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RUDYARD KIPLING
KIM Neu übersetzt und herausgegeben von GISBERT HAEFS
HAFFMANS VERLAG
»KIM« ERSCHIEN ZUERST 1901 BEI DOUBLEDAY, PAGE & CO. NEW YORK, UND MACMILLAN & CO. LONDON
ALLE RECHTE AN DIESER NEUEDITION UND NEUÜBERSETZUNG VORBEHALTEN COPYRIGHT © 1987, 2001 BY HAFFMANS VERLAG AG ZÜRICH ISBN 3 251 20319 3
»Und wer sind deine Leute, Freund der ganzen Welt?« »Dieses große und wundervolle Land«, sagte Kim und schwenkte die Hand rund um den kleinen Raum mit Lehmwänden, wo die Öllampe in ihrer Nische träge durch den Tabakrauch glomm. »Und außerdem möchte ich meinen Lama wiedersehen. Und außerdem brauche ich Geld.« »Das braucht jeder«, sagte Mahbub traurig. Die Abenteuer eines englischen Waisen in Indien – Kiplings reifstes Prosawerk, das zu einem Klassiker der englischen Indienliteratur geworden ist.
KIM
KAPITEL I
Oh ye who tread the Narrow Way By Tophet-flare to Judgment Day, Be gentle when “the heathen“ pray To Buddha at Kamakura! [Ihr, die ihr geht bei Höllenglast den Schmalen Pfad zum Jüngsten Tag, seid milde, wenn »Die Heiden« beten zu Buddha in Kamakura!]
Er saß, allen behördlichen Anordnungen trotzend, rittlings auf der Kanone Zam-Zammah auf ihrem Ziegelsockel gegenüber dem alten Ajaib-Gher – dem Wunder-Haus, wie die Eingeborenen das Museum von Lahore nennen. Wer ZamZammah besitzt, jenen »feuerspeienden Drachen«, der besitzt den Punjab, denn das große Geschütz aus grüner Bronze ist immer wichtigstes Beutestück des Eroberers. Es gab eine gewisse Rechtfertigung für Kim – mit den Füßen hatte er Lala Dinanaths Sohn von den Schildzapfen gestoßen –, da die Engländer den Punjab besaßen und Kim Engländer war. Zwar war er schwarzgebrannt wie nur irgendein Eingeborener; zwar benutzte er mit Vorliebe die Umgangssprache und seine eigene Muttersprache nur in einem verstümmelten, ungewissen Singsang; zwar verkehrte er mit den kleinen Jungen des Basars auf völlig gleichem Fuß; aber Kim war ein Weißer – ein armer Weißer, einer von den allerärmsten. Die halbblütige Frau, die sich um ihn kümmerte (sie rauchte Opium und gab vor, an dem Platz, wo die billigen Droschken stehen, einen Laden mit
gebrauchten Möbeln zu betreiben), erzählte den Missionaren, sie sei die Schwester von Kims Mutter; aber seine Mutter war Kindermädchen in der Familie eines Obersten gewesen und hatte Kimball O’Hara geheiratet, einen jungen Fahnensergeanten von den Mavericks, einem irischen Regiment. Später nahm er eine Stellung bei der Sind-PunjabDelhi-Eisenbahn an, und sein Regiment kehrte ohne ihn in die Heimat zurück. Seine Frau starb in Firozpur an Cholera, und O’Hara begann zu trinken und mit dem dreijährigen Kind, das lebhafte Augen hatte, die Bahnlinie entlang zu stromern. Gesellschaften und Geistliche, die sich um den Jungen sorgten, suchten ihn einzufangen, aber O’Hara trieb weiter, bis er der Frau begegnete, die Opium nahm, und von ihr lernte er den Geschmack daran und starb, wie arme Weiße in Indien sterben. Beim Tod bestand sein Besitz aus drei Papieren – das eine nannte er sein »ne varietur«, weil diese Wörter auf dem Papier unter seiner Unterschrift standen; das zweite sein »Klarierungs-Zeugnis«. Das dritte war Kims Geburtsschein. Diese Dinger, pflegte er in seinen glorreichen Opiumstunden zu sagen, würden aus dem kleinen Kimball noch einmal einen Mann machen. Kim solle sich auf keinen Fall von ihnen trennen, denn sie seien Teil einer großen Magie – solch einer Magie, wie Männer sie drüben hinter dem Museum betreiben, in dem großen blau-weißen Jadoo-Gher – dem Zauber-Haus, wie wir die Freimaurer-Loge nennen. Alles würde, sagte er, irgendwann in Ordnung kommen, und Kims Horn würde erhöht werden zwischen Säulen – ungeheuren Säulen – der Schönheit und Kraft. Der Oberst selbst, auf einem Pferd sitzend, an der Spitze des feinsten Regiments der Welt, würde sich um Kim kümmern – den kleinen Kim, der es besser haben sollte als sein Vater. Neunhundert erstklassige Teufel, deren Gott ein Roter Stier auf einem grünen Feld sei, würden sich um Kim kümmern, wenn sie O’Hara nicht vergessen hätten – den
armen O’Hara, der Rottenführer auf der Firozpur-Linie gewesen war. Dann pflegte er bitterlich zu weinen, in seinem zerbrochenen Binsenstuhl auf der Veranda. So kam es, daß die Frau nach seinem Tod Pergament, Papier und Geburtsschein in eine Amulettscheide aus Leder nähte, die sie Kim um den Hals hängte. »Und irgendwann«, sagte sie, wobei sie sich verworren an O’Haras Prophezeiungen erinnerte, »wird deinetwegen ein großer Roter Stier auf einem grünen Feld kommen, und der Oberst auf seinem großen Pferd, ja, und« – hier fiel sie ins Englische – »neunhundert Teufel.« »Ah«, sagte Kim, »ich werde daran denken. Ein Roter Stier und ein Oberst auf einem Pferd werden kommen, aber zuerst, hat mein Vater gesagt, kommen die beiden Männer, die den Boden für diese Dinge bereiten. Genauso, hat mein Vater gesagt, haben sie es immer gemacht; und überhaupt ist es immer so, wenn Männer Magie machen.« Wenn die Frau Kim mit diesen Papieren zum örtlichen JadooGher geschickt hätte, wäre er natürlich von der Provinz-Loge aufgenommen und ins Freimaurer-Waisenhaus in den Bergen geschickt worden; aber was sie von Magie gehört hatte, machte sie mißtrauisch. Kim hatte ebenfalls seine eigenen Ansichten. Als er in die Flegeljahre kam, lernte er, Missionare und ernst dreinblickende weiße Männer zu meiden, die wissen wollten, wer er war und was er machte. Denn Kim machte mit großem Erfolg gar nichts. Er kannte zwar die wunderbare, umwallte Stadt Lahore vom Delhi-Tor bis zum äußeren Festungsgraben, war bestens vertraut mit Männern, deren Dasein merkwürdiger war als alles, was einst Harun al-Raschid träumte, und selbst lebte er ein Leben, das so fantastisch war wie das in Tausendundeiner Nacht, aber Missionare und Sekretäre mildtätiger Gesellschaften waren blind für die Schönheit dieses Daseins. Kims Spitzname im Viertel war »Kleiner Freund der
ganzen Welt«; und da er geschmeidig und unauffällig war, übernahm er oft Botengänge für gewandte und feine junge Herren, nachts, auf den dicht belebten Hausdächern. Natürlich ging es um Liebeshändel – das wußte er wohl, so wie er von allem Übel wußte, seit er sprechen konnte –, aber was er daran liebte, war das Spiel um des Spieles willen – verstohlen durch dunkle Kanäle und Gassen streifen, Wasserrohre hinaufkriechen, Anblick und Klang der Frauenwelt auf den Dachterrassen und die jähe Flucht von Dach zu Dach im Schutz des heißen Dunkels. Dann gab es da heilige Männer, aschebeschmierte Fakire neben ihren Schreinen aus Ziegeln, unter den Bäumen am Flußufer; mit ihnen war er gut bekannt – er begrüßte sie, wenn sie von Bettelreisen zurückkehrten, und wenn niemand in der Nähe war, aß er mit ihnen aus einer Schüssel. Die Frau, die sich um ihn kümmerte, bedrängte ihn unter Tränen, europäische Kleidung zu tragen – Hosen, ein Hemd, einen abgeschabten Hut. Kim fand es einfacher, in Hindu- oder Mohammedanertracht zu schlüpfen, wenn er mit gewissen Geschäften befaßt war. Einer der feinen jungen Herren – und zwar jener, der in der Nacht des Erdbebens tot auf dem Grund eines Brunnens gefunden wurde – hatte ihm einmal eine komplette Hindu-Ausstattung geschenkt, die Kleidung eines Straßenjungen aus niedriger Kaste, und Kim verwahrte sie in einem geheimen Versteck unter einigen Balken von Nila Rams Zimmerplatz, hinter dem Obersten Gerichtshof des Punjab, wo die duftenden Deodarstämme zum Auswittern liegen, nachdem sie den Ravi herabgetrieben sind. Wenn Geschäfte oder Unfug angesetzt waren, holte Kim seine Besitztümer hervor; im Morgengrauen kam er dann zur Veranda zurück, völlig erschöpft davon, daß er am Ende einer Hochzeitsprozession gejubelt oder bei einer Hindufeier gejohlt hatte. Manchmal gab es im Haus etwas zu essen, häufiger
nichts, und dann ging Kim wieder los, um mit seinen eingeborenen Freunden zu essen. Während er mit den Fersen gegen Zam-Zammah trommelte, wandte er sich manchmal von seinem Wer-ist-der-Herr-derBurg-Spiel mit dem kleinen Chota Lal und Abdullah, dem Sohn des Zuckerwerk-Verkäufers, um dem einheimischen Polizisten, der am Museumstor neben Reihen von Schuhen Wache stand, eine Frechheit zuzurufen. Der dicke Punjabi grinste nachsichtig: Er kannte Kim schon ewig. Ebenso der Wasserträger, der aus seinem Schlauch aus Ziegenfell Wasser auf die trockene Straße rieseln ließ. Ebenso Jawahir Singh, der Tischler des Museums, der sich über neue Packkisten beugte. Überhaupt kannten ihn alle in Sichtweite, außer den Bauern aus dem Hinterland, die zum Wunder-Haus hinaufliefen, um die Dinge zu betrachten, die Leute in ihrer eigenen Provinz und anderswo verfertigten. Das Museum war indischen Künsten und Handwerkserzeugnissen gewidmet, und jeder, der Weisheit suchte, konnte den Kurator um Erklärungen bitten. »Runter! Runter! Laß mich rauf!« rief Abdullah; er kletterte Zam-Zammahs Rad hinauf. »Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk, deine Mutter klaut das ghi«, sang Kim. »Alle Moslems sind längst von Zam-Zammah runtergefallen!« »Laß mich rauf!« kreischte der kleine Chota Lal mit seiner goldbestickten Kappe. Sein Vater war vielleicht eine halbe Million in Sterling wert, aber Indien ist das einzige demokratische Land der Welt. »Die Hindus sind auch von Zam-Zammah runtergefallen. Die Moslems haben sie runtergeschubst. Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk…« Er hielt inne; um die Ecke, vom lärmenden Moti-Basar her, kam nämlich mit schleppenden Schritten ein Mann, wie Kim, der alle Kasten zu kennen glaubte, ihn noch nie gesehen hatte.
Er war beinahe sechs Fuß groß, gekleidet in Falten über Falten eines schmutzigbraunen Stoffs, ähnlich einer Pferdedecke, und keine einzige dieser Falten konnte Kim einem ihm bekannten Gewerbe oder Beruf zuschreiben. An seinem Gürtel hingen ein langer, durchbrochen gearbeiteter Federbehälter aus Eisen und ein hölzerner Rosenkranz, wie heilige Männer ihn tragen. Auf dem Kopf trug er eine spitze Mütze mit Ohrenklappen. Sein Gesicht war gelb und runzlig wie das von Fook Shing, dem chinesischen Stiefelmacher im Basar. Seine Augen bogen sich an den Winkeln hoch und sahen aus wie schmale Schlitze aus Onyx. »Wer ist das denn?« sagte Kim zu seinen Kameraden. »Vielleicht ist es ein Mensch«, sagte Abdullah; er hatte einen Finger im Mund und starrte. »Ohne Zweifel«, erwiderte Kim; »aber er ist kein Mensch aus Indien, wie ich ihn je gesehen hab.« »Vielleicht ein Priester«, sagte Chota Lal; er entdeckte den Rosenkranz. »Sieh mal! Er geht ins Wunder-Haus!« »Nein, nein«, sagte der Polizist; dabei schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe Eure Rede nicht.« Der Constable sprach Punjabi. »O Freund der ganzen Welt, was sagt er?« »Schick ihn her«, sagte Kim; er rutschte von Zam-Zammah herab und schwenkte dabei seine bloßen Füße. »Er ist ein Fremder, und du bist ein Büffel.« Der Mann wandte sich hilflos ab und kam langsam zu den Jungen. Er war alt, und sein wollener Kaftan roch noch nach dem stinkenden Beifuß der Gebirgspässe. »O Kinder, was ist dies große Haus?« sagte er in sehr gutem Urdu. »Das Ajaib-Gher, das Wunder-Haus!« Kim redete ihn nicht mit einem Titel an – etwa Lala oder Mian. Er konnte nicht erraten, welchem Glauben der Mann angehörte. »Ah! Das Wunder-Haus! Darf jeder eintreten?« »So steht es über der Tür geschrieben – jeder darf hinein.«
»Ohne Bezahlung?« »Ich gehe ein und aus. Bin ich ein Bankier?« Kim lachte. »Ach! Ich bin ein alter Mann. Ich wußte es nicht.« Dann tastete er nach seinem Rosenkranz und wandte sich halb zum Museum um. »Was ist Eure Kaste? Wo steht Euer Haus? Kommt Ihr weit her?« fragte Kim. »Ich bin über Kulu gekommen – von jenseits des Kailas – aber was wißt ihr denn? Aus den Bergen, wo« – er seufzte – »die Luft und das Wasser frisch und kühl sind.« »Aha! Khitai [ein Chinese]«, sagte Abdullah stolz. Fook Shing hatte ihn einmal aus dem Laden gejagt, weil er den Götzen über den Stiefeln angespuckt hatte. »Pahari [ein Bergmensch]«, sagte der kleine Chota Lal. »Ja, Kind – ein Bergmensch aus Bergen, die du niemals sehen wirst. Hast du schon mal von Bhotiyal [Tibet] gehört? Ich bin kein Khitai, sondern ein Bhotiya [Tibeter], wenn ihr es wissen müßt – ein Lama – oder auch, in eurer Sprache, ein Guru.« »Ein Guru aus Tibet«, sagte Kim. »So einen Mann habe ich noch nie gesehen. Die Leute in Tibet sind dann also Hindus?« »Wir folgen dem Mittleren Pfad und leben in Frieden in unseren Lamaklöstern, und ich bin aufgebrochen, um die Vier Heiligen Stätten zu sehen, bevor ich sterbe. Jetzt wißt ihr, die ihr Kinder seid, so viel wie ich, der ich alt bin.« Er lächelte gütig auf die Jungen hinab. »Hast du gegessen?« Unbeholfen tastete er im Gewand vor seiner Brust herum und zog einen abgenutzten, hölzernen Bettelnapf hervor. Die Jungen nickten. Alle Priester, die sie kannten, bettelten. »Ich will noch nicht essen.« Er drehte seinen Kopf wie eine alte Schildkröte in der Sonne. »Ist es wahr, daß es viele Bildwerke gibt im Wunder-Haus von Lahore?« Er wiederholte
die letzten Wörter wie jemand, der sich einer Adresse versichern will. »Das stimmt«, sagte Abdullah. »Es ist voll von heidnischen bûts. Du bist auch so ein Götzendiener.« »Kümmer dich nicht um den da«, sagte Kim. »Das Haus gehört der Regierung, und es gibt darin keine Götzendienerei, sondern nur einen Sahib mit weißem Bart. Komm mit, ich zeig es dir.« »Fremde Priester essen kleine Jungen«, flüsterte Chota Lal. »Und er ist ein Fremder und ein bût-parast [Götzendiener]«, sagte Abdullah, der Mohammedaner. Kim lachte. »Er ist was Neues. Rennt ihr doch zu euren Müttern und kriecht ihnen auf den Schoß; da seid ihr sicher. Komm!« Kim ließ das zählende Drehkreuz klicken; der alte Mann folgte und blieb verwirrt stehen. In der Eingangshalle standen die größeren Gestalten der gräko-buddhistischen Bildhauerei, angefertigt vor so langer Zeit, daß nur die Gelehrten es wissen, von vergessenen Handwerkskünstlern, deren Hände nicht ohne Geschick versucht hatten, den geheimnisvoll vermittelten griechischen touch zu erfühlen. Da gab es Hunderte von Stücken, Friese mit Gestalten in Relief, Fragmente von Statuen und von Figuren wimmelnde Platten, die einmal die Ziegelwände der buddhistischen stupas und viharas des Nordlands bedeckt hatten und nun, ausgegraben und etikettiert, der Stolz des Museums waren. Staunend und mit offenem Mund wandte sich der Lama hierhin und dorthin, und schließlich hielt er verzückt und hingerissen inne vor einem großen Hochrelief, das eine Krönung oder Apotheose des Buddha darstellte. Der Meister saß in dieser Darstellung auf einem Lotos, dessen Blätter so tief unterhöhlt waren, daß sie beinahe losgelöst schienen. Es umgab Ihn eine anbetende Hierarchie von Königen, Ältesten und Buddhas der Vorzeit.
Unter ihnen waren lotosbedeckte Gewässer mit Fischen und Wasservögeln. Zwei dewas mit Schmetterlingsflügeln hielten ein Blumengewinde auf Sein Haupt; über ihnen stützten zwei weitere einen Sonnenschirm, den der juwelenbesetzte Kopfschmuck des Bodhisat überragte. »Der HErr! Der HErr! Es ist Sakya Muni selbst«, sagte der Lama beinahe schluchzend, und mit verhaltender Stimme begann er die herrliche buddhistische Anrufung: „To Him the Way, the Law, Apart, Whom Maya held beneath her heart, Ananda’s Lord, the Bodhisat.“ [Sein sind allein Pfad und Gesetz, den Maya unterm Herzen barg: Anandas HErr, der Bodhisat.]
»Und Er ist hier! Das Höchst Vortreffliche Gesetz ist auch hier. Meine Pilgerreise hat gut begonnen. Und welch ein Kunstwerk! Welch ein Kunstwerk!« »Da drüben ist der Sahib«, sagte Kim; er verdrückte sich zur Seite, zwischen die Schaukästen des Flügels der Kunst- und Handwerkserzeugnisse. Ein weißbärtiger Engländer schaute den Lama an, der sich würdevoll umwandte, ihn grüßte und nach einigem Tasten ein Notizbuch und ein Stück Papier hervorzog. »Ja, das ist mein Name.« Der Engländer lächelte über die unbeholfene, kindliche Druckschrift. »Einer von uns, der die Pilgerreise zu den Heiligen Stätten gemacht hat – er ist jetzt Abt des Klosters Lung-Cho –, gab es mir«, stammelte der Lama. »Er sprach von diesen Dingen.« Seine hagere Hand wies bebend rundum. »Dann sei willkommen, o Lama aus Tibet. Hier sind die Bildwerke, und hier bin ich«, – er blickte in das Gesicht des Lamas –, »um Wissen zu sammeln. Komm zunächst einmal
mit in mein Arbeitszimmer.« Der alte Mann zitterte vor Erregung. Das Arbeitszimmer war nur ein kleiner hölzerner Verschlag, abgetrennt von der mit Skulpturen gefüllten Galerie. Kim legte sich auf den Boden, das Ohr an einem Spalt in der Tür aus Zedernholz, das durch die Hitze rissig geworden war; er gehorchte seinen Instinkten und streckte sich aus, um zu lauschen und zu beobachten. Der größte Teil des Gesprächs war für ihn viel zu hoch. Zunächst stockend berichtete der Lama dem Kurator von seinem eigenen Kloster Such-zen, gegenüber den Bunten Felsen, hundertzwanzig Tagesmärsche entfernt. Der Kurator holte ein großes Buch mit Fotos hervor und zeigte ihm das Kloster, hoch auf seinem schroffen Felsen, wie es das gewaltige Tal mit den vielfarbigen Gesteinsschichten überschaute. »Ja, ja!« Der Lama setzte eine Hornbrille chinesischer Fertigung auf. »Hier ist die kleine Tür, durch die wir vor dem Winter das Holz tragen. Und du – die Engländer wissen von diesen Dingen? Der, der nun Abt von Lung-Cho ist, hat es mir gesagt, aber ich konnte es nicht glauben. Der HErr – der Erhabene – auch hier genießt Er Verehrung? Und man weiß von Seinem Leben?« »All dies ist in die Steine gemeißelt. Komm und schau, wenn du ausgeruht bist.« Der Lama schlurfte hinaus in die große Halle, und mit dem Kurator an seiner Seite ging er durch die Sammlung, mit der Ehrfurcht eines Gläubigen und der feinfühligen Wertschätzung eines Kunsthandwerkers. Jede einzelne Begebenheit der wunderschönen Geschichte identifizierte er auf dem verwitterten Stein; hie und da stutzte er angesichts der ungewohnten griechischen Darstellungsweise; bei jedem neuen Fund war er jedoch
entzückt wie ein Kind. Wo die Reihenfolge unvollständig war, wie bei der Verkündigung, ergänzte der Kurator sie aus dem Berg seiner französischen und deutschen Bücher, mit Fotografien und Reproduktionen. Hier war der fromme Asita, Entsprechung des Simeon in der christlichen Geschichte, der das Heilige Kind auf den Knien hielt, während Mutter und Vater lauschten; und da waren Begebenheiten aus der Legende vom Vetter Devadatta. Hier war die schlimme Frau, die den Meister der Unreinheit bezichtigt hatte, nun völlig beschämt; da war die Predigt im Gazellenhain; das Wunder, das die Feueranbeter verblüffte; dort der Bodhisat in königlichem Gepränge als Prinz; die wundersame Geburt; der Tod in Kusinagara, wo der schwache Jünger ohnmächtig wurde; allenthalben fanden sich Wiedergaben der Meditation unter dem Bodhi-Baum; und die Anbetung der Almosenschale war überall zu sehen. Binnen weniger Minuten begriff der Kurator, daß sein Gast kein bloßer rosenkranzleiernder Bettler war, sondern ein bemerkenswerter Gelehrter. Und sie gingen alles noch einmal durch; dabei schnupfte der Lama, wischte seine Brillengläser und sprach im Eilzugtempo eine verwirrende Mischung aus Urdu und Tibetisch. Er hatte von den Reisen der chinesischen Pilger Fahsien und Hsüan-tsang gehört und war begierig zu erfahren, ob es Übersetzungen ihrer Berichte gab. Er atmete tief, während er hilflos die Seiten von Beal und Stanislas Julien durchblätterte. »Alles ist hier. Ein versperrter Schatz.« Dann faßte er sich, um ehrfürchtig Bruchstücken zu lauschen, die der Kurator hastig ins Urdu übersetzte. Zum ersten Mal hörte er von der mühsamen Arbeit europäischer Gelehrter, die mit Hilfe dieser und hundert anderer Dokumente die Heiligen Stätten des Buddhismus identifiziert haben. Danach wurde ihm eine riesige Karte gezeigt, voll gelber Punkte und Linien. Hier war Kapilavastu, da das Reich der Mitte, und dort Mahabodhi,
das Mekka des Buddhismus; und hier Kusinagara, traurige Stätte von des Heiligen Tod. Der alte Mann beugte für eine Weile schweigend das Haupt über die Blätter, und der Kurator zündete sich eine neue Pfeife an. Kim war eingeschlafen. Als er erwachte, strömte das Gespräch noch immer reißend schnell, war aber nun eher innerhalb seines Begreifens. »Und so kam es, o Springquell der Weisheit, daß ich beschloß, zu den Heiligen Stätten zu reisen, die Sein Fuß betreten hat – zum Ort der Geburt, selbst nach Kapila; dann nach Mahabodhi, was Buddh Gaya ist – zum Kloster – zum Gazellenhain – zur Stätte Seines Todes.« Der Lama senkte die Stimme. »Und ich komme allein hierher. Seit fünf – sieben – achtzehn – vierzig Jahren habe ich bei mir erwogen, daß das Alte Gesetz nicht wohl befolgt wird; es ist, wie du weißt, von Teufelswerk, Amuletten und Götzendienerei überdeckt. Wie sogar das Kind draußen eben erst sagte. Ja, genau wie das Kind es gesagt hat, bût-parasti.« »So ergeht es jedem Glauben.« »Meinst du? Ich habe die Bücher meines Klosters gelesen, und sie waren vertrocknetes Mark; und das Ritual, mit dem wir, die Anhänger des Erneuerten Gesetzes, uns später beladen haben – auch das hatte in diesen meinen alten Augen keinen Wert. Sogar jene, die dem Erhabenen folgen, tragen Fehde um Fehde miteinander aus. All das ist Trug. Ja, maya, Trug. Aber ich habe ein anderes Verlangen« – das gefurchte gelbe Gesicht näherte sich bis auf drei Zoll dem des Kurators, und der lange Nagel des Zeigefingers tippte auf den Tisch. »Mit diesen Büchern sind eure Gelehrten den Seligen Füßen auf allen Wanderungen gefolgt; aber es gibt Dinge, die sie nicht zu wissen gesucht haben. Ich weiß nichts – nichts weiß ich –, aber ich werde mich vom Rad der Dinge befreien, und dazu gehe ich eine breite, offene Straße.« Er lächelte in ganz schlichtem Triumph. »Als Pilger zu den Heiligen Stätten erwerbe ich
Verdienst. Aber da ist noch mehr. Lausche einer Sache, die wahr ist. Als unser gütiger HErr noch ein Jüngling war und eine Gefährtin suchte, sagten die Leute am Hof Seines Vaters, Er sei noch zu zart für eine Heirat. Du weißt es?« Der Kurator nickte, neugierig auf das, was folgen würde. »Also machten sie die dreifache Kraftprobe gegen alle Bewerber. Und bei der Bogenprobe zerbrach unser HErr den Bogen, den sie Ihm gaben, und verlangte nach einem Bogen, den keiner zu spannen vermöchte. Du weißt es?« »So steht es geschrieben. Ich habe es gelesen.« »Und der Pfeil flog über alle von anderen erreichten Ziele hinweg, immer weiter und weiter, außer Sicht. Endlich fiel er zu Boden, und wo er die Erde berührte, brach ein Wasserstrom hervor, der alsbald zum Fluß wurde; und durch die Gnade unseres HErrn und jenen Verdienst, den Er erwarb, ehe Er sich befreite, ist der Fluß in seinem Wesen so beschaffen, daß einer, der darin badet, sich so jeden Makel und Flecken der Sünde abwäscht.« »So steht es geschrieben«, sagte der Kurator traurig. Der Lama tat einen tiefen Atemzug. »Wo ist dieser Fluß? Springquell der Weisheit, wo fiel der Pfeil nieder?« »Ach, mein Bruder, ich weiß es nicht«, sagte der Kurator. »Nein, du hast es sicher nur vergessen – das einzige, was du mir nicht gesagt hast. Gewiß mußt du es doch wissen? Schau, ich bin ein alter Mann! Ich frage mit meinem Haupt zwischen deinen Füßen, o Springquell der Weisheit. Wir wissen, daß Er den Bogen spannte! Wir wissen, daß der Pfeil fiel! Wir wissen, daß das Wasser schwoll! Wo also ist der Fluß? Mein Traum hieß mich ihn finden. Deshalb kam ich. Nun bin ich hier. Aber wo ist der Fluß?« »Wenn ich es wüßte, glaubst du denn, ich würde es nicht hinausschreien?«
»Durch ihn erreicht man Befreiung vom Rad der Dinge«, fuhr der Lama achtlos fort. »Der Fluß des Pfeils! Denk noch einmal nach! Irgendein kleiner Bach vielleicht – ausgetrocknet in der Hitze? Aber der Heilige würde niemals einen alten Mann so betrügen.« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.« Der Lama brachte sein Gesicht mit den tausend Runzeln noch einmal eine Handbreit nah an das des Engländers. »Ich sehe, daß du es wirklich nicht weißt. Da du dem Gesetz nicht angehörst, ist diese Sache dir verborgen.« »Ja – verborgen – verborgen.« »Wir sind beide gefesselt, du und ich, mein Bruder. Aber ich« – er erhob sich mit einem Schwung des weichen dicken Gewands – »ich gehe, mich loszuschneiden. Komm mit!« »Ich bin gebunden«, sagte der Kurator. »Aber wohin gehst du?« »Zuerst nach Kashi [Benares]: wohin sonst? Dort werde ich einen vom reinen Glauben treffen, in einem Jain-Tempel der Stadt. Auch er ist insgeheim ein Suchender, und von ihm kann ich vielleicht lernen. Vielleicht geht er mit mir nach Buddh Gaya. Von dort nördlich und westlich nach Kapilavastu, und da werde ich den Fluß suchen. Nein, überall werde ich suchen, während ich wandere – denn der Ort, wo der Pfeil fiel, ist nicht bekannt.« »Und wie willst du reisen? Nach Delhi ist es weit, und noch weiter nach Benares.« »Auf der Straße und mit Zügen. Von Pathänkot, wo ich die Berge verließ, bin ich in einem te-rain hierher gekommen. Er fährt schnell. Zuerst haben mich die hohen Pfosten am Straßenrand verwirrt, die ihre Fäden immer wieder aufraffen« – er illustrierte das Neigen und Schwirren eines Telegrafenmastes, der am Zug vorübersaust. »Aber später
fühlte ich mich eingezwängt und wollte nur wandern, wie ich es gewöhnt bin.« »Und du kennst deinen Weg bestimmt?« sagte der Kurator. »Ach, da braucht man nur zu fragen und Geld zu bezahlen, und die zuständigen Personen schicken jeden an den gewünschten Ort. So viel wußte ich schon in meinem Kloster, aus zuverlässigen Berichten«, sagte der Lama stolz. »Und wann wirst du reisen?« Der Kurator lächelte über die Mischung aus uralter Frömmigkeit und modernem Fortschritt, die das Kennzeichen des heutigen Indien ist. »So bald wie möglich. Ich folge den Stätten Seines Lebens, bis ich zum Fluß des Pfeils komme. Außerdem gibt es ein geschriebenes Papier mit den Stunden der Züge, die nach Süden gehen.« »Und Nahrung?« Lamas haben gewöhnlich einen guten Geldvorrat irgendwo bei sich, aber der Kurator wollte sichergehen. »Auf der Reise begnüge ich mich mit dem Bettelnapf des Meisters. Ja. Genau wie Er wanderte, so wandere ich, und ich entsage der Muße meines Klosters. Als ich die Berge verließ, war ein chela [Jünger] bei mir, der für mich bettelte, wie die Regel es verlangt, aber als wir eine Weile in Kulu haltmachten, hat ihn ein Fieber befallen, und er ist gestorben. Nun habe ich keinen chela, aber ich will die Almosenschale halten und so den Mildtätigen den Erwerb von Verdienst möglich machen.« Er nickte tapfer. Gelehrte Doktoren eines Lamaklosters betteln nicht, aber der Lama war auf seiner heiligen Suche ein Enthusiast. »So sei es«, sagte der Kurator lächelnd. »Dann laß zu, daß nun ich Verdienst erwerbe. Du und ich, wir sind beide kunstfertige Männer vom gleichen Fach. Hier ist ein neues Buch mit weißem englischen Papier; hier sind gespitzte
Bleistifte, zwei und drei – dick und dünn, alle gut für einen Schriftgelehrten. Nun laß mich deine Brille sehen.« Der Kurator schaute durch die Gläser. Sie waren arg zerkratzt, aber von fast der gleichen Stärke wie die seiner eigenen Brille, die er dem Lama in die Hand gleiten ließ; dabei sagte er: »Versuch diese.« »Eine Feder! Wahrlich eine Feder auf dem Gesicht!« Der alte Mann wandte entzückt den Kopf hin und her und legte die Nase in Falten. »Wie wenig ich sie spüre! Wie deutlich ich sehe!« »Die Gläser sind aus bilaur [Kristall] und bekommen niemals Kratzer. Mögen sie dir zu deinem Fluß verhelfen, denn sie sind dein.« »Ich will sie und die Bleistifte und das weiße Notizbuch annehmen«, sagte der Lama, »als Zeichen der Freundschaft zwischen Priester und Priester – und nun…« Er zerrte an seinem Gürtel, löste den durchbrochen gearbeiteten Federkasten aus Eisen und legte ihn auf den Tisch des Kurators. »Dies ist zum Andenken zwischen dir und mir – mein Federkasten. Er ist etwas Altes – genau wie ich.« Es war ein Stück nach alter Art, chinesisch, aus einem Eisen, wie es heutzutage nicht mehr geschmolzen wird; und das Sammlerherz in der Brust des Kurators hatte sich ihm von Anfang an zugeneigt. Alle Überredungskunst war vergebens; der Lama wollte sein Geschenk nicht zurücknehmen. »Wenn ich den Fluß gefunden habe und zurückkehre, werde ich dir ein geschriebenes Bild von der Padma Samthora bringen – eines, wie ich sie im Kloster auf Seide zu machen pflegte. Ja – und vom Rad des Lebens«, – er kicherte – »denn wir sind kunstfertige Männer vom gleichen Fach, du und ich.« Der Kurator hätte ihn gern zurückgehalten: Es gibt nur wenige auf der Welt, die noch das Geheimnis der alten buddhistischen Pinselfeder-Bilder kennen, die gewissermaßen
halb geschrieben und halb gemalt sind. Aber der Lama schritt aus, hocherhobenen Hauptes, und nachdem er einen Moment vor der großen Statue eines Bodhisat in Meditation haltgemacht hatte, eilte er durch das Drehkreuz. Kim folgte wie ein Schatten. Was er heimlich gehört hatte, machte ihn wild vor Aufregung. Bei all seiner Erfahrung war dieser Mann etwas völlig Neues, und er wollte ihn weiter erforschen, genau wie er ein neues Gebäude oder ein seltsames Fest in Lahore erforscht hätte. Der Lama war sein Fund, und er gedachte, ihn in Besitz zu nehmen. Auch Kims Mutter war ja aus Irland gekommen. Der alte Mann blieb bei Zam-Zammah stehen und sah sich um, bis sein Auge auf Kim fiel. Die Inspiration, seine Pilgerreise, hatte ihn für den Moment verlassen, und er fühlte sich alt, verloren und sehr leer. »Man darf sich nicht unter diese Kanone setzen«, sagte der Polizist hochnäsig. »Schuhu, du Eule!« Kim antwortete an Stelle des Lamas. »Setz dich ruhig unter die Kanone, wenn es dir gefällt. Wann hast du der Milchfrau die Pantoffeln gestohlen, Dunnoo?« Das war eine völlig grundlose Bezichtigung, in diesem Moment aus der Luft gegriffen, aber sie brachte Dunnoo zum Schweigen; er wußte, daß Kims helles Gellen wenn nötig Legionen böser Basarjungen herbeirufen konnte. »Und wen hast du da drin angebetet?« sagte Kim freundlich; er hockte sich neben dem Lama in den Schatten. »Ich habe niemanden angebetet, Kind. Ich habe mich vor dem Vortrefflichen Gesetz verneigt.« Kim akzeptierte diesen neuen Gott gelassen. Er kannte schon etliche Dutzend. »Und was machst du jetzt?« »Ich werde betteln. Mir fällt nun ein, daß es lange her ist, seit ich etwas gegessen oder getrunken habe. Wie sind in dieser
