. Er hat sich damit gebrüstet, was er allein weiß, und gesagt, wie überaus nützlich seine Entdeckung sein wird.« Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, es abzustreiten. »Sie kennen die ganze Geschichte«, sagte ich. »Wenn Sie sie nicht von Richard hören wollten, warum wollen Sie sie dann von mir hören?« »Darf ich vorbeikommen?« »Wann?« »Jetzt.« Ich war regelrecht benommen, als sie leise sagte: »Wenn Sie wollen.« Ich packte meine Sachen, um New York zu verlassen. Ich

versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was ich in den kommenden Wochen zu Hause erledigen müsste, und dachte an die Erleichterung, die mit der Wiederaufnahme meiner täglichen Routine und dem Verzicht auf weitere Behandlungen verbunden wäre. Nie wieder würde ich mich in eine Situation begeben, in der es schmerzlicher Reue und dem mit ihr verbundenen Wunsch nach Wiedergutmachung erlaubt wäre, meinen nächsten Schritt zu bestimmen. Dann machte ich mich auf den Weg zur West 71st Street und gab sogleich der Rigorosität einer verzweifelten Vernarrtheit nach, die garantiert alles andere als harmlos wäre für jemanden, der zwischen den Beinen einen tröpfelnden Hahn aus verschrumpeltem Fleisch hatte, wo früher das voll funktionsfähige, mit einem gesunden Blasenschließmuskel versehene Genital eines kräftigen erwachsenen Mannes gewesen war. Das einst steife Fortpflanzungsorgan war jetzt wie ein Rohr, das man irgendwo aus einem Feld ragen sieht, ein Stück Rohr ohne jeden Nutzen, aus dem hin und wieder ein wenig Wasser tröpfelt oder plätschert, bis es eines Tages jemandem einfällt, den Hahn bis zum Anschlag zuzudrehen, damit das verdammte Ding endlich aufhört. Sie hatte jede Zeile gelesen, die in der New York Times über die Wahl stand. Die Seiten lagen auf dem verschlungenen goldorangeroten Muster des weichen, abgetretenen Perserteppichs, und ihr Gesicht verriet echtes Unglück. »Zu schade, dass Billy heute nicht hier sein kann«, sagte ich. »Es ist nicht gut, mit so großer Enttäuschung allein zu sein.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir dachten, wir würden etwas zu feiern haben.«

Während ich auf dem Weg hierher gewesen war, hatte sie Kaffee gekocht, und nun saßen wir in zwei mit schwarzem Leder bezogenen Eames-Sesseln einander gegenüber am Fenster und tranken ihn schweigend. Drückten schweigend unsere Unsicherheit aus. Nahmen schweigend die Unvorhersehbarkeit dessen hin, was geschehen würde. Verbargen schweigend unsere Verwirrung. Bei meinen früheren Besuchen hatte ich nicht bemerkt, dass es zwei orangerote Katzen gab. Eine von ihnen sprang jetzt elegant auf Jamies Schoß, legte sich hin und ließ sich streicheln, während ich, weiterhin schweigend, zusah. Die andere Katze erschien von irgendwoher, legte sich auf Jamies nackte Füße und erzeugte (in mir) die angenehme Illusion, dass das Schnurren, das bald darauf zu hören war, nicht von der Katze stammte, sondern von den Füßen. Die eine hatte ein langes Fell, die andere war kurzhaarig, und ihr Anblick verblüffte mich. Sie sahen aus, wie die beiden Kätzchen, die Larry Hollis mir geschenkt hatte, inzwischen aussehen würden, wenn ich sie länger als drei Tage behalten hätte. Obwohl Jamie ein verblasstes blaues Sweatshirt und eine weite graue Trainingshose trug, war ich nicht weniger gebannt von ihrer Schönheit. Und wir waren allein, und daher kam ich mir keineswegs vor wie jemand, der imstande war, Ehrfurcht einzuflößen, sondern fühlte mich infolge der Macht, die sie über mich hatte, meines ganzen Status beraubt, um so mehr, als sie durch Kerrys Niederlage und die schreckliche Ungewissheit, die diese heraufbeschwor, so bedrückt war. Ganz im Einklang mit dem wilden Schwanken meiner Gemütsverfassung in New York fragte ich mich nun, was das Verfassen von Lonoffs Biographie mit mir zu tun haben

könnte. Nach meinem Besuch in seinem Haus im Jahr 1956 war ich nie wieder in seiner Gegenwart gewesen, und der Brief, den ich ihm danach geschrieben hatte, war unbeantwortet geblieben, so dass der Traum, den ich womöglich träumte – der Traum von einer Beziehung, in der er der Meister und ich sein Schüler war –, unverwirklicht hatte bleiben müssen. Was eine Biographie oder einen Biographen betraf, so besaß ich weder Lonoff noch seinen Erben gegenüber irgendeine Verantwortung. Meine Reaktion auf Kliman und seine Andeutungen von einem dunklen »Geheimnis« war zum einen darauf zurückzuführen, dass ich Amy Bellette nach so vielen Jahren wiedergesehen hatte, und zwar gebrechlich und entstellt, vertrieben aus dem Haus ihres eigenen Körpers, und zum anderen auf die Tatsache, dass ich danach seine Bücher gekauft und im Hotel noch einmal gelesen hatte. Ware ich zu Hause geblieben und hätte unvermutet einen Brief von irgendeinem Kliman oder seinesgleichen erhalten, so hätte ich gar nicht darauf reagiert, geschweige denn ihm gedroht, ihn praktisch zu vernichten, sollte er es wagen, sein Projekt weiterzuverfolgen. Auf sich allein gestellt, würde Kliman bei seinem grandiosen Vorhaben vermutlich scheitern; für ihn war die bislang größte Ermunterung wahrscheinlich nicht der Zuspruch eines Literaturagenten oder Lektors gewesen, sondern mein vehementer Widerstand. Und nun saß ich hier bei Jamie und brach unser Schweigen mit der Frage: »Mit wem habe ich es zu tun? Können Sie mir das sagen? Wer ist dieser junge Mann?« Argwöhnisch fragte sie: »Was wollen Sie wissen?« »Wie kommt er zu der Annahme, dass er dieser Aufgabe gewachsen ist? Kennen Sie ihn schon lange?«

»Seit er achtzehn war. Seit seinem ersten Jahr an der Uni. Seit zehn Jahren.« »Woher stammt er?« »Aus Los Angeles. Sein Vater ist Anwalt. Ein Medienanwalt, berüchtigt für seine Aggressivität. Seine Mutter ist ganz anders. Sie ist Professorin, für Ägyptologie, glaube ich, an der UCLA. Sie meditiert jeden Morgen für zwei oder drei Stunden und behauptet, dass sie an guten Tagen gegen Ende der Meditation eine grüne Lichtkugel vor sich schweben lassen kann.« »Wie haben Sie sie kennengelernt?« »Durch ihn natürlich. Sie haben ihn und seine Freunde zum Essen eingeladen, wenn sie ihn besuchten. Und wenn meine Eltern mich besucht haben, war er unter den Freunden, die mit uns zum Abendessen gingen.« »Dann ist er also in einer Akademikerfamilie aufgewachsen.« »Er ist mit einem starrsinnigen, aggressiven Vater und einer intellektuellen, stillen Mutter aufgewachsen. Er ist klug. Sehr klug. Sehr scharfsinnig. Er hat seine eigene Aggressivität, was Sie offenbar vor den Kopf gestoßen hat. Aber er ist kein Dummkopf. Ich sehe keinen Grund, warum er nicht imstande sein sollte, ein Buch zu schreiben – es sei denn den, der für alle gilt.« »Und der wäre?« »Dass es schwer ist.« Sie bemühte sich, mich merken zu lassen, dass sie nicht mehr sagte, als sie sagte, sie bemühte sich, mich mit ihrer Unbeeindruckbarkeit zu beeindrucken, und war entschlossen, nicht nachzugeben, sondern lediglich zu antworten. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck

erwecken, als wäre sie infolge des großen Unterschieds in Alter und Status eine leichte Gegnerin. Obwohl sie offensichtlich zufrieden war mit der Wirkung, die sie auf Männer hatte, war ihr anscheinend noch nicht bewusst, dass sie bereits triumphiert hatte und ich der leichte Gegner war. »Wie war er zu Ihnen?« fragte ich. »Wann?« »Als Sie zusammen waren.« »Es war eine wunderbare Zeit. Wir hatten ähnlich starrsinnige Vater, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten, und darum jede Menge schöne Katastrophengeschichten, die wir uns erzählen konnten. So sind wir uns sehr schnell sehr nahe gekommen: Es waren herrliche Geschichten voller Komik und Schrecken. Richard ist robust und energisch und will immer irgendwas Neues ausprobieren, und er ist furchtlos. Er hält nichts zurück. Er ist abenteuerlustig, und er ist furchtlos, und er ist frei.« »Übertreiben Sie nicht ein bisschen?« »Ich beantworte nur wahrheitsgemäß Ihre Fragen.« »Furchtlos im Hinblick worauf, wenn ich fragen darf?« »Im Hinblick auf Ablehnung. Auf Missbilligung. Er ist nicht so eingeschränkt wie andere Menschen, wenn es darum geht, in welchen Gruppen sie sich wohl fühlen. Er hat nichts Zögerndes an sich. Er ist eine einzige Abfolge entschlossener Taten.« »Und mit seinem Vater, der für seine Aggressivität berüchtigt ist, kommt er gut aus?« »Ach, ich glaube, sie streiten sich oft. Sie sind beide kämpferische Männer, und darum kämpfen sie. Aber es ist

wohl nicht so ernst, wie wenn ich mit meiner Mutter streiten würde. Sie telefonieren miteinander und geraten in einen wüsten Streit, und am nächsten Tag telefonieren sie wieder, und es ist, als wäre nichts gewesen. So sind sie eben.« »Erzählen Sie mir mehr.« »Was wollen Sie denn noch wissen?« »Alles, was Sie mir nicht sagen.« Eigentlich wollte ich natürlich nur von ihrem Leben hören. »Haben Sie ihn je in Los Angeles besucht?« »Ja.« »Und?« »Sie leben in einem großen Haus in Beverly Hills. Meiner Meinung nach ist es extrem hässlich. Es ist groß und protzig. Kein bisschen gemütlich. Seine Mutter sammelt … Ich glaube, man nennt das alte Kunst: Skulpturen, kleine Objekte. Es gibt Vitrinen und Wandnischen, die viel zu groß sind für das, was darin steht – wie alles dort viel zu groß ist. Es ist ein Ort ohne jede Wärme. Zu viele Säulen. Zuviel Marmor. Im Garten ein riesiger Swimmingpool. Der Garten selbst extrem gestaltet. Manikürt. Das ist nicht Richards Welt. Er ist im Nordosten aufs College gegangen. Dann ist er nach New York gegangen. Er hat sich dafür entschieden, in New York zu leben und in der Welt der Literatur zu arbeiten und nicht superreich zu werden und in einem Marmorpalast in L. A. zu wohnen und seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass er anderen die Hölle heiß macht. Er hätte zwar das Zeug dazu – das hat er von seinem Vater gelernt –, aber es ist nicht das, was er will.« »Sind seine Eltern noch zusammen?«

»Ja, es ist schockierend. Ich weiß nicht, was sie gemeinsam haben. Sie meditiert und arbeitet dann den ganzen Tag. Er arbeitet ebenfalls den ganzen Tag. Sie bewohnen dasselbe Haus, und damit hat es sich wohl. Ich habe nie erlebt, dass sie über irgendwas miteinander geredet hätten.« »Ist er mit ihnen in Kontakt?« »Ich nehme es an. Er spricht nicht über sie.« »Er würde seine Eltern nicht am Wahlabend anrufen.« »Ich glaube nicht. Allerdings bin ich sicher, dass es wesentlich angenehmer wäre, am Wahlabend mit ihnen zu sprechen als mit meinen Eltern. Es sind gute L. A.Liberale.« »Und seine Freunde in New York?« Sie seufzte – das erste Anzeichen von Ungeduld und Verärgerung. Bis dahin war sie betont distanziert und die Ruhe selbst. »Er ist viel mit ein paar Leuten zusammen, die er im Fitnesscenter kennengelernt hat. Lauter Akademiker, wahrscheinlich zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Sie spielen Basketball, und er verbringt viel Zeit mit ihnen. Anwälte. Medienleute. Ein paar von unseren gemeinsamen Freunden aus der Collegezeit arbeiten für Zeitschriften und in Verlagen. Ein guter Freund von ihm hat eine Firma für Videospiele gegründet.« »Ich finde, mit dem sollte er sich zusammentun. Ich finde, er sollte Videospiele verkaufen. Soll er dort furchtlos sein. Denn er denkt, dies ist ein Spiel. Er denkt, ›Lonoff‹ ist der Name eines Spiels.« »Sie haben unrecht«, sagte sie und milderte diese harsche Äußerung mit einem raschen Lächeln. »Sie sehen in ihm jemanden wie seinen Vater, diesen Menschen, der immer

alle einschüchtern will, dabei hat er viel mehr von seiner Mutter. Er ist ein Intellektueller. Er ist nachdenklich. Er hat zwar außerordentlich viel Energie. Er ist dynamisch und aufregend und stark und widerspenstig und manchmal furchterregend, aber er ist kein gedankenloser Opportunist, der nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist.« »Ich hätte gesagt, dass er genau das ist.« »Welcher Opportunist will die literarische Biographie eines Schriftstellers schreiben, der inzwischen praktisch vergessen ist? Wenn er ein Opportunist wäre, würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten. Er würde keine Biographie über einen Schriftsteller schreiben, von dem niemand unter fünfzig je gehört hat.« »Sie preisen ihn an. Sie idealisieren ihn.« »Ganz und gar nicht. Ich kenne ihn um einiges besser als Sie, und ich versuche, Sie zu korrigieren. Sie brauchen jemanden, der Sie korrigiert.« »Er meint es nicht ehrlich. Er besitzt keine Besonnenheit. Er besteht nur aus Dreistigkeit, Trotz und Frivolität. Ich sehe keinen Ernst.« »Er besitzt vielleicht nicht die Zurückhaltung oder die Finesse, die andere Leute haben, aber er ist nicht ohne Besonnenheit.« »Und Integrität. Ist er angekränkelt von Integrität? Ich glaube, dass das Ränkeschmieden ihm nicht fernliegt. Gibt es bei ihm irgendwo ein kleines bisschen Integrität?« »Sie beschreiben ihn nicht, Mr. Zuckerman, sie karikieren ihn. Es stimmt zwar, dass er nicht immer versteht, warum er sich nicht so benehmen sollte, wie er sich benimmt. Aber er hat seine Prinzipien. Sehen Sie, Richard ist nicht allem – er lebt in einer Welt voller Aufsteiger, in der man sich wie

ein Versager fühlt, wenn man nicht ebenfalls aufsteigt. In einer Welt, in der es nur um Reputation geht. Sie sind ein älterer Mensch, der gerade in die Stadt zurückgekehrt ist, und Sie wissen nicht, wie es ist, heutzutage jung zu sein. Sie sind aus den fünfziger Jahren, er ist aus der Gegenwart. Sie sind Nathan Zuckerman. Es ist wahrscheinlich lange her, dass Sie Kontakt mit Menschen hatten, die noch nicht fest in ihrem beruflichen Leben verankert sind. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man in einer Welt, in der Reputation alles bedeutet, seine Reputation noch nicht gefestigt hat. Aber wenn Sie in dieser Welt voller Aufsteiger kein ZenMeister sind, wenn Sie ein Teil dieser Welt sind und nach Anerkennung streben, sind Sie deswegen dann der böse Feind? Ich gebe zu, dass Richard vielleicht nicht der tiefgründigste Mensch ist, den ich kenne, aber es gibt keinen Grund, warum er in seiner Erfahrungswelt damit rechnen sollte, dass das entschlossene Streben nach dem, was er anstrebt, für irgend jemanden anstößig sein könnte.« »Was seine Tiefgründigkeit angeht, würde ich sagen, dass er nicht halb so tiefgründig ist wie Ihr Mann. Und dass Ihr Mann nicht annähernd ein solcher Aufsteiger wie Kliman ist und sich dennoch nicht als Versager fühlt.« »Er fühlt sich aber auch nicht als Erfolgsmensch. Trotzdem haben Sie im Grunde recht.« »Sie sind eine glückliche Frau.« »Sehr glücklich. Ich liebe meinen Mann sehr.« Diese makellose Zurschaustellung von Selbstsicherheit hatte innerhalb von zehn Minuten nichts anderes bewirkt, als mein Begehren nach ihr zu vertiefen und sie zu dem mit Abstand größten Problem meines Lebens zu machen. Die

Wucht der sexuellen Anziehungskraft lässt keinen Raum für Resignation – nur für die Gier des Begehrens. »Aber Sie werden mir sicher zustimmen, wenn ich sage, dass Kliman zumindest ein sehr unsympathischer Mensch ist.« »Keineswegs«, erwiderte sie. »Und das Geheimnis? Sein Streben, das Geheimnis zu enthüllen? Lonoffs großes Geheimnis?« Ohne das rhythmische Streicheln der Katze zu unterbrechen, sagte sie: »Inzest.« »Und woher weiß Kliman davon?« »Er hat schriftliche Beweise. Er hat irgendwelche Leute kontaktiert. Das ist alles, was ich weiß.« »Aber ich war bei Lonoff. Ich habe ihn kennengelernt. Ich habe alles gelesen, was er geschrieben hat, mehr als einmal. Ich kann das unmöglich glauben.« Mit einem Flüstern der Überlegenheit sagte sie: »So etwas ist immer unmöglich zu glauben.« »Es ist Unsinn«, beharrte ich. »Inzest mit wem?« »Mit einer Halbschwester«, sagte Jamie. »Wie Lord Byron und Augusta.« »Ganz und gar nicht wie sie«, widersprach sie – scharf diesmal – und machte sich daran, ihre (oder Klimans) profunde Vertrautheit mit diesem Thema zu demonstrieren. »Byron und seine Halbschwester kannten sich als Kinder kaum. Sie wurden erst als Erwachsene ein Paar, als sie bereits Mutter von drei Kindern war. Die einzige Parallele ist, dass Lonoffs Halbschwester ebenfalls älter war als er. Sie stammte aus der ersten Ehe des Vaters. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch klein war, der Vater

hatte schnell wieder geheiratet, und dann wurde Lonoff geboren, als sie drei Jahre alt war. Sie sind zusammen aufgewachsen, als Bruder und Schwester.« »Drei Jahre alt. Das heißt, dass sie 1898 geboren wurde. Sie muss längst tot sein.« »Sie hatte Kinder. Ihr jüngster Sohn lebt noch. Er muss jetzt über achtzig sein. Er lebt in Israel. Nachdem ihr Verhältnis entdeckt wurde, ging sie nach Palästina. Die Eltern gingen mit ihr dorthin, um der Schande zu entfliehen. Lonoff blieb zurück und schlug sich allein durch. Er war damals siebzehn.« Was ich von Lonoffs Herkunft wusste, stimmte nur bis zu einem gewissen Punkt mit dieser Geschichte überein. Die jüdischen Eltern waren aus Russland nach Boston emigriert, hatten die amerikanische Gesellschaft jedoch nach und nach als abstoßend materialistisch empfunden und waren, als Lonoff siebzehn gewesen war, nach Palästina ausgewandert, das damals noch nicht unter Mandatsherrschaft stand. Es stimmte, dass Lonoff in Amerika geblieben war, allerdings nicht, weil er als ein auf Irrwege geratener Missetäter zurückgelassen worden wäre; vielmehr war er ein beinahe erwachsener amerikanischer Junge, der lieber ein amerikanisch sprechender Amerikaner als ein hebräisch sprechender Palästina-Jude werden wollte. Ich hatte nie ein Wort von einer Schwester oder überhaupt von Geschwistern gehört, aber da er verhindern wollte, dass sein Werk auf oberflächliche Weise als Spiegel seines Lebens fehlinterpretiert wurde, hatte Lonoff niemandem – außer vielleicht seiner Frau Hope oder Amy – mehr als äußerst rudimentäre Fakten seiner Biographie preisgegeben. »Und wann hat dieses Verhältnis begonnen?« fragte ich.

»Als er vierzehn war.« »Wer hat Kliman davon erzählt? Der Sohn in Israel?« »Das hätte Richard Ihnen gesagt, wenn Sie ihn gelassen hätten«, sagte Jamie. »Er hätte Ihnen das alles selbst erzählt. Er hätte all Ihre Fragen beantwortet.« »Und es wem außer mir erzählt? Wem außer Ihnen?« »Ich kann nicht erkennen, was für ein Verbrechen es wäre, wenn er es jedem erzählen würde, dem er es erzählen will. Sie wollten, dass ich es Ihnen erzähle. Deswegen haben Sie mich angerufen und sind hergekommen. Habe ich jetzt ein Verbrechen begangen? Es tut mir leid, wenn Sie den Gedanken, dass Lonoff eine inzestuöse Beziehung hatte, quälend finden. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es einem Mann, der Bücher geschrieben hat wie Sie, lieber wäre, wenn Lonoff zu einem Heiligen verklärt würde.« »Zwischen leichtfertigen Anschuldigungen und Verklärung zum Heiligen ist ein großer Unterschied. Kliman kann unmöglich irgendeine intime Beziehung beweisen, die, wie er behauptet, vor fast hundert Jahren bestanden hat.« »Richard ist nicht leichtfertig. Ich habe Ihnen doch gesagt: Er ist abenteuerlustig. Er hat eine Schwäche für waghalsige Unternehmungen. Was ist daran so falsch?« Waghalsige Unternehmungen. Darauf war ich auch versessen gewesen. Ich sagte: »Hat Kliman mit dem Sohn in Israel, mit Lonoffs Neffen, gesprochen?« »Mehrere Male.« »Und der bestätigt die Geschichte. Hat ihm Aufzeichnungen übergeben, aus denen hervorgeht, wie oft

die beiden miteinander geschlafen haben. Ich nehme an, der junge Lonoff hat darüber Buch geführt.« »Der Sohn bestreitet natürlich alles. Das letzte Mal, als die beiden miteinander gesprochen haben, hat er gedroht, nach Amerika zu kommen und eine Klage einzureichen, wenn Richard diese Dinge über seine Mutter publik machen würde.« »Und Kliman behauptet, dass dieser Neffe aus Gründen lügt, die auf der Hand liegen, oder die Wahrheit einfach nicht kennt – welche Mutter würde ihrem Sohn schon ein solches Geheimnis offenbaren? Sehen Sie, Kliman kann gar nicht genug wissen, um zu irgendwelchen Schlüssen über eine inzestuöse Beziehung zu kommen. Es gibt zwei Arten von ›so ist es nicht‹: Die eine enthüllt, wie es ist – das nennt man Fiktion –, die andere aber bestätigt nur, dass es nicht so ist – das ist bei Kliman der Fall.« Jaimie erhob sich abrupt, so dass die eine Katze von ihrem Schoß glitt und die andere, die auf ihren Füßen gelegen hatte, aufsprang. »Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Gespräch in eine Richtung geht, die irgendwie hilfreich wäre. Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Ich hätte Sie nicht einladen sollen, um an Richards Stelle zu versuchen, Sie zu überzeugen. Ich habe brav dagesessen und Ihre Fragen beantwortet. Ich habe Ihren herabsetzenden Worten kein einziges Mal widersprochen. Ich habe Ihnen aufrichtig geantwortet und bin die ganze Zeit respektvoll, wenn nicht gar unterwürfig gewesen. Es tut mir leid, wenn irgend etwas, was ich gesagt habe, oder die Art, wie ich es gesagt habe, Sie verärgert hat. Aber offenbar habe ich Sie verärgert, auch wenn das nicht meine Absicht war.« Auch ich hatte mich erhoben und stand nur eine Armlänge von ihr entfernt. Ich sagte: »Ich bin es, der Sie

verärgert hat. Vor allem durch die Herabsetzung.« Es wäre der richtige Augenblick gewesen, um ihr mitzuteilen, dass unsere Vereinbarung hinfällig war. Doch ich konnte sie in Gedanken nur dann realistisch vor mir sehen, wenn die Vereinbarung weiterhin galt und ich mein Haus gegen ihre Wohnung tauschte. Dann würde sie inmitten meiner und ich inmitten ihrer Dinge leben. Gab es ein lächerlicheres Motiv, das überstürzt vereinbarte Arrangement aufrechtzuerhalten, das ich so gern beenden wollte? Ich war mir über die Fadenscheinigkeit der Gründe, die ich hervorkramte, um meine Lebensumstände drastisch zu verändern, durchaus im klaren, und dennoch schien alles, was geschah, ohne Rücksicht auf meine Verfassung und mein Bewusstsein zu geschehen. Das Telefon läutete. Es war Billy. Sie hörte lange zu, bevor sie ihm sagte, ich sei zufällig gerade bei ihr. Offenbar fragte er sie nach dem Grund, denn sie sagte: »Er wollte sich die Wohnung noch einmal ansehen. Ich führe ihn gerade herum.« Ja, Kliman war ihr Liebhaber. Sie war so sehr daran gewöhnt, Billy anzulügen, um ihr Verhältnis mit Kliman zu verbergen, dass sie ihn jetzt im Hinblick auf meine Anwesenheit angelogen hatte. Und zuvor, am Telefon, hatte sie mir ebenfalls die Unwahrheit gesagt, als es um Kliman gegangen war. Entweder das – oder ich war derart geblendet von ihrer Ausstrahlung, dass meine Gedanken so dicht um die eine Sache kreisten wie schon seit Jahren nicht mehr. Hatte sie ihren jungen Ehemann vielleicht einfach deshalb angelogen, weil es einfacher war, als die Wahrheit zu sagen, während ich neben ihr stand und sie so weit voneinander entfernt waren? Alles, was Jamie tat oder sagte – selbst ihr harmloses

Geplauder mit Billy am Telefon –, bewirkte in mir eine unverhältnismäßige Reaktion. Ich war dauerhaft aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich fand keine Ruhe. Es war, als sähe ich zum erstenmal in meinem Leben eine junge Frau. Oder zum letztenmal. Es war jedenfalls allesbeherrschend. Ich ging, ohne es zu wagen, sie zu berühren. Ohne es zu wagen, ihr Gesicht zu berühren, obgleich es die ganze Zeit, während ich sie, wie sie sagte, herabgesetzt hatte, in Reichweite gewesen war. Ohne es zu wagen, ihr langes Haar zu berühren, das in meiner Reichweite gewesen war. Ohne es zu wagen, meine Hand auf ihre Hüfte zu legen. Ohne es zu wagen, sie darauf hinzuweisen, dass wir uns bereits früher begegnet waren. Ohne es zu wagen, die Worte auszusprechen, die ein so verstümmelter Mann wie ich zu einer begehrenswerten, vierzig Jahre jüngeren Frau sagen konnte, Worte, mit denen er sich nicht unmöglich machte, weil er der Versuchung einer Wonne nachgegeben hatte, die er nicht genießen konnte, und einer Lust, die längst tot war. Auch ohne dass zwischen uns mehr stattgefunden hatte als dieses unangenehme kleine Gespräch über Kliman, Lonoff und den Vorwurf einer inzestuösen Beziehung, war es schon schlimm genug. Mit Einundsiebzig erfuhr ich, was geistige Verwirrung ist. Ein Beweis dafür, dass das Abenteuer der Selbsterfahrung noch nicht vorüber war. Ein Beweis dafür, dass das Drama, das man normalerweise mit der Jugend bei ihrem Eintritt in die Welt der Erwachsenen verbindet – mit Heranwachsenden, mit jungen Männern wie dem standhaften jungen Kapitän in der Schattenlinie –, auch die Alten erschrecken und über sie hereinbrechen kann (die eingeschlossen, die sich resolut gegen alle Arten von Drama gewappnet haben), selbst wenn ihre Lebensumstände auf

ihren baldigen Abgang hindeuten. Vielleicht macht man die größten Entdeckungen erst zuletzt. SITUATION: Der junge Ehemann ist fort, der nette, zuvorkommende Ehemann, der sie anbetet. Es ist November 2004. Sie ist verängstigt und verzweifelt wegen des Ausgangs der Wahl, wegen Al Qaida, wegen ihrer Affäre mit einem ehemaligen Kommilitonen, der zu ihrem Freundeskreis gehört und sie noch immer liebt –, wegen »waghalsiger Unternehmungen« von der Art, die sie mit ihrer Heirat hinter sich lassen wollte. Sie trägt die Jacke aus weichem Kaschmir, ein blasses, sanftes Hellbraun. Die weiten Ärmel sind angeschnitten und reichen bis zu den Handgelenken. Der Schnitt erinnert an einen Kimono oder vielmehr an eine Hausjacke für Herren aus dem späten 19. Jahrhundert. Am Hals und bis zum unteren Rand verläuft ein breiter gerippter Streifen, der wie ein Schalkragen wirkt, obwohl die Jacke kragenlos ist. Sie liegt glatt an ihrem Körper an und wird tief auf der Hüfte von einem ebenfalls gerippten, zu einem losen Knoten geschlungenen Bindegürtel zusammengehalten. Die Jacke ist bis zur Taille offen und gibt den Blick auf einen langen, schmalen Streifen ihres im übrigen verhüllten Körpers frei. Weil sie so locker sitzt, ist der Körper größtenteils verborgen. Dennoch sieht er, dass sie schlank ist: Nur eine schlanke Frau kann in einem so weiten Kleidungsstück attraktiv aussehen. Es erinnert ihn an einen extrem kurzen Bademantel, und daher gibt er sich, obwohl von ihrem Körper so wenig zu erkennen ist, der Phantasie hin, er sei in ihrem Schlafzimmer und werde bald mehr von ihr zu sehen bekommen. Die Frau, die ein solches Stück trägt, muss wohlhabend sein (um sich etwas so Teures

leisten zu können) und großen Wert auf sinnliche Genüsse legen (denn sie hat Geld für ein Kleidungsstück ausgegeben, das fast ausschließlich dazu dient, sich im häuslichen Bereich der Muße hinzugeben). Bei der Aufführung müssen an geeigneter Stelle kleine Pausen entstehen, denn beide halten hin und wieder inne, um nachzudenken, bevor sie eine Frage beantworten. Vier letzte Lieder. Wegen der MUSIK: Tiefgründigkeit, die nicht durch Komplexität, sondern durch Klarheit und Schlichtheit erzeugt wird. Wegen der Reinheit der Empfindungen über Tod, Abschied und Verlust. Wegen der langen melodischen Linie, die sich darin entfaltet, und der Frauenstimme, die sich zu immer größeren Höhen aufschwingt. Wegen der Ruhe und Gefasstheit und Eleganz und der großen Schönheit dieser Melodieführung. Wegen der Art, wie man in den großartigen Bogen des Kummers hineingezogen wird. Der Komponist lässt alle Masken fallen und steht, mit zweiundachtzig Jahren, nackt vor einem. Und man zerfließt. SIE Ich verstehe, warum Sie nach New York zurückkehren. Aber warum sind Sie überhaupt fortgegangen? ER Weil ich eine Reihe von Morddrohungen bekommen habe. Postkarten mit Morddrohungen auf der einen und einem Bild des Papstes auf der anderen Seite. Ich bin damals zum FBI gegangen, und die haben mir gesagt, was ich tun soll. SIE Hat man den Absender je ermittelt?

ER Nein, nie. Aber ich bin geblieben, wo ich war. SIE Dann … schicken irgendwelche Verrückten also Morddrohungen an Schriftsteller. Davor hat man uns auf der Uni nicht gewarnt. ER Na ja, auch wenn man nur die letzten Jahre betrachtet, bin ich nicht der erste, der Morddrohungen erhalten hat. Der berühmteste Fall ist der von Salman Rushdie. SIE Das stimmt. Natürlich. ER Ich will meine Situation nicht mit seiner vergleichen. Aber lassen wir Salman Rushdie mal beiseite – ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, dem das passiert ist. Es stellt sich die Frage, ob die Drohung aufgrund dessen ausgestoßen wird, was der Schriftsteller geschrieben hat, oder ob es Leute gibt, die einfach von einem bestimmten Namen in Rage versetzt werden und Impulsen gehorchen, die uns anderen fremd sind. Sie haben vielleicht bloß ein Foto in einer Zeitung gesehen. Stellen Sie sich vor, was passieren konnte, wenn so ein Mensch eines der Bücher aufschlägt, die Sie geschrieben haben. Für ihn sind Ihre Worte etwas Bösartiges, das ihn in einen übermächtigen Bann schlägt. Selbst zivilisierte Menschen werfen mal ein Buch, das ihnen nicht gefällt, quer durchs Zimmer. Für weniger beherrschte Leute ist es nur ein kleiner Schritt zum Laden einer Pistole. Oder sie steigern sich in einen echten Hass auf das hinein, was sie in einem sehen – denken Sie an die Motive der Terroristen, die das World Trade Center angegriffen haben. Es gibt dort draußen jede Menge Hass. SIE Ja, der Hass ist da – er ist grenzenlos und verrückt. ER Und er macht Ihnen schreckliche Angst. SIE Das stimmt. Ich bin fix und fertig – immerzu nervös und ängstlich. Und dann ist da auch noch die Scham, die

man empfindet, wenn man sich so fühlt. Zu Hause bin ich schweigsam und narzisstisch und besessen von Gedanken an meine eigene Sicherheit, und das, was ich schreibe, ist schrecklich. ER Hatten Sie immer schon Angst vor dem Hass? SIE Nein, das ist neu. Ich habe alles Vertrauen verloren. Man hat jetzt nicht mehr bloß Feinde – auch die Menschen, die einen beschützen sollen, sind zu Feinden geworden. Die Menschen, die sich um einen kümmern sollen, sind zu Feinden geworden. Nicht Al Qaida jagt mir Angst ein, sondern meine eigene Regierung. ER Al Qaida jagt Ihnen keine Angst ein? Sie haben keine Angst vor Terroristen? SIE Doch. Aber die tiefersitzende Angst ist die vor den Menschen, die auf meiner Seite stehen sollten. Da draußen in der Welt wird es immer Feinde geben, aber … Als Sie sich an das FBI gewandt haben – wenn Sie an einem gewissen Punkt das Gefühl gehabt hätten, dass das FBI Sie nicht vor der Person, die Ihnen Morddrohungen geschickt hat, beschützt, sondern dass es vielmehr das FBI ist, von dem Gefahr für Sie ausgeht, dann hätte das dem Terror eine ganz neue Dimension gegeben. Und das ist der Grund, warum ich eine solche Angst habe. ER Und Sie glauben, dass Sie diese Angst dort, wo ich lebe, nicht haben werden? SIE Ich glaube, das Leben dort wird meine begründeteren Ängste mindern, indem es den Aspekt physischer Gefahr beseitigt, und das wird mich ein wenig beruhigen, glaube ich. Ich glaube nicht, dass es meine Wut beseitigen wird – die Wut auf meine Regierung –, aber im Augenblick stehe ich so unter Spannung, dass ich zu nichts fähig bin. Ich

weiß nicht mal ansatzweisc, was ich tun soll, und darum muss ich einfach fortgehen. Darf ich Sie etwas fragen? (Sie lacht schon im voraus höflich über ihre Vermessenheit.) ER Natürlich. SIE Glauben Sie, dass Sie auch ohne diese Morddrohungen fortgegangen wären? Glauben Sie, dass Sie an einem bestimmten Punkt so oder so gegangen wären? ER Ich weiß es wirklich nicht. Ich war allein. Ich war ungebunden. Ich kann meine Arbeit überallhin mitnehmen. Ich hatte ein Alter erreicht, in dem ich mich nicht mehr auf gewisse Arten von Beziehungen einlassen wollte. SIE Wie alt waren Sie, als Sie gegangen sind? ER Sechzig. Das erscheint Ihnen jetzt sehr alt. SIE Ja. Das stimmt. ER Wie alt sind Ihre Eltern? SIE Meine Mutter ist fünfundsechzig, mein Vater ist achtundsechzig. ER Als ich fortging, war ich nur wenig jünger als Ihre Mutter. SIE Das war etwas anderes als das, was wir jetzt vorhaben. Billy findet das alles nicht so gut. Auch nicht das, was es über mich offenbart hat. ER Nun, er kann ja auch dort schreiben. SIE Ich glaube, es wird uns beiden guttun, und das wird er mit der Zeit schon erkennen. Er ist ohnehin anpassungsfähiger als ich. ER Gibt es etwas, was Sie nicht gern zurücklassen? Was Ihnen fehlen wird? SIE Ein paar Freunde. Aber es ist auch ganz gut, mal eine

Zeitlang ohne sie zu sein. ER Haben Sie einen Liebhaber? SIE Warum fragen Sie mich das? ER Wegen der Art, wie Sie gesagt haben, dass es ein paar Freunde gibt, die Ihnen fehlen werden. SIE Nein. Ja. ER Sie haben also einen Liebhaber. Wie lange sind Sie verheiratet? SIE Fünf Jahre. Wir waren jung. ER Weiß Billy, dass Sie einen Geliebten haben? SIE Nein, nein, er weiß nichts. ER Kennt er ihn? SIE Ja. ER Was hält Ihr Geliebter davon, dass Sie fortgehen? Weiß er es überhaupt? Macht es ihn wütend? SIE Er weiß es noch nicht. ER Sie haben es ihm nicht gesagt? SIE Nein. ER Sagen Sie die Wahrheit? SIE Ja. ER Warum sagen Sie die Wahrheit? SIE Irgend etwas an Ihnen flößt mir Vertrauen ein. Ich habe Ihre Bücher gelesen. Sie sind nicht so leicht zu schockieren. Nach dem, was ich von Ihnen gelesen habe, stelle ich mir vor, dass Sie eher ein neugieriger Mensch sind als einer, der schnelle Urteile fällt. Ich glaube, es ist mit einer gewissen Lust verbunden, Gegenstand der Neugier eines neugierigen Menschen zu sein. ER Versuchen Sie, mich eifersüchtig zu machen?

