John Steinbeck

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KÖPFE DES 20. JAHRHUNDERTS

Carol Petersen

John Steinbeck

COLLOQUIUM VERLAG BERLIN

Der Universität Valparaiso (Indiana) dankbar zugeeignet.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Petersen, Carol: John Steinbeck / Carol Petersen. – 3. Aufl. – Berlin: Colloquium Verl., 1989 (Köpfe des 20. [zwanzigsten] Jahrhunderts; Band 70) ISBN 3-7678-0754-8 NE:GT

© 1972 Colloquium Verlag GmbH, Berlin 3. Auflage 1989 Lichtsatz: Officina KG, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Einband: Schöneberger Buchbinderei, Berlin Schrift: Garamond Fototronic Einbandentwurf: Rudolf Hübler, Berlin Foto: dpa Printed in Germany

Inhalt

Einführung

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Traum und Wirklichkeit Kaliforniens

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Früchte des Zorns und der Liebe

43

Zwischenspiele

64

Im Bann von Mythos und Märchen

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Rückkehr zum Ursprung

95

Literaturhinweise

107

Zeittafel

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Einführung

Als sich John Steinbeck im Dezember 1963 im Berliner „Amerikahaus“ einem zahlreichen Publikum zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion über aktuelle Fragen stellte, wurde ihm unter anderem auch die Frage vorgelegt, was er über den „Nouveau Roman“ denke. Er stutzte ein wenig, sah den Diskussionsleiter an und gab dann unumwunden zu, daß er zunächst gar nicht wisse, was dieser mit seiner Frage meine. Als ihm dann gesagt wurde, daß es sich um jene damals viel diskutierte, stark experimentelle neue Romanform der jungen französischen Schriftstellergeneration handle, fiel ihm wohl ein, was mit der Frage gemeint war, doch bekannte er freimütig, daß er sich dazu leider nicht äußern könnte, da er diese Romane nicht gelesen habe. Es bewies einen erheblichen Mangel an Einfühlung, an einen Dichter wie Steinbeck überhaupt eine solche Frage zu richten. Einem so ausdrücklich den Belangen der Wirklichkeit verpflichteten Autor wie ihm, dem es in seinem Werk um nichts Geringeres als das soziale Heil der Menschen geht, mußte die Welt des „Nouveau Roman“ mit ihrer Entpersönlichung, ihrer „objektalen“ Wirklichkeitsauffassung, in der die Schicksale des Menschen nur durch Rückstrahlung der Dinge auf ihn er7

hellt werden, innerlich völlig fremd bleiben. Steinbecks gesamtes Leben und Schaffen bezeugen, daß er zu künstlerischer Ausdrucks- und Spielform dessen, was man als „l’art pour l’art“ zu bezeichnen pflegt, keine Affinität verspürte. Wer über Steinbeck schreibt, schreibt zugleich über Amerika, in dessen eigenster Tradition er gelebt und gewirkt hat. Die zwei Leben, die er gemäß seinen Äußerungen im Tagebuch eines Romans (1951) geführt hat, sind, was sein persönliches Leben betrifft, in der Nachfolge seiner Pioniervorfahren, künstlerisch in der Nachfolge eines Mark Twain, eines Sherwood Anderson, eines Theodore Dreiser zu sehen. Wer jedoch Steinbeck ausschließlich als reportierenden Realisten oder gar Naturalisten im Sinne Upton Sinclairs sähe, würde verkennen, daß Ideale und Träume für Steinbeck ebenso zur Realität gehören wie des Menschen tägliche Kämpfe um Freiheit, Gerechtigkeit und menschenwürdiges Dasein. Der Auftrag des Schriftstellers ist für Steinbeck „der unbeholfene Versuch, Zeichen für das Wortlose zu finden“. Man findet in vielen Arbeiten, die sich mit Steinbecks Leben und Werk beschäftigen, die leicht vorwurfsvolle Charakterisierung Steinbecks als eines „Primitivisten“, eines Künstlers, der den Menschen überwiegend in dessen animalischen Bindungen und Verbindungen dargestellt habe und dem deshalb die Notierung als Dichter von weltliterarischem Rang nur mit Vorbehalten zugestanden wird. Er steht, allgemein, etwas im Schatten seiner großen Zeitgenossen der amerikanischen Literatur, 8

der Faulkner, Hemingway, Wolfe und Wilder. Doch will nicht nur die Auflage seiner Bücher, sondern auch eine Meinungsbefragung der jungen Generation solche Wertung Steinbecks Lügen strafen: er wird von weiten Kreisen der jungen Generation als einer der größten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts angesehen, eben weil er einen so unmittelbaren Zugang zur Welt ermöglicht und weil seine Prosa nicht an zerebraler Überfracht leidet. So scheiden sich an Steinbeck in einem wesentlichen Punkte die Geister: wer Literatur als ein zuverlässiges, künstlerischer Willkür abholdes Organ zu erleben wünscht, mit dessen Hilfe das Leben besser einzusehen, besser zu verstehen ist, wird in Steinbeck eben den zuverlässigen Wahrheitssucher finden, dem gleichzeitig hohe Sensibilität nicht abzusprechen ist. Wer indes in der Literatur intellektuelle Experimentierfreude, subjektive Extravaganz, formale Gewagtheit und artistisches Raffinement sucht, wird ihn leicht als das einzustufen geneigt sein, was man in Amerika „a great minor author“ nennt: einen Autor für ein breites, konservatives Publikum, das von einem Buch nicht mehr verlangt als faktisch verläßliche, pädagogisch gelenkte, „gehobene“ Unterhaltung, die absolut gesetzten künstlerischen Kriterien im Sinne des „l’art pour l’art“ nicht ganz standhält. Klären helfen, wieweit der eine, wieweit der andere Maßstab, angelegt an den Dichter Steinbeck, diesem wirklich gerecht wird, Steinbecks starke, auf Zeiterscheinungen immer unmittelbar reagierende Menschlichkeit im Lichte seiner geistigen Entwicklung 9

aufzuzeigen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, zu deren möglichem Gelingen ein langjähriger Aufenthalt des Verfassers in Amerika nicht unwesentlich beigetragen hat. University of Valparaiso (Indiana), USA, 1972 Carol Petersen

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Traum und Wirklichkeit Kaliforniens Es ist wohl gut, daß ich Schriftsteller geworden bin. Ich bin ohnehin zu faul für etwas anderes.

Kalifornien gilt in der Welt seit Generationen als ein Traumland. Als ein blühender Garten voller Orangenhaine, Pfirsichplantagen und Weinberge. Als ein klimatisch besonders mildes, übersonntes Land, dessen Gestade der buchten- und inselreiche Pazifik umspült. Noch heute führt dieses Land den Beinamen eines „Golden State“. Als 1848 im nördlichen Kalifornien Goldvorkommen entdeckt wurden, setzte jener weltbekannte Goldrausch ein, der Tausende von zukunftsfreudigen Amerikanern in die bis dahin noch kaum besiedelten westlichen Gebiete lockte. Im Jahre 1850, nach Beendigung des Krieges mit Mexiko, wurde Kalifornien amerikanischer Staat. John Steinbeck ist ein Sohn Kaliforniens, dem er auch dann nicht untreu wurde, als er während des Zweiten Weltkrieges endgültig nach New York übersiedelte. Er ist auch der Sänger Kaliforniens wie kein anderer großer amerikanischer Schriftsteller vor ihm. Seine tiefe Liebe zu diesem Lande schlägt bis in seine letzten Werke immer wieder durch, so sehr, daß mancher geneigt sein könnte, ihn einen kalifornischen Heimatdichter zu nennen. 11

Im Salinas-Tal, südlich von San Franzisko, wurde er am 27. Februar 1902 auf der Farm „Pacific Grove“ geboren. Seine Eltern entstammten nordwesteuropäischen Bereichen: der Vater, wie der Name erkennen läßt, deutschniedersächsischer, die Mutter, eine geborene Hamilton, angelsächsischer Welt. Seines Vaters Familie war während des Bürgerkrieges, dem Zuge der Zeit folgend, aus Florida herübergekommen, sein Großvater mütterlicherseits aus Irland unmittelbar ins Salinas-Tal. Sein Vater war nicht nur Mühlenbesitzer, sondern auch Schatzmeister des Landkreises Monterey, seine Mutter Lehrerin. Steinbeck hatte drei Schwestern. Steinbecks Kindheit und Jugend sind in vieler Hinsicht typisch für einen Jungen, der in einem Farmhaus am Rande einer Kleinstadt aufwächst, die entsprechenden Schulen besucht, mit Gleichaltrigen Entdeckungsfahrten und Streifzüge in die nach Osten sich auftuende Bergwelt unternimmt und auch vor zum Teil gewagten Streichen nicht zurückschreckt, die er den Menschen seiner Umgebung spielt. Ein großer Teil der Jugenderlebnisse seiner Romanhelden sind seine später zu Dichtung gewordenen eigenen Abenteuer. Das enge Tal des Salinas-River mit den sich dahinter zu Bergen auftürmenden Wäldern voll wildwuchernder Vegetation und einer dem Dichter auch das Unheimliche verkörpernden Tierwelt ist der Schauplatz der meisten seiner bedeutenden Prosaarbeiten. Ja, sogar zum „Abbild der Nation“ erhebt er in seinem Tagebuch am Ende sein heimatliches Tal und dessen Menschen. Der so stark naturverbundene Junge war jedoch kei12

neswegs ohne sich bisweilen zur Depression ausweitende Spannungen und lernte schon früh nervöse Zustände kennen. Die Eltern hatten es nicht immer leicht mit ihm, der den Wochenanfang, den Montag, in Salinas so besonders haßte, oft ungern zur Schule ging, oft auch einen sehr ausgeprägten Willen zum Tode zeigte. Nicht selten war er ein Streitobjekt zwischen Vater und Mutter, wobei der Vater die unbürgerlichen Seiten des Sohnes besser verstand als die konservative, auf bürgerliche Sicherheit und „anständige“ Berufswahl ausgerichtete Mutter. Steinbeck hat dennoch beider Eltern zeitlebens in Verehrung und Liebe gedacht, wenn auch der romantische Einschlag des Vaters ihn diesem näherstehen ließ. „Noch heute wundere ich mich oft über ihn. In meinem Kampf, Schriftsteller zu werden, war er es, der mich unterstützte und mir die Stange hielt, nicht die Mutter … Und ich glaube, er fand Gefallen an der völligen Ruchlosigkeit meines Vorhabens, allen Müttern zum Trotz Schriftsteller zu werden.“ Das ist ein Bekenntnis zu romantischer Lebenshaltung, und romantische Lebensführung voll unsteter Suche nach der eigenen Lebensform kennzeichnet denn auch den jungen Steinbeck bis in seine späten Zwanzigerjahre hinein. Er hatte, ohne jemals ein Musterschüler gewesen zu sein, seine Schulzeit mit achtzehn Jahren planmäßig beendet und war noch unentschlossen in seiner Berufswahl. Sein großes Interesse galt den Naturwissenschaften, besonders der Meeresbiologie, das einzige wissenschaftliche Interesse, das ihn neben der Beschäftigung 13

mit Literatur zeitweise ausfüllen konnte. Seine literarischen Arbeiten gingen vorerst über Veröffentlichungen in Schüler- und Studentenzeitungen nicht hinaus. Der Versuch, auf das Angebot eines New Yorker Verlegers hin für diesen eine Sammlung Kurzgeschichten zu schreiben, mißlang ihm, und verstimmt zog er sich wieder nach Kalifornien zurück. Seine Studienjahre selbst waren noch von Unrast erfüllt, Glaube und Zweifel an sich selbst und der eigentlichen Berufung lösten einander unaufhörlich ab. Immer wieder unterbrach er sein Studium, um in praktischen Berufen zu arbeiten, wobei sowohl der Wunsch, Geld zu verdienen, wie auch der, das Leben von möglichst vielen Seiten kennenzulernen, gleich starke Impulse waren. Es gibt kaum eine Tätigkeit, in der er sich nicht versuchte: als Arbeiter im Straßenbau, in der Zuckerrübenverarbeitung, als Obstpflücker, als Schiffsjunge, zuletzt auch als Maurer in New Yorks Madison Square Garden, wohin er, von allen Erfahrungen unbefriedigt, 1925 ausgewichen war. Er hatte die nur sporadisch besuchte Stanford University nach 6 Jahren verlassen, ohne einen akademischen Grad erworben zu haben. In seinen späteren Jahren hat er an diese Jugendwirrnis nicht gern zurückgedacht und Interviewern, die ihn biographisch auszufragen suchten, geantwortet: „Machen Sie sich die Tatsachen selber zurecht, wie Sie Ihnen am besten passen. Ich kann nicht mehr genau unterscheiden, was ich wirklich erlebt und was ich nur erfunden habe. Die Biographie eines Menschen muß ihrer Natur nach zur Hälfte Produkt der Phantasie sein.“ In 14

New York verdingte sich Steinbeck kurze Zeit als Reporter für die Zeitung American, wurde jedoch bald entlassen, weil er zu wenig journalistisch und statt dessen allzu dichterisch schrieb. Das Gefühl der Ungebundenheit, das er dort empfand, war das einzige, was ihn für die vielen Ernüchterungen durch das Leben bisher zu entschädigen schien. Doch das Schreiben „auf Anforderung“ und gar über Themen, die er nicht selber wählen konnte, lag ihm innerlich fern. So blieb Steinbeck in diesen Jahren arm und lebte von der Hand in den Mund. Zurückgekehrt nach Kalifornien, begann er dort abermals als Gelegenheitsarbeiter. Gleichzeitig schrieb er seine drei ersten Romane, von denen er zwei vernichtete, ehe der dritte 1929 endlich als seine Erstveröffentlichung bei der Robert McBride Company verlegt wurde, demselben Verlag, der zuvor seine Kurzgeschichtensammlung abgelehnt hatte. Eine Handvoll Gold (A Cup of Gold), das „Pseudo-Epos“ über das wilde Leben des Henry Morgan, wurde von der Presse verrissen und vom Publikum nicht beachtet. Steinbecks verzweifeltes Ringen, seine Berufung zum Schriftsteller nachzuweisen, blieb weiterhin erfolglos. Eine Handvoll Gold ging aus der starken Anregung hervor, die Steinbeck von der Lektüre des Romans Le Morte d’Arthur des Sir Thomas Malory empfangen hatte. Thema dieses Buches aus dem 15. Jahrhundert sind die Abenteuer der Ritter aus der sagenhaften Tafelrunde König Arthurs. Sie sind auf der Suche nach dem Heiligen Gral, und so wie sie, die durch ihr sündiges Leben ihr hohes Gelübde verraten, zuletzt ihren ritterlichen 15

Lehrmeister zugrunde richten und die Tafelrunde auflösen, erreicht auch der Held von Steinbecks erstem Roman zeitweilig seine hochfliegenden Ziele, gibt jedoch schließlich enttäuscht und aufgrund mangelnder Erkenntnis vom Wesen und Wert der wahrhaft guten Tat alle seine anfänglichen Ideale preis. Steinbeck hat die Handlung in das 17. Jahrhundert verlegt, in die Zeit der britisch-spanischen Freibeuterkämpfe um die Silber- und Goldschätze der Neuen Welt, hier insbesondere Panamas. Henry, ein leidenschaftlicher Junge von fünfzehn Jahren, getrieben von Fernweh und Erlebnishunger, inspiriert und zugleich gewarnt von dem Zauberer Merlin, einem wilden Waldmenschen, der bis zur Krönung König Arthurs dessen Schutzgeist war, bricht auf ins Abenteuer. Der Traum Henrys erfüllt sich zunächst, indem er Schiffsjunge wird. Doch durch den Verrat eines Kameraden gerät er in die Gewalt des Pflanzers James Flower, für den er auf der karibischen Insel Barbados Sklavendienste verrichten muß. Erstmals nimmt Steinbeck hier ein Thema auf, das er in seinem weiteren Werk nie mehr aufgegeben hat: das der sozialen Ungerechtigkeit und der verratenen Menschenwürde. Der Junge lernt das Grauen der Sklavenwirtschaft, die Lust an der willkürlichen Ermordung hilfloser Menschen kennen, wie sie weniger der Pflanzer selbst als sein Aufseher verkörpert: „Wir haben heute einen zum Hängen … Ich weiß zwar nicht, was der Kerl getan hat, aber es langt sicher … Ich halte es für gut, wenn man dann und wann einen hängt. Es ist zwar teuer, bewirkt aber, daß sich die an16

deren gut betragen.“ Nach drei Jahren gelingt es Henry, die Freiheit wiederzugewinnen. Er wird Pirat und bald zum gefürchtetsten Freibeuter der Karibischen See. Der Höhepunkt seines Abenteurerlebens scheint erreicht, als die reiche Stadt Panama erobert wird und er der sagenumwobenen Frau „La Santa Roja“ begegnet. In einem langen Zwiegespräch mit ihr lernt er erkennen, daß seine Erfolge nur möglich waren durch seine Nichtachtung des Ethischen – eine moralische Niederlage, die er eingesteht, ohne indes von seiner Brutalität, auch den eigenen Gefährten gegenüber, abzulassen. Wohl hat er das menschliche Mittelmaß durchbrochen, aber um welchen Preis? Um sich – im Besitz von überdimensionaler Macht – durch die Vertreterin gläubigen Christentums einer ebenso überdimensionalen Sündhaftigkeit bewußt zu werden. Nun kann Henry, der Mächtige, Santa Roja, die „Heilige“, nicht mehr begehren, nicht mehr lieben. Als Gouverneur von Jamaica, vom englischen König als Bezwinger spanischer Flotten geehrt und geadelt, beschließt Henry Morgan, verheiratet mit einer nur halbherzig geliebten Cousine, sein Leben in der „alles überragenden Pflicht, den Schein zu wahren“. Steinbeck selber war nicht lange mit diesem Erstlingswerk zufrieden, nicht nur wegen des Mißerfolgs. Sieben Jahre später schrieb er an Mavis McIntosh und an Elisabeth Otis, Angehörige einer Verlagsagentur, bei der er auch in New York ein Arbeitszimmer bekam, daß „außer gewissen lyrischen Qualitäten nicht viel an dem Buch dran sei“. Unmittelbar nach Beendigung der 17

Handvoll Gold hatte er zwei neue Romane zu schreiben begonnen, von denen Das Tal des Himmels (The Pastures of Heaven) zuerst, und zwar im Oktober 1932, erschien, während Der fremde Gott (To a God unknown) nicht sogleich einen Verleger fand. Das Tal des Himmels erfuhr zwar eine freundlichere Aufnahme als Steinbecks Erstling, doch wurde das Buch noch kein Kassenerfolg. Die Zeit, in die der Dichter mit seinen ersten Veröffentlichungen geriet, war die denkbar ungünstigste: die der „Depression“. Zwei Verlage, an Steinbecks Tal des Himmels interessiert, meldeten Konkurs an, ehe das Buch endlich erscheinen konnte. Es ist kein Roman im traditionellen Sinne, vielmehr eine Anhäufung episodenhafter Geschichten, die nur lose zusammenzuhängen scheinen, im Leitgedanken aber durchaus zusammengehören. In ihnen tritt Steinbeck zum erstenmal als Künder seiner Heimat auf, als den wir ihn noch oft erleben werden. Die erste Erzählung berichtet von der Geschichte des Tales, bevor dort die Familie Munroe auftaucht, um eine Farm zu übernehmen, die von drei Familien zuvor angelegt und zu fruchtbarem Ertrag gebracht, dann aber immer wieder verlassen wurde, weil ein unerkannter Fluch auf ihr lag, Gespenster im Hause umzugehen schienen, Menschenschicksal hier nicht gedieh, Wahnsinn und Tod dreier Generationen vor den Munroes den unverstandenen Widerpart zum Gedeihen der Obst- und Gemüseplantagen bildeten. Steinbecks Liebe zu diesem Tal ist nicht ohne Kritik, die sich gern in Ironie kleidet, wodurch er Distanz zu halten versucht zu den eigenen Emotionen, die ihn im Ge18

danken an seine Kindheit überwältigen könnten, denn Steinbecks Realismus ist stark getränkt von Lyrismus. Aus allen zwölf Geschichten, die Das Tal des Himmels enthält, wird ersichtlich, daß Menschen und Landschaft, wiewohl sie aufeinander angewiesen sind, ja, einander bedingen, dennoch nicht und nie zur vollkommenen Harmonie gelangen. Der Mensch geht mit einem Traum, mit einem Ideal in ein vermeintlich paradiesisches Tal, doch der Traum wird ihm zerstört, ohne daß er es eigentlich merkt, genauer: ohne daß er es merken, es wahrhaben will. Die Geschichten sind voll von verborgener Tragik. Sie werden umrahmt von einem Prolog und einem Epilog. In dem Prolog hören wir von der Entdeckung des Tals als eines Ortes, den „uns der Herr verheißen hat“. Diese Worte spricht ein spanischer Korporal, der beauftragt war, zum Christentum bekehrte, aber aus den Lehmgruben der Mission entwichene Indianer wieder einzufangen und sie gewaltsam zurückzubringen. Und im Epilog erleben wir eine Gruppe Touristen, die ein Autobus auf der Fahrt durch Kalifornien auch ins Salinas-Tal bringt. Sie sind entzückt ob seiner Schönheit und äußern den Wunsch, hier einen friedlichen Lebensabend zu verbringen. Nachdem uns Steinbeck in allen vorausgegangenen Episoden von enttäuschten Hoffnungen und vernichteten Existenzen in eben diesem Tal berichtet hat, erscheinen Prolog und Epilog in besonders schmerzlich-ironischem Licht. Steinbecks romantischer Furor in Eine Handvoll Gold ist in seinem zweiten Werk in zarter getönte romantische Ironie umgeschlagen – eine Ironie, in der die 19