Stadt die Gebräuche der Mildtätigkeit? Schweigend, wie wir Tibeter es tun, oder laut redend?« »Wer schweigend bettelt, verhungert schweigend«, sagte Kim mit einem Sprichwort der Einheimischen. Der Lama versuchte sich zu erheben, aber er sank wieder zurück und seufzte nach seinem Jünger, der im fernen Kulu und tot war. Kim schaute zu – den Kopf auf die Seite gelegt, abwägend und interessiert. »Gib mir den Napf. Ich kenne die Leute in dieser Stadt – alle, die mildtätig sind. Gib ihn mir, und ich bringe ihn dir gefüllt zurück.« Schlicht wie ein Kind reichte der alte Mann ihm den Napf. »Ruh du dich aus. Ich kenne die Leute.« Er machte sich davon zum offenen Laden einer kunjri, einer Gemüsehändlerin niedriger Kaste, gegenüber der Ring-Tram am Moti-Basar. Sie kannte Kim seit langem. »Oho, bist du ein yogi geworden, mit deinem Bettelnapf?« rief sie. »Nein«, sagte Kim stolz. »In der Stadt ist ein neuer Priester – ein Mann, wie ich ihn noch nie gesehen hab.« »Alter Priester – junger Tiger«, sagte die Frau unwirsch. »Ich habe neue Priester satt! Sie hocken sich auf unsere Waren wie die Fliegen. Ist der Vater meines Sohnes denn ein Brunnen der Mildtätigkeit, daß er allen geben soll, die betteln?« »Nein«, sagte Kim. »Dein Mann ist eher yagi [übellaunig] als yogi [ein heiliger Mann]. Aber dieser Priester ist neu. Der Sahib im Wunder-Haus hat mit ihm geredet wie mit einem Bruder. O meine Mutter, füll mir diesen Napf. Er wartet.« »Ausgerechnet diesen Napf, ja? Diesen kuhbäuchigen Korb! Du bist ungefähr so liebenswürdig wie Shivas heiliger Bulle. Er hat heute früh schon den größeren Teil aus einem Zwiebelkorb gefressen; und jetzt soll ich auch noch deinen Napf füllen. Da kommt er schon wieder.«
Der riesige, mausfarbene Brahmanenbulle des Viertels schob sich mit wiegenden Schultern durch die vielfarbige Menge; eine gestohlene Pisangfrucht hing aus seinem Maul. Er hielt geradenwegs auf den Laden zu, im Bewußtsein seiner Privilegien eines heiligen Tiers, senkte den Kopf und prustete heftig die Reihe der Körbe entlang, bevor er seine Wahl traf. Kims harte kleine Ferse flog hoch und traf ihn auf die feuchte blaue Schnauze. Er schnaubte indigniert, stampfte quer über die Trambahnschienen von hinnen, und sein Widerrist zitterte vor Zorn. »Siehst du! Ich habe dir mehr gespart, als der Napf dreimal gefüllt kostet. Jetzt, Mutter, ein bißchen Reis und trockenen Fisch darauf – ja, und ein bißchen Gemüsecurry.« Ein Grollen drang aus dem Hintergrund des Ladens, wo ein Mann lag. »Er hat den Stier verjagt«, sagte die Frau halblaut. »Es ist gut, den Armen zu geben.« Sie nahm den Napf und gab ihn mit heißem Reis gefüllt zurück. »Aber mein yogi ist keine Kuh«, sagte Kim würdevoll; mit den Fingern machte er ein Loch in die Spitze des Berges. »Ein wenig Curry kann nicht schaden, und er hätte bestimmt nichts gegen einen heißen Kuchen und ein bißchen Eingemachtes, glaub ich.« »Das Loch ist so groß wie dein Kopf«, sagte die Frau verdrossen. Aber trotzdem füllte sie es mit gutem dampfenden Gemüsecurry, klatschte einen heißen Kuchen darauf und ein Stückchen geklärter Butter auf den Kuchen, klitschte einen Klumpen säuerlicher eingemachter Tamarinde an den Rand, und Kim blickte liebevoll auf die Ladung. »Das ist gut. Wenn ich im Basar bin, wird der Stier nicht zu diesem Haus kommen. Er ist ein unverschämter Bettler.« »Und was bist du?« Die Frau lachte. »Aber sprich nicht schlecht über Stiere. Hast du mir denn nicht erzählt, daß eines
Tages ein Roter Stier aus einem Feld kommen wird, um dir zu helfen? Jetzt halt alles grade und bitte den heiligen Mann, daß er mich segnet. Vielleicht weiß er ja eine Heilung für die kranken Augen meiner Tochter. Frag ihn auch danach, o du Kleiner Freund der ganzen Welt.« Aber Kim war längst vor dem Ende des Satzes davongetanzt; er wich streunenden Hunden und hungrigen Bekannten aus. »So betteln wir, die wir die Sache verstehen«, sagte er stolz zum Lama, der angesichts des Napfinhalts die Augen aufriß. »Iß jetzt, und – ich esse mit dir. Ohe, bhisti!« rief er dem Wasserträger zu, der die Krotonen am Museum begoß. »Bring uns Wasser. Wir Männer haben Durst.« »Wir Männer!« sagte der bbisti lachend. »Ob denn wohl ein einziger Schlauch für so ein Paar reicht? Also trinkt, im Namen des Allerbarmers.« Er ließ einen dünnen Strahl in die Hände von Kim rinnen, der wie ein Eingeborener trank; der Lama jedoch mußte aus seinem unerschöpflichen Obergewand einen Becher hervorziehen und mit geziemender Feierlichkeit trinken. »Paráesi [ein Fremder]«, erklärte Kim, als der alte Mann in einer unbekannten Sprache etwas sagte, was offenbar ein Segen war. In großer Zufriedenheit aßen sie gemeinsam und leerten den Bettelnapf. Danach nahm der Lama Schnupftabak aus einer wunderbaren hölzernen Kürbisflasche, ließ seinen Rosenkranz eine Weile durch die Finger gleiten und fiel dann in den leichten Schlaf des Alters, während Zam-Zammahs Schatten länger wurde. Kim schlenderte zum nächsten Tabakverkäufer hinüber, einer sehr lebhaften jungen Mohammedanerin, und erbettelte eine stinkende Zigarre von der Sorte, wie man sie den Studenten von der Punjab-Universität verkauft, die englische Sitten nachahmen. Dann rauchte er und dachte nach, unter dem
Bauch der Kanone, die Knie am Kinn, und das Ergebnis seines Denkens war ein jäher und verstohlener Aufbruch in Richtung von Nila Rams Zimmerplatz. Der Lama erwachte nicht, bis das abendliche Leben der Stadt begonnen hatte, mit dem Anzünden von Laternen und der Heimkehr weißgekleideter Schreiber und Unterbeamter aus den Regierungsbüros. Benommen starrte er in alle Himmelsrichtungen, aber niemand schaute ihn an, außer einem Hinduknirps mit schmutzigem Turban und isabellfarbener Kleidung. Plötzlich ließ er den Kopf auf die Knie sinken und begann zu wehklagen. »Was ist denn?« sagte der Junge, der vor ihn trat. »Hat man dich bestohlen?« »Es ist, weil mein neuer chela [Jünger] von mir gegangen ist, und ich weiß nicht, wo er ist.« »Und was für ein Mann war dein Jünger?« »Es war ein Junge, der für den, der gestorben ist, zu mir kam, wegen des Verdienstes, das ich mir erworben habe, als ich mich da drinnen vor dem Gesetz verneigte.« Er deutete auf das Museum. »Er ist zu mir gekommen, um mir einen Weg zu zeigen, den ich verloren hatte. Er hat mich in das WunderHaus geführt und durch sein Reden ermutigt, mit dem Hüter der Bildwerke zu sprechen; das hat mich getröstet und gekräftigt. Und als ich schwach war von Hunger, da hat er für mich gebettelt, wie es ein chela für seinen Lehrer tun würde. Plötzlich ist er geschickt worden. Plötzlich ist er gegangen. Ich hatte ihn auf dem Weg nach Benares im Gesetz unterweisen wollen.« Kim stand völlig verblüfft da, denn er hatte das Gespräch im Museum belauscht und wußte, daß der alte Mann die Wahrheit sagte, etwas, was ein Eingeborener selten einem Fremden auf der Straße darbringt.
»Aber nun weiß ich, daß er nur zu einem bestimmten Zweck gesandt worden ist. Daran erkenne ich, daß ich einen gewissen Fluß, nach dem ich suche, finden werde.« »Den Fluß des Pfeils?« sagte Kim mit überlegenem Lächeln. »Ist dies denn noch eine Sendung?« rief der Lama. »Zu keinem habe ich über meine Suche gesprochen, außer zum Priester der Bildwerke. Wer bist du?« »Dein chela«, sagte Kim einfach; er Ueß sich auf die Hacken nieder. »Jemand wie dich hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Ich geh mit dir nach Benares. Und außerdem glaub ich, daß ein Mann, der so alt ist wie du und der nach Sonnenuntergang jedem Hergelaufenen die Wahrheit sagt, einen Jünger sehr nötig hat.« »Aber der Fluß – der Fluß des Pfeils?« »Ach, das hab ich gehört, als du mit dem Engländer geredet hast. Ich hatte mich vor die Tür gelegt.« Der Lama seufzte. »Und ich dachte schon, du seist mir als Führer gewährt worden. Solche Dinge geschehen manchmal – aber ich bin nicht würdig. Du kennst den Fluß also nicht?« »Ich doch nicht.« Kim lachte gezwungen. »Ich bin auf der Suche nach… nach einem Stier – einem Roten Stier auf einem grünen Feld, und er soll mir helfen.« Wenn ein Bekannter Pläne schmiedete, war Kim wie jeder Junge gleich mit einem eigenen dabei; und wie ein Junge hatte er tatsächlich zwanzig Minuten hintereinander an die Prophezeiungen seines Vaters gedacht. »Wobei soll er dir helfen, Kind?« sagte der Lama. »Das weiß Gott, aber mein Vater hat es mir so erzählt. Ich habe deine Rede im Wunder-Haus gehört, über all diese neuen, seltsamen Orte in den Bergen, und wenn einer, der so alt ist und so wenig… so sehr daran gewöhnt, die Wahrheit zu sagen, wenn so einer wegen so etwas Kleinem wie einem Fluß auszieht, dann, hab ich mir gedacht, muß ich auch auf die
Reise gehn. Wenn es uns bestimmt ist, diese Dinge zu finden, dann werden wir sie auch finden – du deinen Fluß; und ich meinen Stier und die Großen Säulen und noch andere Sachen, die ich vergessen hab.« »Es sind keine Säulen, sondern ein Rad, von dem ich frei werden möchte«, sagte der Lama. »Das ist alles eins. Vielleicht machen sie einen König aus mir«, sagte Kim, der in seiner Gelassenheit auf alles vorbereitet war. »Auf dem Weg werde ich dich andere und bessere Wünsche lehren«, erwiderte der Lama im Tonfall der Autorität. »Laß uns nach Benares gehen.« »Nicht in der Nacht. Diebe treiben sich herum. Warte, bis es Tag wird.« »Aber es gibt keinen Ort zum Schlafen.« Der alte Mann war die Ordnung seines Klosters gewohnt, und wenn er auch auf dem Boden schlief, wie die Regel es vorschreibt, legte er bei diesen Dingen doch Wert auf Schicklichkeit. »Wir werden im Kaschmir-Serai gutes Quartier kriegen«, sagte Kim; er lachte über die Besorgnis des Lamas. »Ich habe da einen Freund. Komm!« Die heißen, wimmelnden Basare loderten von Lichtern, als sie sich ihren Weg durch das Gedränge aller Rassen Oberindiens bahnten, und der Lama nachtwandelte hindurch wie einer, der träumt. Es war seine erste Begegnung mit einer großen, gewerbetreibenden Stadt, und der überfüllte Tramwagen mit seinen unausgesetzt quietschenden Bremsen erschreckte ihn. Halb gestoßen, halb gezerrt erreichte er das große Tor des Kaschmir-Serai: jenes riesigen offenen Gevierts gegenüber der Eisenbahnstation, umgeben von Bogengängen, wo die Kamel- und Pferdekarawanen einkehren, wenn sie aus Zentralasien zurückkommen. Hier fanden sich alle möglichen Leute aus dem Norden; sie versorgten angebundene Ponys und
kniende Kamele, luden Ballen und Bündel auf und ab, schöpften für das Nachtmahl Wasser mit den knarrenden Brunnenwinden; sie schütteten den schrill wiehernden, wildäugigen Hengsten Heu auf, knufften die rauhen Karawanenhunde, entlohnten Kameltreiber, stellten neue Knechte ein, fluchten, schrien, stritten und feilschten auf dem übervollen Platz. Die Bogengänge, die man über drei oder vier gemauerte Stufen erreichte, waren Häfen der Zuflucht um diese aufgewühlte See. Die meisten von ihnen waren an Händler vermietet, wie bei uns die Bögen eines Viadukts; der Raum zwischen Pfeiler und Pfeiler war mit Ziegeln oder Brettern in Kammern unterteilt, die von schweren Holztüren und sperrigen Vorhängeschlösser einheimischer Machart gesichert wurden. Verschlossene Türen zeigten an, daß der Besitzer abwesend war, und ein paar grobe – manchmal reichlich grobe – Kritzeleien mit Farbe oder Kreide gaben bekannt, wohin er gegangen war. Etwa so: »Lutuf Ullah ist nach Kurdistan gereist.« Darunter, in plumpen Verszeilen: »O Allah, der du duldest, daß Läuse leben im Rock eines Kabuli – warum nur lassest du diese Laus Lutuf so lange leben?« Kim beschirmte den Lama zwischen erregten Männern und erregten Tieren und drückte sich seitwärts die Bogengänge entlang, hin zum äußersten Ende nahe dem Bahnhof, wo Mahbub Ali der Pferdehändler hauste, wenn er aus dem geheimnisvollen Land jenseits der Pässe des Nordens nach Lahore kam. Kim hatte in seinem kurzen Leben schon viel mit Mahbub zu tun gehabt – vor allem zwischen seinem zehnten und seinem dreizehnten Jahr –, und der große kräftige Afghane, der seinen Bart scharlachrot gefärbt hatte (denn er war schon älter und wollte nicht, daß man seine grauen Haare sah), kannte den Wert des Jungen als Nachrichtenquelle. Manchmal trug er Kim auf, einen Mann, der gar nichts mit Pferden zu tun hatte, zu
beobachten: ihm einen ganzen Tag lang zu folgen und sich jeden zu merken, mit dem er redete. Kim entledigte sich dann abends seiner Geschichte, und Mahbub pflegte zuzuhören, ohne ein Wort oder eine Geste. Es ging um irgendein Ränkespiel, das wußte Kim; aber der Reiz der Sache war, daß er zu niemandem ein Sterbenswörtchen sagen durfte, außer zu Mahbub, der ihm herrliche Mahlzeiten dafür gab, noch ganz heiß, aus der Garküche am Kopfende des Serai, und einmal sogar ganze acht Annas in Münzen. »Er ist da«, sagte Kim; dabei schlug er einem übellaunigen Kamel auf die Nase. »Ohe, Mahbub Ali!« Er machte bei einem düsteren Bogen halt und schlüpfte hinter den verwirrten Lama. Der Pferdehändler, den tiefsitzenden, bestickten BucharaGürtel nicht gelöst, lag auf zwei Satteltaschen aus seidenem Teppichstoff und sog träge an einer riesigen silbernen hookah. Bei dem Ruf wandte er kaum den Kopf, und als er nur die hohe, stumme Gestalt sah, kam tief aus seiner Brust ein kicherndes Glucksen. »Allah! Ein Lama! Ein Roter Lama! Es ist weit von Lahore nach den Pässen. Was machst du hier?« Der Lama streckte mechanisch den Bettelnapf aus. »Gottes Fluch über alle Ungläubigen!« sagte Mahbub. »Ich gebe keinem lausigen Tibeter was; aber frag meine Baltis, da drüben, hinter den Kamelen. Vielleicht legen die Wert auf deinen Segen. He, Burschen, hier ist ein Landsmann von euch. Vielleicht hat er Hunger.« Ein geschorener, geduckter Balti, der mit den Pferden aus den Bergen gekommen und angeblich Anhänger eines ziemlich verkommenen Buddhismus war, katzbuckelte vor dem Priester und ersuchte den Heiligen mit dicken Kehllauten, sich an das Feuer der Pferdeknechte zu setzen. »Geh!« sagte Kim; er stieß ihn sanft an, und der Lama schritt davon und ließ Kim am Rand des Bogengangs zurück.
»Geh!« sagte Mahbub Ali. Er wandte sich wieder seiner hookah zu. »Verschwinde, kleiner Hindu. Gottes Fluch über alle Ungläubigen. Du kannst die von meinem Anhang anbetteln, die deines Glaubens sind.« »Maharadsch«, wimmerte Kim. Er verwendete die unter Hindus übliche Form der Anrede, und die Situation machte ihm großen Spaß. »Mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, mein Magen ist leer.« »Bettle bei meinen Pferdeknechten, sag ich dir. Bei den Leuten müssen ein paar Hindus sein.« »Oh, Mahbub Ali, bin ich vielleicht ein Hindu?« sagte Kim auf Englisch. Der Händler zeigte kein Erstaunen, sondern blickte nur unter zottigen Augenbrauen. »Kleiner Freund der ganzen Welt«, sagte er, »was soll das?« »Nichts. Ich bin jetzt der Jünger von diesem heiligen Mann, und wir machen zusammen eine Pilgerreise – nach Benares, sagt er. Er ist ziemlich verrückt, und ich habe Lahore satt. Ich brauch andere Luft und anderes Wasser.« »Aber für wen arbeitest du? Warum kommst du zu mir?« Die Stimme war harsch vor Argwohn. »Zu wem soll ich sonst gehen? Ich habe kein Geld. Es ist nicht gut, ohne Geld zu reisen. Du wirst den Offizieren viele Pferde verkaufen. Es sind feine Pferde, die neuen: Ich habe sie gesehen. Gib mir eine Rupie, Mahbub Ali, und wenn ich zu meinem Reichtum komme, geb ich dir einen Schuldschein und bezahle.« »Mhm!« machte Mahbub Ali; er überlegte schnell. »Du hast mich noch nie belogen. Ruf diesen Lama – und stell dich da ins Dunkel.« »Ah, er wird dasselbe sagen«, sagte Kim lachend. »Wir gehen nach Benares«, sagte der Lama, sobald er begriffen hatte, in welche Richtung Mahbub Alis Fragen
zielten. »Der Junge und ich. Ich will einen bestimmten Fluß suchen.« »Mag sein – aber der Junge?« »Er ist mein Jünger. Ich glaube, er ist mir geschickt worden, damit er mich zu diesem Fluß leitet. Ich saß unter einer Kanone, als er plötzlich gekommen ist. Solche Dinge sind Glücklichen geschehen, denen Führung gewährt wurde. Aber jetzt erinnere ich mich, er hat gesagt, er sei von dieser Welt – ein Hindu.« »Und wie heißt er?« »Das habe ich ihn nicht gefragt. Ist er denn nicht mein Jünger?« »Sein Land – seine Rasse – sein Heimatdorf? Moslem – Sikh – Hindu – Jain – niedrige oder hohe Kaste?« »Wozu sollte ich das fragen? Auf dem Mittleren Pfad gibt es weder hoch noch niedrig. Wenn er mein chela ist – soll, will, kann dann jemand ihn mir nehmen? Denn, siehst du, ohne ihn werde ich meinen Fluß nicht finden.« Er schüttelte feierlich den Kopf. »Niemand wird ihn dir nehmen. Geh, setz dich zu meinen Baltis«, sagte Mahbub Ali, und der Lama wandelte davon, beruhigt durch das Versprechen. »Ist er nicht ziemlich verrückt?« sagte Kim; er trat wieder vor, ins Licht. »Warum sollte ich dich belügen, Hadschi?« Mahbub paffte schweigend an seiner hookah. Dann begann er, beinahe flüsternd: »Ambala liegt am Weg nach Benares – wenn ihr beide wirklich dorthin geht.« »Tck! Tck! Ich sag dir doch, er kann gar nicht lügen – was wir beide sehr gut können.« »Und wenn du für mich eine Botschaft bis nach Ambala mitnimmst, gebe ich dir Geld. Es geht um ein Pferd – einen weißen Hengst, den ich einem Offizier verkauft habe, als ich das letzte Mal von den Pässen zurückgekommen bin. Aber
damals – komm näher und halt die Hände hoch, wie zum Betteln – war der Stammbaum des weißen Hengstes noch nicht völlig geklärt, und dieser Offizier, der jetzt in Ambala ist, hat mich gebeten, das zu klären.« (Hier beschrieb Mahbub Ali das Haus und das Äußere des Offiziers.) »Also, die Botschaft an den Offizier lautet: ›Der Stammbaum des weißen Hengstes ist vollständig ermittelt.‹ Daran wird er erkennen, daß du von mir kommst. Er wird dann sagen: ›Welchen Beweis hast du dafür?‹, und du wirst antworten: ›Mahbub Ali hat mir den Beweis gegeben.‹« »Und all das bloß für einen weißen Hengst«, sagte Kim; er kicherte, und seine Augen flackerten. »Den Stammbaum gebe ich dir jetzt – auf meine eigene Weise – und ein paar grobe Worte dazu.« Ein Schatten strich hinter Kim vorbei, und ein kauendes Kamel. »Allah! Meinst du, du wärst der einzige Bettler in der Stadt? Deine Mutter ist tot. Dein Vater ist tot. Das sagen alle von sich. Na gut…« Er drehte sich um, tastete neben sich auf dem Boden und warf dem Jungen einen Fladen weichen, fettigen Moslembrots zu. »Jetzt geh und schlaf diese Nacht bei meinen Pferdeknechten – du und der Lama. Morgen gebe ich dir vielleicht eine Arbeit.« Kim schlich beiseite, die Zähne im Brot, und wie er erwartet hatte, fand er ein Stückchen Seidenpapier, in Öltuch gewickelt, und drei silberne Rupien – ein dickes Geschenk. Er lächelte und stopfte Geld und Papier in seine lederne Amulettscheide. Der Lama, prächtig bewirtet von Mahbubs Baltis, schlief bereits in einer Ecke eines der Ställe. Kim legte sich neben ihn und lachte. Er wußte, daß er Mahbub Ali einen Dienst erwiesen hatte, und nicht eine Sekunde glaubte er an die Geschichte vom Stammbaum des Hengstes. Kim ahnte jedoch nicht, daß Mahbub Ali, bekannt als einer der besten Pferdehändler im Punjab, als reicher und
wagemutiger Handelsherr, dessen Karawanen bis weit in unbekannte Länder vordrangen, in einem der weggesperrten Bücher des Indischen Vermessungsamts als C.25.I.B geführt wurde. Zwei- oder dreimal im Jahr pflegte C.25 eine kleine Geschichte einzuschicken, schlecht erzählt aber höchst interessant, und im allgemeinen der Wahrheit entsprechend – man überprüfte die Geschichten anhand der Berichte von R.17 und M.4. Die Geschichten betrafen alle möglichen entlegenen Fürstentümer in den Bergen, Forscher, die keine Engländer waren, und den Handel mit Gewehren – sie waren, kurz gesagt, ein kleiner Teil der großen Menge »eingegangener Informationen«, auf Grund derer die Indische Regierung handelt. Vor kurzem waren jedoch fünf verbündete Könige, die sich nicht zu verbünden hatten, von einer liebenswürdigen Macht im Norden informiert worden, daß durch ein Leck Neuigkeiten aus ihren Territorien nach Britisch Indien sickerten. Dies verdroß die Premierminister jener Könige ernstlich, und sie unternahmen Schritte auf orientalische Art. Unter vielen anderen verdächtigten sie auch den polternden rotbärtigen Pferdehändler, dessen Karawanen, bis zum Bauch im Schnee, ihre befestigten Lande durchzogen. Jedenfalls war seine Karawane dieses Mal bei der Heimreise zweimal aus dem Hinterhalt überfallen und beschossen worden; dabei hatten Mahbubs Männer drei fremde Strolche erledigt, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht für diese Sache bezahlt worden waren. Deshalb hatte Mahbub darauf verzichtet, in der ungesunden Stadt Peshawar halt zu machen, und war ohne Unterbrechung bis nach Lahore weitergezogen, wo er, da er die Leute seines Landes kannte, mit seltsamen Entwicklungen rechnete. Und Mahbub Ali trug etwas bei sich, das er keine Stunde länger als nötig zu behalten wünschte – ein Stückchen eng gefalteten Seidenpapiers, in Öltuch gewickelt –, ein
unpersönlicher, nicht adressierter Bericht, mit fünf mikroskopischen Nadelstichen in einer Ecke, der die fünf verbündeten Könige, die teilnahmsvolle Macht im Norden, einen Hindu-Bankier in Peshawar, eine belgische Firma, die Gewehre herstellte, und einen bedeutenden, halbautonomen mohammedanischen Herrscher weiter im Süden schmählichst verriet. Letzteres war die Arbeit von R.17, und Mahbub hatte es jenseits des Dora-Passes übernommen und leitete es für R.17 weiter, der aus Gründen, die sich seiner Kontrolle entzogen, seinen Beobachtungsposten nicht verlassen konnte. Dynamit war sanft und unschädlich neben diesem Bericht von C. 25; und sogar ein Orientale mit orientalischen Auffassungen vom Wert der Zeit konnte sehen, daß es desto besser war, je früher der Bericht in die richtigen Hände geriet. Mahbub lag nicht sonderlich viel daran, gewaltsam zu sterben, denn jenseits der Grenze lagen noch zwei oder drei unerledigte Familienangelegenheiten – Blutfehden – in seinen Händen, und sobald diese Rechnungen beglichen waren, wollte er sich als mehr oder weniger tugendhafter Bürger zur Ruhe setzen. Seit seiner Ankunft vor zwei Tagen war er noch nicht aus dem Tor des Serai getreten, hatte jedoch mit auffälligem Gehabe Telegramme verschickt – nach Bombay, wo er einen Teil seines Geldes hinterlegt hatte; nach Delhi, wo ein Sub-Partner von seiner Sippe dem Agenten eines Rajputana-Staats Pferde verkaufte; und nach Ambala, wo ein Engländer aufgeregt nach dem genauen Stammbaum eines weißen Hengstes verlangte. Der öffentliche Briefschreiber, der das Englische beherrschte, verfaßte treffliche Telegramme wie etwa: »Creighton, Laurel Bank, Ambala. – Pferd wie schon gemeldet Araber. Verzögerung Stammbaum bedauerlich, wird übermittelt.« Und später, an die gleiche Adresse: »Verzögerung sehr bedauerlich. Werde Stammbaum übermitteln.« An seinen Sub-Partner in Delhi drahtete er: »Lutuf Ullah. – Zweitausend Rupien
telegrafisch überwiesen, dein Konto, Luchman Narains Bank.« Das war vollkommen geschäftsmäßig, aber jedes dieser Telegramme wurde von Interessenten, die sich für davon betroffen hielten, wieder und wieder diskutiert, bevor sie von einem einfältigen Balti, der unterwegs alle möglichen Leute lesen ließ, zur Bahnstation gebracht wurden. Als Mahbub in seiner eigenen bildhaften Sprache die Brunnen der Nachforschung mit dem Stab der Vorsicht getrübt hatte, war Kim ihm in die Hände gefallen, wie vom Himmel gesandt; und da er gleichermaßen schnell entschlossen wie gewissenlos war, hatte Mahbub Ali, gewöhnt daran, jede jähe Möglichkeit zu nutzen, ihn auf der Stelle in seinen Dienst gepreßt. Ein wandernder Lama und ein Junge aus niedriger Kaste als Diener mochten auf dem Weg durch Indien, das Land der Pilger, einen Moment lang Interesse erregen; aber niemand würde sie verdächtigen oder, was wichtiger war, berauben. Er rief nach einer neuen Glutkugel für seine hookah und begrübelte die Angelegenheit. Wenn es zum Allerschlimmsten kam und dem Jungen etwas zustieß, würde das Papier niemandem Scherereien eintragen. Und er würde sich dann in aller Ruhe nach Ambala begeben und – mit einem gewissen Risiko, frischen Verdacht zu erregen – seine Geschichte den betroffenen Personen mündlich vorbringen. Der Bericht von R.17 war jedoch der Kernpunkt der ganzen Affaire, und es wäre entschieden ungelegen, wenn er nicht in die richtigen Hände geriete. Aber wie auch immer, Allah ist groß, und Mahbub Ali fand, er habe alles getan, was er im Augenblick tun könne. Kim war der einzige Mensch auf der Welt, der ihn noch nie belogen hatte. Das wäre ein verhängnisvoller Fleck auf Kims Charakter gewesen, wenn Mahbub nicht gewußt hätte, daß Kim für seine eigenen
Absichten oder Mahbubs Geschäfte lügen konnte wie ein Orientale. Dann stampfte Mahbub quer über das Serai zum Tor der Harpyien, die ihre Augen anmalen und den Fremden einfangen, und er hatte einige Mühe, jenes Mädchen zu finden, das, wie zu vermuten er Gründe hatte, eng befreundet war mit einem glattgesichtigen kaschmirischen pandit, der seinem einfältigen Balti wegen der Telegramme aufgelauert hatte. Es war ein vollendet unsinniges Unterfangen, denn sie begannen, wider des Propheten Gesetz parfümierten Branntwein zu trinken, und Mahbub wurde herrlich betrunken, und die Gatter seines Mundes öffneten sich, und er stellte der Blume der Wonne auf Füßen des Rausches nach, bis er platt in die Kissen fiel, wo die Blume der Wonne ihn mit Hilfe eines glattgesichtigen kaschmirischen pandits von Kopf bis Fuß überaus gründlich untersuchte. Etwa zur gleichen Stunde hörte Kim leise Füße in Mahbubs verlassenem Verschlag. Der Pferdehändler hatte, was seltsam genug war, seine Tür nicht abgeschlossen, und seine Männer waren völlig damit beschäftigt, ihre Rückkehr nach Indien mit einem ganzen Schaf zu feiern, das Mahbub in seiner Großmut gestiftet hatte. Ein geschmeidiger junger Gentleman aus Delhi, bewaffnet mit einem Schlüsselbund, den die Blume vom Gürtel des Bewußtlosen gelöst hatte, untersuchte jede einzelne Kiste, jedes Bündel, jede Matte und Satteltasche in Mahbubs Besitz noch weit systematischer, als die Blume und der pandit es mit dem Besitzer taten. »Und ich glaube«, sagte die Blume eine Stunde später verächtlich, wobei sie einen ihrer rundlichen Ellenbogen auf den schnarchenden Kadaver stützte, »er ist nichts weiter als ein Schwein von einem afghanischen Pferdehändler, ohne andere Gedanken als an Weiber und Pferde. Außerdem hat er es
vielleicht schon abgeschickt – wenn es überhaupt je so ein Ding gegeben hat.« »Nein – in einer Sache, die die Fünf Könige betrifft, würde er so etwas nahe an seinem schwarzen Herzen tragen«, sagte der pandit. »War da gar nichts?« Der Mann aus Delhi lachte und rückte seinen Turban zurecht, als er eintrat. »Ich habe zwischen den Sohlen seiner Pantoffeln gesucht wie die Blume in seinen Kleidern. Das ist nicht unser Mann, sondern ein anderer. Mir entgeht so leicht nichts.« »Sie haben nicht gesagt, daß er genau der Mann ist«, sagte der pandit nachdenklich. »Sie haben gesagt: ›Seht nach, ob er der Mann ist, denn wir sind unschlüssig in unseren Beratungen.‹« »In diesem Nordland gibt es so viele Pferdehändler wie Läuse in einem alten Rock. Da ist Sikander Khan, dann Nur Ali Beg, und Farrukh Shah – alles Häupter von kafilas [Karawanen], und alle machen da oben Geschäfte«, sagte die Blume. »Die sind noch nicht zurück«, sagte der pandit. »Du mußt sie später verstricken.« »Puh!« sagte die Blume mit tiefem Abscheu; sie rollte Mahbubs Kopf von ihrem Schoß. »Ich verdiene schon mein Geld. Farrukh Shah ist ein Bär, Ali Beg ein Großmaul, und der alte Sikander Khan – yaie! Geht! Ich will jetzt schlafen. Das Schwein hier wird sich nicht vor dem Morgen rühren.« Als Mahbub erwachte, redete die Blume ihm streng ins Gewissen, die Sünde des Trunks betreffend. Asiaten zwinkern nicht, wenn sie einen Feind überlistet haben, aber als Mahbub Ali sich räusperte, den Gürtel enger zog und im Licht der Sterne des frühen Morgens hinaustaumelte, war er nahe daran, es doch zu tun. ›Was für ein alberner Trick!‹ sagte er sich. ›Als ob den nicht sogar jedes Mädchen in Peshawar kennt! Aber es war nett
gemacht. Nun weiß Gott allein, wie viele noch auf der Straße sind, die den Auftrag haben, mich zu überprüfen – vielleicht mit einem Messer. Es steht also fest, der Junge muß nach Ambala – und zwar mit dem Zug – das Schreiben ist nämlich sehr dringend. Ich bleibe hier, folge der Blume und trinke Wein, wie es einem afghanischen Pferdehändler zusteht.‹ Er blieb beim zweitletzten Verschlag vor seinem eigenen stehen. Dort lagen seine Männer in tiefem Schlaf. Von Kim oder dem Lama war nichts zu sehen. »Auf!« Er rüttelte einen der Schläfer. »Wohin sind die gegangen, die am Abend hier gelegen haben – der Lama und der Junge? Ist etwas geschehen?« »Nein«, grunzte der Mann. »Der alte Verrückte ist beim zweiten Hahnenschrei aufgestanden und hat gesagt, er geht jetzt nach Benares, und der Junge hat ihn weggeführt.« »Allahs Fluch über alle Ungläubigen!« sagte Mahbub aus vollem Herzen und kletterte in seinen eigenen Verschlag; dabei knurrte er in den Bart. Aber es war Kim, der den Lama geweckt hatte – Kim, der mit einem Auge am Astloch in der Bretterwand gesehen hatte, wie der Mann aus Delhi die Kisten untersuchte. Das war kein gewöhnlicher Dieb, der da Briefe, Rechnungen und Sättel durchwühlte – kein einfacher Einbrecher, der ein winziges Messer von der Seite zwischen die Sohlen von Mahbubs Pantoffeln steckte und so geschickt die Säume der Satteltaschen auftrennte. Zuerst hatte Kim Alarm geben wollen – das langgezogene choor! choor! [Dieb! Dieb!], das nachts das Serai aufschreckt; aber er schaute dann noch genauer hin, legte die Hand an sein Amulett und zog seine eigenen Schlüsse. ›Es muß um den Stammbaum dieser an den Haaren herbeigezogenen Pferdelüge gehen‹, sagte er sich, ›das Ding, das ich nach Ambala bringe. Besser, wir gehen sofort. Wer
Sättel mit Messern durchsucht, durchsucht vielleicht bald auch Bäuche mit Messern. Bestimmt steckt eine Frau dahinter.‹ – »He! He!« flüsterte er dem alten Mann ins Ohr, der einen leichten Schlaf hatte. »Komm! Es ist Zeit – Zeit, nach Benares zu gehen.« Der Lama erhob sich gehorsam, und wie Schatten verließen sie das Serai.