SIE (lacht) Nein. Sind Sie denn eifersüchtig? ER Ja. SIE (etwas verblüfft) Tatsächlich? Auf meinen Liebhaber? ER Ja. SIE Wie kann das sein? ER Erscheint Ihnen das so unmöglich? SIE ES kommt mir sehr seltsam vor. ER Wirklich? SIE Wirklich. ER Sie wissen gar nicht, wie attraktiv Sie sind. SIE Warum sind Sie heute hergekommen? ER Um mit Ihnen allein zu sein. SIE Ich verstehe. ER Ja, um mit Ihnen allein zu sein. SIE Warum wollen Sie mit mir allein sein? ER Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? SIE Ich habe Ihnen auch die Wahrheit gesagt. ER Weil es mich erregt, mit Ihnen allein zu sein. SIE Gut. Ich glaube, es erregt mich ebenfalls, mit Ihnen allein zu sein. Vielleicht aus anderen Gründen. Wir könnten wahrscheinlich beide ein bisschen Erregung vertragen. ER Sorgt denn Ihr Liebhaber nicht für Erregung? SIE Ich kenne ihn schon sehr lange. Dass er mein Liebhaber geworden ist, hat sich erst vor relativ kurzer Zeit entwickelt. Da gibt es nichts Neues. ER Er war schon auf dem College Ihr Liebhaber. SIE Aber dann viele Jahre lang nicht mehr. Und jetzt

entwickelt die Beziehung sich rückwärts. Die Leidenschaft ist längst vorbei. Wir sind auf dem absteigenden Ast. ER Ihr Liebhaber ist also nicht mehr aufregend. Und Ihre Ehe ebenfalls nicht. Haben Sie erwartet, dass Ihre Ehe aufregend sein würde? SIE (lacht) Ja. ER Wirklich? SIE Ja. ER Hat man Ihnen in Harvard irgend etwas beigebracht? SIE (lacht abermals leise) Als wir geheiratet haben, waren wir sehr verliebt, und die Aussicht auf die Zukunft, die Aussicht darauf, eine gemeinsame Zukunft zu haben, erschien uns wunderbar. Zu heiraten erschien uns wie das größte Abenteuer. Wie das Neueste, was wir tun konnten. Wie der große nächste Schritt. (Sie hält inne.) Sind Sie froh, dass Sie fortgegangen sind? Sind Sie froh über das, was Sie getan haben? ER Vor ein paar Wochen hätte ich Ihnen eine andere Antwort gegeben. Noch vor ein paar Stunden hätte ich Ihnen eine andere Antwort gegeben. SIE Durch was hat sich die Antwort verändert? ER Dadurch, dass ich eine junge Frau wie Sie kennengelernt habe. SIE Was interessiert Sie so sehr an mir? ER Ihre Jugend und Ihre Schönheit. Dass wir so schnell ins Gespräch gekommen sind. Die erotische Stimmung, die Sie mit Worten erzeugen. SIE New York ist voll von schönen jungen Frauen. ER Ich bin seit Jahren ohne die Gesellschaft einer Frau und all dessen, was dazugehört. Dies ist eine überraschende

Wendung, die mir nicht unbedingt guttut. Jemand – ich weiß nicht mehr, wer – hat mal geschrieben: »Eine große Liebe, die spät im Leben kommt, steht allem anderen im Weg.« SIE Große Liebe? Könnten Sie das bitte etwas genauer erklären? ER Es ist eine Krankheit. Ein Fieber. Eine Art Hypnose. Ich kann es nur erklären, indem ich sage, dass ich mit Ihnen allein in einem Zimmer sein will. Ich will in Ihrem Bann sein. SIE Das freut mich. Es freut mich, dass Sie bekommen haben, was Sie wollen. Das ist gut. ER Es ist herzzerreißend. SIE Warum? ER Was glauben Sie? Sie sind Schriftstellerin. Sie wollen Schriftstellerin sein. Warum würde ein Einundsiebzigjähriger sagen, dass es herzzerreißend ist? SIE (taktvoll) Weil Sie wieder all diese Gefühle haben, aber nicht imstande sind, den nächsten Schritt zu tun. ER Genau. SIE Aber es ist eine gewisse Lust dabei, nicht? ER Eine Lust, die mir das Herz zerreißt. SIE (hat etwas gelernt) Hmmm. (Nach einer langen Pause, mit gespielter Theatralik.) Ach, was kann man da tun? ER Haben Sie einen Vorschlag? SIE Nein, ich habe keine Ahnung, was man da tun könnte. Ich gehe fort, weil ich keine Ahnung habe, was ich gegen irgend etwas tun könnte. ER Sie machen den Eindruck, als wären Sie die ganze Zeit den Tränen nahe.

SIE (lacht) Tja, aber ich kann Ihnen sagen: Weinen hilft nicht. ER (lacht ebenfalls, schweigt aber. Dieser Flirt ist eine Höllenqual, der Mann in ihm steht in Flammen.) SIE Waren Sie heute schon draußen? Die ganze Stadt ist den Tränen nahe. Ja, ja, ich bin den Tränen nahe. Für mich ist das alles sehr bedeutsam, das können Sie sich ja vorstellen. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gestern abend gefühlt habe, als – ER Ich war hier. Ich habe es gesehen. Haben Sie bemerkt, dass ich da war? SIE Und Sie haben offenbar bemerkt, dass ich da war. Aber irgend etwas hat Sie gepackt, bevor Sie mich kennengelernt haben. Und zwar nicht ich. Sie haben beschlossen, sich unsere Wohnung anzusehen. Irgend etwas hat Sie gepackt – was war es? Diese Morddrohungen erklären in meinen Augen nicht diese extreme Wendung, die Sie Ihrem Leben gegeben haben. Auch wenn Sie noch so oft erklären, dass Sie Schriftsteller sind und diese Morddrohungen erhalten haben – Sie haben Ihrem Leben eine extreme Wendung gegeben, indem Sie fortgegangen sind und so gelebt haben, wie Sie es in den vergangenen Jahren getan haben. Ich denke immer wieder darüber nach. Was war der wahre Grund? Es gab also diese Postkarten. Na und? Die Postkarten waren ein Vorwand. Wenn es nur die Postkarten gewesen wären, hätten Sie für ein Jahr fortgehen und Kontakt zu Freunden und Frauen halten können, und nach und nach wären keine Postkarten mehr gekommen, und Sie hätten wieder zurückkehren können. Aber ein Mann, der sich zurückzieht, der sich so abschottet, wie Sie es getan haben, muss einen viel gewichtigeren Grund haben. Man gibt sein Leben nicht wegen eines

willkürlichen, äußerlichen Grundes wie einer Morddrohung auf. ER Was könnte denn der eigentliche Grund sein? SIE Einem Schmerz entkommen zu wollen. ER Was für einen Schmerz meinen Sie? SIE Den Schmerz, anwesend zu sein. ER Beschreiben Sie jetzt nicht sich selbst? SIE Vielleicht. Der Schmerz, im gegenwärtigen Augenblick anwesend zu sein. Ja, man könnte sagen, das erklärt recht genau den extremen Schritt, den ich tun will. Aber bei Ihnen ging es nicht bloß um den gegenwärtigen Augenblick. Es ging darum, überhaupt anwesend zu sein. Es ging darum, in der Gegenwart von irgend etwas anwesend zu sein. ER Haben Sie mal den Roman Die Schattenlinie gelesen? SIE Von Conrad? Nein. Ein Freund hat mir davon erzählt, aber ich habe das Buch nie gelesen. ER Der erste Satz lautet: »Nur junge Menschen kennen solche Augenblicke.« Es sind Augenblicke, die Conrad als »unbesonnen« bezeichnet. Auf den ersten Seiten bereitet er den Boden für seine Geschichte. »Unbesonnene Augenblicke« – eine Aussage, die nur aus diesen beiden Wörtern besteht. Dann fährt er fort: »Ich meine Augenblicke, in welchen junge Menschen geneigt sind, etwas Unbesonnenes zu tun, etwa Hals über Kopf zu heiraten oder einen Posten grundlos zu kündigen.« So heißt es da. Aber diese unbesonnenen Augenblicke gibt es nicht nur in der Jugend. Dass ich gestern abend hierhergekommen bin, war unbesonnen. Dass ich es gewagt

habe, hierher zurückzukehren, war ebenfalls unbesonnen. Auch im Alter gibt es unbesonnene Augenblicke. Meine erste Unbesonnenheit war fortzugehen, meine zweite war zurückzukehren. SIE Billy denkt, dass er einem unbesonnenen Augenblick von mir nachgibt und ich, wenn er das nicht täte, in Angst und Depression versinken würde. Aber er denkt, dass es ein unbesonnener Augenblick ist. Ich habe mich nie als einen verzweifelten Menschen betrachtet. Ich will nicht denken, dass ich etwas Verzweifeltes tue. ER Ich glaube, es wird Ihnen dort gefallen. Sie werden mir fehlen. SIE Na ja, es ist Ihr Haus. Sie können jederzeit kommen. Wenn Sie etwas vergessen haben, kommen Sie einfach vorbei. Wir könnten zusammen zu Mittag essen. ER Sie könnten etwas vergessen haben und nach New York kommen. SIE Klar. ER Gut. Sie sind weniger kurz angebunden zu mir als gestern abend. Die Tatsache, dass ich mir Bushs Lügen nicht angehört habe, macht mich ja noch nicht zu einem Gegner. STE War ich gemein? ER Ich hatte das Gefühl, dass Sie mich nicht mochten. Aber vielleicht habe ich Sie eingeschüchtert. SIE Natürlich haben Sie das. Auf dem College habe ich all Ihre Bücher gelesen und seither alle, die Sie später geschrieben haben. Da oben, in der Abgeschiedenheit der Berkshires, war es Ihnen vielleicht nicht bewusst, aber es gibt viele, Leute in meinem Alter oder älter (lacht) oder jünger, für die Sie eine wichtige Funktion erfüllen. Wir

bewundern Sie. ER Tja, ich habe mich seit vielen Jahren nicht mehr im Spiegel der Öffentlichkeit betrachtet. Davon weiß ich nichts. SIE Ich habe es Ihnen gerade gesagt. ER Ich weiß es trotzdem nicht. Aber es ist sehr schön zu hören, dass Sie mich bewundern, denn ich habe Sie schon nach kurzer Zeit bewundert. SIE (überrascht) Sie haben mich schon nach kurzer Zeit bewundert? Warum? ER Ich sage es nicht gern, aber »eines Tages werden Sie es verstehen«. (Sie lacht.) ER Ihr Postmodernen lacht oft. SIE Ich lache, weil ich vieles komisch finde. ER Lachen Sie über mich? SIE Ich lache über die Situation. Sie reden mit mir, als wären Sie mein Vater. Eines Tages werde ich es verstehen. Liegt die Freude darin, es zu tun, oder nur darin, es getan zu haben? Ich spreche vom Schreiben. Und ich wechsle das Thema. ER Sie liegt darin, es zu tun. Die Freude daran, es getan zu haben, wahrt nicht lange. Man spürt Freude, wenn man den Stoß Papier in der Hand hält, und dann noch einmal, wenn das erste Exemplar eintrifft. Ich nehme es hundertmal in die Hand und lege es wieder weg. Wenn ich esse, liegt es neben meinem Teller. Manchmal nehme ich es mit ins Bett. SIE Das kenne ich. Als meine erste Geschichte veröffentlicht wurde, habe ich den New Yorker unter mein

Kopfkissen gelegt. ER Sie sind eine überaus bezaubernde junge Frau. SIE Danke, danke. ER Darum lebe ich auf dem Land. SIE Ich verstehe. ER Es ist ein bisschen schmerzlich für mich, nach New York zurückzukehren, und auch das hier ist ein bisschen schmerzlich. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber. SIE Gut. Vielleicht können wir uns noch einmal allein treffen und miteinander sprechen. ER Das würde mir den Rest geben, meine Freundin. SIE Ich wäre gern Ihre Freundin. ER Warum? SIE Weil ich niemanden wie Sie habe. ER Sie kennen mich nicht. SIE Das stimmt. Ich habe sonst keine Interaktionen wie diese. ER Müssen Sie dieses Wort gebrauchen? Sie sind doch Schriftstellerin – streichen Sie das Wort »Interaktion« aus Ihrem Wortschatz. SIE (lacht) Ich habe keine Gespräche wie dieses. Ich komme nicht in Situationen wie diese. ER Ich wollte Sie nicht korrigieren. Das geht mich nichts an. Entschuldigen Sie. SIE Ich verstehe Sie schon. Wenn Sie sich mk mir treffen und sich mit mir unterhalten wollen – meine Nummer ist Ihre Nummer. Sie können mich jederzeit anrufen. ER Es ist, als hätte ich nicht auf eine Anzeige aus der Rubrik »Wohnungstausch« reagiert, sondern auf eine aus

der Rubrik »Bekanntschaften«. »Höchst attraktive, sehr gebildete junge Frau (weiß, verheiratet) hat noch Termine für intime Gespräche frei …« Ich habe mehr gefunden als eine neue Wohnung, nicht wahr? SIE Vielleicht eine Freundin. ER Aber dies ist keine Freundschaft, wie ich sie haben kann. SIE Was können Sie denn haben? ER Wie es aussieht, nicht viel. Mir ist Wertvolles genommen worden, und das hat mich in eine unangenehme Lage gebracht, aus der ich nicht durch harte Arbeit und so weiter herausfinden kann. Verstehen Sie, was ich meine? SIE Nein, ich verstehe nicht ganz. Meinen Sie, dass Sie alter geworden sind? Oder sprechen Sie von etwas Bestimmtem? ER (lacht) Ich glaube, ich meine, dass ich älter geworden bin. SIE Jetzt verstehe ich. ER Es zerreißt mir noch das Herz, also gehe ich jetzt besser. Ich werde meinem Verlangen widerstehen und nicht versuchen, Sie zu küssen. SIE Okay. ER Es würde uns nicht weiterbringen. SIE Sie haben recht. Ich bin froh, dass Sie vorbeigekommen sind. Sehr froh. ER Sind Sie eine Verführerin?

SIE Nein, nein, absolut nicht. ER Sie haben einen Mann, Sie haben einen Liebhaber, und jetzt wollen Sie mich als Freund. Sammeln Sie Männer? Oder sammeln Männer Sie? SIE (lacht) Ich glaube, ich habe Männer gesammelt, und Männer haben mich gesammelt. ER Sie sind erst dreißig. Haben Sie viele Männer gesammelt? SIE Ich weiß nicht, was Sie mit »viele« meinen. (Lacht wieder.) ER Ich meine, seit Sie das College verlassen haben. In der Zeit zwischen der Abschlussfeier und diesem Nachmittag, der damit endet, dass Sie mich mit Ihrer Verführungskraft gesammelt haben … Aber Sie benehmen sich jetzt kindisch, als besäßen Sie diese Kraft nicht. Hat Ihnen nie jemand gesagt, dass Sie sie besitzen? SIE Doch. Ich habe nur gelacht, weil ich, wenn Sie sich zu den gesammelten Männern zählen, nicht wüsste, wie ich die Männer, die ich angeblich gesammelt habe, zählen sollte. ER Sie haben mich gesammelt. SIE Und trotzdem wollen Sie mich nicht mehr anrufen. Und Sie wollen mich nicht küssen. Vielleicht werden wir einander gar nicht mehr sehen, außer bei der Schlüsselübergabe, wenn mein Mann dabei ist. Ich verstehe nicht, wie ich Sie gesammelt haben soll. ER Für einen Mann wie mich ist eine Begegnung wie diese überwältigend. SIE Das will ich nicht. Es tut mir leid, wenn ich Sie überwältigt habe.

ER Schade, dass ich Sie nicht überwältigen konnte. SIE Sie haben mir eine Freude gemacht. ER Wie gesagt: das hier zerreißt mir noch das Herz, und darum muss ich jetzt gehen. SIE Danke, dass Sie gekommen sind. (Auf der Straße, als er zu Fuß zurück zum Hotel geht und an die soeben erlebte Szene denkt – und wenn er sich vorkommt wie ein Schauspieler, der von einer Probe für ein noch nie öffentlich gezeigtes Stück kommt, dann weil diese Frau ihm wie eine Schauspielerin erscheint, wie eine mit überaus viel Intuition begabte, intelligente junge Schauspielerin, die gut zuhört, vollkommen konzentriert ist und ruhig antwortet –, fühlt er sich an die Szene in Ein Puppenheim erinnert, in der der sterbende, unglücklich liebende, gebildete Dr. Rank von Torvald Helmers schöner Frau, der verwöhnten, flatterhaften jungen Nora, aufgefordert wird, sich für einen Augenblick zu ihr zu gesellen. Das Tageslicht schwindet, der Raum erscheint kleiner, auf der Straße fahren ein, zwei Droschken vorbei, die Stadt tritt in den Hintergrund, während die direkte Umgebung der beiden dunkler wird und näher rückt. Sie nehmen sich Zeit füreinander, sie hören einander gut zu. Die Szene ist so aufgeladen mit Sexualität, aber auch so traurig. Beide sind sehr mit ihrer jeweiligen Vergangenheit beschäftigt, doch keiner weiß viel über die des anderen. Das langsame Tempo, das häufige Schweigen und was es zu enthalten scheint. Beide sind verzweifelt, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Für ihn ist es jedoch die letzte verzweifelte Szene, ganz gewiss mit dieser schlauen, begabten Schauspielerin, die sich als hoffnungsvolle Schriftstellerin ausgibt. Eine Szene, mit der

das Stück Er und Sie beginnt, ein Stück über Begehren und Versuchung, über Koketterie und Qual – nicht enden wollende Qual –, eine Improvisation, die man am besten einen gnädigen Tod sterben lassen sollte. Es gibt eine Erzählung von Tschechow mit dem Titel »Er und Sie«. Er kann sich nur an den Titel erinnern, nicht an den Inhalt [vielleicht gibt es diese Erzählung auch gar nicht], doch er kennt den Wortlaut des Schlüsselsatzes in dem Brief in dem der noch junge Tschechow Ratschläge über das Schreiben von Erzählungen erteilt hat. Er hat diesen Brief eines sehr bewunderten Schriftstellers, den er mit Mitte Zwanzig gelesen hat, noch deutlich vor Augen, während ihm gestern getroffene Verabredungen vollkommen entfallen sind. »Der Schwerpunkt«, schrieb Tschechow 1886, »sollte in zwei Personen liegen: ihm und ihr.« Das sollte er. Das hat er. Zum allerletztenmal.) Meine Tasche stand halb gepackt auf der Kommode, wo ich sie hatte stehenlassen, als ich zur West 71st Street geeilt war. Am Telefonapparat blinkte ein Licht und zeigte an, dass jemand eine Nachricht für mich hinterlassen hatte. Ich wusste jedoch nicht, wer es gewesen war, denn sobald ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, hatte ich mich an den zu kleinen Tisch an dem Fenster mit Ausblick auf den Verkehr auf der 53rd Street gesetzt und, wieder einmal auf Hotelbriefpapier und so schnell ich konnte, den Dialog mit Jamie aufgeschrieben, der gar nicht stattgefunden hatte. Als Gedächtnisstütze war in meinem Aufgabenbuch festgehalten, was ich tat und was ich tun sollte, aber dieser ungesprochene Dialog hielt nur fest, was nicht getan worden war, und stützte nichts, erleichterte nichts, erreichte nichts, und doch war es mir, wie in der

Wahlnacht, schrecklich notwendig erschienen, in dem Augenblick, in dem ich durch die Tür trat, dieses Gespräch aufzuschreiben – die Gespräche, die wir nicht führen, sind noch bewegender als die anderen, die wir führen, und das imaginäre SIE ist fester in der Mitte von Jamies Wesen verankert, als es das tatsächliche »Sie« je sein wird. Aber ist der Schmerzquotient nicht schon erschreckend genug ohne die fiktionale Verstärkung, ohne die künstliche Intensität von Dingen, die im wirklichen Leben flüchtig und manchmal sogar unbemerkt sind? Bei manchen nicht. Für sehr, sehr wenige Menschen stellt diese zögernd aus dem Nichts erscheinende Verstärkung die einzige Sicherheit dar, und das Ungelebte, die ausformulierte und zu Papier gebrachte Mutmaßung, ist das Leben, das letztlich am schwersten wiegt.

3 Amys Gehirn

ALS ICH SCHLIESSLICH zum Telefon griff und die Nachricht abhörte, vernahm ich dieselbe Stimme wie am Donnerstag zuvor, als ich das Krankenhaus verlassen hatte: die jugendliche Stimme der gealterten Amy Bellette. »Nathan Zuckerman«, sagte sie, »dass Sie unter dieser Nummer zu erreichen sind, habe ich der Nachricht entnommen, die mir eine grässliche Nervensäge namens Richard Kliman in den Briefkasten geworfen hat. Ich weiß nicht, ob Sie sich die Mühe machen werden, zu antworten, und ob Sie sich überhaupt an mich erinnern. Wir haben uns 1956 in Massachusetts kennengelernt. Im Winter. Ich hatte am Athena College bei E. I. Lonoff studiert und arbeitete damals in Cambridge. Sie waren ein junger Schriftsteller und wohnten in der Quahsay Colony, und wir beide waren in jener Nacht Lonoffs Gaste. Es herrschte dichtes Schneetreiben an diesem Abend in den Berkshires. Das ist jetzt sehr lange her, und ich könnte es verstehen, wenn Sie mich nicht zurückrufen würden.« Es folgte ihre Nummer, und dann hatte sie aufgelegt. Wieder einmal dachte ich nicht nach, nicht einmal über Klimans Motive, die mir rätselhaft waren – was versprach er sich davon, Amy und mich zusammenzubringen? Doch ich machte mir weder Gedanken über Kliman noch darüber, was diese gebrechliche alte Frau, die entweder

rekonvaleszent war oder dem Tod durch einen Hirntumor entgegensah, bewogen haben mochte, mich anzurufen, nachdem sie von Kliman erfahren hatte, dass ich in der Stadt war. Ich fragte mich auch nicht, warum es so leicht war, mich zu einer Reaktion zu bewegen, wo ich doch nur den irregeleiteten Versuch, meine Lebensumstände zu verbessern, beenden und nach Hause zurückkehren wollte, um ein Dasein fortzusetzen, das mehr war als die Summe meiner Gebrechen. Ich wählte ihre Nummer, als wäre es ein Code, der die Fülle wiederherstellen würde, die wir alle einst genossen hatten; ich wählte sie, als wäre das Zurückdrehen der Lebenszeit so normal und gewöhnlich wie das Einstellen der Schaltuhr eines Küchenherds. Ich spürte wieder meinen Herzschlag, nicht weil ich wusste, dass ich gleich in Jamie Logans Gegenwart sein würde, sondern weil ich vor meinem geistigen Auge Amys schwarzes Haar, ihre dunklen Augen und den zuversichtlichen Gesichtsausdruck sah, den sie 1956 gehabt hatte, weil ich mich an ihre Gewandtheit, ihren Charme und ihren raschen, beweglichen Geist erinnerte, der von Lonoff und der Literatur erfüllt gewesen war. Während das Telefon am anderen Ende der Leitung läutete, dachte ich daran, wie ich sie in jenem Schnellimbiss beobachtet hatte, als unter dem ausgeblichenen Regenhut ihr entstellter Schädel und die Verschrungen durch das Schicksal zum Vorschein gekommen waren. Zu spät, hatte ich gedacht, war aufgestanden, hatte meinen Kaffee bezahlt und war gegangen, ohne sie anzusprechen. Überlass sie ihrer inneren Stärke. Ich befand mich in einem gewöhnlichen, nichtssagenden,

unpersönlichen Hilton-Zimmer, doch meine Entschlossenheit, sie zu erreichen, hatte mich um fast fünfzig Jahre zurückversetzt in eine Zeit, als der Anblick einer exotischen jungen Frau mit ausländischem Akzent einem unerfahrenen Jungen wie mir wie die Antwort auf alle Fragen erschienen war. Ich wählte ihre Nummer und war dabei ein gespaltener Mensch, nicht mehr und nicht weniger intakt als jeder andere, ich war der Grünschnabel, den sie 1956 kennengelernt hatte, und zugleich der unwahrscheinliche Beobachter (mit der unvorhersehbaren Biographie), zu dem sich dieser Grünschnabel bis zum Jahr 2004 entwickelt hatte. Doch ich war nie weniger frei gewesen von diesem jungen Mann und seinem Gewirr aus unschuldigem Idealismus, frühreifem Ernst, begeisterungsfähiger Neugier und ausschweifendem, noch lächerlich ungestilltem Verlangen als jetzt, da ich darauf wartete, dass sie sich meldete. Und als sie es tat, wusste ich nicht, wen ich mir am anderen Ende der Leitung vorstellen sollte: die damalige oder die jetzige Amy. Ihre Stimme übermittelte die strahlende Frische eines jungen Mädchens, das im Begriff ist zu tanzen, doch der mit dem Skalpell bearbeitete Schädel war ein so düsteres Bild, dass ich es nicht unterdrücken konnte. »Ich habe Sie in einem Schnellimbiss an der Ecke Madison und 96th gesehen«, sagte Amy, »aber ich habe mich nicht getraut, Sie anzusprechen. Sie sind ein so bedeutender Mensch geworden.« »Bin ich das? Da, wo ich lebe, bin ich nicht bedeutend. Wie geht es Ihnen, Amy?« fragte ich und erwähnte mit keinem Wort, wie bestürzt ich über die Brutalität der Veränderung, die sie durchgemacht hatte, gewesen war, so bestürzt, dass ich mich meinerseits nicht getraut hatte, sie

anzusprechen. »Ich erinnere mich sehr gut an den Abend, an dem wir uns kennengelernt haben. Jenen Abend 1956, als es so sehr geschneit hat. Dass Lonoff bei seinem Tod noch mit seiner Frau verheiratet war, habe ich erst aus den Nachrufen erfahren. Ich dachte, er hätte Sie geheiratet.« »Wir haben nie geheiratet. Er konnte nicht. Aber das machte nichts. Wir waren vier Jahre zusammen, die meiste Zeit in Cambridge. Wir haben ein Jahr in Europa gelebt, dann sind wir zurückgekehrt, er hat geschrieben und geschrieben und ein bisschen unterrichtet, und dann ist er krank geworden und gestorben.« »Er hat an einem Roman geschrieben«, sagte ich. »Er war Ende Fünfzig und schrieb an seinem ersten Roman. Hätte die Leukämie ihn nicht umgebracht, dann hätte es der Roman getan.« »Warum?« »Wegen des Themas. Als Primo Levi sich umgebracht hat, haben alle gesagt, er hätte es getan, weil er in Auschwitz gewesen war. Ich glaube aber, er hat es getan, weil er über Auschwitz geschrieben hat. Es war die Mühsal dieses letzten Buches, die Tatsache, dass er all das Grauen in dieser Klarheit wieder vor sich gesehen hat. Jeden Morgen aufzustehen, um an diesem Buch zu schreiben, hätte jeden umgebracht.« Sie sprach von Levis Die Untergegangenen und die Geretteten. »Manny hat sich genauso gequält.« Noch nie hatte ich ihn Manny genannt. 1956 war ich Nathan, sie war Amy, und er und Hope waren Mr. und Mrs. Lonoff. »Es ist einiges zusammengekommen, was ihn unglücklich

gemacht hat.« »Dann waren es also schwere Zeiten für Sie«, sagte ich, »obwohl Sie beide hatten, was Sie wollten.« »Es waren schwere Zeiten, weil ich jung genug war zu denken, dass es das war, was auch er wollte. Er wusste, dass es nicht mehr war als das, was er zu wollen glaubte. Sobald er sie los war und endlich mit mir zusammenlebte, veränderte sich alles: Er war düster, er war distanziert, er war reizbar. Er hatte Gewissensbisse, und es war schrecklich. Als wir in Oslo lebten, gab es Nächte, da lag ich reglos neben ihm, starr vor Wut. Manchmal habe ich gebetet, er möge im Schlaf sterben. Dann wurde er krank, und unser Leben war wieder idyllisch. So wie damals, als ich noch seine Studentin war. Ja«, sagte sie und unterstrich die Tatsache, die sie nicht verbergen wollte, »so war es: Angesichts von Widrigkeiten war unsere Beziehung eigenartig beseligend, aber wenn es keine Hindernisse gab, waren wir unglücklich.« »So etwas gibt es«, sagte ich und dachte: Beseligung. Ich erinnere mich an Beseligung. Sie hat einen hohen Preis. »So etwas gibt es«, sagte sie, »aber es ist erschreckend.« »Nein. Ganz und gar nicht. Bitte erzählen Sie weiter.« »Die letzten Wochen waren grauenhaft: Er war verwirrt und schlief die meiste Zeit. Manchmal machte er Geräusche und fuchtelte mit den Händen in der Luft, aber was er dabei sagte, war nicht zu verstehen. Ein paar Tage vor seinem Tod hatte er einen gewaltigen Wutanfall. Wir waren im Badezimmer. Ich kniete vor ihm und wechselte ihm die Windel. ›Das ist wie eine von diesen Schikanen, die Neulinge in den Studentenverbindungen über sich ergehen lassen müssen‹, rief er. ›Verschwinde!‹ Und dann schlug er

mich. Er hatte in seinem ganzen Leben nie jemanden geschlagen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie froh ich war. Er hatte noch genug Kraft, um mich zu schlagen. Er wird nicht sterben! Er wird nicht sterben! Vorher war er tagelang kaum bei Bewusstsein gewesen. Oder er hatte halluziniert. ›Ich liege auf dem Boden‹, hatte er vom Bett aus gerufen. ›Heb mich auf, ich liege auf dem Boden.‹ Der Arzt kam und gab ihm Morphium. Und dann, eines Morgens, sprach er. Er sagte: ›Das Ende ist so unermesslich, es hat seine eigene Poesie. Es erfordert praktisch keine Rhetorik. Man muss es einfach nur benennen.‹ Ich weiß nicht, ob er jemanden zitierte, ob er sich an irgend etwas erinnerte, was er gelesen hatte, oder ob das seine eigenen Abschiedsworte waren. Ich konnte ihn nicht fragen. Es spielte keine Rolle. Ich stützte nur seinen Kopf und wiederholte es für ihn. Ich konnte nicht mehr an mich halten. Ich weinte furchtbar. Aber ich sagte es: ›Das Ende ist so unermesslich, es hat seine eigene Poesie. Es erfordert praktisch keine Rhetorik. Man muss es einfach nur benennend Und Manny nickte, so gut er konnte. Ich habe seither immer wieder nach diesem Zitat gesucht, Nathan, aber ich konnte es nirgends finden. Wer hat das gesagt, wer hat das geschrieben? ›Das Ende ist so unermesslich …‹« »Es klingt nach ihm. Das ist seine Ästhetik, auf den Punkt gebracht.« »Und er hat noch mehr gesagt. Ich musste mein Ohr an seinen Mund legen, um ihn zu verstehen. Kaum hörbar sagte er: ›Ich will rasiert werden. Und ich will einen Haarschnitt, Ich will gereinigt sein.‹ Ich trieb einen Friseur auf. Er brauchte über eine Stunde, weil Manny nicht den Kopf heben konnte. Danach brachte ich den Mann zur Tür und gab ihm zwanzig Dollar. Als ich wieder ans Bett trat,

war Manny tot. Tot, aber gereinigt.« Hier brach sie ab, wenn auch nur für einen Augenblick, und ich konnte ohnehin nichts sagen. Ich hatte gewusst, dass er gestorben war, und jetzt wusste ich auch, wie er gestorben war, und obwohl ich ihm nur das eine Mal begegnet war, empfand ich es dennoch als Schock. »Immerhin hatte ich sie, diese vier Jahre mit ihm, und ich bin froh darüber«, sagte sie, »über jeden Tag und jede Nacht dieser vier Jahre. Ich habe seine Halbglatze unter der Leselampe glänzen sehen, ich habe gesehen, wie er jeden Abend nach dem Essen dort saß und sorgfältig etwas unterstrich, was er gerade gelesen hatte, und wie er über etwas nachdachte und einen Satz in seinem Notizblock mit der Spiralheftung notierte, und ich habe gedacht: So einen Mann gibt es nur einmal.« Eine Frau, die sich fünfzig Jahre lang an diese vier Jahre erinnerte – ein ganzes Leben, definiert durch diese kurze Zeit. »Ich muss Ihnen sagen«, begann ich, »dass dieser Kliman mir ebenfalls penetrant zusetzt.« »Das dachte ich mir, als er mir Ihre Telefonnummer gab. Er will die Biographie schreiben, und ich hatte doch gehofft, dass niemand sie schreiben würde. Eine Biographie, Nathan. Ich will das nicht. Das wäre, als müsste er zum zweitenmal sterben. So etwas gießt ein Leben in Beton und bringt es noch einmal zu einem Ende. Die Biographie ist wie ein Patent auf das Leben – und wer ist dieser Junge, dass er ein solches Patent halten könnte? Wer ist er, dass er sich zu Mannys Richter aufschwingt? Wer ist er, dass er ihn für immer im Kopf der Leute verankern will? Kommt er Ihnen nicht auch extrem oberflächlich vor?« »Es spielt gar keine Rolle, wie er mir vorkommt oder was er überhaupt ist. Entscheidend ist, dass Sie es nicht wollen.