Liebe zum Salinas-Tal und seinen Menschen in der Trauer nicht minder zum Ausdruck kommt als in der Erkenntnis, daß Mensch und Natur deshalb niemals ganz zusammenkommen, weil die Natur am Menschenschicksal keinen Anteil nimmt und der Mensch, nur allzu geneigt, Teilnahme an ihm in sie hineinzudeuten, von ihr immer erneut enttäuscht wird. Das Tal des Himmels ist ein schmerzliches, ein erlittenes Buch, und es macht uns zu Leidensgefährten seiner Menschen. Scheint es also denkbar, daß Steinbeck hinter den Titel dieses Buches ein unsichtbares Fragezeichen setzte, so möchte man in Fortsetzung dieses Gedankens dem Titel seines nächsten Opus, des Ende 1933 erschienenen Romans Der fremde Gott (To a God unknown), ein Ausrufungszeichen hinzufügen. Die Betonung der Fremdheit Gottes, das Rätsel um sein Wirken im und am Menschen, ist das große Thema, das alle Gestalten des äußerst dicht gewebten Romangeschehens bis zur vollen Hingabe und Opferung erfüllt, ob sie nun heidnischen Riten oder Idealen des Christentums anhängen. Fünf Jahre lang hatte sich Steinbeck Notizen zu diesem Thema gemacht, ehe es ihm – nach anfänglicher Planung, es zu einem Drama zu gestalten – zu seinem dritten größeren epischen Werk gedieh. Im Februar 1933 schrieb er an seine Agenten: „Es war höllisch schwer, dies Buch zu schreiben … Es wird wahrscheinlich auch schwer sein, es zu verkaufen. Seine Menschen sind keine solchen im üblichen Sinne, sie machen keinen Versuch, menschlicher zu sein als die Menschen der Ilias.“ 20

Die vier Brüder Wayne, um die die Handlung kreist, sind Menschen der Wirklichkeit, wenngleich voller Halluzinationen und mystischen Aberglaubens. Joseph, der älteste, hat seinem alten Vater Erlaubnis und Segen abgerungen, die heimatliche Farm in Vermont zu verlassen und westwärts zu ziehen, neues Land zu erschließen und im kalifornischen Tal „Nuestra Señora“ zu siedeln – einem Gebiet, das wegen seiner ständigen Dürren von Siedlern lange Zeit gemieden wurde. Seine drei Brüder schließen sich dem großen Treck an, während der Vater zurückbleibt und den Söhnen erst nach seinem Tode – als Geist – nachfolgt. (Des Vaters Geist wird von Joseph in Gestalt einer alten Eiche verehrt, in deren Schutze er sein Haus baut – die erste Identifizierung von Mensch und Natur, der noch mehrere folgen.) Die vier Brüder verkörpern in ihrer starken charakterlichen Unterschiedlichkeit die Menschheit schlechthin, gleichsam als Archetypen: der patriarchenhafte, heidnisch-pantheistische Joseph, voller Zukunftsvisionen und rastloser Tätigkeit der eigentliche Initiator und Gestalter der Farm; der animalische Thomas, der allen irrationalen Bindungen und Riten mißtraut; Burton, der nüchtern gläubige Protestant, Feind aller hypnotischen Glaubensbezeugungen, der alsbald aus dem Familienverband ausscheidet, und Benjy, der ständig betrunkene Taugenichts und Schürzenjäger, den der Dolch eines Indios, eines Ureinwohners des Tals, dessen Frau er verführt hat, tödlich verwundet. Die Begegnungen zwischen den Neusiedlern und den Eingeborenen einerseits, die Verflechtungen heidni21

scher und christlicher Elemente andererseits sind hier in ähnlicher Weise dargeboten wie im Tal des Himmels, doch ungleich stärker betont, da sich alles in den Mitgliedern eines einzigen Familienclans spiegelt, dem nur Juanito, ein Indio, und Father Angelo, der Priester, als religiös fest in sich ruhende Persönlichkeiten gegenüberstehen. Von Anfang an ist sich Joseph bewußt, daß das Land, in dem er sich niederläßt, Opfer von ihm verlangt. Er ist bereit, sie zu bringen, doch können auch sie nicht verhindern, daß abermals eine Dürre kommt. Der Treck zieht weiter, mit den Herden, mit allem beweglichen Gut, Joseph allein bleibt zurück. „Joseph stand am Korral und beobachtete, wie die lange Staublinie über das Land kroch … und schließlich wandte er sich den ausgestorbenen Häusern zu, dem toten Stall und dem großen toten Baum.“ (Dem Baum, in dem der Geist seines Vaters lebte, zu dem er sprach und betete, bis die Eiche, von Burton als Götze gebrandmarkt, gewaltsam zum Verdorren gebracht wurde.) Joseph allein ist gewillt, auszuharren und sich „gegen die Trockenheit zu verbarrikadieren“. Er geht zu „seinem Felsen“, einem geheimnisvollen Stück Urgestein, das einst eine geheiligte Opferstätte der Indianer war. Nur noch sein Knecht Juanito, der Indio, ist bei ihm, doch auch in ihrem letzten Zusammensein fügen sich die beiden Welten, die hier einander begegnen, nicht zur vollen Einheit. „Ich werde hier mit Ihnen warten, bis der Regen kommt“, sagt Juanito, doch zuletzt will Joseph auch die Gemeinschaft mit dem treuen Indio 22

nicht mehr. Er geht in die stillen Straßen von „Nuestra Señora“ zurück, um Father Angelo aufzusuchen und ihn zu bitten, um Regen zu beten. Doch dem Priester erscheint ein Gebet für das Seelenheil seines Besuchers wichtiger, und enttäuscht verläßt Joseph ihn wieder, um zurückzukehren in die Felseneinsamkeit, nunmehr endgültig allein. Er beginnt sich von der Welt zu lösen, fühlt in sich das Gebot, das größtmögliche Opfer zu bringen, und öffnet sich die Pulsadern. „Der Himmel wurde grau … und aus dem Himmel kam schräg der Regen. Ich hätte es wissen sollen … ich bin der Regen … ich bin das Land, und ich bin der Regen. Bald wird das Gras aus mir wachsen.“ Das volle Einswerden mit der Natur, das zu vollziehen im Tal des Himmels nicht möglich schien, ist hier durch das freiwillige Opfer des Lebens geschehen. Ein allegorisches Ende, mit dem der Dichter die Treue des Menschen zu sich selbst und dem ihm innewohnenden Gesetz feiert, das, auch wenn es Selbstopferung verlangt, nicht verleugnet werden darf. Der Dichter läßt offen, wieweit diese Tat Josephs als Ausdruck übersteigerten religiösen Wahns anzusehen ist, als Ausdruck eines krankhaften Seelenzustands, oder als äußerste Konsequenz und seelische Größe eines sich im Dienst an der Erde Verzehrenden. Noch immer steht Steinbeck auf der Grenze zwischen realistischer Lebensdarstellung und mystifizierender Überhöhung. Auch dieses Buch brachte Steinbeck weder den eigentlichen Durchbruch, die ersehnte Anerkennung durch ein breiteres Publikum, noch die erwünschte wirtschaftliche Basis, die es ihm ermöglicht hätte, nur seiner Beru23

fung zu leben. In der Zeit zwischen dem Erscheinen seiner beiden ersten Bücher hatte er die aus San José stammende Carol Henning geheiratet und war mit ihr 1932 vorübergehend nach Los Angeles gezogen, doch noch vor der Veröffentlichung seines dritten Werkes auf die dem Salinas-Tal vorgelagerte Halbinsel Monterey zurückgekehrt. Man warf ihm vor, daß er sich in seinen Büchern zu ausschließlich mit Sonderlingen, Psychopathen und Außenseitern der Gesellschaft abgebe und sich dadurch immer mehr von der Wirklichkeit entferne, doch konnte er diesen Kritikern nur entgegenhalten, sie sollten einmal einen tieferen Blick in ihre Nachbarhäuser tun, um zu entdecken, daß seine Bücher vielmehr vom täglichen und wirklichen Leben handelten. Es ist richtig, daß Steinbeck sich stets gern den Minderbemittelten, Minderberechtigten und Unterdrückten zugewandt hat, so sehr, daß er der „Hemingway des kleinen Mannes“ genannt worden ist. (Er hat für diesen seinen großen Zeitgenossen immer eine ausgesprochene Verehrung gezeigt.) Er ist ein bewußt und betont sozialer Dichter aus mitmenschlicher Solidarität heraus, nicht als Vertreter einer sozialistischen Doktrin, wofür ihm sein Zeitalter manchen Weg hätte weisen können. Er hat es geflissentlich vermieden, sich weltanschaulich binden oder „organisieren“ zu lassen, sein Weltbild ist eigengeprägt und nur aus der persönlichen Anschauung und Erfahrung mit Menschen und Dingen gewachsen. Seine subjektive Meinungsbildung kontrapunktiert seine Darstellung von Zuständen so, daß sie ein besonders 24

überzeugendes Maß von Objektivität hervorbringen hilft. Steinbeck hält das Interesse seiner Leser auch dadurch besonders wach, daß er von Werk zu Werk den Kreis der im Schatten der Gesellschaft Lebenden weiter ausschreitet. Mit seiner Wendung zu den „Schelmen“ von „Tortilla Flat“ betreten wir mit ihm einen bis dahin noch unbekannten Bereich, den der „Paisanos“, die er uns im Vorwort zu seinem 1935 erschienenen, vierten Roman mit folgenden Worten vorstellt: „Was ist ein Paisano? Eine Mischung aus spanischem, indianischem, mexikanischem und erlesenem kaukasischem Blut. Seine Vorfahren haben seit ein bis zwei Jahrhunderten in Kalifornien gelebt … Er lebt in jenem Hügelbezirk oberhalb der Stadt Monterey, der den Namen ‚Tortilla Flat‘ führt, obwohl er nichts weniger als Flachland ist, wie der Name besagt.“ Auch dieser Roman ist eine Folge von siebzehn Episoden, die jede für sich gelesen werden können, um heiter-besinnlich zu stimmen, doch erst die Kenntnis aller enthüllt den darunterliegenden Zusammenhang, der die Absicht des Dichters deutlich macht. Noch einmal nimmt Steinbeck die Tafelrunde König Arthurs zur Hilfe, um sowohl formal als auch ethisch ein Modell zu erstellen, an dem er ein höchst eigenwilliges philosophisch-moralisches System vor uns aufhängt. Thomas Malorys Roman aus dem 15. Jahrhundert hatte Steinbeck – wir wissen es – von Jugend auf begeistert, vor allem durch die unbedingte Vasallentreue, die darin geschildert wird und die, verkörpert durch die respektgebietende Ausstrahlung einer großen Persönlichkeit, 25

zum Erziehungsleitbild ritterlich gesinnter Jünglinge wird. In Steinbecks Schelmen von Monterey werden wir freilich kaum eine Gruppe edel bewegter Jünglinge, wohl aber zunächst wenig mehr als eine Gruppe fragwürdiger Tagediebe sehen. Doch wissen wir auch von Steinbecks Neigung zur Ironie, die er hier bis zur Travestie steigert – zum Zerrspiegel bürgerlicher Gesellschaft und ihrer moralischen Spielregeln. Im Mittelpunkt des formal locker gefügten Romans steht Danny, der aus dem Kriege in seine Heimat zurückkehrt und sich hier als Erbe zweier Häuschen in Tortilla Flat wiederfindet, die sein inzwischen verstorbener Großvater ihm hinterlassen hat. Die Männer, die sich – einer nach dem anderen – um Danny scharen, würde die bürgerliche Moral als Arbeitsscheue verdammen. Sie lehnen jede geregelte Tätigkeit ab und leben von dem, was der freundliche Zufall – etwa in Gestalt eines glücklichen Fundes, einer großmütigen Schenkung, eines günstigen Tausches oder auch der Gelegenheit zu einer belohnten Hilfeleistung – ihnen bietet. Bleibt er aus, so gehen sie wohl auch einmal „krumme Wege“, immer aber ist eines ihnen Gebot: Danny, der ihnen ein Dach über dem Kopf bietet, soll sich dafür niemals um seinen Unterhalt zu sorgen brauchen, vor allem soll es ihm möglichst niemals an Wein fehlen. Als eines der Häuser abbrennt, macht das die Freunde im Grunde nur glücklicher, werden sie dadurch doch noch fester miteinander verbunden, und ein Gefühl der Erleichterung, „wenigstens die eine Last los zu sein“, überkommt Danny selbst. 26

Nachdem dann am Ende der inzwischen dem Wahnsinn verfallene Danny das für ihn veranstaltete letzte Gelage völlig betrunken verlassen hat, vierzig Fuß tief in eine Schlucht gefallen und an diesem Sturz schließlich gestorben ist, sind die Paisanos, seine Freunde, die ihm am meisten verdanken, die einzigen, die nicht zu seiner Beerdigung gehen, da ihre Kleidung für eine so feierliche Handlung zu schäbig ist. Im hohen Gras liegend, das den Friedhof einfaßt, beobachten sie von ferne, wie der Sarg in die Gruft gesenkt wird, woraufhin sie zu Dannys Haus zurückkehren, um es anzuzünden. Soweit das Handlungsgerüst. Was sich innerhalb der siebzehn Episoden abspielt, ist von unerschöpflicher dichterischer Phantasie, die gleichwohl niemals den Rahmen des tatsächlich Möglichen überschreitet, es sei denn in der gedrängten Häufung, in der hier die seltsamen guten und schlechten Taten geschehen, bei denen jedoch immer das Danny gegebene Gelübde gewahrt bleibt: die Hilflosen zu beschützen und Danny nie hungern zu lassen. Die Episode, betitelt „Wie die Freunde einen Korporal trösteten und zum Entgelt eine Lehre über väterliche Moral davontrugen“, verdient besondere Erwähnung wegen der Fülle des menschlich Schönen, die in ihr enthalten ist. Steinbeck selbst hat diesen Roman „tragikomisch“ genannt und wollte ihn durchaus realistisch verstanden wissen, nicht nur märchenhaft, nicht nur allegorisch. Ebensowenig wollte er mit ihm ein Bekenntnis zur primitiven Lebensform ablegen, denn die Schelme von Tortilla Flat zeigen in Krisensituationen mehr Empfindsamkeit und Geschmeidigkeit, 27

als ihr um äußere Formen unbekümmertes In-den-TagHineinleben, ihre Nichtachtung gesellschaftlicher Spielregeln den oberflächlichen Leser vermuten lassen. In ihrer Unbekümmertheit um den sozialen Status und Habitus sind sie darum die innerlich Freien, und erst mit den Bedenken wegen ihrer Kleidung zu Dannys Leichenbegängnis erwacht ihr Gefühl für Prestige, das heißt, als es zu spät ist. Am Ende triumphiert noch einmal des Dichters liebevolle Ironie, denn nur um eine solche handelt es sich hier: er will gerecht sein und auch dem Prestige und der Gesellschaft, die es hochhält, ihr relatives Recht lassen. Niemals zuvor war Steinbeck dichterisch stärker und menschlich größer als in diesem höchst doppelbödigen Roman, der ihm endlich Anerkennung und Ruhm brachte, nachdem die Verlagsagentur das Buch zunächst elf Verlagen vergebens angeboten hatte. Mit Tortilla Flat hatte Steinbeck auch endgültig seinen Verleger gefunden, mit dem ihn bis zu dessen Tode (1964) herzlichste Freundschaft verband: Pascal Covici, dem der Dichter sein späteres großes Epos Jenseits von Eden widmete. Tortilla Flat wurde nicht nur ein Bestseller, sondern trug seinem Verfasser auch die Goldmedaille des kalifornischen „Commonwealth Club“ ein und darüber hinaus ein Honorar in Höhe von 4000 Dollar, wie ihm telegrafisch mitgeteilt wurde, während er gerade auf seiner ersten Reise in Mexiko war. Auch wurden die Rechte für die Verfilmung des Buches an die Paramount-Studios in Hollywood verkauft – und Steinbeck selber wunderte sich, daß dieses „zweitrangige 28

Buch, das ich zur Entspannung schrieb, soviel Aufsehen erregen konnte. Aber die Leute nehmen es tatsächlich ernst“. Die zunehmende Popularität, die Steinbeck nach dem Erfolg von Tortilla Flat erfuhr, erschreckte ihn ebenso, wie sie ihn erfreute. Von Mexiko, wo er keine Arbeitsmöglichkeiten für sich gefunden hatte, kehrte er nun nach Kalifornien zurück, erfüllt von dem Gedanken an einen neuen Roman, dessen Thema ihn schon seit 1934 beschäftigt hatte: der Streik der kalifornischen Erntearbeiter auf den großen Obstfarmen des Landes. Die in der Zeitschrift North American veröffentlichte Geschichte „The Raid“ hatte das Problem schon einmal behandelt, in der Zeitung San Francisco News hatte er 1936 unter dem Titel „The Harvest Gypsies“ („ErnteZigeuner“) mehrfach über das Leben der Wanderarbeiter berichtet. Jetzt aber wollte er das Thema in ganzer Breite aufrollen. Steinbeck war sich von vornherein darüber im klaren, daß er mit dem Eintreten für diese Menschen in den Ruf eines sozialistischen Agitators, ja, eines Kommunisten geraten würde. Seine liebevoll-schmerzliche Darstellung der Schelme von Tortilla Flat war ihm überwiegend als Ausdruck der Sympathie für ein paar Sonderlinge ausgelegt worden, darüber hinaus galt er nun bei vielen Lesern als ein begabter Humorist. Gerade dieser Einordnung aber wollte er entschieden entgegentreten, da er sich seiner sozialen Aufgabe und Verantwortung als Schriftsteller gerade durch solche vereinfachende Fehlinterpretationen und die sie begünstigende 29

Publizität noch stärker bewußt geworden war. Steinbeck hat mit seinem 1936 veröffentlichten Roman Stürmische Ernte (In Dubious Battle) indes weder für die „Ausbeuter“ noch für die „Ausgebeuteten“ im politischen Sinne des Wortes Partei ergriffen. Im Gegenteil, er beleuchtet die Zustände unter keinem anderen als dem humanen Aspekt, wobei klischeehafte Abstempelung im Sinne von Gut und Böse, von bloßer Schwarzweißmalerei entfallen. Vielmehr wird am Beispiel des jungen parsifalhaften Helden Jim Noland die Tragik des blind-fanatischen Idealisten aufgezeigt, der sich opfert, ohne damit das zu erreichen, wofür er sein Leben einsetzt. Der Titel des amerikanischen Originals, In Dubious Battle, drückt dadurch, daß er das Wort „dubious“ (zweifelhaft) enthält, wiederum ein Fragezeichen aus, wie wir es unsichtbar schon hinter Tal des Himmels zu setzen wagten. Steinbeck ist auch in diesem Werk insofern wieder Pessimist, als er die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung sozialpolitischer Ziele schon im Keim als verfehlt ansieht, da sie lediglich Gegengewalt herausfordert. Er ist in all seinen Werken ein Anwalt der Evolution, nicht der Revolution. Der Roman beginnt mit dem Eintritt Jim Nolands in die Kommunistische Partei. Der vom Schicksal bisher nur enttäuschte, einsame Junge, den es nach Menschengemeinschaft und Sinngebung für sein Leben verlangt, gerät nun in die Hände des Nur-Parteimannes Mac, für den der Klassenkampf als Kampf letztlich mehr bedeutet als der Zweck, dem er dient, wiewohl er selber dies nicht erkennt. Im Verlaufe des Streiks, den 30

die beiden auf der Apfelplantage wegen nicht eingehaltener Lohnversprechungen der Farmer initiieren und der zu landesweitem Aufsehen und nach vergeblichen Verhandlungen schließlich zu einem erbitterten und bewaffneten offenen Kampf führt, fällt am Ende der idealistische Held, ohne daß der Autor uns weitere Perspektiven aufzeigte, zu welchem Ergebnis die Streikbewegung kommen wird. Steinbeck betont, daß er mit diesem realistischen, den Dialog bewußt im Dialekt der Plantagenarbeiter führenden Roman keinen Schlüsselroman habe schreiben wollen. Der Dichter selber ist ohne Zweifel in der Gestalt des Dr. Burton zu erkennen, der nicht an die „vermeintlich gute Sache“ glaubt, seine Dienste den in ihrem Wohnlager Streikenden aber dennoch freiwillig zur Verfügung stellt, weil es dort Kranke gibt, die ärztlicher Hilfe bedürfen. Bei einer bewaffneten Auseinandersetzung der Streikenden mit der Polizei wird er schwer verletzt, und bei dem Versuch seiner Bergung findet Jim Noland den Tod. In seinem Journal hat der große französische Dichter André Gide am 27. September 1940 dieses Buch Steinbecks „das beste Bild des Kommunismus“ genannt, das er kenne. Auch rühmt er die überall spürbare Gerechtigkeit Steinbecks, vor der die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Streikenden ebenso zweifelhaft bleibt wie der Erfolg ihres Kampfes – zweifelhaft hauptsächlich wegen des Einsatzes perfider Mittel, zu denen diejenigen greifen, denen andere Kampfmittel nicht zur Verfügung stehen, denen aber dann gerade die edelsten 31

und opfermütigsten Naturen zum Opfer fallen. „Daher“, sagte Gide, „die große Beklemmung, die von diesem schönen, zugleich grausamen Buch ausgeht.“ Steinbecks Stürmische Ernte ist ein Roman, in dem die Masse der eigentliche Held ist, dennoch erfahren die Einzelschicksale scharfe individuelle Ausprägung. Selbst die im Hintergrund bleibenden Ausbeuter treten in den Dialogen der Streikenden mit solcher Deutlichkeit hervor, daß der Leser niemals den Eindruck hat, er sei ihnen als der Gegenpartei nicht ebenfalls begegnet. Die erzählerische Technik Steinbecks entwickelte sich seit den Anfängen zu immer größerer Geschmeidigkeit und formaler Geschlossenheit, wofür gerade dieses das Episodenhafte der früheren Romane aufgebende Werk charakteristisch ist. Es erstaunt nicht, daß dieses Buch sehr gegensätzliche Beurteilungen fand, von scharfer Ablehnung (in The Nation) bis zu begeisterter Zustimmung (in New Statesman and Nation). In jedem Falle erregte es Aufsehen und machte Steinbecks Namen nun auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Das Thema „Wanderarbeiter“ („migrant workers“) war für den Dichter aber noch immer nicht völlig ausgeschritten, ehe er es nicht am Beispiel menschlicher Einzelschicksale dargestellt hatte. Das geschah in einem neuen, an Erfolg alle seine bisherigen Bücher überstrahlenden Werk, dem Roman Von Mäusen und Menschen (Of Mice and Men), der im Februar 1937 herauskam. Seine dramatische Bearbeitung folgte wenig später, und im November desselben Jahres erlebte das Stück in New York seine Uraufführung. 32