KAPITEL II
And whoso will, from Pride released, Contemning neither creed nor priest, May hear the soul of all the East About him at Kamakura. [Und wer dies will, von Stolz erlöst, nicht Glauben und nicht Priester schmäht, mag wohl des Ostens Seele fühlen um sich in Kamakura.]
Sie betraten den festungsartigen Bahnhof, schwarz am Ende der Nacht; Stromkabel zischten über den Güterschuppen, wo der große Getreideumschlag des Nordens abgewickelt wird. »Das ist Teufelswerk!« sagte der Lama; er schauderte zurück vor der hohl widerhallenden Dunkelheit, dem Glitzern der Schienen zwischen den gemauerten Bahnsteigen und dem Balkenlabyrinth in der Höhe. Er stand in einer riesigen steinernen Halle, die mit Leichen in Tüchern ausgelegt schien – Passagieren der dritten Klasse, die ihre Karten am Vorabend gekauft hatten und in den Wartesälen schliefen. Für Orientalen sind alle vierundzwanzig Stunden gleich, und entsprechend ist ihr Passagierverkehr geregelt. »Da kommen die Feuerwagen her. Ein Mann steht hinter dem Loch da«, – Kim deutete auf den Fahrkartenschalter – »und der gibt dir ein Papier, das dich nach Ambala bringt.« »Aber wir wollen nach Benares«, erwiderte der Lama verdrossen. »Das ist eins. Von mir aus Benares. Schnell: Er kommt!«
»Nimm du die Börse.« Der Lama war mit Zügen doch nicht so vertraut, wie er behauptet hatte, und er schrak zurück, als der nach Süden gehende Frühzug, der 3:25, hereingebraust kam. In die Schläfer fuhr Leben, und die Station füllte sich mit Lärm und Gebrüll, den Rufen der Wasser- und Kuchenverkäufer, Schreien eingeborener Polizisten und schrillem Gellen von Frauen, die ihre Körbe, Familien und Männer zusammensuchten. »Das ist der Zug – nur der te-rain. Er geht schon nicht auf uns los. Warte!« Verblüfft über die ungeheure Einfältigkeit des Lamas (er hatte ihm einen kleinen Beutel voll von Rupien gegeben), verlangte und bezahlte Kim eine Karte bis Ambala. Ein verschlafener Beamter grunzte und warf ihm eine Karte zur nächsten Station hin, gerade sechs Meilen entfernt. »Nein«, sagte Kim; er musterte die Karte mit einem Grinsen. »Mit Bauern kann man so etwas machen, aber ich wohne in der Stadt Lahore. Schlau gemacht, Babu. Jetzt gib mir die Karte nach Ambala.« Der Babu schnitt eine finstere Grimasse und legte die richtige Fahrkarte hin. »Jetzt noch eine nach Amritsar«, sagte Kim, der keineswegs die Absicht hatte, Mahbub Alis Geld auf etwas so Unwichtiges wie eine Fahrkarte nach Ambala zu verschwenden. »Das kostet soundsoviel. Und soviel bekomme ich wieder raus. Ich kenne mich mit dem te-rain aus… Niemals hat ein yogi so sehr einen chela gebraucht wie du«, fuhr er fröhlich fort, an den verwirrten Lama gewandt. »Wenn ich nicht wäre, hätten sie dich in Mian Mir aus dem Zug geworfen. Hier entlang! Komm!« Er gab ihm das Geld zurück und behielt nur einen Anna von jeder Rupie, die die Karte nach Ambala gekostet hatte, als Provision – die seit Urzeiten übliche Provision Asiens.
Angesichts der offenen Tür eines übervollen Wagens dritter Klasse scheute der Lama zurück. »Wollen wir nicht lieber wandern?« sagte er schwach. Ein stämmiger Sikh-Handwerker streckte seinen bärtigen Kopf heraus. »Hat er Angst? Du brauchst keine Angst zu haben. Ich kann mich noch erinnern, daß ich auch mal Angst vor dem te-rain hatte. Steig ein! Das Ding hier ist Regierungswerk.« »Ich habe keine Angst«, sagte der Lama. »Habt ihr noch Platz für zwei?« »Nicht mal für eine Maus«, keifte die Frau eines wohlhabenden Landwirts, eines Hindu-Jat aus dem reichen Distrikt von Jullundur. Unsere Nachtzüge werden nicht so gut beaufsichtigt wie die am Tag, in denen man die Geschlechter streng getrennt in verschiedenen Wagen fahren läßt. »Oh, Mutter meines Sohnes, wir können Platz machen«, sagte der Gatte, der einen blauen Turban trug. »Nimm das Kind auf den Schoß. Das ist ein heiliger Mann, siehst du?« »Und mein Schoß ist schon voll von siebzigmal sieben Bündeln! Warum forderst du ihn nicht gleich auf, sich auf meine Knie zu setzen, du Schamloser? Aber Männer sind nun mal so!« Sie sah sich beifallheischend um. Eine Kurtisane aus Amritsar, die am Fenster saß, zog hinter ihrem schmückenden Kopfschleier scharf die Luft ein. »Steig ein! Steig ein!« rief ein fetter Geldverleiher, ein Hindu; er trug sein Kontobuch in ein Tuch gewickelt unter dem Arm. Mit öligem Grinsen: »Es ist gut, freundlich zu den Armen zu sein.« »Ja, zu sieben Prozent monatlich und mit einem Pfandschein auf das ungeborene Kalb«, sagte ein junger Dogra-Soldat, der auf Urlaub nach Süden fuhr, und alle lachten. »Fährt er denn wirklich nach Benares?« sagte der Lama.
»Ganz bestimmt. Weshalb wären wir sonst hier? Steig ein, oder wir bleiben hier sitzen«, rief Kim. »Seht mal!« kreischte das Mädchen aus Amritsar. »Er ist noch nie in einen Zug gestiegen. Seht euch das bloß an!« »Nein, helft lieber«, sagte der Landwirt; er streckte eine große braune Hand aus und zog ihn herein. »So wird es gemacht, Vater.« »Aber… aber… ich will mich auf den Boden setzen. Es ist gegen das Gesetz, auf einer Bank zu sitzen«, sagte der Lama. »Außerdem macht es mir Krämpfe.« »Ich sage immer«, begann der Geldverleiher, wobei er seine Lippen vorstülpte, »es gibt keine einzige Regel eines geziemenden Lebens, die diese te-rains uns nicht zu brechen zwingen. Zum Beispiel sitzen wir neben allen möglichen Kasten und Leuten.« »Ja, und neben überaus schändlichen und schamlosen dazu«, sagte die Gemahlin; sie warf dem Mädchen aus Amritsar, das dem jungen Sepoy schöne Augen machte, finstere Blicke zu. »Ich habe ja gleich gesagt, wir hätten mit dem Karren auf der Straße fahren und dabei noch einiges Geld sparen können«, sagte der Gatte. »Ja – und zweimal so viel wie wir sparen unterwegs für Essen ausgeben. Wir haben das doch zehntausendmal besprochen.« »Ja, und zwar mit zehntausend Zungen«, knurrte er. »Die Götter sollen uns armen Frauen beistehen, wenn wir nicht mal mehr reden dürfen. Aha! Er gehört zu der Sorte, die weder mit einer Frau reden noch sie anschauen darf.« Den Forderungen seiner Regel entsprechend nahm der Lama nämlich von ihr keinerlei Notiz. »Und sein Jünger ist genauso?«
»Nein, Mutter«, sagte Kim sehr schnell. »Nicht, wenn die Frau gut aussieht und vor allem mildherzig zu den Hungrigen ist.« »Die Antwort eines Bettlers«, sagte der Sikh lachend. »Die hast du dir selbst zuzuschreiben, Schwester.« Kim hatte seine Hände flehend gekrümmt. »Und wohin fährst du?« sagte die Frau; sie reichte ihm die Hälfte eines Kuchens aus einem fettigen Päckchen. »Bis nach Benares.« »Seid ihr vielleicht Gaukler?« meinte der junge Soldat. »Kennt ihr irgendwelche Tricks, um uns die Zeit zu vertreiben? Warum antwortet der gelbe Mann da nicht?« »Weil er heilig ist«, sagte Kim stolz, »und über Dinge nachdenkt, die dir verborgen sind.« »Das kann schon sein. Wir von den Ludhiana-Sikhs« – er sang es förmlich mit tiefer Stimme – »plagen uns die Köpfe nicht mit Lehren. Wir kämpfen.« »Der Sohn des Bruders meiner Schwester ist naik [Korporal] in dem Regiment«, sagte der Sikh-Handwerker ruhig. »Es soll da auch ein paar Dogra-Kompanien geben.« Der Soldat blickte böse drein, denn ein Dogra gehört einer niedrigeren Kaste an als ein Sikh, und der Bankier kicherte. »Mir sind sie alle gleich«, sagte das Mädchen aus Amritsar. »Das glauben wir gern.« Die Frau des Landwirts schnaufte boshaft. »Ich meine doch, daß alle, die dem Sirkar mit der Waffe in der Hand dienen, wie eine große Bruderschaft sind. Es gibt eine Bruderschaft der Kaste, aber noch darüber steht doch« – sie blickte schüchtern um sich – »die Gemeinschaft des pulton – des Regiments – oder?« »Mein Bruder ist in einem Jat-Regiment«, sagte der Landwirt. »Dogras sind tüchtige Männer.«
»Deine Sikhs wenigstens waren dieser Meinung«, sagte der Soldat; er warf dem gleichmütigen alten Mann in der Ecke einen scheelen Blick zu. »Deine Sikhs waren davon überzeugt, als wir ihnen mit unseren beiden Kompanien zu Hilfe gekommen sind, am Pirzai Kotal, gegen acht Afridi-Standarten auf dem Berg. Das ist noch keine drei Monate her.« Er erzählte die Geschichte eines Grenzgefechts, bei dem sich die Dogra-Kompanien der Ludhiana-Sikhs gut geschlagen hatten. Das Mädchen aus Amritsar lächelte, denn sie wußte, daß die Geschichte erzählt wurde, um ihren Beifall zu gewinnen. »O weh!« sagte die Frau des Landwirts am Schluß. »Dann sind also ihre Dörfer verbrannt und ihre kleinen Kinder heimatlos gemacht worden?« »Sie hatten unsere Toten verstümmelt. Sie haben bitter dafür bezahlt, nachdem wir von den Sikhs es ihnen gezeigt hatten. So ist es gewesen. – Ist das Amritsar?« »Ja, und hier knipsen sie unsere Fahrkarten«, sagte der Bankier; er suchte in seinem Gürtel. Die Lampen wurden schon bleich in der Morgendämmerung, als der halbblütige Schaffner seine Runde machte. Fahrkarten kontrollieren ist ein langsames Geschäft im Osten, wo die Leute ihre Karten an allen möglichen merkwürdigen Stellen verstecken. Kim zeigte seine vor und wurde hinausgewiesen. »Aber ich fahre nach Ambala«, protestierte er. »Ich gehöre zu diesem heiligen Mann.« »Von mir aus kannst du nach der Dschehenna fahren. Die Karte gilt nur bis Amritsar. Raus!« Kim brach in eine Flut von Tränen aus und beteuerte, der Lama sei für ihn Vater und Mutter, er selbst sei die Stütze der schwindenden Jahre des Lamas und der Lama werde ohne seinen Beistand sterben. Der ganze Wagen bat den Schaffner, gnädig zu sein – der Bankier war hier besonders beredt –, aber
der Schaffner beförderte Kim auf den Bahnsteig. Der Lama blinzelte – er kam mit den Ereignissen nicht mit –, und Kim erhob seine Stimme und weinte vor dem Abteilfenster. »Ich bin ganz arm. Mein Vater ist tot – meine Mutter ist tot. O ihr Barmherzigen – wenn ich hier zurückbleibe, wer soll sich dann um diesen alten Mann kümmern?« »Was – was ist das?« sagte der Lama mehrmals. »Er muß nach Benares reisen. Er muß mit mir kommen. Er ist mein chela. Wenn Geld bezahlt werden muß…« »Oh, sei doch still«, flüsterte Kim; »sind wir denn Radschas, daß wir gutes Silber aus dem Fenster werfen, wo die Welt doch so mildtätig ist?« Das Mädchen aus Amritsar stieg mit ihren Bündeln aus, und sie war diejenige, an der Kims wachsames Auge hing. Damen dieses Bekenntnisses waren großmütig, wie er wohl wußte. »Eine Fahrkarte – ein kleines tikkut bis Ambala – o Brecher in der Herzen!« Sie lachte. »Hast du kein Erbarmen?« »Kommt der heilige Mann aus dem Norden?« »Von ganz, ganz weit im Norden kommt er«, rief Kim. »Aus den Bergen.« »Es liegt Schnee zwischen den Fichtenstämmen im Norden – in den Bergen liegt Schnee. Meine Mutter war aus Kulu. Hol dir eine Karte. Bitte ihn um einen Segen.« »Zehntausendfacher Segen«, kreischte Kim. »O heiliger Mann, eine Frau hat uns barmherzig gegeben, damit ich mit dir kommen kann – eine Frau mit einem goldenen Herzen. Ich renne, wegen dem tikkut.« Das Mädchen schaute zu dem Lama auf, der Kim automatisch auf den Bahnsteig gefolgt war. Er neigte den Kopf, um sie nicht zu sehen, und murmelte etwas auf Tibetisch, während sie mit der Menge fortging. »Leicht verdient – leicht verschenkt«, sagte die Frau des Landwirts giftig.
»Sie hat Verdienst erworben«, erwiderte der Lama. »Ohne Zweifel war das eine Nonne.« »Von der Sorte Nonnen gibt es allein in Amritsar zehntausend. Komm zurück, alter Mann, sonst fährt der Zug noch ohne dich ab«, rief der Bankier. »Es hat nicht nur für die Karte gereicht, sondern auch für ein bißchen Essen«, sagte Kim; er hüpfte an seinen Platz. »Nun iß, heiliger Mann. Schau. Der Tag kommt.« Golden, rosenfarben, safrangelb und rosa verdampften die Morgennebel weit über die flache grüne Ebene hin. Der ganze reiche Punjab lag da im Glanz der hellen Sonne. Der Lama zuckte ein wenig, als die Telegraphenmasten vorüberhuschten. »Gewaltig ist die Geschwindigkeit des te-rain«, sagte der Bankier mit herablassendem Grinsen. »Seit Lahore sind wir schon weiter gefahren, als du in zwei Tagen gehen könntest; am Abend werden wir nach Ambala kommen.« »Und das ist noch weit von Benares«, sagte der Lama müde; er knabberte an den Kuchen, die Kim ihm reichte. Alle öffneten ihre Bündel und nahmen ihr Morgenmahl ein. Dann stopften der Bankier, der Landwirt und der Soldat ihre Pfeifen und hüllten das Abteil in beißenden, stickigen Rauch; sie spuckten und husteten und ließen es sich Wohlsein. Der Sikh und die Frau des Landwirts kauten pan; der Lama nahm Schnupftabak und betete die Perlen seines Rosenkranzes, während Kim mit untergeschlagenen Beinen dasaß und lächelte, wegen des Behagens, das ein voller Magen bewirkt. »Welche Flüsse habt ihr denn bei Benares?« sagte plötzlich der Lama, an den ganzen Wagen allgemein gewandt. »Wir haben Ganga«, erwiderte der Bankier, als das leise Kichern verstummt war. »Welche noch?« »Welche sollte es noch geben, neben Ganga?« »Ach, ich hatte an einen bestimmten Fluß des Heils gedacht.«
»Das ist Ganga. Wer in ihr badet, wird dadurch rein gemacht und kommt zu den Göttern. Dreimal bin ich zu Ganga gepilgert.« Er blickte stolz umher. »Es war wohl nötig«, sagte der junge Sepoy trocken, und das Gelächter der Reisenden wandte sich gegen den Bankier. »Rein – um wieder zu den Göttern zu kommen«, murmelte der Lama. »Und von neuem in die Abfolge der Leben einzugehen – noch immer auf das Rad gefesselt.« Er schüttelte mürrisch den Kopf. »Aber vielleicht gibt es da einen Irrtum. Wer hat denn Ganga im Anfang erschaffen?« »Die Götter. Welchem der bekannten Glauben gehörst du eigentlich an?« sagte der Bankier erschrocken. »Ich befolge das Gesetz – das Höchst Vortreffliche Gesetz. Dann waren es also die Götter, die Ganga erschaffen haben. Welche Art von Göttern war das denn?« Der ganze Wagen blickte ihn völlig verblüfft an. Es war unvorstellbar, daß jemand nichts von Ganga wissen sollte. »Was – was ist denn dein Gott?« sagte der Geldverleiher schließlich. »Hört!« sagte der Lama; er schob sich den Rosenkranz über die Hand. »Hört: Denn ich rede nun von Ihm! O Leute von Hind, lauscht!« Er begann auf Urdu mit der Geschichte des HErren Buddha; von seinen Gedanken fortgetragen, geriet er jedoch bald ins Tibetische und in langwierige, monotone Texte aus einem chinesischen Buch über das Leben des Buddha. Die sanftmütigen, duldsamen Leute sahen ehrfürchtig zu. Ganz Indien ist voll von heiligen Männern, die in seltsamen Zungen frohe Botschaften stammeln, erschüttert und aufgezehrt von den Feuern ihres eigenen Eifers; Träumer, Schwätzer und Visionäre: wie es von Anfang an war und bis zum Ende sein wird.