Was können Sie tun, um ihn zu stoppen?« »Ich?« Sie lachte matt. »Nichts. Die Manuskripte der Erzählungen liegen in Harvard. Er kann sie sich ansehen, jeder kann das, obwohl … Als ich das letzte Mal nachgefragt habe, wurde mir gesagt, dass kein Mensch sie in den letzten sechsunddreißig Jahren sehen wollte. Glücklicherweise scheint niemand bereit zu sein, mit Kliman zu reden, jedenfalls niemand, den ich kenne. Und ich bin es ganz gewiss auch nicht, nicht noch einmal. Aber das wird ihn nicht aufhalten. Er kann sich alles aus den Fingern saugen, und niemand hat das Recht, es ihm zu verbieten. Die Toten kann man nicht verleumden. Und wenn er die Lebenden verleumdet, wenn er die Tatsachen so manipuliert, dass sie ihm ins Konzept passen, wer hat die Mittel, ihn oder den Verlag, dem er seinen Müll verkauft, zu verklagen?« »Lonoffs Kinder. Was ist mit denen?« »Das ist eine Geschichte, die ich Ihnen ein andermal erzählen muss. Sie haben nie viel von dem ehrfurchtsvollen jungen Ding gehalten, das sich den berühmten alten Mann geschnappt hat. Oder von dem berühmten alten Mann, der für dieses ehrfurchtsvolle junge Ding seine alternde Ehefrau verlassen hat. Er hätte sie übrigens nie verlassen, wenn Hope die Dinge nicht forciert hätte, aber die Kinder hätten es lieber gesehen, wenn er bis zum Tod durch Ersticken bei ihrer Mutter geblieben wäre. Seine Zähigkeit, seine Askese, seine Leistung – es war, als hätte man ihn ausersehen, den Mount Everest zu bezwingen, doch als er auf dem Gipfel stand, bekam er keine Luft mehr. Die Tochter hat mich am meisten verachtet. Eine Person von makelloser Tugendhaftigkeit – sie kleidet sich in Sackleinen und liest nichts als Thoreau. Ich könnte mit ihr fertig werden, aber

ich habe nie gelernt, mich von diesen moralischen Übermenschen nicht beleidigt zu fühlen. Die haben mich immer entweder verhöhnt oder geschnitten. Diese guten Frauen der toleranten, liberalen Dozenten in Cambridge, Massachusetts, Anfang der sechziger Jahre, als eins der Lieblingsspiele der Professorengattinnen ›moralische Entrüstung‹ hieß. ›Du regst dich über etwas vollkommen Nebensächliches viel zu sehr auf‹, hat Manny immer gesagt. Manny war ein Meister darin, alles auf unpersönliche Art zu betrachten, aber ich habe das nie gelernt, nicht einmal von dem Mann, der mich gelehrt hat zu lesen, zu schreiben, zu denken und zu erkennen, was des Wissens wert war und was nicht. ›Hör auf, dich so einschüchtern zu lassen. Das sind lächerliche Menschen, Figuren aus der Lästerschule.‹ Er war es, der die Frau unseres erlauchten Dekans Lady Sneerwell genannt hat. Wenn wir in Cambridge zu einer Abendgesellschaft gingen, war das für mich manchmal unerträglich. Darum wollte ich, dass wir ins Ausland gingen.« »Und für ihn war es nicht unerträglich.« »Ihn störten solche Dinge nicht. In Gesellschaft konnte er sich über die allgemeinen Vorurteile einfach hinwegsetzen. Er hatte die nötige Statur. Aber ich war nur das hübsche Mädchen, das in Athena seine Studentin gewesen war. Als Kind hatte ich natürlich Schlimmeres erlebt, weit Schlimmeres, aber damals hatte ich eine Familie, die mich beschützte.« »Was ist aus Hope geworden?« fragte ich. »Sie ist in Boston in einer Art Heim. Sie hat Alzheimer«, sagte Amy und bestätigte damit das, was Kliman mir erzählt hatte. »Inzwischen ist sie über hundert.«

»Vielleicht könnte ich mich mit Ihnen treffen«, sagte ich. »Darf ich Sie zum Essen einladen? Würde es Ihnen morgen abend passen?« Ihr leichtes, angenehm klingendes Lachen strafte das, was sie sagte, Lügen. »Ach, ich bin nicht mehr die junge Frau, die Sie an dem Abend damals angeschmachtet haben. Am nächsten Morgen, als das Theater losging – erinnern Sie sich an das hysterische Theater, das Hope veranstaltet hat, als sie so tat, als würde sie davonlaufen, damit er mit mir allein sein konnte? An dem Morgen – erinnern Sie sich – haben Sie zu mir gesagt, ich hätte ›eine gewisse Ähnlichkeit mit Anne Frank‹.« »Ich erinnere mich.« »Ich habe eine Hirnoperation hinter mir, Nathan. Sie werden nicht mit einem jungen naiven Mädchen essen gehen.« »Ich bin auch nicht mehr das, was ich mal war. Aber Sie klingen noch genauso verführerisch wie früher. Ich habe nie erfahren, was für einen Akzent Sie haben, woher Sie eigentlich stammen. Es muss wohl Oslo sein. Dort haben Sie Schlimmeres erlebt: als jüdisches Mädchen in Oslo zu der Zeit, als die Nazis dort waren.« »Jetzt klingen Sie wie ein Biograph.« »Der Feind des Biographen. Das Hindernis, das sich ihm in den Weg stellt. Dieser junge Kerl würde alles so falsch darstellen, dass es sogar Mannys schlimmste Befürchtungen übersteigen würde. Ich werde Ihnen helfen«, sagte ich, »wo immer ich kann.« Was zweifellos das war, was sie zu hören gehofft hatte, als sie beschlossen hatte, mich anzurufen. Also trafen wir eine Verabredung für den nächsten

Abend, ohne die Enthüllung, die Kliman zu einer literarischen Karriere verhelfen sollte, mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Und doch hatten wir so viel gesagt. Zwei Menschen, dachte ich, die sich nur einmal begegnet sind, und sie kommen gleich auf den Punkt und sind überhaupt nicht vorsichtig in dem, was sie sagen. Das war durchaus aufregend, verriet aber auch, dass sie vermutlich ebenso allein war wie ich. Oder vielleicht gab es so etwas wie eine unmittelbare Vertrautheit zwischen zwei vollkommen fremden Menschen, gerade weil sie sich vorher schon einmal begegnet waren. Vorher? Bevor das alles geschehen war. Ich gab mir fünfzehn Minuten für den Weg vom Hotel zu dem Restaurant, wo ich mich um sieben Uhr mit Amy treffen wollte. Tony begrüßte mich und führte mich zu meinem Tisch. »Nach all den Jahren«, sagte er fröhlich und schob mir den Stuhl heran. »Sie werden mich jetzt wieder öfter zu sehen bekommen, Tony. Ich bleibe für eine Weile in der Stadt.« »Wie schon für Sie«, sagte er. »Nach dem n. September sind ein paar von unseren Stammgästen mit ihren Kindern nach Long Island gezogen oder aufs Land oder nach Vermont – sie sind einfach weggezogen, in alle möglichen Richtungen. Ich respektiere das natürlich, aber es war trotzdem reine Panik. Es hat sich dann schnell wieder gelegt, aber ich muss ehrlich sagen: Wir haben nach dieser Sache einige wunderbare Gäste verloren. Sind Sie allein, Mr. Zuckerman?« »Ich erwarte noch jemanden«, sagte ich. Doch sie kam nicht. Ich hatte ihre Telefonnummer nicht

mitgenommen und konnte nicht anrufen, um sie zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Ich dachte, sie schäme sich vielleicht zu sehr, sich mir als geschwächte alte Frau mit einem halb rasierten Schädel und einer entstellenden Narbe zu zeigen. Vielleicht hatte sie es sich aber auch einfach anders überlegt, vielleicht wollte sie mich nicht mehr bewegen, bei Kliman zu intervenieren, und mir auch nicht – wie sie es hätte tun müssen – jene angeblichen Episoden aus Lonoffs Jugend enthüllen, deren Veröffentlichung sie, als Bewahrerin des Andenkens dieses derart auf seine Privatsphäre bedachten Mannes, so sehr fürchtete. Ich wartete über eine Stunde und bestellte, weil es mir möglich erschien, dass sie noch kommen würde, in dieser Zeit nichts als ein Glas Wein – und dann fiel mir ein, dass dies nicht das Restaurant war, in dem wir uns verabredet hatten. Ich war ganz automatisch zu Pierlu s gegangen, in der Gewissheit, dass ich diesen Ort vorgeschlagen hatte, und jetzt konnte ich mich nicht erinnern, ob ich Amy gebeten hatte, ein Lokal ihrer Wahl vorzuschlagen. Wenn ich das getan hatte, so konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern, für welches sie sich entschieden hatte. Der Gedanke, dass sie die ganze Zeit dort gesessen und gedacht hatte, ich hätte sie wegen der Art, wie sie sich selbst beschrieben hatte, versetzt, ließ mich die Treppe hinunter zum Telefon eilen. Ich rief mein Hotel an und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Es gab eine Nachricht: »Ich habe eine Stunde gewartet, dann bin ich gegangen. Ich verstehe.« Am Vormittag war ich in einem Drugstore gewesen und hatte ein paar Toilettenartikel gekauft, die ich vergessen hatte, nach New York mitzunehmen. An der Kasse hatte ich die Verkäuferin gefragt: »Könnten Sie das bitte in eine

Schachtel packen?« Sie hatte mich ausdruckslos angesehen und geantwortet: »Wir haben keine Schachteln.« »Ich meine, in eine Tüte, bitte.« Ein winziger Fehler, der mich dennoch beunruhigte. Solche Versprecher unterliefen mir inzwischen beinahe täglich, und trotz der Einträge, die ich gewissenhaft in mein Aufgabenbuch schrieb, trotz aller Bemühungen, mich auf das, was ich tat oder tun wollte, zu konzentrieren, vergaß ich häufig etwas. Wenn ich telefonierte, bemerkte ich, dass wohlmeinende Menschen manchmal versuchten, den angefangenen Satz oder Gedanken für mich zu Ende zu führen, bevor mir überhaupt bewusst wurde, dass ich gezögert oder auf der Suche nach dem richtigen Wort innegehalten hatte. Andere gingen großzügig über meine Fehler hinweg, wenn ich (wie erst neulich gegenüber meiner Haushaltshilfe Belinda) neue Wortschöpfungen wie »schwerempfunden« anstatt »tiefempfunden« von mir gab, wenn ich in Athena einen Bekannten mit dem falschen Namen ansprach oder wenn der Name der Person, mit der ich mich unterhielt, mir mit einemmal entfallen war und ich angestrengt nachdenken musste, bis ich ihn wieder parat hatte. All diese bemühte Konzentration schien wenig gegen eine Entwicklung zu bewirken, die sich nicht so sehr wie ein langsames Nachlassen des Gedächtnisses als vielmehr wie ein jäher Rutsch in die Besinnungslosigkeit anfühlte, als wohnte in meinem Kopf etwas Diabolisches, das eigene Ziele verfolgte – der Kobold der Amnesie, der Dämon des Vergessens, gegen dessen Zerstörungskraft ich nicht ankam –, als würde diese Wesenheit solche Ausfälle einzig und allein einsetzen, um das Vergnügen zu genießen, mir bei meinem Verfall zuzusehen, als wäre es

ihr hämisches Endziel, jemanden, dessen Scharfsinn als Schriftsteller auf Erinnerung und verbaler Präzision beruhte, in einen belanglosen Menschen zu verwandeln. (Das ist auch der Grund, warum ich, ganz gegen meine Gewohnheit, so schnell arbeite, wie ich nur kann, solange ich dazu noch imstande bin, wobei ich, gerade wegen der geistigen Widrigkeiten, denen ich zu entgehen suche, nicht annähernd so rasch vorankomme, wie ich sollte. Die einzige Gewissheit, die ich noch habe, ist, dass dies vermutlich mein letzter Versuch sein wird, tastend nach Worten zu suchen, die sich zu den Sätzen und Absätzen eines Buches zusammenfügen. Denn dies ist nun ein permanentes Tasten, ein Tasten, welches weit über das bemühte Tasten nach Geläufigkeit hinausgeht, aus dem das Schreiben im Grunde besteht. Im letzten Jahr der Arbeit an dem Roman, den ich kürzlich an meinen Verlag geschickt habe, musste ich feststellen, dass ich täglich gegen drohende Zusammenhanglosigkeit anzukämpfen hatte. Als ich schließlich fertig war – das heißt, als ich nach vier Durchgängen einfach nicht mehr konnte –, vermochte ich nicht zu sagen, ob meine Aufnahmefähigkeit bei der Lektüre des Manuskripts durch einen verwirrten Geist beeinträchtigt war oder ob mein Eindruck richtig gewesen war und das Manuskript den verwirrten Geist widerspiegelte. Ich schickte das fertige Manuskript wie immer an meinen aufmerksamsten Leser, der vor ewigen Zeiten ein Kommilitone an der University of Chicago gewesen war und auf dessen Intuition ich mich hundertprozentig verlasse. Als er mich anrief, um mir sein Urteil mitzuteilen, spürte ich, dass er die mir vertraute Freimütigkeit abgelegt hatte und sich aus Freundlichkeit verstellte, indem er erklärte, er sei kein geeigneter Leser für

dieses Buch und könne leider nichts Brauchbares darüber sagen, denn der Protagonist, dem ich im großen und ganzen mit Sympathie gegenüberstand, sei ihm so fremd, dass er nicht imstande sei, genug Interesse für ihn aufzubringen, um mir von Nutzen zu sein. Ich drängte ihn nicht, ich war nicht einmal verwirrt. Ich verstand die Taktik, mit deren Hilfe er seine Gedanken verbarg, doch angesichts der Tatsache, dass ich die kritischen Fähigkeiten meines Freundes sehr gut kannte und wusste, dass sein Urteil stets gerechtfertigt war, hätte ich extrem naiv sein müssen, um mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Nach der Lektüre der vierten Fassung war er zu dem Schluss gekommen, dass die tiefgreifenden Korrekturen, die ihm vorschwebten, enorm hohe Anforderungen an das stellen würden, was von meinen Fähigkeiten geblieben war, und so hielt er es, anstatt den Vorschlag zu machen, ich solle eine fünfte Überarbeitung vornehmen, für das Beste, die Schuld bei einer nichtexistenten eigenen Beschränkung wie ebenjenem Mangel an Sympathie für den Protagonisten zu suchen und nicht bei dem, was mir, wie er wohl glaubte, inzwischen fehlte. Wenn ich seine Reaktion richtig gedeutet hatte und sein Eindruck, wie ich zu wissen glaubte, auf schmerzliche Weise meinem eigenen entsprach – was sollte ich dann mit einem Buch tun, an dem ich beinahe drei Jahre gearbeitet hatte und das ich für ebenso abgeschlossen wie unbefriedigend hielt? In einer derart misslichen Situation hatte ich mich noch nie befunden – bisher war es mir immer gelungen, genug Energie und Einfallsreichtum zu mobilisieren, um den Kampf bis zu einem entscheidenden Ende fortzusetzen –, und ich dachte daran, was zwei amerikanische Schriftsteller ersten Ranges

getan hatten, als sie ein Nachlassen ihrer Fähigkeiten gespürt oder in ihrem Buch eine Unvollkommenheit bemerkt hatten, die sich jeder Korrektur hartnäckig widersetzte. Ich konnte tun, was Hemingway getan hatte – und zwar nicht erst gegen Ende seines Lebens, als seine monumentale Kraft, seine Rastlosigkeit, seine Freude an gewalttätigen Konflikten verdrängt wurden von körperlichen Schmerzen, alkoholbedingtem Verfall, geistiger Erschöpfung und depressiven Selbstmordgedanken, sondern in seiner großen Zeit, als seine Stärke grenzenlos war, als er vor Streitlust strotzte und die überragende Bedeutung seiner Prosa in aller Welt anerkannt war: Ich konnte das Manuskript in die Schublade legen, um es entweder später zu überarbeiten oder aber für immer unveröffentlicht zu lassen. Oder ich konnte tun, was Fauikner getan hatte, und es zur Veröffentlichung an den Verlag weiterleiten, damit das Buch, an dem ich so mühsam gearbeitet hatte und das ich nicht weiter verbessern konnte, die Leser in dem Zustand erreichte, in dem es sich befand, und ihnen die Freude bereitete, die es zu bereiten vermochte. Wie jeder andere brauchte ich eine Strategie, die es mir ermöglichte, diesen Zustand zu ertragen und weiterzumachen, und schließlich entschied ich mich, mochte es sich als gut oder schlecht, als falsch oder richtig erweisen, für die zweite Variante, auch wenn ich nur halb daran glaubte, dass dies meine Fähigkeit, in die Dämmerung meines Talentes voranzuschreiten, ohne allzuviel Schande auf mich zu häufen, noch am wenigsten beeinträchtigen würde. Und das war, bevor der Kampf so schwer wurde, wie er es jetzt ist, und der Verfall bis zu einem Stadium fortgeschritten war, wo nicht einmal der

schwächste Schutz davor zu finden ist, wo es nicht mehr darum geht, dass ich mich nach ein, zwei Tagen nicht an die Einzelheiten des vorigen Kapitels erinnern kann, sondern, so unwahrscheinlich es auch klingt, nach wenigen Minuten schon nicht mehr weiß, was auf der vorangegangenen Seite steht. Als ich schließlich in New York ärztliche Hilfe zu suchen beschloss, war nicht nur mein Penis undicht, der Funktionsverlust betraf nicht nur den Blasenschließmuskel, und ich konnte nicht mehr hoffen, dass die nächste Krise, die mich verändern würde, sich auf einen körperlichen Ausfall beschränken würde. Diesmal würde es um meine geistigen Fähigkeiten gehen, und diesmal gab mir meine Ahnung eine kurze Vorwarnzeit, wenn auch, soweit ich wusste, nicht viel mehr als das.) Ich entschuldigte mich bei Tony, verließ das Restaurant, ohne etwas gegessen zu haben, und kehrte in mein Hotel zurück. In meinem Zimmer konnte ich Amys Telefonnummer jedoch nirgends finden. Ich war sicher, dass ich sie auf einem Zettel notiert hatte, der auf dem Nachttisch hätte liegen sollen, doch er war weder dort noch auf dem Bett oder auf dem Schreibtisch. Er lag auch nicht auf dem Teppich, den ich mit den Fingern einer Hand abtastete, während ich auf Knien langsam durch das Zimmer rutschte. Ich sah unter dem Bett nach, doch auch dort war der Zettel nicht. Ich griff in die Taschen aller Kleidungsstücke, die ich mitgenommen hatte, auch in die derer, die ich gar nicht getragen hatte. Systematisch suchte ich das ganze Zimmer ab, einschließlich der Orte, wo der Zettel unmöglich sein konnte, wie zum Beispiel in der Minibar, bis mir schließlich der Gedanke kam, meine

Brieftasche hervorzuholen – und da war er, wo er die ganze Zeit gewesen war. Ich hatte gar nicht vergessen, ihn zu s mitzunehmen. Ich hatte lediglich vergessen, dass ich ihn mitgenommen hatte. Das Lämpchen am Telefonapparat blinkte. Ich dachte, es handele sich vielleicht um eine zweite, längere Nachricht von Amy, nahm den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. Es war Billy Davidoff, der von meinem eigenen Haus aus angerufen hatte. »Nathan Zuckerman, es ist ein wunderbares Haus. Klein zwar, aber für uns genau das richtige. Ich habe Fotos gemacht – ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Jamie wird begeistert sein von dem Haus, vom Teich, vom Sumpf auf der anderen Seite des Weges – von allem, der ganzen Umgebung. Und Rob Massey ist ein Juwel. Wir sollten die Formalitäten so schnell wie möglich erledigen. Wir werden ein Dokument aufsetzen, in dem alles Nötige festgehalten ist. Rob hat gesagt, er fährt Ihre Sachen nach New York, wenn Sie sich erst mal eingerichtet haben, aber falls es etwas gibt, was Sie gleich brauchen, kann ich es Ihnen heute abend mitbringen. Wenn Sie zurückrufen wollen – ich bin noch ungefähr eine Stunde hier. Wir besprechen dann später alles. Und danke. Hier draußen zu leben wird eine große Hilfe sein.« Für Jamie, meinte er. Alles für Jamie. So viel Hingabe, und so viel Freude daran, sie ihr zu widmen. Was will Billy? Das, was Jamie will. Was nimmt den aufmerksamen Billy gefangen? Jamie! Jamie! Die entzückende Jamie! Sollte dieser anbetungsvolle Einklang gegen alle Wahrscheinlichkeit niemals nachlassen: glückliches Paar! Doch sollte sie eines Tages seine Aufmerksamkeiten zurückweisen, ihm den Konsens aufkündigen, seiner Leidenschaft widerstehen: armer, verletzlicher, zermürbter

Mann! Er wird nie einen Tag verbringen, ohne fünfzigmal an sie zu denken. Sie wird all ihre Nachfolgerinnen immer turmhoch überragen. Er wird an sie denken, bis er stirbt. Er wird an sie denken, während er stirbt. Es war halb neun. Wenn Billy noch eine Stunde dort bleiben wollte, würde er erst gegen zwölf in der West 71st Street sein. Ich konnte Jamie unter dem Vorwand anrufen, ich wolle einen Termin für den Wohnungstausch vereinbaren, auf den ich gar nicht mehr aus war. Ich konnte sie anrufen und die Wahrheit sagen: »Ich will Sie sehen – der Gedanke, Sie nicht mehr zu sehen, ist unerträglich.« Bis Mitternacht würde diese junge Frau, in deren Gesellschaft ich mich erst drei kurze Male befunden hatte, mit ihren Katzen zu Hause sitzen – oder mit den Katren und Kliman. Brich dieses Experiment in Selbstquälerei ab. Hol deinen Wagen und verschwinde. Deine große Erkundung ist vorbei. Die zweite Nachricht war von Kliman. Er fragte, ob ich mit Amy Bellette sprechen würde: Sie habe ihm vor der Operation Zusagen gemacht, die sie jetzt nicht einhalten wolle. Er habe eine Kopie der ersten Hälfte des Manuskripts von Lonoffs Roman, und niemandem sei gedient, wenn man ihm verweigere, auch den Rest zu lesen, was sie ihm vor zwei Monaten auch zugesagt habe. Sie habe ihm Familienfotos von Lonoff gegeben. Sie habe ihm ihren Segen gegeben. »Wenn Sie können, Mr. Zuckerman, dann helfen Sie mir bitte. Sie ist ein vollkommen anderer Mensch geworden. Das liegt an der Operation. Es ist so viel Gewebe entfernt worden, dass große Schäden entstanden sind. Sie hat jetzt ein gewaltiges mentales Defizit, das vorher nicht da war. Aber vielleicht hört sie ja auf Sie.«

Kliman? Nicht zu glauben. Sie riechen, Sie riechen, alter Mann, und dann ruft er mich an, ohne sich auch nur zu entschuldigen, und bittet mich um Hilfe? Nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich alles tun werde, um ihn zu vernichten? Ist er so verwegen manipulativ oder einfach so unorganisiert? Oder ist Kliman einer dieser Menschen, die sich an jemanden hängen, den sie nicht loslassen können? Einer von denen, die man nicht loswird, ganz gleich, was man sagt? Ganz gleich, was man tut – sie versuchen immer weiter, einen dazu zu bringen, dass man ihnen gibt, was sie haben wollen. Und ganz gleich, was sie tun, ganz gleich, was für entsetzliche Dinge sie sagen – es ist ihre lebenslange Gewohnheit, nie zu erkennen, dass sie unwiderruflich eine Linie überschritten haben. Ja, ein großer, maskuliner, attraktiver junger Mann, der erfüllt ist von der Sicherheit, die ihm sein gutes Aussehen verleiht, der andere bedenkenlos beleidigt und dann angelaufen kommt, als wäre nichts geschehen. Oder hatte es einen weiteren Kontakt zwischen uns gegeben, den ich vergessen hatte? Aber wann? »Vielleicht hört sie ja auf Sie.« Wie kommt er auf den Gedanken, Amy Bellette könnte auf mich hören, wenn er doch weiß, dass wir uns nur einmal begegnet sind? Und weiß er das überhaupt? Soweit Kliman unterrichtet ist, sind wir uns nie begegnet. Es sei denn, ich habe es ihm gesagt. Vielleicht hat sie es ihm gesagt. Sie muss es ihm gesagt haben – sie muss ihm auch dies gesagt haben! Ich legte den Zettel mit Amys Nummer neben das Telefon und wählte. Als sie sich meldete, sagte ich zu ihr ungefähr die Worte, die ich zu Jamie Logan hatte sagen wollen. »Ich möchte Sie sehen. Ich möchte Sie jetzt sehen, sofort.«

»Wo waren Sie?« fragte sie. »Im falschen Restaurant. Es tut mir leid. Sagen Sie mir Ihre Adresse. Ich möchte mit Ihnen reden.« »Meine Wohnung ist schrecklich«, sagte sie. »Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, bitte.« Sie nannte die Adresse, und ich nahm mir ein Taxi zur 1st Avenue, denn ich musste herausfinden, ob es stimmte, was man über Lonoff sagte. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich wusste es selbst nicht. Nicht einmal die Tatsache, dass mein Vorhaben unsinnig war, konnte mich davon abbringen. Nichts Unsinniges konnte mich von irgend etwas abbringen. Ein alternder Mann, der seine Schlachten hinter sich hat und der plötzlich den Drang verspürt … den Drang wonach? War eine Fahrt auf dem Karussell der Leidenschaften nicht genug gewesen? War eine Begegnung mit dem Unerforschlichen nicht genug gewesen? Noch einmal zurück in die Veränderlichkeit? Es war nicht so schlimm, wie ich es mir auf dem Weg dorthin vorgestellt hatte; dennoch schien es kaum gerecht, dass eine solche Frau, die Gefährtin eines brillanten Schriftstellers, dieses Gebäude ihr Zuhause nennen sollte. Im Erdgeschoss befanden sich ein Spaghetti-Imbiss und eine irische Bar, und weder die Haustür noch die Innentür, die zum Treppenhaus führte, verfügten über ein Schloss. Stark verbeulte Mülltonnen standen in der dunklen Nische unter der ersten Treppe. Als ich auf den Klingelknopf neben der Reihe von Briefkästen drückte, bemerkte ich, daß einer der Kästen kein Schloss hatte und seine Tür offenstand. Ich war mir nicht sicher, ob die Klingel funktionierte, und überrascht, von oben Amys Stimme zu

hören: »Vorsicht, ein paar Stufen sind lose.« Einige an der Decke befestigte nackte Glühbirnen beleuchteten das Treppenhaus ausreichend, doch die Korridore lagen im Dunkeln. Der Geruch hier im Inneren des Hauses mochte vom Urin von Katzen oder Ratten oder beiden stammen. Sie wartete am Treppenabsatz im zweiten Stock. Der zur Hälfte rasierte Schädel und der graue Zopf waren das erste, was ich von dieser alten Frau sah, die in einem langen, formlosen zitronengelben Kleid, das eigentlich Fröhlichkeit signalisieren sollte, noch bemitleidenswerter wirkte als in dem zum Straßenkleid umgearbeiteten Krankenhausnachthemd. Wie sie aussah, schien ihr jedoch gleichgültig zu sein, und sie freute sich geradezu kindlich, mich zu sehen. Sie streckte mir die Hand hin, doch ich konnte nicht umhin, sie auf beide Wangen zu küssen, ein Vergnügen, für das ich 1956 große Anstrengungen unternommen hätte. Alles an diesen Küssen erschien mir wie ein Wunder – das größte war, dass sie, ihrem äußeren Erscheinungsbild zum Trotz, keine Schwindlerin, sondern tatsächlich sie selbst war. Dass sie all diese Torturen überstanden hatte und mich in dieser heruntergekommenen Umgebung willkommen hieß, war ein großes Wunder, und es wollte mir scheinen, als wäre mein Besuch, als wäre diese Vollendung einer Begegnung mit einer jungen Frau, die vor beinahe fünfzig Jahren eine so große Anziehungskraft auf mich ausgeübt hatte, mein mir selbst unbekannter Grund gewesen, nach New York zu fahren, der Grund, warum ich hierhergekommen war und überstürzt beschlossen hatte zu bleiben. Dass ich nach so langer Zeit zurückgekehrt war, nachdem ich an Krebs erkrankt war und sie an Krebs erkrankt war und sich unsere

schlauen jungen Gehirne ein wenig abgenutzt hatten – vielleicht war das der Grund, warum ich fast zitterte und warum sie ein langes gelbes Kleid angezogen hatte, das, wenn überhaupt jemals, vor einem halben Jahrhundert Mode gewesen war. Wir brauchten beide so sehr diese Gestalt aus unserer Vergangenheit. Zeit – die Macht und die Kraft der Zeit – und dieses alte gelbe Kleid über ihrem wehrlosen, vom Tod überschatteten Körper! Und wenn ich mich nun umdrehte und Lonoff die Treppe hinaufkommen sah? Was würde ich zu ihm sagen? »Ich bewundere Sie noch immer«? »Ich habe gerade Ihre Erzählungen noch einmal gelesen«? »In Ihrer Gegenwart werde ich wieder zum Jungen«? Und er würde sagen – ich konnte ihn geradezu hören: »Kümmern Sie sich um sie. Die Vorstellung, dass sie leiden muss, ist unerträglich.« Als Toter war er korpulenter als zu Lebzeiten. Er hatte im Grab zugenommen. »Soviel ich weiß«, sagte er und nahm rasch einen freundlich sarkastischen Ton an, »sind Sie kein so hervorragender Liebhaber mehr. Das macht es wahrscheinlich leichter.« »Körperliche Ausfälle«, antwortete ich, »machen nichts leichter. Ich werde tun, was ich kann.« Ich hatte in meiner Brieftasche einige hundert Dollar, die ich ihr geben konnte, und im Hotel würde ich einen Scheck ausstellen, den ich am nächsten Morgen absenden konnte. Ich musste nur daran denken, mich beim Abschied davon zu überzeugen, dass der schadhafte Briefkasten nicht ihr gehörte. Wenn doch, würde ich andere Wege finden, ihr Geld zukommen zu lassen. »Danke«, sagte Lonoff, als ich dem gelben Kleid in die langgezogene, schmale Wohnung folgte, in der zwei Räume – ein Arbeitszimmer und dahinter, zugänglich durch einen

von einem Bogen überwölbten Durchgang, die Küche – fensterlos waren. Nach vorn hinaus, über dem Verkehr auf der 1st Avenue und der Imbiss-Stube, war ein kleines Wohnzimmer mit zwei vergitterten Fenstern, nach hinten hinaus war ein noch kleinerer Raum mit nur einem vergitterten Fenster, gerade groß genug für ein schmales Bett und einen Nachttisch. Drei Fenster. In Lonoffs Haus in den Berkshires musste es zwei Dutzend Fenster gegeben haben, die man nie hatte besonders sichern müssen. Das Schlafzimmerfenster ging auf einen Luftschacht und eine winzige Gasse, in der die Mülltonnen des Spaghettilokals standen. Ich stellte fest, dass sich die Toilette in einer kleiderschrankgroßen Kammer hinter einer Tür neben der Spüle befand. Eine eher kleine Badewanne stand auf Klauenfüßen in der Küche, zentimetergenau eingepasst zwischen Herd und Kühlschrank. Da es nach vorn hinaus laut war wegen der Busse, Lastwagen und Autos auf der ist Avenue und nach hinten hinaus wegen des unablässigen Lärms, der aus der Imbissküche drang, deren Hintertür zur Belüftung tagein, tagaus offenstand, setzten wir uns in Amys relativ ruhiges Arbeitszimmer, zwischen Papierstapel und Bücher, welche die Regale an den Wänden füllten und sich rings um den mit einer Resopalplatte versehenen Küchentisch türmten, der als Arbeitstisch diente. Die Lampe darauf gab das einzige Licht in diesem Raum – es war eine hohe, bauchige, halbdurchsichtige braune Flasche, die mit einer Glühbirnenfassung und einem gefältelten, wie ein breitkrempiger Sonnenhut wirkenden Schirm versehen war. Zuletzt hatte ich sie vor achtundvierzig Jahren gesehen: Es war Lonoffs hässliche Schreibtischlampe. Ich entdeckte noch ein anderes Relikt aus seinem

Arbeitszimmer: den stumpf braunen, mit Rosshaar gepolsterten großen Sessel, in dem im Lauf der Jahrzehnte nicht nur sein schwerer Körper, sondern, wie mir schien, auch seine Gedanken und die Konturen seines Stoizismus ihren Abdruck hinterlassen hatten, den abgenutzten Sessel, in dem er gesessen und mich mit ganz simplen Fragen über meine jugendlichen Ziele eingeschüchtert hatte. Ich dachte: »Was? Sie hier?«, und erinnerte mich, dass diese Worte in Eliots »Little Gidding« vorkommen, an der Stelle, wo der Dichter vor Morgengrauen durch die Straßen geht und den »vielgestaltigen Geist« trifft, der ihm verrät, welche Schmerzen ihn erwarten: »Denn die Worte des vergangenen Jahres gehören zur Sprache des vergangenen Jahres / Und die Worte des nächsten Jahres harren einer anderen Stimme.« Wie beginnt Eliots Geist? Sardonisch. »Lasst mich enthüllen, welche Geschenke das Alter bereithält.« Das Alter bereithält. Das Alter bereithält. Weiter weiß ich es nicht. Es folgt eine schreckliche Prophezeiung, an die ich mich nicht erinnere. Wenn ich zu Hause bin, werde ich es nachschlagen. Stumm teilte ich Lonoff einen Gedanken mit, der mir eben erst gekommen war: »Sie sind nicht mehr über dreißig Jahre älter als ich. Ich bin jetzt zehn Jahre älter als Sie.« »Haben Sie etwas gegessen?« fragte Amy. »Ich habe keinen Hunger«, antwortete ich. »Ich bin zu überwältigt, in Ihrer Gesellschaft zu sein.« Eine so abwegige Vorstellung überfiel mich und nahm mich derart gefangen, dass dies alles war, was ich hervorbringen konnte. Wie ungenau und erratisch mein Gedächtnis in letzter Zeit auch sein mochte – meine

Erinnerung an Amy Bellette, die ich nur einmal und vor langer Zeit getroffen hatte, war noch immer lebhaft und geprägt von dem Gefühl, das ich 1956 gehabt hatte: dass sie ein außerordentlich bedeutender Mensch sei. Damals war ich so weit gegangen, ein detailliertes Szenario zu entwickeln, das ihre Person mit den schrecklichen Einzelheiten der Biographie von Anne Frank verknüpfte, einer Anne Frank allerdings, die Europa und den Zweiten Weltkrieg überlebt, einen anderen Namen angenommen und sich selbst als verwaiste, aus Holland stammende Studentin in Neuengland neu erfunden hatte, als Schülerin und dann als Geliebte E.I. Lonoffs, dem sie – nachdem sie allein nach Manhattan gefahren war, um sich die erste Bühnenversion von Das Tagebuch der Anne Frank anzusehen – ihre wahre Identität anvertraut hatte. Natürlich wurde ich nicht mehr von den Motiven getrieben, die mich als jungen Mann veranlasst hatten, diese extravagante Fiktion weiter auszuführen. Die Gefühle, die meine Phantasie mit Mitte Zwanzig in diese Richtung geleitet hatten, waren zusammen mit den moralischen Forderungen, welche die Eminenzen der jüdischen Gemeinde an mich gestellt hatten, längst verschwunden. Ihre Verurteilung meiner ersten veröffentlichten Erzählungen als schlimme Manifestationen »jüdischen Selbsthasses« hatten mich geschmerzt, trotz der erbitternden Selbstgerechtigkeit ihrer jüdischen Selbstverliebtheit, gegen die ich mit all meinem Abscheu angekämpft hatte – unter anderem, indem ich in meiner Phantasie Lonoffs Amy in die Märtyrerin Anne Frank verwandelt hatte, die ich mir, nur wenig ironisch, als meine Braut vorgestellt hatte. Als die muntere, jugendliche jüdische Heilige wurde Amy zu meinem fiktionalen

Bollwerk gegen die vernichtende Kritik. »Möchten Sie etwas trinken?« fragte sie mich. »Ein Bier?« Ich hätte gern etwas Stärkeres getrunken, doch weil Alkohol meine mentalen Ausfälle verstärkte, beschränkte ich mich inzwischen auf ein Glas Wein zum Essen. »Nein, danke. Haben Sie etwas gegessen?« »Ich esse nicht mehr viel.« Nicht mehr. Das war eine Wortkombination, die auch ich oft gebrauchte. »Geht es Ihnen gut?« fragte ich. »Es ging mir gut. Monatelang. Aber jetzt habe ich erfahren, dass das verdammte Ding zurückgekehrt ist. So geht es: Das Schicksal schleicht sich von hinten an, und eines Tages springt es hervor und ruft: ›Buh!‹ Als ich den ersten Tumor hatte und noch gar nichts davon wusste, habe ich Dinge getan, die ich lieber nicht wiederholen möchte. Den Hund meines Nachbarn getreten. Es war so ein kleiner Köter, der im Treppenhaus immer gekläfft und nach den Schuhen der Leute geschnappt hat, eine richtige Nervensäge, die man eigentlich gar nicht rauslassen sollte, und eines Tages hab ich ihm einen ordentlichen Tritt verpasst. Ich habe Leserbriefe an die New York Times geschrieben. Ich hatte einen Anfall in der Leihbücherei und bin vollkommen durchgedreht. Ich bin hingegangen, um mir eine Ausstellung über E. E. Cummings anzusehen. Als ich als Studentin nach New York kam, habe ich seine Gedichte geliebt. ›Ich singe von Olaf, froh und groß.‹ Als ich die Ausstellung verließ, sah ich, dass an den Wänden des Korridors eine noch viel größere, viel dramatischere Ausstellung mit dem Titel ›Meilensteine moderner Literatur‹ eingerichtet war. Große gerahmte Porträts

hingen über Vitrinen, in denen Erstausgaben in ihren Original-Schutzumschlägen ausgestellt waren, und das Ganze war nichts als politisch idiotisch korrekter Mist. Normalerweise wäre ich einfach weitergegangen und hätte mich auf dem Heimweg, in der U-Bahn, mit Manny darüber unterhalten. Er war der Inbegriff von Takt – von Takt, Witz und Geduld. Menschliche Dummheit konnte ihn nie überraschen. Selbst als Toter spendet er mir so viel Trost.« »Nach vierzig Jahren? Gab es in diesen vierzig Jahren keinen anderen Menschen, der für Sie so wichtig geworden ist, dass er Sie trösten könnte?« »Hätte es so jemanden geben können?« »Hätte es nicht so jemanden geben können?« »Nach ihm?« »Als er starb, waren Sie dreißig. Dass Ihr ganzes Leben von einer einzigen Episode bestimmt wurde … Sie waren noch jung.« Ich verbot mir zu sagen: »Wurde alles, was danach kam, von diesen wenigen Jahren erdrückt?«, denn die Antwort lag mittlerweile auf der Hand. Ja, alles, jede Kleinigkeit. »Unwichtig«, lautete ihre Antwort auf das, was ich gesagt hatte. »Was haben Sie denn danach getan?« »Getan? Was für ein Wort. Getan. Ich habe Bücher übersetzt – aus dem Englischen ins Norwegische, aus dem Norwegischen ins Englische, aus dem Schwedischen ins Englische, aus dem Englischen ins Schwedische. Das habe ich getan. Aber die meiste Zeit habe ich mich treiben lassen. Ich habe mich immerzu treiben lassen, und jetzt bin ich fünfundsiebzig. So bin ich fünfundsiebzig geworden: indem ich mich habe treiben lassen. Aber Sie haben sich

nicht treiben lassen. Ihr Leben war wie ein abgeschossener Pfeil. Sie haben gearbeitet.« »Und so bin ich einundsiebzig geworden. Man erreicht das Ende, so oder so, als Pfeil oder als Treibgut. Sind Sie nie mit jemand anderem zu dieser Villa in Florenz zurückgekehrt?« »Woher wissen Sie von der Villa in Florenz?« »Weil er mir an jenem Abend davon erzählt hat. Ganz abstrakt, als wäre es etwas, über das er flüchtig nachgedacht hatte. Und dann«, gestand ich, »habe ich Sie beide belauscht. Ich habe mir an dem Abend erlaubt, ein Gespräch zwischen ihm und Ihnen zu belauschen.« »Wie haben Sie das gemacht?« »Ich schlief in dem Zimmer unter Ihnen. Sie erinnern sich sicher nicht daran. Er hatte mir in seinem Arbeitszimmer ein Bett gemacht. Ich stellte mich auf den Schreibtisch und legte das Ohr an die Decke. Sie haben gesagt: ›Ach, Manny, wir könnten in Florenz so glücklich sein.‹« Dieses Geständnis machte sie äußerst fröhlich. »Ach je, was waren Sie für ein böser Junge. Was noch? Was haben Sie noch gehört? Einen Zeugen zu haben für etwas, was so lange her ist – was für ein Geschenk! Sagen Sie mir, was Sie noch gehört haben, Sie böser Junge! Sagen Sie mir alles!« Sagen Sie es mir, forderte sie mich auf, erzählen Sie mir von diesem intimen Augenblick mit diesem unersetzlichen Mann, den ich liebe und der tot ist, erzählen Sie es mir an dem Tag, an dem ich erfahren habe, dass der Tumor zurückgekehrt ist, der mich meinem eigenen Tod entgegenschleudert, und zu dessen Feier ich mein gelbes Kleid angezogen habe! »Ich wollte, das könnte ich«, sagte ich. »Aber ich erinnere

mich an nur wenig mehr. Ich erinnere mich an Florenz, weil er mit mir darüber gesprochen hatte: über die Villa in Florenz und die junge Frau, mit der er dorthin fahren und die sein Leben wieder schön und neu machen würde.« »›Schön und neu‹ – das hat er gesagt?« »Ich glaube, ja. Sind Sie je nach Florenz gefahren?« »Wir zwei? Nein, nie. Ich bin allein dorthin gefahren. Nachdem er gestorben war, bin ich dorthin gefahren und für eine Weile geblieben. Ich habe die Blumen für seine Vase geschnitten. Ich habe Tagebuch geführt. Ich habe Spaziergänge gemacht. Ich habe einen Wagen gemietet und bin in der Gegend herumgefahren. Ein paar Jahre lang habe ich mir in jedem Juni ein Zimmer in einer pensione gemietet, habe meine Übersetzung mitgenommen und all die rituellen Dinge getan.« »Und Sie haben es nie gewagt, das mit jemand anderem zu tun.« »Warum hätte ich das tun sollen?« »Wie kann man so lange in der Erinnerung leben?« »So war es nie. Ich spreche die ganze Zeit mit ihm.« »Und er mit Ihnen?« »Aber ja. Wir haben die missliche Tatsache, dass er tot ist, erfolgreich umschifft. Jetzt sind wir völlig anders als alle anderen und einander so ähnlich.« Diese Worte hatten eine so große emotionale Wucht, dass ich Amy prüfend betrachtete, um zu sehen, ob sie gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen, ob sie diese übersteigerte Formulierung absichtlich gewählt hatte oder ob sozusagen das lädierte Gehirn gesprochen hatte. Ich sah nur einen Menschen, der von niemandem beschützt wurde. Ich sah

nur das, was Kliman sah. »Was würde er von Ihren Lebensumständen halten?« fragte ich. »Hätte er nicht gewollt, dass Sie jemand anderen finden? Was hätte er davon gehalten, dass Sie all diese Jahre allein gelebt haben?« Dann fügte ich hinzu: »Was sagt er dazu?« »Er verliert nie ein Wort darüber.« »Wie findet er es, dass Sie hier, in dieser Wohnung leben?« »Ach, damit befassen wir uns gar nicht.« »Womit dann?« »Mit den Büchern, die ich lese. Wir sprechen über Bücher.« »Über nichts anderes?« »Über Dinge, die geschehen. Ich habe ihm von der Sache in der Leihbücherei erzählt.« »Und was hat er gesagt?« »Was er immer sagt. Er hat gelacht. Er hat gesagt: ›Du nimmst solche Sachen zu ernst.‹« »Was sagt er über den Hirntumor?« »Dass ich keine Angst haben soll. Es ist nicht gut, aber ich soll keine Angst haben.« »Und Sie glauben, was er sagt?« »Wenn wir miteinander sprechen, spüre ich eine Zeitlang keine Schmerzen mehr.« »Nur Liebe.« »Ja. Absolut.« »Und was haben Sie ihm über die Sache in der Leihbücherei gesagt? Erzählen Sie mir, wie es weiterging.«