Es ist die erste von Steinbecks sogenannten „SchauspielNovellen“, Arbeiten, die aus der Kombination zweier Kunstformen hervorgegangen sind. Erst im Vorwort zu seiner dritten, der Wilden Flamme, hat sich der Dichter über diese von ihm geschaffene Neuerung geäußert: „Es handelt sich um ein Schauspiel, das leicht lesbar, und um eine Novelle, die durch Herausschälen des Dialogs leicht aufführbar ist … Der erste Anlaß, in dieser Form zu arbeiten, war daher der Wunsch, einem Bühnenstück größere Verbreitung zu sichern, indem ich es in Romangestalt, die den Lesern geläufiger ist, erscheinen ließ … Ich bin überzeugt, daß diese Form zu Recht besteht und sich noch weiter ausbauen läßt.“ In Von Mäusen und Menschen hat Steinbeck am Beispiel der beiden Männer George und Lennie, zweier in Kalifornien wandernder Landarbeiter, nicht nur erneut die soziale Problematik dieses Berufsstandes in Amerika vorgeführt, sondern darüber hinaus auch die Tragödie der offenbar ausweglosen Einsamkeit und Ungeborgenheit des Menschen überhaupt, die hier erst durch den gewaltsamen Tod des einen Helden aufgehoben wird. Wir wissen aus vielen anderen Beispielen der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, um wieviel einsamer das Individuum in Amerika gegenüber dem in Europa ist; am Beispiel der Ranch, auf der George und Lennie Arbeit finden, wird es in stärkstem Maße deutlich, denn genau betrachtet ist dort jeder einsam, auch der in der Ehe scheinbar geborgene Farmer selbst. Der soziale Aspekt dieses Werkes kann darum nur als Ausgangspunkt empfunden werden; ein tieferes, allgemein 33

menschliches Problem wird aufgezeigt: die Aufopferung eines Menschen für einen anderen, die am Ende vergeblich ist. Was in Stürmische Ernte noch im Bereich sozialpolitischer Schicksalskonstellation verblieb, wird in dieser Schauspiel-Novelle, psychologisch vertieft, zur Tragödie menschlichen Daseins schlechthin. Steinbeck betritt hier erstmals die Dimension des Tragischen. In George und Lennie begegnen wir zwei Freunden, die einander aus sehr verschiedenen Gründen bedürfen. George hat seit ihrer gemeinsamen Jugend in Auburn treu zu dem elternlosen Lennie gehalten, der nach dem Tode einer Tante, die ihn aufgezogen hat, ohne Beschützer nicht durch das Leben hindurchfindet, denn „er ist saublöd, aber verrückt nicht“, wie George ihn charakterisiert. „Man braucht nur zu sagen, was er tun soll, und er tut’s, solang es dabei nichts nachzudenken gibt.“ Lennie ist einfältig, dumpf und rein triebhaft, auch nicht ohne krankhafte Fixierungen, wie sein unentwegtes Bedürfnis zeigt, Fell und alles, was weich und seidig ist, zu berühren. Mit George auf einer eigenen Farm zu leben, Kaninchen zu besitzen und sie zu liebkosen, das ist sein Traum. Es erscheint den anderen Arbeitern auf der Ranch unverständlich, daß ein „Normaler“ wie George sich eines „närrischen Vogels“ wie Lennie lebenslang annimmt und um seinetwillen sogar auf viele natürliche Bedürfnisse des Lebens verzichtet. Denn Lennie muß immer wieder zu Ordnung und Vernunft gebracht werden, und so geht es zwischen den Freunden oft auch gefährlich rauh zu, doch George hat in Lennie seinen Lebensauftrag gefunden. 34

Nicht nur durch diese beiden gewinnt der Leser einen tiefen Einblick in das Leben der wandernden Landarbeiter. Es sind an härteste, primitive Lebensformen gewöhnte Männer, die von der Hand in den Mund leben, deren Freuden das Kartenspiel, der Suff und das Bordell sind. Meisterhaft, wie Steinbeck die Individuen differenziert und skizziert: den aufgeblasenen Wichtigtuer, den sich demütig abfindenden Alten mit seinem stinkenden Hund, der ihm zuletzt von den Kameraden erschossen wird, den Treckerfahrer mit seinem ernsten, gesammelten Wesen, den Neger, den verkrüppelten schwarzen Stallknecht, der in der Sattelkammer allein lebt, Abstand haltend von allen, mißtrauisch gegen jeden, der sich ihm nähert, eine Einsamkeit, die durch die Notgemeinschaft des Lagerlebens in Wirklichkeit um nichts erleichtert wird. Eine einzige Frau steht in dieser rein männlichen Welt: Curleys, des jungen Farmers Ehefrau, die die Gemeine ist für alle, ein lüsternes Triebwesen, das keine moralischen Hemmungen kennt. Sie hat es auf den dumpfen, bärenstarken Lennie abgesehen, von dem sie sich höchste Erfüllung im Sinnlichen verspricht. Sie wird damit sich selbst und ihm zum Verhängnis: im Stall, als sie ihn zum Liebesakt überrumpelt hat, bricht er ihr mit seiner übermäßigen Kraft das Genick. Lennie flüchtet darauf in die Wälder und wird schließlich von George an demselben Flußufer aufgefunden, wo wir den beiden Freunden zuerst begegneten. Aus Erbarmen erschießt dort George seinen Schützling und Freund, um ihn vor der Lynchjustiz und dem Gericht zu bewahren, die für 35

ihn schlimmere Qualen brächten als der schnelle, erlösende Tod. Ein Stück Alltagsleben aus der Welt des amerikanischen Proletariats wird vor uns ausgebreitet, das durch seinen krassen, unerbittlichen Materialismus ebenso stark auf uns wirkt wie durch die bewundernswerte Dichte und Geschlossenheit der Form. Kaum, daß der Dichter sich hier betrachtende oder erläuternde Passagen gestattet, selbst die Landschaftsschilderung, der Steinbeck sonst gern breiten Raum gewährt, wird hier auf ein Mindestmaß beschränkt. Das Geschehen selber wird fast nur durch den Dialog bis zu seinem Höhepunkt vorangetrieben, bis zu jener Katastrophe, die hier aus der Natur der Hauptgestalten selbst hervorgeht und dadurch die tragische Dimension auftut, die uns erschüttert. Der große Erfolg dieses Werkes ermöglichte es Steinbeck, im Frühjahr 1937 größere Reisepläne zu verwirklichen. Auf einem Frachter fuhr er von San Franzisko durch den Panamakanal nach New York. Mitte Mai reiste er von dort aus weiter nach England, Irland (wo er die Geburtsstadt seiner Mutter besuchte), Skandinavien und Rußland, das er bei diesem ersten Besuch verwirrend fand und über das er erst in einem späteren Buch – 1948 – klare Eindrücke niedergelegt hat. Der Uraufführung seines ersten Dramas in New York am 23. November 1937 wohnte er nicht bei, obwohl ihm für dieses Stück (Von Mäusen und Menschen) der Preis des „New York Drama Circle Award“ verliehen worden war. Er hatte sich nach Oklahoma begeben und sich dort einer großen Gruppe von Wanderarbeitern angeschlossen, 36

mit denen er nach Kalifornien zurückgezogen war. Dieser Treck legte den Grund für den Roman Früchte des Zorns (Grapes of Wrath), mit dem Steinbeck weltliterarische Bedeutung gewinnen sollte. Steinbeck hatte seine erste Europareise in Rußland vorzeitig abgebrochen. Neue Pläne waren in ihm gereift, als er am 11. September 1937 mit seiner Frau nach Kalifornien zurückkehrte. In der Fremde hatte er sich mehr denn je seiner kalifornischen Heimat verbunden gefühlt, am meisten wiederum dem Schicksal ihrer ärmsten Söhne: den von Farm zu Farm wandernden Obstpflückern. „Es gibt fünftausend Familien dort, die an Hunger sterben … Der Hungertod der Kinder in unseren Tälern ist einfach erschütternd … Seltsam, wie bedeutungslos und klein Bücher angesichts solcher Tragödien werden“, schrieb er an Covici und Elisabeth Otis, die langjährige Freundin und Vertraute. Gleichzeitig kündigte er seinem Verleger eine Sammlung von Kurzgeschichten an, die im August 1938 unter dem Titel The Long Valley (deutsch als Der rote Pony) herauskam. Es war das erste Buch Steinbecks, das im Verlag der Viking Press, New York, erschien, in den Covici inzwischen eingetreten war, nachdem sich der Verlag Covici-Friede finanzieller Schwierigkeiten wegen aufgelöst hatte. Diese Kurzgeschichtensammlung stellte bei ihrem ersten Erscheinen (eine erweiterte Neuausgabe erfolgte 1945) die Summe kleinerer Prosaarbeiten dar, die der Dichter seit 1933 hauptsächlich in der Zeitschrift North American veröffentlicht hatte. Es sind entwicklungs37

psychologische Studien, mit denen der Dichter von ihm erkannte Gesetzlichkeiten gleichsam pädagogisch weitergeben will. Ihrer aller landschaftlichen Hintergrund bilden wieder die Berge und Täler Kaliforniens, ihre Menschen wieder die alteingesessenen Indios und Paisanos im Gegen- und Miteinander mit den aus dem Osten Zugewanderten. Auch die Tierwelt nimmt hier wieder einen breiten Raum ein, da die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Tier stets unabdingbarer Bestandteil in Steinbecks Dichtung ist. In diesen Erzählungen gelingt Steinbeck stärker noch als zuvor Zartestes und Hintergründiges in der Beschreibung von Seelenzuständen. Da ist etwa die Elisa Allen, deren „Pflanzenhände“ „von selbst wissen, was sie zu tun haben“, die bis zu Tränen verletzt wird dadurch, daß ein fremder Mann, dem sie geholfen hat, achtlos ein paar von ihr gezogene Chrysanthemen fortwirft. Wenn es literarischen Impressionismus in der amerikanischen Literatur gibt, dann wäre er in der Wiedergabe von Elisas Gefühlsreaktionen (vor deren verstandesmäßiger Deutung!) überzeugend verwirklicht. Durch diese Erzählung, die André Gide an die besten Novellen Tschechows erinnerte, hat Steinbeck seine impressionistische Begabung deutlich bewiesen. Das gilt ebenso für Die weiße Wachtel (The Quail), nach des Verfassers Meinung Steinbecks Meisterleistung in dieser künstlerischen Linie, die jedoch nicht die für ihn eigentlich typische ist. In dieser Erzählung, die von der inneren Fremdheit zweier Ehegatten handelt, gibt uns der Dichter einen tiefen Einblick in die Problematik jeder 38

Ehe, wie er es schon bei der Darstellung anderer Ehen in ungleich derberer, direkterer Weise getan hatte. Mary Teller ist die Frau, die in ihre Ehe eintritt wie in einen Garten, den sie anlegt, auf daß die einmal dafür festgelegte Form sich niemals ändere, und in dem sie jede Veränderung mit Störung gleichsetzt. Sie ist eine romantische Frau par excellence, und nicht zufällig sind ihr die liebsten unter allen Tieren die Vögel, an die sie ihre Liebe in gefährlichem Übermaß verströmt. Doch erst eine weiße Wachtel wird für sie zum vollen Zauberbild, mit dem sie sich identifiziert. Als sie den Vogel eines Abends von einem großen grauen Kater bedroht sieht, den sie durch einen lauten Schrei verscheucht, bittet sie ihren Mann, im Garten Gift auszulegen, doch er geht hinaus und tötet mit einem Luftgewehr statt des Katers die weiße Wachtel. „Ich bin doch gemein, sagte sich der Mann, etwas zu zerstören, was sie so liebt! Er senkte den Kopf, starrte zu Boden. ‚Oh Gott, bin ich einsam‘, murmelte er vor sich hin, ‚elend allein‘ …“ Das Aneinander-Vorbei in entscheidenden Augenblikken des Lebens, das im Tiefsten mangelnde Verständnis für den Nächsten ist Steinbeck bei der Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen immer bewußt. Dennoch hat ihn dies nie zu defaitistischen Konsequenzen in den von ihm geschaffenen Bindungen zwischen Menschen verleiten können – im Gegenteil: immer wieder ist in seinem Werk festzustellen, wie große Möglichkeiten und Hoffnungen er in jede beginnende Verbindung zweier Menschen setzt. 39

Vielleicht ist keine Erzählung besser geeignet, diese Grundhaltung Steinbecks aufzuzeigen, als Der rote Pony, die in vier Teilen dargestellte Entwicklung eines Knaben zum gereiften Mann, die bis heute eine seiner beliebtesten und berühmtesten Erzählungen geblieben ist. (Der vierte Teil wurde erst in der Ausgabe von 1945 mit veröffentlicht.) Man ist versucht, den Knaben Jody als einen letzten Versprengten aus Steinbecks so geliebter Artus-Sage zu empfinden, bilden die Stationen seines Reifens doch fast schon das innere Gefüge eines Erziehungsromans. Mit dem Geschenk eines Ponyhengstes, das der Vater seinem Jungen macht, beginnt dessen eigentliche Erziehung. Der Besitz eines jungen Tieres und die damit verbundene Verantwortung werden die erste Probe, an der er sich zu bewähren hat. Noch hat Jody nicht die Kraft, das von ihm Erwartete zu leisten: mangelnde Sorgfalt bei der Pflege des Tieres führt bald zu dessen Tod. Dieser Tod, von Jody mitverschuldet, wird zur ersten Stufe seiner Entwicklung zur Reife. Der Tod des alten mexikanischen Knechts Gitano, der auf den Hof des Vaters zurückkehrt, um in dem Tal zu sterben, das seine alte Heimat ist, und der mit nichts als seinem ererbten Rapier und einem alten Pferd, das er aus dem Stall mit sich fortnimmt, in den „Großen Bergen“ verschwindet, wird durch eine bisher nicht gekannte starke Gefühlsaufwallung Jodys zweite Station auf dem Wege zu vollkommenerem Menschentum. Von hier aus leitet der Dichter in den dritten Teil des Werkes über: Jody wird Zeuge der Geburt eines Fohlens, die gleichzeitig das Leben des 40

Muttertiers fordert. Erneut werden ihm Pflege und Verantwortung für ein junges Tier übertragen, und Jody übernimmt sie in harter, dienender Wartung. In Jodys Verzweiflung über den Tod der Stute kann die Freude über das Leben des jungen Tieres nur schwer eindringen. Denn er hat sowohl durch das einsame Ende Gitanos wie auch durch den Tod des Pferdes erfahren, daß es im Leben des Menschen wie in dem der Natur kein vollkommenes Glück, ja, daß es kein wirkliches Einswerden dieser beiden gibt, daß Mitleiden mit dem Menschen wie mit der Kreatur am Ende oft das einzige ist, was dem Menschen zu tun übrigbleibt. Im vierten Teil des Werkes, betitelt „Der Anführer“, ist Jodys Großvater die Hauptgestalt der Erzählung. Seine Altersgeschwätzigkeit, die den Eltern so lästig ist, seine immer wiederholten Berichte von dem einstigen großen Treck nach dem Westen, den er anführte, sind nur für Jody voller Spannung und Faszination, denn durch diese Berichte lernt er seine eigene Tradition erfassen, kann er innerlich das Denken und Handeln seiner Ahnen nachvollziehen und erkennen, daß es zweierlei war, was die Menschen einst die große Wanderung in den fernen wilden Westen antreten ließ: der Drang nach Horizonterweiterung nicht anders als die Suche nach einer neuen wirtschaftlichen Lebensbasis. Und eines Tages kam „dieses große kriechende Tier“, das der Großvater anführte, ans Meer, wo es nicht mehr weiterging. Und als er dies erkannte, hatte der Großvater plötzlich gespürt, daß der große Treck viel schöner und sittlich noch größer gewesen war, als das Siedeln selbst 41

es sein konnte – und daß damit das Beste des Lebens vorbei war. Man begreift auch hier den stark symbolischen Gehalt des Trecks, auf den der Dichter verweisen will: der Treck als die Wanderung, die der des Lebens allgemein gleichkommt, und zugleich Steinbecks Lehre vom gefahrvollen als dem eigentlichen und wertvollsten Leben, die darin beschlossen liegt. Wir wissen zwar nicht, ob Jody, der Enkel, diese Lehre annimmt, doch ist es allein schon wichtig, daß er sie erhalten hat, und mit ihr den Aufruf zum tätigen Leben, auf das es Steinbeck immer am meisten ankommt. Sein weiteres Werk, das sich ins große Epos hinein öffnet, baut wesentlich auf dieser Erkenntnis und Lehre auf.

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Früchte des Zorns und der Liebe Ich glaube, daß der Mensch ein Doppelwesen ist: ein Herdentier und ein Individuum. Und es scheint mir, daß er das zweite nicht recht sein kann, ehe er nicht das erste abgestreift hat.

Als gälte es, versäumte Zeit aufzuholen, arbeitete Steinbeck im Winter 1937/38 fieberhaft an einem neuen Roman, für den er erst im September den Titel Früchte des Zorns (Grapes of Wrath) fand, den er der Battle Hymn of the Republic entlieh, in welchem Lied es heißt: „… he is trampling out the vintage where the grapes of wrath are stored“, und dieser Vers hat wiederum Bezug zu einer Stelle aus der Offenbarung Johannes’ (Kap. 14, Vers 19), die lautet: „Und der Engel schlug an mit seiner Hippe an die Erde, und schnitt die Reben der Erde, und warf sie in die große Kelter des Zorns Gottes.“ Das Werk ist der Form nach ein naturalistischer Roman. Seine Dialoge sind in der Mundart der einfachen Landbevölkerung geschrieben, nichtachtend korrekter Syntax und Rechtschreibung, slanghaft. Die Arbeit an diesem großen Buch, von dem Steinbeck später sagte, daß es „überstürzt“ entstanden sei, erschöpfte die Kräfte des Dichters so sehr, daß er nach Abschluß der Arbeit eine Zeitlang krank war und ihm vom Arzt für die Dauer einiger Wochen jedes Schreiben verboten wurde. Der Roman handelt von der großen Dürre und den Bodenerosionen in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, als Tausende von kleinen Farmpächtern gezwungen 43

wurden, ihren Grund und Boden zu verlassen und in das „gelobte Land“ Kalifornien überzusiedeln. In Begleitung eines Photographen hatte Steinbeck einen solchen Exodus selber mitgemacht, um genügend authentisches Material für seinen Roman zu bekommen. Dabei hatte er nicht nur die Härte der Vertreibung der Pächter durch die Landbesitzer kennengelernt, sondern auch die neuen Härten, die die Umsiedler in Kalifornien erwarteten, wo zunächst fast nichts geschah, um ihnen die Anpassung an das andere Land, seine Bodenbeschaffenheit, seine Sitten und Gebräuche zu erleichtern. In der Gestalt des Wanderpredigers Casy, der sich der Pächterfamilie Joad anschließt, ist Steinbeck, stark abgewandelt, als nicht nur äußerlich teilnehmender, sondern auch verstehender und deutender Begleiter und Chronist zu erkennen. Der Dichter hat die Familie Joad, die aus den Eltern, zwei Großeltern, einem Onkel, drei Söhnen, einer Tochter und einem Schwiegersohn besteht, in keiner Weise idealisiert, sie vielmehr als die im Guten wie im Bösen typische Familieneinheit geschildert. Am Beispiel dieser in äußerster materieller Beschränkung und Not lebenden zehnköpfigen Familie macht er deutlich, wie menschenunwürdige Behandlung und Notstände den Menschen gar nicht anders handeln lassen können, als es hier geschieht, das heißt nur auf den eigenen Clan bedacht. Steinbeck hat sich niemals zum Richter über Menschen aufgeworfen, er verteilt die Gewichte von Recht und Unrecht auf alle Seiten, in der ihm jeweils angemessen erscheinenden Proportion. So hat er sich auch mit Früchte des Zorns 44

nicht zum Ankläger der Besitzenden und Anwalt der Besitzlosen gemacht, vielmehr zum Ausdruck bringen wollen, daß das gesamte Wirtschaftssystem Amerikas zugunsten der Besitzlosen verbessert werden müßte. Betrachtet man das Werk genau, so erscheint es mehr als ein Erziehungsroman denn als ein Roman des „J’accuse“ im Sinne Zolas, das heißt als ein sozialer Roman mit vorwiegend politischer Tendenz. Die Aufklärungsarbeit, die Steinbeck mit ihm geleistet hat, war jedoch bedeutend und hat mit dazu beigetragen, die ungerechten und demütigenden Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter Kaliforniens um einiges zu verbessern. Der Roman kann auf zwei verschiedenen Ebenen erlebt werden: als historisches Zeugnis in künstlerischer Form und als Dokument im humanen Sinne des Erziehungsromans – dies vor allem im Hinblick auf die Gestalt des Tom Joad, mit dessen Leben wir schon vor Beginn des Romangeschehens bekannt gemacht werden. Tom Joad erfährt die stärkste Akzentuierung aller Joadsöhne, vielleicht deshalb, weil er durch sein heftiges Temperament der am stärksten gefährdete von ihnen ist. Er, der zweimal tötet, aber kein Mörder ist, wird am Ende zu der Einsicht geführt, daß nicht blindes, sondern nur ethisch bewußtes Handeln gerechtfertigt sein kann. Wie Toms Schicksal, läßt der Dichter auch das Schicksal der übrigen Joads offen, wir wissen am Ende nicht, ob sie untergehen oder überleben werden. Es geht Steinbeck darum, daß die Joads sich nicht nur als einzelne Familie, sondern als Teil der übergeordneten Menschenfamilie begreifen 45