»Hm!« machte der Soldat von den Ludhiana-Sikhs. »Ein mohammedanisches Regiment hat gleich neben uns am Pirzai Kotal gelegen, und einer von ihren Priestern – es war, wenn ich mich recht erinnere, ein naik – hat Prophezeiungen ausgestoßen, wenn es ihn überkam. Aber alle Wahnsinnigen sind in Gottes Obhut. Seine Offiziere haben dem Mann vieles nachgesehen.« Der Lama fiel wieder ins Urdu zurück, als er sich daran erinnerte, daß er in einem fremden Land war. »Hört die Geschichte vom Pfeil, den unser HErr von seinem Bogen abschoß«, sagte er. Das war viel eher nach ihrem Geschmack, und sie lauschten neugierig, während er erzählte. »Nun, o Leute von Hind, reise ich, um diesen Fluß zu suchen. Wißt ihr etwas, das mich leiten könnte, denn wir alle sind Männer und Frauen in einer üblen Hülle.« »Es gibt Ganga – und nur Ganga –, die die Sünde abwäscht«, rann das Murmeln durch den Wagen. »Obwohl wir ohne Frage auch bei uns in Jullundur gute Götter haben«, sagte die Frau des Landwirts; sie schaute aus dem Fenster. »Seht, wie sie die Ernten gesegnet haben.« »Jeden einzelnen Fluß im Punjab aufzusuchen ist keine Kleinigkeit«, sagte ihr Mann. »Für mich ist ein Strom genug, der guten Schlamm auf meinem Land zurückläßt, und ich danke Bhumia, dem Gott der Heimstätte.« Er hob eine knotige, bronzene Schulter. »Glaubst du, daß unser HErr so weit nach Norden gekommen ist?« sagte der Lama; er wandte sich Kim zu. »Das kann sein«, antwortete Kim besänftigend, während er roten pan-Saft auf den Boden spuckte. »Der letzte der Erhabenen«, sagte der Sikh gewichtig, »war Sikander Julkarn [Alexander der Große]. Er hat die Straßen von Jullundur gepflastert und eine große Zisterne nahe Ambala
gebaut. Das Pflaster hält heute noch, und auch die Zisterne ist noch da. Von deinem Gott habe ich nie gehört.« »Laß dein Haar lang wachsen und sprich Punjabi«, sagte der junge Soldat scherzhaft zu Kim; das war ein Sprichwort aus dem Norden. »Das ist alles, was einen Sikh ausmacht.« Er sagte dies aber nicht sehr laut. Der Lama seufzte und sank in sich zusammen, eine dunkelbraune formlose Masse. Wenn sie in ihrem Gespräch Pausen machten, konnten sie das leise tiefe Summen – »Om mani padme hum! Om mani padme hum!« – und das dicke Klicken der Holzperlen des Rosenkranzes hören. »Es schmerzt mich«, sagte er schließlich. »Die Schnelligkeit und das Rattern schmerzen mich. Außerdem, mein chela, glaube ich, daß wir den Fluß vielleicht schon überquert haben.« »Ruhig, ruhig«, sagte Kim. »War denn der Fluß nicht in der Nähe von Benares? Davon sind wir noch weit entfernt.« »Aber – wenn unser HErr in den Norden gekommen ist, dann kann es jeder dieser kleinen Flüsse gewesen sein, die wir überquert haben.« »Ich weiß es nicht.« »Aber du bist mir doch geschickt worden – bist du mir nicht geschickt worden? – wegen des Verdienstes, das ich mir dort oben in Such-zen erworben hatte. Von der Kanone bist du gekommen – mit zwei Gesichtern – und zwei Gewändern.« »Still. Über solche Dinge sollte man hier nicht reden«, flüsterte Kim. »Ich war doch nur einer. Denk nochmal nach, dann wirst du dich erinnern. Ein Junge – ein Hindujunge – neben der großen grünen Kanone.« »Aber war da denn nicht auch ein Engländer mit weißem Bart – heilig zwischen Bildwerken –, und hat er selbst mich nicht noch sicherer gemacht in meiner Sicherheit über den Fluß des Pfeils?«
»Er ist – wir sind zusammen ins Ajaib-Gher in Lahore gegangen, um dort vor den Göttern zu beten«, erklärte Kim der unverhohlen lauschenden Gesellschaft. »Und der Sahib vom Wunder-Haus hat mit ihm geredet – ja, das ist die Wahrheit – wie mit einem Bruder. Er ist ein sehr heiliger Mann, von weit hinter den Bergen. Nun ruh dich aus. Wir werden rechtzeitig nach Ambala kommen.« »Aber mein Fluß – der Fluß, der mich heilt?« »Und dann, wenn du magst, werden wir diesen Fluß zu Fuß suchen. Damit wir nichts verpassen – nicht mal den kleinsten Bach am Feldrand.« »Aber du bist doch selbst auch auf einer Suche?« Der Lama – sehr zufrieden, weil er sich so gut erinnerte – setzte sich bolzengerade hin. »Ja«, sagte Kim, um ihm eine Freude zu machen. Der Junge war restlos glücklich damit, hier zu sitzen, pan zu kauen und neue Leute in der großen gutgelaunten Welt zu sehen. »Es war ein Stier – ein Roter Stier, der kommen und dir helfen wird – und dich tragen – wohin? Das habe ich vergessen. Ein Roter Stier auf einem grünen Feld, oder?« »Nein, er wird mich nirgendwohin tragen«, sagte Kim. »Das ist bloß ein Märchen, das ich dir erzählt hab.« »Was ist das?« Die Frau des Landwirts beugte sich vor; die Spangen an ihrem Arm klirrten. »Träumt ihr etwa beide Träume? Ein Roter Stier auf einem grünen Feld, der dich zu den Himmeln tragen wird – oder was? War das eine Vision? Hat jemand das geweissagt? Wir haben in unserem Dorf, hinter Jullundur, einen roten Stier, und der grast mit Vorliebe auf dem grünsten unserer Felder.« »Gib einer Frau ein Altweibermärchen und einem Webervogel ein Blatt und einen Faden, dann werden sie die wunderlichsten Dinge weben«, sagte der Sikh. »Alle heiligen
Männer haben Träume, und indem sie den heiligen Männern folgen, erlangen ihre Jünger auch diese Gabe.« »Ein Roter Stier auf einem grünen Feld, nicht wahr?« wiederholte der Lama. »Vielleicht hast du in einem früheren Leben Verdienst erworben, und der Stier wird kommen, um dich zu belohnen.« »Nein – nein – das war nur eine Geschichte, die mir jemand erzählt hat – wohl, um sich einen Spaß zu machen. Aber ich werde bei Ambala nach dem Stier suchen, und du kannst dich nach deinem Fluß umsehen und dich vom Rattern des Zugs erholen.« »Vielleicht weiß der Stier Bescheid – vielleicht wird er geschickt, um uns beide zu leiten«, sagte der Lama, hoffnungsvoll wie ein Kind. Dann wandte er sich an die Reisegefährten, wobei er auf Kim deutete: »Dieser ist mir erst gestern geschickt worden. Er ist, glaube ich, nicht von dieser Welt.« »Bettler habe ich haufenweise getroffen, und heilige Männer dazu, aber noch nie so einen yogi und auch nie so einen Jünger«, sagte die Frau. Ihr Mann faßte sich sanft mit einem Finger an die Stirn und lächelte. Aber als der Lama das nächste Mal essen mochte, beeilten sie sich, ihm von ihrem Besten abzugeben. Und endlich – müde, verschlafen und staubig – erreichten sie den Bahnhof von Ambala. »Wir bleiben hier wegen eines Gerichtsverfahrens«, sagte die Frau des Landwirts zu Kim. »Wir wohnen beim jüngeren Bruder des Vetters von meinem Mann. Auf dem Innenhof gibt es auch für de’menyogi und für dich Platz. Ob er – ob er mich wohl segnet?« »O heiliger Mann! Eine Frau mit einem goldenen Herzen gibt uns Unterkunft für die Nacht. Das ist ein freundliches Land,
hier im Süden. Sieh nur, wie sehr man uns seit dem Morgengrauen geholfen hat!« Der Lama neigte das Haupt zum Segen. »Also, das Haus des jüngeren Bruders meines Vetters mit Herumtreibern zu füllen…« begann der Mann, als er seinen schweren Bambusstab schulterte. »Der jüngere Bruder deines Vetters schuldet dem Vetter meines Vaters noch etwas von der Hochzeitsfeier seiner Tochter«, sagte die Frau scharf. »Er soll das, was die beiden essen, auf diese Rechnung schreiben. Der yogi wird ja sicher betteln.« »Ja, ich bettle für ihn«, sagte Kim; ihm lag nur daran, den Lama für die Nacht gut unterzubringen, damit er Mahbub Alis Engländer suchen und den Stammbaum des weißen Hengstes loswerden konnte. Als der Lama im Innenhof eines anständigen Hinduhauses hinter den Kasernen vor Anker gegangen war, sagte Kim: »Ich gehe jetzt eine Weile fort, um – um uns im Basar etwas zu essen zu kaufen. Geh nicht weit fort, bis ich zurückkomme.« »Du kommst zurück? Du kommst ganz bestimmt zurück?« Der alte Mann faßte ihn am Handgelenk. »Und du kommst in derselben Gestalt zurück? Ist es schon zu spät, um heute abend noch nach dem Fluß zu suchen?« »Zu spät und zu dunkel. Sorge dich nicht. Denk mal, wie weit du schon gekommen bist – hundert kos schon seit Lahore.« »Ja – und noch weiter von meinem Kloster. Ach, es ist eine große und schreckliche Welt.« Kim stahl sich hinaus und fort, die unauffälligste Gestalt, die wohl je ihr eigenes Schicksal und das einiger zigtausend anderer Menschen um den Hals gebunden trug. Mahbub Alis Beschreibungen ließen ihm wenig Zweifel über das Haus, in dem sein Engländer lebte; und ein Knecht, der einen dog-cart, vom Club heimfuhr, machte ihn vollends sicher. Nun mußte er
nur noch seinen Mann identifizieren, und Kim schlüpfte durch die Gartenhecke und versteckte sich in einem Büschel Federgras nahe der Veranda. Das Haus war taghell erleuchtet, und Diener bewegten sich zwischen Tischen, die mit Blumen, Glas und Silber gedeckt waren. Bald schon trat ein Engländer aus dem Haus; er war in Schwarz und Weiß gekleidet und summte eine Melodie. Es war zu dunkel, um sein Gesicht sehen zu können, also versuchte Kim es wie ein Bettler mit einem alten Trick. »Beschützer der Armen!« Rückwärts näherte sich der Mann der Stimme. »Mahbub Ali sagt…« »Hah! Was sagt Mahbub Ali?« Er machte keinen Versuch, den Sprecher zu sehen, und das zeigte Kim, daß er Bescheid wußte. »Der Stammbaum des weißen Hengstes ist vollständig ermittelt.« »Welche Beweise gibt es?« Der Engländer hieb mit seinem Stöckchen nach der Rosenhecke neben der Auffahrt. »Mahbub Ali hat mir diesen Beweis gegeben.« Kim warf das Päckchen gefalteten Papiers in die Luft, und es fiel auf den Weg, neben den Mann, der seinen Fuß darauf stellte, als ein Gärtner um die Ecke kam. Als der Diener vorübergegangen war, hob er es auf, ließ eine Rupie fallen – Kim konnte das Klirren hören – und ging ins Haus, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Kim hob schnell das Geld auf; trotz all seiner Gewohnheiten war er jedoch von Geburt genügend Ire, um Silber für den geringsten Teil eines Spiels zu halten. Was er sehen wollte, war die sichtbare Wirkung einer Handlung; statt sich zu verdrücken, legte er sich daher platt ins Gras und schlängelte sich näher an das Haus heran. Er sah – indische Bungalows sind durchgehend offen – den Engländer zu einem kleinen Ankleidezimmer zurückkehren, in
einer Ecke der Veranda, das zur Hälfte auch Arbeitszimmer war, übersät mit Papieren und Depeschentaschen; dort setzte er sich, um Mahbub Alis Botschaft zu untersuchen. Sein Gesicht, genau im Strahl der Kerosinlampe, veränderte und verdüsterte sich, und Kim, gewohnt an die genaue Beachtung von Gesichtszügen, wie jeder Bettler es sein muß, bemerkte es wohl. »Will! Will, Liebling!« rief eine Frauenstimme. »Du solltest endlich in den Salon kommen. Sie müssen jeden Moment hier sein.« Der Mann las noch immer konzentriert. »Will!« sagte die Stimme fünf Minuten später. »Er ist da. Ich kann die Reiter in der Auffahrt hören.« Der Mann stürzte barhäuptig hinaus, als ein großer Landauer mit vier eingeborenen Kavalleristen dahinter an der Veranda hielt und ein großer, schwarzhaariger Mann, aufrecht wie ein Pfeil, sich herausschwang; ein fröhlich lachender junger Offizier ging ihm voran. Kim lag flach auf dem Bauch; er berührte beinahe die hohen Räder. Sein Mann und der schwarzhaarige Fremde wechselten zwei Sätze miteinander. »Natürlich, Sir«, sagte der junge Offizier sofort. »Wenn es um ein Pferd geht, hat alles andere zu warten.« »Wir werden höchstens zwanzig Minuten brauchen«, sagte Kims Mann. »Machen Sie doch die Honneurs – halten Sie sie bei Laune, Sie wissen schon.« »Sagen Sie einem der Männer, er soll warten«, sagte der große Mann, und beide gingen zusammen ins Ankleidezimmer, während der Landauer davonrollte. Kim sah, wie sich ihre Köpfe über Mahbub Alis Botschaft beugten, und hörte die Stimmen – die eine leise und achtungsvoll, die andere scharf und bestimmt.
»Das ist keine Frage von Wochen. Es geht um Tage – beinahe Stunden«, sagte der Ältere. »Ich hatte seit einiger Zeit damit gerechnet, aber das hier« – er tippte auf Mahbub Alis Papier – »klärt es endgültig. Grogan kommt doch heute abend zum Dinner her, oder?« »Ja, Sir, und Macklin auch.« »Sehr gut. Mit denen rede ich selbst. Die Sache wird natürlich dem Rat vorgelegt, aber das ist wohl ein Fall, in dem man mit Recht davon ausgehen kann, daß wir sofort handeln werden. Alarmieren Sie die Brigaden in Pindi und Peshawar. Das wird alle Sommer-Ablösungen durcheinanderbringen, aber da kann man nichts machen. Das haben wir davon, daß wir sie nicht beim ersten Mal gründlich erledigt haben. Achttausend müßten reichen.« »Wie steht es mit Artillerie, Sir?« »Das muß ich mit Macklin klären.« »Dann bedeutet es also Krieg?« »Nein. Bestrafung. Wenn ein Mann durch die Taten seines Vorgängers gebunden ist…« »Aber C. 25 könnte gelogen haben.« »Er bestätigt die Informationen des anderen. Im Prinzip haben sie schon vor sechs Monaten ihre Karten aufgedeckt. Aber Devenish hat ja darauf bestanden, daß es doch noch eine Friedenschance gibt. Das haben sie natürlich genutzt, um sich zu verstärken. Schicken Sie diese Telegramme sofort ab – im neuen Code, nicht im alten –, meine und Whartons. Ich glaube, wir brauchen die Damen nicht länger warten zu lassen. Den Rest können wir über den Zigarren regeln. Ich habe es kommen sehen. Bestrafung – kein Krieg.« Als der Soldat davongaloppierte, kroch Kim zur Rückseite des Hauses; nach seinen Erfahrungen aus Lahore ging er davon aus, daß es dort Essen gab – und Informationen. Die Küche
war voll aufgeregter Küchenjungen; einer von ihnen trat nach ihm. »Aie«, sagte Kim; er tat, als ob er weinte. »Ich will doch nur Teller waschen, für einen Bauchvoll.« »Ganz Ambala will das gleiche. Verschwinde. Jetzt wird die Suppe hineingebracht. Meinst du, wir, die wir Creighton Sahib dienen, brauchen fremde Küchenjungen, damit sie uns bei einem großen Dinner helfen?« »Es ist ein sehr großes Dinner«, sagte Kim; er betrachtete die Teller. »Kein Wunder. Der Ehrengast ist niemand anderes als der Jang-i-Lat-Sahib [der Oberkommandierende].« »Ho!« sagte Kim mit dem richtigen Kehllaut des Erstaunens. Er hatte erfahren, was er wissen wollte, und als der Küchenjunge sich umdrehte, verschwand er. ›Und all diese Mühe‹, sagte er sich, wobei er wie üblich auf Hindustani dachte, ›wegen dem Stammbaum eines Pferdes! Mahbub Ali hätte zu mir kommen und ein bißchen lügen lernen sollen. Bisher, wenn ich für ihn Botschaften überbracht hab, ist es immer um eine Frau gegangen. Jetzt sind es Männer. Schon besser. Der lange Mann hat gesagt, sie wollen eine große Armee losschicken und jemand bestrafen – irgendwo – die Nachricht geht nach Pindi und Peshawar. Kanonen gibt es auch dabei. Wenn ich doch näher rangekrochen wär. Das sind große Neuigkeiten!‹ Bei seiner Rückkehr fand er den jüngeren Bruder des Vetters des Landwirts vor, der den Rechtsstreit der Familie in allen Aspekten mit dem Landwirt und seiner Frau und ein paar Freunden beredete, während der Lama döste. Nach dem Abendmahl reichte jemand ihm eine Wasserpfeife, und Kim fühlte sich ganz als Mann, als er an der glatten Kokosnußschale zog, die Beine im Mondlicht gespreizt; bisweilen warf er mit klickender Zunge Bemerkungen ein.
Seine Gastgeber waren äußerst höflich; die Frau des Landwirts hatte ihnen nämlich von seiner Vision des Roten Stiers erzählt und von seiner vermutlichen Abkunft aus einer anderen Welt. Außerdem war der Lama eine große und ehrwürdige Rarität. Der Familienpriester, ein alter toleranter Sarsut-Brahmane, schaute später herein und begann natürlich mit einem theologischen Streitgespräch, um die Familie zu beeindrucken. Vom Glauben her waren zwar alle auf der Seite ihres Priesters, aber der Lama war der Gast und die Neuheit. Seine sanfte Freundlichkeit und seine beeindruckenden chinesischen Zitate, die wie Zaubersprüche klangen, machten ihnen viel Freude, und in dieser sympathischen, schlichten Umgebung entfaltete er sich wie des Bodhisat eigener Lotos und sprach von seinem Leben in den großen Bergen von Such-zen, »bevor ich«, wie er sagte, »mich erhob, um Erleuchtung zu suchen.« Dann kam heraus, daß er in jenen weltlichen Tagen ein Meister im Stellen von Horoskopen und Nativitäten gewesen war; und der Familienpriester brachte ihn dazu, seine Methoden zu beschreiben; beide gaben den Planeten Namen, die die anderen nicht verstehen konnten, und deuteten nach oben, wo die großen Sterne über die Dunkelheit segelten. Die Kinder des Hauses zupften an seinem Rosenkranz, ohne dafür zurechtgewiesen zu werden, und er vergaß ganz die Regel, die das Anschauen von Frauen verbietet, während er von ewigem Schnee, Erdrutschen, blockierten Pässen, den fernen Felsen, wo Männer Saphire und Türkise finden, und jener wunderbaren Hochland-Straße sprach, die am Ende ins Große China führt. »Was hältst du von ihm?« sagte der Landwirt leise zum Priester. »Ein heiliger Mann – wirklich ein heiliger Mann. Seine Götter sind nicht Die Götter, aber seine Füße sind auf Dem
Pfad«, war die Antwort. »Und seine Methoden, die Nativität zu stellen, sind weise und sicher, aber das ist zu hoch für dich.« »Sag mir«, sagte Kim träge, »ob ich meinen Roten Stier auf einem grünen Feld finde, wie es mir versprochen wurde.« »Was weißt du von deiner Geburtsstunde?« fragte der Priester; er blähte sich vor Wichtigkeit. »Zwischen dem ersten und zweiten Hahnenschrei der ersten Nacht im Mai.« »In welchem Jahr?« »Das weiß ich nicht; aber in der Stunde, als ich zum ersten Mal schrie, ereignete sich das große Erdbeben in Srinagar, was in Kaschmir liegt.« Das hatte Kim von der Frau, die sich um ihn gekümmert hatte, und sie wiederum hatte es von Kimball O’Hara gehört. Das Erdbeben war in Indien zu spüren gewesen und im Punjab lange Zeit als Bezugsdatum genommen worden. »Ai!« sagte eine Frau aufgeregt. Das schien Kims übernatürliche Herkunft noch sicherer zu machen. »Ist da nicht auch die Tochter von Soundso geboren…« »Und ihre Mutter gebar ihrem Mann vier Söhne in vier Jahren – lauter ansehnliche Jungen«, rief die Frau des Landwirts, die außerhalb des Kreises im Schatten saß. »Kein im Wissen Unterwiesener«, sagte der Familienpriester, »wird je vergessen, wie in dieser Nacht die Planeten in ihren Häusern standen.« Er begann im Staub des Hofs zu zeichnen. »Jedenfalls hast du gute Ansprüche auf das halbe Haus des Stiers. Wie lautet deine Prophezeiung?« »Eines Tages«, sagte Kim, begeistert über das Aufsehen, das er erregte, »werde ich durch einen Roten Stier auf einem grünen Feld groß werden, aber zuerst werden zwei Männer kommen, um alles vorzubereiten.« »Ja; so ist das immer, wenn eine Vision beginnt. Dichtes Dunkel, das sich langsam aufhellt; bald tritt jemand mit einem Besen ein, um den Platz zu bereiten. Dann beginnt das
Schauen. Zwei Männer, sagst du? Ja, ja. Die Sonne verläßt das Haus des Stiers und tritt in das der Zwillinge. Daher die beiden Männer der Prophezeiung. Darüber muß man nachdenken. Hol mir einen Zweig, Kleiner.« Er runzelte die Brauen, kratzte, glättete und kratzte wieder geheimnisvolle Zeichen in den Staub – zum Erstaunen aller, nur nicht des Lamas, der sich mit feinem Instinkt vor einer Einmischung hütete. Nach einer halben Stunde warf der Priester mit einem Knurren den Zweig fort. »Hm! Das sagen die Sterne. Innerhalb von drei Tagen kommen die beiden Männer, um alles bereitzumachen. Nach ihnen kommt der Stier; aber das Zeichen, unter dem er steht, ist das des Kriegs und bewaffneter Männer.« »Im Abteil von Lahore an war wirklich ein Mann von den Ludhiana-Sikhs«, sagte die Frau des Landwirts hoffnungsvoll. »Tck! Bewaffnete Männer – viele Hunderte. Was hast du mit Krieg zu schaffen?« sagte der Priester zu Kim. »Dein Zeichen ist ein rotes und böses Zeichen von Krieg, der sehr bald losbrechen wird.« »Nichts davon – nichts«, sagte der Lama ernst. »Wir suchen nur Friede und unseren Fluß.« Kim lächelte; er dachte an das, was er im Ankleidezimmer belauscht hatte. Er war entschieden ein Günstling der Sterne. Der Priester fegte mit dem Fuß über das grobe Horoskop. »Mehr als das kann ich nicht sehen. In drei Tagen kommt der Stier zu dir, Junge.« »Und mein Fluß, mein Fluß«, klagte der Lama. »Ich hatte gehofft, sein Stier würde uns beide zum Fluß führen.« »Ach, dieser wundersame Fluß, mein Bruder«, antwortete der Priester. »Solche Dinge sind außerhalb des Gewöhnlichen.« Obwohl man sie zu bleiben drängte, bestand der Lama am nächsten Morgen darauf, abzureisen. Sie gaben Kim ein großes
Bündel mit gutem Essen und fast drei Annas in Kupfer für die Bedürfnisse der Straße, und mit vielen Segenswünschen sahen sie den beiden nach, als sie nach Süden ins Morgengrauen gingen. »Es ist betrüblich, daß diese und solche wie sie nicht vom Rad der Dinge befreit werden können«, sagte der Lama. »Nein, dann würden nur schlechte Menschen auf der Erde übrigbleiben, und wer sollte uns dann Essen und Obdach geben?« sagte Kim. Unter seiner Last schritt er fröhlich aus. »Da drüben ist ein kleiner Fluß. Wir wollen nachsehen«, sagte der Lama und ging voran, von der weißen Straße quer über die Felder, in ein wahres Hornissennest streunender Hunde hinein.
KAPITEL III
Yea, voice of every Soul that clung To Lite that strove from rung to rung When Devadatta’s rule was young, The warm wind brings Kamakura. Buddha at Kamakura. [Ja, Stimme jeder Seele, die sich klammerte an Leben, das von Stufe zu Stufe strebte, als Devadattas Herrschaft noch jung war, bringt der warme Wind nach Kamakura.]
Hinter ihnen fuchtelte ein verärgerter Bauer mit einem Bambusrohr. Er war ein Markt-Gärtner, Arain der Kaste nach, pflanzte Gemüse und Blumen für Ambala, und Kim kannte die Sorte gut. »Solch einer«, sagte der Lama, der die Hunde nicht beachtete, »ist unhöflich zu Fremden, zügellos in seiner Rede und hartherzig. Laß dir sein Benehmen eine Warnung sein, mein Jünger.« »Ho, unverschämte Bettler!« schrie der Bauer. »Weg da! Verschwindet!« »Wir gehen«, erwiderte der Lama mit gelassener Würde. »Wir gehen fort aus diesen ungesegneten Feldern.« »Ah«, sagte Kim; er sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Wenn deine nächste Ernte schlecht wird, kannst du die Schuld nur deiner eigenen Zunge geben.«
Der Mann trat in seinen Pantoffeln unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Das Land wimmelt von Bettlern«, begann er halb entschuldigend. »Und woran hast du gesehen, daß wir dich anbetteln wollten, o Mali?« sagte Kim schroff; er verwendete die Anrede, die ein Markt-Gärtner am wenigsten hören mag. »Alles was wir wollten war, einen Blick auf den Fluß da drüben hinter dem Feld werfen.« »Fluß, wie!« grunzte der Mann. »Aus welcher Stadt kommt ihr denn, daß ihr einen Kanal für einen Fluß haltet? Er läuft gerade wie ein Pfeil, und ich bezahle für das Wasser, als wenn es geschmolzenes Silber wäre. Weiter drüben gibt es einen Flußarm. Aber wenn ihr Wasser braucht, das kann ich euch geben – und Milch.« »Nein, wir gehen zu dem Fluß«, sagte der Lama. Er machte große Schritte. »Milch und ein Mahl«, stammelte der Mann; er schaute auf die fremdartige, hohe Gestalt. »Ich… ich möchte mir und… und meiner Ernte kein Übel zuziehen. Aber es gibt so viele Bettler in diesen harten Zeiten.« »Beachte es wohl.« Der Lama wandte sich an Kim. »Durch den Roten Nebel des Zorns ist er verleitet worden, barsche Worte zu sagen. Nun, da dieser sich von seinen Augen hebt, wird er höflich und mildherzig. Seine Felder seien gesegnet! Hüte dich, Menschen zu schnell zu beurteilen, o Bauer!« »Ich habe Heilige gekannt, die dich und alles, was dein ist, vom Herd bis zum Stall verflucht hätten«, sagte Kim dem verlegenen Mann. »Ist er nicht wirklich heilig und weise? Ich bin sein Jünger.« Hochmütig streckte er die Nase in die Luft und stieg mit großer Würde über die schmale Feldumrandung. »Stolz gibt es nicht«, sagte der Lama nach einer Pause. »Stolz gibt es nicht bei denen, die dem Mittleren Pfad folgen.«
»Aber du hast doch gesagt, daß er von niedriger Kaste und unhöflich ist.« »Von niedriger Kaste habe ich nicht gesprochen; wie kann denn sein, was nicht ist? Nachher hat er seine Unhöflichkeit gutgemacht, und ich habe die Beleidigung vergessen. Außerdem ist er, wie wir, auf das Rad der Dinge gebunden; aber er geht nicht den Weg der Befreiung.« Er blieb an einem kleinen Rinnsal zwischen den Feldern stehen und betrachtete die von Hufen zernarbte Böschung. »Wie willst du denn deinen Fluß erkennen?« sagte Kim; er hockte sich in den Schatten hohen Zuckerrohrs. »Wenn ich ihn finde, wird mir sicher eine Erleuchtung gegeben. Das hier, fühle ich, ist nicht der richtige Ort. O Kleinstes unter den Wassern, wenn du mir nur sagen könntest, wo mein Fluß fließt! Aber sei gesegnet und laß die Felder viel Ertrag bringen!« »Sieh mal! Sieh!« Kim sprang zu ihm hin und zerrte ihn zurück. Ein braungelber Streifen glitt aus den purpurnen raschelnden Stengeln zur Böschung, reckte den Hals zum Wasser, trank und lag still – eine große Kobra mit starrem lidlosen Auge. »Ich hab keinen Stock – ich hab keinen Stock«, sagte Kim. »Ich such einen und brech ihr den Rücken.« »Warum? Er ist auf dem Rad wie wir – ein absteigendes oder aufsteigendes Leben – sehr weit von der Befreiung. Großes Übel muß die Seele angerichtet haben, die in diese Gestalt geraten ist.« »Ich hasse alle Schlangen«, sagte Kim. Keine einheimische Erziehung kann je den Abscheu des Weißen vor der Schlange ausmerzen. »Laß ihn sein Leben zu Ende leben.« Das geringelte Ding zischte und öffnete seine Haube halb. »Möge deine Erlösung
bald kommen, Bruder!« fuhr der Lama mild fort. »Weißt du vielleicht durch Zufall von meinem Fluß?« »Solch einen Mann, wie du es bist, hab ich noch nie gesehen«, flüsterte Kim überwältigt. »Verstehen denn sogar Schlangen, was du sagst?« »Wer weiß?« Er ging nur einen Fuß am schwebenden Kopf der Kobra vorbei. Sie legte ihn flach zwischen die staubigen Windungen. »Komm, du!« rief er über seine Schulter. »Ich nicht«, sagte Kim. »Ich mach einen Bogen.« »Komm. Er tut dir nichts.« Kim zögerte einen Moment. Der Lama unterstrich seine Aufforderung durch ein tief gesummtes chinesisches Zitat, das Kim für einen Zauberspruch hielt. Er gehorchte und sprang über den Fluß, und tatsächlich machte die Schlange keine Bewegung. »Nie hab ich so einen Mann gesehen.« Kim wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und jetzt, wohin gehen wir?« »Das mußt du bestimmen. Ich bin alt und hier fremd – fern von meiner Heimat. Wenn dieser rêl-Wagen nicht meinen Kopf mit dem Lärm von Teufelstrommeln erfüllte, würde ich jetzt in ihm nach Benares gehen… Aber dabei könnten wir den Fluß verfehlen. Laß uns einen weiteren Fluß suchen.« Wo der vielgeplagte Boden drei oder sogar vier Ernten im Jahr trägt – durch Felder mit Zuckerrohr, Tabak, langen weißen Rettichen und nol-kol wanderten sie den ganzen Tag weiter; jedem flüchtigen Blick auf Wasser gingen sie nach; zur Mittagszeit weckten sie Dorfhunde und schlafende Dörfer; der Lama beantwortete Salven von Fragen mit unbeirrbarer Schlichtheit. Sie suchten einen Fluß – einen Fluß von wunderbarer Heilkraft. Ob jemand etwas über solch einen Strom wisse? Männer lachten manchmal, aber öfter hörten sie sich die Geschichte bis zum Ende an und boten ihnen einen
Platz im Schatten, einen Trunk Milch und ein Mahl. Die Frauen waren immer freundlich, und die kleinen Kinder, wie Kinder auf der ganzen Welt sind, abwechselnd schüchtern und vorwitzig. Der Abend fand sie rastend unter dem Dorfbaum eines kleinen Orts mit Lehmwänden und Lehmdächern, wo sie mit dem Dorfältesten redeten, während das Vieh von den Weideplätzen heimkehrte und die Frauen das letzte Mahl des Tages bereiteten. Sie hatten den Gürtel der Markt-Gärten rund um das hungrige Ambala verlassen und befanden sich im meilenweiten Grün des Ackerlandes. Der alte Mann war weißbärtig und umgänglich und nahm oft Fremde auf. Er schleppte eine aus Schnüren geknüpfte Bettstatt für den Lama heraus, setzte ihm warmes, gekochtes Essen vor, stopfte ihm eine Pfeife, und als die abendlichen Zeremonien im Dorftempel beendet waren, sandte er nach dem Ortspriester. Kim erzählte den älteren Kindern Märchen über die Größe und Schönheit Lahores, über Eisenbahnreisen und derlei städtische Dinge, während die Männer redeten, langsam wie ihr Vieh wiederkäute. »Ich kann es nicht begreifen«, sagte der Älteste schließlich zum Priester. »Wie deutest du diese Rede?« Der Lama, der seine Geschichte erzählt hatte, fingerte schweigend die Perlen seines Rosenkranzes. »Er ist ein Sucher«, antwortete der Priester. »Das Land ist voll von ihnen. Denk an den, der erst letzten Monat hier war – der Fakir mit der Schildkröte.« »Ja, aber der Mann hatte Recht und Richtung, denn Krishna selbst ist ihm in einer Vision erschienen und hat ihm das Paradies versprochen, ohne Scheiterhaufen, wenn er nur nach Prayag pilgert. Dieser Mann hier sucht keinen Gott, von dem ich etwas weiß.«
»Friede; er ist alt; er kommt von weither, und er ist verrückt«, erwiderte der glattrasierte Priester. »Hör mich an.« Er wandte sich dem Lama zu. »Drei kos [sechs Meilen] westlich von hier verläuft die große Straße nach Kalkutta.« »Aber ich wollte nach ßenares – nach Benares.« »Und nach Benares geht sie auch. Sie überquert alle Ströme in diesem Teil von Hind. Mein Rat für dich, Heiliger, ist, hier bis morgen auszuruhen. Danach nimm die Straße« (er meinte die Grand Trunk Road) »und untersuch jeden Strom, über den sie führt; wenn ich es recht verstehe, liegt nämlich die Kraft deines Flusses nicht nur in einem Becken oder an einer Stelle, sondern in seiner ganzen Länge. So kannst du sicher sein, daß du, wenn deine Götter es wollen, deine Befreiung finden wirst.« »Das ist gut gesprochen.« Der Lama war von dem Plan sehr beeindruckt. »Wir werden morgen damit beginnen, und dir ein Segen, weil du alten Füßen solch eine nahe Straße gezeigt hast.« Ein tiefer chinesischer Sprech-Singsang beschloß den Satz. Sogar der Priester war beeindruckt, und der Älteste fürchtete einen bösen Zauber; aber keiner, der das schlichte, eifrige Gesicht des Lamas sah, konnte ihm lange mißtrauen. »Siehst du meinen chela?« sagte er; dabei holte er eine große Portion aus seiner Schnupftabaksflasche. Es war seine Pflicht, Höflichkeit mit Höflichkeit zu vergelten. »Ich sehe ihn – und höre ihn.« Der Älteste rollte seine Augen dorthin, wo Kim mit einem Mädchen in Blau plauderte, während sie knisternde Dornen auf ein Feuer legte. »Auch er ist auf einer Suche. Kein Fluß, sondern ein Stier. Ja, ein Roter Stier auf einem grünen Feld wird ihn eines Tages zu Ehren erhöhen. Er ist, glaube ich, nicht ganz von dieser Welt. Er wurde mir plötzlich gesandt, um mir bei meiner Suche zu helfen, und sein Name ist Freund der ganzen Welt.«
Der Priester lächelte. »Ho, da, Freund der ganzen Welt«, rief er durch den beißenden Rauch, »was bist du?« »Der Jünger dieses Heiligen«, sagte Kim. »Er sagt, du bist nur ein bût [Geist].« »Können bûts essen?« sagte Kim zwinkernd. »Ich habe nämlich Hunger.« »Das ist kein Scherz«, rief der Lama. »Ein bestimmter Astrologe in der Stadt, deren Namen ich vergessen habe…« »Das ist nur Ambala, wo wir letzte nacht geschlafen haben«, flüsterte Kim dem Priester zu. »Ja, Ambala, nicht wahr? Er hat ein Horoskop gestellt und erklärt, daß mein chela innerhalb von zwei Tagen finden werde, was er sucht. Aber was hat er noch über die Bedeutung der Sterne gesagt, Freund der ganzen Welt?« Kim räusperte sich und sah die Graubärte des Dorfes um sich an. »Die Bedeutung meines Sterns ist Krieg«, erwiderte er hochmütig. Jemand lachte über die kleine zerlumpte Gestalt, die auf den Ziegelplatten unter dem großen Baum herumstolzierte. Wo ein Eingeborener sich niedergelegt hätte, brachte sein weißes Blut Kim auf die Beine. »Jawohl, Krieg«, antwortete er. »Das ist eine sichere Prophezeiung«, grollte eine tiefe Stimme. »An der Grenze ist doch immer Krieg – soviel ich weiß.« Es war ein alter verwitterter Mann, der in den Tagen der Meuterei der Regierung als eingeborener Offizier in einem neugebildeten Kavallerieregiment gedient hatte. Die Regierung hatte ihm ein gutes Grundstück im Dorf gegeben, und wenn ihn auch die Ansprüche seiner Söhne, inzwischen selbst graubärtige Offiziere, arm gemacht hatten, war er doch noch immer eine wichtige Person. Englische Beamte – sogar Deputy Commissioners – bogen von der Hauptstraße ab, um ihn zu
besuchen, und bei diesen Anlässen legte er die Uniform der alten Tage an und stand stramm wie ein Ladestock. »Aber dies wird ein großer Krieg sein – ein Krieg von achttausend.« Zu seinem eigenen Erstaunen schrillte Kims Stimme über die schnell wachsende Menge. »Rotröcke oder unsere eigenen Regimenter?« schnarrte der alte Mann, als frage er einen Gleichgestellten. Sein Ton flößte den Männern Respekt vor Kim ein. »Rotröcke«, sagte Kim auf gut Glück. »Rotröcke und Kanonen.« »Aber… aber davon hat der Astrologe nichts gesagt«, rief der Lama; in seiner Aufregung schnupfte er verschwenderisch. »Aber ich weiß es. Das Wort ist mir gekommen, der ich der Jünger dieses Heiligen bin. Ein Krieg wird sich erheben – ein Krieg von achttausend Rotröcken. Aus Pindi und Peshawar werden sie abgezogen werden. Das ist gewiß.« »Der Junge hat Basargerede gehört«, sagte der Priester. »Aber er war immer an meiner Seite«, sagte der Lama. »Wie soll er es denn dann wissen? Ich habe nichts davon gewußt.« »Aus dem wird ein gerissener Gaukler, wenn der alte Mann erst tot ist«, murmelte der Priester dem Ältesten zu. »Was für ein neuer Trick ist das?« »Ein Zeichen. Gib mir ein Zeichen«, rief der alte Soldat plötzlich donnernd. »Wenn es Krieg gäbe, hätten meine Söhne es mir gesagt.« »Wenn alles bereit ist, werden deine Söhne es bestimmt erfahren. Aber es ist ein langer Weg von deinen Söhnen zu dem Mann, in dessen Hand die Dinge liegen.« Kim erwärmte sich für das Spiel, denn es erinnerte ihn an Erlebnisse bei seinen Botengängen, wenn er tat, als wisse er mehr, als er wußte, sobald es um ein paar Pais ging. Aber nun spielte er um größeren Einsatz – schiere Erregung und das Gefühl von Macht. Er holte tief Luft und fuhr fort.