»Ach, ich bin diesen Korridor hinauf- und hinuntergestürmt und habe schäumend vor Wut die Fotos dieser Schriftsteller angestarrt, von denen es heißt, sie hätten die Meilensteine moderner Literatur gesetzt. Ich bin außer mich geraten, ich habe angefangen zu schreien. Zwei Wachleute kamen und beförderten mich in Null Komma nichts vor die Tür. Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre eine Verrückte, die sich von der Straße hierher verirrt hatte. Ich habe das auch gedacht: eine verrückte, böse Frau mit bösen Gedanken. Damals habe ich angefangen, sehr schnell zu reden. Das tue ich noch immer. Sogar wenn ich allein bin. Ich hatte noch nichts von dem Tumor erfahren, müssen Sie wissen. Das habe ich schon gesagt. Aber er war bereits da, hinten in meinem Kopf, und krempelte mich um. Mein Leben lang konnte ich mich immer, wenn ich nicht mehr weiterwusste, fragen: Was würde Manny jetzt tun? Was würde Manny in dieser lächerlichen Situation tun? Er hat mich mein Leben lang geführt. Ich habe einen großen Mann geliebt. Das vergeht nicht. Doch dann kam der Tumor, und das unentwegte Getöse hat ihn übertönt.« »Sie haben Geräusche gehört?« »Nein, ich hätte sagen sollen: die Wolke. Es ist eine Wolke. Man hat eine Gewitterwolke im Kopf.« »Was war dieser politisch idiotisch korrekte Mist?« Sie lachte, das Gesicht mit seinen feinen Falten und ohne einen Rest der Schönheit, die es einst beherrscht hatte, lachte, doch wegen des zur Hälfte rasierten Schädels mit dem nachwachsenden Flaum und der dämonischen Narbe war dieses Lachen mit einer falschen Bedeutung unterlegt. »Sie können es sich vorstellen. Gertrudc Stein war vertreten, aber nicht Ernest Hemingway. Edna St. Vincent Millay, aber nicht William Carlos Williams oder Wallace

Stevens oder Robert Lowell. Blödsinnig. Es hat in den Colleges angefangen, und jetzt findet man es überall. Richard Wright, Ralph Ellison und Toni Morrison, aber nicht Faulkner.« »Was haben Sie geschrien?« fragte ich. »Ich habe geschrien: ›Wo ist E.I. Lonoff? Wie könnt ihr es wagen, E. I. Lonoff wegzulassen?‹ Ich hatte sagen wollen: ›Wie könnt ihr es wagen, William Faulkner wegzulassen?‹, aber der Name, der aus meinem Mund kam, war der von Manny, Es haben sich ziemlich viele Schaulustige versammelt.« »Und wie haben Sie herausgefunden, dass Sie einen Tumor hatten?« »Ich bekam Kopfschmerzen. So schlimm, dass ich mich übergeben musste. Sie werden mir helfen, diesen Kliman loszuwerden, ja?« »Ich werde es versuchen.« »Dieses Ding ist wieder da. Habe ich Ihnen das schon gesagt?« »Ja«, sagte ich. »Jemand muss Manny vor diesem Mann beschützen. Jede Biographie, die er schreibt, wird nichts weiter sein als das hinausposaunte Ressentiment eines zweitklassigen Menschen. Nietzsches Prophezeiung wird sich bewahrheiten: die Kunst – getötet vom Ressentiment. Bevor ich von dem Tumor wusste, hat Kliman mich besucht. Das war kurz nach dem Fiasko in der Leihbücherei. Ich redete damals schon ununterbrochen. Ich habe ihm Tee angeboten, und er war so adrett und schien – meinem Tumor schien es so – brillant über Mannys Erzählungen zu sprechen. Für meinen Tumor war er ein reiner Liebhaber

der Literatur, ein ernsthafter, in Harvard ausgebildeter junger Mann, der nichts weiter wollte, als Mannys Reputation wiederherzustellen. Mein Tumor fand Kliman gewinnend.« »Tja, Sie hätten den Hund gewinnend finden und Kliman einen Fußtritt verpassen sollen. Wie ist es zu der Diagnose gekommen?« fragte ich. »Ich habe das Bewusstsein verloren. Eines Tages habe ich den Wasserkessel aufgesetzt und das Gas angestellt, und das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in der Notaufnahme des Lenox Hill Hospital lag und zwei Polizisten neben mir standen. Der Hausmeister hatte das Gas gerochen und mich dort gefunden« – sie zeigte auf die Küche mit der Badewanne hinter uns –, »auf dem Boden. Sie dachten, ich hätte mich umbringen wollen. Das machte mich wütend. Alles machte mich wütend. Und dabei war ich doch früher ein süßes, nettes Mädchen, nicht?« »Sie wirkten auf mich sehr wohlerzogen.« s richtig gegeben.« s auf sie gewartet hatte, kam mir der Gedanke, dass nicht ich im falschen Restaurant gewesen war, sondern Amy. Der Tumor, der zurückkehrte, krempelte sie abermals um – der Tumor, der zurückkehrte und einen Geisteszustand erzeugte, der es anscheinend nicht zuließ, dass seine Rückkehr ihr angst machte. Zweimal hatte sie mir gesagt, er sei zurück, und zwar nicht so, als wäre sie am Abend eines folgenschweren Tages angelangt, sondern einfach so, als spräche sie über einen Scheck, der geplatzt war, weil sie ihr Konto überzogen hatte. Wir saßen mehrere Minuten schweigend da, dann sagte

sie in die Stille hinein: »Ich habe seine Schuhe.« »Ich verstehe nicht.« »Ich habe schließlich seine Kleider weggeworfen, aber von den Schuhen konnte ich mich nicht trennen.« »Wo sind sie?« »Im Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer.« »Darf ich sie sehen?« fragte ich, allerdings nur, weil sie offenbar wollte, dass ich das fragte. »Möchten Sie es denn?« »Ja.« Das Schlafzimmer war winzig, und die Tür des Kleiderschranks ließ sich nur ein Stück weit öffnen und stieß dann gegen eine Seite des Bettes. Im Schrank hing eine ausgefranste Schnur, und als Amy daran zog, ging eine schwache Glühbirne an. Das erste, was mir zwischen den etwa einem Dutzend Kleidungsstücken auffiel, war das zum Kleid geänderte Krankenhausnachthemd. Dann sah ich Lonoffs Schuhe, die auf dem Boden aufgereiht waren. Vier Paar, die allesamt mit den Spitzen nach vorn zeigten, allesamt schwarz, allesamt lange getragen. Vier Paar Schuhe eines Toten. »Sie sind genau so, wie er sie zurückgelassen hat«, sagte sie. »Sie sehen sie jeden Tag«, sagte ich. »Jeden Morgen. Jeden Abend. Manchmal öfter.« »Ist es denn nie unheimlich, sie da stehen zu sehen?« »Im Gegenteil. Was könnte tröstlicher sein als seine Schuhe?« »Er hatte keine braunen Schuhe?« fragte ich.

»Er hat nie braune Schuhe getragen.« »Ziehen Sie sie auch mal an?« fragte ich. »Stehen Sie manchmal in seinen Schuhen?« »Wie kommen Sie darauf?« »Das wäre nur menschlich. So ist das Leben.« »Diese Schuhe sind mein Schatz«, sagte sie. »Ich würde sie ebenfalls hüten wie einen Schatz.« »Möchten Sie ein Paar haben, Nathan?« »Sie haben sie schon so lange. Sie sollten sie nicht aufgeben.« »Ich würde sie nicht aufgeben. Ich würde sie weitergeben. Ich will nicht, dass alles verloren ist, wenn ich an diesem Tumor sterbe.« »Sie sollten sie behalten. Man weiß nie, wie die Dinge sich entwickeln. Vielleicht werden Sie noch Jahre hier sein und sie ansehen.« »Diesmal werde ich wahrscheinlich sterben, Nathan.« »Behalten Sie die Schuhe, Amy, alle. Bewahren Sie sie hier für ihn auf.« Sie zog an der Schnur und löschte das Licht, dann schloss sie den Schrank, und wir gingen durch die Küche zurück in ihr Arbeitszimmer. Ich fühlte mich so erschöpft, als wäre ich fünfzehn Kilometer gerannt. »Erinnern Sie sich daran, was Sie mit Kliman besprochen haben?« fragte ich jetzt, nachdem ich die Schuhe gesehen hatte. »Erinnern Sie sich, was Sie zu ihm gesagt haben?« »Ich glaube nicht, dass ich ihm überhaupt etwas gesagt habe.« »Nichts über Manny, nichts über sich selbst?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht genau.« »Haben Sie ihm etwas gegeben?« »Warum? Hat er das gesagt?« »Er sagt, er hat eine Fotokopie des halben Manuskripts von Mannys Roman. Er sagt, Sie hätten ihm den zweiten Teil versprochen.« »Das hätte ich niemals getan. Das könnte ich gar nicht.« »Vielleicht hat der Tumor es getan?« »Oje. O Gott. O nein.« Auf dem Tisch lagen ein paar lose Blätter, und in ihrer Aufregung schob sie sie hin und her. »Gehören die zu dem Manuskript?« fragte ich. »Nein.« »Ist der Roman hier?« »Das Original liegt in einem Schließfach in Boston, aber ich habe eine Kopie davon hier.« »Er konnte ihn wegen des Themas nicht schreiben.« Sie sah mich beunruhigt an. »Woher wissen Sie das?« »Sie haben es mir erzählt.« »Habe ich das? Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Ich weiß nicht mehr, was geschieht. Ich wollte, man würde mich mit diesem Buch in Ruhe lassen.« Sie sah die Blätter in ihrer Hand an und sagte mit einem heiteren Lachen: »Das ist ein brillanter Leserbrief an die Times. Er ist so brillant, dass sie ihn nicht gedruckt haben. Ach, es ist mir egal.« »Wann haben Sie ihn geschrieben?« fragte ich. »Vor ein paar Tagen. Vor einer Woche. Sie haben einen Artikel über Hemingway gebracht. Vor einem Jahr

vielleicht. Vielleicht auch vor fünf Jahren. Ich weiß es nicht. Ich habe den Artikel irgendwo. Ich hatte ihn ausgeschnitten, und vor ein paar Tagen ist er mir abends in die Hände gefallen, und ich habe mich so aufgeregt, dass ich mich hingesetzt und diesen Brief geschrieben habe. Ein Reporter ist nach Michigan gefahren und hat versucht, die realen Vorbilder für die Figuren in Hemingways Kurzgeschichten zu finden. Also habe ich ihnen geschrieben, was ich davon halte.« »Sicht ziemlich lang aus für einen Leserbrief.« »Ich hab auch schon längere geschrieben.« »Darf ich ihn lesen?« fragte ich. »Ach, es sind bloß die Ergüsse einer verrückten alten Frau. Der Auswuchs einer Wucherung.« Abrupt ging sie in die Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen und uns etwas zu essen zu machen. Ich blieb allein mit dem Brief. Er war mit Kugelschreiber geschrieben. Anfangs dachte ich, sie hätte ihn nicht an einem Abend, sondern im Verlauf mehrerer Tage, Wochen oder Monate geschrieben, denn die Farbe der Mine wechselte auf jeder Seite einige Male. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass sie ihn tatsächlich in einem Stück geschrieben hatte – als Reaktion auf einen vielleicht fünf Jahre alten Artikel – und dass die verschiedenen Farben der Minen nur die Allgegenwart ihrer Verwirrtheit bezeugten. Doch die Sätze waren zusammenhängend, und ihre Gedankengänge waren alles andere als Auswüchse einer Wucherung in ihrem Gehirn. Sehr geehrte Damen und Herren! Es gab einmal eine Zeit, da intelligente Menschen die

Literatur zum Denken nutzten. Diese Zeit geht nun zu Ende. In der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Satellitenstaaten waren es in den Jahrzehnten des Kalten Krieges die ernstzunehmenden Schriftsteller, die von der Literatur ausgeschlossen wurden; in Amerika ist heute die Literatur von der Liste der Dinge ausgeschlossen, die einen ernstzunehmenden Einfluss auf die Wahrnehmung des Lebens haben. Der vorherrschende Gebrauch, den die Feuilletons der Intelligenzblätter und die Universitätsinstitute von der Literatur machen, steht in so destruktivem Gegensatz sowohl zu den Zielen der erzählenden Literatur als auch zu dem Gewinn, den ein unbefangener Leser aus ihr ziehen kann, dass es besser wäre, wenn die Öffentlichkeit aufhörte, irgendeinen Gebrauch von der Literatur zu machen. Mit dem Kulturjournalismus Ihrer Zeitung verhält es sich so: Je mehr es davon gibt, desto schlechter wird er. Sobald man sich auf die ideologischen Vereinfachungen und den biographischen Reduktionismus des Kulturjournalismus einlässt, ist das Wesen des Kunstwerks verloren. Ihr Kulturjournalismus ist nichts weiter als Boulevardzeitungsgeschwätz, das im Gewand des Interesses für »die Künste« auftritt, und alles, was dieser Journalismus zu seinem Gegenstand macht, wird in etwas verwandelt, was es nicht ist. Wie heißt der Prominente, wie hoch ist der Preis, was macht den Skandal aus? Welcher Vergehen hat sich der Schriftsteller schuldig gemacht, und zwar nicht im Hinblick auf die Anforderungen literarischer Ästhetik, sondern im Hinblick auf seine Tochter, seinen Sohn, seine Mutter, seinen Vater, seine Partnerin, seine Geliebte, seinen Freund, seinen Verleger, sein Haustier? Ohne den Hauch einer Ahnung, welche Gebote die schriftstellerische

Phantasie notwendigerweise übertreten muss, wirft sich der Kultur Journalismus unentwegt auf pseudoethische Fragen: »Hat der Schriftsteller das Recht zu blablabla?« Diese Art von Journalismus ist übermäßig empfindlich, wenn es um die Verletzung der Privatsphäre geht, wie sie in der Literatur seit Jahrtausenden üblich ist, enthüllt zugleich aber manisch und gänzlich unfiktionalisiert, wessen Privatsphäre wie verletzt worden ist. Mit Entsetzen sieht man, welchen Stellenwert das Feuilleton der Privatsphäre beimisst, sobald es um erzählende Literatur geht. Hemingways frühe Storys spielen in Michigan, auf der oberen Halbinsel, und so macht sich einer Ihrer Kulturjournalisten auf den Weg dorthin und findet die Namen der Einheimischen heraus, die angeblich die Vorbilder von Figuren in diesen Geschichten waren. Und welche Überraschung: Sie oder ihre Nachkommen sind der Meinung, dass sie bei Ernest Hemingway schlecht weggekommen sind. Diese Gefühle, so ungerechtfertigt oder kindisch oder durch und durch eingebildet sie auch sein mögen, werden ernster genommen als die Geschichten selbst, weil es für den Kulturjournalisten leichter ist, über diese Gefühle zu schreiben als über die Storys. Die Integrität des Informanten steht nie in Frage – wohl aber die des Schriftstellers. Der Schriftsteller arbeitet jahrelang allein, gibt sich ganz und gar dem Schreiben hin, denkt über jeden Satz zweiundsechzigmal nach und hat doch keinerlei übergeordnetes literarisches Bewusstsein, Verständnis oder Ziel. Alles, was der Schriftsteller akribisch aufbaut, Satz für Satz und Detail für Detail, ist nichts als Täuschung und Lüge. Der Schriftsteller hat keinerlei literarisches Motiv. Sein Interesse, die Wirklichkeit abzubilden, geht gegen null. Seine Motive sind immer

persönlicher und grundsätzlich niedriger Natur. Dieses Wissen ist ein Trost, denn es beweist, dass die Schriftsteller nicht nur uns anderen keineswegs so überlegen sind, wie sie immer vorgeben – nein, sie sind schlechter als wir anderen. Diese schrecklichen Genies! Die Tatsache, dass ernstzunehmende erzählende Literatur sich der Paraphrasierung und Beschreibung entzieht – und daher Nachdenken erfordert –, ist dem Kulturjournalisten ein Dorn im Auge. Lediglich ihre imaginierten Quellen darf man ernst nehmen, nur diese Fiktion, die Fiktion des faulen Journalisten. Das Originäre der Phantasie, die jenen frühen Hemingway-Storys zugrunde liegt feiner Phantasie, die auf wenigen Seiten das Genre der Kurzgeschichte und die amerikanische Prosa von Grund auf verändert hat), ist dem Kulturjournalisten, der in seinen eigenen Artikeln unsere ehrlichen englischen Worte in Unsinn verwandelt, unbegreiflich. Wenn man ihn auffordern würde: »Sieh nur ins Innere der Geschichte«, wüsste er nichts zu sagen. Phantasie? Es gibt keine Phantasie. Literatur? Es gibt keine Literatur. All die herausragenden Passagen – und selbst die nicht so herausragenden Passagen – verschwinden, und das einzige, was bleibt, sind diese Menschen, deren Gefühle verletzt sind, denn Hemingway hatte ihnen etwas angetan. Hatte Hemingway das Recht …? Hat irgendein Schriftsteller das Recht …? Sensationshaschender Kulturvandalismus, der sich als Eintreten einer verantwortungsvollen Zeitung für »die Künste« tarnt. Wenn ich soviel Macht hätte wie Stalin, würde ich sie nicht darauf verschwenden, Schriftsteller zum Schweigen zu bringen. Ich würde jene zum Schweigen bringen, die über Schriftsteller schreiben. Ich würde alle öffentlichen Diskussionen über Literatur in Zeitungen, Zeitschriften und

gelehrten Journalen verbieten. Ich würde jedweden Unterricht über Literatur in allen Grundschulen, höheren Schulen und Universitäten des Landes verbieten. Ich würde Lesezirkel und einschlägige Internet-Chatrooms verbieten und die Geheimpolizei in die Buchhandlungen schicken, um zu verhindern, dass Buchhändler mit den Kunden und die Kunden untereinander über Bücher sprechen. Ich würde dafür sorgen, dass die Leser mit den Büchern allein sind, damit sie ohne fremde Hilfe einen Sinn darin finden. Das würde ich tun, für so viele Jahrhunderte, wie nötig sind, um die Gesellschaft von dem Gift Ihres Unsinns zu reinigen. Amy Bellette Hätte ich diese Seiten gelesen, ohne Amy zu kennen, so hätte ich die Argumente wörtlich genommen und den Ausbruch nicht ohne Sympathie betrachtet, auch wenn die Tatsache, dass ich mich außerhalb dessen bewegte, was Amy als »Kulturjournalismus« bezeichnete, es mir ersparte, darüber nachzudenken oder wie Amy dagegen zu wüten – was eine nicht geringzuschätzende Wohltat war. Unter den waltenden Umständen jedoch schien die Erklärung für die Zielrichtung des Briefs und des Interesses, das er in mir weckte, in einigen Sätzen im zweiten Absatz zu liegen, die ich noch einmal las, während Amy in der Küche einen Imbiss aus Tee, Toast und Marmelade bereitete. »Welcher Vergehen hat sich der Schriftsteller schuldig gemacht, und zwar nicht im Hinblick auf die Anforderungen literarischer Ästhetik, sondern im Hinblick auf seine Tochter, seinen Sohn, seine Mutter, seinen Vater, seine Partnerin, seine Geliebte, seinen Freund, seinen Verleger, sein Haustier?« War es möglich, dass »Halbschwester« in dieser

Aufzählung nicht vorkam, weil Amy sich des Ursprungs ihrer Empörung nicht ganz bewusst war? Oder kannte sie den Ursprung sehr wohl und hatte sorgfältig darauf geachtet, dass der Tumor das Wort »Halbschwester« nicht womöglich heimlich in diesen Brief schmuggelte? Ich hatte den Eindruck, dass dieser Brief an die Times in erster Linie mit Richard Kliman zu tun hatte. Als Amy mit einem Tablett, auf dem unser Imbiss stand, aus der Küche kam, sagte ich: »Und welche Note hat Manny Ihnen für diese gutdurchdachten, bissigen Sätze gegeben?« »Er hat mir keine Note gegeben.« »Warum nicht?« »Weil ich sie nicht geschrieben habe.« »Wer dann?« »Er hat sie geschrieben.« »Tatsächlich? Vorhin haben Sie gesagt, es sei der Brief einer verrückten alten Frau.« »Das stimmte nicht ganz.« »Wie meinen Sie das?« »Er hat ihn mir diktiert. Es sind seine Worte. Er hat gesagt: ›Wir Menschen, die lesen und schreiben, sind am Ende – wir sind Geister, die das Ende des Zeitalters der Literatur erleben. Schreib das auf.‹ Und das habe ich getan.« Bis lange nach Mitternacht saß ich bei ihr und hörte ihr zu. Ich sagte wenig, hörte viel, schenkte dem meisten Glauben und vermochte einen Sinn darin zu erkennen. Soweit ich es beurteilen konnte, machte sie kein einziges Mal den

Versuch, mich bewusst in die Irre zu führen. Die rasche Enthüllung eines so gewaltigen Vorrats an Informationen führte jedoch dazu, dass die Erzählstränge ihrer zahlreichen Geschichten unentwirrbar miteinander verwoben wurden und man manchmal den Eindruck haben konnte, sie sei ihrem Tumor ganz und gar ausgeliefert. Oder dass der Tumor die normalerweise von Hemmungen und Konventionen aufgestellten Hindernisse einfach umstürzte. Oder dass sie einfach eine schrecklich kranke und einsame Frau war, die nach jahrelangem Verzicht das Interesse eines Mannes genoss, eine Frau, die vor fünf Jahrzehnten vier kostbare Jahre mit einem brillanten geliebten Mann verbracht hatte, dessen Integrität – in ihren Augen das, was seine Majestät als Mann und als Schriftsteller ausmachte – jetzt von der Zerstörung durch das unerklärliche »Ressentiment eines zweitklassigen Menschen«, dem selbsternannten Biographen dieses geliebten Mannes, bedroht war. Vielleicht kündete der Schwall ihrer Worte lediglich davon, wie alt und tief ihr Leiden war und wie lange sie nun schon ohne ihn sein musste. Es war eigenartig zu sehen, wie ihr Geist zusammengepresst wurde und sich zugleich weitete. Und bisweilen beunruhigende Fehlleistungen lieferte, wie zum Beispiel, als sie mich nach mehreren Stunden des Erzählens plötzlich erschöpft ansah und, vielleicht mit mehr Witz, als oberflächlich zu erkennen war, fragte: »Waren wir eigentlich je verheiratet?« Ich lachte und sagte: »Ich glaube nicht. Ich habe allerdings daran gedacht.« »Dass wir heiraten könnten?« »Ja. Als junger Mann, als wir uns bei Lonoff

kennengelernt hatten. Ich dachte, es müsste wunderbar sein, mit Ihnen verheiratet zu sein. Sie waren einzigartig.« »Ja, das war ich, nicht?« »Sie wirkten gezähmt und wohlerzogen, aber Sie waren ganz offensichtlich ungewöhnlich.« »Ich hatte kerne Ahnung, was ich tat.« »Damals?« »Damals, jetzt, immer. Ich hatte keine Ahnung, auf welches Risiko ich mich mit diesem Mann einließ, der so viel älter war als ich. Aber er war unwiderstehlich. Er war einzigartig. Ich war so stolz darauf, seine Liebe geweckt zu haben. Wie war mir das gelungen? Ich war so stolz darauf, keine Angst vor ihm zu haben. Und dabei war ich unentwegt starr vor Angst: Ich hatte Angst vor Hope und dem, was sie tun könnte, ich hatte Angst vor dem, was ich ihr antat. Und ich hatte keine Vorstellung von der Verletzung, die ich ihm zufügte. Ich hätte tatsächlich Sie heiraten sollen. Aber Hope beendete das eheliche Zusammenleben, und ich lief mit E.I. Lonoff davon. Ich war zu naiv, um überhaupt etwas zu begreifen, ich dachte, ich ginge ein großes, kühnes weibliches Risiko ein, und so kehrte ich in meine Kindheit zurück, Nathan. In Wahrheit habe ich sie nie verlassen. Ich werde als Kind sterben.« Als Kind, weil sie mit einem so viel älteren Mann zusammengewesen war? Weil sie in seinem Schatten geblieben war und immer bewundernd zu ihm aufgesehen hatte? Warum war diese herzzerreißende Verbindung, die gewiss so viele ihrer Illusionen zerstört hatte, eine Kraft, die sie in ihrer Kindheit festhielt? »Was aber nicht bedeutet, dass Sie kindisch waren«, sagte ich. »Nein, das bedeutet es nicht.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, wenn Sie sagen, Sie seien ein Kind.« »Dann muss ich es Ihnen erklären, nicht?« Und so wurde die sagenhafte Biographie, mit der ich sie 1956 ausgestattet hatte, durch die wahre ersetzt, die zwar weniger von der moralischen Bedeutung aufgebläht war, welche meine Erfindung damals für mich gehabt hatte, jedoch faktisch nicht so weit von ihr entfernt war. Es konnte auch gar nicht anders sein, denn dies alles war auf demselben geschundenen Kontinent geschehen, und es war einer Angehörigen derselben geschundenen Generation widerfahren, die zu denselben geschundenen Feinden der Herrenrasse gehörte. Dass sie sich aus den Zusammenhängen herauslöste, in die ich sie gestellt hatte, bedeutete nicht, dass sie dem Schicksal entgangen war, das ihrer Familie nicht weniger grausam mitgespielt hatte als den Franks. Dies war eine Katastrophe, deren Dimensionen nicht verkleinert und von keiner Phantasie rückgängig gemacht werden konnte, und die Erinnerung daran vermochte auch der Tumor erst mit Amys Tod auszulöschen. So erfuhr ich, dass Amy nicht aus den Niederlanden stammte, wo ich sie in dem verschlossenen, später in eine Gedenkstätte umgewandelten Dachboden eines Lagerhauses an einer Amsterdamer Gracht versteckt hatte, sondern aus Norwegen – aus Norwegen, aus Schweden, aus Neuengland, aus New York, womit ich sagen will: Mittlerweile stammte sie von nirgendwo, wie so viele jüdische Kinder ihrer Zeit, die nicht in Amerika, sondern in Europa geboren und im Zweiten Weltkrieg wie durch ein Wunder dem Tod entgangen waren, obgleich sie ihre Jugend in der Zeit durchlebt hatten, in der Hitler

erwachsen gewesen war. Auf diese Weise erfuhr ich von den näheren Umständen dieses Leids, das so, wie es sich abgespielt hat, unfehlbar nicht nur Zorn, sondern auch eine gewisse Ungläubigkeit hervorruft. Jedenfalls beim Zuhörer. Bei der Erzählerin war keine Aufwallung zu bemerken. Und gewiss keine Ungläubigkeit. Je tiefer sie in das Unglück ihrer Kindheit vordrang, desto trügerisch nüchterner wurde sie. Als könnte dieser Verlust je aufhören, auf ihrer Seele zu lasten. »Meine Großmutter stammte aus Litauen. Die Familie meines Vaters kam aus Polen.« »Wie sind sie ausgerechnet in Oslo gelandet?« »Meine Großeltern waren unterwegs von Litauen nach Amerika. Als sie nach Oslo kamen, wurden sie aufgehalten, und mein Großvater musste dort bleiben. Amerikanische Konsularbeamte ließen ihn nicht Weiterreisen, sie stellten ihm nicht die nötigen Papiere aus. Meine Mutter und mein Onkel wurden in Oslo geboren. Mein Vater war in Amerika gewesen, für ihn war es beinahe so etwas wie ein Abenteuer, in das man sich als junger Mensch stürzt. Er war auf dem Weg zurück nach Polen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Damals war er gerade in England, und er wollte nicht zurückkehren und zur Armee eingezogen werden. Also ging er nach Norwegen. 1915. Und dort lernte er meine Mutter kennen. Juden hatten sich in Norwegen nicht niederlassen dürfen. Aber es gab einen bekannten norwegischen Schriftsteller, der sich für die Juden einsetzte, und so hatte man ab 1905 Juden ins Land gelassen. 1915 haben meine Eltern geheiratet. Wir waren fünf Kinder, vier Brüder und ich.« »Und alle wurden gerettet«, sagte ich hoffnungsvoll, »Ihre Mutter, Ihr Vater, Ihre vier Brüder?«

»Meine Mutter nicht und mein Vater nicht und auch nicht mein ältester Bruder.« Also fragte ich: »Was ist geschehen?« »Als 1940 die Deutschen kamen, taten sie erst einmal gar nichts. Alles schien ganz normal. Aber im Oktober 1942 wurden alle jüdischen Männer über achtzehn verhaftet.« »Von den Deutschen oder den Norwegern?« »Die Deutschen gaben die Befehle, aber die Ausführenden waren die Quislinge, die norwegischen Nazis. Um fünf Uhr morgens standen sie vor unserer Tür. Meine Mutter sagte: ›Ach, ich dachte, Sie wären die Leute von der Ambulanz. Ich habe gerade angerufen. Mein Mann hat einen Herzanfall. Er liegt im Bett. Sie dürfen ihn nicht anrühren.« Und die kleineren Kinder weinten.« »Sie hatte diese Geschichte erfunden?« fragte ich. »Ja. Meine Mutter war sehr schlau. Sie bat und flehte, und schließlich sagten sie: ›Na gut, wir kommen um zehn wieder und sehen nach, ob er weg ist.‹ Also rief sie den Arzt an und ließ meinen Vater ins Krankenhaus einweisen. Im Krankenhaus machte er den Plan, nach Schweden zu fliehen, aber er hatte Angst, sie würden kommen und uns verhaften, wenn sie herausfanden, dass er geflohen war. Und so wartete er beinahe einen Monat, und eines Morgens kam ein Anruf vom Krankenhaus, die Gestapo sei da. Sogar am Telefon konnte man das Geschrei im Hintergrund hören. Wir wohnten nicht weit vom Krankenhaus entfernt, und so rannten meine Mutter, meine Brüder und ich dorthin. Ich war dreizehn. Mein Vater lag auf einer Trage. Wir flehten sie an, ihn nicht mitzunehmen.« »War er krank?« »Nein, aber das hätte ohnehin keine Rolle gespielt. Sie

nahmen ihn mit. Wir gingen nach Hause. Es war November, und wir packten warme Kleider für ihn zusammen und gingen zum Nazi-Hauptquartier. Wir versuchten, mit Leuten zu sprechen, wir weinten, wir sagten, er sei krank und habe nichts anzuziehen außer dem Krankenhausnachthemd, aber es half nichts. Wir sagten, wir würden nach Hause gehen und am nächsten Tag wiederkommen, aber sie sagten: ›Ihr könnt nicht gehen, ihr seid verhaftet.‹ Meine Mutter protestierte. Meine Mutter war stark. Sie sagte: ›Wir sind Norweger wie alle anderen – Sie dürfen uns nicht verhaften.‹ Es gab ein langes Hin und Her, aber nach einer Weile durften wir gehen. Draußen war es dunkel. Überall war es schwarz. Meine Mutter sagte, wir könnten nicht nach Hause gehen – sie war sicher, dass sie am nächsten Morgen kommen und uns mitnehmen würden. Da waren wir also, auf der dunklen Straße, und genau in diesem Augenblick gab es Fliegeralarm. In der allgemeinen Verwirrung verschwand einer meiner älteren Brüder, und mein ältester Bruder, der gerade geheiratet hatte, ging zur Familie seiner Frau, um sich zu verstecken. So waren nur noch meine Mutter, meine beiden jüngeren Brüder und ich übrig. Als der Fliegeralarm vorüber war, sagte ich zu meiner Mutter: ›Die Frau in dem Blumengeschäft ist immer so nett zu mir. Und ich weiß, dass sie nicht für die Nazis ist.‹ Meine Mutter sagte, ich solle sie anrufen. Wir suchten eine Telefonzelle, und ich rief sie an und fragte: ›Können wir vorbeikommen und ein bisschen feiern?‹ Sie verstand, was ich meinte, und sagte ja. ›Aber seid vorsichtig, wenn ihr kommt‹, sagte sie. Also gingen wir zu ihr, und sie ließ uns bleiben. Aber wir durften nicht auf und ab gehen, wir mussten die ganze Zeit zusammengedrängt auf dem Sofa

sitzen. Sie war mit den Nachbarn befreundet, die auf derselben Etage wohnten, und ging am nächsten Morgen zu ihnen. Die Nachbarn hatten Verbindungen zur Widerstandsbewegung. Es waren Norweger, keine Juden, der Mann war Taxifahrer und sagte uns, alle Juden würden zusammengetrieben und deportiert. Am nächsten Abend kam er mit zwei anderen Männern, die meine beiden jüngeren Brüder mitnahmen, sie waren damals elf und zwölf. Sie sagten, wir anderen müssten noch warten, sie würden uns später abholen. Damit waren meine Mutter und ich gemeint. Doch als sie zurückkamen, sagten sie, es sei nicht möglich, uns gemeinsam mitzunehmen. Ich fragte meine Mutter: ›Wenn ich jetzt mitgehe, kommst du dann nach?‹ Und sie sagte: ›Natürlich. Ich werde dich nie im Stich lassen.« Irgendwann erfuhr ich, dass sie später am Abend mit einem Taxi abgeholt worden war, von bewaffneten Widerstandskämpfern, die auf dem Weg aus Oslo hinaus noch eine andere Frau und einen jungen, Mutter und Sohn, mitnahmen. Meine Mutter kannte sie dem Namen nach. Die jüdische Gemeinde in Oslo war klein. Die meisten Juden kannten einander. Jedenfalls verließen sie Oslo, und man hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Inzwischen wurde ich in einen Zug gesetzt. Im Zug war ein NaziOffizier mit einer Hakenkreuz-Armbinde. Man sagte mir, er werde mir beim Aussteigen einen Wink geben, und ich solle ihm dann folgen. Ich war sicher, dass das eine Falle war. In der Nähe der schwedischen Grenze stieg er aus, und ich stieg ebenfalls aus und wurde einem anderen Mann übergeben. Wir gingen zu Fuß weiter. Durch den Wald. Wir liefen und Hefen. Derjenige, der einen führt, kennt die versteckten Markierungen an den Bäumen. Es war ein

langer Marsch, acht bis zehn Kilometer. Wir gingen über die Grenze nach Schweden. Durch den Wald und dann durch Ackerland. Und mein Bruder, der in der Nacht, als es Fliegeralarm gegeben hatte, von uns getrennt worden war, erwartete mich. Er hatte befürchtet, seine ganze Familie verloren zu haben. Dann waren meine beiden jüngeren Brüder aufgetaucht und schließlich ich. Aber das war alles. Wir warteten auf meine Mutter und meinen verheirateten Bruder, aber sie kamen nicht.« Als sie geendet hatte, sagte ich: »Jetzt verstehe ich.« »Sagen Sie mir bitte: Was verstehen Sie?« »Bei den meisten Leuten ist es so: Wenn sie sagen, sie hätten ihre Kindheit nie verlassen, meinen sie, dass sie unschuldig wie ein Kind geblieben sind und dass ihr Leben immer schön war. Aber wenn Sie sagen, Sie hätten Ihre Kindheit nie verlassen, meinen Sie, dass Sie in dieser schrecklichen Geschichte geblieben sind – Ihr ganzes Leben war und blieb eine schreckliche Geschichte. Sie meinen, dass Sie in Ihrer Jugend so viel Schmerz auszuhalten hatten, dass Sie irgendwie immer dort geblieben sind.« »So ungefähr«, sagte sie. Es war spät, als ich ins Hotel zurückkehrte, doch ich schrieb sogleich alles auf, an das ich mich erinnern konnte: über Amys Flucht aus dem besetzten Norwegen ins neutrale Schweden, über die Jahre mit Lonoff und den Roman, den er nicht zu Ende geschrieben hatte, als sie in Cambridge, dann in Oslo und dann wieder in Cambridge gelebt hatten, wo er gestorben war. Drei oder vier Jahre zuvor hätte ich mir den Großteil ihres Monologs tagelang merken können – mein Gedächtnis war seit meiner

frühesten Kindheit eine starke Stütze und für einen, der aus beruflichen Gründen alles aufschreiben musste, der nötige Ballast gewesen. Jetzt aber, nicht einmal eine Stunde nachdem ich Amy verlassen hatte, musste ich geduldig darauf warten, dass sich Erinnerungen einstellten, um dann Stück für Stück und so gut es ging das zusammenzufügen, was sie mir anvertraut hatte. Anfangs war es ein Kampf, und oft fühlte ich mich hilflos und fragte mich, warum ich unbedingt etwas versuchen wollte, zu dem ich offenbar nicht mehr imstande war. Doch sie und ihr Schicksal hatten mich so sehr bewegt, dass ich nicht davon ablassen konnte, ich war zu sehr daran gewöhnt, alles niederzuschreiben, um mich nun von dieser Pflicht zu befreien, und zu abhängig von dieser Kraft, die meinen Geist leitete und ihn zu einem Teil von mir machte. Um drei Uhr morgens hatte ich auf fünfzehn beidseitig beschriebenen Bögen Hotelbriefpapier alles aufgeschrieben, an das ich mich erinnerte, und mich beim Schreiben nicht nur gefragt, welche dieser Geschichten sie Kliman erzählt haben mochte und wie er, der ausschließlich eigene Ziele verfolgte, diese Geschichten verdrehen, entstellen, missverstehen und falsch deuten würde, sondern auch, wie man sie von ihm befreien könnte, bevor er sie benutzte, um alles in Lug und Trug zu verwandeln. Und nicht zuletzt hatte ich mich gefragt, welche dieser Geschichten sie selbst abgewandelt, verdreht, entstellt, missverstanden und falsch gedeutet hatte. »Er fing an, ganz anders zu schreiben als sonst«, hatte sie mir gesagt. »Vorher hatte er immer versucht, möglichst viel wegzulassen, aber auf einmal ging es darum, möglichst viel hineinzubringen. Er betrachtete seinen lakonischen Stil als Hindernis, und trotzdem hasste er das, was er da schrieb.