lernen – ein Verständnis, das des Predigers Wort von der „Oversoul“, der überindividuellen Menschheitsseele, von der die Einzelseele nur ein Partikel ist, vorbereiten hilft. Vielleicht ist es ganz besonders die Schlußszene in der Scheune, in der die Tochter der Joads, die ein totes Kind zur Welt gebracht hat, einem fremden, dem Hungertode nahen alten Mann ihre Muttermilch zu trinken gibt – eine Szene, an der die Kritik moralischen Anstoß nahm –, die diese Entwicklung der Joads vom ausschließlichen Sippendenken („clannish thinking“) zum erweiterten menschheitlichen Denken symbolisiert; denn wenn dieses Werk eine Botschaft über die Zeit seiner Entstehung hinaus hat, dann die, daß wahre Gemeinschaft nur dort erwachsen kann, wo Individuen bereit sind, Traditionen neu zu prüfen, notfalls abzuwerfen und sich gemeinnützigen Interessen unterzuordnen. Das Werk ist in drei Hauptteile gegliedert: den zwangsweisen Auszug der Familie aus dem immer unfruchtbarer werdenden Land, die Zweitausend-Meilen-Fahrt durch die Wüste und über die Berge nach Westen, und den Versuch neuen Seßhaftwerdens in Kalifornien. In die insgesamt dreißig Kapitel hat Steinbeck sechzehn sogenannte Zwischenkapitel eingefügt, die nicht der Fortführung des Romangeschehens dienen, sondern Betrachtungen zu diesem enthalten, jedoch niemals die Beziehung zum Geschehen selbst verlieren – eine Technik, die er in dieser Form hier zum erstenmal anwendet. Aus früheren Werken des Dichters wissen wir, daß ihm das beschreibende Element ebensoviel bedeutet wie das 46

erzählerische, hier aber nimmt es fast den Charakter wissenschaftlicher Untersuchung an, was dem Wesen naturalistischer Kunstauffassung nahekommt, der zufolge nur das Faktische und Erfahrbare, auch in künstlerischer Gestaltung, vollberechtigten Raum hat. Steinbecks erzählerische Kraft erreicht in diesem epischen Kolossalwerk neue Höhen. In ganzer Breite beginnt der Dichter das Landschaftsbild aufzurollen, ehe er seine Menschen darin auftauchen läßt, einfache Menschen des Landes, individuell ausgeprägt, doch in einem verbunden: in ihrer Beziehung zu jenem Stück Erde, das schon ihre Altvorderen bestellt haben, Beharrende, denen erst im 5. Kapitel die Vertreter der erbarmungslos fortschreitenden Zeit gegenübertreten. „Die Besitzer des Landes kamen auf das Land … Sie saßen in ihren Wagen und erklärten: Du weißt, was die Baumwolle mit dem Land macht, sie raubt es aus … Ihr müßt das Land verlassen …“ Es folgt die aus der Unerbittlichkeit des Aufbruchs sich ergebende Auflösung der Haushalte, der kleinen Pachtwirtschaften. Beklemmend und gespenstisch, wie das kurze 11. Kapitel die verödet liegenden Häuser und Felder zeigt, das Umherirren der herrenlos gewordenen Tiere, den rasch einsetzenden Verfall der Dinge, die nicht mehr vom Menschen betreut werden – ein Zwischenkapitel, in dem die Dinge selbst und nur sie zu sprechen beginnen, eine Meisterleistung beschreibender Prosa. Der Exodus der Joads, die den Wanderprediger aufnehmen, bringt dann die teilweise Auflösung der Familie. Der uralte rumpelnde Lastwagen mit den schadhaften Reifen, der elf Menschen und 47

ihre Habe befördern muß, wird zum Todesvehikel der Alten: der Großvater stirbt im Zelt einer anderen vertriebenen Familie, die Großmutter auf einer Matratze im Lastwagen. Bei einer Rast an einem Fluß kurz vor der kalifornischen Grenze verläßt der Sohn Noah Eltern und Geschwister im Dunkel und Ungewissen eines sich hinter ihm schließenden Waldes. An der Grenze des neuen Landes ist die Familie bereits dezimiert, trotz aller verzweifelten Versuche der Mutter, sich der Auflösung der Gruppe zu widersetzen. Der Preis jeden Neubeginns ist immer Verlust, ist immer auch Tod, läßt der Dichter uns hier erkennen. Das Armenbegräbnis der Großmutter wird zum ersten Ereignis in Kalifornien, wo die Ankömmlinge unfreundlich aufgenommen werden – eine neue Enttäuschung für sie. Der dritte Teil des ergreifenden Ganzen zeigt uns dann die Bemühung der Joads um den ehrlichen Neuaufbau ihres Lebens, doch werden wir nicht mehr Zeugen seines Gelingens. In den Lagern und Farmen, wo sie Arbeit suchen und zeitweise auch finden, ist man den „Okies“, wie die Einheimischen die Vertriebenen verächtlich nennen, keineswegs wohlgesinnt, empfindet man sie als Eindringlinge und macht ihnen das Leben schwer. So kann es nicht ausbleiben, daß Haß und Gewalt auch hier um sich greifen. Ihr erstes Opfer ist der Prediger, der auf der Hooper Ranch ermordet wird. Tom Joad rächt ihn auf der Stelle, wird dadurch zum Totschläger und sieht als Ausweg für sich nur die Flucht. (Sein abendliches Gespräch mit der Mutter, das den gereifteren Menschen in ihm zeigt, ist von besonderer Schönheit.) 48

Verblieben sind am Ende nur noch die Eltern Joad und vier ihrer Kinder. Das Epos schließt mit der hier schon geschilderten Szene in der Scheune. Ist die Muttermilch, die die junge Frau dem hungernden Alten gibt, der gleichnishafte Ausdruck lebenspendender Kraft und damit erneut der Ausdruck für Steinbecks nie verleugneten Glauben an das weitergehende, sich stets erneuernde Leben, so kann uns dies dennoch nicht veranlassen, das Epos nicht doch als durchaus tragisch zu empfinden; tragisch, weil es dem Dichter hier gelungen ist, zu beweisen, daß der Wille des Menschen zwar viel zu bewirken vermag, ohne jedoch Entscheidungen in der Richtung dieses Willens erzwingen zu können, und daß selbst ein Todesopfer dafür nicht immer ausreicht. Trotz des scheinbar positiv gerichteten und gelichteten Endes bleibt als letzter Eindruck der eines nicht getilgten Leides im Leser zurück. Der Erfolg des im April 1939 erschienenen Buches übertraf alle Erwartungen, die Autor und Verleger daran geknüpft hatten. Neben Margret Mitchells Vom Winde verweht (1936) wurde es zum größten amerikanischen Bucherfolg der dreißiger Jahre, Bestseller Nr. 1 im Jahre 1939, und auch 1940 blieb es auf der Liste der meistgekauften Bücher noch an achter Stelle – schätzungsweise wurden über 500 000 Exemplare innerhalb eines Jahres verkauft, und die Buchhandlungen mußten Wartelisten für ihre Kunden anlegen. Die „Twentieth Century Fox“ erwarb die Rechte zur Verfilmung des Romans und gestaltete einen großen sozialanklägerischen Film aus dem nur wenig veränderten Manuskript. Steinbeck wurde 49

der Pulitzer-Preis für das beste amerikanische Buch des Jahres zuerkannt, gleichzeitig erhielt er den „American Bookseller’s Award“, und das „National Institute of Arts and Letters“ verlieh ihm die Mitgliedschaft. Bis in die Spitzen der Regierung hinein galt er nunmehr als eine nationale (und bald auch internationale) Größe, und Präsident Roosevelt empfing ihn im Weißen Haus in Washington. Steinbeck selber aber fand wenig Gefallen an einem solchen Leben im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. „Popularität hat bisher noch jeden ruiniert, den ich kenne“, hatte er schon 1935 einmal gesagt. Nicht zuletzt, um ihr zu entgehen, begab er sich im Spätherbst 1939 mit seinem Freund Ed Ricketts auf eine meeresbiologische Expedition in die Küstengebiete in der Nähe von San Franzisko und im März 1940 auf eine weitere Expedition – mit Genehmigung der mexikanischen Regierung - in den Golf von Kalifornien (vormals „Sea of Cortez“ genannt), die in der Hauptsache dem Sammeln und Erforschen wirbelloser Meerestiere diente, ein Wissensgebiet, das Steinbeck seit seiner Jugend interessiert hatte. Als die Expedition im April desselben Jahres beendet war, reiste er nach Mexiko, um an der Gestaltung eines Kulturfilms, The Forgotten Village (Das vergessene Dorf), mitzuwirken, der von den Schwierigkeiten berichtet, moderne medizinische Einrichtungen in einer abgelegenen, stark von atavistischem Aberglauben beherrschten Siedlung einzuführen. Im Januar 1941 kehrte er von diesem Auftrag in seine Heimat Monterey zurück, wo er sofort die Arbeit an dem Manuskript seines 50

nächsten, wissenschaftlich orientierten Buches aufnahm, Logbuch des Lebens (Sea of Cortez), das der Niederschlag seiner beiden Expeditionen mit seinem Freunde Ricketts wurde und über dessen Ausarbeitung er entdeckte, wieviel „große Poesie auch im wissenschaftlichen Denken“ enthalten ist. Steinbeck arbeitete an diesem teils biologisch-wissenschaftlichen, teils metaphysisch-spekulativen Buch von Januar bis August 1941; der wissenschaftliche Teil wurde überwiegend von Ricketts, der philosophische von ihm selber erarbeitet. Es ist eine Zusammenschau von Steinbecks Auffassungen vom organischen Leben insgesamt, in das der Mensch mit all seinen Nöten, Lastern und Fehlschlägen ebenso hineingehört wie die Pflanzen- und Tierwelt, und in dem es ein Gesetz gibt, dem alle Lebewesen unterschiedslos gehorchen: das, nach welchem der Stärkere überlebt. (Ob er moralisch dabei auch im Recht bleibt, ist eine Frage, die bei Steinbeck offenbleibt.) Der Dichter vertritt hier den Glauben an eine mystische Einheit allen Lebens, ja, ein Nietzschescher Zug kommt in sein Weltbild hinein, wenn er etwa Pizarro in seinem Kampf mit den Inkas zum Zeugen anruft und an diesem Beispiel den Kampf als die notwendige Energiequelle für den Menschen ins Blickfeld rückt, vergleichbar Nietzsches Lehre vom „Willen zur Macht“ (mit dem Unterschied jedoch, daß Steinbeck darum nicht die sozialethische Verantwortung des Menschen für sein Tun aufhebt). In einem Brief an Pascal Covici schrieb er am 9. Juni 1941: „Wenn ich diese Arbeit beendet habe, werde ich einen Zyklus von Arbeiten beendet haben, der 51

mich seit Jahren nicht hat zur Ruhe kommen lassen, und sie stellt ganz einfach, vorsichtig gesagt, die Grundlage meiner weiteren Arbeit in der Zukunft dar.“ Als im Dezember 1941 dieses Logbuch des Lebens herauskam, war Amerika gerade in den zweiten Weltkrieg eingetreten. Steinbeck, seiner Natur nach Kriegsgegner, fühlte dennoch in dieser Zeit den verpflichtenden Appell zum unmittelbaren Dienst an der Nation mit seinen individuellen Mitteln. Sein persönliches Leben änderte sich in den Folgemonaten dadurch, daß seine Frau sich 1942 von ihm scheiden ließ, da sie sich durch seine vielen Reisen von ihm vernachlässigt fand, was sie auf die Dauer verbitterte. In dieser Situation nahm Steinbeck 1942 den Auftrag der Regierung an, ein Buch über die Ausbildung der „Army Air Force“ zu schreiben. In Begleitung eines Photographen besuchte er verschiedene Ausbildungsstätten für Kampfflieger, um sich gründlich zu informieren und das für eine solche Arbeit erforderliche Material zusammenzustellen. Das Ergebnis war Bombs Away, ein aus dem Augenblick heraus geschriebenes, stärker journalistisches Buch, von dem sein Verfasser sagte, daß es „dem Volke die besondere Eigenart unserer Luftstreitkräfte, ihrer Besatzungen und ihrer ausgezeichneten Ausrüstung näherbringen sollte“. Daß das Buch ein großer Erfolg wurde, daß Hollywood für seine Verfilmung 250 000 Dollar zahlte (die Tantiemen daraus stellte Steinbeck dem „Air Forces Aid Society Trust Fund“ zur Verfügung), war aus der Situation heraus verständlich, doch zählt es heute kaum noch zu den ihren Autor überlebenden Büchern. 52

Wie vielen Schriftstellern vor ihm ist es auch Steinbeck nicht unbedingt gut bekommen, in politisch kritischer Stunde eine Dichtung ad hoc zu „wollen“, selbst wenn dies noch so löblichen Impulsen entsprang. Der Mond ging unter (The Moon is Down), im März 1942 als zweite seiner Schauspiel-Novellen erschienen und fast gleichzeitig auch am Broadway uraufgeführt, ist nicht aus dem Erleben, nicht aus der persönlichen Anschauung heraus entstanden, sondern aus der Absicht, aus Gelesenem und Gehörtem ein Zeitstück zu konstruieren, von dem der Dichter wünschte, daß es ein Lob auf die Demokratie werde, basierend auf der Darstellung von deren Gegenbild: der Militär- und Parteidiktatur in ihrer Zuspitzung als Besatzungsregime in einem besiegten Land. Steinbeck wählte eine kleine norwegische Küstenstadt zur Zeit des zweiten Weltkriegs als Schauplatz; Besatzungsmacht ist das nationalsozialistische Deutschland. Weder mit den Norwegern noch mit den Deutschen hinlänglich vertraut und ganz ohne Kenntnis insbesondere der Nazis, konnte er bei aller Bemühung um Lebensnähe und Echtheit des Lokalkolorits nicht den Ton treffen, der verbindlich und überzeugend die Besonderheiten der beiden Völker wiedergegeben und ihre hier vorgeführten Vertreter hinlänglich charakterisiert hätte. Die handelnden Personen sind und bleiben kaum mehr als Träger zweier Weltanschauungen. Da Steinbeck ein gewandter Dialogschreiber ist, gelang es ihm zwar auch hier, eine immer interessante, spannungsreiche Handlung zu entwickeln (das Drama ist 53

besser als die Novelle), aber der Zuschauer, der Leser vergißt doch keinen Augenblick, daß hier ein begabter Autor am Schreibtisch lediglich zwei Weltbilder dialogisiert hat, wobei Steinbeck, wie immer, bemüht war, auch dem ethisch im Unrecht Befindlichen sein relatives Recht zu lassen. Die Fabel kann kurz zusammengefaßt werden: eine deutsche Militäreinheit besetzt eine kleine norwegische Stadt und macht das Haus des Bürgermeisters zu ihrem Hauptquartier. Der erste Mann, der Widerstand leistet, wird erschossen, was den Haß der unterdrückten Bevölkerung verstärkt. Als der Widerstand sich immer mehr ausbreitet, wird der nur scheinbar loyale Bürgermeister von dem deutschen Kommandanten zum Geisel gemacht und bei den nächsten Sabotageakten der Bevölkerung schließlich hingerichtet. Das ist, was den Wirklichkeitsgehalt betrifft, soweit unantastbar, auch psychologisch klar und richtig, und doch geht alles zu gepflegt zu, ist alles zu distanziert gesehen und geschildert, es klebt kein Blut und Dreck an diesen Uniformen, die Steinbeck selber ja nie gesehen hatte. Die amerikanische Presse nahm das Stück deshalb in der erregten Kriegszeit auch nicht ohne Widerspruch auf, und Steinbecks immer noch maßvolle Zeichnung der Härten und Grausamkeiten der Besatzungsmacht wurde ihm zum Teil sogar als Ausdruck der Sympathie mit den Nazis ausgelegt. Und doch kann dies, im klärenden Rückblick, ernstlich durch nichts erhärtet werden. Es wäre sonst wohl auch kaum zu verstehen, daß ihm der norwegische König für diesen Beitrag zum Freiheitskampf der Norweger einen 54

Orden verlieh, daß Hollywood ihm 500 000 Dollar für die Filmrechte zahlte und daß auch die Franzosen das Stück als einen Beitrag zur europäischen Résistance ansahen, als sie es 1944 unter dem Titel Nuits Noires aufführten. Auch fehlte es von Anfang an nicht an Stimmen, die das Drama als durchaus zutreffend bezeichneten und die vor allem Steinbecks erfolgreiches Bemühen um Objektivität lobend betonten. Gehört das Werk heute auch nicht mehr zu den stark beachteten des Dichters, so ist es dennoch für dessen lautere Gesinnung, die sich auch in Zeiten der Völkerverhetzung nicht beirren ließ, noch ausdrücklich zu erwähnen, eben weil es sich von billiger Schwarzweiß-Darstellung weitgehend freihält. Was es uns als Kunstwerk schuldig bleibt, bietet es uns zum Ausgleich als Zeugnis nobler Gesinnung, doch vergleiche man es nicht mit der bezwingenden Kraft der ersten Schauspiel-Novelle Von Mäusen und Menschen, die aus dem unmittelbaren Vertrautsein des Dichters mit den Tagelöhnern Kaliforniens hervorgegangen war, während mit Der Mond ging unter eine in die Abstraktion gedrängte Erfindung gestaltet wurde. Denn um eine solche ging es hier dem Dichter: den Zusammenprall des führungsgläubigen Gefolgschaftsmenschen, der Befehle ausführt, mit dem aus eigener Gewissensfreiheit demokratisch handelnden „freien Bürger“ aufzuzeigen, der auch dem Tod gefaßt entgegengeht, ehe er die Freiheit des Gewissens preisgäbe. (Mit Gedanken des Sokrates geht Steinbecks Bürgermeister Orden in den Tod.) Wie sehr es Steinbeck hier um die Darstellung eines all55

gemeinen Zustands zu tun war, den die Weltgeschichte nur allzuoft wiederholt hat, mag auch daraus hervorgehen, daß er weder in der Prosa- noch in der Dramafassung jemals das Wort „Deutsche“, „Nazis“ oder auch das Wort „Norwegen“ gebraucht; die Träger beider Weltanschauungen werden nicht benannt, um den Verdacht von dem Dichter abzulenken, er habe ein bloßes Dokumentationsstück schreiben wollen. Wie deprimiert Steinbeck über das sich immer mehr ausweitende Kriegsgeschehen war, ist durch viele Briefe an Freunde und durch deren eigene Zeugnisse belegt. Nachdem er am 29. März 1943 in New Orleans zum zweitenmal geheiratet hatte, ging er von Juni bis Oktober desselben Jahres als Korrespondent der Zeitung New York Herald Tribune an verschiedene Kriegsschauplätze. Auf einem Truppentransporter fuhr er zunächst nach England, wo er als Beobachter der Besatzung einer „Flying Fortress“ zugeteilt war; im August ging er an die nordafrikanische Front, und im September landete er mit der amerikanischen Invasionsarmee in Salerno (Italien). Steinbeck, allem Militärischen innerlich fremd, hat auch in seinen Frontberichten vorwiegend die menschlich erschütternden Aspekte, den Schrecken des Krieges und die durch diesen bewirkte Not sowohl in bezug auf den einzelnen Soldaten wie auf das Gesamtleben der Bevölkerung geschildert. Als Steinbeck im Herbst 1943 von diesem Einsatz als Kriegsberichterstatter nach New York zurückkehrte – nach der Scheidung von seiner ersten Frau hatte er seinen Wohnsitz in Kalifornien aufgegeben und sich in 56

New York niedergelassen –, ging er an die Niederschrift eines Buches, von dem er 1953 in einem Aufsatz gesagt hat, daß es für eine Gruppe von Soldaten geschrieben worden sei, die ihm einmal gesagt hätten: „Schreiben Sie etwas Heiteres, das nichts mit dem Krieg zu tun hat. Schreiben Sie etwas zum Lesen für uns – wir haben den Krieg satt.“ Es war das Buch Die Straße der Ölsardinen (Cannery Row). Steinbeck schrieb es in weniger als zwei Monaten, im März 1944 lag es fertig vor, und im Dezember desselben Jahres wurde es veröffentlicht. Ein solches Buch in so kurzer Zeit niederzuschreiben, heißt, es thematisch innerlich seit Jahren mit sich herumgetragen und wahrhaft „ausgebrütet“ zu haben. Im Charakter Tortilla Flat verwandt, ist es über diese Geschichte hinaus eine Art philosophischer Überhöhung jener Schelme, wenn ihm auch von Kritikern der Vorwurf bloßer Popularphilosophie, ja, der Sentimentaliät und auch der eines „vergifteten Windbeutels“ (Malcolm Cowley in seinem Aufsatz „Steinbeck liefert ein Gemisch aus Farce und Freud“, Januar 1945) nicht erspart blieb. Ed Ricketts, dem das Buch gewidmet ist, hat es indessen einen „Essay über die Einsamkeit“ genannt. Formal läßt sich das in jedem Kapitel gleichmäßig fesselnde Werk schwer in eine literarische Kategorie einordnen. Obwohl Steinbeck es als „Roman“ bezeichnet hat, sind wir heute geneigt, es eher als eine große, mosaikartig zusammengesetzte Erzählung anzusehen. Zwei Welten treten in ihm einander gegenüber: die Welt des Gelehrten Doc und die der Schelme Mack, Hazel, Eddie, Hughie und Jones; die fünf sind Männer in ihren 57

besten, leistungsfähigsten Jahren, machen jedoch im Sinne bürgerlicher Ordnung von ihren Kräften keinerlei gemeinnützigen Gebrauch. Sie sind den Schelmen aus Tortilla Flat insofern verwandt, als auch sie ein geregeltes Arbeitsleben ablehnen und mit primitivsten Lebensumständen vorliebnehmen, um sich – unbekümmert um geltende Moralprinzipien – als freie Menschen fühlen zu können. Doc, mit dem Steinbeck ein gleichsam apotheotisch überhöhtes Porträt Ed Ricketts’ gezeichnet hat, ist die von ihnen bewunderte und verehrte, fast gottähnliche Gestalt, die nicht nur über der kleinen Stadt, sondern – für sie – über dem Leben überhaupt thront. Ihr eigener Sittenkodex – denn einen solchen haben sie, ebenso wie die Schelme von Tortilla Flat – macht sie denn auch bereit, alles, was in ihren Kräften steht, für Doc zu tun, indes er, voller Verständnis, ja nicht ohne Sympathie für diese offenbar chaotischen Naturen, deren Spiritus Rector er ist, in ihrer auf nichts gegründeten Existenz ihr eigentlicher Halt – und Zusammenhalt – wird. Geht man in der Durchleuchtung der Wechselbeziehung dieser beiden Welten und ihrer Vertreter einen Schritt weiter, erscheint es klar, daß das, was beide füreinander anziehend macht, jenes Höchstmaß innerer Freiheit ist, das Doc sich durch die hohe Vergeistigung seines Lebens erworben hat, das die fünf Männer aber dadurch besitzen, daß sie von allem Geistigen unberührt geblieben sind. Steinbeck hat in diesem zwischen enthemmter Heiterkeit und bisweilen abgründiger Melancholie pendelnden 58