»Alter Mann, gib du mir ein Zeichen. Bestimmen Untergeordnete über das, was achttausend Rotröcke tun – mit Kanonen?« »Nein.« Noch immer antwortete der alte Mann, als sei Kim ein Gleichgestellter. »Weißt du denn nun, wer Er ist, der den Befehl gibt?« »Ich habe Ihn gesehen.« »Würdest du Ihn wiedererkennen?« »Ich habe Ihn gekannt, seit Er ein Leutnant der top-khana [Artillerie] war.« »Ein großer Mann. Ein großer Mann mit schwarzem Haar, der so geht?« Kim machte ein paar steife, hölzerne Schritte. »Ja. Aber das kann jeder gesehen haben.« Bei diesem ganzen Wortwechsel war die Menge atemlos still. »Das stimmt«, sagte Kim. »Aber ich will dir mehr sagen. Schau genau her. Zuerst geht der große Mann so. Dann denkt Er so.« Kim fuhr sich mit seinem Zeigefinger über die Stirn und weiter nach unten, bis er neben dem Kinn hielt. »Dann bewegt Er die Finger so. Dann schiebt Er seinen Hut unter seine linke Achsel.« Kim illustrierte die Bewegung und stand wie ein Storch. Der alte Mann ächzte, sprachlos vor Verblüffung, und die Menge schauderte. »So – so – so. Aber was tut Er, wenn Er gleich einen Befehl geben will?« »Er reibt sich die Haut in seinem Nacken – so. Dann fällt ein Finger auf den Tisch, und Er macht ein leises schnaufendes Geräusch durch die Nase. Dann spricht Er und sagt: ›Setzt das und das Regiment in Marsch. Schafft diese Kanonen hin.‹« Der alte Mann erhob sich steif und salutierte. »›Denn‹« – Kim übertrug die entscheidenden Sätze, die er im Ankleideraum in Ambala gehört hatte, in die Umgangssprache
– »›denn‹, sagt Er, ›wir hätten das schon längst tun sollen. Es ist kein Krieg – es ist eine Bestrafung. Snff!‹« »Genug. Ich glaube dir. So habe ich Ihn im Rauch der Schlachten gesehen. Gesehen und gehört. Das ist Er!« »Rauch hab ich keinen gesehen« – Kims Stimme wurde zum verzückten Singsang des Straßenwahrsagers. »Ich sah dies in der Dunkelheit. Es kam zuerst ein Mann, um alle Dinge zu erhellen. Dann kamen Reiter. Dann kam Er und stand in einem Kreis aus Licht. Das weitere folgt, wie ich es sagte. Alter Mann, hab ich die Wahrheit gesprochen?« »Das ist Er. Ohne jeden Zweifel, Er ist es.« Die Menge tat einen langsamen bebenden Atemzug und starrte abwechselnd auf den alten Mann, immer noch in Habacht-Stellung, und den zerlumpten Kim vor dem purpurnen Zwielicht. »Habe ich es nicht gesagt – habe ich nicht gesagt, daß er aus der anderen Welt ist?« rief der Lama stolz. »Er ist der Freund der ganzen Welt. Er ist der Freund der Sterne!« »Jedenfalls geht es uns nichts an«, rief ein Mann. »O du junger Wahrsager, wenn du jederzeit über diese Gabe verfügst – ich habe eine rotscheckige Kuh. Sie könnte eine Schwester deines Stiers sein, nach allem, was ich weiß…« »…und was mich nicht kümmert«, sagte Kim. »Meine Sterne befassen sich nicht mit deinem Vieh.« »Nein, aber sie ist wirklich sehr krank«, warf eine Frau ein. »Mein Mann ist ein Büffel, sonst hätte er seine Worte besser gewählt. Sag mir, wird sie gesund werden?« Wenn Kim ein gewöhnlicher Junge gewesen wäre, hätte er das Spiel fortgesetzt; aber man kann nicht die Stadt Lahore und wenigstens alle Fakire am Taksali-Tor seit dreizehn Jahren kennen, ohne auch etwas vom Wesen des Menschen zu wissen. Der Priester schaute ihn von der Seite an, ein wenig bitter – ein trockenes und vernichtendes Lächeln.
»Gibt es im Dorf etwa keinen Priester? Ich dachte, ich hätte eben noch einen gesehen, und zwar einen großen«, rief Kim. »Ja… aber…« begann die Frau. »Aber du und dein Mann, ihr hattet gehofft, daß eure Kuh für eine Handvoll Dankeschöns geheilt wird.« Das saß: Die beiden waren im Dorf als das geizigste Paar bekannt. »Es ist nicht gut, die Tempel zu betrügen. Gib deinem eigenen Priester ein junges Kalb, und wenn deine Götter nicht so erzürnt sind, daß sie sich nicht mehr beschwichtigen lassen, wird sie innerhalb eines Monats Milch geben.« »Ein Meisterbettler bist du«, schnurrte der Priester beifällig. »Auch die Gerissenheit von vierzig Jahren hätte es nicht besser machen können. Bestimmt hast du den alten Mann reich gemacht?« »Ein bißchen Mehl, ein bißchen Butter und einen Mundvoll Kardamom«, gab Kim zurück, von dem Lob geschmeichelt, aber immer noch vorsichtig. »Wird man davon reich? Und wie du sehen kannst: Er ist verrückt. Aber es reicht für mich, und immerhin lerne ich dabei die Straße kennen.« Er wußte, wie die Fakire vom Taksali-Tor waren, wenn sie unter sich redeten, und er ahmte noch den Tonfall ihrer liederlichen Schüler nach. »Ist denn nun seine Suche Wahrheit oder ein Mantel, um andere Zwecke zu verhüllen? Vielleicht geht es um einen Schatz.« »Er ist verrückt – viele Male verrückt. Es ist nichts anderes dahinter.« Hier humpelte der alte Soldat herbei und fragte, ob Kim seine Gastfreundschaft für die Nacht annehmen wolle. Der Priester empfahl es ihm, bestand aber darauf, daß die Ehre, den Lama zu beherbergen, dem Tempel zukomme – worauf der Lama arglos lächelte. Kim blickte von einem Gesicht zum anderen und zog seine eigenen Schlüsse.
»Wo ist dein Geld?« flüsterte er, während er dem alten Mann winkte, ihm ins Dunkel zu folgen. »An meiner Brust. Wo sonst?« »Gib es mir. Gib es mir schnell und unauffällig.« »Aber wozu? Hier gibt es doch keine Fahrkarten zu kaufen.« »Bin ich dein chela oder bin ich es nicht? Schütze ich nicht auf den Wegen deine alten Füße? Gib mir das Geld, und am Morgen geb ich es dir zurück.« Er schob die Hand über den Gürtel des Lamas und zog den Geldbeutel heraus. »Sei es so – so sei es.« Der alte Mann nickte. »Dies ist eine große und schreckliche Welt. Ich habe nie gewußt, daß so viele Menschen in ihr leben.« Am nächsten Morgen war der Priester sehr schlecht gelaunt, der Lama aber ganz fröhlich; und Kim hatte einen sehr interessanten Abend mit dem alten Mann verbracht, der seinen Kavalleriesäbel hervorholte, ihn auf seinen dürren Knien wiegte und Geschichten erzählte von der Meuterei und jungen Hauptleuten, die seit dreißig Jahren im Grab lagen; bis Kim einschlief. »Ganz gewiß ist die Luft dieses Landes gut«, sagte der Lama. »Ich habe einen leichten Schlaf, wie alle alten Männer; aber diese Nacht habe ich bis zum Morgen geschlafen, ohne wach zu werden. Ich bin sogar jetzt noch benommen.« »Trink ein bißchen heiße Milch«, sagte Kim, der nicht selten solche Medizin zu Opiumrauchern seiner Bekanntschaft gebracht hatte. »Es ist Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen.« »Den langen Weg, der alle Flüsse von Hind überquert«, sagte der Lama munter. »Laß uns gehen. Aber was hältst du davon, chela, diesen Leuten und vor allem dem Priester ihre große Güte zu vergelten? Sie sind zwar bût-parast, aber vielleicht werden sie in anderen Leben Erleuchtung erlangen. Eine Rupie für den Tempel? Das Ding, das nicht mehr ist als Stein und
rote Farbe, aber das Herz des Menschen müssen wir anerkennen, wenn und wo es gut ist.« »Heiliger, bist du je allein den Weg gegangen?« Kim blickte ihn scharf an, wie die indischen Krähen, die so eifrig in den Feldern beschäftigt waren. »Natürlich, Kind: von Kulu bis Pathänkot – von Kulu, wo mein erster chela starb. Wenn Menschen freundlich zu uns waren, haben wir ihnen Gaben gegeben, und alle Menschen überall in den Bergen waren uns wohlgesinnt.« »In Hind ist das anders«, sagte Kim trocken. »Ihre Götter sind vielarmig und böswillig. Laß sie in Ruhe.« »Ich möchte dich gern ein Stück auf den Weg bringen, Freund der ganzen Welt – dich und deinen gelben Mann.« Der alte Soldat kam auf einem hageren Pony mit scherenartigen Fesseln die Dorfstraße herauf, die unter den Schatten des frühen Morgens lag. »Diese Nacht hat die Springquellen des Erinnerns in meinem ausgedörrten Herzen aufbrechen lassen, und es war mir ein Segen. Wirklich, es liegt Krieg in der Luft. Ich kann ihn riechen. Schau! Ich habe mein Schwert mitgebracht.« Mit hängenden Beinen saß er auf dem kleinen Tier, das große Schwert an der Seite – die Hand auf den Knauf gelegt –, und starrte grimmig über das flache Land nach Norden. »Sag mir noch einmal, wie Er in deiner Vision aussah. Komm her, setz dich hinter mich. Das Tier kann zwei tragen.« »Ich bin der Jünger dieses Heiligen«, sagte Kim, als sie aus dem Dorftor traten. Die Dorfleute schienen fast traurig, daß sie gingen, das Lebewohl des Priesters war jedoch kalt und zurückhaltend. Er hatte Opium an einen Mann vergeudet, der kein Geld bei sich trug. »Das ist wohlgesprochen. Ich bin nicht sehr an heilige Männer gewöhnt, aber Respekt ist immer gut. In diesen Zeiten gibt es keinen Respekt – nicht einmal, wenn ein Commissioner
Sahib mich besuchen kommt. Aber warum sollte einer, dessen Stern ihn zum Krieg führt, einem heiligen Mann folgen?« »Aber er ist wirklich ein heiliger Mann«, sagte Kim ernst. »Heilig in Wahrheit und in dem, was er sagt und tut. Er ist nicht wie die anderen. So einen wie ihn hab ich noch nie gesehen. Wir sind keine Wahrsager oder Gaukler oder Bettler.« »Du bist keiner. Das sehe ich wohl. Aber den anderen da kenne ich nicht. Immerhin marschiert er gut.« Die erste Frische des Tages trug den Lama vorwärts mit langen, mühelosen kamelartigen Schritten. Er war in tiefer Meditation und ließ mechanisch den Rosenkranz klappern. Sie folgten den Karrenspuren der ausgefahrenen Landstraße, die sich zwischen den großen dunkelgrünen Mangowäldern durch die Ebene wand; die Linie der schneegekrönten Himalayas war im Osten schwach zu sehen. Ganz Indien arbeitete auf den Feldern, zum Knirschen der Brunnenräder, zum Geschrei der Pflüger hinter ihren Ochsen und dem Gezeter der Krähen. Sogar das Pony verspürte den guten Einfluß und setzte sich fast in Trab, als Kim eine Hand an den Steigbügelriemen legte. »Ich bereue, daß ich dem Schrein keine Rupie gegeben habe«, sagte der Lama bei der letzten seiner einundachtzig Perlen. Der alte Soldat knurrte in seinen Bart, so daß der Lama erstmals auf ihn aufmerksam wurde. »Suchst auch du den Fluß?« sagte er; dabei wandte er sich zu ihm um. »Der Tag ist jung«, war die Antwort. »Wozu brauche ich einen Fluß, außer, um an ihm vor Sonnenuntergang mein Pferd zu tränken? Ich komme mit, um dir einen kurzen Weg zur Großen Straße zu zeigen.«
»Das ist eine Höflichkeit, deren man gedenken soll, o Mann guten Willens. Aber wozu das Schwert?« Der alte Soldat blickte verlegen wie ein Kind, das bei einem Tagtraumspiel ertappt wird. »Das Schwert«, sagte er; er betastete es. »Ach, das war nur so eine Idee – der Einfall eines alten Mannes. Die Befehle der Polizei sind zwar, daß niemand in ganz Hind Waffen tragen soll, aber« – sein Gesicht hellte sich auf, und er klopfte auf den Griff – »alle Constables der Gegend kennen mich.« »Es ist kein guter Einfall«, sagte der Lama. »Welchen Nutzen hat es, Männer zu töten?« »Sehr wenig – wie ich gut weiß; aber wenn man böse Menschen nicht hin und wieder tötete, wäre es keine gute Welt für waffenlose Träumer. Ich rede nicht ohne Erfahrung; ich habe das Land von Delhi nach Süden mit Blut überspült gesehen.« »Welcher Wahnsinn war denn das?« »Die Götter allein wissen es; sie haben ihn als Heimsuchung geschickt. Wahnsinn zerfraß die ganze Armee, und sie wandten sich gegen ihre Offiziere. Das war das erste Übel, aber noch hätte es Heilung gegeben, wenn sie sich damit begnügt hätten. Aber sie sind darauf verfallen, die Frauen und Kinder der Sahibs zu töten. Dann kamen die Sahibs von jenseits des Meeres und haben sie zu strenger Rechenschaft gezogen.« »Irgendein derartiges Gerücht, glaube ich, hat mich vor langer Zeit erreicht. Es wurde das Schwarze Jahr genannt, soviel ich mich erinnere.« »Welche Art Leben hast du denn geführt, daß du Das Jahr nicht kennst? Ein Gerücht, ha! Die ganze Erde wußte es und bebte.« »Unsere Erde hat nur einmal gebebt – an dem Tag, da Der Vortreffliche Erleuchtung empfing.«
»Umph! Ich habe zumindest Delhi beben sehen; und Delhi ist der Nabel der Welt.« »Dann haben sie sich also gegen Frauen und Kinder gewandt? Das war eine böse Tat, und dafür ist Bestrafung unausweichlich.« »Viele haben es versucht, aber mit sehr geringem Nutzen. Ich war damals in einem Regiment der Kavallerie. Es ist zerbrochen. Von sechshundertachtzig Säbeln blieben dem Salz, das sie gegessen hatten, treu – wieviele, meinst du? Drei. Ich war einer von ihnen.« »Um so größer ist das Verdienst.« »Verdienst! In diesen Tagen haben wir es nicht für Verdienst gehalten. Mein Volk, meine Freunde, meine Brüder fielen von mir ab. Sie sagten: ›Die Zeit der Engländer hat sich vollendet. Soll jeder sehen, daß er etwas für sich herausschlägt.‹ Aber ich hatte geredet, mit den Männern aus Sobraon, aus Chilianwala, aus Mudki und Ferozeshahr. Ich sagte: ›Wartet ein Weilchen, der Wind wird sich drehen. Auf diesem Werk liegt kein Segen.‹ In diesen Tagen ritt ich siebzig Meilen mit einer englischen Memsahib und ihrem Baby vor mir auf dem Sattel. (Uau! Das war ein Pferd für einen Mann!) Ich habe sie in Sicherheit gebracht und bin zu meinem Offizier zurückgekehrt – dem einen von unseren fünf, der nicht getötet worden war. ›Gib mir Arbeit‹, sagte ich, ›denn ich bin ein Ausgestoßener in meiner eigenen Sippe, und das Blut meines Vetters ist noch feucht auf meinem Säbel.‹ ›Beruhige dich‹, sagte er. ›Große Arbeit liegt vor uns. Wenn dieser Wahnsinn vorüber ist, kommt der Lohn.‹« »Ja, es gibt einen Lohn, wenn der Wahnsinn vorüber ist, oder?« murmelte der Lama halb zu sich selbst. »In jenen Tagen hat man Leute nicht mit Orden behängt, nur weil sie zufällig eine Kanone hatten feuern hören. Nein! In neunzehn offenen Schlachten war ich; in sechsundvierzig
Reitergefechten; und in kleinen Scharmützeln ohne Zahl. Neun Wunden trage ich; eine Medaille, vier Spangen und die Medaille eines Ordens, denn meine Hauptleute, die nun Generale sind, erinnerten sich an mich, als die Kaisar-i-Hind fünfzig Jahre ihrer Herrschaft vollendet hatte und das ganze Land jubelte. Sie sagten: ›Gebt ihm den Orden von BritischIndien.‹ Ich trage ihn nun um meinen Hals. Ich habe auch mein jaghir [Anwesen] aus der Hand des Staats – eine freie Gabe an mich und die meinen. Die Männer aus den alten Tagen – sie sind jetzt Commissioners – kommen zu mir durch die Felder geritten – hoch zu Roß, so daß das ganze Dorf es sieht –, und wir reden von den alten Gefechten, und der Name eines toten Mannes führt zum nächsten.« »Und danach?« sagte der Lama. »Ach, danach reiten sie wieder fort, aber nicht, ehe mein Dorf sie gesehen hat.« »Und was wirst du am Ende tun?« »Am Ende werde ich sterben.« »Und danach?« »Das mögen die Götter besorgen. Ich habe Sie nie mit Gebeten gequält. Ich glaube nicht, daß Sie mich quälen werden. Sieh, in meinem langen Leben habe ich gefunden, daß die, die ewig jene oben mit Klagen und Berichten und Gebrüll und Geheule behelligen, sehr früh und eilig zum Rapport bestellt werden, wie unser Oberst immer nach den Männern aus dem Hinterland geschickt hat, die schlappe Kinnbacken hatten und zuviel redeten. Nein, ich habe die Götter nie belästigt. Sie werden daran denken und mir einen ruhigen Platz geben, wo ich meine Lanze in den Schatten stoßen und darauf warten kann, meine Söhne willkommen zu heißen: Ich habe nicht weniger als drei – Rissaldar-majors alle – bei den Regimentern.«
»Und auch sie, gebunden auf das Rad, gehen von Leben zu Leben – von Verzweiflung zu Verzweiflung«, sagte der Lama leise, »heiß, ruhelos, gierig.« »Ja.« Der alte Soldat kicherte. »Drei Rissaldar-majors in drei Regimentern. Alle ein bißchen Spieler, aber das bin ich auch. Sie müssen gut beritten sein; und man kann sich Pferde nicht nehmen, wie man in den alten Tagen Frauen nahm. Nun ja, mein Besitz kann für alles aufkommen. Was meinst du? Es ist ein gut bewässertes Landstück, aber meine Leute betrügen mich. Ich weiß nicht, wie ich etwas von ihnen fordern soll, außer mit vorgehaltener Lanze. Ugh! Ich werde wütend und verfluche sie, und sie heucheln Reue, aber ich weiß, daß sie mich hinter meinem Rücken ›zahnloser alter Affe‹ nennen.« »Hast du nie Anderes begehrt?« »Ja – ja – tausendmal! Noch einmal einen geraden Rücken und ein kraftvolles Knie; ein schnelles Handgelenk und ein scharfes Auge; und das Mark, das den Mann macht. O die alten Tage – die guten Tage meiner Kraft!« »Diese Kraft ist Schwäche.« »Das ist daraus geworden; aber vor fünfzig Jahren hätte ich das Gegenteil beweisen können«, gab der alte Soldat zurück; dabei trieb er die Kante des Steigbügels in die magere Flanke des Ponys. »Aber ich kenne einen Strom von großer Heilkraft.« »Ich habe Ganga-Wasser bis zum Rand der Wassersucht getrunken. Alles, was ich davon bekam, war Durchfall, aber keine Kraft.« »Es ist nicht Ganga. Der Fluß, den ich kenne, wäscht allen Makel der Sünde ab. Wenn man das jenseitige Ufer erreicht, ist man der Freiheit gewiß. Ich kenne dein Leben nicht, aber dein Gesicht ist das eines Ehrenhaften und Höflichen. Du hast dich an deinen Pfad geklammert und Treue gegeben, als sie schwer zu geben war, in jenem Schwarzen Jahr, von dem mir jetzt
noch mehr Geschichten wieder einfallen. Betritt nun den Mittleren Pfad, der der Weg zur Befreiung ist. Höre das Höchst Vortreffliche Gesetz und folge keinen Träumen.« »Dann sprich, alter Mann.« Der Soldat lächelte, dabei salutierte er halb. »In unserem Alter schwatzen wir alle gern.« Der Lama hockte sich in den Schutz eines Mangobaums, dessen Schatten wie ein Schachbrett über seinem Gesicht spielte; der Soldat saß steif auf dem Pony; und Kim legte sich in die Gabel der verdrehten Wurzeln, nachdem er sicher war, daß es keine Schlangen gab. Kleines Leben summte ringsum einschläfernd im heißen Sonnenschein, Tauben gurrten, und über die Felder klang das schläfrige tiefe Knarren von Brunnenrädern. Langsam und gewichtig begann der Lama. Nach zehn Minuten glitt der alte Soldat von seinem Pony, um besser zu hören, wie er sagte, und saß da, die Zügel um sein Handgelenk gelegt. Die Stimme des Lamas setzte aus – die Abstände wurden länger. Kim war damit beschäftigt, ein graues Eichhörnchen zu beobachten. Als das kleine zapplige Pelzbündel eng an den Ast gedrückt verschwand, waren Prediger und Zuhörer eingeschlafen; der scharfgeschnittene Kopf des alten Offiziers ruhte auf seinem Arm, der Kopf des Lamas weit zurückgelehnt am Baumstamm, von dem er sich wie gelbes Elfenbein abhob. Ein nacktes Kind tapste herbei, starrte und machte dann in einem plötzlichen Anfall von Ehrfurcht eine feierliche kleine Verbeugung vor dem Lama – aber das Kind war so kurz und fett, daß es seitlich umpurzelte, und Kim lachte über die pummeligen Zappelbeine. Erschreckt und empört schrie das Kind laut. »Hai! Hai!« sagte der Soldat; er sprang auf. »Was ist los? Welcher Befehl?… Es ist… ein Kind! Ich habe geträumt, es wäre ein Alarm. Kleines – Kleines – weine nicht. Habe ich geschlafen? Das wäre wirklich unhöflich!« »Ich hab Angst! Ich fürchte mich!« brüllte das Kind.
»Was ist hier zu fürchten? Zwei alte Männer und ein Junge? Wie soll aus dir denn je ein Soldat werden, Prinzchen?« Auch der Lama war erwacht, nahm aber keine direkte Notiz von dem Kind und ließ seinen Rosenkranz klicken. »Was ist das?« sagte das Kind; es brach einen Schrei in der Mitte ab. »So was hab ich noch nie gesehn. Gib es mir.« »Aha«, sagte der Lama lächelnd; er ließ eine Schlinge des Rosenkranzes über das Gras schleifen und sang: »Eine Handvoll Kardamom, Ein Klümpchen ghi dabei, Pfefferschoten, Hirse und Reis, Welch ein Schmaus für uns zwei!«
Das Kind kreischte vor Freude und schnappte nach den dunklen glänzenden Perlen. »Oho!« sagte der alte Soldat. »Woher hast du das Lied, du Verächter dieser Welt?« »Ich habe es in Pathânkot gelernt – als ich auf einer Türschwelle saß«, sagte der Lama verlegen. »Es ist gut, freundlich zu kleinen Kindern zu sein.« »Wenn ich mich recht erinnere, hattest du mir, bevor der Schlaf über uns kam, erzählt, daß Heirat und Gebären das wahre Licht verfinstern und Stolpersteine auf dem Pfad sind. Fallen denn in deinem Land die Kinder vom Himmel? Ist es der Pfad, ihnen Lieder zu singen?« »Kein Mensch ist ganz vollkommen«, sagte der Lama ernst; er rollte den Rosenkranz zusammen. »Nun lauf zu deiner Mutter, Kleines.« »Hör ihn dir an!« sagte der Soldat zu Kim. »Er schämt sich dafür, daß er ein Kind glücklich gemacht hat. An dir ist ein sehr guter Hausvater verlorengegangen, mein Bruder. Hai, Kind!« Er warf dem Kleinen ein Pai zu. »Zuckerwerk ist immer süß.« Und als die kleine Gestalt in den Sonnenschein
forthüpfte: »Sie wachsen und werden zu Männern. Heiliger, ich bin bekümmert, daß ich mitten in deiner Predigt eingeschlafen bin. Vergib mir.« »Wir sind zwei alte Männer«, sagte der Lama. »Es war mein Fehler. Ich habe deiner Rede von der Welt und ihrem Wahn gelauscht, und ein Fehler führte zum nächsten.« »Hör ihn dir an! Welchen Schaden erleiden deine Götter, wenn du mit einem kleinen Kind spielst? Und das Lied hast du sehr schön gesungen. Laß uns weitergehen, und ich will dir das Lied von Nikal Seyn vor Delhi singen – das alte Lied.« Und sie brachen aus dem Dämmer des Mangohains auf; die hohe, schrille Stimme des alten Mannes scholl über das Feld, als er in langgezogenen Klagetönen die Geschichte von Nikal Seyn [Nicholson] ausbreitete – das Lied, das Männer bis heute im Punjab singen. Kim war begeistert, und der Lama lauschte in tiefer Anteilnahme. »Abi! Nikal Seyn ist tot – er starb vor Delhi! Lanzen des Nordens, nehmt Rache für Nikal Seyn.« Er dehnte die zitternden Triller lange aus und markierte sie mit der flachen Seite des Schwerts auf dem Rumpf des Ponys. »Und jetzt kommen wir zur großen Straße«, sagte er, als er Kims Komplimente entgegengenommen hatte; der Lama war betont still. »Es ist lange her, daß ich zuletzt diesen Weg geritten bin, aber dein Jungengerede hat mich aufgewühlt. Schau, Heiliger – die Große Straße, die das Rückgrat von ganz Hind ist. Zum größten Teil ist sie beschattet, wie hier, von vier Baumreihen; die mittlere Straße – ganz hart – ist für den schnellen Verkehr. In den Tagen vor den Eisenbahnwagen reisten die Sahibs hier zu Hunderten auf und ab. Nun sind hier nur noch Landkarren und derlei. Links und rechts ist die rauhere Straße für schwere Karren – Korn und Baumwolle und Holz, Futter, Kalk und Felle. Ein Mann mag hier in Sicherheit gehen – denn alle paar kos ist eine Polizeistation. Die
Polizisten sind Diebe und Erpresser (ich würde die Straße mit Kavallerie patrouillieren – junge Rekruten unter einem starken Offizier), aber wenigstens dulden sie keine Rivalen. Alle Kasten und Arten von Menschen bewegen sich hier entlang. Schau! Brahmanen und chumars, Bankherren und Kesselflicker, Barbiere und bunnias, Pilger und Töpfer – alle Welt kommt und geht. Für mich ist es wie ein Fluß, dem ich wie ein Baumstamm nach einer Flut nicht mehr angehöre.« Und wirklich ist die Grand Trunk Road ein wunderbares Schauspiel. Sie läuft gerade und trägt ohne Gedränge Indiens Verkehr fünfzehnhundert Meilen weit – ein Fluß von Leben, wie es ihn nirgends sonst in der Welt gibt. Sie betrachteten die schattenfleckige Länge mit den grünen Bögen, die weiße Breite, gesprenkelt von langsam schreitenden Leuten, und die Polizeistation aus zwei Räumen genau gegenüber. »Wer trägt Waffen gegen das Gesetz?« rief ein Constable lachend aus, als er das Schwert des Soldaten erblickte. »Ist die Polizei nicht genug, um Übeltäter zu vernichten?« »Gerade wegen der Polizei habe ich es gekauft«, war die Antwort. »Steht alles gut in Hind?« »Rissaldar Sahib, alles steht gut.« »Ich bin wie eine alte Schildkröte, weißt du, die ihren Kopf vom Ufer ausstreckt und wieder zurückzieht. Ja, das ist die Straße von Hindustan. Alle Menschen kommen hier vorbei…« »Sohn eines Schweins, meinst du etwa, der weiche Teil der Straße sei dazu gedacht, daß du dir den Rücken kratzt? Vater aller Töchter der Schande und Gatte von zehntausend Tugendlosen, deine Mutter war einem Teufel ergeben, und ihre Mutter hat sie ihm zugeführt. Seit sieben Generationen haben deine Tanten keine Nasen mehr gehabt! Deine Schwester… Welcher Eulenwahn hat dich dazu gebracht, deine Karren quer über die Straße zu schleppen? Ein gebrochenes Rad? Dann
nimm einen zerbrochenen Kopf dazu und setz beide gemütlich zusammen!« Die Stimme und ein wütendes Peitschenknallen kamen aus einer Staubsäule fünfzig Yards entfernt, wo ein Karren zusammengebrochen war. Eine dünne, hohe Kathiawar-Stute mit flammenden Augen und Nüstern schoß schnaubend und zuckend aus dem Gewühl; ihr Reiter jagte sie quer über die Straße hinter einem schreienden Mann her. Er war groß und graubärtig und saß auf der beinahe rasenden Stute, als wäre er ein Stück von ihr; dabei peitschte er zwischen den Sätzen seines Tiers sein Opfer mit wissenschaftlicher Genauigkeit. Das Gesicht des alten Mannes wurde hell vor Stolz. »Mein Kind!« sagte er knapp und mühte sich, den Hals des Ponys mit den Zügeln in einen angemessenen Bogen zu bringen. »Muß ich mich vor den Augen der Polizei schlagen lassen?« schrie der Fuhrmann. »Gerechtigkeit! Ich will Gerechtigkeit…« »Muß ich mir denn den Weg versperren lassen von einem brüllenden Affen, der einem jungen Pferd zehntausend Säcke vor die Nase fallen läßt? So ruiniert man eine Stute.« »Er sagt die Wahrheit. Er sagt die Wahrheit. Aber sie gehorcht dem Reiter prächtig«, sagte der alte Mann. Der Fuhrmann rannte unter die Räder seines Karrens und drohte von da mit allen möglichen Formen von Rache. »Das sind starke Männer, deine Söhne«, sagte der Polizist gelassen; er stocherte zwischen seinen Zähnen herum. Der Reiter ließ seine Peitsche noch einmal gehässig aufzucken und kam in kurzem Galopp herbei. »Mein Vater!« Er zügelte das Pferd, daß es zehn Yards zurücktänzelte, und stieg ab. Der alte Mann war in einem Moment von seinem Pony herunter, und sie umarmten einander, wie Vater und Sohn es im Osten tun.