Er sagte: ›Es ist langweilig. Es ist endlos. Es ist formlos. Planlos.« Ich sagte: ›Es folgt einem Plan, auf den du keinen Einfhiss hast. Es wird seinen eigenen Plan entwickeln.« ›Wann? Wenn ich tot bin?« Er wurde so bitter und verletzend – als Mann und auch als Schriftsteller, er war so vollkommen verändert. Aber er musste dem Aufruhr in seinem Leben einen Sinn verleihen, und so schrieb er an seinem Roman, kam wochenlang nicht voran und sagte: ›Ich kann das nie veröffentlichen. Niemand braucht dieses Buch. Meine Kinder hassen mich auch so schon genug.« Und immer war ich sicher, dass er es bereute, mit mir zusammenzusein. Meinetwegen hatte Hope ihn hinausgeworfen. Meinetwegen hatten seine Kinder sich gegen ihn gestellt. Ich hätte niemals bleiben sollen. Aber wie hätte ich gehen können, wenn es doch das war, was ich mir so lange gewünscht hatte? Er hat mir sogar gesagt, ich solle gehen. Aber ich konnte nicht. Allein hätte er nicht überlebt. Und dann hat er ja auch nicht überlebt.« Der Höhepunkt des Abends war die inständige Bitte, die Amy an mich richtete, als wir an der Tür standen und ich im Begriff war zu gehen. Zuvor hatte ich sie um einen Briefumschlag gebeten und alles Bargeld hineingetan, das ich bei mir hatte, bis auf die paar Dollar, die ich für das Taxi zum Hotel brauchen würde. Ich glaubte, so würde es ihr leichter fallen, das Geld anzunehmen. Ich gab ihr den Umschlag und sagte: »Nehmen Sie das. In ein paar Tagen schicke ich Ihnen einen Scheck. Ich möchte, dass Sie ihn einlösen.« Auf den Umschlag hatte ich meine Adresse und

Telefonnummer in den Berkshires geschrieben. »Ich weiß nicht, was ich gegen Kliman ausrichten kann, aber ich bin in der Lage, Ihnen finanziell zu helfen, und das möchte ich tun. Manny Lonoff hat mich wie einen Mann behandelt, als ich nichts weiter war als ein Junge, der ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht hatte. Seine Einladung war tausendmal mehr wert als das, was in diesem Umschlag ist.« Sie versuchte nicht, das Geschenk abzulehnen, wie ich es erwartet hatte, sondern streckte einfach die Hand aus und nahm den Umschlag, und dann begann sie zum erstenmal zu weinen. »Nathan«, sagte sie, »wollen Sie nicht Mannys Biograph sein?« »Ach, Amy. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ich bin kein Biograph. Ich bin Romanschriftsteller.« »Aber ist dieser schreckliche Kliman denn ein Biograph? Er ist ein Hochstapler. Er wird alles und jeden beschmutzen und das als die Wahrheit ausgeben. Er will Mannys Integrität zerstören – ohne das eigentlich zu wollen. Aber so macht man das heute eben: Man gibt den Autor der öffentlichen Missbilligung preis. Man stellt die endgültige Abrechnung über jeden einzelnen Fehltritt zusammen. Rufmord – damit erwerben sich diese kleinen Niemande heutzutage ihre jämmerliche Reputation. Die Werte, Verpflichtungen, Tugenden, Regeln, die jemand hat, sind nichts als Fassade, nichts als Tarnung für den ekelhaften Schleim, der sich darunter verbirgt. Liegt es an den besonderen Fähigkeiten dieser Leute, dass man so fasziniert ist von ihren Fehlern? Ist es eine Art Heuchelei, dass sie aus Fleisch und Blut bestehen? Ach, Nathan, ich hatte diesen verdammten Tumor, und ich habe manches falsch eingeschätzt. Ich habe mir mit diesem Menschen Fehler

erlaubt, die trotz dieses Tumors unverzeihlich sind. Und jetzt werde ich ihn nicht mehr los. Manny wird ihn nicht mehr los. Es wird nicht mehr so sein, dass es einst einen freien, einzigartigen Geist gab, der durch die Welt zog und den Namen E. I. Lonoff trug – nein, man wird alles nur noch aus dem Blickwinkel Klimans betrachten. Er wird alle Bücher, die Manny geschrieben hat, abtun, jedes wunderbare Wort, das er je geschrieben hat, und niemand wird die leiseste Ahnung davon haben, was dieser Mann war und wie schwer er gearbeitet hat und wie präzise er war und wofür und warum er geschrieben hat. Statt dessen wird dieser Kerl einen Mann, der so überaus aufrecht und pflichtgetreu und selbstkritisch war, der nur starke Werke schaffen wollte, die der Zeit standhalten, in jemanden verwandeln, der nichts weiter war als ein Paria. Das wird die Summe von Mannys Leistungen auf dieser Erde sein – das einzige Fragment seiner Persönlichkeit, an das man sich erinnern wird! Das man verunglimpfen wird! Darunter wird alles andere begraben sein!« Sie konnte nur den Inzest meinen. »Soll ich noch etwas bleiben?« fragte ich. »Darf ich noch einmal hereinkommen?« Wir kehrten in ihr Arbeitszimmer zurück, wo sie sich an den Schreibtisch setzte und mich verblüffte, indem sie geradeheraus – und ohne eine einzige Träne zu vergießen – sagte: »Manny hatte eine inzestuöse Beziehung mit seiner Schwester.« »Wie lange?« »Drei Jahre.« »Wie konnten sie das drei Jahre lang geheimhalten?« »Ich weiß es nicht. Mit der Raffinesse, die Liebende

haben. Mit Glück. Sie haben die Beziehung mit derselben Erregung verborgen gehalten, mit der sie sie begonnen hatten. Sie war nicht mit Qualen verbunden. Ich habe mich in ihn verliebt – warum nicht auch seine Schwester? Ich war seine Studentin, nicht mal halb so alt wie er – und er ließ es geschehen. Tja, und auch das hat er eben geschehen lassen.« Das also war das Thema seines Romans, den er nicht schreiben konnte, der Grund, warum er ihn nicht schreiben konnte und warum er gesagt hatte, dass er ihn nie würde veröffentlichen können. Solange er mit Hope verheiratet gewesen sei, sagte Amy, habe er nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass er eine Schwester gehabt habe, geschweige denn auch nur ein einziges Wort über ihrer beider verbotene jugendliche Lust geschrieben. Und nachdem sie von einem Freund der Familie ertappt worden seien und sich der Skandal unter ihren Nachbarn in Roxbury herumgesprochen habe, sei Frieda von den Eltern schleunigst weggebracht worden, um mit ihnen ein neues Leben in der moralisch einwandfreien Atmosphäre der Pioniergesellschaft im zionistischen Palästina zu beginnen. Manny sei als der Schuldige betrachtet worden, man habe ihn als Dämon bezeichnet, als Verführer der Schwester, als Urheber der Schande, die über die Familie gekommen sei, und ihn ausgestoßen, ihn in Boston zurückgelassen, wo er, mit siebzehn Jahren, sehen sollte, wie er zurechtkam. Wenn er in der Ehe mit Hope geblieben wäre, hätte er weiterhin seine brillanten elliptischen Kurzgeschichten geschrieben und nie auch nur ansatzweisc den Versuch unternommen, die verborgene Schande zu enthüllen. »Aber als er zum zweitenmal aus seiner Familie ausgestoßen wurde, weil er mit einer jüngeren Frau

zusammenlebte«, erklärte Amy, »und das Chaos Mannys Disziplin zum zweitenmal auf die Probe stellte, brach alles ein. Als seine Familie ihn in Boston zurückließ, war er erst siebzehn und hatte keinen Penny in der Tasche. Er war ein Verbannter. Doch so grausam diese Verbannung auch war – er war stark und überlebte und machte sich zu jemandem, der alles andere als ein Verbannter war. Aber beim zweitenmal, als seine Familie sich von ihm abkehrte, war er über fünfzig, und von diesem Schlag hat er sich nicht mehr erholt.« »Das ist das, was er über sein Leben als Siebzehnjähriger geschrieben hat«, sagte ich, »aber nicht das, was er Ihnen darüber erzählt hat.« Meine Bemerkung verwirrte sie. »Warum sollte ich Sie anlügen?« »Ich frage mich nur, ob Sie vielleicht etwas durcheinanderbringen. Sie sagen, dass er Ihnen das alles selbst erzählt hat und dass Sie es wussten, bevor er mit der Arbeit an dem Buch begann.« »Ich habe es erst erfahren, als das Buch ihn allmählich in den Wahnsinn trieb. Nein, vorher wusste ich nichts davon. Niemand aus seinem Erwachsenenleben wusste davon.« »Dann verstehe ich nicht, warum er es Ihnen erzählt hat, warum er nicht einfach gesagt hat: ›Es treibt mich zum Wahnsinn, weil es etwas ist, was ich nicht ergründen kann. Es treibt mich zum Wahnsinn, weil ich mich bemühe, mir etwas vorzustellen, was ich mir nicht vorstellen kann.‹ Er hat versucht, einer Aufgabe gerecht zu werden, der er nicht gewachsen war. Er hat sich nicht vorgestellt, was er getan hatte, sondern etwas, was er niemals tun konnte. Und damit war er nicht der erste.«

»Ich weiß, was er zu mir gesagt hat, Nathan.« »Bestimmt? Beschreiben Sie die Umstände, unter denen er Ihnen gesagt hat, dass das Buch, das er schrieb, im Gegensatz zu allem anderen, was er bis dahin zu Papier gebracht hatte, ganz und gar auf seiner eigenen Geschichte beruhte. Rufen Sie sich den Augenblick und den Ort ins Gedächtnis zurück. Erinnern Sie sich an die Worte, die gesagt wurden.« »Das alles ist hundert Jahre her. Wie soll ich mich daran erinnern?« »Aber wenn dies sein größtes Geheimnis war und wenn es so lange an ihm genagt hatte – ja selbst wenn es so lange unterdrückt gewesen war –, dann muss das Aussprechen dieses Geheimnisses so etwas gewesen sein wie die Beichte, die Raskolnikow bei Sonja ablegt. Nach all den Jahren, in denen er über die Verstoßung durch seine Familie geschwiegen hatte, muss seine Beichte etwas Unvergessliches gewesen sein. Sagen Sie es mir also. Sagen Sie mir, wie diese Beichte war.« »Warum greifen Sie mich so an?« »Amy, niemand greift Sie an, und ganz gewiss nicht ich. Hören Sie mir zu«, sagte ich, und als ich mich diesmal setzte, nahm ich mit Bedacht in Lonoffs Sessel Platz (»Was? Sie hier?«), um zu ihr zu sprechen. »Die Quelle für Mannys Inzestgeschichte war nicht sein eigenes Leben. Es war das Leben von Nathaniel Hawthorne.« »Was?« rief sie, als hätte ich sie aus tiefem Schlaf geweckt. »Habe ich da was verpasst? Wer spricht hier von Hawthorne?« »Ich. Mit gutem Grund.« »Sie bringen mich ganz durcheinander.«

»Das ist nicht meine Absicht. Hören Sie zu. Ich werde Sie nicht durcheinanderbringen. Ich will Ihnen alles erklären.« »Ach, das würde meinem Tumor sehr gefallen.« »Hören Sie bitte zu«, sagte ich. »Ich kann Mannys Biographie nicht schreiben, wohl aber die Biographie dieses Buches. Und Sie könnten es ebenfalls. Und wir werden es jetzt gemeinsam tun. Sie wissen, wie beweglich der Geist eines Schriftstellers ist. Er setzt alles in Bewegung. Er verschiebt alles, lässt es hierhin und dorthin gleiten. Wie es zu dem Plan für dieses Buch kam, liegt auf der Hand. Manny war überaus vertraut mit dem Leben anderer Schriftsteller, besonders der Schriftsteller aus Neuengland, in deren Heimat er mit Hope über dreißig Jahre lang gelebt hatte. Ware er hundert Jahre früher in den Berkshires zur Welt gekommen und aufgewachsen, dann wären Hawthorne und Melville seine Nachbarn gewesen. Er hatte ihre Werke studiert. Er hatte ihre Briefe so oft gelesen, dass er ganze Passagen auswendig konnte. Natürlich wusste er, was Melville über seinen Freund Hawthorne gesagt hatte. Dass Hawthorne ein ›großes Geheimnis‹ mit sich herumtrug. Und er wusste, wie gewisse von der herrschenden Lehrmeinung abweichende Literaturwissenschaftler diese Aussage sowie andere Bemerkungen gedeutet haben, die Familienangehörige und Freunde über Hawthornes Verschwiegenheit gemacht haben. Manny wusste von den schlauen, gelehrten, unbeweisbaren Vermutungen über Hawthorne und seine Schwester Elizabeth, und so hat er sich, als er nach einer Geschichte suchte, die seine eigene unwahrscheinliche Entwicklung beinhalten sollte – die ihm die Möglichkeit geben sollte, diese überraschenden neuen Gefühle zu untersuchen, die ihn, wie Sie sagen, in einen Mann

verwandelt hatten, der so ganz anders war als bisher –, diese Vermutungen über Hawthorne und seine schöne, bezaubernde ältere Schwester zu eigen gemacht. Für ihn, den gänzlich unautobiographischen, jedoch mit dem Genie zur vollkommenen Anverwandlung gesegneten Schriftsteller, war diese Entscheidung praktisch unvermeidlich. Sie räumte die Hindernisse aus dem Weg und gestattete es ihm, das Persönliche hinter sich zu lassen. Ein Roman war für ihn nie reine Abbildung von Wirklichkeit. Es war ein unablässiges Erproben der erzählerischen Form. Er dachte: Ich werde dies zu meiner Wirklichkeit machen.« Während ich meinerseits in sehr ähnlichen Bahnen dachte: Ich werde dies zu meiner, zu Amys, zu Klimans, zu jedermanns Wirklichkeit machen. Und das tat ich dann im Verlauf der nächsten Stunde, indem ich meine Theorie so glanzvoll vertrat, dass ich selbst daran glaubte.

4 Mein Gehirn

ER Warum heiratet eine Frau wie Sie mit Vier- oder Fünfundzwanzig? Zu meiner Zeit wäre es selbstverständlich gewesen, dass Sie in diesem Alter schon ein Kind gehabt hätten, vielleicht auch schon mit Zweiundzwanzig. Aber heute … Sagen Sie mir … Ich kenne mich nicht mehr aus. Ich war lange fort. SIE Tja, abgesehen von dem offensichtlichen Grund, dass ich jemanden kennengelernt habe, in den ich mich verliebt habe und der sich bis über beide Ohren in mich verliebt hat, jemanden, der … Jedenfalls, abgesehen von all den Gründen, die auf der Hand liegen, gab es eben auch den entgegengesetzten Grund: weil so etwas zu meiner Zeit niemand tat. Als Sie so alt waren wie ich, war es vielleicht ganz normal, aber ich war die einzige von allen in meinem College-Jahrgang, die einzige in meinem Freundeskreis, die nach dem Abschluss in Harvard nach New York gezogen ist und die (lacht) … die mit Fünfundzwanzig geheiratet hat. Es kam uns vor wie ein wildes Abenteuer auf das wir uns gemeinsam eingelassen haben. ER (ein wenig ungläubig) Ist das wahr? SIE Aber ja. (Lacht wieder.) Warum sollte ich denn lügen? ER Was haben Ihre Freunde dazu gesagt? SIE Die Leute waren … Niemand war schockiert. Alle haben sich gefreut. Aber ich war die erste. Die erste, die es gewagt hat, sich häuslich niederzulassen. Ich bin gern die

erste. ER Trotzdem haben Sie keine Kinder. SIE Nein, noch nicht. Nicht jetzt jedenfalls. Ich glaube, bevor das passiert, wollen wir beide beruflich noch ein bisschen gefestigter sein. ER Als Schriftsteller. SIE Ja. Ja. Das steht ja zum Teil auchhinter dem Plan, aufs Land zu gehen. Wir wollen arbeiten und nochmals arbeiten. ER Im Gegensatz zu? SIE Im Gegensatz zu arbeiten und hierzusein und in einer Stadtwohnung eingesperrt zu sein und ständig übereinanderzustolpern und ständig unsere Freunde zu sehen. Ich bin in letzter Zeit so nervös. Ich kann nicht stillsitzen. Ich kann nicht arbeiten. Ich kann gar nichts. Und darum glaube ich, wenn wir damit zurechtkommen, habe ich vielleicht bessere Chancen, etwas zu schaffen. ER Aber warum haben Sie sich diesen jungen Mann als Ehemann ausgesucht? Ist er der aufregendste Mensch, den Sie finden konnten? Sie wollten ein Abenteuer, haben Sie gesagt. Ich habe ihn kennengelernt. Ich mag ihn, er war mir gegenüber in den vergangenen vierundzwanzig Stunden extrem aufmerksam und rücksichtsvoll, aber ich würde sagen, dass Kliman eher ein Abenteuer ist. Er war Ihr Liebhaber auf dem College, nicht? SIE Eine Ehe mit Richard Kliman wäre unmöglich. Er steht ständig unter Strom. Seine Stärken liegen auf anderen Gebieten. Warum Billy? Er ist intelligent, er war interessant, wir konnten stundenlang reden, er hat mich nicht gelangweilt. Er ist nett, und man scheint allgemein zu glauben, dass ein netter Mensch nicht interessant sein

kann. Ich weiß natürlich, was er nicht ist: Er ist nicht leidenschaftlich, er ist kein Vulkan. Aber wer will schon einen Vulkan? Er kann sanft sein, er kann charmant sein, und er betet mich an. Er betet mich absolut an. ER Und beten Sie ihn ebenfalls an? SIE Ich liebe ihn sehr. Aber er betet mich auf eine andere Weise an. Er zieht für ein Jahr nach Massachusetts, weil ich dorthin will. Er will nicht dorthin. Ich würde das wohl nicht für ihn tun. ER Aber Ihnen gehört das Geld. Natürlich tut er es für Sie. Sie leben beide von Ihrem Geld, oder? SIE (erschrocken über seine Unverblümtheit) Wie kommen Sie darauf? ER Na ja, Sie haben eine Geschichte im New Yorker veröffentlicht, und von ihm ist bis jetzt noch gar nichts in einer Publikumszeitschrift erschienen. Wer bezahlt die Miete? Ihre Familie. SIE Aber es ist jetzt mein Geld. Es kommt von meiner Familie, aber es ist jetzt mein Geld. ER Dann lebt er also von Ihrem Geld. SIE Wollen Sie damit sagen, dass er deswegen mit mir nach Massachusetts geht? ER Nein, nein. Ich will damit sagen, dass er Ihnen in einem wichtigen Punkt verpflichtet ist. SIE Wahrscheinlich. ER Empfinden Sie nicht eine gewisse Überlegenheit, weil Sie Geld haben und er nicht? SIE Wahrscheinlich schon. Viele Männer würden sich in einer solchen Situation sehr unwohl fühlen. ER Und viele würden sich sehr wohl fühlen.

SIE Ja, viele würden das sehr genießen. (Lacht.) Aber er gehört weder zu der einen noch zu der anderen Sorte. ER Ist es viel Geld? SIE Geld ist kein Problem. ER Da haben Sie ja Glück. SIE (beinahe verwundert, als wäre sie jedesmal erstaunt, wenn es ihr einfällt) Ja. Großes Glück. ER Ist es Ölgeld? SIE Ja. ER Ist Ihr Vater ein Freund von George Bushs Vater? SIE Sie sind nicht befreundet. Bush senior ist etwas älter als mein Vater. Sie haben geschäftlich miteinander zu tun. (Mit Nachdruck.) Sie sind nicht befreundet. ER Aber ihre Eltern haben ihn gewählt. SIE (lacht) Wenn nur Bushs Freunde für ihn gestimmt hätten, würde es uns viel bessergehen. Oder etwa nicht? Das ist eine ganz bestimmte Welt. Sie leben in ein und derselben Welt. Mein Vater – und (sie macht ein Geständnis) dasselbe gilt wahrscheinlich auch für mich – hat dieselben finanziellen Interessen wie Bush und sein Vater. Aber sie sind nicht befreundet, das würde ich nicht sagen. ER Sie haben keinen gesellschaftlichen Umgang? SIE Sie begegnen sich vielleicht mal auf einer Party. ER Und im Country Club? SIE Ja. Im Houston Country Club. ER Ist das ein Club, wo nur reinblütige weiße Christen aufgenommen werden? SIE Ja. Reinblütige weiße christliche Familien aus dem

neunzehnten Jahrhundert. Das alte Houston. Es finden eine Menge Debütantinnenbälle dort statt. Die Mädchen werden im Club in die Gesellschaft eingeführt. Ein Rausch in Weiß. Und alles tanzt, trinkt und kotzt. ER Sind Sie als Mädchen dort schwimmen gegangen? SIE In den Sommern war ich jeden Tag dort, um zu schwimmen oder Tennis zu spielen, außer montags, wenn der Club geschlossen war. Meine Freundin und ich haben dem australischen Tennistrainer geholfen, indem wir die Bälle aufgesammelt haben, wenn er Stunden gab. Ich war vierzehn. Meine Freundin war zwei Jahre älter als ich und viel durchtriebener, und sie hat mit ihm geschlafen. Der Trainerassistent war der hübsche Sohn eines Clubmitglieds. Er war Kapitän der Tennismannschaft von Tulane. Ich hab nicht mit ihm geschlafen, aber sonst haben wir nichts ausgelassen. Ein kalter Fisch. Es hat keinen Spaß gemacht. Teenagersex ist schrecklich. Man versteht gar nichts, und die meiste Zeit versucht man herauszukriegen, ob man überhaupt dazu imstande ist, und es ist einfach nur unerfreulich. Einmal hab ich gekotzt, Gott sei Dank auf ihn, als er mir seinen Schwanz zu tief in die Kehle geschoben hat. ER Und dabei waren Sie noch ein Mädchen. SIE Waren die Mädchen in den vierziger Jahren anders? ER Ganz anders. Louisa May Alcott hätte sich in meiner Highschool sehr wohl gefühlt. Sind Sie in die Gesellschaft eingeführt worden? Waren Sie eine Debütantin? SIE Ach, jetzt erforschen Sie meine schmutzigen Geheimnisse. (Lacht ausgelassen.) Ja, ja, ja. Ich war eine Debütantin. Es war schrecklich. Ich habe jede Sekunde gehasst. Meiner Mutter war es so wichtig. Wir haben uns

immer gestritten. Meine ganze Schulzeit hindurch haben s für sie getan. (Sie lacht jetzt leiser – das Spektrum ihres Lachens ist bemerkenswert und auch ein weiteres Anzeichen dafür, wie wohl sie sich in ihrer Haut fühlt.) Und sie hat das zu würdigen gewusst. Ja. Es war wahrscheinlich richtig. Als ich dann aufs College ging, sagte meine Mutter, die in Savannah geboren ist: »Sei nett zu diesen Mädchen von der Ostküste, Jamie Hallie.« ER Und haben Sie sich in Harvard den anderen Debütantinnen angeschlossen? SIE In Harvard verrät man nicht, dass man Debütantin war. ER Nein? SIE Nein. Darüber spricht man nicht. Man behält sein schmutziges Geheimnis für sich. (Beide lachen.) ER Aber Sie haben sich in Harvard mit anderen reichen Töchtern angefreundet. SIE Mit einigen. ER Und? Wie war das? SIE Was wollen Sie wissen? ER Ich weiß gar nichts. Ich war in einer anderen Zeit auf einer anderen Universität. SIE Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich da erzählen soll. Wir waren Freundinnen. ER Waren sie wie Billy – interessant und nie langweilig? SIE Nein. Sie waren hübsch, sehr gut angezogen, sehr überlegen. Oder jedenfalls dachten sie – wir – das. ER Wem überlegen? SIE Diesen nicht so gut angezogenen Mädchen aus Wisconsin mit den dünnen Haaren, die so gut in den

Naturwissenschaften waren. (Lacht.) ER Und worin waren Sie gut? Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, dass Sie Schriftstellerin werden wollen? SIE Das wollte ich schon ziemlich früh. Ich glaube, schon auf der Highschool. Ich habe schwer dafür gearbeitet. ER Sind Sie gut? SIE Ich hoffe es. Ich fand mich immer ziemlich gut. Ich habe bisher nur nicht sehr viel Glück gehabt. ER Die Geschichte im New Yorker. SIE s geschafft, aber dann (eine ausladende Geste) – wusch … ER Wie lange ist das her? SIE Fünf Jahre. Es war eine wunderbare Zeit. Ich habe geheiratet. Meine erste Geschichte erschien im New Yorker. Aber jetzt habe ich das Selbstvertrauen verloren und kann mich nicht mehr konzentrieren. Sie wissen ja, dass Konzentration entscheidend oder jedenfalls sehr wichtig ist. Das treibt mich zur Verzweiflung, und das wiederum bewirkt, dass ich mich noch weniger konzentrieren kann und mein Selbstvertrauen noch mehr verliere. Ich habe das Gefühl, ein Mensch zu sein, der nichts mehr zustande bringt. ER Darum sprechen Sie mit mir. SIE Wie bringen Sie diese beiden Dinge in Zusammenhang? ER Vielleicht haben Sie das Selbstvertrauen gar nicht so sehr verloren, wie Sie denken. Sie machen jedenfalls nicht den Eindruck, als hätten Sie kein Selbstvertrauen. SIE Nicht, wenn es um Männer geht. Nicht, wenn es um

Menschen im allgemeinen geht. Aber wenn ich vor meinem Computer sitze, habe ich immer weniger Selbstvertrauen. ER Und wenn Sie in meinem Haus sitzen, neben dem Sumpf, und Ihnen nur das Schilf und der Reiher vor dem Fenster Gesellschaft leisten … SIE Ja, das spielt bei diesem Plan eine Rolle. Dort gibt es keine Männer, keine Menschen, keine Partys. Ich werde das, was ich brauche, nicht aus einer dieser Quellen schöpfen können, und ich werde, wie zu hoffen ist, nicht so überarbeitet sein, ich werde, wie zu hoffen ist, nicht so abgespannt sein, ich werde, wie zu hoffen ist, nicht mehr mit den Nerven am Ende sein, und ich glaube – ER Sie über strapazieren die Wendung »wie zu hoffen ist«. SIE (lacht und sagt – zu seiner Überraschung – schüchtern) Tatsächlich? Tue ich das? ER »Hoffentlich« wäre völlig ausreichend. Sie könnten auch »mit etwas Glück« sagen. In alten Zeiten, als man wohlerzogenen Mädchen noch nicht seinen Penis in den Rachen schob, hörte man »wie zu hoffen ist« so gut wie nie. Das eher gewöhnliche »hoffnungsfroh« wurde manchmal anstelle von »in Hoffnung auf« gebraucht, aber das war dann auch schon alles – damals, als ich so alt war wie Sie und Schriftsteller werden wollte. SIE Tun Sie das nicht. Das haben Sie gestern auch schon s nicht noch mal. ER Ich habe nur Ihren Stil ein wenig korrigiert. SIE Ich weiß. Tun Sie das nicht. Wenn Sie reden wollen, dann lassen Sie uns reden. Sollte ich Ihnen je etwas zu lesen geben, was ich geschrieben habe und von dem ich möchte, dass Sie es lesen, können Sie meinen Stil gern korrigieren.

Aber wenn wir uns unterhalten, ist das kein Examen. Wenn ich anfange zu denken, es ist ein Examen, kann ich nicht mehr frei sprechen. Also tun Sie das bitte nicht. (Sie hält inne.) Aber es stimmt: Der Gedanke ist, dass ich, wenn ich mein Selbstvertrauen nicht mehr aus den gesellschaftlichen Kontakten schöpfe, mehr Energie in die Arbeit stecken werde, und dann wird mein Selbstvertrauen, wie zu hoffen ist, wieder zurückkehren. Hören Sie auf, mich auszulachen. ER Ich lache, weil Sie, die Sie sich diesen Mädchen aus Wisconsin mit den dünnen Haaren so überlegen gefühlt haben, sich nicht korrigieren. Weil Sie sich nicht korrigieren wollen. SIE Weil ich meinem Gedankengang gefolgt bin und nicht daran gedacht habe, ob Sie mit mir und meiner Wortwahl einverstanden sind oder nicht. ER Was glauben Sie, warum ich das tue? SIE Um Ihre Überlegenheit zu demonstrieren? ER Mit »wie zu hoffen ist«? Wie dumm von mir. SIE Ja (lacht), wie dumm von Ihnen. ER Ich schätze, ich habe Angst vor Ihnen. SIE (lange Pause) Ich habe ein wenig Angst vor Ihnen. ER Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich Angst vor Ihnen haben könnte? SIE Nein, ich habe nie gedacht, dass Sie Angst vor mir haben könnten. Mir ist wohl der Gedanke gekommen, dass Sie sich an mir freuen, dass Sie gern in meiner Gesellschaft sind, aber nie, dass Sie Angst vor mir haben könnten. ER Habe ich aber. SIE Warum? ER Was glauben Sie? Sie schreiben. Wie zu hoffen ist.

SIE (lacht) Sie doch auch. (Hält inne.) Die einzigen Gründe, die mir einfallen, sind, dass ich jung bin, dass ich eine Frau bin, dass ich gut aussehe. Aber ich werde nicht immer jung sein, und dann wird die Tatsache, dass ich eine Frau bin, nicht mehr so wichtig sein, und was das gute Aussehen betrifft – was hat das damit zu tun? Aber vielleicht gibt es andere Gründe, von denen ich nichts weiß. Was glauben Sie? ER Ich hatte noch keine Gelegenheit, es herauszufinden. SIE Wenn Ihnen irgendwelche anderen Gründe einfallen, würde ich sie gern erfahren. Wenn Sie auch bloß die drei s mir nicht zu sagen. Aber wenn Ihnen andere einfallen, würden Sie mir sehr helfen, indem Sie sie mir verraten. ER Sie verströmen Selbstvertrauen. Die Art, wie Sie dasitzen, die Arme über dem Kopf gekreuzt, wie Sie Ihr Haar mit den Händen hochhalten, damit ich sehe, dass Sie so nicht weniger schön sind. All das verrät Ihre Haltung. Sie verströmen Selbstvertrauen, wenn Sie lächeln. Sie verströmen Selbstvertrauen mit Ihrer Gestalt, mit Ihrem Körper. Ihr Körper muss Ihnen Selbstvertrauen geben. SIE Das tut er. Aber er wird mir kein Selbstvertrauen gegenüber dem Sumpf und dem Reiher geben. Dort muss ich mein Selbstvertrauen hier drinnen finden. (Sie neigt den Kopf.) ER In Ihrem Kopf, nicht in Ihren Brüsten. SIE Ja. ER Geben Ihre Brüste Ihnen Selbstvertrauen? SIE Ja. ER Erzählen Sie mir mehr davon.

SIE Davon, dass meine Brüste mir Selbstvertrauen geben? Ich weiß, dass ich etwas habe, was anderen Menschen gefällt, auf das andere Menschen neidisch sind, das andere Menschen begehren. Das Vertrauen darauf, dass man begehrt wird – das ist Selbstvertrauen. Dass man Anklang findet, einen guten Ruf genießt, dass andere sich nach einem sehnen – wenn man das weiß, hat man Selbstvertrauen. Ich weiß, dass ich alles, was mit diesen – ER Mit Ihren Brüsten. SIE – mit meinen Brüsten zu tun hat, gut kann. ER Sie sind ein Original, Jamie. Von Ihnen gibt es nicht eine Million Kopien. SIE Man findet heraus, was die Leute wollen, man findet heraus, was die Leute beeindruckt, und wenn man ihnen dann etwas gibt, was sie beeindruckt, dann kriegt man, was man will. ER Und was beeindruckt mich? Was will ich? Oder wollen Sie mich etwa nicht beeindrucken? SIE Oh, ich mochte Sie sehr gern beeindrucken. Ich sehe zu Ihnen auf. Sie sind für mich ein großes Rätsel, müssen Sie wissen. Sie faszinieren mich sehr. ER Wieso fasziniere ich Sie? SIE Weil außer dem Reiher vor Ihrem Fenster niemand etwas über Sie weiß. Über berühmte Menschen weiß jeder alles – jedenfalls denkt man das. Aber Sie – Sie haben diese Bücher geschrieben, die Sie in einer bestimmten Gruppe von Leuten berühmt gemacht haben. Sie sind kein Tom Cruise. (Lacht.) ER Wer ist Tom Cruise? SIE Jemand, der so berühmt ist, dass Sie nicht mal wissen,

wer er ist. Das ist Tom Cruise. Wer tagein, tagaus all die Klatschillustrierten liest, weiß natürlich gar nichts über diese berühmten Menschen, aber er könnte sich einbilden, alles über sie zu wissen. Doch niemand kann sich einbilden, irgend etwas über Sie zu wissen. ER Jedesmal, wenn ich ein Buch veröffentliche, denken die Leute, dass sie alles über mich wissen. SIE Das sind Idioten. In Wirklichkeit sind Sie ein Rätsel. ER Sie wollen ein Rätsel beeindrucken. SIE Ja. Ja, ich will Sie beeindrucken. Womit kann ich Sie beeindrucken? ER Ihre Brüste beeindrucken mich. SIE Sagen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß. ER Alles an Ihnen beeindruckt mich. SIE Was noch? ER Ihr Intellekt. Ich weiß, dass das etwas ist, was man nach den heutigen Regeln sagen muss, aber ich halte mich nicht an die heutigen Regeln. SIE Stimmt es, dass mein Intellekt Sie beeindruckt, oder stimmt es nicht? ER Soweit schon. SIE Noch etwas? ER Ihre Schönheit. Ihr Charme. Ihre Eleganz. Ihre Freimütigkeit. SIE s. ER Billy hat es. SIE Das stimmt. ER Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass Billy Sie anbetet? Wie sieht diese Anbetung aus?

SIE Wenn wir in Texas sind, will er sehen, wo ich als Kind gespielt habe. Er will auf der Schaukel sitzen, auf der mein Kindermädchen mich hat schaukeln lassen, und die Wippe, auf der sie und ich gesessen haben, als ich vier war. Er hat sich von mir Kinkaid zeigen lassen, meine Schule, damit er das Klassenzimmer der dritten Klasse besichtigen konnte, wo wir Butter gemacht haben, und das der vierten Klasse, wo wir ein Experiment mit einer Petrischale gemacht haben. Ich bin mit ihm in die Schulbibliothek gegangen, weil ich im Club der Bibliothek war, in den nur die besten Schüler aufgenommen wurden, und dort hat er am Fenster gestanden und das üppig begrünte Schulgelände betrachtet, als wäre er ein romantischer Dichter, der einen Regenbogen sieht. Er wollte das große Spielfeld sehen, wo ich in der vierten Klasse beim Stelzenlaufen mitgemacht habe, und damals war alles geschmückt wie bei einem mittelalterlichen Turnier, mit roten und goldfarbenen Flaggen überall, so dass ich ganz aufgeregt war und drei Meter nach dem Start hingefallen bin, obwohl ich doch eigentlich die Schnellste war und hätte gewinnen sollen. Wir mussten vom Haus meiner Eltern in River Oaks zur Schule fahren, damit er die Vorgärten und Bäume und Büsche und Häuser sehen konnte, an denen unser Chauffeur auf den acht Kilometern nach Kinkaid vorbeigefahren ist. In Houston joggt er nur auf der Strecke, die ich mir mit fünfzehn ausgesucht hatte. Bei Billy nimmt das kein Ende. Meine Ichheit ist sein magnetischer Pol. Wenn ich träume, dass ich mit jemandem Sex habe – diese Träume, die jeder mal hat, ganz gleich, ob Mann oder Frau –, dann ist er eifersüchtig auf meine Träume. Wenn ich aufs Klo gehe, ist er eifersüchtig auf das Klo. Er ist eifersüchtig auf meine Zahnbürste. Er ist eifersüchtig auf meine

Haarspange. Er ist eifersüchtig auf meine Unterwäsche. In der Tasche jeder Hose, die er hat, sind Stücke meiner Unterwäsche. Ich finde sie, wenn ich seine Sachen in die Reinigung bringe. Reicht das oder wollen Sie noch mehr hören? ER Dann heißt Anbetung, dass er nicht nur Sie liebt, sondern Ihr ganzes Leben. SIE Ja, mein Leben ist für ihn ein einziges Wunder. Ich höre von ihm nur Worte schwärmerischer Liebe. Wenn ich mich an- oder ausziehe, ist es, als stünde ich an einem Fenster, an das er sein Gesicht drückt. ER Er findet Ihre Kurven nicht weniger faszinierend als die Wippe. SIE Wenn ich, von hinten beleuchtet, im Schlafzimmer stehe, preist er meine Silhouette. Wenn ich in der Küche Kaffee koche und nichts weiter anhabe als eine Unterhose, kommt er von hinten, streichelt meine Brüste, knabbert an meinen Ohren und zitiert Keats: »Ein Seufzer heißt: ›Ja‹, ein Seufzer heißt: ›Nein‹, / Ein Seufzer: › s nicht ertragen!‹ n? / Sollen den Biss in den Apfel wir wagen?« ER Also, wenn Billy aus dem Gedächtnis ein Liebesgedicht von Keats zitieren kann, ist er ein seltener Vertreter seiner Generation. SIE Das tut er. Das ist er. Er zitiert für mich Verse von Keats. ER letztem Brief? Als er ihn schrieb, war er fünf Jahre jünger als Sie und schwerkrank. Wenige Monate später war er tot. »Ich habe das Gefühl, als wäre mein wirkliches Leben vorbei«, schrieb er, »und als würde ich eine postume Existenz fristen.«

SIE Nein, seine Briefe kenne ich nicht. Und postume Existenzen sind mir noch nicht untergekommen. ER Sagen Sie mir: Wie findet das Objekt dieser Anbetung die Kraft, sie zu ertragen? SIE Ach (lacht zärtlich), ich weiß, was sich gehört. ER All diese sexuelle Aufmerksamkeit ist auf Sie gerichtet, und dennoch sind Sie rastlos und verzweifelt. SIE Wir haben viel Sex. Aber für den einen Partner ist Sex nicht immer so unglaublich aufregend wie für den anderen. Das ist oft nur am Anfang einer Beziehung so. ER Ich erinnere mich. SIE Wann hatten Sie zuletzt eine Affäre mit einer Frau? ER Als Sie eine Debütantin waren. SIE War es schwer, so lange darauf zu verzichten? Haben Sie seitdem keinen Sex mehr gehabt? ER Nein. SIE War das schwer? ER Ab einem gewissen Punkt ist alles schwer. SIE Ich meine: besonders schwer. (Ihre Stimmen sind jetzt sehr leise – wenn draußen ein Wagen vorbeifährt, kann man sie kaum verstehen.) ER ES gehört zu den Dingen, die besonders schwer sind. SIE Warum? Ich weiß, dass Sie auf dem Land leben, am Ende der Welt, aber es muss doch … Sie haben gesagt, dass es in der Nähe ein College gibt. Ich weiß, wie alt Sie sind, aber dort muss es doch Studentinnen geben, die Ihre Bücher gelesen haben und die sehr beeindruckt wären. Warum? Warum haben Sie beschlossen, nicht nur das Stadtleben, sondern auch das aufzugeben?