Werk erneut seine Liebe zu den von der Gesellschaft als Tagediebe Verachteten und Ausgestoßenen bekundet. Die wahren „Misfits“ und „Outcasts“ schienen ihm, zumal nach den voraufgegangenen Erfahrungen an den Kriegsfronten, weit mehr unter denen zu finden zu sein, die rücksichtslos Not und Tod über die Völker brachten und Blutbäder unter ihnen anrichteten. Die Straße, die dem Werk den Titel lieh, ist eine von jenen ärmlichen Kleinstadtstraßen Montereys, die ebensoviel Erbärmliches wie Liebenswertes umschließen. In jedem Fall ist sie eine Fundgrube menschlicher Schicksale, in die Steinbeck mit vollen Händen hineingreift. „Cannery Row besteht aus Alteisen, Blech, Rost, Hobelspänen, aufgerissenem Pflaster, Baustellen voll Unkraut und Kehrichthaufen, aus Fischkonservenfabriken in Wellblechschuppen, aus Wirtschaften, Hurenhäusern, Chinesenhütten, Laboratorien, Läden voll Kram, aus Lagerhallen und faulen Fischen. Die Einwohner? Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen; man könnte mit gleichem Recht sagen: Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer – es kommt nur auf den Standpunkt an.“ Und in dieser Straße wohnen auch Mack und seine vier Gefährten in großen, verrosteten Röhren, das heißt, sie nächtigen dort, wenn es regnet. „Bei schönem Wetter hausten sie am Ende des Grundstücks im Schatten der dunklen Zypresse, deren untere Äste sich baldachinartig herunterbogen. Da lagen die fünf in guter Ruhe und schauten gelassen auf das Fluten und Treiben von Cannery Row.“ Steinbeck zeichnet nicht weniger intensiv das Gegen59

bild, das Doc liefert: „Während einer Reihe von Jahren hatte Doc an der Cannery Row völlig zurückgezogen gelebt und war ein Quell der Weisheit, Kunst- und Naturwissenschaft geworden … Doc konnte sich jeden Unsinn anhören und ihn in etwas Sinnvolles verwandeln … Er lebte in einer erregenden Wunderwelt. Er war lüstern wie ein Kaninchen und sanft wie ein Reh. Jeder, der ihn kannte, dachte zuerst: Ich möchte ihm gern einmal eine Freude bereiten.“ Eine Freude bereiten wollen ihm auch die fünf – auf ihre Weise. Nicht nur, daß sie ihm Frösche und Katzen fangen, nein, sie treiben auch zweimal das Geld auf, um ihm eine „Party“ zu geben. Und um diese beiden „Partys“ rotiert letztlich das gesamte Geschehen in der Erzählung; ihrer Vorbereitung, ihrem Verlauf und ihrem jeweiligen Ende treiben die einzelnen, locker verbundenen Episoden, in die das Werk aufgeteilt ist, zentripetal zu. Auch hat Steinbeck hier wieder die Technik der Zwischenkapitel aufgenommen, mit denen er die Handlung nicht vorantreibt, sondern nur kommentiert und uns dadurch besonders tiefe Einblicke in die soziale und moralische Beschaffenheit der Bewohner der „Straße der Ölsardinen“ gibt, in der es von Originalen wimmelt, unter denen der alte Chinese Lee Chong, Besitzer eines Kramladens, und die Dame Dora, Besitzerin eines mit Strenge und Moral geführten Freudenhauses, besondere Erwähnung verdienen. Allegorisch ist in diesem Buch wieder alles: die „Straße der Ölsardinen“ selbst ist die Welt, und das Bemühen ihrer Bewohner um das jeweils richtige Tun, um zu Er60

folg zu gelangen, nichts anderes als das Streben jedes einzelnen Menschen nach Sinnerfüllung seines Lebens durch individuelles Handeln. Auch die „Partys“ sind allegorisch zu verstehen; sind der Ausdruck verschiedenster menschlicher Typen und ihrer Sehnsucht nach gegenseitigem Begreifen und Durchdringen, kurz, nach menschlicher Gemeinschaft; sind der Versuch von Individuen, noch im entscheidenen Gegenbilde das Ebenbild zu finden. Daß dieser Versuch niemals völlig gelingen kann, daß zuletzt jeder doch allein bleibt, ist der tragisch getönte Aspekt des Werkes, das sich in Sprache und Ton sonst so gelassen und froh gibt. Das monumentalste Beispiel menschlichen Auf-sich-selbstgestelltSeins ist Doc, der am Ende der beiden „Partys“ allein zurückbleibt, das eine Mal beschäftigt mit dem Beseitigen der Trümmer des in rauschhafter Zerstörungswut endenden Festes, das andere Mal mit dem Anhören klassischer Musik, wobei die Ratten und Klapperschlangen in ihren Glaskäfigen die einzigen Zeugen der geisterhaften Stunde und Stimmung sind. Wenn Ricketts die Straße der Ölsardinen einen „Essay über die Einsamkeit“ genannt hat, dann vermutlich im Hinblick auf die beiden „Partys“. Für Mack und seine Kumpane stellen sie das Höchstmaß aller Freude dar, das Menschen einander bereiten können. Da Doc seine Haustür nicht abzuschließen pflegt, auch wenn er das Haus verläßt, haben die fünf es leicht, in seiner Abwesenheit die erste Party vorzubereiten, mit der sie ihn überraschen wollen. Doch der Teufel will es, daß gerade an jenem Abend Doc nicht rechtzeitig nach Hause 61

kommt. Also feiern die fünf unter sich und betrinken sich derart, daß ihr Lärm Passanten von der Straße herbeilockt; es kommt zu einer blutigen Schlägerei, durch die Haus und Inventar aufs schwerste beschädigt werden – und die gefangenen Frösche entweichen. Als Doc spät in der Nacht heimkommt, versetzt er Mack wohl ein paar saftige Ohrfeigen, doch hat er im tiefsten Herzen auch für diese Situation noch Verständnis – und Mitempfinden. Die zweite „Party“, Docs Geburtstagsfeier, wird zu einer Angelegenheit der ganzen Straße; von allen Seiten werden dem Hausherrn Geschenke gebracht. In zwangloser Fröhlichkeit, bei gutem Essen und Trinken finden alle Gäste vorübergehend zu ihrem besseren Selbst, auch Doras „Damen“ werden zu Damen und dulden keine Anspielung auf ihr Gewerbe. Am Ende der Mahlzeit, in „besinnlicher Verdauungsmelancholie“, liest Doc aus dem Sanskrit vor und legt Schallplatten auf mit Musik von Monteverdi. Doch die Gegenstimme bleibt nicht aus: die Mannschaft eines Thunfischdampfers aus San Pedro bricht in das festlich erleuchtete Haus ein und verlangt nach den Mädchen. Auch diesmal entsteht eine Schlägerei, der erst das Eingreifen der Polizei ein Ende setzt – ein versöhnliches Ende. Denn zuletzt feiern alle, auch die Polizisten und die Mannschaft des Fischdampfers, gemeinsam, bis Böllerschüsse dem Ganzen einen triumphalen Abschluß verleihen. Man erkennt, worum es dem Dichter geht (und es könnten dazu viele weitere Szenen des Buches herangezogen werden): seinen Glauben an den Menschen 62

zum Ausdruck zu bringen, den Laster und Ungebärdigkeit, in welcher Form, in welcher Potenz auch immer, nicht zu zerstören vermögen; seinen Glauben auch an die letztliche Zusammengehörigkeit aller Menschen – wie groß die Unterschiede auch zwischen ihnen sein mögen –, was Steinbeck durch seine Alltagserfahrung immer erneut bestätigt sieht. Ein Positivismus also, den manche Kritiker des Dichters mit Primitivismus gleichsetzen – aus keinem anderen Grunde als dem, daß Steinbeck keine weiten Umwege geht, um uns das Schicksal und das Verhalten seiner Menschen als überwiegend milieubedingt vorzuführen. Denn Steinbeck ist Mythendarsteller und -entlarver, Sozialpsychologe und -kritiker zugleich, und Positivist insofern, als alle seine Erkenntnisse nicht auf Spekulationen, sondern auf Erfahrungen gründen. In der Straße der Ölsardinen hat er für diese eine einmalig reizvolle Mischform aus psychologischem Realismus und romantischer Märchendichtung gefunden. Es wurde Steinbecks erfolgreichstes Buch in der Zeit des zweiten Weltkriegs, geschrieben gegen eine Zeit, deren Sünden in primitivster Barbarei bestanden; weltflüchtig wohl, doch nur im Sinne des Gegenbildes einer Epoche, für die er, gerecht verteilt, großen Zorn und große Liebe zugleich empfand.

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Zwischenspiele Es geht nichts über die Sünde, um der Selbstzufriedenheit entgegenzuwirken.

Daß Steinbeck vor der in den Jahren 1944/45 immer wilder um sich greifenden Kriegsfurie in die „Straße der Ölsardinen“ geflüchtet war und damit in eine Welt, die, wenn auch nicht ohne Streit, so doch ohne Haß und Mordabsichten war, wird bei einer rückschauenden Betrachtung seines Lebens und Werkes deutlich. Seine innere Beteiligung an allem Menschlichen ließ ihn zwar der Entwicklung des Krieges gegenüber niemals gleichgültig werden, er selber hatte sich jedoch, nachdem er als Kriegskorrespondent seinen Beitrag geleistet hatte, in eben jene Welt zurückgezogen, um mit den ihm angemessenen Mitteln der Menschheit besser zu dienen. Er war nervös in dieser Zeit und unschlüssig, welchem Thema er sich nach dem Erfolg der Straße der Ölsardinen als nächstem zuwenden sollte. Dramenpläne und Drehbücher beschäftigten ihn kurzfristig und wurden wieder verworfen, bis ihm, acht Monate nach Abschluß der Straße der Ölsardinen, ein am Rande von La Paz (Bolivien) spielendes Märchen wieder in den Sinn kam, mit dem er sich schon vor dem Kriege befaßt hatte und das ihn so fesselte, daß er es nicht nur zum Filmmanuskript, sondern auch zur Novellette gestaltete, die im Dezember 1945 in der Zeitschrift Woman’s Home Com64

panion und 1947 in Buchform als Die Perle (The Pearl) erschien. In der Erstveröffentlichung des Logbuches des Lebens hatte Steinbeck einmal von einem Indianerjungen berichtet, der eine besonders große und kostbare Perle fand, von der er glaubte, sie werde ihn so reich und frei machen, daß er nie mehr werde zu arbeiten brauchen. Steinbeck verlagerte die Handlung dieses Märchens auf den Mann Kino, dessen Frau Juana und ihr Kind Coyotito und formte es zu einer neuen, stark allegorischen Parabel um, die von großer dichterischer Schönheit und formaler Geschlossenheit ist. Der Dichter hat noch einige andere Figuren in diese Parabel eingeführt, um mit ihnen das Gleichnishafte des Hauptgeschehens noch besser zu stützen: so den – vor allem um sein Honorar – besorgten Arzt und den in seiner schlichten Freundlichkeit besorgten Bruder Kinos. Denn Kino ist berauscht von seinem Fund, für ihn ist er „die Perle der Welt“, die alles Glück der Erde über ihn ausschütten wird. Juana warnt ihn vor der Überschätzung seines kostbaren Besitzes und sieht mit ihrem starken Ahnungsvermögen das Unheil voraus, das dieser Fund über sie alle bringen wird. Doch Kino will von ihrer Warnung nichts wissen – denn diese Perle sei seine Seele geworden –, und auch der Neid der Umwelt und mehrere auf ihn versuchte Überfälle können ihn von seiner Haltung zunächst nicht abbringen. Da ihm die Händler für die Perle nicht genug Geld bieten und ihm die Neider auf dem Fuße sind, sieht Kino keinen anderen Ausweg als die Flucht. Mit Frau und Kind zieht er in die Berge, doch berittene Verfolger finden seine 65

Spur. In der Nacht gelingt es Kino, sie zu überwältigen. Er wird zum Mörder an ihnen, nachdem das mit Juana in einer Höhle oberhalb des Rastplatzes zurückgebliebene Kind den Kugeln eines der Verfolger zum Opfer gefallen ist. Juana und Kino kehren allein in ihr Dorf zurück. Dort am Strand gibt Kino in weitem Bogenwurf die Perle der See zurück. Daß Reichtum verderblich sein kann und seine blinde Bewunderung eher Enttäuschung als Glück mit sich bringt – nicht allein diese Lehre aus dem der Parabel zugrunde liegenden Märchen hat Steinbeck hier zum Ausdruck gebracht. Über diese für ihn fast allzu selbstverständliche Tatsache hinaus hat er ein psychologisch fein gefügtes Stück typischer Eheproblematik geschrieben, durch die Art, in der er zunächst die Reaktionen von Mann und Frau auf den Fund, dann den Streit zwischen den Ehegatten und schließlich ihre unausgesprochene Versöhnung durchführt: die Fülle des Aktionsdranges und die überstarke Dynamik des fanatisierten Mannes werden von dem milderen Temperament der Frau, das früher zur Einsicht befähigt, am Ende zu der Erkenntnis geläutert, daß nur durch eigene Kraft erworbener Reichtum von Dauer und Segen sein kann. Obwohl niemals offen ausgesprochen, wächst diese Einsicht aus dem Ineinander von Gebärde und Wort der beiden Hauptfiguren in immer schärferer Konturierung vor des Lesers Augen auf. Die Weichheit und Schmiegsamkeit von Steinbecks Sprache erreichen in dieser märchenhaften Erzählung neue Höhepunkte. Die von Alfred Kazin vertretene Behauptung, die „amerikanischen 66

Schriftsteller mißachteten nicht nur, sondern verachteten sogar die ästhetischen Probleme“ im literarischen Stil, wird durch eine Erzählung wie Die Perle ernsthaft in Frage gestellt. Vielmehr beweist sie die Richtigkeit der Äußerung von Helmut Uhlig über Steinbeck, dieser verfüge „über alle Register einer differenzierten Erzählkunst … vom Kammerton zarter Liebesworte bis zum handfesten Jargon von Job zu Job trampender Globetrotter“. Steinbeck selbst sprach sich verwundert über dieses an Umfang kleinere, an innerer Dimension aber um so größere Kunstwerk aus, nannte es „ein seltsames Werk, sonderbar in seiner inneren Ordnung und in den Gestalten, ein Volksmärchen, hoffe ich, eine Schwarzweiß-Geschichte, wie eben eine Parabel“. Ebenfalls im Jahre 1947 erschien auch ein Roman, von dem Steinbeck zuerst als von einer „Zaubergeschichte“ sprach, deren Veröffentlichung in der Erstfassung er nicht einmal beabsichtigte. Sie schien für ihn der Aufbruch in literarisches Neuland zu sein, diese Darstellung einer Autobusreise von Rebel Corners nach San Juan de la Cruz, genannt Autobus auf Seitenwegen (The Wayward Bus), deren Inhalt aus den während der Fahrt zwischen den Fahrgästen und zwei Busfahrern entstehenden Spannungen und den aus diesen resultierenden Beziehungen besteht. Es ist gewiß, daß sich Steinbeck zuvor mit Psychologie und Psychoanalyse beschäftigt hatte, so sehr finden wir ihn hier auf Seitenwegen, die er vorher noch nie betreten hatte. Von „zauberhaften“ Elementen gewann er in diesem Roman immer mehr Abstand. 67

Typisch für die Steinbeck eigene literarische Gestaltungsform sind auch in diesem Roman die realistische, in vordergründigen, kleinen Einzelbegebenheiten fortschreitende Handlung und der breite Raum, der der Landschaftsschilderung gewidmet ist, diesmal dem Süden Kaliforniens, dem Grenzgebiet Mexikos. Es ist ein sehr altes, großen Strapazen kaum mehr gewachsenes Vehikel, mit dem sein Eigentümer und Fahrer, Juan Chicoy, einen abgelegeneren, an das allgemeine Autobusnetz nicht angeschlossenen Teil des Landes befährt. Eine größere Panne, die die Fahrgäste zu einer nicht fahrplanmäßigen Übernachtung in des Fahrers einfachem Privathaus zwingt, wodurch sie sich unwillkürlich näher kennenlernen, eröffnet das Romangeschehen und fädelt mit großer erzählerischer Geschicklichkeit die knisternd problematischen Beziehungen ein, die sich in kaum mehr als vierundzwanzig Stunden zwischen diesen heterogenen Menschen verschiedener Altersstufen entwickeln. Während der weiteren Fahrt muß der Bus mitten in einem heftigen, plötzlich heraufgezogenen Unwetter auf eine unzulänglich gepflasterte Seitenstraße ausweichen, da für eine Brücke, die er eigentlich überqueren müßte, infolge schwerer Überschwemmungen Einsturzgefahr besteht. Auf der Seitenstraße bleibt der Bus bald im aufgeweichten Straßenschlamm stekken. Die abermalige Fahrtunterbrechung führt dazu, daß aus den bis dahin angeknüpften Beziehungen der Reisenden intime Verbindungen zwischen jeweils zwei Personen entstehen, die der Dichter mit großer Delikatesse, aber dennoch eindeutig darstellt. 68

Von Anfang an wird dem Leser deutlich, daß es sich bei den an der Fahrt Beteiligten ausnahmslos um sexuell Unbefriedigte handelt: den großbürgerlichen, älteren Geschäftsmann und seine frigide Frau; beider mit der Liebe bisher nur durch Collegeerlebnisse in Berührung gekommene Tochter; den ledigen, allerhand alberne Jahrmarktsartikel vertretenden kleinen Reisenden; den wegen seines verpickelten Teints unter Minderwertigkeitskomplexen leidenden siebzehnjährigen Gehilfen des Buseigentümers; die unfreiwillige Kellnerin mit dem nervösen Filmtick und der übersteigerten Schwärmerei für Clark Gable; die ihres Gewerbes müde werdende Animierdame und schließlich den mit seiner dicklichen, durch Arbeit früh häßlich gewordenen Frau im täglichen Ehekleinkrieg lebenden Juan Chicoy selbst. Die Gefühle aller dieser Personen füreinander sind durchweg solche der Haßliebe, von Sadismus nicht weniger geprägt als von sinnlicher Begierde. Die von Steinbeck angewandte Technik des inneren Monologs, teilweise bis zum lauten Selbstgespräch gesteigert, macht diesen Zustand besonders deutlich. Ein extremes Beispiel dafür bietet der einzige alte Fahrgast, van Brunt, den alle übrigen ablehnen, da es für ihn keine andere Befriedigung mehr zu geben scheint als die durch unentwegte Nörgelei, Quertreiberei und verletzende Herausforderung seiner Umwelt. Ihn trifft gegen Ende der Fahrt ein Schlaganfall, und es bleibt offen, wie lange er ihn überleben wird. Der durch das Unwetter erzwungene Aufenthalt, den die Reisenden zur teils erfolgreichen, teils erfolglosen Befriedigung ihrer Sinn69

lichkeit in einer seitab der Straße gelegenen Felsenhöhle und in der Scheune eines verlassenen Bauernhofes zu nutzen versuchen, geht zu Ende, als es Chicoy und seinem Gehilfen gelingt, den Bus aus dem Schlamm herauszumanövrieren. Mit den Worten „Das dort drüben ist San Juan“ beschließt Steinbeck den Roman. Das makabre Zwielicht, das über der Fahrt und ihren Teilnehmern liegt, wird zuletzt aufgelöst in einen Schimmer reineren Lichts, das den Reisenden von der ersehnten Zielstation entgegenleuchtet. Steinbecks Autobus auf Seitenwegen ist bei genauerer Betrachtung eine unentwegte Folge von Dramen im kleinen, und hierin ist auch ein großer Teil der Kontinuität zu erblicken, die diesen in der Durchführung hervorragenden Roman zu einem typischen Werk seines Autors macht. Denn Steinbecks Epik ist immer voller dramatischer Hochspannung im Detail, während sie insgesamt überblickt, gleichsam „von oben“ gesehen, wie ein breiter tragender Strom dahinfließt. Auch beim Autobus auf Seitenwegen handelt es sich wieder um eine allegorische Dichtung. Steinbeck hat zwar öfters Zweifel gehegt am allegorischen Charakter der Dichtung. „Es hat etwas Lächerliches, ein Abbild des Lebens zu Papier bringen zu wollen“, schreibt er am 3. September 1951 in sein Tagebuch. Und doch ist es ihm mit Autobus auf Seitenwegen besonders überzeugend gelungen, ein Abbild des Lebens zu geben. Wenige Monate nach Erscheinen des Romans unternahm der Dichter nochmals eine Reise nach Rußland, diesmal begleitet von dem Photographen Robert Capa. 70