KAPITEL IV
Good luck, she is never a lady, But the cursedest quean alive, Tricksy, wincing, and jady – Kittle to lead or drive. Greet her – she’s hailing a stranger! Meet her – she’s busking to leave! Let her alone for a shrew to the bone And the hussy comes plucking your sleeve! Largesse! Largesse, O Fortune! Give or hold at your will. If I’ve no care for Fortune, Fortune rnust follow me still! The Wishing-Caps [Das Glück ist niemals ne Dame, nein, die übelste Dirne die’s gibt, liederlich, mutwillig, unstet – stur, ob du ziehst oder schiebst. Grüß sie – sie winkt einem Fremden! Stell sie – sie zappelt, will gehn! Läßt du sie, weil sie nur zickig ist, stehn – schon läuft das Flittchen dir nach! Großzügigkeit, oh Fortuna! Gib – oder nicht; wie du willst. Wenn ich Fortuna nicht achte, Muß mir Fortuna doch folgen! Die Wünschelhüte]
Dann senkten sie die Stimmen und sprachen miteinander. Kim blieb ruhesuchend unter einem Baum stehen, aber der Lama zupfte ihn ungeduldig am Ellenbogen. »Wir wollen weitergehen. Der Fluß ist nicht hier.« »Hai mai! Sind wir nicht für eine Weile genug gelaufen?
Unser Fluß rennt uns schon nicht weg. Nur Geduld, dann wird er uns ein Almosen geben.« »Dieser da«, sagte der Soldat plötzlich, »ist der Freund der Sterne. Gestern hat er mir die Nachrichten gebracht. Nachdem er den großen Mann selbst gesehen hatte, in einer Vision, wie Er Befehle für den Krieg erteilte.« »Hm!« sagte sein Sohn ganz tief in der breiten Brust. »Er hat Basargeschwätz aufgeschnappt und genutzt.« Sein Vater lachte. »Immerhin ist er nicht zu mir geritten gekommen, um mich um ein neues Schlachtroß und die Götter mögen wissen wie viele Rupien anzubetteln. Stehen die Regimenter deiner Brüder auch unter der Order?« »Ich weiß es nicht. Ich habe Urlaub genommen und bin schnell zu dir gekommen, für den Fall…« »Für den Fall, daß sie dir beim Betteln zuvorkommen könnten. O all ihr Spieler und Verschwender! Aber du bist noch nie in einer Attacke mitgeritten. Dazu braucht man wirklich ein gutes Pferd. Und einen guten Gefolgsmann und ein gutes Pony für den Marsch. Mal sehen – mal sehen.« Er trommelte auf den Knauf. »Das ist nicht der Ort, um Berechnungen aufzustellen, mein Vater. Laß uns zu deinem Haus gehen.« »Dann bezahl wenigstens den Jungen; ich habe kein Pai bei mir, und er hat gute Nachrichten gebracht. Ho! Freund der ganzen Welt, ein Krieg steht bevor, wie du gesagt hast.« »Nein, es ist, wie ich weiß, der Krieg«, erwiderte Kim gelassen. »Eh?« sagte der Lama; er befingerte seine Perlen und sehnte sich nach der Straße. »Mein Meister bemüht die Sterne nicht für Bezahlung. Wir haben die Nachrichten überbracht – du bist Zeuge, wir haben die Nachrichten überbracht, und jetzt gehen wir.« Zur Seite hin krümmte Kim verstohlen die Hand.
Der Sohn warf eine Silbermünze durchs Sonnenlicht und brummte dabei etwas über Bettler und Gaukler. Es war ein Vierannastück und würde sie einige Tage lang gut nähren. Der Lama, der den Blitz des Metalls gesehen hatte, summte einen Segen. »Geh deinen Weg, Freund der ganzen Welt«, rief der alte Soldat mit hoher Stimme. Er wandte sein dürres Reittier. »Einmal im Leben habe ich nun doch einen wirklichen Propheten getroffen – der nicht in der Armee war.« Vater und Sohn schwenkten gemeinsam; der alte Mann saß so aufrecht wie der jüngere. Ein Punjabi-Constable in gelber Leinenhose schlurfte über die Straße. Er hatte das Geldstück gesehen. »Halt!« rief er in eindrucksvollem Englisch. »Wißt ihr nicht, daß eine takkus von zwei Annas pro Kopf, das macht vier Annas, von denen zu entrichten ist, die die Straße von diesem Nebenweg aus betreten? Das ist ein Befehl des Sirkar, und das Geld wird zum Pflanzen von Bäumen und zur Verschönerung der Wege benutzt.« »Und für Polizistenbäuche«, sagte Kim; er sprang außer Reichweite. »Denk mal einen Moment nach, du Mann mit Lehmkopf. Meinst du, wir kommen aus dem nächsten Teich wie der Frosch, dein Schwiegervater? Hast du je den Namen deines Bruders gehört?« »Und wer soll das gewesen sein? Laß den Jungen in Ruhe«, rief ein älterer Constable begeistert; er hockte sich nieder, um auf der Veranda seine Pfeife zu rauchen. »Er hat den Aufkleber von einer Flasche belaitee-pani [Sodawasser] genommen, an eine Brücke gehängt und einen Monat lang von allen, die vorbeikamen, Steuern eingenommen und gesagt, es sei ein Befehl vom Sirkar. Dann ist ein Engländer gekommen und hat ihm den Schädel eingeschlagen. O Bruder, ich bin eine Stadtkrähe, keine Dorfkrähe!« Der
Polizist zog sich verlegen zurück, und Kim verhöhnte ihn quer über die Straße. »Hat es je einen solchen Jünger gegeben wie mich?« rief er dem Lama fröhlich zu. »Die ganze Welt hätte dir schon zehn Meilen von Lahore alle Knochen aus dem Leib gestohlen, wenn ich dich nicht beschützt hätte.« »In meinem Geiste wäge ich, ob du ein Geist bist, manchmal, oder manchmal eher ein böser kleiner Teufel«, sagte der Lama mit einem langsamen Lächeln. »Ich bin dein chela.« Kim fiel an seiner Seite in Schritt – die unbeschreibliche Gangart aller Langstrecken-Wanderer in der ganzen Welt. »Nun laß uns gehen«, murmelte der Lama, und zum Klicken seines Rosenkranzes wanderten sie schweigend Meile um Meile. Der Lama war wie üblich in tiefer Meditation, aber Kims helle Augen waren weit offen. Dieser breite, lächelnde Fluß von Leben, dachte er, war doch weitaus besser als die gedrängten und beengten Straßen von Lahore. Bei jedem Schritt gab es neue Menschen und neue Anblicke – Kasten, die er kannte, und Kasten, die ihm noch niemals begegnet waren. Sie begegneten einem Trupp langhaariger, strengriechender Sansis mit Körben voller Eidechsen und anderen unreinen Nahrungsmitteln auf dem Rücken und hageren Hunden, die an ihren Hacken schnüffelten. Diese Leute blieben auf der ihnen vorbehaltenen Seite der Straße, bewegten sich in schnellem verstohlenen Trott, und alle anderen Kasten machten einen großen Bogen um sie, denn der Sansi ist schlimme Befleckung. Noch von der Erinnerung an seine Beinketten behängt, ging hinter ihnen breitbeinig und steif durch die scharfen Schatten ein frisch aus dem Gefängnis Entlassener; sein voller Bauch und die glänzende Haut zeigten, daß die Regierung ihre Gefangenen besser verpflegte, als die meisten ehrlichen Menschen sich selbst verpflegen konnten. Kim kannte diese
Gangart sehr gut und machte derbe Scherze darüber, als sie vorbeigingen. Dann stelzte ein Akali vorüber, ein wildäugiger wildhaariger fanatischer Sikh in der blaugewürfelten Kleidung seines Glaubens; Scheibchen aus poliertem Stahl glitzerten vom Kegel seines hohen blauen Turbans; er kehrte heim von einem Besuch in einem der unabhängigen Sikh-Staaten, wo er auf englischen Colleges ausgebildeten jungen Prinzen in Stulpenstiefeln und weißen Cordhosen vom alten Glanz der Khalsa gesungen hatte. Kim hütete sich, diesen Mann zu reizen, denn der Akali ist nicht langmütig und hat einen schnellen Arm. Fröhlich gekleidete Einwohnerschaften ganzer Dörfer auf dem Weg zu irgendeinem nahen Jahrmarkt begegneten ihnen hier und da oder überholten sie; die Frauen, mit Babys auf den Hüften, gingen hinter den Männern, die älteren Jungen stolzierten auf Zuckerrohrstöcken, zogen einfache Modell-Lokomotiven aus Messing hinter sich her, wie man sie für einen halben Penny kaufen kann, oder blitzten Erwachsenen mit billigen Spielzeugspiegeln Sonne in die Augen. Mit einem Blick konnte man sehen, was jeder gekauft hatte; und wenn es noch Zweifel gab, brauchte man nur die Frauen zu beobachten, wie sie die braunen Arme nebeneinanderhielten und die neuerworbenen Armbänder aus mattem Glas verglichen, die aus dem Nordwesten kommen. Diese Festteilnehmer gingen langsam, unterhielten sich laut rufend und blieben bisweilen stehen, um mit Zuckerwerkverkäufern zu feilschen oder ein Gebet zu sprechen vor einem der Schreine am Wegrand – manchmal hinduistisch, manchmal moslemisch, die die niedrigen Kasten beider Religionen in wunderbarer Unvoreingenommenheit miteinander teilen. Dann kam eine dichte blaue Reihe, steigend und fallend wie der Rücken einer hastigen Raupe, durch den bebenden Staub schaukelnd näher und trabte unter schnellem Geschnatter vorüber. Das war eine Gruppe von changars – den
Frauen, die alle Dämme aller Eisenbahnen des Nordens unter ihre Obhut genommen haben –, ein plattfüßiger, dickbusiger, starkknochiger, blauröckiger Clan von Erdträgerinnen, wegen Nachrichten über neue Arbeit eilig auf dem Weg nach Norden und nicht bereit, am Straßenrand Zeit zu vergeuden. Sie gehören zu einer Kaste, bei der Männer nicht zählen, und sie gingen mit abgespreizten Ellenbogen, schaukelnden Hüften und hocherhobenen Köpfen, wie es Frauen zukommt, die schwere Lasten tragen. Ein wenig später kam eine Hochzeitsprozession auf die Grand Trunk Road, mit Musik und Geschrei, und der Duft von Ringelblumen und Jasmin war kräftiger als selbst der Gestank des Staubs. Als verschwommener Fleck von Rot und Rauschgold war die Brautsänfte zu sehen, wie sie durch den Dunst schwankte, während das bekränzte Pony des Bräutigams sich zur Seite wandte, um ein Maulvoll von einer vorüberfahrenden Futterkarre zu schnappen. Dann beteiligte Kim sich am Kreuzfeuer guter Wünsche und schlechter Witze und wünschte dem Paar hundert Söhne und keine Töchter, wie man so sagt. Noch interessanter und noch mehr Anlaß zu Geschrei war es, wenn ein wandernder Gaukler mit ein paar halbgezähmten Affen oder einem keuchenden schlappen Bären oder einer Frau, die sich Ziegenhörner an die Füße band und damit auf einem durchhängenden Seil tanzte, die Pferde scheu machte und die Frauen zu schrillen, langgezogenen Trillern des Staunens brachte. Der Lama hob kein einziges Mal die Augen. Er bemerkte weder den Geldverleiher auf seinem Pony mit Gänserumpf, der vorüberhastete, um grausamen Zins zu kassieren, noch die kleine, immer noch militärisch formierte Gruppe eingeborener Soldaten auf Urlaub, die mit tiefen Stimmen ausdauernd grölten und es genossen, Uniformhosen und Gamaschen los zu sein, und den ehrbarsten Frauen, die sie sahen, die unfeinsten
Dinge sagten. Nicht einmal den Verkäufer von Ganges-Wasser sah er, während Kim erwartet hatte, er werde wenigstens eine Flasche dieser Kostbarkeit kaufen. Er blickte beharrlich auf den Boden und ging ebenso beharrlich Stunde um Stunde weiter; seine Seele war anderswo beschäftigt. Aber Kim war im siebten Himmel der Freude. Die Grand Trunk Road war an dieser Stelle auf einem Damm angelegt, um gegen Winterfluten aus den Vorbergen geschützt zu sein, so daß man gewissermaßen ein wenig über dem Land ging, einen stattlichen Korridor entlang, und ganz Indien links und rechts ausgebreitet sah. Es war herrlich, die vieljochigen Korn- und Baumwollkarren zu sehen, die über die Landwege krochen: Eine Meile weit konnte man ihre Achsen klagen, dann näherkommen hören, bis sie schließlich mit Schreien und Gellen und Flüchen die steile Böschung erklommen und unter gegenseitigen Beschimpfungen der Fuhrleute auf der harten Hauptstraße landeten. Genauso herrlich war es, die Leute zu beobachten, kleine Klumpen von Rot und Blau und Rosa und Weiß und Safran, die seitlich abbogen, um zu ihren Dörfern zu gehen, sich zerstreuten und zu zweit und dritt auf der flachen Ebene immer kleiner wurden. Kim empfand all das, wenn er seine Gefühle auch nicht ausdrücken konnte, und deshalb begnügte er sich damit, geschältes Zuckerrohr zu kaufen und das Mark großzügig ringsum auf den Weg zu spucken. Von Zeit zu Zeit nahm der Lama eine Prise Schnupftabak, und schließlich konnte Kim das Schweigen nicht mehr ertragen. »Das ist ein gutes Land – das Land des Südens!« sagte er. »Die Luft ist gut; das Wasser ist gut. Eh?« »Und sie alle sind auf das Rad gebunden«, sagte der Lama. »Gebunden von Leben zu Leben. Keinem von diesen ist der Pfad gewiesen.« Er schüttelte sich selbst in diese Welt zurück.
»Und nun sind wir müde und weit gewandert«, sagte Kim. »Bestimmt kommen wir bald zu einem parao [Rastplatz]. Sollen wir dort bleiben? Sieh, die Sonne neigt sich.« »Wer wird uns heute abend aufnehmen?« »Das ist ganz gleich. Das Land ist voll von guten Menschen. Außerdem« – er ließ die Stimme zu einem Flüstern sinken – »haben wir Geld.« Die Menge wurde dichter, als sie dem Rastplatz näherkamen, der das Ende ihrer Tagesreise markierte. Eine Reihe von Verkaufsständen mit sehr einfachem Essen und Tabak, ein Stapel Feuerholz, eine Polizeistation, ein Brunnen, ein Pferdetrog, ein paar Bäume und darunter zertrampelter Boden, bestreut mit der schwarzen Asche alter Feuer, sind alles, was einen parao an der Grand Trunk Road ausmacht; wenn man absieht von den Bettlern und Krähen – beide hungrig. Inzwischen schob die Sonne breite goldene Speichen durch die unteren Äste der Mangobäume; die Sittiche und Tauben kamen zu Hunderten heim; die Sieben-Schwestern, graurückig und plappernd, beredeten die Abenteuer des Tages, indem sie fast unter den Füßen der Reisenden zu zweit und zu dritt hin und her trippelten; und Schubsen und Schuckern in den Zweigen zeigte an, daß die Fledermäuse bereit waren, die Nachtwache zu übernehmen. Schnell sammelte sich das Licht, malte für einen Moment die Gesichter und die Karrenräder und die Hörner der Ochsen blutrot. Dann senkte sich die Nacht, ließ die Luft sich anders anfühlen, zog einen niedrigen ebenen Dunst gleich einem blauen Gazeschleier über das Gesicht des Landes und hob scharf und deutlich den Ruch von Holzrauch und Vieh hervor und den guten Duft von Weizenkuchen, in Asche gebacken. Die Abendpatrouille stürzte aus der Polizeistation, mit wichtigtuerischem Gehuste und wiederholten Befehlen; und eine wabernde Holzkohlenkugel in der hookah-Schale eines Fuhrmanns am Wegrand glomm rot,
während Kims Auge mechanisch das letzte Flackern der Sonne auf der Messingzange beobachtete. In kleinerem Maßstab glich das Leben des parao sehr dem im Kaschmir-Serai. Kim tauchte in das fröhliche asiatische Chaos, das einem, wenn man nur genug Zeit hat, alles bringt, was ein einfacher Mann braucht. Er brauchte nicht viel zu entbehren, denn da der Lama keine Kastenskrupel hatte, reichte gekochtes Essen vom nächsten Stand; aber um des schieren Luxus’ willen kaufte Kim eine Handvoll Dungfladen für ein Feuer. Ringsumher kamen und gingen Männer um die kleinen Flammen, riefen nach Öl oder Korn oder Zuckerwerk oder Tabak, drängelten einander beiseite, während sie darauf warteten, am Brunnen an die Reihe zu kommen; und unter den Männerstimmen hörte man aus stehenden, verhängten Wagen das hohe Quietschen und Kichern von Frauen, deren Gesichter nicht öffentlich gesehen werden sollten. Heutzutage sind gebildete Eingeborene der Meinung, wenn ihre Frauen reisen – und sie machen viele Besuche –, sei es besser, sie in einem geziemend abgeschirmten Abteil schnell mit der Eisenbahn fahren zu lassen; und diese Sitte breitet sich aus. Aber es gibt immer noch die vom alten Schlag, die sich an die Bräuche ihrer Vorfahren halten; und vor allem gibt es da immer die alten Frauen – konservativer als die Männer –, die am Ende ihrer Tage auf eine Pilgerfahrt gehen. Da sie welk und nicht mehr begehrenswert sind, haben sie unter bestimmten Umständen nichts dagegen, sich zu entschleiern. Nach ihrer langen Abgeschlossenheit, in der sie immer geschäftlich mit tausend auswärtigen Interessen in Berührung waren, lieben sie die Umtriebe und Aufregungen der offenen Straße, die Versammlungen an den Schreinen und die unendlichen Möglichkeiten, mit gleichgesinnten Witwen zu klatschen. Sehr oft ist es einer schwergeprüften Familie nur
recht, daß eine alte Dame mit kraftvoller Zunge und eisernem Willen sich auf diese Weise in Indien tummelt; denn gewiß sind Pilgerfahrten den Göttern wohlgefällig. Daher findet man in ganz Indien, an den entlegensten wie an den zugänglichsten Stellen, Knäuel ergrauter Diener mit symbolischer Zuständigkeit für eine alte Dame, die mehr oder minder versteckt und hinter Vorhängen in einem Ochsenkarren sitzt. Solche Männer sind gesetzt und diskret, und wenn ein Europäer oder ein Eingeborener von hoher Kaste in der Nähe ist, umgeben sie die ihnen Anvertraute mit einem Netz höchst ausgetüftelter Vorkehrungen; aber für die gewöhnlichen Zufallsbegegnungen einer Pilgerreise werden diese Vorkehrungen nicht getroffen. Schließlich ist die alte Dame ja überaus menschlich und lebt, um das Leben zu betrachten. Kim merkte einen bunt verzierten ruth vor, einen FamilienOchsenkarren mit einem bestickten Baldachin aus zwei Kuppeln, wie ein zweihöckriges Kamel, der eben in den parao gezogen worden war. Sein Gefolge bestand aus acht Männern, und zwei von ihnen waren mit rostigen Säbeln bewaffnet – sichere Zeichen dafür, daß sie einer vornehmen Person folgten, denn das einfache Volk trägt keine Waffen. Anschwellendes Gegacker von Beschwerden, Befehlen und Scherzen und für europäische Begriffe schlimmen Ausdrücken kam hinter den Vorhängen hervor. Hier war offenbar eine kommandogewohnte Frau. Kritisch musterte Kim das Gefolge. Die Hälfte von ihnen waren dünnbeinige graubärtige Ooryas vom flachen Land. Die andere Hälfte bestand aus Bergbewohnern des Nordens mit dicker Wollkleidung und Filzhüten; und diese Mischung sprach für sich, selbst wenn er nicht das unaufhörliche Gezänk zwischen den beiden Teilen gehört hätte. Die alte Dame fuhr nach Süden zu einem Besuch – wahrscheinlich bei einem reichen Verwandten, höchstwahrscheinlich bei einem
Schwiegersohn, der ihr als Zeichen seines Respekts eine Eskorte entgegengeschickt hatte. Die Bergbewohner gehörten wohl zum Volk der alten Dame – Leute aus Kulu oder Kangra. Es war ganz klar, daß sie nicht ihre Tochter zu deren Hochzeit brachte, sonst wären die Vorhänge fest verschnürt gewesen, und die Wache hätte niemanden in die Nähe des Wagens gelassen. Eine fröhliche und lebhafte Dame, dachte Kim, während er in der einen Hand den Dungfladen, in der anderen das gekochte Essen balancierte und den Lama mit leichten Schulterstößen vorwärtslotste. Aus der Begegnung ließe sich vielleicht etwas machen. Der Lama würde nichts dazu beitragen, aber als gewissenhafter chela bettelte Kim sehr gern für zwei. Er machte sein Feuer so nah am Wagen wie möglich und wartete darauf, daß einer von der Eskorte ihn fortwies. Der Lama ließ sich müde auf die Erde nieder, ganz wie eine von vielen Früchten überschwere Fledermaus kauert, und kehrte zu seinem Rosenkranz zurück. »Geh weiter weg, Bettler!« Einer der Bergbewohner brüllte den Befehl in gebrochenem Hindustani. »Hah! Das ist ja nur ein pahari [Bergmensch]«, sagte Kim über die Schulter. »Seit wann besitzen denn die Bergesel ganz Hindustan?« Die Antwort war eine schnelle und prachtvolle Skizze von Kims Vorfahren der letzten drei Generationen. »Ah!« Kims Stimme war süßer denn je, während er den Dungfladen in geeignete Stücke brach. »In meinem Land nennen wir so etwas den Anfang von Liebesgeflüster.« Ein hartes dünnes Kichern hinter den Vorhängen spornte den Bergbewohner zu einem feinen zweiten Ausfall an. »Nicht schlecht – gar nicht schlecht«, sagte Kim gelassen. »Aber sieh dich vor, mein Bruder, sonst könnten wir – wir, sage ich – auf den Gedanken kommen, dir einen Fluch oder
derlei zurückzugeben. Und unsere Flüche sind immer unangenehm treffsicher.« Die Ooryas lachten; der Bergbewohner sprang drohend vor. Der Lama hob jäh den Kopf und brachte dabei seine ungeheure Pilgermütze voll ins Licht von Kims jungem Feuer. »Was ist denn?« sagte er. Der Mann blieb stehen wie zu Stein erstarrt. »Ich… ich… bin vor einer großen Sünde bewahrt worden«, stammelte er. »Endlich hat der Fremde einen passenden Priester gefunden«, flüsterte einer der Ooryas. »Hai! Warum wird dieser Bettlerlümmel nicht gehörig verprügelt?« rief die alte Frau. Der Bergbewohner zog sich zum Wagen zurück und flüsterte dem Vorhang etwas zu. Zuerst herrschte Totenstille, dann wurde gemurmelt. ›Das sieht gut aus‹, dachte Kim; er tat, als höre und sehe er nichts. »Wenn… wenn… er gegessen hat«, – der Bergbewohner wandte sich demütig an Kim – »dann… dann möge der Heilige einer Person, die mit ihm reden möchte, die Ehre des Sprechens erweisen.« »Wenn er gegessen hat, wird er schlafen«, gab Kim erhaben zurück. Er konnte noch nicht so recht absehen, welche neue Wendung das Spiel genommen hatte, war jedoch entschlossen, daraus Nutzen zu ziehen. »Jetzt will ich ihm sein Essen beschaffen.« Der letzte Satz, laut gesagt, endete mit einem Seufzer wie von Erschöpfung. »Ich… ich und die anderen von meinem Volk werden uns darum kümmern… wenn es erlaubt ist.« »Es ist erlaubt«, sagte Kim, hochmütiger als je zuvor. »Heiliger, diese Leute werden uns Essen bringen.« »Das Land ist gut. Das ganze Südland ist gut – eine große und schreckliche Welt«, murmelte der Lama schläfrig.
»Laßt ihn schlafen«, sagte Kim, »aber sorgt dafür, daß wir gut zu essen haben, wenn er aufwacht. Er ist ein sehr heiliger Mann.« Wieder sagte einer der Ooryas verächtlich irgend etwas. »Er ist kein Fakir. Er ist kein Bettler aus dem Flachland«, fuhr Kim streng fort, an die Sterne gewandt. »Er ist der heiligste aller heiligen Männer. Er ist über allen Kasten. Ich bin sein chela.« »Komm her!« sagte eine flache dünne Stimme hinter dem Vorhang; und Kim kam, wohl wissend, daß Augen, die er nicht sehen konnte, ihn anstarrten. Ein dürrer brauner Finger, schwer von Ringen, lag auf der Kante des Wagens, und das Gespräch verlief so: »Wer ist dieser Mann?« »Ein überaus heiliger Mann. Er kommt von weither. Er kommt aus Tibet.« »Woher in Tibet?« »Von jenseits des Schnees – von einem sehr fernen Ort. Er kennt die Sterne; er macht Horoskope; er liest Nativitäten. Aber er tut es nicht für Geld. Er tut es aus Güte und großem Erbarmen. Ich bin sein jünger. Ich werde auch Freund der Sterne genannt.« »Du bist kein Bergmensch.« »Frag ihn. Er wird dir sagen, daß ich ihm von den Sternen gesandt wurde, um ihm das Ziel seiner Pilgerreise zu zeigen.« »Humph! Denk dran, du Lümmel, daß ich eine alte Frau bin, keine vollendete Närrin. Lamas kenne ich und ehre sie auch, aber du bist so viel ein echter chela, wie mein Finger hier die Wagendeichsel ist. Du bist ein kastenloser Hindu – ein dreister und schamloser Bettler und hast dich wohl deshalb an den Heiligen gehängt, weil es dir Gewinn bringt.« »Arbeiten wir denn nicht alle für Gewinn?« Kim wechselte sofort seinen Ton und paßte sich der veränderten Stimme an.
»Ich habe gehört…« – diesen Bogen spannte er auf gut Glück – »ich habe gehört…« »Was hast du gehört?« fuhr sie ihn an; dabei klopfte sie mit dem Finger. »Nichts, woran ich mich genau erinnern könnte, nur Gerede aus dem Basar, und zweifellos sind es Lügen, daß nämlich sogar Radschas – kleine Radschas aus den Bergen…« »Aber trotzdem von gutem Rajput-Blut.« »Natürlich von gutem Blut. Daß sogar sie die hübscheren von ihren Frauen um Gewinn verkaufen. Im Süden verkaufen sie sie – an zemindars und derlei Leute in Oudh.« Wenn es in der Welt etwas gibt, wovon die kleinen BergRadschas nichts wissen wollen, dann ist es dieser Vorwurf; aber er ist zufällig das, was die Basare glauben, wenn sie über Indiens geheimnisvollen Sklavenhandel reden. Mit eindringlichem empörten Flüstern erklärte die alte Dame Kim, welche Sorte und Machart von bösartigem Lügner er genau sei. Wenn Kim dies angedeutet hätte, als sie ein Mädchen war, so wäre er noch am selben Abend von einem Elefanten zu Tode getrampelt worden. Das war die reine Wahrheit. »Ahai! Ich bin doch nur ein Bettlerlümmel, wie das Auge der Schönheit gesagt hat«, jammerte er in übertriebenem Entsetzen. »Auge der Schönheit, was! Wer bin ich denn, mir von dir Bettlerzärtlichkeiten zuwerfen zu lassen?« Und dennoch lachte sie über das längst vergessene Wort. »Vor vierzig Jahren hätte man das von mir sagen können, und es wäre wahr gewesen. Ja, noch vor dreißig Jahren. Aber das kommt von dieser Herumzieherei hin und her durch Hind, daß eine Königswitwe mit sämtlichem Abschaum des Landes zusammenstoßen und sich von Bettlern verspotten lassen muß.« »Große Königin«, sagte Kim prompt, denn er hörte sie vor Empörung zittern, »ich bin genau das, was die Große Königin
von mir sagt; aber trotz allem ist mein Meister heilig. Er hat noch nicht den Befehl der Großen Königin gehört, daß er…« »Befehl? Ich soll einem Heiligen – einem Lehrer des Gesetzes – befehlen, daß er herkommt und mit einer Frau redet? Niemals!« »Erbarme dich meiner Dummheit. Ich dachte, es wäre ein Befehl gewesen…« »Das war es nicht. Es war eine Bitte. Erklärt das hier endlich alles?« Eine Silbermünze klirrte auf der Wagenkante. Kim nahm sie und verneigte sich tief. Die alte Dame begriff, daß er, als Auge und Ohr des Lamas, günstig gestimmt werden mußte. »Ich bin nur der Jünger des Heiligen. Wenn er gegessen hat, wird er vielleicht kommen.« »Ah, du Schuft und schamloser Schurke!« Der juwelenbesetzte Zeigefinger bewegte sich vorwurfsvoll hin und her, aber Kim konnte das Kichern der alten Dame hören. »Nun, worum geht es?« fragte er; dabei fiel er in seinen schmeichelndsten und vertraulichsten Ton – jenen, dem nur wenige widerstehen konnten, wie er wohl wußte. »Ist… ist es, weil in deiner Familie ein Sohn fehlt? Sprich offen, denn wir Priester…« Letzteres war das direkte Plagiat eines Fakirs vom Taksali-Tor. »Wir Priester! Du bist noch nicht alt genug, um…« Sie unterbrach den Witz durch neues Lachen. »Glaub mir, o Priester, hin und wieder denken wir Frauen an anderes als an Söhne. Außerdem hat meine Tochter ihr Mannkind bereits geboren.« »Zwei Pfeile im Köcher sind besser als einer, und drei sind noch besser.« Kim zitierte das Sprichwort mit einem gedankenvollen Husten und schaute dabei diskret auf den Boden.