ER Es hat beschlossen, mich aufzugeben. SIE Wie meinen Sie das? ER So, wie ich es gesagt habe. SIE Das verstehe ich nicht. ER Das können Sie nicht verstehen. SIE Nur, wenn Sie es mir nicht erklären. Würden Sie den Entschluss, auch das aufzugeben, nicht rückgängig machen? ER Ich mache ihn ja rückgängig. Deswegen bin ich immer noch hier. SIE Tja … Ich bin geschmeichelt. Wenn es stimmt, dass es Jahre her ist, bin ich überaus geschmeichelt. ER Jamie. Jamie Logan. Jamie Hallie Logan. Sprechen Sie irgendwelche Fremdsprachen, Jamie? SIE Nicht gut. ER Sie sprechen ein gutes Englisch. Ihr texanischer Akzent gefällt mir. SIE (lacht) Als ich aufs College gegangen bin, habe ich mir große Mühe gegeben, ihn abzulegen. ER Tatsächlich? SIE Ja. ER Ich habe gedacht, Sie hätten ihn betont. SIE Es war dasselbe, wie niemandem zu verraten, dass ich eine Debütantin gewesen war. Wie niemandem zu verraten, dass ich in demselben Country Club war wie George Bush senior und junior. ER Aber Sie haben ihn noch. SIE Aber ich bemühe mich, ihn zu unterdrücken. Ich spreche ihn nur, wenn ich ironisch sein will. Als ich nach

Harvard ging, war er noch ganz intakt, aber ich habe ihn bald abgelegt. ER Schade. SIE Ich kannte dort niemanden. Ich war achtzehn und zog in das Studentinnenheim ein, und als ich das erstemal den Mund aufmachte, dachten alle, ich sei die letzte Hinterwäldlerin. Von da an habe ich meinen texanischen Akzent unterdrückt. Im Vergleich zu den meisten anderen Studienanfängern dort war ich wirklich sehr naiv. Und im Vergleich zu den Studenten, die aus Manhattan stammten, war ich tatsächlich die letzte Hinterwäldlerin. Sie waren regelrecht beängstigend. Heute hört man meinen Akzent, weil ich mit den Nerven fertig bin. Vielleicht ist er ein bisschen ausgeprägter als sonst. Wenn ich mit den Nerven fertig bin, kommt er deutlicher heraus. ER Sie lassen keinen Trick aus. Sie finden immer eine Erklärung. SIE Na ja, ich kenne mich eben. Ganz gut. Glaube ich. ER Das waren drei Behauptungen: Ich kenne mich eben. Ganz gut. Glaube ich. SIE Wissen Sie, wer so schreibt? Conrad. ER In Dreiergruppen. SIE Ja. Conrads Dreiergruppen. Sind Ihnen die aufgefallen? (Sie zeigt ihm ein Taschenbuch, das unter einer Zeitschrift auf der Glasplatte des Couchtisches gelegen hat.) Ich habe mir Die Schattenlinie gekauft. Sie haben das Buch erwähnt, und ich bin zu Barnes and Noble gegangen und hab es mir gekauft. Sie haben die Passage neulich genau richtig zitiert. Sie haben ein gutes Gedächtnis. ER Für Bücher, nur für Bücher. Und Sie verlieren keine Zeit.

SIE Hören Sie sich das an. Die Triaden, das Drama der Triaden. Hier, auf Seite 35 – er hat gerade sein erstes Kommando bekommen und ist überglücklich. »Ich schwebte die Treppe hinunter. Ich schwebte durch das große, beeindruckende Portal. Ich schwebte davon.« Oder auf Seite 47, noch immer in Ekstase: »Ich dachte an mein unbekanntes Schiff. Es war Vergnügen genug, Qual genug, Beschäftigung genug.« Auf Seite 53 beschreibt er das Meer: »Eine immense Weite, die keinen Eindruck trägt, keine Erinnerungen bewahrt, kein Leben verzeichnet.« Er macht das die ganze Zeit, verstärkt gegen Ende. Seite 131: »Aber ich werde Ihnen sagen, Captain Giles, wie ich mich fühle. Ich fühle mich alt. Und ich muss alt sein.« Seite 130: »Er sah aus wie eine verängstigte, herausgeputzte Vogelscheuche, auf das Heck eines vom Tod gezeichneten Schiffs gesetzt, um die Seevögel von den Leichen fernzuhalten.« Seite 129: »Das Leben war eine Wohltat für ihn – dieses gefährliche, schwere Leben –, und er war sehr beunruhigt über sich selbst.« Seite 125: »Mr. Burns rang die Hände und stieß plötzlich einen Schrei aus.« Und dann – eins: »Wie soll das Schiff ohne Besatzung in den Hafen einlaufen?« Im nächsten Abschnitt – zwei: »Und ich konnte es ihm nicht sagen.« Und dann, im nächsten Abschnitt – drei: »Nun, es geschah etwa vierzig Stunden später.« Und dann noch einmal von vorn, noch immer auf Seite

125: »Die letzte Nacht werde ich nie vergessen – dunkel, windig, sternklar. Ich steuerte.« Der Abschnitt geht weiter, und der nächste beginnt: »Und ich steuerte …« ER (Alles dient dem Flirt, auch die Zitate von Conrad.) Lesen Sie mir den ganzen Abschnitt vor. SIE »Und ich steuerte, zu müde, um Angst zu empfinden, zu müde, um zusammenhängende Gedanken zu denken. Ich erlebte Augenblicke grimmigen Jubels, und dann sank mein Herz bei dem Gedanken an die Back am anderen Ende des dunklen Decks, die voller fiebernder Männer war – von denen einige im Sterben lagen. Durch meine Schuld. Doch ich schob das beiseite. Die Reue musste warten. Ich musste steuern.« Ich könnte noch mehr vorlesen. (Sie legt das Buch beiseite.) Ich mag es, Ihnen vorzulesen. Billy lässt sich nicht gern vorlesen. ER Steuern. Ich musste steuern. Haben Sie noch mehr von Conrad gelesen? SIE Früher. Eine ganze Menge. ER Was hat Ihnen am besten gefallen? SIE Haben Sie mal die Erzählung »Jugend« gelesen? Wunderbar. ER »Taifun«? SIE Großartig. ER Als Sie noch dort unten in Texas waren und im Bikini mit all den anderen Millionärstöchtern im Country Club am Swimmingpool gelegen haben – haben Sie da gelesen? SIE Seltsam, dass Sie mich das fragen. ER Waren Sie die einzige, die gelesen hat?

SIE Ja. Ich war die einzige. Als ich noch jünger war, als ich noch richtig jung war, gab es einen Punkt, wo es wirklich lächerlich war. Eines Tages wurde ich beim Lesen ertappt, und es war so peinlich, dass ich damit aufhörte. Ich versteckte mein Buch in einem Teenager-Magazin, damit niemand sehen konnte, was ich las. Aber das ließ ich dann bleiben. Dabei ertappt zu werden war so viel peinlicher, als einfach ein Buch zu lesen, dass ich schließlich damit aufhörte. ER Welche Bücher haben Sie denn in diesem Magazin versteckt? SIE Als ich ertappt wurde, war ich dreizehn, und das Buch war Lady Chatterley. Die anderen machten sich darüber lustig, aber wenn sie es mal gelesen hätten, wäre ihnen aufgegangen, dass es viel pikanter war als diese TeenagerMagazine. ER Hat Lady Chatterley Ihnen gefallen? SIE Lawrence gefiel mir sehr. Aber Lady Chatterley war nicht mein Lieblingsbuch. Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht, aber ich habe es damals nicht ganz verstanden. Anna Karenina habe ich mit Fünfzehn gelesen. Zum Glück habe ich es später noch einmal gelesen. Ich habe schon immer Bücher gelesen, für die ich noch nicht bereit war. (Lacht.) Aber das hat mir nicht geschadet. Ja, das ist eine gute Frage: Was habe ich mit Vierzehn gelesen? Hardy. Ich habe Hardy gelesen. ER Welche Bücher? SIE Ich erinnere mich an Urhervilles. Ich erinnere mich an … Wie heißt das andere? Es ist komisch. Nicht Herzen im Aufruhr. Wie heißt das andere? ER Sie meinen das, in dem der Rötelhändler vorkommt?

Am grünen Rand der Welt? SIE Ja. Am grünen Rand der Welt. ER ES gibt noch ein anderes, in dem ein Rötelhändler vorkommt. Wie heißt es noch? Mit einer Heldin, einer tragischen Heldin. Ach, mein Gedächtnis. (Doch sie hört die drei Worte seiner Klage nicht – sie ist zu sehr damit beschäftigt, sich an ihr vierzehntes Lebensjahr zu erinnern. Und das tut sie mit solcher Leichtigkeit.) SIE Sturmhöhe. Ach, Sturmhöhe habe ich geliebt. Da war ich noch etwas jünger, vielleicht zwölf oder dreizehn. Ich bin durch Jane Eyre darauf gekommen. ER Und jetzt Männer. SIE (mit einem kleinen, mittlerweile vertrauten Gähnen) Ist das ein Einstellungsgespräch? ER Ja. Das ist ein Einstellungsgespräch. SIE Und welcher Job wartet auf mich? ER Der Job, den Mann, der Sie anbetet, zu verlassen und mit einem Mann zusammenzuleben, dem Sie vorlesen können. SIE Sie müssen verrückt sein. ER Das stimmt, aber was macht das schon? Dass ich hier bin, ist verrückt. Dass ich in New York bin, ist verrückt. Der Grund, warum ich nach New York gekommen bin, war verrückt. Hier zu sitzen und mit Ihnen zu reden ist verrückt. Hier zu sitzen und nicht imstande zu sein, Sie zu verlassen, ist verrückt. Ich kann Sie heute nicht verlassen, und ich konnte Sie gestern nicht verlassen, und darum führe ich ein Einstellungsgespräch mit Ihnen, um zu klären, ob Sie geeignet sind, Ihren jungen Ehemann zu verlassen und eine postume Existenz mit einem

Einundsiebzigjährigen zu fristen. Lassen Sie uns weitermachen. Lassen Sie uns weitermachen mit dem Einstellungsgespräch. Erzählen Sie mir von Männern. SIE (leise jetzt und beinahe wie in Trance) Was wollen Sie wissen? ER (ebenso leise) Ich will vor Eifersucht sterben. Erzählen Sie mir von allen Männern, mit denen Sie zusammengewesen sind. Sie haben mir von dem Jungen erzählt, der Kapitän der Tennismannschaft von Tulane war und Ihnen, als Sie vierzehn waren, seinen Schwanz so tief in die Kehle geschoben hat, dass Sie ihn vollgekotzt haben. Und obwohl es schon recht schwer war, mir das anzuhören, will ich anscheinend noch mehr hören. Ja, erzählen Sie mir mehr. Erzählen Sie mir alles. SIE Tja, mein erster Mann. Mein erster Liebhaber. Er war mein Lehrer. Auf der Highschool. Im letzten Schuljahr. Er war vierundzwanzig. Und er war … Er hat mich verführt. E R Wie alt waren Sie da? SIE Das war drei Jahre später. Ich war siebzehn. ER Und zwischen vierzehn und siebzehn ist nichts passiert? SIE Doch, es gab ein paar jugendliche Ausrutscher. ER Alles Ausrutscher? Nichts Aufregendes? SIE Doch, manche waren aufregend. Es war aufregend, als ein Erwachsener im altehrwürdigen Houston Country Club mir das T-Shirt hochzog und an meinen Brustwarzen saugte. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich hab es niemandem erzählt. Ich habe darauf gewartet, dass er es noch einmal tun würde. Aber er hatte wohl zuviel Angst, denn als ich ihn das nächste Mal sah, tat er, als wäre nichts geschehen. Er war ein Freund meiner älteren Schwester.

Anfang Dreißig. Er hatte sich gerade mit der schönsten Freundin meiner Schwester verlobt. Ich hab so geweint. Ich dachte, dass er mich links liegen ließ, weil irgend etwas mit mir nicht stimmte. ER Wie alt waren Sie da? SIE Das war noch früher. Ich war dreizehn. ER Erzählen Sie weiter. Ihr Lehrer. SIE Er war ein ganz eigenständiger Mensch. Er hat nicht versucht, irgend jemanden zu beeindrucken. (Lacht.) Aber er war eben auch kein Schüler. Er war älter. Das war beeindruckend genug. ER Für Sie war er wahrscheinlich viel älter. Sagen Sie mir: Erscheint ein Vierundzwanzigjähriger einem siebzehnjährigen Mädchen älter, als ein Einundsiebzigjähriger einer dreißigjährigen Frau erscheint? Findet ein dreizehnjähriges Mädchen einen Dreißigjährigen älter als eine dreißigjährige Frau einen Einundsiebzigjährigen? Früher oder später müssen wir über diese Frage sprechen. SIE (nach einer langen Pause) Ja, dieser Lehrer erschien mir viel, viel alter. Er stammte aus Maine. Das war für mich so exotisch. Wunderbar exotisch. Er war nicht aus Texas, und er hatte kein Geld. Darum arbeitete er ja auch als Lehrer. Er war ein begeisterter Lehrer. Nach dem College hatte er zwei Jahre lang an dem Programm »Unterricht für Amerika« teilgenommen. Wofür man ja kein Geld bekommt. ER Was ist »Unterricht für Amerika«? SIE Oje, Sie sind wirklich nicht auf dem laufenden. Es ist ein Programm, bei dem College-Absolventen zwei Jahre umsonst an den ärmsten Schulen unterrichten, Schüler aus

den »unterprivilegierten« Schichten. ER Das Wort »unterprivilegiert« gefällt Ihnen nicht. SIE (lacht laut) Nein, es gefällt mir nicht. ER Warum? SIE Was heißt das? Unterprivilegiert. Entweder man hat ein Privileg oder man hat es nicht. Wenn man unterprivilegiert ist, hat man ein Privileg eben nicht. Ein Privileg ist an und für sich etwas, das einen über das Mittelmaß hinaushebt. Ich hasse dieses Wort. ER Sie dagegen waren sehr privilegiert. Man könnte sagen: überprivilegiert. SIE Na gut. Ist das die Strafe dafür, dass ich nicht Louisa May Alcott bin? Dass ich mit Vierzehn dem Kapitän der Tennismannschaft einen geblasen habe? Dass ich es mit Dreizehn erregend fand, als ein Mann an meinen Brustwarzen gesaugt hat? ER Ich habe nur gefragt, ob das vielleicht der Grund ist, warum Ihnen dieses Wort so auf die Nerven geht. SIE Ich finde, es ist einfach ein schlechtes Wort. Schlechtes Englisch. Wie »wie zu hoffen ist«. ER Sie bezaubern diesen Mann zu Tode. Sie foltern und bezaubern ihn. SIE Indem ich ihm von meiner ersten Liebe erzähle? Wollen Sie zu Tode bezaubert werden? ER Ja. SIE Ein schöner Tod. Jedenfalls – das ist also »Unterricht für Amerika«: Entwicklungshilfe im eigenen Land. Das hatte er gemacht, dieser junge Idealist, aber er hatte noch einige Schulden aus seiner Studienzeit zu bezahlen und

wollte nicht aufhören zu unterrichten, um in irgendeiner Bank zu arbeiten, und so ging er an eine reiche Schule in Houston, die ein ordentliches Gehalt zahlte. Das war alles, was er da tat – es hatte nichts mit diesem gesellschaftlichen Engagement zu tun. Und er war von der Schule vollkommen unbeeindruckt. Eigentlich war er sogar regelrecht abgestoßen. Auf dem Parkplatz standen die BMW der Schüler und die Wagen der Lehrer – das waren Hondas und so –, und dann war da sein Wagen: eine zwölf Jahre alte Rostlaube mit Nummernschildern aus Maine. Eine der hinteren Türen war mit einem Seil zugebunden, weil der Griff fehlte. Ein ganz und gar eigenständiger Mensch – anders als alle, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Er kümmerte sich kein bisschen um das Kastensystem an der Kinkaid. Er war mein Geschichtslehrer. Unsere Klasse war die einzige in der Schule, in der es eine Arbeitsgruppe für aktuelle politische Ereignisse gab. ER Wie fing es an? SIE Wie es anfing? Ich ging einmal die Woche in seine Sprechstunde. Er eröffnete mir eine Gedankenwelt, von der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Ich ging also zu ihm, und wir redeten und redeten und redeten, und ich hatte ein so starkes Gefühl für ihn, und trotz dieser frühen Erfahrungen, die Sie so erstaunlich finden – und die heutzutage, ob Sie es wissen oder nicht, praktisch jede macht –, war ich ja immer noch ein Mädchen, nur ein Mädchen, und hatte keine Ahnung, dass es sexuelle Gefühle waren. (Lächelt.) Aber er wusste es. Es war wunderbar. Das war also mein erster Mann. ER Wie lange hat es gedauert? SIE Das ganze Jahr. Als ich aufs College ging, wollten wir

zusammenbleiben. Und ich war am Boden zerstört, als es nicht so kam. Das ganze erste Semester hab ich geweint und geweint. Aber ich war ja keine dreizehn mehr. Diesmal hab ich mich am eigenen Schopf herausgezogen. Ich habe Kommilitoninnen und ihre Freunde kennengelernt und mich wieder auf die Beine gestellt. Ich hab Spaß gehabt. Ja, ich bin aufs College gegangen, und er hat mich nicht mehr angerufen, und ich hatte trotzdem Spaß. ER Der junge Idealist hatte wahrscheinlich eine andere Siebzehnjährige. SIE Sie mögen ihn genausowenig wie den Tennisspieler. ER Für eine Frau, die vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse auf der Kinkaid School war, dürfte das nicht so schwer zu begreifen sein. SIE Ein Jahr später, als ich schließlich darüber hinweg war, hat er mir einen Brief geschrieben. Er schrieb, er habe das getan, weil er gedacht habe, es sei das Beste für mich, und außerdem sei er so durcheinander gewesen … Aber Sie haben wahrscheinlich recht. ER Ich glaube, mehr von diesen Geschichten halte ich nicht aus. SIE Warum nicht? (Ein leichtes Lachen.) Ich habe Ihnen doch erst eine erzählt. ER Sie haben mir drei erzählt. Aber ich verstehe, worauf es hinausläuft. Sie waren schon sehr früh sehr attraktiv. SIE Überrascht Sie das? ER Nein, es bringt mich um. SIE Warum? ER Ach, Jamie. SIE Wollen Sie es nicht sagen?

ER Was sagen? SIE Warum es Sie umbringt. ER Weil ich verrückt nach Ihnen bin. SIE Das wollte ich nur mal hören. ER (nach einer langen Pause, in der hauptsächlich er es ist, der Schmerz empfindet – hei ihr überwiegt die Neugier) So. Damit wäre das Einstellungsgespräch zur Klärung der Frage, ob Sie für den Job der FraudieihrenMannverlässtummiteinemvielälterenMannzusammenzusein geeignet sind, beendet. Ich werde Sie anrufen. SIE Sie rufen mich an? ER Ich werde Sie anrufen und Ihnen sagen, wie Sie abgeschnitten haben. SIE Okay. ER Sind Sie frei für den Job? SIE Wenn er mir angeboten wird, muss ich mir überlegen, ob sich mein Leben so gestalten lässt, dass ich ihn gut erledigen kann. Und dann bin ich diejenige, die Sie anruft. ER Das ist nicht fair. Ich habe meine Autorität verloren. SIE Und wie fühlt sich das an? ER Ich bin mit so viel Autorität hierhergekommen. Und ich gehe ohne jede Autorität. SIE Fühlt es sich gut an? ER Ein Mann, den alles verwirrt, was er einst so gut kannte, ist jetzt obendrein ein verlorener Mann. Ich gehe. SIE Solange Sie mit mir allein sind, wird es nie besser werden. ER Das kann es auch nicht.

SIE Je besser es wird, desto schlimmer wird es. ER So sieht es aus. Ja. (Er steht auf und geht. Als er draußen ist, auf der Eingangstreppe des Hauses, und hinübersieht zu der Kirche, fällt ihm etwas ein: Die Rückkehr – der Titel des Romans von Hardy, in dem der Rötelhändler vorkommt. Er hat ein gutes Gedächtnis für Bücher? Nein, nicht einmal für Bücher. Erst jetzt erinnert er sich an den Namen der tragischen Heldin, den Namen, der ihn immer so fasziniert hat: Eustacia Vye. Er tritt nicht auf die Straße und muss sich beherrschen, nicht umzukehren, auf den Klingelknopf zu drücken und ihr zu sagen: »Die Rückkehr, Eustacia Vye«, um so Gelegenheit zu haben, wieder zu ihr hinaufzugehen und mit ihr allein zu sein. Sie werden sich nie küssen, er wird sie nie berühren, nichts: Dies ist seine letzte Liebesszene. Sein Gedächtnis hat ihn nur einmal im Stich gelassen. Während des ganzen Gesprächs nur einmal. Zweimal: als sie ihn gefragt hat, wie lange er schon allein sei. Oder hat sie diese Frage am Tag zuvor gestellt? Oder etwa gar nicht? Nun, sie braucht von seiner Vergesslichkeit nicht mehr zu wissen als das, was sie bis jetzt erlebt hat. Sie werden sich also nie küssen, und er wird sie nie berühren –na und? Er nimmt das schwer? Na und? Seine letzte Liebesszene? Wenn es so sein soll. Er schiebt es beiseite. Die Reue muss warten.)

5 Unbesonnene Augenblicke

DAS LÄUTEN DES TELEFONS weckte mich. Ich lag vollständig angekleidet auf dem Bett, die Ausgabe von Die Schattenlinie mit den Unterstreichungen neben mir. Ich dachte: »Amy, Jamie, Billy, Rob«, doch Kliman stand nicht auf der Liste derer, die möglicherweise einen Grund gefunden hatten, mich im Hotel anzurufen. Ich hatte bis beinahe fünf Uhr morgens am Schreibtisch gesessen und geschrieben und fühlte mich wie ein Mann nach einer durchzechten Nacht. Ich hatte geträumt, fiel mir jetzt ein, einen ganz kleinen Traum, erfüllt von kindlicher Hoffnung. Ich telefoniere mit meiner Mutter. »Ma, kannst du mir einen Gefallen tun?« Sie lacht über meine Naivität. »Schätzchen, es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde. Was möchtest du denn?« fragt sie. »Könnten wir nicht Inzest haben?« »Ach, Nathan«, sagt sie und lacht wieder, »ich bin ein verfaulender Leichnam. Ich liege im Grab.« »Trotzdem möchte ich Inzest mit dir haben. Du bist doch meine Mutter. Meine einzige Mutter.« »Alles, was du möchtest, Schätzchen.« Dann steht sie vor mir und ist kein Leichnam in einem Grab. Ihre Anwesenheit ist aufregend. Sie ist die schlanke, ährige Brünette, die

mein Vater geheiratet hat, sie hat die Leichtigkeit eines jungen Mädchens und die sanfte Stimme, die nie streng ist, während ich so alt bin wie jetzt – und ich bin derjenige, der auf ewig in der Erde liegt. Sie nimmt mich an der Hand, als wäre ich noch immer ein kleiner Junge mit ganz und gar unschuldigen Zielen und Absichten, und wir verlassen den Friedhof, um in mein Schlafzimmer zu gehen, und mein Traum endet damit, dass mein Verlangen zunimmt und der Raum mit den großen, vorhanglosen Fenstern von Licht durchflutet wird. Die letzten triumphierenden Worte, die sie sagt, sind: »Mein Lieber, mein Lieber – Geburt! Geburt! Geburt!« Gab es je eine zärtlichere, gütigere Mutter? »Hallo«, sagte Kliman. »Soll ich hier unten warten?« »Worauf?« »Auf unser gemeinsames Mittagessen.« »Wovon reden Sie?« »Heute. Um zwölf. Sie haben gesagt, ich könnte Sie heute um zwölf zum Mittagessen einladen.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt.« »Doch, genau das haben Sie gesagt, Mr. Zuckerman. Sie wollten, dass ich Ihnen von George Plimptons Beerdigung erzähle.« »George Plimpton ist tot?« »Ja. Wir haben darüber gesprochen.« »George ist gestorben? Wann ist er gestorben?« »Vor etwas über einem Jahr.« »Und wie alt war er?« »Er war sechsundsiebzig. Er hatte im Schlaf einen tödlichen Herzanfall.«

»Und wann haben Sie mir das erzählt?« »Am Telefon«, sagte Kliman. Unnötig zu erwähnen, dass ich mich an dieses Telefongespräch nicht erinnern konnte. Doch dass ich es vergessen hatte, erschien mir unmöglich – ebenso unmöglich wie Georges Tod. Ich hatte George Plimpton in den späten fünfziger Jahren kennengelernt, als ich, nach meiner Entlassung aus der Armee, nach New York gezogen war und für siebzig Dollar im Monat in einer Zwei-ZimmerSouterrainwohnung lebte und in seiner neuen literarischen Vierteljahresschrift die Erzählungen veröffentlichte, die ich in meinen Nächten als Soldat geschrieben hatte; bis dahin waren sie überall, wo ich sie vorgelegt hatte, abgelehnt worden. Ich war vierundzwanzig, als George mich zum Mittagessen einlud, damit ich die anderen Redakteure der Paris Review kennenlernte, junge Männer, die meisten Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig, wie er hauptsächlich aus alten, reichen Familien, die ihre Söhne auf exklusive Privatschulen und dann nach Harvard geschickt hatten, das in jenen frühen Nachkriegs jähren nicht anders als in den vorangegangenen Jahrzehnten im Grunde eine Bastion der Ausbildung von Nachkommen der gesellschaftlichen Elite war. Dort hatten sie alle einander kennengelernt, wenn nicht schon früher, in den Sommerferien, auf Tennisplätzen oder in den Yachtclubs von Newport oder Southampton oder Edgartown. Meine Kenntnis ihrer Welt oder der ihrer Eltern begrenzte sich auf die Romane von Henry James oder Edith Wharton, die ich als Student an der University of Chicago gelesen hatte, Bücher, die zu bewundern man mich angehalten hatte, die für mich jedoch ebensowenig mit dem amerikanischen Leben zu tun hatten wie Des Pilgers Reise oder Das verlorene Paradies. Vor einer ersten

Begegnung mit George und seinen Kollegen hatte ich keine Ahnung gehabt, wie solche Leute aussahen oder sprachen; ich hatte lediglich als Kind Roosevelt im Radio gehört und in der Wochenschau gesehen, und für ein Kind wie mich, das Kind eines jüdischen Fußpflegers, das sein Diplom auf der Abendschule erworben hatte, war Roosevelt kein Repräsentant einer bestimmten Klasse oder Kaste, sondern vielmehr ein einzigartiger Politiker und Staatsmann, ein demokratischer Held, der von der überwältigenden Mehrheit der amerikanischen Juden und auch von meiner großen Familie als Segen und Geschenk betrachtet wurde. Wäre George ein weniger freimütiger, begabter, intelligenter und eleganter junger Mann gewesen, dann hätte ich seine außergewöhnliche Sprechweise womöglich als Zeichen der komischen Aufgeblasenheit eines Snobs gedeutet, ja, ich hätte sie vielleicht regelrecht grotesk gefunden, denn seine Aussprache war eindeutig mittelatlantisch, und die Satzmelodie war die der reichen protestantischen Oberschicht, die in Boston und New York den Ton angegeben hatte, während meine Vorfahren sich in den Ghettos Osteuropas nach dem gerichtet hatten, was die Rabbis sagten. Durch George bekam ich einen ersten Begriff von Privilegien und den mit ihnen verbundenen gewaltigen Vorteilen; Anscheinend musste er nichts und niemandem entfliehen, keinen Makel verbergen, gegen kein Unrecht ankämpfen, keinen Fehler kompensieren, keine Schwäche überwinden, kein Hindernis umgehen – statt dessen machte er den Eindruck, als hätte er alles mühelos gelernt und stünde allem ohne jede Anstrengung offen gegenüber. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass ich irgend etwas ohne die unermüdliche Beharrlichkeit erreichen würde, die meine Familie mich gelehrt hatte,

während George von Anfang an all das besaß, wofür er automatisch bestimmt war. Auf den Festen in seiner komfortablen Wohnung in der East 72nd Street lernte ich praktisch alle anderen jungen Schriftsteller in New York und einige der berühmten älteren kennen und betrachtete sehnsüchtig die schlanken, glamourosen jungen Frauen, die sich dort einfanden: amerikanische Debütantinnen, europäische Fotomodelle und Prinzessinnen, deren Familien seit den Versailler Verträgen im Pariser Exil lebten. Anfangs hatte ich mehr mit den wenigen unbedeutenderen Mitarbeitern der Zeitschrift zu tun, deren Probleme beim Schreiben und in der Liebe eine Unterströmung von Not verrieten, die ich besser verstehen konnte: Es waren Menschen wie ich, für die Schwierigkeit den Status eines Gottes hatte. Doch ich war dabei, um Georges Mut zu bewundern, als er in Stülmans schmuddeliger Trainingshalle in der Eighth Avenue drei kurze, lebhafte Runden gegen Archie Moore, den damaligen Weltmeister im Halbschwergewicht, boxte, ein Abenteuer, das ihm eine blutige gebrochene Nase und genug Material für einen Artikel in Sports Illustrated eintrug. Ich war eingeladen, als George in den sechziger Jahren in der am Südende des Central Park gelegenen Wohnung eines Freundes zum erstenmal heiratete, und saß mehrere Sommer hintereinander am Unabhängigkeitstag mit etwa hundert anderen Gästen am dunklen breiten Strand von Water Mill, Long Island, wo George ein prächtiges Feuerwerk entzündete und sich so als junger Draufgänger präsentierte, obwohl er im übrigen der spielerische, lässige, überaus neugierige Mann von Welt war, Journalist, Herausgeber und gelegentlicher Film- oder Fernsehdarsteller. Vor etwas über einem Jahr (und, wie mir

jetzt bewusst wurde, nur wenige Wochen vor seinem Tod) hatte George mich angerufen und, beinah e so formell, als würden wir einander gar nicht persönlich kennen, und doch so herzlich, als hätten wir am Tag zuvor miteinander zu Abend gegessen – und dies zu einem Zeitpunkt, als wir uns mindestens zehn Jahre nicht gesehen hatten –, gefragt, ob ich nicht Lust hätte, nach New York zu kommen und bei einer Wohltätigkeitsgala zugunsten der Paris Review eine kleine Eröffnungsrede zu halten. Ich konnte mich sehr gut an dieses Telefongespräch erinnern, nicht nur wegen der freundschaftlichen Gefühle, die darin zum Ausdruck gekommen waren, sondern auch, weil es mich veranlasst hatte, in den folgenden Wochen meine Abende damit zu verbringen, noch einmal seine berühmten Werke des »teilnehmenden Journalismus« – jene Bücher, in denen er sich dem Geheimnis seines wie unter einem Zauber stehenden Lebens näherte, indem er die Malheurs und Misserfolge eines Amateursportlers schilderte, der gegen die mächtigen Profis antrat – sowie die Sammlungen kürzerer Reportagen zu lesen, die er als er selbst geschrieben hatte, als der weltgewandte, geistreiche, unangestrengt intelligente Gentleman von aristokratischer Haltung, der für jeden, der ihn kannte, alles andere als ein Dilettant war. Darin zeugten sein Charme (beispielsweise in den Schilderungen, wie er mit seiner neunjährigen Tochter zu einem Footballspiel Harvard gegen Yale oder mit der Dichterin Marianne Moore ins Yankee Stadium gegangen war), seine lyrische Wortgewalt (beispielsweise in der begeisterten Hymne an das Feuerwerk) und sein Ernst (beispielsweise in der Grabrede auf seinen Vater) von den Qualitäten des eleganten Essayisten, der so gar keine

Ähnlichkeit mit dem dilettierenden George Plimpton aufwies, den er sich für seine Bücher über die Welt des Sports ausgedacht hatte, wo er, durch seine Unfähigkeit wiederholt in die Rolle des unschuldigen Opfers gedrängt, ungeheure Anstrengungen unternahm, den Eindruck eines erniedrigten Menschen zu erwecken, und sich hin und wieder flüchtig der masochistischen Schmach hinzugeben vermochte, gründlich den Boden unter den Füßen verloren zu haben. In seiner Parodie auf Truman Capote, in der dieser im Stil Hemingways über sein Facelifting schrieb, war er Mark Twain und seiner vernichtenden Satire auf James Fenimore Cooper ebenbürtig, wie er überhaupt am subtilsten und besten war, wenn er anderen dabei zusah, wie sie sich töricht benahmen, anstatt so zu tun, als würde er sich selbst bei etwas Törichtem beobachten. Ja, ich erinnerte mich sehr gut an die Herzlichkeit unseres Telefongesprächs an jenem Abend und an die Freude, die ich danach beim erneuten Lesen seiner Bücher empfunden hatte. Dagegen erinnerte ich mich überhaupt nicht an ein Gespräch mit Kliman, bei dem wir uns zum Mittagessen verabredet hatten, um über Georges Tod zu sprechen. Und ebensowenig konnte ich glauben, dass George gestorben war. Diese Vorstellung erschien mir in jeder Hinsicht so grotesk, wie George es nicht gewesen war, und passte ganz und gar nicht zu seinem von Neugier getragenen robusten Interesse für »die große Vielfalt des Lebens« – eine Phrase aus einem Text, in dem er sich frohgemut vorgestellt hatte, er sei ein afrikanischer Wasservogel, der alles betrachtete, was auf Flügeln, Tatzen und Hufen, in Federn, Haut und Schuppen an den rauschenden Fluten erschien. Kliman musste etwas anderes über George Plimpton gesagt haben, denn hätte mich

jemand gefragt: »Wer von Ihren Zeitgenossen wird als letzter sterben? Bei welchem von Ihren Zeitgenossen ist es am unwahrscheinlichsten, dass er stirbt? Wer von Ihren Zeitgenossen wird nicht nur dem Tod entgehen, sondern auch mit Witz, Genauigkeit und Bescheidenheit über seine amüsierte Verblüffung angesichts der erreichten Unsterblichkeit schreiben?«, so hätte die einzige mögliche Antwort gelautet: »George Plimpton.« Wie der vierundneunzigjährige Graf in In einem anderen Land, mit dem Frederic Henry eine Partie Billard spielt und zu dem er beim Abschied sagt: »Ich hoffe, Sie leben ewig«, worauf dieser antwortet: »Das habe ich schon«, steuerte George Plimpton seit seiner Geburt auf das ewige Leben zu. George hatte ebensowenig die Absicht zu sterben wie beispielsweise Tom Sawyer; die Annahme, er sei unsterblich, ergab sich zwingend daraus, dass er gegen die größten Sportler angetreten war. Gegen die New York Yankees, gegen die Detroit Lions, gegen Archie Moore – nur um aus erster Hand schildern zu können, wie es ist, etwas zu überleben, das einem weit überlegen ist und vorhat, einen zu vernichten. In diesen Büchern steckte natürlich noch mehr, und George war nie höflicher und aufmerksamer als an jenem Abend vor vielen Jahren, als ich bei einem Abendessen mit ihm über seine verborgenen Motive spekulierte. Das Thema der Klassenzugehörigkeit war in meinen Augen die stärkste Inspiration für seine außergewöhnlichen Arbeiten über den Sport, und dafür begab er sich mit großer Zurückhaltung in Situationen, in denen er so tat, als wäre er aller Vorzüge seiner Klasse beraubt (mit Ausnahme seiner erstklassigen Manieren, die er – in einer Welt, die einer guten Herkunft gänzlich verständnislos, wenn nicht gar feindlich

gegenüberstand – ganz bewusst einsetzte, um ihre Unangebrachtheit herauszustreichen und so eine komische Wirkung zu erzeugen). »Ich« war sein selbstironisches Double – der Journalist bei der Arbeit –, befreit von dem privilegierten George, der er so unausweichlich, so meisterhaft und so gern war. Ja, seine Vorzüge – verkörpert in dem, was er bescheiden als seinen »kosmopolitischen Ostküstenakzent« bezeichnete, obgleich es eher der Akzent der sich auflösenden herrschenden Klasse der Ostküste war – machten ihn zur Zielscheibe der Witze jener Profisportler, gegen die er als Amateur antrat. Dennoch versuchte er in Paper Lion oder in Out of My League nichts von dem, was der erste, erstaunlich scharfsichtige »teilnehmende Journalist« der Moderne – der andere George mit dem Oberklassenakzent, dem keiner der überall vorhandenen Klassenunterschiede entging, ganz gleich, wie groß oder gering sie sein mochten – in Down and Out in Paris and London so gewissenhaft beschrieben hatte. Wie Orwell versuchte Plimpton, den Blick auf etwas zu richten, klar und deutlich zu beschreiben, was er sah, und darauf, wie es funktionierte, und es dem Leser verständlich zu machen. Er verrichtete jedoch nicht die niedrigsten Arbeiten in schmutzigen, heißen Restaurantküchen in Paris, er ließ sich nicht in diesen hektischen Schweineställen zu einem verrohten Sklaven erniedrigen, um Armut am eigenen Leib zu erfahren, und im Gegensatz zu Orwell, der anschließend als Landstreicher durch England gezogen war, wollte er auch nicht sehen, wie es ist, ganz unten angekommen zu sein. Statt dessen trat er in eine Welt ein, die nicht weniger glamourös war als seine eigene: die Welt der herrschenden Klasse der alles überragenden populären Kultur Amerikas, die Welt des

Profisports. Down and Out in the Major Leagues. Down and Out in the NFL. Down and Out in the NBA. Trotz aller Peinlichkeiten, trotz des Verlusts an Würde, trotz der Zurschaustellung seiner Unterlegenheit gegenüber den Profis gelang es George, seine Wirkung zu steigern, anstatt sie zu beschädigen – ein Kunststück, für das ich ihn bewunderte und das der eigentliche Grund für meine Freude an seinen Büchern war. Diese Bücher, in denen laut Klappentext ein unbeholfener Amateur gegen unüberwindliche Profis antrat, beschrieben in Wahrheit, wie ein wohlausgestatteter, ausgezeichnet durchtrainierter Athlet, ein Sprössling von Amerikas ältester Elite, so tat, als wäre er ein sportlicher Dilettant, der sich mit den geradezu übermenschlichen Angehörigen von Amerikas jüngster Elite maß – den Superstars des Sports. In Out of My League geht der lässige Meister der Selbstbeherrschung sogar so weit, die Lässigkeit des Balljungen der New York Yankees zu bewundern; in Paper Lion heißt es, er habe als Quarterback der Detroit Lions kaum gewusst, wie man einen Football hält – dabei erinnere ich mich deutlich an Footballspiele im Garten eines seiner engsten Freunde in Westchester, bei denen George Pässe mit einer Präzision warf, wie man sie in jeder Liga nur zu gern gesehen hätte. Hemingway lag vollkommen falsch, als er Georges Abenteuer mit Profisportlern als »die dunkle Seite von Walter Mittys Mond« bezeichnete. Es war vielmehr die leuchtende Seite eines Lebens als George Plimpton. Er war ein Mann, der auf einzigartige Weise einer zutiefst befriedigenden Berufung folgte, indem er seine gewohnte Welt voller glamouröser Privilegien hinter sich ließ, um an einer neuen Welt voller glamouröser Privilegien teilzuhaben, der einzigen amerikanischen Welt, deren

Prestige es möglicherweise mit dem aufnehmen konnte, was die seine einst besessen hatte. Das war Georges wahres Genie: seine Fähigkeit, die Klassengrenze nach unten zu überschreiten und sich, wie er es ausdrückte, »zum Gespött« zu machen, ohne ein Deklassierter zu sein wie George Orwell, der als elender Tellerwäscher in Paris und als hungriger, bettelarmer Penner in London nur mit knapper Not »in der Gosse« überlebt hatte und für den dieses Leben eine schreckliche, züchtigende und todernste Deklassierung gewesen war. George ließ den Glamour hinter sich, ohne seinen Glamour zu verlieren – ja, er vergrößerte ihn, indem er, scheinbar in der Absicht, sich selbst herabzusetzen, autobiographische Bücher schrieb. Als er zu Archie Moore in den Ring stieg, verkörperte er den Grundsatz »Noblesse oblige« in seiner reinsten Form – und überdies in einer Form, die er selbst erfunden hatte. Wenn jemand zu sich selbst sagt: »Ich möchte glücklich sein«, könnte er ebensogut sagen: »Ich möchte George Plimpton sein«: Man erreicht etwas, man ist produktiv, und das alles ist durchdrungen von Freude und Leichtigkeit. Niemand stand mit solcher Lässigkeit auf gutem Fuß mit den Mächtigen, den Vollkommenen, den Berühmten, niemand liebte die Erregung, die aus Worten und Taten erwächst, so sehr wie er, für niemanden war das Leiden, dem wir Sterblichen unterworfen sind, so weit entrückt, niemand hatte so viele Bewunderer wie George, niemand hatte so viele gute Eigenschaften wie George, niemand konnte mit jedermann so leicht und mühelos sprechen wie George … So ging es immer weiter, und ich dachte, dass George die Erfahrung des Todes allenfalls machen würde, wenn er sie für einen Artikel in Sports Illustrated simulierte.