Wir verdanken dieser Reise ein noch heute lesenswertes Tagebuch, das Russian Journal, das im April 1948 herauskam; eine deutsche Ausgabe liegt bisher nicht vor. Steinbeck hat auf dieser Reise Moskau, Stalingrad, die Ukraine und den Kaukasus besucht, auch Dorfgemeinschaften und landwirtschaftliche Betriebe aus der Nähe gesehen. Es war ihm darum zu tun, der Welt Bericht zu erstatten, und er betont, daß er weder mit positivem noch mit negativem Vorurteil nach Rußland gefahren sei. Er unternahm diese Reise nicht, um am Ende ein politisches Bekenntnis für oder gegen die Sowjetunion abzugeben – er hat dies auch nicht getan –, sondern um den russischen Menschen kennenzulernen, zu erfahren, wie dieser sich außerhalb seiner politischen Bindungen und unabhängig von ihnen bewegt und wie er auf Dinge reagiert, die sich jeder Art von Normierung entziehen. Freilich erkannte er schon in den ersten Tagen überall ein hohes Maß von staatlicher Lenkung im öffentlichen wie im privaten Leben, den ungleich geringeren Willensspielraum, der dort dem Individuum belassen wird. Schon in der Begegnung mit seiner jungen Dolmetscherin Svetlana Litvinova, deren Beherrschung der englischen Sprache er vorzüglich nannte, trat ihm diese überall spürbare Lenkung „von oben“ entgegen. Die Vehemenz, mit der die selbstsichere, von festen Überzeugungen geprägte Studentin ihre Meinung zu vertreten wußte, der herbe Charme, mit dem sie die amerikanische Lebensweise insgesamt als „dekadent“ beurteilte, ließen Steinbeck erkennen, wie stark ihre immer summarischen und sofort herausgeschleuderten 71

Urteile ihr in jahrelanger uniformer Schulung beigebracht worden waren. In der Kunst verwarf sie jede abstrahierende Darstellung, in Gesprächen über Moral vertrat sie etwa den Geist von Steinbecks Großelterngeneration, von sexbetonter, attraktiver Kleidung hielt sie gar nichts; auch fehlte ihr selbst das geringste Fünkchen Humor. Das verabsolutierte Klischeebild, das sie von allen Erscheinungen des Lebens hatte, enthob sie auch scheinbar aller Spannungen mit ihrer Umwelt und wappnete sie gegen jeden Angriff aus entgegengesetzter weltanschaulicher Richtung. Der Gegensatz zwischen ihrem und ihres Gastes Weltbild konnte jedoch nicht verhindern, daß sich ein menschlich vertrauensvolles und herzliches Freundschaftsverhältnis ergab, je länger sie miteinander zu tun hatten. Steinbeck war beeindruckt von den Fortschritten, die Rußland seit seinem ersten Besuch 1937 in jeder Weise gemacht hatte. Es fiel ihm auf, wieviel größere Sauberkeit im Stadtbild herrschte, daß die Bautätigkeit inzwischen Hunderte von neuen Etagenhäusern, Brücken über die Moskwa, ja ganz neue Stadtviertel hatte entstehen lassen und daß am Abend die Großstadt in einer wahren Lichtflut erstrahlte. Bei seinen Gesprächen im Kulturbund begegnete ihm überall die These, daß auch in der Kunst nur mit Energie und mit dem Blick auf Staat und Regierung verbindliche Aussagen und Leistungen hervorgebracht werden könnten, denn ohne die Orientierung an den von der Regierung gesetzten Maßstäben könne der Künstler, insbesondere der Schriftsteller, allzu leicht an sich selber unsicher wer72

den, womöglich zu zweifeln beginnen, und gerade dies müsse verhindert werden. Der sowjetrussische Mensch, von jung auf dazu erzogen, seiner Regierung blind zu vertrauen – erkannte Steinbeck –, befindet sich im fundamentalen Gegensatz zu seinem Widerpart in liberal und demokratisch regierten Ländern, wo wachsames, skeptisches Beobachten aller Regierungsaktionen und Kritik an ihnen als Ausdruck persönlicher Reife und hoher Staatsbürgertugend gewertet werden. In Fragestunden und Diskussionen fühlte sich Steinbeck einige Male unbehaglich, weil er selber so wenig von der zeitgenössischen amerikanischen Literatur kannte und ihm die moderne Lyrik weitgehend unbekannt war. In der Schriftstellervereinigung Georgiens, als deren Gast er sich in Tiflis aufhielt, konnte man diese geringe Anteilnahme an der Dichtung des eigenen Landes nur schwer verstehen, denn gerade in den südlichen Provinzen der Sowjetunion steht die lyrische und die Märchendichtung als die eigentliche Dichtung besonders hoch im Kurs. Doch Steinbeck war weder ein erklärter Poet noch ein Literat im Sinne der westlichen Welt, das heißt ein Mensch, der die Welt, die er vorfindet, im wesentlichen insofern erlebt, als er sie in Literatur umsetzen kann. Steinbecks Rußland-Erlebnis, das in Moskau mit einer Besichtigung des Kreml, des, wie er sagt, „düstersten Ortes der Welt“ endete, war und blieb für ihn die Begegnung mit einer fremden, ja konträren Welt. Entgegen seiner Absicht, nicht mehr für die Filmproduktion tätig zu sein, schrieb Steinbeck kurz nach sei73

ner Rückkehr aus Rußland das Filmmanuskript nach seiner Erzählung Der rote Pony und ein zweites im Auftrag der 20th Century Fox, das ihn über ein Jahr lang beschäftigte: Viva Zapata, thematisch der Stürmischen Ernte und Früchten des Zorns insofern verwandt, als es von mexikanischen Farmpächtern handelt, die sich unter der Führung ihres revolutionären Helden Zapata gegen die willkürliche Beschlagnahme ihres Landes auflehnen – sie jedoch mit Erfolg. Zapata selbst, den Steinbeck zur Größe eines tragischen Helden erhebt, erkennt am Ende die sittliche Gefahr, die ihm aus der erworbenen Machtfülle droht, und stirbt, verraten von seinem einstigen Mitstreiter Fernando, gleichsam mythenbildend – sein Volk wird aus seinem Tod neue Kraft gewinnen. Es war ein Film, der zur Zeit seines Erscheinens nicht weniger Erfolg hatte, als Steinbeck ihn mit der Verfilmung seiner Perle gehabt hatte. Im Jahre 1948 starb Ed Rickett, dessen Tod für Steinbeck einen besonders empfindlichen Verlust bedeutete. Für sein Logbuch des Lebens schrieb er nun ein mit großer Sorgfalt ausgearbeitetes, dem Andenken des Freundes gewidmetes biographisches Vorwort, das der Neuauflage des Werkes 1951 vorangestellt wurde. Und ehe Steinbeck daranging, an seinem zweiten Kolossalwerk zu arbeiten, dessen Thematik zu gestalten es ihn schon längere Zeit drängte, schrieb er, inspiriert durch ein Gedicht des englischen Romantikers William Blake (1757-1827) seine dritte Schauspiel-Novelle: Die wilde Flamme (Burning Bright), die, bevor sie in Prosa erschien, in New York im Oktober 1950 uraufgeführt 74

wurde – und durchfiel. Das Stück konnte sich am Broadway nicht länger als zwei Wochen halten, nachdem es von der Presse seiner Form und seiner Sprache wegen aufs schärfste angegriffen worden war. In einem Zeitungsaufsatz „Critics, Critics Burning Bright“ versuchte Steinbeck, eine in ihrer Wirkung jedoch ebenfalls negative Rechtfertigung für sein Stück (und dessen Gestaltung) zu geben, es hat aber bis heute niemals erfolgreich werden können. Die wilde Flamme greift das Thema der Unfruchtbarkeit des Mannes auf und behandelt es in großer Offenheit. Es verrät eine gewisse Naivität Steinbecks (die er als Künstler niemals ganz verlor), daß er erstaunt darüber war, daß nicht jedes menschliche Problem auch ein Thema für die Bühne sei und daß das Publikum im Theater, mit sexuellen Problemen konfrontiert, diese dort anscheinend nur spaßhaft erleben möchte, andernfalls sie nur Verlegenheit im Parkett erzeugen könnten. In diesem Stück begegnen wir einem im Alter ungleichen Ehepaar: dem alternden Joe Saul und seiner jungen Frau Mordeen, einer Trapezkünstlerin. Der Mann, erfüllt von dem Gedanken an späte Vaterschaft, ist sich seiner durch frühere Krankheiten bewirkten Zeugungsunfähigkeit nicht bewußt und erfährt erst kurz vor Mordeens Niederkunft, daß das Kind nicht von ihm, sondern von einem jungen Liebhaber seiner Frau, Viktor, gezeugt wurde. Dieser wiederum, bedrückt durch die Tatsache, daß er nur „stellvertretend“ hat lieben dürfen, verrät das Geheimnis und wird daraufhin von Ed, einem Freund Joes, getötet. Joe übernimmt nicht 75

nur beglückt die Vaterschaft, sondern erkennt in der geistigen sogar eine höhere Form der Vaterschaft als in der körperlichen. Die vier Personen, zwischen denen sich das Drama abspielt, werden von Akt zu Akt in eine andere Umgebung transponiert, vielleicht um die Erkenntnis des Dichters vom Wesen der Vaterschaft universaler zum Ausdruck zu bringen. Wir sehen Joes Wunsch nach Vaterschaft in der Welt eines Zirkus entstehen, vernehmen die Nachricht von Mordeens Schwangerschaft auf einer Farm und erleben ihre Niederkunft in einer Schiffskajüte. Diese aufgebrochene Form des Handlungsrahmens mußte die Zuschauer eher verwirren, als daß sie ihnen die Steinbeck vorschwebende Idee von „jedes Mannes Vaterschaft für alle Kinder“ hätte näherbringen können. Eine solche menschliche Ursituation, demonstriert an drei verschiedenen Milieus, an einem „Dreiecksverhältnis“, das nicht um seiner selbst willen besteht, sondern zweckgebunden ist, konnte nur als konstruiert und künstlich gelten. Der Dichter hat, anfangs verwundert über den Mißerfolg, später die Gründe dafür eingesehen und wohl deshalb die Prosafassung der Arbeit nicht in die Sammlung seiner Erzählungen aufgenommen, die er im Herbst 1953 herausgab. Die Vielseitigkeit seines Schaffens in den vierziger Jahren mag Steinbeck die Möglichkeit geboten haben, seine Mittel so umfassend wie möglich auszuprobieren. Die letzte Reifestufe erreichte er erst im nächsten Jahrzehnt mit einem Werk, das er der Nachwelt als sein „literarisches Testament“ zu hinterlassen wünschte. „Es 76

muß alles enthalten, was ich von der Welt weiß.“ Es ist das große Epos Jenseits von Eden (East of Eden).

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Im Bann von Mythos und Märchen Ich glaube, jedem fällt nur ein Buch zu.

Die fünfziger Jahre setzten in Steinbecks Leben einen neuen Anfang. Nach der Scheidung von seiner zweiten Frau zwei Jahre zuvor heiratete er 1950 Elaine Scott, die frühere Frau des Filmstars Zachary Scott, und diese Ehe verlief denkbar glücklich. 1944 und 1946 waren ihm die Söhne Thom und John geboren worden, die nach der Scheidung der Eltern in der Obhut der Mutter blieben. Steinbeck hatte sich in der 72. Straße von New York ein Haus bauen lassen, das er Anfang 1951 mit seiner dritten Frau bezog. Die Begegnung mit ihr am 29. Mai 1949 hatte in seine damals oft zwiespältige Gemütsverfassung die entscheidende Wendung gebracht, die ihm die Kraft gab, sich an ein großes Werk zu wagen, dessen Thema ihn seit 1947 beschäftigt hatte. Wir dürfen gleichzeitig nicht übersehen, daß dieser neue Anfang auch die Endphase seines künstlerischen Schaffens einleitete und daß sein 1952 erschienener Roman Jenseits von Eden (East of Eden) der danach nicht mehr überbotene Höhepunkt seines Lebenswerks wurde. Es war zwar nicht seine letzte Buchveröffentlichung, es gab deren weitere bis 1966, aber sie alle haben nicht mehr die Tiefe der Empfindung und die Kraft der Aussage, die wir bis 1952 so oft an Steinbeck bewundern 78

durften. Bewunderungswürdig ist es auch, immer wieder feststellen zu können, daß Steinbeck zu den berühmten Autoren der abendländischen Literatur gehört, die sich gegen die Mehrheit der im allgemeinen nicht allzu freundlich gesinnten Pressevertreter durchsetzten. Es ist darum nicht verwunderlich, daß Steinbeck eine Art Abscheu vor Kritikern hatte, die er einmal die „kuriosen Saugfische“ genannt hat, die mit „diebischer Freude von der Arbeit anderer leben und mit faden Worten das maßregeln, was sie ernährt“. Von keinem anderen Werk des Dichters haben wir ein solches Werk-Tagebuch wie das in deutscher Übersetzung erst 1970 erschienene Tagebuch eines Romans (Journal of a Novel). Es ist ein Tagebuch in Briefen, die an Pascal Covici gerichtet sind. Covici kann als eine Art Mentor Steinbecks gelten, dessen der Dichter bedurfte, denn sowenig er der Kritiker zu bedürfen glaubte, sosehr war ihm beim Schreiben eines Buches freundschaftlicher Rat und Gedankenaustausch erwünscht und nötig. Das Buch, mit dessen Niederschrift Steinbeck im Januar 1951 begann, hat er als sein Testament betrachtet, das seinen Söhnen zugedacht war, wenn auch die Widmungsseite den Namen Pascal Covicis trägt. Jenseits von Eden ist das Buch, von dem Steinbeck sagte, daß alle früheren Arbeiten von ihm nur „Vorübungen“ dafür gewesen seien, und das recht eigentlich sein erstes sei, das er dennoch schreiben wolle, „als wäre es sein letztes“. Er hat mit ihm seinen Söhnen (und der Nachwelt) „die Geschichte von Gut und Böse, von Kraft und Schwäche, Liebe und Haß, Schönheit und Häß79

lichkeit“ unter Menschen erzählen wollen, immer wieder betonend, daß diese Gegensatzpaare unzertrennlich sind und daß aus ihrer polaren Spannung das Schöpferische im Menschen hervorgeht. Er hat mit diesem Buch weiterhin die „Autobiographie“ seines heimatlichen Salinas-Tales schreiben und dieses zum „Abbild der Nation“ erheben wollen. Und nicht zuletzt sollte Jenseits von Eden ein Stück Chronik seiner mütterlichen Familie, der Familie Hamilton, sein. Man sieht, ein wie komplexes Anliegen dem Werk zugrunde liegt. Steinbeck war sich darüber im klaren, daß es das schwierigste Buch war, das er je geschrieben hatte, und dennoch gestand er, daß er noch bei keiner anderen Arbeit größeres Vergnügen empfunden habe. „Es ist eher als eine Lebensgeschichte zu bezeichnen, nicht als Roman. Zwar hat es eine feste Form, aber ich möchte, daß es aussieht, als hätte es die Formlosigkeit gelebten Lebens.“ An Äußerungen wie dieser läßt sich erkennen, in wie großen formalen Schwierigkeiten sich der Dichter gegenüber seiner Aufgabe befand und daß er zweifelte, ob er ihrer technisch ganz Herr werden würde. Doch liegt gerade in der gewissen lebensähnlichen Nicht-Vollkommenheit einer der besonderen Reize dieses Buches, das die Gewalt eines „Naturereignisses“ hat, wie ein Kritiker einmal sehr zutreffend gesagt hat. Es ist die Geschichte zweier Familien in drei Generationen, der Hamiltons und der Trasks, von denen Steinbeck die eine als typische Familie, die andere als typische Nachbarn darstellen wollte. Während die Geschicke der Familie Hamilton weitgehend denen der Familie seiner 80

Mutter entsprechen, verlaufen die Schicksale der Trasks stärker in vom Dichter seinen Absichten untergeordneten Bahnen. (Den Namen „Trask“ entlieh er von einem Freunde seines Vaters, der Walfänger gewesen war.) In der Geschichte von den beiden Brüdern Trask, Adam und Charles, hat Steinbeck das Motiv von Kains Brudermord aus dem 4. Kapitel des 1. Buches Mose aufgenommen, neu verarbeitet und damit die Traskbrüder zu Symbolträgern erhoben. Sie wachsen als Söhne Cyrus Trasks, eines tyrannischen, militärbegeisterten Mannes, im Staate Connecticut der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf und werden von ihrem Vater von früher Kindheit an ungleich und ungerecht behandelt. Adam ist der geliebte, Charles der ungeliebte Sohn. Beider Lebenswege und Erlebnisse werden Ausdruck ihrer ungleichen Erziehung: Adam, vom Vater zweimal zu fünfjährigem Militärdienst vorbereitet, verliert nach seiner Entlassung aus der Armee jeden Halt und gleitet zeitweise bis ins Verbrechen ab, indessen Charles in täglicher Fronarbeit die väterliche Farm mitverwaltet und sie später leitet, als Cyrus Militärberater in Washington wird. Nach dem Tode des Vaters kehrt Adam eines Tages nach Hause zurück, doch können die so verschiedenen Brüder nicht lange harmonisch miteinander leben. Ihr Zusammenleben endet kurz nach Adams Hochzeit mit einem schlecht beleumdeten Mädchen, Cathy, die ihn bereits in der Hochzeitsnacht mit seinem Bruder betrügt. Adam läßt jedoch nicht von ihr ab und zieht mit ihr nach Kalifornien, wo er der Nachbar Samuel Hamiltons wird. In seiner durch nichts zu beirrenden Liebe zu Cathy will er 81

für sie hier eine blühende Farm aufbauen. Die wenig mütterliche Cathy gebiert Adam zwei Söhne, doch kurz nach der Geburt der Kinder verläßt sie ihren Mann, um in die Welt zurückzukehren, aus der sie gekommen ist: sie verdingt sich in der Stadt Salinas in einem Bordell, dessen Besitzerin sie später vergiftet. Adam, der über seinem Schicksal wunderlich geworden ist und seine Kinder so vernachlässigt, daß sie fast ausschließlich in der Obhut des alten chinesischen Dieners Lee aufwachsen, bekommt endlich Hilfe – von seinem Nachbarn Samuel Hamilton, der mit ihm die Bibel liest, wobei Adam auf die Geschichte von Kain und Abel stößt. Er gibt nun endlich auch den Söhnen Namen: Caleb und Aron. Auch Lee, der alte Diener, hat die Geschichte mitgelesen; sie läßt ihn fortan nicht ruhen, und um sie im Urtext lesen zu können, lernt er Hebräisch, wodurch es ihm schließlich möglich wird, das Wort „timschal“ neu zu deuten, welches besagt, daß der Mensch über die Sünde wohl herrschen könne, nicht aber müsse oder solle. Durch diese Offenbarung wird sich auch Adam seines Auftrags in der Welt bewußt und sieht wieder einen Sinn in seinem Leben. Selbst als er eines Tages hört, daß Cathy im Bordell lebt, sie einmal dort aufsucht und von ihr erfährt, daß Caleb und Aron in Wahrheit die Söhne von Charles sind, kann dies ihn nun nicht mehr beirren. Um den Kindern den Besuch einer höheren Schule zu ermöglichen, zieht er mit ihnen und Lee in die Stadt, doch auch an Caleb und Aron will sich das Schicksal Kains und Abels wiederholen: Caleb ist unzufrieden mit sich selbst und ständig mürrisch, während Aron ein lebensfrohes, 82

offenherziges Wesen hat. Caleb wird später Kaufmann und erwirbt während des ersten Weltkrieges mit einem Bohnengeschäft ein so großes Vermögen, daß er dem Vater anläßlich einer Erntedankfeier ein Geldgeschenk anbietet, das diesem aus wirtschaftlichen Schwierigkeiten heraushelfen soll. Doch Adam weist das Angebot nur schroff zurück, wodurch sich Caleb mißverstanden und abgelehnt fühlt. (Die Szene wird zum Wendepunkt für Calebs urschuldhafte Sünde – und nicht zuletzt für die das Werk beschließende Verklärung.) Um sich an seinem Vater zu rächen, führt er seinen Bruder Aron zu ihrer beider Mutter ins Bordell, wissend, wie schwer erschüttert Arons Lebensfreude dadurch werden wird. Die Reaktion, die er erhofft, bleibt jedoch aus, statt dessen meldet Aron sich als Freiwilliger zum Kriegsdienst. Sein Tod an der Front bewirkt des Vaters zweiten Schlaganfall, und Caleb fühlt sich nun als Bruder- und als Vatermörder. Versöhnung schaffen zwischen Vater und Sohn vermag nur der weise Diener Lee: er gibt dem Vater zu verstehen, daß Caleb im Zorn gehandelt habe, „weil er vermeinte, daß du ihn zurückgewiesen habest. Die Folge seines Zornes war, daß sein Bruder und dein Sohn den Tod fand … Dein Sohn ist gebrandmarkt von Schuld – von Schuldgefühl – fast mehr, denn er ertragen kann. Zerschmettre ihn nicht durch Verwerfung, Adam, … laß ihn nicht allein mit seiner Schuld. Gib ihm deinen Segen!“ Des alten Dieners Mahnung bleibt zuletzt nicht ohne Wirkung auf den Vater, und kurz vor seinem Tod noch kommt es zur Versöhnung. Ein geflüstertes „timschal“ ist Adams letztes Wort. 83