»Wahr – wie wahr. Aber das kommt vielleicht. Jedenfalls sind diese Flachland-Brahmanen völlig nutzlos. Ich habe ihnen Geschenke und Geld und nochmals Geschenke geschickt, und sie haben prophezeit.« »Ah«, sagte Kim, langgedehnt und kehlig und mit unendlicher Verachtung. »Sie haben prophezeit!« Ein echter Priester hätte es nicht besser machen können. »Und erst, als ich mich an meine eigenen Götter erinnerte, sind meine Gebete erhört worden. Ich habe eine günstige Stunde gewählt, und – vielleicht hat dein Heiliger vom Abt des Klosters Lung-Cho gehört. Er war es, dem ich die Sache vorgelegt habe, und siehe da, zu bestimmter Zeit hat sich alles so ergeben, wie ich es gewünscht hatte. Der Brahmane im Haus des Vaters vom Sohn meiner Tochter sagte hinterher, das läge alles an seinen Gebeten – was ein kleiner Irrtum ist, wie ich ihm auseinandersetzen werde, wenn wir unser Reiseziel erreicht haben. Und deshalb reise ich hinterher nach Buddh Gaya, um shraddha für den Vater meiner Kinder abzuhalten.« »Wir gehen auch dahin.« »Doppelt verheißungsvoll«, zwitscherte die alte Dame. »Endlich ein zweiter Sohn!« »O Freund der ganzen Welt!« Der Lama war erwacht und rief nach Kim, so einfach wie ein Kind, das sich verblüfft in einem fremden Bett wiederfindet. »Ich komme! Ich komme, Heiliger!« Er stürzte ans Feuer, wo er den Lama schon von Schüsseln mit Essen umgeben fand; die Bergbewohner beteten ihn sichtlich an, und die Leute aus dem Süden blickten sauer drein. »Geht fort! Zieht euch zurück!« rief Kim. »Essen wir etwa öffentlich wie Hunde?« Sie beendeten das Mahl schweigend, jeder ein wenig vom anderen abgewandt, und Kim krönte es mit einer einheimischen Zigarette.
»Habe ich nicht hundertmal gesagt, daß der Süden ein gutes Land ist? Hier ist die tugendhafte und hochgeborene Witwe eines Bergradschas; sie sagt, sie ist auf einer Pilgerfahrt nach Buddh Gaya. Sie ist es, die uns diese Schüsseln schickt; und wenn du dich ausgeruht hast, würde sie gern mit dir sprechen.« »Ist das wieder dein Werk?« Der Lama griff tief in seine Schnupfdose. »Wer sonst hat dich denn seit Beginn unserer wundervollen Reise behütet?« Kims Augen tanzten, während er den stinkenden Rauch durch die Nase blies und sich auf dem staubigen Boden ausstreckte. »Habe ich es versäumt, für dein Wohlbefinden zu sorgen, Heiliger?« »Einen Segen über dich.« Der Lama neigte sein feierliches Haupt. »In meinem ach so langen Leben habe ich viele Männer gekannt und nicht wenige Jünger. Aber zu keinem unter den Menschen, wenn du denn wirklich von einer Frau geboren wurdest, ist mein Herz so hingegangen wie zu dir – fürsorglich, klug und höflich; aber du hast auch etwas von einem kleinen Teufel.« »Und ich habe nie einen Priester wie dich gesehen.« Kim musterte das gütige gelbe Gesicht Runzel um Runzel. »Es ist nicht einmal drei Tage her, daß wir zusammen aufgebrochen sind, und doch ist es, als wären es hundert Jahre.« »Vielleicht ist es mir in einem früheren Leben erlaubt gewesen, dir irgendeinen Dienst zu erweisen. Vielleicht« – er lächelte – »habe ich dich aus einer Falle befreit oder in den Tagen, da ich noch nicht erleuchtet war, in den Fluß zurückgeworfen, nachdem ich dich mit einem Haken gefangen hatte.« »Vielleicht«, sagte Kim leise. Er hatte diese Art Spekulation wieder und wieder aus dem Mund solcher Menschen gehört, die von den Engländern für fantasielos gehalten wurden. »Was
nun die Frau in dem Ochsenkarren angeht, so glaube ich, daß sie einen zweiten Sohn für ihre Tochter braucht.« »Das ist nicht Teil des Pfads.« Der Lama seufzte. »Aber immerhin, sie ist aus den Bergen. Ah, die Berge, und der Schnee der Berge!« Er erhob sich und stelzte zum Wagen. Kim hätte seine Ohren dafür gegeben, mitkommen zu dürfen, aber der Lama forderte ihn nicht dazu auf; und die wenigen Wörter, die er aufschnappte, waren in einer unbekannten Zunge, denn sie redeten eine in den Bergen verbreitete Sprache. Die Frau schien Fragen zu stellen, die der Lama in seinem Kopf hin und her wandte, ehe er antwortete. Hin und wieder hörte er die Singsang-Kadenz eines chinesischen Zitats. Es war ein seltsames Bild, das Kim unter gesenkten Lidern betrachtete. Der Lama, sehr gerade und aufrecht, die tiefen Falten seiner gelben Kleidung zerschlitzt von Schwärze im Licht der pamoFeuer, ganz wie ein knotiger Baumstamm von den Schatten der tiefstehenden Sonne zerschlitzt wird, sprach zu einem lackierten Rauschgold-ruth, der im gleichen Ungewissen Licht wie ein vielfarbiges Juwel flammte. Die Muster auf den golddurchwirkten Vorhängen liefen hinauf und hinab, schmolzen und bildeten sich neu, wie die Falten sich im Nachtwind verwarfen und bebten; und als das Gespräch ernster wurde, schnippte der juwelenbesetzte Zeigefinger Lichtfünkchen zwischen den Stickereien hervor. Hinter dem Wagen war ein Wall Ungewissen Dunkels, gesprenkelt von kleinen Flammen und belebt von halberblickten Gestalten und Gesichtern und Schatten. Die Stimmen des frühen Abends hatten sich zu einem besänftigenden Summen gesetzt, dessen tiefster Ton das gleichmäßige Malmen der Ochsen über ihrem Häckselstroh war und dessen höchster das Sirren der Sitar eines bengalischen Tanzmädchens. Die meisten Männer hatten
gegessen und sogen tief an ihren gurgelnden, grunzenden bookahs, die bei vollem Zug wie Ochsenfrösche klingen. Endlich kam der Lama zurück. Ein Bergbewohner ging hinter ihm, mit einer wattierten Steppdecke, und breitete sie sorgfältig am Feuer aus. ›Sie hat zehntausend Enkel verdient‹, dachte Kim. ›Trotzdem – ohne mich wären diese Geschenke nicht hergekommen.‹ »Eine tugendhafte Frau – und klug.« Der Lama erschlaffte, Gelenk um Gelenk, wie ein gemächliches Kamel. »Die Welt ist voller Barmherzigkeit für jene, die dem Pfad folgen.« Er warf gut die Hälfte der Decke über Kim. »Und was hat sie gesagt?« Kim wickelte sich in seinen Anteil. »Sie hat mir viele Fragen gestellt und viele Probleme vorgelegt – die meisten davon waren eitle Geschichten, die sie von Teufelspriestern gehört hatte, die vorgeben, dem Pfad zu folgen. Einige habe ich beantwortet, von anderen habe ich gesagt, sie seien töricht. Viele tragen das Gewand, aber wenige verharren auf dem Weg.« »Wahr. Das ist wahr.« Kim verwandte den nachdenklichen, vermittelnden Ton jener, die etwas Vertrauliches erfahren möchten. »Aber für ihre Möglichkeiten ist sie überaus rechtschaffen. Sie wünscht sehr dringend, daß wir mit ihr nach Buddh Gaya gehen, da ihre Straße, wenn ich es recht verstehe, für viele Tagereisen nach Süden die unsere ist.« »Und?« »Ein wenig Geduld. Hierzu habe ich ihr gesagt, daß meine Suche allem anderen vorgeht. Sie hatte viele närrische Legenden gehört, aber nie diese große Wahrheit über meinen Fluß. So sind die Priester der minderen Berge! Sie kannte den Abt von Lung-Cho, aber sie wußte nichts von meinem Fluß – auch nichts über die Geschichte vom Pfeil.«
»Und?« »Deshalb habe ich über die Suche und über den Weg gesprochen, und über Dinge, die förderlich sind; sie aber wollte nur, daß ich sie begleite und um einen zweiten Sohn bete.« »Aha! ›Wir Frauen‹ denken an nichts außer an Kinder«, sagte Kim schläfrig. »Da nun unsere Straßen eine Weile zusammengehen, glaube ich nicht, daß wir irgendwie von unserer Suche abweichen, wenn wir sie denn begleiten – wenigstens bis… ich habe den Namen der Stadt vergessen.« »Ohe!« sagte Kim; er wandte sich um und redete in scharfem Flüsterton einen der Ooryas an, die wenige Yards entfernt waren. »Wo steht das Haus deines Herren?« »Kurz hinter Saharanpur, zwischen den Obstgärten.« Er nannte das Dorf. »Das war der Ort«, sagte der Lama. »So weit können wir immerhin mit ihr gehen.« »Fliegen gehen zum Aas«, sagte der Oorya wie beiläufig. »Für die kranke Kuh eine Krähe; für den kranken Mann einen Brahmanen.« Ganz unpersönlich hauchte Kim das Sprichwort zu den Schattenwipfeln der Bäume empor. Der Oorya knurrte und schwieg. »Dann gehen wir also mit ihr, Heiliger?« »Gibt es einen Grund dagegen? Ich kann immer noch zur Seite gehen und alle Flüsse prüfen, über die die Straße führt. Sie wünscht,, daß ich mitkomme. Sie wünscht es sehr dringend.« In der Steppdecke erstickte Kim ein Lachen. Wenn sich diese gebieterische alte Dame erst von ihrer natürlichen Ehrfurcht vor einem Lama erholt hatte, dachte er, würde es vermutlich einiges wert sein, ihr zuzuhören.
Er war fast eingeschlafen, als der Lama plötzlich ein Sprichwort zitierte: »Die Gatten der Geschwätzigen ernten im künftigen Leben großen Lohn.« Dann hörte Kim ihn dreimal schnupfen und schlief immer noch lachend ein. Der diamanthelle Dämmer weckte Menschen und Krähen und Ochsen zugleich. Kim setzte sich auf und gähnte, schüttelte sich und schauerte vor Wonne. Das war der wirkliche Anblick der Welt; das war Leben, wie er es mochte – Getriebe und Geschrei, das Schnallen der Gürtel und Schnalzen der Ochsentreiber und Schnarren der Räder, Feueranzünden und Essenkochen und neue Anblicke, wohin das Auge auch beifällig schaute. Die Morgennebel zerrissen zu quirlendem Silber, die Papageien schossen in kreischenden grünen Heeren zu einem fernen Fluß davon; alle Brunnenräder in Hörweite gingen ans Werk. Indien war erwacht, und Kim war mitten darin, wacher und erregter als alle anderen; er kaute auf einem Zweig, den er gleich als Zahnbürste benutzen würde, denn er bediente sich zur Rechten wie zur Linken von allen Gebräuchen des Landes, das er kannte und liebte. Es war nicht nötig, sich um Essen zu sorgen – nicht nötig, auch nur eine kauri an den umlagerten Ständen auszugeben. Er war der Jünger eines heiligen Mannes, den eine willensstarke alte Dame annektiert hatte. Alles würde ihnen bereitet werden, und sobald man sie ehrerbietig einlud, würden sie sich setzen und essen. Im übrigen – Kim kicherte hier, während er sich die Zähne reinigte – würde ihre Gastgeberin das Vergnügen an der Reise eher noch erhöhen. Kritisch inspizierte er ihre Ochsen, als sie grunzend und schnaufend unter dem Joch herbeikamen. Wenn sie zu schnell gingen – das war nicht wahrscheinlich –, gäbe es für ihn einen angenehmen Sitz auf der Deichsel; der Lama würde neben dem Fahrer sitzen. Die Eskorte würde natürlich zu Fuß gehen. Genauso natürlich würde die alte Dame sehr viel reden, und nach dem, was er bisher gehört
hatte, würde diese Unterhaltung gut gesalzen sein. Sie war jetzt schon dabei, zu befehlen, Reden zu halten, zu rüffeln und, das muß gesagt werden, ihre Diener wegen Verzögerungen zu verfluchen. »Bringt ihr ihre Pfeife. Im Namen der Götter, bringt ihr die Pfeife und stopft ihr den unheilvollen Mund«, rief ein Oorya, der seine formlosen Bettenbündel schnürte. »Sie und die Papageien sind gleich. Sie kreischen im Morgengrauen.« »Die Leitochsen! Hai! Paß auf die Leitochsen auf!« Sie drängten nach hinten und drehten sich, als die Achse eines Kornkarrens ihre Hörner erfaßte. »Sohn einer Eule, wohin fährst du denn?« Das galt dem grinsenden Fuhrmann. »Ai! Yai! Yai! Das da drin ist die Königin von Delhi, die um einen Sohn beten geht«, rief der Mann über seine hohe Ladung zurück. »Macht Platz für die Königin von Delhi und ihren Ersten Minister, den grauen Affen, der an seinem eigenen Schwert hochklettert!« Ein weiterer Karren, beladen mit Borke für eine Gerberei im Hinterland, folgte dicht dahinter, und der Fahrer fügte einige Komplimente hinzu, während die ruthOchsen wieder und wieder nach rückwärts drängelten. Von jenseits der ruckenden Vorhänge kam eine Salve von Beschimpfungen. Sie dauerte nicht lang, aber in Art und Beschaffenheit, in ätzender, beißender Trefflichkeit ging sie weit über alles hinaus, was selbst Kim je gehört hatte. Er konnte sehen, wie die nackte Brust des Fuhrmanns vor Verblüffung einsackte, als der Mann sich ehrerbietig vor der Stimme verneigte, von der Deichsel sprang und der Eskorte half, ihren Vulkan auf die Hauptstraße zu ziehen. Hier erzählte die Stimme ihm noch wahrheitsliebend, welche Sorte Frau er geheiratet hatte und was sie in seiner Abwesenheit trieb. »Oh, shabash!« murmelte Kim, unfähig, an sich zu halten, als der Mann fortschlich.
»Gutgemacht, ja? Es ist eine Schmach und Schande, daß eine arme Frau nicht reisen kann, um zu ihren Göttern zu beten, ohne vom gesamten Auswurf Hindustans angerempelt und beleidigt zu werden – daß sie gâli [Schimpf] essen muß, wie Männer ghi essen. Aber wenigstens habe ich noch etwas auf der Zunge – ein oder zwei gutgesagte Wörter, die zum Anlaß passen. Und noch immer habe ich meinen Tabak nicht! Wer ist der einäugige und glücklose Sohn der Schande, der meine Pfeife noch nicht fertig hat?« Ein Bergbewohner schob sie hastig durch die Vorhänge, und Rinnsale dicken Rauchs auf beiden Seiten zeigten, daß der Friede wiederhergestellt war. War Kim am Vortag als Jünger eines heiligen Mannes stolz marschiert, so schritt er heute mit zehnfachem Stolz im Zug einer nahezu königlichen Prozession, mit einem anerkannten Platz unter der Gönnerschaft einer alten Dame von bezaubernden Umgangsformen und unerschöpflichem Einfallsreichtum. Die Eskorte, mit nach Landessitte umwickelten Köpfen, setzte sich zu beiden Seiten des Wagens schlurfend in Gang und wirbelte gewaltige Staubwolken auf. Der Lama und Kim gingen ein wenig abseits; Kim kaute auf seinem Zuckerrohr und wich niemandem aus, der nicht mindestens den Status eines Priesters hatte. Sie konnten die Zunge der alten Dame klappern hören, so stetig wie ein Reisschäler. Sie forderte die Eskorte auf, ihr zu erzählen, was sich auf der Straße ereignete; und sobald sie den Bereich des parao verlassen hatten, schlug sie die Vorhänge zurück und spähte hinaus, das Gesicht zu einem Drittel verschleiert. Ihre Männer sahen sie nicht direkt an, wenn sie mit ihnen sprach, und so blieb die Schicklichkeit mehr oder minder gewahrt. Ein fahlgelber Distrikt-Superintendent der Polizei in makelloser Uniform, ein Engländer, trabte auf einem müden
Pferd vorbei, und da er an ihrem Gefolge sah, welche Art Persönlichkeit sie war, neckte er sie. »O Mutter«, rief er, »macht man das so in den zenanas? Angenommen, ein Engländer käme vorbei und sähe, daß du keine Nase hast?« »Was?« schrie sie schrill zurück. »Deine eigene Mutter hat keine Nase? Mußt du das denn unbedingt auf offener Straße erzählen?« Es war ein guter Gegenschlag. Der Engländer hob die Hand mit der Geste eines Mannes, der bei Schwertkampf getroffen wurde. Sie lachte und nickte. »Ist das denn ein Gesicht, mit dem man die Tugend auf Abwege locken kann?« Sie zog den Schleier ganz beiseite und starrte ihn an. Das Gesicht war keineswegs lieblich, aber während der Mann die Zügel wieder aufnahm, nannte er es Mond des Paradieses, Verstörer der Redlichkeit und belegte es mit einigen weiteren fantastischen Bezeichnungen, bis sie sich vor Wonne krümmte. »So ein nat-kat [Schuft]«, sagte sie. »Alle Polizei-Constables sind nat-kats; aber die Polizeiwallahs sind die schlimmsten. Hai, mein Sohn, das hast du bestimmt nicht alles gelernt, seit du aus Belait [Europa] gekommen bist. Wer hat dich gesäugt?« »Eine pahareen – eine Bergfrau aus Dalhousie, meine Mutter. Schirme deine Schönheit – o Walterin der Wonnen«, und fort war er. »Das ist die Sorte« – sie schlug einen feinen kritischen Ton an und stopfte sich den Mund voll pan – »das ist die Sorte, die über die Gerechtigkeit wachen sollte. Sie kennen das Land und seine Gebräuche. Die anderen, ganz frisch aus Europa, gesäugt von weißen Frauen, die, die unsere Sprachen aus Büchern lernen, die sind schlimmer als die Pest. Sie fügen Königen Leid zu.« Dann erzählte sie der Welt im allgemeinen eine lange, lange Geschichte über einen unwissenden jungen
Polizeibeamten, der den Frieden eines kleinen Bergradschas gestört hatte, eines ihrer Vettern neunten Grades, nur wegen eines unwichtigen Streits um Ländereien; sie schloß mit einem Zitat aus einem keineswegs frommen Werk. Dann wechselte ihre Stimmung, und sie befahl einem von der Eskorte zu fragen, ob der Lama neben ihr hergehen und religiöse Fragen diskutieren möge. Also fiel Kim im Staub zurück und wandte sich wieder seinem Zuckerrohr zu. Eine Stunde oder länger war die Pilgermütze des Lamas wie ein Mond im Dunst zu sehen; und aus allem, was er hören konnte, schloß Kim, daß die alte Frau weinte. Einer der Ooryas entschuldigte sich halb und halb für seine Grobheit in der Nacht und sagte, er habe seine Herrin nie in einer derart milden Stimmung gesehen, und das schreibe er der Anwesenheit des fremden Priesters zu. Zwar glaube er persönlich an Brahmanen, obwohl er wie alle Einheimischen genau über ihre Gerissenheit und Gier Bescheid wisse. Aber wenn Brahmanen die Mutter der Frau seines Herren durch ihr forderndes Gebettel doch nur ärgerten und wenn sie sie dann fortschickte, worüber diese so erbost seien, daß sie das gesamte Gefolge verfluchten (was auch der wahre Grund dafür sei, daß vorn rechts der zweite Ochse lahmte und eine Nacht zuvor die Deichsel gebrochen war), dann sei er bereit, jeden Priester jeder Sekte inner- oder außerhalb Indiens hinzunehmen. Dem stimmte Kim mit weisem Nicken zu und bat den Oorya, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Lama kein Geld annehme und daß die Kosten für sein und Kims Essen hundertfach durch das Glück vergolten würden, das hinfort mit der Karawane sein werde. Außerdem erzählte er Geschichten aus der Stadt Lahore und sang ein oder zwei Lieder, die die Eskorte zum Lachen brachten. Als Stadtmaus und gut vertraut mit den neuesten Liedern der feinsten Komponisten – die meisten von diesen sind Frauen – hatte Kim Männern aus einem kleinen
Obstbauerndorf hinter Saharanpur entschieden einiges voraus; er überließ es jedoch ihnen, dies zu bemerken. Mittags bogen sie zum Essen von der Straße ab, und das Mahl war gut, reichhaltig und fein auf sauberen Blättern als Teller serviert, mit allem Anstand und außerhalb des wallenden Staubs. Die Reste gaben sie bestimmten Bettlern, um allen Vorschriften zu genügen, und setzten sich dann zu langem schwelgerischen Rauchen. Die alte Dame hatte sich hinter ihre Vorhänge zurückgezogen, beteiligte sich aber sehr freimütig am Gespräch, wobei ihre Diener mit ihr stritten und ihr widersprachen, wie Diener es überall im Osten tun. Sie verglich die Kühle und die Kiefern der Berge von Kangra und Kulu mit dem Staub und den Mangos des Südens; sie erzählte eine Geschichte von irgendwelchen alten Ortsgöttern am Rand des Machtbereichs ihres Mannes; unverblümt schmähte sie den Tabak, den sie gerade rauchte, lästerte alle Brahmanen und spekulierte ohne jede Zurückhaltung über die Ankunft zahlreicher Enkel.
KAPITEL V
Here come I to my own again – Fed, forgiven, and known again– Claimed by bone of my bone again, And sib to flesh of my flesh! The fatted calf is dressed for me, But the husks have greater zest for me… I think my pigs will be best for me, So I’m off to the styes afresh. The Prodigal Son [So komm ich zu den Meinen heim, genährt, vergeben und wieder erkannt, aufgenommen vom eigenen Blut und neu verwandt mit dem eigenen Fleisch! Das gemästete Kalb ist bereitet für mich, doch bergen die Schoten mehr Würze für mich… Meine Schweine sind wohl das beste für mich, drum geh ich zu den Koben zurück. Der verlorene Sohn]
Wieder setzte sich die träge, verschnürte, schlurfende Prozession in Gang, und die alte Dame schlief bis zum nächsten Rastplatz. Es war ein sehr kurzer Marsch, und bis zum Sonnenuntergang blieb noch eine Stunde; deshalb suchte Kim nach Möglichkeiten, sich zu amüsieren. »Aber warum willst du nicht sitzen und dich ausruhen?« sagte einer von der Eskorte. »Nur die Teufel und die Engländer laufen ohne Grund hin und her.«
»Schließ nie Freundschaft mit dem Teufel, einem Affen oder einem Jungen. Keiner weiß, was sie als nächstes machen«, sagte der neben ihm. Voller Verachtung wandte Kim ihnen den Rücken zu – er hatte keine Lust, sich die alte Geschichte anzuhören, wie der Teufel einmal mit Jungen spielte und es bereute – und schlenderte langsam landeinwärts. Der Lama schritt hinter ihm her. Den ganzen Tag hatte er, sooft sie einen Fluß überquerten, die Straße verlassen, um das Wasser zu betrachten, aber in keinem Fall hatte er ein Zeichen empfangen, daß er seinen Fluß gefunden habe. Außerdem war es angenehm, mit jemandem in einer vernünftigen Zunge sprechen zu können und von einer hochgeborenen Frau als ihr geistlicher Ratgeber geziemend gewürdigt und geachtet zu werden, und das hatte seine Gedanken ein wenig der Suche entwöhnt. Ferner war er darauf vorbereitet, in Gelassenheit Jahre auf seine Suche zu verwenden, da er nichts von der Ungeduld des Weißen, wohl aber großen Glauben besaß. »Wohin gehst du?« rief er Kim nach. »Nirgendwohin – es war ein kleiner Marsch, und all das« – Kim winkte mit den Händen – »ist mir neu.« »Ohne jede Frage ist sie eine kluge und scharfsichtige Frau. Aber Meditieren ist schwierig, wenn…« »Alle Frauen sind so.« Kim sprach, wie Salomon hätte sprechen können. »Vor dem Kloster war eine breite Plattform«, murmelte der Lama; er entrollte den abgegriffenen Rosenkranz. »Aus Stein. Darauf habe ich die Abdrücke meiner Füße hinterlassen – auf und nieder, auf und nieder, mit diesen.« Er ließ die Perlen klicken und begann die Om mani padme hums seiner Andacht, dankbar für Kühle, Stille und das Fehlen von Staub.
Viele verschiedene Dinge nacheinander lockten Kims müßige Augen über die Ebene. Dieses Schweifen hatte kein bestimmtes Ziel, abgesehen davon, daß die Bauweise der nahen Hütten ihm neuartig schien, und das wollte er untersuchen. Sie kamen auf einen breiten Streifen Weidelands, braun und purpurn im Abendlicht, mit einem schweren Klumpen von Mangobäumen in der Mitte. Es erschien Kim seltsam, daß an einem so gut geeigneten Platz kein Schrein stand; bei derlei Dingen war der Junge aufmerksam wie jeder Priester. Weit auf der Ebene gingen nebeneinander vier Männer, klein in der Entfernung. Unter seinen gekrümmten Handflächen blickte Kim scharf hin und sah etwas metallisch blinken. »Soldaten. Weiße Soldaten!« sagte er. »Laß uns nachsehn.« »Immer sind Soldaten da, wenn du und ich allein unterwegs sind. Aber weiße Soldaten habe ich noch nie gesehen.« »Sie tun einem nichts, außer, wenn sie betrunken sind. Bleib hinter dem Baum da.« Sie traten hinter die dicken Stämme im kühlen Dunkel des Mango-Hains. Zwei kleine Gestalten hielten an; die beiden anderen kamen zögernd näher. Sie waren der Voraustrupp eines Regiments auf dem Marsch, wie üblich ausgeschickt, um das Lager zu markieren. Sie trugen fünf Fuß lange Stäbe mit flatternden Flaggen und unterhielten sich rufend, während sie sich auf der flachen Erde voneinander entfernten. Schließlich kamen sie mit schweren Schritten in das MangoWäldchen. »Hier oder hier rum – Offizierszelte unter den Bäumen, schätz ich, und der Rest von uns draußen. Harn die hinten was für die Packwagen markiert?« Wieder riefen sie ihren Kameraden in der Ferne etwas zu, und die grobe Antwort kam schwach und mild an. »Dann steck den Wimpel hier rein«, sagte einer.
»Was bereiten sie dort?« sagte der Lama ganz verwundert. »Dies ist eine große und schreckliche Welt. Was bedeutet das Bild auf der Flagge?« Wenige Fuß von ihnen entfernt rammte ein Soldat eine Stange in den Boden, knurrte unzufrieden, zog sie wieder heraus, beriet sich mit seinem Kameraden, der in der schattigen grünen Höhle hin und her blickte, und brachte sie dann wieder an die erste Stelle zurück. Kim starrte mit aufgerissenen Augen; er atmete kurz und scharf durch die Zähne. Die Soldaten stapften davon, in den Sonnenschein. »O Heiliger!« ächzte er. »Mein Horoskop! Die Staubzeichnung des Priesters in Ambala! Weißt du noch, was er gesagt hat? Zuerst kommen zwei… ferashes, um alles zu bereiten – an einem dunklen Platz, wie immer zu Beginn einer Vision.« »Aber dies ist keine Vision«, sagte der Lama. »Es ist der Trug der Welt, sonst nichts.« »Und nach ihnen kommt der Stier – der Rote Stier auf dem grünen Feld. Sieh! Er ist es!« Er deutete auf den Wimpel, der keine zehn Fuß entfernt in der Abendbrise knatterte. Es war nichts als ein gewöhnlicher Markierungs-Wimpel; aber das Regiment, beim Herausputzen immer auf Form bedacht, hatte ihn mit dem Regimentswappen geschmückt, dem Roten Stier, dem Wappentier der Mavericks – der große Rote Stier auf einem Grund von Irisch-Grün. »Ich sehe es, und nun erinnere ich mich«, sagte der Lama. »Gewiß ist dies dein Stier. Ebenso gewiß sind die beiden Männer gekommen, um alles zu bereiten.« »Sie sind Soldaten – weiße Soldaten. Was hat der Priester gesagt? ›Das Zeichen über dem Stier ist das Zeichen des Kriegs und bewaffneter Männer.‹ Heiliger, das hier betrifft meine Suche.«
»Das stimmt. Es ist wahr.« Der Lama blickte starr auf das Wappen, das wie ein Rubin in der Dämmerung flammte. »Der Priester in Ambala hat gesagt, dein Zeichen sei das des Krieges.« »Was ist nun zu tun?« »Warten. Laß uns warten.« »Jetzt hellt sich auch das Dunkel auf«, sagte Kim. Es war nur natürlich, daß die sinkende Sonne schließlich zwischen die Baumstämme schien, quer durch den Hain, und ihn ein paar Minuten lang mit mehligem goldenen Licht füllte; aber für Kim war es die Krone der Prophezeiung des Brahmanen aus Ambala. »Horch!« sagte der Lama. »Man schlägt eine Trommel – weit fort!« Zunächst ähnelte der Ton, verdünnt von der stehenden Luft, dem Klopfen einer Arterie im Kopf. Bald kam Schärfe hinzu. »Ah! Die Musik«, erklärte Kim. Er kannte den Klang einer Regiments kapelle, aber den Lama verwirrte es. Am anderen Ende der Ebene kroch eine schwere, staubige Kolonne in Sicht. Dann brachte der Wind die Melodie: We crave your condescension To tell you what we know Of marching in the Mulligan Guards To Sligo Port below! [Wir bitten um Erlaubnis, euch alles zu erzählen vom Marsch mit den Mulligan Guards hinab nach Sligo Port!]