Ich erhob mich vom Bett, trat an den Schreibtisch, an dem ich den größten Teil der Nacht gesessen und geschrieben hatte, blätterte in meiner Kladde zurück, um einen Eintrag zu finden, der sich auf eine Verabredung mit Kliman bezog, und sagte dabei: »Ich kann nicht mit Ihnen zu Mittag essen.« »Aber ich habe sie dabei. Ich habe sie mitgebracht. Sie können darin lesen.« »Worin lesen?« »In der ersten Hälfte des Romans. Der ersten Hälfte von Lonoffs Manuskript.« »Kein Interesse.« »Aber Sie haben mir doch gesagt, ich solle es mitbringen.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Auf Wiedersehen.« Das beidseitig mit meinen Notizen über mein Gespräch mit Amy und dem Dialog aus Er und Sie beschriebene Hotelbriefpapier – alles, was ich zwischen meiner Rückkehr von Amys Wohnung und dem Zeitpunkt geschrieben hatte, als ich, ohne mich auszukleiden, eingeschlafen war, um von meiner Mutter zu träumen – lag noch auf dem Tisch. In den fünf Minuten, bevor Kliman abermals anrief, überflog ich die Notizen, um zu sehen, was ich zu Amy über Kliman und die Biographie gesagt hatte. Ich hatte ihr versprochen, ihn davon abzubringen. Ich hatte ihr eingeredet, Lonoff sei nicht durch sein eigenes Leben zu diesem Roman inspiriert worden, sondern durch höchst zweifelhafte, von Literaturwissenschaftlern geäußerte Spekulationen über Nathaniel Hawthornes Leben. Ich hatte ihr Geld gegeben … Ich las, was ich gesagt und getan hatte, doch über meine weiterreichenden Absichten, sofern ich überhaupt welche

gehabt hatte, war ich mir nicht gleich im klaren. Als Kliman ein zweites Mal aus der Hotelhalle anrief, fragte ich mich, ob er es gewesen sein könnte, der vor elf Jahren diese Morddrohungen an mich und den Rezensenten geschickt hatte. Es war zwar höchst unwahrscheinlich – aber was, wenn es dennoch so gewesen war? Was, wenn es der bösartige Streich eines Erstsemesters mit einem Hang zum Unruhestiften gewesen war, der mich vor zehn Jahren veranlasst hatte, meinen Wohnort zu wechseln und meine Lebensumstände drastisch zu verändern? Wenn das stimmte, war es lächerlich, und doch war ich, gerade weil es so absurd war, unwillkürlich überzeugt, dass es stimmte. Dieser Entschluss, aufs Land zu ziehen und nie mehr in die Stadt zurückzukehren, war absurd – ebenso absurd wie der Gedanke, dass Richard Kliman mich dazu getrieben hatte. »Ich bin in ein paar Minuten unten«, sagte ich zu ihm, »und dann werden wir zu Mittag essen.« Und ich werde all deine Bemühungen vereiteln. Ich werde dich vernichten. Das dachte ich, weil ich es tun musste. Ich konnte nicht bloß darüber reden, ich konnte nicht bloß darüber schreiben – bevor ich Manhattan verließ und nach Hause zurückkehrte, musste ich Kliman matt setzen, das war das mindeste. Es war meine letzte Verpflichtung gegenüber der Literatur. Wie konnte George tot sein? Immer wieder kehrte ich zu diesem Gedanken zurück. Dass George vor einem Jahr gestorben war, machte alles absurd. Wie hatte das ausgerechnet ihm passieren können? Und wie hatte mir das, was passiert war, in diesen vergangenen elf Jahren

passieren können? George nie wiederzusehen – sie alle nie wiederzusehen! Ich hatte dies wegen dem getan? Ich hatte das wegen jenem getan? Ich hatte mein Leben durch jenen Zufall, durch jene Person, durch jenes lachhaft nebensächliche Ereignis definieren lassen? Wie absonderlich mir das erschien, und alles nur, weil George Plimpton ohne mein Wissen gestorben war. Mit einemmal gab es keine Rechtfertigung mehr für meine Art zu leben, und George war mein … Wie heißt das Wort, das ich suche? Das Gegenteil von »Doppelgänger«. Plötzlich stand George Plimpton für alles, was ich vergeudet hatte, indem ich mich so überstürzt aus der Stadt entfernt und auf Lonoffs Berg zurückgezogen hatte, um dort Asyl vor der großen Vielfalt des Lebens zu suchen. »Wir leben in unserer Zeit«, sagte George zu mir, und in seiner unverwechselbaren Stimme schwang beschwingte Zuversicht mit. »Es ist unsere Menschheit. Wir müssen dazugehören.« Kliman ging mit mir in einen Coffeeshop an der Sixth Avenue, ein Stück die Straße hinunter, und kaum hatten wir bestellt, da begann er, mir vom Trauergottesdienst zu Georges Ehren zu erzählen. Ich war es gewohnt, meinen Tagesablauf selbst zu bestimmen und meine Stunden so einzuteilen, wie ich es für richtig hielt, doch nun saß ich – in Kleidern, die ich seit beinahe dreißig Stunden trug und, wie mir jetzt bewusst wurde, mit einer Einlage in meiner Plastikunterhose, die ich seit dem Vorabend nicht gewechselt hatte – beim Mittagessen einer unberechenbaren Kraft gegenüber, die es darauf abgesehen hatte, mich zu beherrschen. War das vielleicht der Grund, warum ich mich diesem Sturmangriff ausgesetzt sah, noch bevor mein Orangensaft serviert war – damit mir vor Augen

geführt wurde, dass ich ihm, im Gegensatz zu meinen Warnungen und Drohungen, nicht gewachsen und schon gar nicht überlegen war, dass er unkontrollierbar war und keinerlei Hemmungen hatte? Ich dachte: Die Juden können einfach nicht aufhören, solche Menschen hervorzubringen. Eddie Cantor. Jerry Lewis. Abbie Hoffman. Lenny Bruce. Der vor Elan schier platzende Jude, außerstande, zu irgendwem oder irgendwas eine von Gelassenheit geprägte Beziehung einzugehen. Ich hatte angenommen, dieser Typus sei in Klimans Generation praktisch nicht mehr vertreten, und der sanfte, vernünftige Billy Davidoff entspreche eher der gegenwärtigen Norm – doch es mochte sein, dass Kliman tatsächlich der letzte Agitator und Affronteur war. Ich hatte mit jemandem wie ihm schon lange nicht mehr zu tun gehabt. Ich hatte mit vielem schon lange nicht mehr zu tun gehabt, nicht nur mit dem Widerstand, den mir lebende Wesen entgegensetzten, sondern auch mit der Notwendigkeit, immer wieder eine Rolle verkörpern oder Phantasien von äußerst naiven Lesern abwehren zu müssen, die diese nach der Lektüre eines Buches über den Autor haben – eine Mühe, der ich mich ebenfalls nicht mehr unterzogen hatte. Denn auch ich war früher eine Art Affronteur gewesen. Ich war der Affronteur gewesen, dessen Erzählungen George Plimpton publiziert hatte, als alle anderen sie abgelehnt hatten. Doch jetzt ist alles ganz anders, dachte ich. Es ist nicht 1959, und George steigt nicht in Stillmans Trainingshalle in den Ring zu Archie Moore – es ist 2004, und ich steige in einem unbekannten Manhattan in den Ring zu einem jungen Mann mit Riesenfäusten. »Es war vor knapp einem Jahr, im November«, sagte Kliman. »In der Kathedrale St. John the Divine. Eine riesige

Kirche, und bis auf den letzten Platz besetzt. Zweitausend Leute. Vielleicht auch mehr. Es fängt an mit einer Gospelgruppe. George hatte sie irgendwo gesehen und war begeistert, und darum waren sie da. Der Vorsänger ein riesengroßer, gutaussehender Schwarzer, der voll auf die Pracht und den Pomp abfährt, und sobald sie anfangen zu singen, fängt er an zu rufen: ›Wir haben was zu feiern! Wir s los – haben was zu feiern!‹, und ich den jemand ist gestorben, und wir haben was zu feiern. ›Wir haben was zu feiern! Alle sollen es sagen. Los, sagt euren Nachbarn, dass wir was zu feiern haben!‹ Und all die Weißen fangen an, unrhythmisch mit den Köpfen zu nicken, und ich kann Ihnen sagen: Es sah nicht gut aus für George. Dann hält der Pfarrer seine Rede, und danach kommen die anderen Redner dran. Zuerst Georges Schwester, die von dem Museum erzählt, das er in dem Haus auf Long Island aus seinem Zimmer gemacht hat, wo er all die Tierfelle und ausgestopften Vögel aufbewahrt hat, und sie erzählt, dass er sich schon als Junge für solche Dinge begeistert hat, und wie sie das macht, ist wirklich bemerkenswert. Vollkommen ohne Affekt, mit diesem seltsamen absoluten Fehlen von Seltsamkeit, das nur die reinblütigsten altmodischen weißen Ostküstenprotestanten draufhaben. Dann ein Typ aus Texas namens Victor Emanuel, ungefähr Mitte Fünfzig, vielleicht ein bisschen älter, eine Koryphäe für Vogelkunde, er und George dick befreundet, weil sie sich beide so sehr für Vögel interessieren. Kannte sämtliche Vögel. Dieser Typ redet sehr schlicht und erzählt, wie er mit George Vögel beobachtet hat und wie sie gemeinsam Reisen gemacht haben, um Vögel zu beobachten, und das alles im Haus des Herrn – obwohl die einzigen, die den Namen des Herrn in

den Mund nehmen, der Pfarrer und die Gospelsänger sind. Alle anderen sagen kein Wort zu diesem Thema, Mann, als hätte das mit ihnen überhaupt nichts zu tun. Sie sind bloß zufällig da. Dann Norman Mailer. Überwältigend. Ich hatte ihn bis dahin nur im Fernsehen gesehen. Der Typ ist inzwischen achtzig, beide Knie kaputt, geht an zwei Krücken ohne die er keinen Schritt machen kann, der länger ist als fünfzehn Zentimeter, aber er weist alle zurück, die ihm auf die Kanzel helfen wollen, und will nicht mal die Krücken mitnehmen. Steigt ganz allein auf diese hohe Kanzel. Alle drücken ihm bei jeder Stufe die Daumen. Der Konquistador ist da, und das große Drama beginnt. Er mustert die Trauergemeinde. Sieht den Mittelgang entlang hinaus auf die Amsterdam Avenue und quer über die Vereinigten Staaten bis zum Pazifik. Erinnert mich an Vater Mapple in Moby-Dick. Ich erwarte eigentlich, dass er ruft: »Schiffskameraden!« und über die Lehre predigt, die man aus der Geschichte von Jona zu ziehen hat. Aber nein, auch er spricht sehr schlicht über George. Das ist nicht mehr der streitsüchtige Mailer von früher, auch wenn jedes Wort von ihm ein echter Mailer ist. Er spricht über seine Freundschaft mit George, die erst in den letzten Jahren so richtig aufgeblüht ist, und erzählt uns, wie die beiden mit ihren Frauen herumgereist sind zu Orten, wo sie in dem Stück, das sie zusammen geschrieben haben, aufgetreten sind, und wie eng die Beziehung zwischen den beiden Paaren dabei geworden ist, und ich denke: Tja, Amerika, es hat lange gedauert, aber da auf der Kanzel steht Norman Mailer und singt als Ehemann das Loblied auf die Paarbeziehung. Fundamentalistische Mistkerle, ihr habt euren Meister gefunden.« Er war nicht aufzuhalten. Er hatte sich vorgenommen,

das, was bisher zwischen uns geschehen war, mit einer großen Darbietung auszulöschen, die einzig und allein dazu diente, mich zu bezwingen, und sie erfüllte tatsächlich ihren Zweck: Je bunter diese Zurschaustellung von Klimans Entzücken geriet, desto kleiner fühlte ich mich unwillkürlich. Mailer sucht nicht mehr Streit und kann kaum noch laufen. Amy ist nicht mehr schon und hat einen Teil ihres Gehirns eingebüßt. Ich bin nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, meiner Männlichkeit und meiner Kontinenz. George Plimpton ist nicht mehr am Leben. E. I. Lonoff hat nicht mehr sein großes Geheimnis, wenn es ein solches Geheimnis überhaupt je gab. Wir alle sind »Nichtmehrs«, während der erregte Geist von Richard Kliman glaubt, sein Herz, seine Knie, sein Schädel, seine Prostata, sein Blasenschließmuskel, sein alles seien unzerstörbar, und er und nur er sei nicht der Gnade seiner Zellen ausgeliefert. Für Achtundzwanzigjährige ist diese Überzeugung keine große Leistung, und gewiss nicht, wenn sie wissen, dass ihnen Größe winkt. Sie sind keine »Nichtmehrs«, die ihre Fähigkeiten verlieren, die die Kontrolle über sich selbst verlieren, die schändlich enteignet werden, die gezeichnet sind von Entbehrungen und die organische Rebellion des Körpers gegen die Alten erleben; sie sind die »Nochnichts«, die keine Ahnung haben, wie schnell die Dinge sich ins Gegenteil verkehren können. Zu seinen Füßen hatte er eine abgewetzte Aktentasche, in der sich, wie ich annahm, die Hälfte von Lonoffs Manuskript befand. Vielleicht waren darin auch die Fotos, die Amy ihm unter dem Einfluss ihres Tumors gegeben hatte. Nein, es würde nicht einfach sein, Amy aus dieser Sache herauszuziehen. Durch Überredung würde Kliman

sich nicht davon abbringen lassen; jeder Versuch in dieser Richtung würde ihn nur in der Annahme bestärken, bedeutend zu sein. Ich überlegte, ob ein Anwalt oder Geld oder eine Kombination aus beidem – eine Drohung mk einem Gerichtsverfahren und ein anschließendes Angebot – etwas bewirken könnten. Vielleicht konnte man ihn erpressen. Vielleicht, dachte ich, floh Jamie gar nicht vor Bin Laden, sondern vor ihm. SIE Richard, ich bin verheiratet. ER Das weiß ich. Billy ist der Mann, den man heiratet, und ich bin der Mann, mit dem man ins Bett geht. Und du sagst mir ja auch die ganze Zeit, warum. »Er ist so dick. Der Schaft ist so dick. Und der Kopf ist so schön. Genau, wie ich ihn mag.« SIE Lass mich in Ruhe. Du musst mich in Ruhe lassen. Das muss ein Ende haben. ER Du willst nicht mehr kommen? Du willst diese intensiven Gefühle nicht mehr haben? Du willst das nie mehr haben? SIE Wir werden diese Art von Gespräch nicht mehr führen. Wir werden miteinander nicht mehr so reden. ER Willst du kommen? Jetzt? SIE Nein. Hör auf. Es ist vorbei. Wenn du noch einmal so etwas zu mir sagst, werden wir nie mehr miteinander reden. ER Aber ich rede jetzt mit dir. Ich will, dass du an seinem schönen Kopf saugst. SIE Geh weg von mir, verdammt! Verlass sofort meine Wohnung.

ER Der brutale Liebhaber lässt dich kommen, der gehorsame nicht. SIE Darüber sprechen wir nicht mehr. Ich bin mit Billy verheiratet. Nicht mit dir. Billy ist mein Mann. Zwischen dir und mir ist es vorbei. Was du sagst, spielt keine Rolle mehr. ER Du wirst dich fügen. SIE Nein. Du wirst dich fügen. Geh. ER SO funktioniert das nicht zwischen uns. SIE So funktioniert es jetzt. ER Du fügst dich so gern. SIE s Maul. Hör auf. Hör einfach auf. ER Ich dachte, du wärst so wortgewandt. Wenn wir unsere Spiele spielen, bist du es jedenfalls. Du sagst alle möglichen schweinischen Sachen, wenn wir Callgirl und Freier spielen. Du machst alle möglichen herrlichen Geräusche, wenn wir »Jamie wird vergewaltigt« spielen. Ist s Maul« und »Hör auf«? SIE Ich sage dir, dass es vorbei ist, und es ist vorbei. Also raus. ER Ich gehe nicht. SIE Dann gehe ich eben. ER Wohin willst du gehen? SIE Fort. ER Ach, komm schon, Süße. Du hast die schönste Möse auf der ganzen Welt. Lass uns seltsame Spiele spielen. Sag mir ein paar schweinische Sachen. SIE Geh weg. Verschwinde, jetzt sofort. Billy kommt gleich nach Hause. Hau ab. Verschwinde aus meiner

Wohnung, oder ich rufe die Polizei. ER Warte nur, bis die Polizisten dich in diesem Oberteil und diesen Shorts sehen. Die werden auch nicht mehr gehen wollen. Du hast die schönste Mose und die niedrigsten Instinkte. SIE Egal, was ich sage, du redest immer nur über meine Mose. Man versucht, jemandem etwas zu sagen, aber er hört einen gar nicht. ER Das macht mich an. SIE Das macht mich wütend. Ich verlasse jetzt dieses Haus. ER Hier – sieh mal. SIE Nein! (Doch er hört nicht auf und so flieht sie hinaus.) Aufgrund der Tatsache, dass ich Kliman in seiner Selbstverliebtheit und Dominanz nicht bremste, und weil er in wichtigen Augenblicken meinen Arm, meine Hand, meine Schulter berührte, um einen Punkt besonders zu betonen, konnten die Leute in dem Coffeeshop leicht zu dem Schluss kommen, Kliman sei mein Sohn. »An jenem Tag wurde man von niemandem enttäuscht«, sagte er. »Am interessantesten war ein Journalist namens McDonell. Er sagte so etwas wie: ›Ich bin entschlossen, heiter zu sein, weil das für mich die einzige Möglichkeit ist, hier oben zu stehen, ohne zusammenzubrechen.‹ Er erzählte viele Anekdoten über George. Sprach mit echter Liebe. Ich will damit nicht behaupten, die anderen hätten nicht mit Liebe gesprochen. Aber bei McDonell spürte man eine starke männliche Liebe. Und Bewunderung. Und ein Verständnis dafür, was George wirklich war. Ich glaube, er war derjenige, der die Geschichte von George und seinem

T-Shirt erzählt hat, aber vielleicht war das auch der Vogeltyp. Jedenfalls, die beiden fuhren nach Arizona, um einen bestimmten Vogel zu beobachten. Sie gingen bei Sonnenuntergang in die Wüste. Das ist die Zeit, in der man diesen Vogel angeblich zu sehen kriegt. Aber sie kriegten ihn nicht zu sehen. Plötzlich zog George sein T-Shirt aus und warf es in die Luft. Und Fledermäuse kamen angeflogen und umkreisten das T-Shirt und verfolgten es bis zum Boden. Also warf George das T-Shirt höher und höher in die Luft, so hoch er konnte. Und immer mehr Fledermäuse kamen angeflogen und umkreisten das TShirt, und George rief: ›Die denken, es ist eine Riesenmotte!‹ Es hat mich an den Regenkönig erinnert, an das Ende, wo Henderson in Labrador oder Neufundland – ich habe vergessen, wo es genau war – aus dem Flugzeug steigt und anfängt, auf dem Eis herumzutanzen, mit all dem Überschwang des afrikanischen Regenkönigs, mit dieser seltenen Art von Überschwang, wie man ihn mit privilegierten, reichen Ostküstenprotestanten verbindet, den aber trotzdem nur einer unter Zehntausend von ihnen besitzt. Und das war Georges Triumph. Das war George. Der überschwengliche Ostküstenprotestant. Ich wollte, ich könnte mich an mehr von dem erinnern, was dieser wunderbare Typ gesagt hat, denn er war derjenige, der die Botschaft rüberbrachte. Aber dann fing dieses verdammte Gesinge wieder an. ›Oh, preiset den Herrn! Preiset den Herrn!‹, und jedesmal, wenn ich hörte ›Preiset den Herrn‹, sagte ich leise: ›Er ist nicht hier, und alle außer euch wissen das. Das hier ist der letzte Ort, wo Er sein würde.‹ In dieser Gospeltruppe waren alle Größen und Typen von schwarzen Frauen vertreten. Die mit den riesigen Hintern und die Kleinen, Knorrigen mit Halbglatze, die aussehen, als wären

sie hundert Jahre alt, und die eher dünnen, eher langen, eleganten, hübschen Mädchen, manche von ihnen ziemlich schüchtern, bei deren Anblick man sich gut vorstellen kann, wie die Angst durch die Baumwollfelder ging, wenn der weiße Herr angeritten kam und ein bisschen Spaß haben wollte. Und die Großen, die zuversichtlich sind, und die Großen, die wütend sind, und ungefähr ein halbes Dutzend geschniegelte schwarze Männer, die auch mitsingen, und ich musste die ganze Zeit an die Sklaverei denken, Mr. Zuckerman. Ich glaube, ich habe noch nie so viel an die Sklaverei gedacht, wenn ich mit Schwarzen zusammen war. Denn es war eine derart weiße Gemeinde, für die sie gesungen haben, dass sie mir vorkamen wie schwarzgeschminkte Weiße. Ich sah in der Ausstattung dieser Kirche die letzten Reste der Sklaverei. Hinter ihnen, in der Apsis, war nämlich ein goldenes Kreuz, groß genug, um King Kong zu kreuzigen. Und ich muss Ihnen sagen: Die beiden Dinge, die ich an Amerika am meisten hasse, sind die Sklaverei und das Kreuz, und ganz besonders die Art, wie beides miteinander verbunden war und die Sklavenbesitzer die Tatsache, dass sie Sklaven besaßen, mit dem gerechtfertigt haben, was Gott ihnen in ihrem heiligen Buch gesagt hatte. Aber dass ich das so verabscheue, tut hier nichts zur Sache. Es wurden noch mehr Reden gehalten. Neun im ganzen.« Unser Essen war serviert worden, und er hielt für einen Augenblick inne, um seinen Kaffee halb auszutrinken, doch ich schwieg, entschlossen, keine Fragen zu stellen und abzuwarten, was er als nächstes tun würde, um mich zu der Überzeugung zu treiben, er sei ein achtundzwanzigjähriger Titan der Literatur, dem ich mich besser nicht in den Weg stellen sollte.

»Sie fragen sich, wie ich George kennengelernt habe«, fuhr er fort. »Ich habe ihn kennengelernt, als er zu einer Party des Lampoon nach Harvard kam. Er hat mit meiner Freundin auf einem Tisch getanzt. Er hat sie ausgesucht, weil sie die Verführerischste war. Er war großartig. Hat eine tolle Rede gehalten. George Plimpton war ein großer Mann. Die Leute sagten, er habe es sogar geschafft, elegant zu sterben. Aber das ist Quatsch. Er hatte einfach nicht die Gelegenheit, dagegen anzukämpfen. Er war ein Kämpfer. Wenn es tagsüber passiert wäre, hätte er die Chance gehabt, den Tod zu besiegen. Aber nachts, im Schlaf? Der Tod hat ihn überrumpelt.« Mir fiel ein, dass George seine literarischen Freunde für eines seiner Bücher über das befragt hatte, was er als ihre »Todesphantasien« bezeichnet hatte. Als ich wieder zu Hause war und in meiner Bibliothek nachsah, stellte ich fest, dass es sich um Shadow Box handelte, ein Buch, das mit der Beschreibung seines Abenteuers mit Archie Moore 1959 beginnt und 1974 in Zaire endet, wohin George gefahren war, um für Sports Illustrated über den Schwergewichts-Weltmeisterschaftskampf zwischen Muhammed Ali und George Foreman zu berichten. Plimpton war fünfzig, als Shadow Box 1977 erschien, und vermutlich Ende Vierzig, als er dafür recherchierte und es schrieb, und so muss es für ihn ein großer Spaß gewesen sein, andere Schriftsteller zu fragen, wie sie sich ihren Tod vorstellten – Szenarien, die nach seiner Schilderung allesamt komisch oder dramatisch oder bizarr waren. Der Kolumnist Art Buchwald sagte ihm, er stelle sich vor, dass er »auf dem Center Court in Wimbledon beim Finale der Männer tot umfallen« werde, »im Alter von dreiundneunzig«. In der Bar des Kinshasa Intercontinental

Hotel erzählte ihm eine junge Engländerin, die sich als »freiberufliche Dichterin« bezeichnete, es wäre »toll, als Bassistin einer Rockgruppe einen tödlichen Stromschlag zu kriegen«. Mailer war ebenfalls in Kinshasa, um über den Weltmeisterschaftskampf zu berichten, und schien die Vorstellung am attraktivsten zu finden, er werde von einem wilden Tier getötet werden – an Land von einem Löwen, auf See von einem Wal. Was George selbst betraf, so sah er sich im Yankee Stadium sterben, »manchmal als Batter, der von einem bösen Mann mit einem Bart einen auf den Kopf verpasst kriegt, manchmal als Outfielder, der gegen eine der Statuen rennt, die früher weit draußen im Center Held standen«. Witzig und ungewöhnlich – so stellten sich George und seine Freunde ihren Tod vor, als sie noch nicht daran glaubten, dass er sie ereilen würde, als das Sterben nicht mehr als eine Vorstellung war, über die man sich amüsieren konnte. »Ac s ja auch noch!« Doch der Tod von George Plimpton war weder witzig noch ungewöhnlich. Er war auch keine Phantasie. George starb nicht in einem gestreiften Trikot im Yankee Stadium, sondern im Pyjama im Schlaf. Er starb wie wir alle: als absoluter Amateur. Ich konnte ihn nicht ertragen. Ich konnte die Energie und die glatte Selbstsicherheit dieses protzigen Jungen ebensowenig ertragen wie seinen Stolz darauf, ein Enthusiast und Raconteur zu sein. Seine erdrückende Unmittelbarkeit – gewiss hatte George sie ebenfalls nicht ertragen. Doch ich wollte tun, was immer möglich war, um Kliman davon abzuhalten, Lonoffs Biographie zu schreiben. Ich würde gegen den zu- und abnehmenden Drang

ankämpfen, meinen Wagen zu holen und in die Berkshires zurückzukehren. Ich würde abwarten müssen, was er als nächstes auffuhr, um, wie er glaubte, seine Interessen zu fördern. Da ich in den vergangenen Jahren beinahe vergessen hatte, wie man einem Widersacher die Stirn bietet, ermahnte ich mich, die Raffinesse eines Gegners nicht zu unterschätzen, nur weil er als nervtötendes Waschweib daherkam. Als er die zweite Tasse Kaffee getrunken hatte, sagte er unvermittelt: »Lonoff und seine Schwester – das ändert doch alles, nicht?« Jamie hatte ihm also gesagt, dass sie es mir gesagt hatte. Eine weitere beunruhigende Facette von ihr. Was sollte ich davon halten, dass sie als Mittelsperson zwischen Kliman und mir fungierte? »Das ist Unsinn«, sagte ich. Er beugte sich hinunter und tätschelte seine Aktentasche. »Ein Roman ist kein Beweis. Ein Roman ist ein Roman«, sagte ich und aß weiter. Lächelnd beugte er sich abermals hinunter, und diesmal klappte er die Aktentasche auf, entnahm ihr einen flachen Umschlag, öffnete ihn und schüttelte seinen Inhalt zwischen unseren Tellern auf den Tisch. Wir saßen am Fenster, und ich konnte die Passanten auf der Straße sehen. In dem Augenblick, als ich aufsah, sprachen sie allesamt in ihr Handy. Warum erschienen mir diese Apparate wie die Verkörperung all dessen, dem ich entfliehen musste? Sie waren eine unvermeidliche technische Entwicklung, und doch führte ihre Anzahl mir vor Augen, wie weit ich mich von der Gemeinschaft meiner Zeitgenossen entfernt hatte. Ich gehöre nicht mehr hierhin, dachte ich. Meine Mitgliedschaft ist erloschen. Geh!

Ich nahm die Fotos in die Hand. Es waren vier vergilbte Bilder eines hochgewachsenen, mageren Lonoff und eines hochgewachsenen, mageren Mädchens, bei dem es sich, wie Kliman mir weismachen wollte, um Lonoffs Halbschwester Frieda handelte. Auf einem Foto standen sie auf dem Bürgersteig vor einem nichtssagenden Holzhaus, auf einer Straße, die in der Sonne zu glühen schien. Frieda trug ein dünnes weißes Kleid, und ihr Haar war zu langen, schweren Zöpfen geflochten. Lonoff lehnte an ihrer Schulter und tat, als wäre er von der Hitze ganz erledigt, und Frieda lächelte breit, ein Mädchen mit ausgeprägtem Kinn und großen Zähnen, die an ein robustes Pferd denken ließen. Er war ein gutaussehender Junge mit dunkler Haartolle und schmalem Gesicht, dessen Schnitt es ihm ermöglicht hätte, sich als junger Wüstenbewohner, halb Moslem, halb Jude, auszugeben. Auf einem anderen Foto sahen die beiden, auf einer Picknickdecke sitzend, in die Kamera und lachten über etwas Unidentifizierbares in einer Schale, auf die Lonoff wies. Auf dem dritten waren sie einige Jahre älter. Lonoff reckte einen Arm in die Luft, und Frieda, ein wenig stämmiger geworden, tat, als wäre sie ein mit den Pfoten bettelnder Hund, Lonoff blickte sie streng an und gab ihr ein Kommando. Auf dem vierten sah sie aus wie zwanzig und war nicht mehr die Dienerin, die folgsam die Anweisungen ihres Halbbruders ausführte, sondern eine große, stattliche, ernste junge Frau; im Vergleich zu ihr wirkte Lonoff mit Siebzehn geradezu ätherisch und machte nicht den Eindruck, als könnte ihn irgend etwas anderes als die harmlose Muse der Jugendwerke in Versuchung führen. Es ließ sich argumentieren, diese Fotos zeigten nur für einen sensationslüsternen Menschen wie Kliman etwas Ungewöhnliches und man könne aus ihnen

vernünftigerweise allenfalls schließen, dass Halbbruder und Halbschwester einander zugetan gewesen waren, dass sie Spaß gehabt und einander verstanden hatten und dass sie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gelegentlich von einem Elternteil, einem Nachbarn oder einem Freund fotografiert worden waren. »Diese Fotos«, sagte ich. »Das sind ganz normale Fotos.« »In dem Roman«, sagte er, »schreibt Lonoff, Frieda sei die Anstifterin gewesen.« »Es gibt keinen Lonoff und keine Frieda in irgendeinem Roman.« »Verschonen Sie mich mit einem Vortrag über die unüberwindliche Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das hier ist etwas, das Lonoff gelebt hat. Es ist eine unter Qualen entstandene Beichte im Gewand eines Romans.« »Es sei denn, es ist ein Roman im Gewand einer unter Qualen entstandenen Beichte.« »Warum hat ihn das Schreiben dieses Romans dann so zermürbt?« »Weil das Schreiben einen Schriftsteller zermürben kann. Der Primat eines Lebens in der Phantasie kann das und noch mehr bewirken.« »Ich habe Ihnen die Bilder gezeigt«, sagte er, als hätte ich soeben schlüpfrige Fotos gesehen, »und jetzt werde ich Ihnen das Manuskript zeigen. Vielleicht haben Sie dann nicht mehr die Stirn zu behaupten, dass die treibende Kraft hinter diesem Buch die Beschreibung einer Möglichkeit war, die nicht realisiert worden ist.« »Hören Sie, Kliman, Sie machen keine gute Figur. Das ist für einen littèrateur wie Sie sicher keine große

Überraschung.« Er zog das Manuskript aus der Aktentasche und legte es auf die Fotos: zwischen zwei- und dreihundert Seiten, zusammengehalten von einem dicken Gummiband. Was für eine Katastrophe. Dieser rücksichtslose, entschlossene, schamlose, opportunistische junge Mann, dessen Methode, sich ein Werk der erzählenden Literatur anzueignen, in krassem Gegensatz zu der Lonoffs stand, war im Besitz des ersten Teils eines Romans, den Lonoff nie vollendet hatte, den er für misslungen hielt und den er, hätte er lange genug gelebt, um ihn zu vollenden, vielleicht nie veröffentlicht hätte. »Hat Amy Bellette Ihnen das gegeben? Oder haben Sie es ihr abgenommen?« fragte ich ihn. »Haben Sie dieser armen Frau das Manuskript gestohlen?« Statt einer Antwort schob er es mir zu. »Es ist eine Fotokopie. Ich habe sie extra für Sie machen lassen.« Er hatte es weiterhin darauf abgesehen, mich auf seine Seite zu ziehen. Ich konnte ihm nützlich sein. Schon allein die Erwähnung der Tatsache, dass er mir diese Kopie gegeben hatte, konnte sich als nützlich erweisen. Ich fragte mich, für wie schwach er mich hielt, und dann fragte ich mich, wie schwach ich, aHein in meinem kleinen Haus, geworden war. Warum saß ich überhaupt an diesem Tisch? Nichts von dem, was, wie er behauptete, zwischen uns stattgefunden hatte, hatte wirklich stattgefunden – weder das Telefongespräch noch die Verabredung zum Mittagessen, weder meine Bitte, mir von Plimptons Beerdigungsfeier zu erzählen, noch die Bitte, Lonoffs Manuskript zu sehen. Ich erinnerte mich jetzt genau daran, was wirklich stattgefunden hatte. Sie riechen, alter Mann,