Soweit die Haupthandlung, aufgezeigt in ihren wesentlichen Phasen. Daneben laufen viele Einzelepisoden, Einschiebsel betrachtender Art und Zwischenkapitel, ähnlich denen in Früchte des Zorns. Doch während Früchte des Zorns ein historisches Dokument und darüber hinaus in gewissem Sinne ein Buch des „J’accuse“ ist, ging es Steinbeck in Jenseits von Eden darum, eine Geschichte des menschlichen Lebens nach Urmotiven des Alten Testaments zu schreiben, verständlich zu machen, daß unser aller Leben unter dem Gesetz eines kontinuierlichen Mythos verläuft, dem wir mit unserem Handeln immer neue Nahrung geben. Diesem gedanklichen Ziel ordnete der Dichter das Romangeschehen so stark unter, daß Formfragen in diesem Zusammenhang von ihm als sekundär empfunden wurden. Der Rückgriff auf die Bibel als die mythenbildende Urgeschichte menschlichen Lebens und Handelns eröffnete die neue Dimension, in die der Dichter mit diesem Werk eintritt, und damit die letzte Erfüllung seines immanenten künstlerischen Wollens. Denn nicht nur die beiden Brüderpaare stehen symbolisch im Mittelpunkt des Geschehens, auch die einzige weibliche Figur von Bedeutung, Cathy, auch die Väter Cyrus Trask und Samuel Hamilton müssen in diesem Sinne verstanden werden, und selbst die Gestalt des Dieners Lee, Verkörperung einer anderen Tradition, sollte archetypisch geraten. Es ist überwiegend eine männliche Welt, an der John Steinbeck uns hier Sinnbilder und Wahrzeichen vorführt. Wiewohl er sich in seinem persönlichen Leben leidenschaftlich zur Welt der Frau hingezogen fühlte, ist 84

er in seiner gesamten Dichtung dennoch ein Vertreter einer vom Manne geformten und gelenkten Welt und damit ein tief in abendländischer Tradition verwurzelter, konservativer Dichter. Der Wert der mann-männlichen Freundschaft, frei von homosexuellen Untertönen, wird von ihm außerordentlich hoch veranschlagt, wie es viele seiner Werke beweisen. Die Frau wird bei Steinbeck zumeist als Versucherin, ja als Verführerin gesehen – in höchstem Maße ist dies bei Cathy der Fall, die nicht als „Eva“ im urmütterlichen Sinne, sondern als Prinzip der bis zur Sündhaftigkeit verlockenden Lust erscheint. Von hier aus ist vielleicht auch zu erklären, daß in Steinbecks Werken das Bordell häufig eine wichtige Rolle spielt, und zwar nicht nur als Stätte käuflichen Geschlechtsverkehrs, sondern als legitimer, in sich selbst geordneter Mikrokosmos, innerhalb dessen die Funktionen des einzelnen gerecht verteilt werden, wo auch nicht ohne menschliche Rücksichtnahme gelebt wird. Von den ersten Siedlern in Kalifornien sagte er einmal, sie hätten aus dem Osten „das Bordell und die Kirche“ mitgebracht. Die so enge Koordinierung dieser beiden Institutionen mag den Leser zunächst schockieren – dem Verfasser scheint sie nicht im Widerspruch zu Steinbecks weltanschaulicher, keineswegs unethischer Grundhaltung zu stehen, die eine gleichbleibende „down-to-earth“-gebundene, naturalistische ist, in der die Befriedigung des Geschlechtstriebes des Menschen als ebenso wichtig angesehen wird wie die seiner dem Jenseitigen zustrebenden Bedürfnisse. In Jenseits von Eden hat Steinbeck alles zusammenge85

faßt, was sich ihm „aus der ganzen Literatur ergeben hat, und was ich selber dazugetan habe“. Es ist nicht zu verkennen, daß Steinbeck im allgemeinen mehr Freude an der Literatur vergangener Zeiten hatte als an der seiner eigenen Epoche, deren Kennzeichen für ihn „geschlagene, zugrunde gerichtete Menschen“ waren. Er selbst wollte mit seinem Werk „den Menschen Mut machen, ihren Gesichtskreis erweitern und sie über sich selbst erheben“. So ist ihm selbst sein „Eden“ zwar ganz gewiß nicht als paradiesischer Garten erschienen, aber doch als eine mögliche Stufe auf dem Wege der Menschheit dorthin. In Jenseits von Eden, das außer „einer weitausgreifenden Erzählung mit eingestreuten kleinen Szenen als Verbindungsstücken“ ein Kompendium populären Philosophierens geworden ist, soll der Leser sein eigenes Schicksal, zumindest in Teilaspekten, nacherleben, soll er sich selber begegnen. „Ich möchte den Leser an der Geschichte beteiligen. Er soll so sehr daran beteiligt sein, daß es seine Geschichte wird.“ Erst wer dies weiß, wird das Werk gerecht erfassen können, in seiner Größe wie in seinen Schwächen, die ihm – erstaunlich – kaum etwas von seiner Größe nehmen. Mark Schorer hat 1948 in einer scharfen Analyse gesagt, daß es amerikanischen Autoren wie Dos Passos und Steinbeck durch ihren begrenzenden Naturalismus niemals gelungen sei, von der allegorischen zur symbolischen Darstellung fortzuschreiten. Träfe dies auch für Jenseits von Eden zu, hätte der Dichter nicht erreicht, was er mit diesem Werk beabsichtigte: „Eden“ zu dem zu machen, was es in Wahr86

heit ist, das heißt nicht zum spannungslosen Paradies keimfreier Vollkommenheit – eine Vorstellung, die die meisten Menschen mit diesem Begriff verflachend verbinden –, aber ebensowenig zum „grimmigen und gräßlichen“, doppeldeutigen Gelände der Versuchung zur Sünde. Steinbeck sieht in „Eden“ vielmehr ein Dazwischenliegendes, aus beiden Quellen Gespeistes, „ausgewogen und behaglich“, den Schauplatz der Geschichte von „Gut und Böse“, die das Wahrzeichen des Lebens ist, das jeder selber kennenlernt zwischen Geburt und Tod. Ist hierin der Symbolcharakter des Werkes zu verstehen, dann hat der Dichter das von ihm Erstrebte erreicht, indem es ihm gelang, über ein bloßes Abbild des Lebens hinaus dessen Sinnbild vor uns aufzurichten, wie es, zusammengefügt aus beiden Elementen, in den vorbestimmten Schicksalen seiner Figuren erkennbar wird. „Ich weiß nicht, was ich anfangen werde, wenn es [das Buch] einmal fertig ist, es wird eine Schlechtwetterzeit sein“, schrieb Steinbeck an seinen Verleger am 9. Juli 1951. Anderthalb Jahre nach dem Erscheinen von Jenseits von Eden veröffentlichte er dann ein Manuskript, das von Anfang an sowohl als kleiner Roman wie auch als Text einer musikalischen Komödie gedacht war. Als Roman erschien es 1954 unter dem Titel Wonniger Donnerstag (Sweet Thursday), als Musical erlebte es unter dem Titel Pipe Dream am 19. Dezember 1955 im Sam S. Shubert Theatre in New York seine äußerst erfolgreiche Uraufführung. („Pipe Dream“ wird jede Art unrealisierbarer Wunschbilder genannt, wie der Genuß von Opium sie dessen Rauchern vorgaukelt.) 87

Nach der problemschweren modernisierten Fassung der Geschichte von Kain und Abel mag Steinbecks Auftreten als Texter eines Musicals zunächst in Erstaunen setzen, wüßte man nicht, wie sehr seine Liebe zum Theater und seine Ambitionen, auch als Stückeschreiber erfolgreich zu sein, ihn schon in früheren Jahren zur Bühne hingezogen hatten. Wonniger Donnerstag greift auf den Schauplatz und die Gestalten des Romans Die Straße der Ölsardinen zurück, jedoch mit dem Unterschied, daß auch in dieser Straße der inzwischen beendete zweite Weltkrieg seine Spuren hinterlassen hat. Einige ihrer Bewohner sind inzwischen verschwunden, so der alte Chinese Lee Chong, dessen Geschäft der ganz und gar unredliche, jedoch sehr charmante Mexikaner Joseph Maria Rivas übernommen hat. Geblieben aber sind Mack und die Kumpane, geblieben ist Doc, der auch hier wieder eine große, zentrale Figur ist, psychologisch vertiefter behandelt als die dem Leser bereits bekannten närrischen Tagediebe und Strolche. Neu hinzugekommen ist das Mädchen Suzy, eine in dem früher von Dora, jetzt von deren Schwester Fauna geleiteten Freudenhaus gestrandete, einundzwanzigjährige Blondine, die am Ende des Romans mit Doc glücklich vereinigt wird. Die Stadt Monterey ist nicht mehr von pulsendem Leben erfüllt, seitdem die Sardinenfabriken stillgelegt wurden. Nicht alle der einstigen Schelme sind aus dem Kriege heimgekehrt, nur Mack, Hazel und Whitey sind wieder da, vermehrt um Old Jingleballicks, Whitey Nr. 2 und Joe Elegant. Sie leben weiter wohlig „im Schatten der Gesetzesparagraphen gegen die Landstrei88

cherei, die sie als Schutz und Schirm betrachten“; ihr Wesen, ihr Tun und Treiben hat auch der Krieg nicht in bürgerliche Bahnen lenken können. Um so stärker streben sie, wieder zentripetal, dem gelehrten Meeresbiologen Doc zu, der – jetzt in mittleren Jahren – im Kriege ebenfalls Soldat war und nun sein verwahrlostes Laboratorium neu aufzubauen beginnt. Er ist der einzige, den die Not der Jahre beirrt und verbittert hat, ihn deprimiert die verödete Cannery Row mit ihren stillgelegten, mehr und mehr rostenden Maschinen, und so stürzt er sich mit doppelter Intensität in die Arbeit, die Abfassung einer bedeutenden Abhandlung auf dem Gebiet der Ozeanographie. Und wieder sind es seine Freunde aus der Welt der Gesetzlosigkeit, die ihm, dem Rechtschaffenen und Gesetzestreuen, dabei die entscheidende Hilfe gewähren, ja, die es möglich machen, daß er sich zuletzt mit dem Mädchen Suzy glücklich vereinigt. Docs Welt und die Welt Macks und seiner Kumpane bedingen einander: während Doc für die Schelme die Orientierung bleibt, die sie hindert, dem Verbrechen anheimzufallen, sind sie für Doc das Gegenbild, die Freien, deren er bedarf, um von seiner Arbeit nicht völlig eingeschnürt und dem Leben entfremdet zu werden. Nicht, daß er sich mit ihnen identifizierte, auch nicht, daß er sie moralisierend belehrte. Seine Haltung ihnen gegenüber ist die einer distanzierten Bejahung ihres Wesens, aus der heraus er sie in jeder Lage richtig versteht. Und wenn sie ihn am Ende mit einem Teleskop beschenken und erfreuen, wenn sie bei ihm, der in Bachs Kunst der Fuge und Goethes Faust Gipfelleistun89

gen der Menschheit feiert, die brennende Sehnsucht eines vergeistigten Mannes entdecken, der gleichwohl „ein Weib braucht“, und sie ihm dieses zuführen, so daß er eine nie gekannte körperlich-seelische Ausgeglichenheit gewinnt, die es ihm auch leichter macht, vor einer Gesellschaft von Fachgelehrten seine wissenschaftliche Arbeit vorzutragen, so haben sie mehr für ihn getan, als jeder Psychiater es gekonnt hätte. Dies alles mag ein wenig märchenhaft klingen, übersteigert in der Schroffheit der Gegensätze, und doch hat Steinbeck die Handlung und die Personen des Romans zweifellos nicht aus einem Unvermögen heraus oder gar um eines billigen Effekts willen so und nicht anders gestaltet, sondern weil er davon überzeugt war, daß in einem Punkte alle Menschen miteinander verbunden sind und daß gerade in der Berührung mit dem radikal Gegensätzlichen der Mensch zu einem tieferen Verständnis seiner Mitmenschen kommt, damit aber auch am besten zu sich selber findet. Nur so ist dieses fast leitmotivisch zu nennende thematische Prinzip in Steinbecks Werk zu verstehen. Daß der überwiegende Teil der Kritiker den Wonnigen Donnerstag negativ beurteilte, ihn u. a. als „aus dem Papierkorb gefischtes Zeug“ und den Autor als nicht mehr „ernst zu nehmenden Schriftsteller“ bezeichnete, darf bei der voreingenommenen Haltung einer leicht versnobten Literaturkritik Steinbeck gegenüber nicht wunder nehmen, doch fehlte es auch nicht an freundlichen Stimmen, die in dem Ganzen wenigstens einen „wohlgelungenen Spaß“ sahen. 90

In den folgenden Jahren reiste Steinbeck viel. Europa, besonders Frankreich, bot ihm eine Atmosphäre, die ihn – ebenso wie viele andere amerikanische Autoren des 20. Jahrhunderts – stark anzog, vielleicht deshalb, weil in keinem anderen westeuropäischen Land das Leben dem amerikanischen so diametral entgegengesetzt ist wie gerade dort, wo nationaler Eigensinn und der Respekt vor dem Uralten, vor der seit den Tagen Karls des Großen in römisch-fränkischer Symbiose eigenständig weitergewachsenen, mehr und mehr verfeinerten Kultur am ausgeprägtesten sind, wo auch die nach dem zweiten Weltkrieg in Europa einsetzende Amerikanisierung des öffentlichen Lebens sich am wenigsten durchsetzen konnte. Steinbeck hat seiner Zuneigung zu Frankreich jedoch ein nur verhältnismäßig schwaches Werk gewidmet, in einer Zeit, in der er sich vorwiegend gut bezahltem Journalismus verschrieb. In den fünfziger Jahren, nach dem spektakulären Erfolg des Buches und des Filmes Jenseits von Eden, hatte es den Anschein, als sei Steinbeck immer weniger daran gelegen, seinen Ruf als maßgebender Autor Amerikas aufrechtzuerhalten. Seine für viele Zeitschriften (Holiday, Collier’s Saturday Review und Ford Times) geschriebenen Artikel gefährdeten sein künstlerisches Ansehen, was ihm Publikum und Presse auch zu verstehen gaben. Erst 1957 trat er wieder mit einer neuen Prosaarbeit hervor, die er ein „fabriziertes Märchen“ nannte; sie ist in der Form einer umfangreichen Erzählung geschrieben und hat Frankreich zum Schauplatz. Die nicht unbedingt glückliche deutsche Übersetzung des 91

Titels mit Laßt uns König spielen (The Short Reign of Pippin IV) sagt dem uneingeweihten Leser zunächst wenig, doch das Geschehen fesselt ihn sehr bald. Man könnte das Werk fast einen „Reißer“ nennen. Steinbeck hat sich hier wieder in einer neuen literarischen Form versucht, die Einflüsse seines langen Frankreichaufenthaltes sind unverkennbar, der Leser wähnt sich auf den Spuren eines Sascha Guitry, fühlt sich bei den federnden, pingpongartigen, langen und zugleich kurzweiligen Dialogen auch an die französische BoulevardKomödie erinnert. Was Laßt uns König spielen fesselnd und bewundernswert macht, ist zunächst die meisterliche Einfühlung Steinbecks in das typisch französische Bürgertum. Auch die Einstellung des Franzosen zu Politik und Wirtschaft wird absolut zutreffend dargestellt, nicht weniger der Ort der Handlung: Paris und die Umgebung der Hauptstadt. Hinter den beiden Vorzügen des Werkes: der besonders beschwingten Dialogführung und der wohlgelungenen Typisierung französischen Wesens, bleibt der kleine Roman als solcher weit zurück. Er ist eine Satire auf das Frankreich der fünfziger Jahre – vor der V. Republik de Gaulles – mit seinen vielen Regierungskrisen und inflationistischen Wirtschaftstendenzen. In Monsieur Pippin Arnulf Héristal, dem Astronomen aus Leidenschaft, und seiner aus Frau und Tochter bestehenden kleinen Familie, die als Mieter im Kutscherhaus eines alten Adelspalastes in der Nähe der Champs Elysées wohnen, hat Steinbeck vortrefflich die typisch französische Familienidylle skizziert, das heißt eine Familie, die immer dem Privatleben 92

den Vorrang beläßt, selbst dann, wenn öffentliche Funktionen des Vaters eine solche Haltung eigentlich verbieten. Héristal ist eine liebenswert skurrile, jedoch ernstzunehmende, mit Humor begabte Persönlichkeit. Er hat sich in die Rolle eines Nachfahren der merowingischen Hausmeier aus dem 8. Jahrhundert hineingeträumt und erwähnt diese Abkunft gern auch in der Öffentlichkeit. Als es dem französischen Premierminister wieder einmal nicht gelingt, ein Kabinett zu bilden, will man es, enttäuscht ob der Vielzahl versagender Republiken, wieder einmal mit der Monarchie versuchen. Monsieur Héristal wird als vermeintlicher Nachkomme aus dem Geschlecht Karls des Großen von dem zuständigen staatlichen Komitee allen verfügbaren Abkommen anderer Dynastien vorgezogen und übernimmt, zunächst ahnungslos, was hinter seinem Rücken geschehen ist, skeptisch, doch vorwiegend geschmeichelt die neue Würde. Die Szene, in der dem eigentlich nur um seine beiden Weinberge und seine astronomischen Erkenntnisse besorgten, friedlichen, großmütigen Kleinbürger in seiner Wohnung durch Regierungsvertreter die hohe Ehre angetragen wird, seine Krönung, die völlige Renovierung des Schlosses von Versailles, seiner künftigen Residenz, tragen den in eine heiter-besinnliche Stimmung versetzten Leser von Kapitel zu Kapitel mühelos weiter. Die Regierungserklärung des neuen Königs wird dann zum Höhe- und Wendepunkt des gesamten Geschehens: als Pippin den drei großen Idealen Frankreichs, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ein viertes hinzufügt, das der „Aufstiegsmöglichkeit“ durch 93

gleiche Besteuerung aller, durch genauere Preiskontrollen und durch Zerschlagung des Großgrundbesitzes, werden die Delegierten von Entsetzen ergriffen, und im Volke kommt es zum Aufstand. Pippins kurze Regierungszeit ist zu Ende, und schon senden China, Moskau und seine sämtlichen Satelliten Glückwunschadressen an die „neue Volksrepublik Frankreich“. „Noch während der Nacht konstituierten sich die Delegierten zur Verfassunggebenden Versammlung als Nationalversammlung. Die Republik wurde ausgerufen, die Trikolore auf den öffentlichen Gebäuden gehißt … Der König wurde für abgesetzt und vogelfrei erklärt.“ Pippin aber kehrt in den Frieden seiner Familie und seines Hauses in der Avenue de Marigny zurück. Wer mehr hinter diesem Werk sucht als die einer Laune und einer ehrlichen Liebe zu Frankreich entsprungene, leichtfüßige, jedoch ins Schwarze treffende Satire, ginge ganz gewiß fehl. Doch als neues und unvermutetes Zeugnis eines Schriftstellers, der seine Mittel spielend beherrscht, bleibt das kleine Opus bis heute lesens- und liebenswert, und es ist zu verstehen, daß es bald nach seinem Erscheinen 1957 in Amerika zum „Book of the Month“ erklärt wurde.

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Rückkehr zum Ursprung Keine Illusionen, ich weiß Bescheid: ein Sandkorn, das im Getriebe der Zeit ein wenig mitknirscht, und später eine Fußnote in der Literaturgeschichte.