Sie riechen wie der Tod. Und auch ich roch es wieder, roch den Geruch, der von meinem Schoß aufstieg und mich stark an den erinnerte, der mir in dem Haus entgegengeschlagen war, in dem Amy wohnte – und die ganze Zeit fuhr der Mann, der mich mit diesen Beleidigungen bedacht hatte, in aller Seelenruhe fort, sein Sandwich zu essen, nur einen Meter von dem Platz entfernt, wo ich meins aß. Ich hatte dieses Treffen zugelassen und fühlte mich ebenso schutzlos wie Amy – durchlässig, verwässert und geistig schwächer, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und Kliman wusste das. Kliman hatte das begünstigt. Kliman hatte meinen Zustand von Anfang an richtig eingeschätzt: Wer hätte gedacht, dass Nathan Zuckerman das nicht aushalten würde? Aber er kann es nicht aushalten, er ist am Ende, ein winziges, isoliertes Wesen, ein erschöpfter Flüchtling vor der rauhen Welt, zermürbt durch Impotenz und in der schlechtesten Verfassung seines Lebens. Verwirr ihn, lass nicht nach, auf ihn einzudreschen, und der Tattergreis wird in sich zusammensacken. Lies mal wieder Baumeister Solness, Zuckerman: Mach Platz für die Jugend! Ich sah ihm zu, auf seiner Turmspitze, wie er sich an mich anschlich, um mich hinunterzustoßen. Und plötzlich war er für mich nicht mehr eine Person, sondern eine Tür. Wo Kliman sitzt, sehe ich eine schwere Holztür. Was bedeutet das? Wohin führt diese Tür? Was trennt diese Tür? Klarheit und Verwirrung? Das könnte sein. Ich weiß nie, ob er die Wahrheit sagt, ob ich etwas vergessen habe oder ob er sich etwas ausdenkt. Eine Tür, die Klarheit und Verwirrung trennt, die Amy und Jamie trennt, eine Tür, die zu George Plimptons Tod führt, eine Tür, die aufschwingt und sich,

nur Zentimeter vor meinem Gesicht, wieder schließt. Ist er noch mehr als diese Tür? Die Tür ist alles, was ich sehe. »Mit Ihrer Zustimmung«, sagte er, »könnte ich eine Menge für Lonoff tun.« Ich lachte ihn aus. »Sie haben gefühllos die Notlage einer schwerkranken Frau mit einem Gehirntumor ausgenutzt. Sie haben ihr dieses Manuskript auf irgendeine Weise gestohlen.« »Ich habe nichts dergleichen getan.« »Natürlich haben Sie das. Sie hätte Ihnen nicht bloß die erste Hälfte gegeben. Wenn Sie Ihnen dieses Buch hätte geben wollen, hätte sie Ihnen das ganze Manuskript überlassen. Sie haben gestohlen, was Sie stehlen konnten. Die andere Hälfte lag nicht offen herum, sie war irgendwo in der Wohnung, wo sie für Sie unzugänglich war. Natürlich haben Sie es gestohlen – wer gibt schon jemandem einen halben Roman? Und jetzt«, sagte ich, bevor er antworten konnte, »wollen Sie sich jemandem wie mir aufdrängen?« Unbeeindruckt sagte er: »Sie können für sich selbst sorgen. Sie haben viele Bücher geschrieben. Sie haben genug Abenteuer erlebt. Und auch Sie können rücksichtslos sein.« »Das kann ich«, sagte ich und hoffte, dass es noch stimmte. »George hat von Ihnen immer mit großer Bewunderung gesprochen, Mr. Zuckerman. Er hat die seelische Kraft bewundert, die Ihr Talent befeuert hat. Und ich teile seine Bewunderung.« So schlicht wie möglich sagte ich: »Gut. Dann lassen Sie Amy in Ruhe und versuchen Sie nicht, auf irgendeine Weise

mit mir in Kontakt zu treten.« Ich legte etwas Geld für das Essen auf den Tisch und ging zur Tür. Kliman brauchte nur wenige Sekunden, um seine Sachen einzusammeln und mir nachzueilen. »Das ist Zensur. Sie sind doch selbst Schriftsteller, und trotzdem versuchen Sie, die Veröffentlichung des Werkes eines anderen Schriftstellers zu blockieren.« »Dass ich Ihnen bei diesem nichtswürdigen Buch nicht helfe, bedeutet nicht, dass ich Sie in irgendeiner Weise blockiere. Im Gegenteil – ich mache Ihnen den Weg frei, indem ich in mein Loch krieche, um zu sterben.« »Aber es ist nicht nichtswürdig. Und Amy Bellette sagt ja selbst, dass es diesen Inzest gegeben hat. Sie hat mir ja überhaupt erst davon erzählt.« »Amy Bellette hat die Hälfte ihres Gehirns verloren.« »Nicht, als ich mit ihr gesprochen habe. Das war vor dem Eingriff. Sie war noch nicht operiert worden. Der Tumor war noch nicht mal entdeckt worden.« »Aber er war schon da, oder? Sie hatte den Kopf voller Krebszellen, oder? Noch nicht entdeckt, ja, aber der Tumor fraß sich schon durch ihr Gehirn. Ihr Gehirn, Kliman. Sie hatte Ohnmachtsanfälle, ihr war übel, sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und furchtbare Angst und wusste nicht, was sie zu irgend jemandem sagte. Zu diesem Zeitpunkt war sie wirklich nicht Herrin ihrer selbst.« »Aber es ist doch offensichtlich, dass genau das passiert ist.« »Offensichtlich ist es nur für Sie.« »Ich kann das nicht glauben!« rief er, während er mit mir

Schritt hielt und mir das verwirrte Gesicht seiner Wut zeigte. Er war nicht mehr in der Stimmung, meine Verachtung zu genießen, und so brach seine Abwehr gegen meine Ablehnung in sich zusammen, und unter dem anmaßenden Rüpel kam endlich der erbitterte Bettler zum Vorschein – es sei denn, auch dies war ein Akt der Verstellung, und ich war nur ausersehen, vom Anfang bis zum Ende in dieser Schmierenkomödie den alten Trottel zu spielen. »Ausgerechnet Sie! Dieser Mann hatte einen Penis, Mr. Zuckerman. Und sein Penis hat die beiden in den Augen ihrer Umgebung drei Jahre lang zu Verbrechern gemacht. Dann kam der Skandal, und vor dem hat er sich die nächsten vierzig Jahre versteckt. Und dann schließlich hat er dieses Buch geschrieben. Dieses Buch, das sein Meisterwerk ist! Kunst, die aus einem gequälten Gewissen entstanden ist! Der ästhetische Triumph über die Schande! Er wusste es nicht – er war zu unglücklich und verängstigt, um es zu erkennen. Und Amy war zu verängstigt von seinem Unglück, um es zu erkennen. Aber wie können Sie verängstigt sein? Sie, die Sie doch wissen, wie es kommt, dass Menschen unersättlich werden! Sie, die Sie doch den nagenden Hunger nach mehr kennen! Hier ist die Abrechnung eines großen Schriftstellers mit dem Verbrechen, das ihn jeden Tag seines Lebens bedroht hat. Lonoffs letzter Kampf mit seinem Makel. Sein lange aufgeschobener Versuch, das Abstoßende zuzulassen. Sie kennen das doch. Das Abstoßende zulassen! Das ist Ihr Verdienst, Mr. Zuckerman. Und sein Verdienst liegt in diesem Buch. Seine Anstrengung, diese Last zu schultern, ist zu heldenhaft, als dass Sie sie einfach übergehen könnten. Dieses Selbstporträt ist nicht schmeichelhaft, glauben Sie mir. Der Junge, der aus einem vierzigjährigen

Schlaf erwacht! Es ist außergewöhnlich. Es ist Lonoffs Scharlachroter Buchstabe. Es ist Lolita ohne Quilty und die dämlichen Witze. Es ist das, was Thomas Mann geschrieben hätte, wenn er nicht Thomas Mann gewesen wäre. Hören Sie mich an! Helfen Sie mir! An irgendeinem Punkt müssen Sie diesen Inzest doch ernst nehmen! Davor die Augen zu verschließen ist sinnlos und steht Ihnen schlecht zu Gesicht! Ihre Abneigung gegen mich macht Sie blind für die Wahrheit, Sir! Und die Wahrheit ist einfach die, dass er das Leben mit Hope aufgeben und mit Amy durch seine eigene Hölle gehen musste, um die Leiden des jungen Lonoff zu befreien. Ich beschwöre Sie: Lesen Sie das erstaunliche Resultat!« Er war jetzt vor mir, ging mit schnellen Schritten rückwärts und stieß mir die Fotokopie des Manuskripts vor die Brust. Ich blieb stehen, mit hängenden Armen und geschlossenem Mund. Ich hätte ihm von Anfang an mit Schweigen begegnen sollen. Ich hätte – dachte ich zum hundertstenmal – gar nicht erst mein Haus verlassen sollen. Jahrelang war ich fortgewesen, hatte eine Festung gegen die Eindringlinge errichtet, die sich von meinem Werk angezogen fühlten, hatte mich mit Schichten von Misstrauen geschützt – und doch war ich jetzt hier und sah in diese schönen Augen mit dem fanatischen grünlichen Schimmer. Ein Literaturverrückter. Noch einer. Wie ich, wie Lonoff, wie jeder, dessen größte Leidenschaft einem Buch gilt. Warum hatte es nicht der sanfte Billy Davidoff sein können, der Lonoffs Biographie schreiben wollte? Warum konnte der zutiefst respektlose, hitzige Kliman nicht der sanfte Billy und der sanfte Billy nicht der zutiefst respektlose, hitzige Kliman sein, und warum konnte Jamie Logan nicht mir gehören anstatt ihnen? Warum hatte ich

Prostatakrebs bekommen müssen? Warum hatte ich diese Morddrohungen bekommen müssen? Warum musste das Nachlassen der eigenen Kraft so rasch und grausam sein? Ach, dieser Wunsch, das, was ist, möge so sein, wie es nicht ist – und zwar nicht nur auf dem Papier! Plötzlich erreichte sein Ärger den Höhepunkt, aber anstatt mir das Manuskript an den Kopf zu werfen, wie ich es erwartete – ich hob in einer instinktiven Abwehrbewegung die Arme –, ließ er es nur Zentimeter vor meinen Füßen auf den New Yorker Bürgersteig fallen und lief über die Straße davon, wobei er zwischen den vorbeijagenden Wagen hindurchflitzte, und ich konnte nur hoffen, zum Zeugen zu werden, wie sie diesen wütenden Möchtegernbiographen über den Haufen fuhren. Nachdem ich im Hotel meine uringetränkte Unterhose ausgezogen und mich am Waschbecken gewaschen hatte, rief ich Amy an. Ich wollte wissen, wie Kliman zu dem Manuskript gekommen war. Ich hatte es in meinem Zimmer. Ich hatte es aufgehoben und mitgenommen. Ich hatte gewartet, bis Kliman außer Sicht gewesen war, und es dann ins Hotel getragen. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hatte nicht vor, es zu lesen. Ich konnte mich an diesem Wahnsinn nicht weiter beteiligen. Ich hatte genug Wahnsinn hinter mich gebracht, als ich jünger, klarer im Kopf und weit schlauer und widerstandsfähiger als jetzt gewesen war. Ich wollte nicht wissen, was Lonoff aus der Geschichte von ihm selbst und seiner Schwester und ihrer beider großem Fehltritt gemacht hatte, und ebensowenig wollte ich weiterhin verteidigen, was ich nach wie vor glaubte: dass es diesen Fehltritt nie gegeben hatte. Obgleich mich dieser Mann zu Beginn meiner Karriere sehr

fasziniert und ich noch vor ein paar Tagen sämtliche Bücher von ihm gekauft hatte, Bücher, die ich seit Jahrzehnten besaß, wollte ich das Manuskript loswerden und von Richard Kliman und allem befreit sein, was ich an ihm nicht einschätzen konnte und was in Gegensatz zu allem stand, was ich ernst nahm. Selbst wenn seine Ausbrüche allesamt wie einstudiert wirkten, wie der rücksichtslose, widerwärtige, kindische Trick eines oberflächlichen Menschen, der vorgibt, von Liebe und Ehrfurcht für das geschriebene Wort erfüllt zu sein, war er, wie mir schien, nicht nur Lonoffs, sondern auch meine Nemesis. Sollte ich fortfahren, mich diesem Hochstapler und der Vitalität, dem Ehrgeiz, dem Beharrungsvermögen und der Wut, die ihn trieben, in den Weg zu stellen, so konnte ich nur unterliegen. Sobald ich mit Amy gesprochen und dafür gesorgt hatte, dass das Manuskript wieder in ihre Hände gelangte, würde ich Jamie und Billy anrufen und ihnen sagen, dass unsere Vereinbarung hinfällig war. Und ich würde New York verlassen, ohne den Urologen noch einmal aufzusuchen. Ich besaß nicht die Kraft, die Kliman so bewunderte, jedenfalls nicht die Kraft für weitere Interventionen. Der Urologe konnte ebensowenig eine Veränderung bewirken wie ich selbst. Ich mochte mir im Verlauf von vierzig Jahren den Ruf erworben haben, ein Buch nach dem anderen schreiben zu können, aber ich hatte dennoch die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit erreicht. Und auch die Grenzen meiner Fähigkeit, jemanden zu beschützen – und das hatte ich schon gewusst, als ich nicht mehr imstande gewesen war, mich selbst auf andere Art zu schützen als durch Verschwinden. Ich konnte diesen Burschen nicht aufhalten, nicht einmal, indem ich Amy mitnahm in die Berkshires oder eine Wache

vor ihrer Tür postierte. Und ich konnte ihn auch nicht davon abhalten, seine impertinente Aufmerksamkeit mir zuzuwenden, sobald er mit Lonoff fertig war. Wer konnte die Geschichte meines Lebens vor Richard Kliman schützen, wenn ich tot war? War Lonoff nicht bloß ein literarischer Trittstein auf dem Weg zu mir? Und was würde mein »Inzest« sein? Inwieweit würde ich es versäumt haben, ein idealer Mensch zu sein? Was würde mein großes, unanständiges Geheimnis sein? Gewiss gab es eines. Gewiss gab es mehr als eines. Erstaunlich auch, dass einem das eigene Können und die Leistungen, die man erbracht hat, zuletzt dadurch vergolten werden, dass sie der Inquisition eines Biographen ausgeliefert sind. An den Mann, der die Herrschaft über die Worte hat, der sein Leben lang Geschichten erfunden hat, erinnert man sich nach seinem Tod, wenn überhaupt, dann nur wegen einer Geschichte, die ein anderer über ihn erfunden hat, einer Geschichte, in der seine verborgene Verworfenheit enthüllt und mit schonungsloser Ehrlichkeit, Klarheit und Selbstgewissheit geschildert wird, mit ernster Sorge um die heikelsten Fragen der Moral und mit nicht geringem Entzücken. Ich war also der nächste. Warum hatte ich das nicht längst gemerkt? Wenn ich es nicht schon längst gemerkt hatte. Amy ging nicht ans Telefon. Ich wählte Jamies und Billys Nummer. Nach dem ersten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Ich sagte: »Hier ist Nathan Zuckerman. Ich rufe vom Hotel aus an. Die Nummer ist –« Jamie nahm den Hörer ab. Ich hätte auflegen sollen. Ich

hätte gar nicht erst anrufen sollen. Ich hätte dies tun und jenes lassen sollen, und jetzt hätte ich etwas ganz anderes tun sollen! Doch sobald ich dem Reiz ihrer Stimme ausgesetzt war, hatte ich keine Kontrolle mehr über meine Gedanken. Anstatt fortzufahren, mich aus der Katastrophe zu lösen, aus der Katastrophe, die ich heraufbeschworen hatte, indem ich glaubte, ich könne meine Lebensumstände – den Umstand, unwiderruflich verändert zu sein – verändern, tat ich das Gegenteil, und meine Gedanken kreisten nicht um das, was ich war, sondern um das, was ich nicht war: Es waren die Gedanken eines Menschen, der noch immer imstande ist, es mit dem Leben aufzunehmen. »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte ich. »Ja.« »Ich möchte hier mit Ihnen sprechen.« In der Pause, die eintrat, setzte ich mich so gut ich konnte mit den lächerlichen Worten auseinander, die die Vergangenheit mich drängte auszusprechen. »Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, Sie würden es können.« »Es ist ein interessanter Gedanke, Mr. Zuckerman, aber nein.« Was konnte ich, ein ausgebrannter »Nichtmehr«, der weder genug Selbstvertrauen für eine Verführung noch die Fähigkeit besaß, zur Tat zu schreiten, sagen, um sie umzustimmen? Alles, was ich noch hatte, waren meine Instinkte: wollen, begehren, haben. Und das dumme Erstarken meiner Entschlossenheit zu handeln. Endlich zu handeln! »Kommen Sie in mein Hotel«, sagte ich.

»Ich bin ziemlich verblüfft«, sagte sie. »Mit diesem Anruf habe ich nicht gerechnet.« »Ich auch nicht.« »Warum haben Sie dann angerufen?« »Seit wir uns in Ihrer Wohnung unterhalten haben, ist irgend etwas in mich gefahren.« »Allerdings etwas, das ich, fürchte ich, nicht befriedigen kann.« »Bitte kommen Sie.« »Bitte hören Sie auf. Es braucht nicht viel, mich aus der Bahn zu werfen. Denken Sie, ich bin streitlustig? Die kratzbürstige Jamie? Die aggressive Jamie? Ich bin ein streitlustiges Nervenbündel. Denken Sie, Richard Kliman ist mein Liebhaber? Denken Sie das immer noch? Dass ich in sexueller Hinsicht nichts mit ihm zu tun haben will, sollte Ihnen mittlerweile hinreichend klar sein. Sie haben sich eine Frau zusammenphantasiert, die ich nicht bin. Können Sie sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich Billy kennenlernte und nicht mehr jedesmal angebrüllt wurde, wenn ich mich nicht jedem Wunsch fügte?« Was konnte ich sagen, um sie aus der Reserve zu locken? Was konnte ich sagen, um ein offenes Ohr zu finden? »Sind Sie allein?« fragte ich. »Nein.« »Wer ist bei Ihnen?« »Richard. Er ist nebenan. Er hat mir erzählt, wie sein Treffen mit Ihnen war. Das ist alles, was wir hier tun. Er erzählt, ich höre zu. Das ist alles. Der Rest ist Ihre Einbildung. Was für ein verwundeter Mensch Sie sein müssen, sich so etwas vorzustellen.«

»Bitte kommen Sie, Jamie.« Von allen sprachlichen Mitteln, die mir zu Gebote standen, waren diese Worte die gehaltvollsten, auf die ich verfiel, um sie zu wiederholen. »Ich bin töricht«, sagte sie, »also hören Sie bitte auf.« Ich sah mich, ich hörte mich, ich betrachtete mich mit angemessener Häme und Verachtung und war abgestoßen vom Ausmaß meiner Verzweiflung, doch die sexuelle Verbindung zwischen mir und den Frauen war vor Jahren durch die Prostataoperation so abrupt unterbrochen worden, dass ich jetzt, im Gespräch mit Jamie, nicht anders konnte, als diese Tatsache auszublenden und einem Ego zu gehorchen, das ich nicht mehr besaß. »Ich habe Sie angerufen«, sagte ich, »um Ihnen etwas ganz anderes zu sagen. Ich wollte dies gar nicht sagen. Ich dachte, ich hätte mich von alldem befreit.« »Ist das überhaupt möglich?« Sie klang, als hätte sie diese Frage nicht im Hinblick auf mich, sondern im Hinblick auf sich selbst gestellt. »Kommen Sie, Jamie. Ich habe das Gefühl, dass Sie mir etwas beibringen können und dass es für mich noch nicht zu spät ist, es zu lernen.« »Das ist eine Täuschung. Das alles ist eine Täuschung. Nein, ich kann nicht kommen, Mr. Zuckerman.« Und dann fügte sie, sei es aus Freundlichkeit, sei es, um mich loszuwerden oder vielleicht auch, weil ein Teil von ihr es wirklich meinte, hinzu: »Ein andermal«, als könnte ich all die Tage, die noch vor ihr lagen, in ihrer Nähe bleiben und warten.

Und so floh ich vor den Kräften, die einst meine eigene Kraft erhalten und meine Stärke gefordert und meine Begeisterung und Leidenschaft entfacht und meinen Widerstand geweckt und mich mit dem Bedürfnis erfüllt hatten, alles, sei es groß oder klein, wichtig zu nehmen und mit Bedeutung zu erfüllen. Ich blieb nicht, um wie früher zu kämpfen, sondern floh vor Lonoffs Manuskript, vor all den Gefühlen, die es aufgewühlt hatte, vor all den Gefühlen, die es aufwühlen würde, wenn ich Klimans Randbemerkungen läse und dort auf die Spuren eines Geistes stieße, der alles zum Nennwert nahm, auf eine Vulgarität, die jede Äußerung auf vollkommen idiotische Weise mit ihrem Urheber gleichsetzte. Ich war diesem Kampf nicht gewachsen und wollte keinen Anteil haben an den damit verbundenen Wirrungen, und daher warf ich das Manuskript ungelesen – als wäre es das Werk eines Schriftstellers, der mir mein Laben lang gleichgültig gewesen war – in den Papierkorb des Hotelzimmers, setzte mich in meinen Wagen und war kurz nach Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause. Auf der Flucht muss man rasch entscheiden, was man mitnimmt und was nicht, und ich beschloss, nicht nur das Manuskript zurückzulassen, sondern auch die sechs Bücher von Lonoff, die ich bei Strand gekauft hatte. Die fünfzig Jahre alten Exemplare, die ich zu Hause hatte, würden mir für den Rest meines Lebens reichen. Der Aufruhr von New York hatte wenig länger als eine Woche gedauert. Es gibt keinen weltlicheren Ort als New York, das voller Menschen ist, die, mit ihren Handys telefonierend, in Restaurants gehen, Affären haben, sich um Jobs bewerben, Zeitungen lesen, mit Leidenschaft politische Überzeugungen vertreten, und ich hatte gedacht,

ich würde von dort, wo ich gewesen war, zurückkehren und mich erneut in all das stürzen, was ich hinter mir gelassen hatte – Liebe, Verlangen, Auseinandersetzungen, berufliche Konflikte, das ganze chaotische Vermächtnis der Vergangenheit –, doch statt dessen war ich, wie in einem zu schnell abgespielten alten Film, nur für einen ganz kurzen Augenblick hindurchgejagt, um mich dann wieder daraus zu lösen und nach Hause zu fahren. Es war nichts weiter geschehen, als dass beinahe etwas geschehen war, doch ich kehrte zurück wie von einem großen, bedeutenden Geschehen. Ich hatte im Grunde nichts zu bewirken versucht, hatte ein paar Tage lang einfach dagestanden, erfüllt von Frustration, erschüttert von der gnadenlosen Auseinandersetzung zwischen den Nichtmehrs und den Nochnichts. Das war demütigend genug. Nun war ich zurück, wo ich für immer der Notwendigkeit enthoben war, mich mit jemandem zu streiten oder etwas zu begehren oder jemand zu sein, die Menschen von diesem oder jenem zu überzeugen und eine Rolle in dem Drama meiner Zeit zu übernehmen. Kliman würde mit all seiner rohen Intensität Lonoffs Geheimnis nachspüren, und Amy Bellette würde ebenso außerstande sein, ihn davon abzuhalten, wie sie als Mädchen außerstande gewesen war, die Morde an ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder zu verhindern, oder jetzt dem Tumor, der sie tötete, Einhalt zu gebieten. Ich würde ihr sogleich einen Scheck schicken und einen weiteren am Ersten eines jeden Monats, doch sie würde ohnehin innerhalb eines Jahres sterben. Kliman würde nicht lockerlassen und durch dieses überflüssige Buch, in dem er Lonoffs angeblichen Fehltritt enthüllt und als Schlüssel zur Erklärung seines gesamten Werkes darstellte, vielleicht für ein paar Monate literarische

Bedeutung erlangen. Möglicherweise würde es ihm sogar gelingen, Jamie zu gewinnen, sofern sie entnervt oder verwirrt oder gelangweilt genug war, um Trost bei seiner abstoßend prahlerischen Pose zu suchen. Und irgendwann würde ich ebenfalls sterben, wie Amy, wie Plimpton, wie Lonoff, wie alle, die ihre Taten vollbracht und ihre Aufgabe erfüllt hatten und nun auf dem Friedhof lagen, allerdings nicht ohne mich zuvor an den Tisch am Fenster zu setzen, hinauszusehen in das graue Licht eines November morgens, über den vom Schnee gepuderten Weg zum stillen, von Wind geriffelten Wasser des Sumpfes, das an den Rändern, wo die faulenden, skelettartigen Stengel des rispenlosen Schilfs standen, bereits überfror, und in meinem sicheren Hafen, wo keiner dieser New Yorker Menschen mehr zu sehen war – und bevor mein nachlassendes Gedächtnis mich vollends im Stich ließ –, die letzte Szene von Er und Sie zu schreiben. ER Es wird wohl noch zwei Stunden dauern, bis Billy zurück ist. Warum kommen Sie nicht in mein Hotel? Ich wohne im Hilton, Zimmer Nummer 1418. SIE (leise lachend) Als Sie sie verlassen haben, sagten Sie, dass es Sie umbringt und dass Sie sie nie mehr sehen wollen. ER Aber jetzt will ich sie sehen. SIE Was hat sich verändert? ER Das Ausmaß der Verzweiflung. Ich bin jetzt verzweifelter. Und Sie? SIE Ich … ich … ich bin weniger verzweifelt. Warum sind Sie jetzt verzweifelter? ER Fragen Sie die Verzweiflung, warum sie verzweifelter

ist. SIE Ich muss ehrlich mit Ihnen sein. Ich glaube, ich weiß, warum Sie jetzt verzweifelter sind. Ich glaube nicht, dass es helfen wird, wenn ich Sie in Ihrem Hotelzimmer besuche. Richard ist hier. Er ist gekommen und hat mir von dem Gespräch zwischen Ihnen beiden erzählt. Ich muss Ihnen sagen, dass Sie meiner Meinung nach einen großen Fehler machen. Richard versucht nur, seine Arbeit zu tun, so wie Sie Ihre Arbeit tun. Er ist äußerst verärgert. Und Sie sind offenbar ebenfalls äußerst verärgert. Sie rufen an und wollen etwas in Ihr Leben holen, das Sie lieber nicht – ER Ich lade Sie in mein Hotelzimmer ein. Ich möchte, dass Sie mich hier, in meinem Hotelzimmer, besuchen. Kliman ist Ihr Liebhaber. SIE Nein. ER Doch. SIE (mit Nachdruck) Nein. ER Sie haben es neulich praktisch zugegeben. SIE Das habe ich nicht. Sie haben mich entweder missverstanden oder sich verhört. Sie haben es völlig falsch verstanden. ER Dann können Sie also auch lügen. Gut. Ich bin froh, dass Sie lügen können. SIE Wie kommen Sie darauf, dass ich lüge? Wollen Sie behaupten, weil ich auf dem College mit ihm zusammen war, muss er jetzt mein Liebhaber sein? ER Ich habe gesagt, ich sei eifersüchtig auf Ihren Liebhaber. Ich habe ihn für Ihren Liebhaber gehalten. Jetzt sagen Sie mir, dass er nicht Ihr Liebhaber ist. SIE Nein, das ist er nicht.

ER Dann ist jemand anders Ihr Liebhaber. Ich weiß nicht, ob das schlimmer oder besser ist. SIE Ich möchte nicht über meinen Liebhaber diskutieren. Wollen Sie mir sagen, dass Sie mein Liebhaber sein wollen? ER Ja. SIE Sie wollen, dass ich jetzt zu Ihnen komme. Es ist sechs Uhr. Ich könnte um halb sieben bei Ihnen sein. Ich kann um neun mit ein paar Lebensmitteln nach Hause kommen und sagen, ich hätte noch ein paar Besorgungen gemacht. Ich müsste also etwas einkaufen. Oder Sie könnten das jetzt für mich erledigen. Dann könnten wir etwas mehr Zeit miteinander verbringen. ER Wann sind Sie hier? SIE Das rechne ich gerade aus. Sie könnten jetzt die Einkäufe erledigen. Ich könnte Richard loswerden und mir ein Taxi nehmen. Ich könnte um halb sieben bei Ihnen sein. Aber ich müsste um halb neun wieder gehen. Wir hätten also zwei Stunden. Gefällt Ihnen das? ER Ja. SIE Und dann? ER Dann hätten wir zwei Stunden. SIE Ich bin heute völlig verrückt. (Lacht.) Sie nutzen den Zustand einer Verrückten aus. ER Ich ernte die Früchte der Wahl. SIE (lacht) Ja, das stimmt. ER Die haben Ohio erobert – ich werde Sie erobern. SIE Ich könnte heute ein bisschen starke Medizin vertragen. ER Es gab Zeiten, da bin ich mit starker Medizin hausieren gegangen.

SIE Das erinnert mich an die Bayous. ER Was sagen Sie? SIE Die Bayous in Houston. Wir sind über die Grundstücke von anderen Leuten dorthin gegangen, haben irgendwo eine Schaukel gefunden und sind ins Wasser gesprungen. Wir sind in diesem geheimnisvollen, kakaobraunen Wasser geschwommen, in dem viele tote Bäume lagen und das so trüb war, dass man seine Hand unter Wasser nicht sehen konnte. Von den Bäumen hing Moos, und das Wasser war so schlammig – ich weiß auch nicht, warum ich es getan habe, höchstens weil es eines der Dinge war, die meine Eltern mir verboten hätten. Das erste Mal hat meine ältere Schwester mich mitgenommen. Sie war die Wagemutige, nicht ich. Es hat sie total verrückt gemacht, dass meine Mutter so entsetzlich viel Wert auf den äußeren Anschein gelegt hat. Sie war diejenige, die nicht mal mein strenger Vater zügeln konnte, geschweige denn meine Mutter. Ich habe Billy geheiratet. Das Schlimmste an ihm war, dass er Jude ist. ER Das ist auch das Schlimmste an mir. SIE Tatsächlich? ER Kommen Sie, Jamie. Kommen Sie zu mir. SIE (rasch und leichthin) Gut. Wo sind Sie noch mal? ER Im Hilton. Zimmer Nummer 1418. SIE Und wo ist das Hilton? Ich kenne die New Yorker Hotels nicht. ER Das Hilton ist in der Sixth Avenue, zwischen der 53rd und der 54th Street. Gegenüber vom CBS-Gebäude. Schräg gegenüber vom Warwick Hotel. SIE Dieses riesige, nicht besonders schöne Hotel.

ER Genau. Ich wollte eigentlich nur ein paar Tage bleiben. Ich wollte eine kranke Freundin besuchen. SIE Ich weiß von Ihrer kranken Freundin. Wir wollen nicht davon sprechen. ER Was hat Kliman Ihnen von ihr erzählt? Wissen Sie eigentlich, was er dieser Frau antut, die an einem Hirntumor stirbt? SIE Er versucht, ihre Geschichte zu erfahren. Oder eigentlich nicht mal ihre Geschichte, sondern die eines Menschen, den sie geliebt hat und dessen Werk in Vergessenheit geraten ist. Dessen Reputation verschwunden ist. Sehen Sie, Richard ist leider selbst sein ärgster Feind. Aber Sie sollten sich davon nicht beeinflussen lassen. Er ist ein energischer, zwanghafter, entschlossener, interessierter Mensch, der sich jetzt mit diesem praktisch unbekannten Schriftsteller befasst, den niemand mehr liest. Er ist von ihm fasziniert, er ist erregt, er denkt, es gibt da ein Geheimnis, das nicht einfach skandalös, sondern vielmehr lehrreich und interessant ist. Ja, er hat diese verrückte Gier des Biographen. Ja, er hat den rücksichtslosen Drang, das zu kriegen, was er haben will. Ja, er würde alles dafür tun. Aber warum nicht – wenn es ihm ernst ist? Er versucht, diesem Mann zu seinem verdienten Platz in der amerikanischen Literatur zu verhelfen, und dazu braucht er die Hilfe dieser Frau – damit er eine Geschichte erzählen kann, die niemandem schadet. Niemandem. Die Leute, die darin vorkommen, sind seit vielen Jahren tot. ER Dieser Mann hat drei Kinder, die noch leben. Was ist mit denen? Wie würden Sie sich fühlen, wenn so etwas über Ihren Vater ans Licht käme?

SIE Als Lonoff siebzehn war, hatte er eine Beziehung mit seiner Halbschwester – er war jünger als sie, und als das anfing, war er vierzehn. Er war der jüngere von beiden, er war unschuldig. Ich kann darin keine Schande entdecken. ER Sie sind sehr großzügig. Glauben Sie, Ihre Eltern würden ebenso großzügig sein, wenn sie von Lonoffs Jugend lesen? SIE Mein Vater und meine Mutter haben am Dienstag George Bush gewählt. Die Antwort lautet also: Nein. (Lacht.) Selbst wenn Ihnen an ihrer Zustimmung liegen würde, hatten Sie nie ein Buch veröffentlicht, das mein Vater oder meine Mutter nicht mit Wohlwollen betrachtet hätten. Keines Ihrer Bücher wäre so, wie es ist, je veröffentlicht worden, mein Freund. ER Und was ist mit Ihnen? Würden Sie Ihren Vater mit Wohlwollen betrachten, wenn so etwas über ihn herauskäme? SIE Es würde mir nicht leichtfallen. ER Haben Sie eine Tante? SIE Nein, ich habe keine Tante. Aber ich habe einen Bruder. Ich habe keine Kinder. Aber wenn ich welche hätte, würde ich nicht wollen, dass sie es erfahren würden, wenn zwischen meinem Bruder und mir etwas gewesen wäre. Aber ich glaube, es gibt Dinge, die wichtiger sind als – ER Bitte. Nicht Kunst. SIE Wofür haben Sie dann Ihr Leben aufgegeben? ER Ich wusste nicht, dass ich es aufgebe. Ich habe getan, was ich getan habe, und ich wusste es nicht. Können Sie sich vorstellen, was die Zeitungen daraus machen werden? Können Sie sich vorstellen, was die Kritiker daraus machen werden? Das hat nichts mit Kunst und noch weniger mit

der Wahrheit oder mit Verständnis für einen Fehltritt zu tun. Es hat etwas mit Sensationslust zu tun. Wäre Lonoff noch am Leben, es würde ihm leid tun, je ein Wort geschrieben zu haben. SIE Er ist tot. Es wird ihm nicht leid tun. ER Er wird bloß in den Schmutz gezogen werden. Ohne guten Grund. Er wird übel in den Schmutz gezogen werden von den moralistischen Tugendbolden, den feministischen Predigerinnen, der übelkeiterregenden Überlegenheit der Läuse der Literatur. Viele der Kritiker, die eigentlich nette Menschen sind, werden sagen, dass er ein schweres sexuelles Verbrechen begangen hat. Worüber lachen Sie jetzt? SIE Über Ihre Herablassung. Glauben Sie, wenn es die »feministischen Predigerinnen« nicht gegeben hätte, würde ich es auch nur in Erwägung ziehen, in zwanzig Minuten bei Ihnen in Ihrem Hotelzimmer zu sein? Glauben Sie, ein Mädchen, das so aufgewachsen ist wie ich, hätte den Mumm, so etwas zu tun? Sie ernten die Früchte der Wahl und der Feministinnen. George Bush und Betty Friedan. (Sie spricht mit einemmal wie eine hartgesottene Gangsterbraut in einem Film.) Wollen Sie, dass ich vorbeikomme – wollen Sie das wirklich? Oder wollen Sie sich lieber mit mir am Telefon über Richard Kliman unterhalten? ER Ich glaube Ihnen nicht. Was Kliman betrifft, glaube ich Ihnen nicht. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. SIE Gut. Gut. Spielt das eine Rolle für die zwei Stunden, die wir miteinander verbringen wollen? Sie können mir glauben oder nicht glauben, und wenn Sie mir nicht glauben und nicht wollen, dass ich komme, dann ist das in Ordnung. Wenn Sie mir nicht glauben und wollen, dass ich

komme, ist das auch in Ordnung. Und wenn Sie mir glauben und wollen, dass ich komme, ist das ebenfalls in Ordnung. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen. ER Sind die dreißigjährigen Frauen heutzutage alle so extrem selbstsicher, oder sind sie es nur so lange, wie sie die Fassade aufrechterhalten können? SIE Keins von beiden. ER Dann gilt das also nur für dreißigjährige Frauen mit literarischen Ambitionen? SIE Nein. ER Oder für die dreißigjährigen Frauen, die in durch Öl reich gewordenen Houstoner Familien aufgewachsen sind? Die überprivilegierten jungen Frauen? SIE Nein, das gut für mich. Sie sprechen mit mir. ER Ich bete Sie an. SIE Sie kennen mich nicht. ER Ich bete Sie an. SIE Sie fühlen sich sehr stark zu mir hingezogen. ER Ich bete Sie an. SIE Sie beten mich nicht an. Das können Sie nicht. Es ist unmöglich. Diese Worte sind bedeutungslos. Sie kommen mir vor wie ein Mensch, der auf ein Abenteuer aus war, ohne es zu wissen. Er, der alle Erfahrungen elf Jahre lang von sich geschoben hat, der sich gegen alles außer dem Denken und dem Schreiben abgeschottet hat – er, dessen Existenz so ganz auf sich selbst bezogen war, hatte keine Ahnung. Erst als er wieder in der großen Stadt ist, entdeckt er, dass er wieder mitten im Leben stehen will und dass der einzige Weg dorthin durch die unvernünftige, unbesonnene … Tja, er ist einem vollkommen

unvernünftigen Verlangen ausgeliefert. Ich spreche von einem geradezu unmenschlich disziplinierten, vernunftgesteuerten Menschen, der jeden Sinn für Proportion verloren und sich in eine verzweifelte Geschichte voller unvernünftiger Wünsche begeben hat. Aber so ist es eben, wenn man mitten im Leben steht, nicht? Wenn man sich ein Leben aufbaut. Sie wissen, dass die Vernunft sich jederzeit wieder Geltung verschaffen kann – und wenn sie das tut, sind das Leben und die Instabilität, die zum Leben gehört, dahin. Jedermanns Schicksal: Instabilität. Das einzige andere mögliche Motiv, das Sie haben könnten, um zu sagen, dass Sie mich anbeten, ist, dass Sie im Augenblick ein Schriftsteller ohne Buch sind. Fangen Sie ein neues Buch an, steigen Sie richtig ein, und wir werden sehen, wie sehr Sie Jamie Logan anbeten. Jedenfalls, ich bin gleich bei Ihnen. ER Dass Sie zu mir ins Hotel kommen wollen, legt den Schluss nahe, dass Sie ebenfalls in großen Schwierigkeiten sind. Unbesonnene Augenblicke. Dies ist Ihrer. SIE Unbesonnene Augenblicke, die zu unbesonnenen Begegnungen führen. Unbesonnene Augenblicke, die zu gefährlichen Entscheidungen führen. Sie sollten mich nicht zu eindringlich daran erinnern. ER Ich glaube, ich kann mich darauf verlassen, dass Sie sich während der ganzen Taxifahrt hierher selbst daran erinnern werden. SIE Tja, ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie den Ausgang der Wahl ausnutzen. Also haben Sie recht. ER Sie überschreiten Conrads Schattenlinie, erst von der Kindheit in die Reife, dann von der Reife in etwas anderes. SIE In den Wahnsinn. Ich bin gleich da.

ER Gut. Beeilen Sie sich. Eilen Sie in den Wahnsinn. Runter mit den Kleidern und hinein in die Bayous. (Er legt auf.) Ins kakaobraune Wasser, in dem viele tote Bäume liegen. (Und dann wirft er, in einem Augenblick noch größeren Wahnsinns – einem Augenblick wahnsinniger Erregung –, all seine Sachen, bis auf das ungelesene Manuskript und die gelesenen Bücher, in den Koffer und verschwindet, so schnell er kann. Wie denn auch nicht [wie er es gern ausdrückt]? Er löst sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für immer fort.)

Zentaur 2009-02-09