Mit den schwermütigen Worten, die über diesem Kapitel stehen, hat Steinbeck einmal gesagt, mit welchem Los das Werk eines Schriftstellers im allgemeinen zu rechnen hat. Steinbeck war frei von Illusionen, auch was sein eigenes Werk anbelangt. Das letzte Lebensjahrzehnt des Dichters, dessen Bücher inzwischen in mehr als dreißig Sprachen übersetzt waren, sah ihn auf der Höhe weltweiter Anerkennung. Sein Werk aus dieser Zeit war überwiegend rückgewandt, war Bestandsaufnahme, Rechtfertigung vor sich selbst. Unter dem Titel Once there was a War gab er 1958 seine 1943 geschriebenen Kriegsberichte (Dispatches) aus England, Nordafrika und Italien heraus (eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor) sowie seine dreizehn Erzählungen, nun zusammengefaßt unter dem Titel Der rote Pony, und im Jahre 1961 noch einmal einen Roman, Geld bringt Geld (The Winter of Our Discontent). Es ist ein seltsam blasses Buch, in dessen Mittelpunkt ein Mann steht, der in einer immer geschäftlicher werdenden Welt zuletzt – wider seine eigentliche Natur und wider besseres Wissen – für sich keinen anderen Ausweg mehr sieht, als selber korrupt zu werden. Ursprünglich ein naiver Idealist, wird der Held, Ethan Allen Hawley, Sohn einer tra95

ditionsreichen Familie, zum Verräter an anderen, wodurch er Vermögen und Ruhm erwirbt, ohne jedoch glücklich zu werden, da er sich selbst untreu geworden ist und sich um des Geldes willen moralisch erniedrigt hat. Schauplatz des Romans ist die kleinstädtische Welt von Long Island. Hier, in Sag Harbor, hatte Steinbeck sich in den fünfziger Jahren ein Sommerhaus gekauft. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde der Dichter durch Veränderungen in seiner näheren Umgebung, die vor allem die zunehmende Materialisierung und Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Lebens betrafen, häufig bedenklich gestimmt. Daß in den großen Städten der Kampf des Menschen um die „nackte Existenz“ unerbittlicher und skrupelloser geführt wurde als etwa im Salinas-Tal (das für Steinbeck unbewußt immer Maßstab blieb), war eine Erkenntnis, die ihm das Leben im überdimensionalen New York vermittelt hatte. Aber obwohl er sich bis zuletzt ein Stück Naturburschentum bewahrte, lebte er doch gern in New York, wie er mehrfach betont hat. Das Jahr 1962 brachte für ihn nochmals zwei Höhepunkte: die Veröffentlichung seines Buches Meine Reise mit Charley (Travels with Charley) und im Herbst die Verleihung des Nobelpreises, die ihn selber mehr überraschte als seinen Verleger, der schon früher mit dieser Ehrung gerechnet hatte. Der Preis wurde ihm „für seine einmalige realistische und phantasievolle Erzählkunst, die sich durch mitfühlenden Humor und sozialen Scharfsinn auszeichnet“, zuerkannt, und diese Begründung ist vollauf gerechtfertigt. Seine vielen Kritiker 96

waren mit dieser Ehrung des Dichters in den Augen des Publikums Lügen gestraft. Auch tat das im Juli 1962 erschienene Buch Meine Reise mit Charley das Seine dazu, daß die Popularität Steinbecks nochmals zunahm. Meine Reise mit Charley ist ein ebenso kluges wie anmutiges Buch, ein Buch der Erinnerungen und Entdeckungen zugleich. Als Achtundfünfzigjähriger verspürte Steinbeck den Wunsch, nachdem er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr im Herzen der Landschaft seines Kontinents umhergestreift war, diesen noch einmal in allen Himmelsrichtungen zu bereisen. Er kaufte sich für diese Reise einen Wohnwagen und nahm nur einen einzigen Begleiter mit – seinen Pudel Charley, mit dem er kaum anders als mit einem menschlichen Kameraden verkehrte. (Allein schon das Zusammenleben des großen Hundefreundes Steinbeck mit seinem Pudel würde das Lesen des Buches zu einer großen Freude machen.) Die Reise führte Steinbeck durch etwa vierzig Staaten, von Long Island nach Maine, durch den Mittelwesten in die Nordstaaten Minnesota, North Dakota und Montana (hier von dem Dichter als sein Lieblingsstaat bezeichnet), und von dort über Seattle und San Franzisko ins heimatliche Salinas-Tal, wo er länger verweilte. Der Rückweg führte durch die Wüstenlandschaft Neu-Mexikos, Arizonas und Texas’ bis nach New Orleans; von dort kehrte er über Alabama, Virginia, Pennsylvania und New Jersey nach Long Island zurück. Es ist ganz gewiß eine „sentimentale Reise“, auch wenn der Dichter immer wieder versucht, objektiv und beschreibend zu bleiben, wann immer Gefühle glückhaften oder 97

wehmütigen Überschwangs ihn übermannen wollen. Er erlaubt es sich nicht, in Stimmungen zu versinken, wobei ihn Charley oft unterstützt, denn dieser muß immer wieder zum Gehorsam und zur Ordnung gerufen werden. Die Tausende von Meilen umfassende Reise wird zu des Dichters vielfacher Neuentdeckung seiner Heimat, geographisch, historisch und, wenn man in diesem Zusammenhang so sagen darf, seelisch (der Untertitel des Buches: „Auf der Suche nach Amerika“, scheint diesen Aspekt zu gestatten). Wichtigste Erkenntnis wird für Steinbeck, daß es den amerikanischen Menschen tatsächlich gibt, daß die Jahrhunderte gemeinsam durchlebter Geschichte eine Nation mit eigenem Charakter geschaffen haben. „Trotz all unserer enormen, geographisch bedingten Verschiedenheit, trotz aller Verschmelzung aus allen Teilen der Welt sind wir eine Nation, ein neues Geschlecht … Die Chinesen in Kalifornien, die Iren in Boston, die Deutschen in Wisconsin, ja, und selbst die Neger in Alabama weisen mehr Gemeinsames auf als Trennendes … Es ist erstaunlich, daß dies in weniger als 200 und das meiste davon in den letzten 50 Jahren geschehen konnte. Die amerikanische Identität ist eine genau beweisbare Tatsache.“ Je stärker Steinbeck die aus der Vielheit gewonnene, um so wertvollere Einheit bewußt wird, desto mehr wächst sein Haß gegen die Regierungen, und sein natürlicher Hang zur Anarchie, meint er, erwacht nie schneller, als wenn er sich einer Grenze nähert. Die Grenze erniedrige den Menschen, sie vermindere seine Selbstachtung. Für 98

Steinbeck gilt allein der Mensch selbst, unabhängig von rassischer oder nationaler Bedingtheit. Der einfache Mensch steht seinem Herzen am nächsten, von ihm glaubt er auch viel lernen zu können. So werden die Fernfahrer ihm zu besonderen Freunden, denen er sich gern bei einer Tasse Kaffee im Fernfahrerrestaurant zugesellt, um von ihnen den Wortschatz der Landstraße, manches über Maschinen und Fahrtechniken zu lernen. Der Höhepunkt dieser Reise wird freilich für Steinbeck das Wiedersehen mit dem Salinas-Tal, wo für ihn die Jahre „in ihre Löcher zurückgekrochen zu sein scheinen“. Doch ist die Stadt Salinas nicht mehr dieselbe wie einst, ihre Bevölkerung hat sich um das Doppelte vergrößert, die Trailerparks an ihrem Rande weiten sich immer mehr aus, ohne daß deren Bewohner, wie er erfährt, ihr Teil zum Wohle der Stadt beitragen. Da fragt sich der Reisende, ob nicht der vielgepriesene Fortschritt auch das Abwürgen gewachsenen Gemeindelebens sei, und er wird nachdenklich. Zum Glück sind noch alte Freunde da: in Johnny Garcias Bar kommt es zu Tränen der Rührung und Freude. Man drängt den Gast, für immer zurückzukehren, „wir lieben dich, wir brauchen dich, du gehörst hierher“. Und dann hält der Heimgekehrte ihnen eine kurze, ergreifende Ansprache und versucht ihnen zu erklären, warum er nicht mehr zurückkehren kann. Er findet sich nicht mehr ganz zurecht in der Welt seiner Kindheit. „Wir wollen uns nichts vormachen: was wir kannten, ist tot, und vielleicht ist auch das meiste von dem, was wir selber einst waren, in uns gestorben. Was jetzt da draußen ist, ist 99

neu und vielleicht auch gut, aber für uns ist es fremd.“ So nimmt der Dichter abermals Abschied von seiner Heimat, deren altes Bild sich zu bewahren ihm mehr gilt, als sich dem neuen einzuordnen. Er weiß, daß er jetzt einer anderen Welt zugehört, ohne deshalb die Welt seiner Jugend zu verleugnen. Auch als Film wurde Meine Reise mit Charley ein großer Erfolg, und noch heute gibt es Wiederaufführungen der Filmfassung sowohl im amerikanischen wie im deutschen Fernsehen. Auch Steinbecks letztes Buch, obwohl weder Roman noch Erzählung, erweist sich zur Umsetzung ins Optische als äußerst geeignet, und der Filmproduzent Lee Mendelson bereitete 1971 in Burlingame, Kalifornien, einen weiteren Film vor, dessen Manuskript, dem vier Jahrzehnte umfassenden Werk Steinbecks entnommen, die Veränderungen darstellt, die in Amerika in jener Zeitspanne stattgefunden haben. „Steinbeck schrieb über fast alle größeren Bewegungen oder Veränderungen in unserer Gesellschaft, und obwohl er ständig über die Krankheiten unserer Gesellschaft schrieb, glaubte er dennoch fest an das amerikanische System.“ Wie recht Mendelson mit dieser Behauptung hat, wird durch Steinbecks letztes Buch, Amerika und die Amerikaner (America and the Americans), besonders deutlich. Erschienen 1966, bietet es einen Querschnitt durch die Vereinigten Staaten, reich illustriert durch vierzig Photos verschiedener Photographen. Doch ist es mehr als ein bloßer Querschnitt: es ist Bestandsaufnahme und liebend-kritisches Bekenntnis zu dem Land seiner 100

Herkunft zugleich. Daß er mit seinen Landsleuten bisweilen hart ins Gericht geht, ist ein Beweis mehr für seine tiefe Verbundenheit mit ihnen und die Verpflichtung, die er ihnen gegenüber empfindet. Er zeigt die aus der Verwöhnung entstehenden Gefahren auf, in die eine übermäßige Technisierung des täglichen Lebens die Menschen gebracht hat, das Bedürfnis nach immerwährendem Unterhaltenwerden durch Rundfunk und Fernsehen, das ihnen die Fähigkeit zur kritischen Unterscheidung zwischen persönlicher, gediegener und serienmäßiger, massenweiser Produktion nehmen kann, ob es sich nun um materielle oder geistige Dinge handelt. Besorgt weist er auch auf die aus der Technisierung erwachsende, zunehmende Nervosität und Rastlosigkeit des Individuums und der Familie hin, die sich in Erscheinungen wie häufigem Wohnungswechsel ohne zwingende Notwendigkeit oder auch in dem Wunsch äußern, viele, selbst unbedeutende persönliche Probleme durch den Psychiater lösen zu lassen. Doch sieht er dennoch nicht ohne Vertrauen in die Zukunft des amerikanischen Menschen, denn noch hat dieser seinen bestimmten Traum, den einige schlicht „The American Way of Life“ nennen. Es liegt etwas hinter diesem Traum, das sich der Fixierung und Systematisierung entzieht, wenn man nicht den gleichen Fehler machen will wie die Russen, die im Kommunismus ihren Traum glauben realisieren zu können. Mit den Worten „klug, gerecht, mitempfindend und edel“ zu sein, umschreibt Steinbeck das Fernziel, auf das der „amerikanische Traum“ den Menschen hinzuleiten versucht, und eben 101

darin sieht Steinbeck große Möglichkeiten für die weitere Entwicklung sowohl der Nation wie des einzelnen Staatsbürgers. Ein den Amerikanern eigenes Mißtrauen gegenüber jeder Machtkonzentration trägt dazu bei, daß sie ihre Regierung kritisch überwachen, denn die meisten ihrer Väter sind einst aus Ländern gekommen, die sie aus Unzufriedenheit mit einer tyrannischen Regierung verließen, und sie achten darauf, daß in ihrem Lande derartige Verhältnisse nicht entstehen. Ein Atavismus, mag sein, aber ein fortwirkender, der das Bestehende immer neu überprüft und, wo nötig, berichtigt. Im Unterschied zu seiner Beurteilung des Europäers sieht Steinbeck den Amerikaner als noch im Stadium des Jünglingsalters stehend – die natürliche Folge davon, wenn man Kinder zu früh zu Erwachsenen macht, was viele amerikanische Eltern tun, um so schnell wie möglich den sozialen Fortschritt der Nation zu fördern: je mehr Erwachsene, desto mehr Produktion. Doch die übersprungene Entwicklungsstufe wirkt sich regressiv aus und rächt sich mit einem Verharren des Menschen in nicht völlig erreichter Reife. So scheint sich Steinbeck auch die traditionelle Reaktion des Europäers auf den Amerikaner zu erklären, wenn dieser auf Reisen geht: wegen seiner größeren Naivität belächelt und beliebt um des reichlichen Trinkgeldes willen, das er gibt. Doch ist in dieser Beziehung ein Wandel spürbar: der Amerikaner fragt heute nicht mehr viel danach, wieweit der Engländer, wieweit der Franzose ihn liebt. Der amerikanische Mensch hat gelernt, daß er nicht nur Wegbereiter, sondern auch Erbe ist und als solcher abermals 102

Rechte hat. Aus dieser Erkenntnis heraus ist das letzte Kapitel von Amerika und die Amerikaner geschrieben, das ein Zukunftsbild Amerikas entwirft. Anfänglich gestattet es sich der Dichter hier noch einmal, seinen starken Emotionen ein wenig die Zügel zu lockern, wenn er diesem Zukunftsbild die Worte „Unser Land, weit, offen, fruchtbar, geliebt und schön“ voranstellt. Aber dann hat er die Zügel wieder fest in der Hand und beschließt das Werk mit dem Hinweis auf Selbstkritik, die für ihn beste amerikanische Tradition ist und bleiben muß. Noch einmal warnt er vor der Überschätzung des Erfolges und Erfolgsdenkens, vor den großen Städten und den dort lauernden Verbrechen, vor der Nervosität und Lebensangst, die den Alltag so vieler ihrer Bürger beherrschen, vor Rassenhaß und dem allzu reichlichen Konsum von Drogen aller Art, auch vor dem gedankenlos geringschätzigen Vernichten von Gegenständen – „zu Lebzeiten meiner Großmutter hatte jeder Gegenstand seinen Eigenwert“ – und zuletzt vor „Bequemlichkeit, Überfluß und Sicherheit, aus der Langeweile und träger Zynismus hervorgehen“ – in ihnen sieht er die „Zerstörer der Völker“. Trotz allem aber bleibt Steinbecks Glaube an den amerikanischen wie an den Menschen überhaupt unerschüttert: „Der Mensch ist in der Tat wundervoll, und vielleicht ist das Prächtigste an ihm, daß er selbst das Widersinnige überleben kann.“ Wußte Steinbeck, daß dieses Buch sein letztes sein würde? Gegen Ende des Jahres 1966 begann sein Gesundheitszustand sich plötzlich zu verschlechtern. Hatten die Strapazen einer Reise nach Vietnam, die er 1965 für 103

die Long-Island-Zeitung Newsday unternommen hatte, um Augenzeugenberichte vom dortigen Kriegsgeschehen zu schreiben, seine Kräfte überfordert? In dem ersten, dem Vater gewidmeten Buch seines Sohnes John Steinbeck IV., Jung sein heißt Erfahrungen suchen (In Touch), dem 1969 erschienenen Tagebuch eines Soldaten im Vietnamkrieg, auf das hier ausdrücklich hingewiesen sei, berichtet der Autor, sein Vater habe sich 1967 einer Rückenmarksoperation unterziehen müssen, und schon am nächsten Morgen habe die Schlagzeile der Washington Post berichtet, daß John Steinbeck todkrank im Krankenhaus liege. Die Presse nahm lebhaften Anteil an dem Ergehen des Dichters selbst wie auch an dem Sohn des „amerikanischen Gewissens“, wie John Steinbeck IV. seinen Vater einmal im Vorwort seines Buches nennt. Der Fünfundsechzigjährige überstand die Operation und konnte nach Hause zurückkehren. Im Juli 1968 erlitt Steinbeck dann einen Herzanfall, von dem er sich nicht mehr völlig erholte. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Nach dem 3. November war es ihm nicht mehr möglich, seine Wohnung zu verlassen. Er starb am 20. Dezember desselben Jahres in seinem New Yorker Heim nach einem zweiten Herzanfall, betreut von seinem Hausarzt und seiner Frau. In der St. James Episcopal Church an der Madison Avenue wurde er ausgesegnet. Danach wurde der Sarg nach Salinas überführt. Mit dieser Rückkehr in seine engere Heimat schloß sich der Kreis des reich gelebten Lebens eines weltbürgerlich eingestellten Patrioten, Dichters und Wahrheitssuchers, der, wie sein Sohn 104

sagt, zeitlebens das Bedürfnis empfunden hat, sich seinen Mitmenschen „mitzuteilen“. Daß das Werk Steinbecks weiterlebt, ist unbestreitbar. Es scheint mir auch dadurch bewiesen, daß im Jahre 1972 eine „John-Steinbeck-Gesellschaft“ gegründet wurde, die ihren Sitz im „English Department“ der Ball State University, Muncie (Indiana) hat. Die Gesellschaft verfolgt das Ziel, „Aspects of John Steinbeck’s Thought and Writing“ einem immer noch größeren Leserkreis zu erschließen. Auch wird in einem von der „Viking Press“ herausgegebenen Briefband mit einer Auswahl Tausender von Briefen das Leben des Dichters gleichsam nochmals nacherzählt und im Bewußtsein der Nachwelt wachgehalten. Es ist aus all diesem erneut klar zu erkennen, daß Steinbecks Bedeutung sich nicht im Literarischen allein erschöpft. Hätte er nur seine sinnlichanschauliche, kräftige Prosa hinterlassen, würde die Erinnerung an ihn vielleicht schon verblassen. Aber es ist ihm, wie er es wollte, über das Literarische hinaus gelungen, in seinen Erzählungen und Romanen die Vision einer zukünftigen Wirklichkeit zu erstellen, indem er Bilder einer sozial besseren Welt projizierte, als die amerikanische Gesellschaftsstruktur sie bisher hervorgebracht hat. Diese sozial-humanitäre Sendung, die er als seinen ihm eigensten Ruf verstand, ist wohl der Hauptgrund für das Überleben seines Werkes und dafür, daß er mehr ist und bleiben wird als nur die von ihm pessimistisch gesehene „Fußnote in der Literaturgeschichte“.

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Literaturhinweise

The Portable Steinbeck, The Viking Press, New York, 19. Aufl. 1970. Peter Lisca: The wide world of John Steinbeck, Rutgers University Press, New Jersey 1958. Howard Levant: Tortilla flat, the shape of John Steinbeck’s Career, „Publications of the Modern Language Association of America“, 1970. Joseph Fontenrose: John Steinbeck, an Introduction and Interpretation, Barnes & Noble, New York 1963. Claude-Edmonde Magny: „Steinbeck or the Limits of the Impersonal Novel“, in Steinbeck and his Critics von E. W. Tedlock jr. und C. V. Wicker (Albuquerque, University of New Mexico Press) 1957. Alfred Kazin: Amerika, Selbsterkenntnis und Befreiung (Werden und Wachsen einer Nation im Spiegel ihrer Prosaliteratur), Verlag Karl Alber, Freiburg und München 1951. Helmut Uhlig: „Amerikanische Literatur“, in Amerikakunde (Handbücher der Auslandskunde), Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt a. M. 1952. Franz Lennartz: Ausländische Dichter und Schriftsteller unserer Zeit, 4. erweiterte Auflage, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1971. 107

André Gide: Journal 1939-42, Gallimard, Paris. James Gray: John Steinbeck, University of Minnesota Press, Minneapolis 1971. Robert Murray Davis (Hrsg.): Steinbeck, eine Sammlung kritischer Essays, Prentice Hall, Englewood Cliffs, New Jersey 1972.

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Zeittafel

1902 John Steinbeck am 27. Februar in Salinas (Kalifornien) geboren. 1919 Abschluß der Schulzeit in der „Salinas High School“. 1920–1925 Besuch der Stanford University. – Erste Veröffentlichungen. 1925 Gelegentliche Reportagen für die Zeitschrift American. 1929 Eine Handvoll Gold, erster Roman. 1930 Heirat mit Carol Henning. – Übersiedlung nach Pacific Grove. – Begegnung mit Edward Ricketts. 1932 Das Tal des Himmels, Roman. – Übersiedlung nach Los Angeles. 1933 Der fremde Gott, Roman. – Rückkehr in die Nähe von Monterey. 1934 Tod der Mutter. 1935 Die wunderlichen Schelme von Tortilla Flat, erster Erfolgsroman. – Verleihung der Goldmedaille des Commonwealth Club of California. 1936 Tod des Vaters. – Für den Roman Stürmische Ernte Verleihung einer weiteren Medaille des Commonwealth Club. – Erste Reise nach Mexiko. 1937 Von Mäusen und Menschen, Roman und Drama. – Der rote Pony, drei Erzählungen. – Erste Reise nach Europa. 109

1938 The Long Valley, Erzählungen. 1939 Früchte des Zorns, Roman. – Mitglied des National Institute of Arts and Letters. 1940 Verleihung des Pulitzer-Preises für Früchte des Zorns. – Reise mit Ed Ricketts zum Golf von Kalifornien. – Filmfassungen von Früchte des Zorns und Von Mäusen und Menschen. 1941 Logbuch des Lebens (gemeinsam mit Ricketts veröffentlicht). 1942 Der Mond ging unter, Roman und Drama. – Scheidung von Carol Henning. – Filmfassung von Tortilla Flat. 1943 Heirat mit Gwyndolen Conger. – Übersiedlung nach New York. – Kriegskorrespondent für die New York Herald Tribune in Europa. – Filmfassung von Der Mond ging unter. 1944 Geburt des Sohnes Thom Steinbeck. 1945 Die Straße der Ölsardinen, Roman. – Die Perle der Welt, Novelle. – Der rote Pony, Teil IV. 1946 Geburt des Sohnes John Steinbeck IV. 1947 Autobus auf Seitenwegen, Roman. – Die Perle, Novelle. – Rußlandreise. 1948 A Russian Journal. – Scheidung von Gwyndolen Conger. – Ed Ricketts stirbt. – Mitglied der American Academy of Letters. – Filmfassung von Die Perle. 1949 Filmfassung von Der rote Pony. 1950 Die Flamme, Roman und Drama. – Filmmanuskript zu Viva Zapata. – Heirat mit Elaine Scott. 1952 Jenseits von Eden, Roman. – Reiseberichte aus Europa für Colliers. 110

1954 Wonniger Donnerstag, Roman. 1955 Pipe Dream, Musical von Rodgers und Hammerstein nach Wonniger Donnerstag. – Filmfassung von Jenseits von Eden. 1957 Laßt uns König spielen, ein fabriziertes Märchen. – Filmfassung von Autobus auf Seitenwegen. 1958 Once there was a War, Kriegsberichte. 1961 Geld bringt Geld, Roman. 1962 Meine Reise mit Charley, Chronik einer Rundreise durch die USA. – Verleihung des Nobelpreises. 1964 Verleihung der Press Medal of Freedom und der United States Medal of Freedom. 1965 Berichte aus Vietnam für die Zeitung Newsday. 1966 Amerika und die Amerikaner, Aufsätze. 1968 Fernsehfassungen von Meine Reise mit Charley, Von Mäusen und Menschen und von Szenen aus Früchte des Zorns. – Am 20. Dezember stirbt Steinbeck in seiner New Yorker Wohnung. Beisetzung in seiner Geburtsstadt Salinas. 1970 Tagebuch eines Romans (Werk-Tagebuch zu Jenseits von Eden).

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