Hier brachen die schrillen Querpfeifen hinein:
We shouldered arms, We marched – we marched away. From Phoenix Park We marched to Dublin Ray. The drums and the fifes Oh, sweetly they did play, As we marched – marched – marched – with the Mulligan Guards! [Gewehre über sind wir fortmarschiert vom Phoenix Park bis hin zur Dublin Bay. Die Trommeln und die Pfeifen, schön haben sie gespielt, auf dem Marsch – Marsch – Marsch mit den Mulligan Guards!]
Es war die Kapelle der Mavericks, die das Regiment ins Lager spielte; denn die Männer befanden sich auf einem Übungsmarsch mit ihrem Gepäck. Die wellige Kolonne schwenkte in gerade Linie – die Wagen dahinter –, teilte sich nach links und rechts, wuselte wie ein Ameisenhaufen herum, und… »Aber das ist Hexerei!« sagte der Lama. Die Ebene sprenkelte sich mit Zelten, die fertig gespannt aus den Wagen zu wachsen schienen. Ein weiterer Schwung von Männern drang in den Hain, schlug schweigend ein riesiges Zelt auf, daneben noch acht oder neun kleinere, förderte Kochtöpfe, Pfannen und Bündel zutage, von denen ein Haufen eingeborener Diener Besitz ergriff; und der Mangowald verwandelte sich zusehend in eine ordentliche Stadt. »Laß uns gehen«, sagte der Lama; er wich ängstlich zurück, als die Feuer aufblinzelten und weiße Offiziere mit klirrenden Degen ins Messezelt stapften. »Bleib im Schatten stehen. Niemand kann weiter sehen, als das Licht vom Feuer reicht«, sagte Kim; seine Augen hingen noch immer am Wimpel. Er hatte nie zuvor gesehen, mit
welcher Routine ein erfahrenes Regiment in dreißig Minuten ein Lager aufschlägt. »Sieh! Sieh! Sieh!« Der Lama gluckste. »Dort kommt ein Priester.« Es war Bennett, der anglikanische Kaplan des Regiments; in verstaubtem Schwarz kam er dahergehinkt. Eines seiner Schäfchen hatte eine grobe Bemerkung über den Eifer des Kaplans gemacht; und um ihn zu beschämen, war Bennett diesen Tag Schritt für Schritt mit den Männern marschiert. Das schwarze Gewand, das goldene Kreuz an der Uhrkette, das unbehaarte Gesicht und der weiche schwarze Schlapphut hätten ihn überall in Indien sofort als heiligen Mann kenntlich gemacht. Er ließ sich am Eingang zum Messezelt auf einen Feldstuhl fallen und streifte die Stiefel ab. Drei oder vier Offiziere sammelten sich um ihn und lachten und witzelten über seine Heldentat. »Die Rede weißer Männer ermangelt jeglicher Würde«, sagte der Lama, der nur nach dem Tonfall urteilte. »Aber ich habe das Antlitz dieses Priesters bedacht und ich glaube, er ist ein Gelehrter. Ob er wohl unsere Sprache versteht? Ich möchte mit ihm von meiner Suche reden.« »Sprich nie mit einem Weißen, solange er nicht gegessen hat«, sagte Kim, ein bekanntes Sprichwort zitierend. »Sie werden jetzt essen, und – und ich glaube nicht, daß man bei ihnen gut betteln kann. Laß uns zum Rastplatz zurückgehen. Wenn wir gegessen haben, kommen wir wieder her. Es war ganz sicher ein Roter Stier – mein Roter Stier.« Sie waren beide merklich geistesabwesend, als das Gefolge der alten Dame ihnen ihr Mahl vorsetzte; daher störte niemand sie in ihrer Zurückhaltung, denn es bringt Unglück, Gäste zu verärgern. »Nun wollen wir zu diesem Ort zurückgehen«, sagte Kim; er stocherte in seinen Zähnen. »Aber du, o Heiliger, mußt ein
Stückchen weiter weg warten, denn deine Füße sind schwerer als meine, und ich möchte unbedingt mehr von dem Roten Stier sehen.« »Aber wie kannst du denn die Rede verstehen? Geh langsam. Der Weg ist dunkel«, erwiderte der Lama besorgt. Kim ließ die Frage unbeantwortet. »Ich habe mir eine Stelle nahe bei den Bäumen gemerkt«, sagte er, »wo du sitzen kannst, bis ich rufe. Nein«, – als der Lama einen Einwand versuchte – »erinnere dich daran, dies ist meine Suche – die Suche nach meinem Roten Stier. Das Zeichen in den Sternen war nicht für dich. Ich weiß ein wenig über die Gebräuche weißer Soldaten, und ich bin immer begierig, Neues zu sehen.« »Was weißt du denn nicht von dieser Welt?« Gehorsam hockte sich der Lama in eine kleine Bodensenke, keine hundert Yards entfernt von den Mangobäumen, einem dunklen Buckel vor dem sternbesprühten Himmel. »Bleib bis ich rufe.« Kim huschte ins Halbdunkel. Er wußte, daß aller Wahrscheinlichkeit nach Posten um das Lager aufgestellt sein würden, und lächelte vor sich hin, als er die schweren Stiefel eines Mannes hörte. Ein Junge, der in einer mondhellen Nacht über die Dächer von Lahore schleichen und den kleinsten Fleck und Winkel von Dunkelheit nutzen kann, um seine Verfolger zu täuschen, wird sich kaum von einer Kette gut ausgebildeter Soldaten aufhalten lassen. Er machte ihnen ein Kompliment, indem er genau zwischen zwei Posten hindurchkroch, und dann näherte er sich, rennend und anhaltend, kauernd und plattliegend, dem erleuchteten Messezelt, wo er sich dicht hinter den nächsten Mangobaum preßte und darauf wartete, daß ein zufälliges Wort ihm einen verfolgbaren Faden in die Hand gäbe. Das einzige, was er nun im Sinn hatte, war, mehr über den Roten Stier zu erfahren. Nach allem, was er wußte, – und Kims Beschränkungen waren ebenso seltsam und jäh wie seine
Unumschränktheiten – mochten die Männer, die neunhundert vollendeten Teufel aus der Prophezeiung seines Vaters, nach Beginn der Dunkelheit dieses Tier anbeten wie Hindus die Heilige Kuh. Dies wäre jedenfalls ganz in Ordnung und logisch, und der Pater mit dem goldenen Kreuz wäre demnach der Mann, den man in einer solchen Angelegenheit zu Rat ziehen sollte. Andererseits erinnerte Kim sich an die Patres mit den nüchternen Gesichtern, denen er in Lahore aus dem Weg gegangen war, und dieser Priester hier mochte ein zudringlicher Quälgeist sein und von ihm verlangen, daß er etwas lerne. Aber hatte sich nicht in Ambala erwiesen, daß sein Zeichen hoch am Himmel Krieg und bewaffnete Männer bedeutete? War er denn nicht der Freund der Sterne ebenso wie der der ganzen Welt, bis an die Zähne vollgepfropft mit furchtbaren Geheimnissen? Letztlich – und zuerst, als Unterströmung all seiner schnellen Gedanken – war das Abenteuer, wenn er dieses Wort auch nicht kannte, ein prachtvoller Spaß – eine herrliche Fortsetzung seiner früheren Fluchten über die Hausdächer und dazu noch die Erfüllung einer erhabenen Prophezeiung. Er lag flach auf dem Bauch und schlängelte sich zum Eingang des Messezelts, eine Hand auf dem Amulett an seinem Hals. Es war, wie er vermutet hatte. Die Sahibs beteten zu ihrem Gott; denn mitten auf dem Messetisch – und sein einziger Tafelschmuck, wenn sie auf dem Marsch waren – stand ein goldener Stier, hergestellt aus altem Plündergut aus dem Sommerpalast von Peking – ein rotgoldener Bulle mit gesenktem Kopf, sprungbereit auf einem Feld von Irisch-Grün. Ihm hielten die Sahibs ihre Gläser entgegen und riefen wild durcheinander. Nun verließ der Reverend Arthur Bennett die Messe immer nach dem Trinkspruch, und da er von seinem Marsch ziemlich müde war, waren seine Bewegungen jäher als sonst. Mit leicht
erhobenem Kopf starrte Kim noch immer sein Totem auf dem Tisch an, als der Kaplan auf sein rechtes Schulterblatt trat. Kim zuckte unter dem Leder zurück, rollte zur Seite und brachte den Kaplan zu Fall, der ihn, immer ein Mann der Tat, an der Kehle packte und fast zu Tode würgte. Darauf trat Kim ihm verzweifelt in den Magen. Mr. Bennett ächzte und krümmte sich, ließ jedoch nicht los, wälzte sich herum und zerrte Kim schweigend zu seinem Zelt. Die Mavericks waren unheilbar vernarrt in Streiche; und dem Engländer schien es, als wäre Schweigen das Beste, bis er ganz sicher war. »Was, das ist ja ein Junge!« sagte er, als er seine Beute unter das Licht der Laterne an der Zeltstange geschleppt hatte; er schüttelte ihn heftig und rief: »Was hast du da gemacht? Du bist ein Dieb. Choor? Mallum?« Sein Hindustani war sehr begrenzt, und der zerzauste und angewiderte Kim gedachte, diese ihm vorgeschriebene Rolle beizubehalten. Während er wieder zu Atem kam, erfand er schon eine wunderbar glaubwürdige Geschichte über seine Beziehungen zu einem Küchenjungen, und dabei hielt er das Auge aufmerksam auf und ein bißchen unter die linke Achselhöhle des Kaplans gerichtet. Die Chance kam; er tauchte zur Tür, aber ein langer Arm reckte sich und langte nach seinem Nacken, zerriß die Amulettschnur und schloß sich um das Amulett. »Gib es mir. O, gib es mir. Ist es fort? Gib mir die Papiere.« Die Wörter kamen auf Englisch – dem blechernen, zersägten Englisch der Eingeborenen, und der Kaplan fuhr empor. »Ein Skapulier«, sagte er, als er die Hand öffnete. »Nein, irgendein heidnischer Zauber. Aber – wieso sprichst du Englisch? Kleine Jungen die stehlen werden verprügelt. Weißt du das nicht?« »Ich hab nicht… ich hab nicht gestohlen.« Kim tanzte in Todesangst wie ein Terrier vor einem erhobenen Stock. »Oh, gib es mir. Es ist mein Zauber. Stiehl es mir nicht.«
Der Kaplan beachtete ihn nicht, sondern ging zur Zelttür und rief laut etwas. Ein dicklicher, glattrasierter Mann erschien. »Ich brauche Ihren Rat, Pater Victor«, sagte Bennett. »Den Jungen hier habe ich im Dunkeln vor dem Messezelt gefunden. Normalerweise würde ich ihn züchtigen und laufen lassen; ich halte ihn nämlich für einen Dieb. Aber er scheint Englisch zu sprechen und legt einigen Wert auf einen Zauber, den er am Hals getragen hat. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.« Zwischen ihm und dem römisch-katholischen Kaplan des irischen Kontingents lag, wie Bennett glaubte, ein nicht zu überbrückender Abgrund; es war jedoch auffällig, daß die Kirche von England, so oft sie es mit einem menschlichen Problem zu tun hatte, dazu neigte, die Kirche von Rom hinzuzuziehen. Bennetts amtlicher Abscheu gegen Das Weib in Scharlach und all ihre Eigenarten kam nur sein privater Respekt vor Pater Victor gleich. »Ein Dieb der Englisch kann? Lassen Sie mal seinen Zauber sehen. Nein, das ist kein Skapulier, Bennett.« Er streckte die Hand aus. »Aber haben wir denn das Recht, es zu öffnen? Eine gesunde Tracht Prügel…« »Ich hab nicht gestohlen«, protestierte Kim. »Du hast mich überall getreten. Nun gib mir meinen Zauber, dann geh ich.« »Nicht so eilig. Erst wollen wir mal sehen«, sagte Pater Victor; gemächlich rollte er das »ne varietur«-Pergament des armen Kimball O’Hara auf, seine Entlassungsurkunde und Kims Taufschein. Auf letzteren hatte O’Hara – in der wirren Vorstellung, er tue Wunder was für seinen Sohn – Dutzende Male gekritzelt: »Kümmert euch um den Jungen. Bitte kümmert euch um den Jungen.« Darunter hatte er seinen Namen und die Nummer des Regiments voll ausgeschrieben.
»Mächte der Finsternis in der Tiefe!« sagte Pater Victor; er reichte alles an Mr. Bennett weiter. »Weißt du, was es mit diesen Sachen auf sich hat?« »Ja«, sagte Kim. »Sie gehören mir, und ich will fortgehen.« »Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Mr. Bennett. »Er hat sie doch wohl absichtlich hergebracht. Das kann irgendein Bettlertrick sein.« »Dann hab ich aber noch nie nen Bettler gesehn, der es so eilig hat, seine Gesellschaft zu wechseln. Das sieht mir aus wie n nettes Geheimnis. Glauben Sie an die Vorsehung, Bennett?« »Ich hoffe doch.« »Also, ich glaub jedenfalls an Wunder, und das kommt aufs gleiche raus. Mächte der Finsternis! Kimball O’Hara! Und sein Sohn! Aber der hier ist ein Eingeborener, und ich hab selbst gesehn, wie Kimball Annie Shott geheiratet hat. Wie lang hast du die Sachen schon, Junge?« »Seit ich kleines Kind war.« Pater Victor machte einen schnellen Schritt nach vorn und öffnete Kims Obergewand an der Brust. »Sehn Sie, Bennett, er ist nicht besonders schwarz. Wie heißt du?« »Kim.« »Oder Kimball?« »Vielleicht. Laßt ihr mich gehen?« »Wie heißt du weiter?« »Sie nennen mich Kim Rishtike. Das heißt Kim von den Rishti.« »Was bedeutet das – ›Rishti‹?« »Az-rishti – das war das Regiment – von meinem Vater.« »Irisch, aha, ich verstehe.« »Ja. So hat mein Vater es mir gesagt. Mein Vater, der hat gelebt.« »Wo hat er gelebt?« »Er hat gelebt. Aber natürlich ist er tot – weggegangen.«
»Oh! Drückst du sowas immer so knapp aus?« Bennett unterbrach. »Es ist möglich, daß ich dem Jungen unrecht getan habe. Er ist ganz klar ein Weißer, wenn auch offensichtlich vernachlässigt. Bestimmt habe ich ihm arg wehgetan. Ich glaube nicht, daß Alkohol…« »Dann geben Sie ihm ein Glas Sherry und lassen Sie ihn auf der Pritsche hocken. So, Kim«, fuhr Pater Victor fort, »keiner tut dir was. Trink das aus und erzähl uns von dir. Die Wahrheit, wenns dir nichts ausmacht.« Kim hustete ein wenig, als er das leere Glas absetzte, und überlegte. Es schien die Zeit für Vorsicht und Fantasie zu sein. Kleine Jungen, die sich in Lagern herumtreiben, werden in der Regel geprügelt und weggejagt. Er hatte aber noch keine Striemen abbekommen; offenkundig wirkte das Amulett zu seinen Gunsten, und es schien, als ob das Horoskop von Ambala und die wenigen Worte aus den Faseleien seines Vaters, an die er sich noch erinnern konnte, ganz wunderbar zusammenpaßten. Warum sonst sollte der dicke Pater so beeindruckt sein, und warum sonst das Glas mit dem scharfen gelben Getränk von dem Hageren? »Mein Vater, der ist in Lahore-City tot, seit ich ganz klein bin. Die Frau, sie hat einen kaharri-Laden gehabt, nahe von wo die Mietwagen stehn.« Kim stürzte sich einfach hinein; er wußte noch nicht recht, wie weit die Wahrheit ihn bringen würde. »Deine Mutter?« »Nein!« – mit einer Geste des Abscheus. »Die ist weggegangen, als ich geboren wurde. Mein Vater, der hat diese Papiere vom Jadoo-Gher – wie sagt ihr das?« (Bennett nickte.) »Er war da nämlich in – gutem Ansehen. Wie sagt ihr das?« (Wieder nickte Bennett.) »Mein Vater hat mir das erzählt. Er hat auch gesagt, und der Brahmane auch, der vor zwei Tagen in Ambala die Zeichnung im Staub gemacht hat,
der hat gesagt, daß ich einen Roten Stier auf grünem Feld finde und daß der Stier mir hilft.« »Ein phänomenaler kleiner Lügner«, knurrte Bennett. »Mächte der Finsternis in der Tiefe, was für ein Land!« murmelte Pater Victor. »Weiter, Kim.« »Ich hab nicht gestohlen. Außerdem bin ich jetzt der Jünger von einem sehr heiligen Mann. Er sitzt draußen. Wir haben zwei Männer kommen sehn, mit Flaggen, die den Platz bereitet haben. Das ist immer so in einem Traum, oder wenn es um eine… eine Prophezeiung geht. Deshalb wußte ich, daß es in Erfüllung geht. Ich hab den Roten Stier auf dem grünen Feld gesehn, und mein Vater hat gesagt: ›Neunhundert pukka Teufel und der Oberst auf einem Pferd werden sich um dich kümmern, wenn du den Roten Stier findest!‹ Ich hab nicht gewußt, was ich tun soll, als ich den Stier gesehn hab, aber ich bin weggegangen und wiedergekommen, als es dunkel war. Ich wollte den Stier wiedersehn, und ich hab ihn wiedergesehn mit den… den Sahibs, wie sie ihn angebetet haben. Ich glaube, der Stier wird mir helfen. Der heilige Mann hat das auch gesagt. Er sitzt jetzt draußen. Tut ihr ihm weh, wenn ich ihn jetzt rufe? Er ist sehr heilig. Er kann alles bezeugen, was ich sage, und er weiß, daß ich kein Dieb bin.« »›Sahibs, die einen Stier anbeten!‹ Was um alles in der Welt machen Sie daraus?« sagte Bennett. »›Jünger eines heiligen Mannes!‹ Ist der Junge verrückt?« »Das ist O’Haras Junge, ganz sicher. O’Haras Junge im Bund mit allen Mächten der Finsternis. Ganz genau was sein Vater getan hätte – wenn er betrunken war. Wir sollten wohl den heiligen Mann herholen. Vielleicht weiß er was.« »Er weiß nichts davon«, sagte Kim. »Ich werd ihn euch zeigen, wenn ihr mitkommt. Er ist mein Meister. Danach können wir dann gehn.«
»Mächte der Finsternis!« war alles, was Pater Victor sagen konnte, als Bennett losmarschierte, eine Hand fest auf Kims Schulter. Sie fanden den Lama dort, wo er sich niedergelassen hatte. »Die Suche ist für mich zu Ende«, rief Kim in der Landessprache. »Ich habe den Stier gefunden, aber nur Gott weiß, was als nächstes kommt. Sie werden dir nicht wehtun. Komm zum Zelt des fetten Priesters, mit diesem dünnen Mann, und sieh, wie es ausgeht. Alles ist neu, und sie können kein Hindi. Sie sind bloß ungestriegelte Esel.« »Dann ist es nicht gut, ihre Unwissenheit zu verspotten«, erwiderte der Lama. »Ich bin glücklich, wenn du dich freust, chela.« Würdevoll und ohne Argwohn schritt er in das kleine Zelt, grüßte die Kirchen wie ein Kirchenmann und setzte sich neben die offene Holzkohlenpfanne. Im Widerschein des Lampenlichts machte die gelbe Auskleidung des Zelts sein Gesicht goldrot. Bennett betrachtete ihn mit der dreifach verschanzten Gleichgültigkeit jenes Glaubens, der neun Zehntel der Welt in den Topf mit der Aufschrift »Heiden« wirft. »Und was war das Ende deiner Suche? Welche Gabe hat der Rote Stier gebracht?« Der Lama wandte sich an Kim. »Er sagt: ›Was wollt ihr nun tun?‹« Bennett starrte Pater Victor unsicher an, und höchst eigennützig übernahm Kim das Amt des Dolmetschers. »Ich sehe nicht, was dieser Fakir mit dem Jungen zu tun haben soll, der entweder von ihm an der Nase herumgeführt wird oder mit ihm unter einer Decke steckt«, begann Bennett. »Wir können doch nicht zulassen, daß ein englischer Junge… Angenommen, er ist wirklich der Sohn eines Freimaurers, je eher er dann ins Freimaurer-Waisenhaus kommt, desto besser.«
»Ah! Das meinen Sie als Sekretär der Regimentsloge«, sagte Pater Victor; »aber wir können dem alten Mann ruhig sagen, was wir tun wollen. Er sieht mir nicht aus wie ein Schurke.« »Meiner Erfahrung nach ist der orientalische Geist niemals auszuloten. Also, Kimball, ich möchte, daß du diesem Mann sagst, was ich jetzt sage – Wort für Wort.« Kim faßte die Bedeutung der folgenden Sätze zusammen und begann so: »Heiliger, der dünne Narr, der aussieht wie ein Kamel, sagt, daß ich der Sohn eines Sahibs bin.« »Aber wieso?« »Ach, das stimmt schon. Ich habe es seit meiner Geburt gewußt, aber er mußte erst das Amulett von meinem Hals reißen und die ganzen Papiere lesen, um es herauszufinden. Er meint, einmal ein Sahib ist immer ein Sahib, und die beiden überlegen sich jetzt, ob sie mich bei diesem Regiment halten oder in eine madrissah [Schule] stecken sollen. Das sollte ich früher auch schon. Ich habe mich immer darum drücken können. Der fette Narr will etwas, und der kamelige etwas anderes. Aber das ist ohne Bedeutung. Vielleicht verbringe ich eine Nacht hier und vielleicht noch die nächste. Das ist schon einmal so gewesen. Dann laufe ich fort und komme zu dir zurück.« »Aber sag ihnen doch, daß du mein chela bist. Sag ihnen, wie du zu mir gekommen bist, als ich schwach und verwirrt war. Erzähl ihnen von unserer Suche, und dann lassen sie dich sicher sofort gehen.« »Ich habe es ihnen schon erzählt. Sie lachen und reden von der Polizei.« »Was redet ihr da?« fragte Mr. Bennett. »Och. Er sagt nur, wenn ihr mich jetzt nicht gehen laßt, stört ihn das bei seinem Vorhaben – seinen dringlichen Privaaatangelegenheiten.« Letzteres war eine Erinnerung an
Gespräche mit einem eurasischen Schreiber im Kanaldepartement, aber es rief nur ein Lächeln hervor, was Kim ärgerte. »Und wenn ihr wüßtet, was sein Vorhaben ist, hättet ihr es nicht so schrecklich eilig, euch einzumischen.« »Worum gehts denn?« sagte Pater Victor nicht ohne Mitgefühl; er betrachtete das Gesicht des Lamas. »Es gibt einen Fluß in diesem Land, den er ganz driiingend finden will. Der Fluß ist von einem Pfeil gemacht worden, der…« Kim stampfte ungeduldig mit dem Fuß, während er im Geiste aus der Umgangssprache in das unbeholfene Englisch übersetzte. »Aah, er ist gemacht worden von unserem HErrn Gott Buddha, wißt ihr, und wenn man sich darin wäscht, werden einem alle Sünden abgewaschen, und dann ist man weiß wie Baumwollwatte.« (Kim hatte gelegentlich Missionarsgerede gehört.) »Ich bin sein Jünger, und wir müssen diesen Fluß finden. Es ist so driiinglich wichtig für uns.« »Sag das nochmal«, sagte Bennett. Kim gehorchte, mit Ausschmückungen. »Aber das ist grobe Gotteslästerung!« rief die Kirche von England. »Tck! tck!« sagte Pater Victor teilnahmsvoll. »Ich gäb was dafür, wenn ich die Landessprache könnte. Ein Fluß, der Sünden abwäscht! Und wie lang sucht ihr zwei schon danach?« »Oh, viele Tage. Jetzt möchten wir gehn und wieder danach suchen. Hier ist der Fluß nicht, wißt ihr.« »Ja, ich verstehe«, sagte Pater Victor ernst. »Aber er kann nicht weiter mit dem alten Mann rumziehn. Es wär was anderes, Kim, wenn du nicht der Sohn eines Soldaten wärst. Sag ihm, daß das Regiment sich um dich kümmert und aus dir nen Mann machen wird, der so gut ist wie dein… nen sehr
guten Mann machen wird. Sag ihm, wenn er an Wunder glaubt, dann muß er auch glauben, daß…« »Sie brauchen nicht mit seiner Leichtgläubigkeit zu spielen«, unterbrach Bennett. »Ich tu nichts dergleichen. Er muß glauben, daß es eine Art Wunder ist, daß der Junge hergekommen ist – zu seinem eigenen Regiment – auf der Suche nach seinem Roten Stier. Bedenken Sie, wie unwahrscheinlich das ist, Bennett. Ausgerechnet dieser von allen Jungen in Indien, und von allen Regimentern auf dem Marsch ausgerechnet unseres, auf das er hier trifft! Das ist ganz offensichtlich vorherbestimmt. Ja, sag ihm, es ist kismet. Kismet, mallum [Verstehst du]?« Er wandte sich dem Lama zu, dem er ebensogut etwas über Mesopotamien hätte erzählen können. »Sie sagen« – das Auge des alten Mannes leuchtete bei Kims Rede auf –, »sie sagen, daß die Bedeutung meines Horoskops sich jetzt erfüllt hat und daß ich jetzt, wo ich einmal zu diesen Leuten und ihrem Roten Stier geführt worden bin – aber du weißt ja, daß ich aus Neugier gegangen bin –, daß ich jetzt unbedingt in eine madrissah gehen und zu einem Sahib gemacht werden muß. Ich tue jetzt so, als ob ich einverstanden wäre; schlimmstenfalls bedeutet das nämlich nur ein paar Mahlzeiten, die ich ohne dich esse. Dann entwische ich und folge der Straße nach Saharanpur. Deshalb, Heiliger, bleib bei dieser Kulu-Frau – geh auf keinen Fall weit von ihrem Wagen weg, bis ich wiederkomme. Ohne Frage ist mein Zeichen das von Krieg und bewaffneten Männern. Sieh, wie sie mir Wein zu trinken gegeben und mich auf ein Bett der Ehre gesetzt haben! Mein Vater muß eine große Persönlichkeit gewesen sein. Wenn sie mich in Ehre erhöhen, gut. Wenn nicht, auch gut. Wie auch immer das ausgeht, ich komme zu dir zurückgelaufen, wenn ich es satt habe. Aber bleib bei der Rajputni, sonst finde ich deine Füße nicht wieder… Oah,
yess«, sagte der Junge. »Ich hab ihm alles gesagt, was ich ihm von euch sagen soll.« »Und ich sehe nicht ein, weshalb er noch länger warten müßte«, sagte Bennett; er tastete in seiner Hosentasche herum. »Die Einzelheiten können wir später besprechen – und ich werde ihm eine Ru…« »Geben Sie ihm lieber Zeit. Vielleicht hängt er an dem Jungen«, sagte Pater Victor; er hinderte den anderen Geistlichen daran, seine Bewegung auszuführen. Der Lama zerrte seinen Rosenkranz hervor und zog den Rand der riesigen Mütze über seine Augen. »Was kann er jetzt wollen?« »Er sagt« – Kim hob eine Hand. »Er sagt: Seid still. Er will ganz allein mit mir reden. Wißt ihr, ihr versteht ja kein einziges Wort von dem, was er sagt, und ich glaub, wenn ihr jetzt redet, gibt er euch vielleicht ganz schlimme Flüche. Wenn er seine Perlen so anfaßt, seht ihr, dann will er immer, daß es ganz still ist.« Die beiden Engländer saßen überwältigt da, aber in Bennetts Augen war ein Blick, der nichts Gutes für Kim versprach, sobald dieser dem religiösen Arm ausgeliefert sein würde. »Ein Sahib und Sohn eines Sahibs…« Die Stimme des Lama war schroff vor Schmerz. »Aber kein weißer Mann kennt das Land und die Gebräuche des Landes wie du. Wie kommt es, daß dies wahr ist?« »Was bedeutet das schon, Heiliger? – aber bedenke, es ist nur für eine Nacht oder zwei. Bedenke, ich kann mich schnell verwandeln. Alles wird sein wie es war, als ich das erste Mal zu dir gesprochen habe, unter Zam-Zammah der großen Kanone…« »Als ein Junge in der Kleidung der weißen Männer – als ich zum ersten Mal zum Wunder-Haus gegangen bin. Und beim zweiten Mal warst du ein Hindu. Was wird die dritte
Inkarnation sein?« Er kicherte trübe. »Ah, chela, du hast unrecht getan an einem alten Mann, denn mein Herz ging hin zu dir.« »Und meines zu dir. Aber wie konnte ich denn wissen, daß der Rote Stier mich zu so etwas bringen würde?« Der Lama bedeckte erneut sein Gesicht und rasselte nervös mit dem Rosenkranz. Kim hockte sich neben ihn und faßte eine Falte seines Gewands. »Nun heißt es, daß der Junge ein Sahib ist?« fuhr der Lama mit dumpfer Stimme fort. »Solch ein Sahib wie jener, der die Bildwerke im Wunder-Haus hütete.« Seine Erfahrungen mit weißen Männern waren begrenzt. Er schien eine Lektion aufzusagen. »Dann ist es also für ihn nicht ziemlich, anderes zu tun als die Sahibs. Er muß zu seinem eigenen Volk zurückkehren.« »Für einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag«, flehte Kim. »Nein, das tust du nicht!« Pater Victor sah Kim zur Tür rutschen und schob ein kräftiges Bein dazwischen. »Ich verstehe die Gebräuche der weißen Männer nicht. Der Priester der Bildwerke im Wunder-Haus zu Lahore war höflicher als der dünne hier. Man wird mir diesen Jungen nehmen. Sie werden einen Sahib aus meinem Jünger machen? Weh mir! Wie soll ich denn meinen Fluß finden? Haben sie denn keine Jünger? Frag sie.« »Er sagt, er ist sehr trauriiig, weil er jetzt den Fluß nicht mehr finden wird. Er sagt, warum habt ihr keine Jünger und hört auf, ihn zu stören? Er will von seinen Sünden reingewaschen werden.« Weder Bennett noch Pater Victor fanden eine schnelle Antwort darauf. Nun sagte Kim auf Englisch, bekümmert ob der Qual des Lamas: »Ich glaub, wenn ihr mich jetzt gehn laßt, werden wir
ganz still fortgehn und nicht stehlen. Wir werden diesen Fluß suchen wie als ich noch nicht gefangen war. Ich wollt, ich wär nicht hergekommen um den Roten Stier und alles andere zu finden. Ich will das nicht.« »Es ist das Beste, was du je für dich getan hast, junger Mann«, sagte Bennett. »Lieber Himmel, ich weiß nicht, wie man ihn trösten kann«, sagte Pater Victor, der den Lama sehr aufmerksam beobachtete. »Er kann den Jungen nicht mitnehmen, und doch ist er ein guter Mann – ich bin sicher, er ist ein guter Mann. Bennett, wenn Sie ihm diese Rupie geben, wird er Sie mit Stumpf und Stiel verfluchen!« Sie hörten einander beim Atmen zu – drei – fünf volle Minuten. Dann hob der Lama den Kopf und blickte über sie hinweg in Raum und Leere. »Und ich bin ein Befolger des Pfads«, sagte er bitter. »Mein ist die Sünde, und mein ist die Bestrafung. Ich habe mir selbst eingeredet – denn jetzt begreife ich, es war nur eine Einbildung –, daß du mir gesandt worden seist, um mir bei der Suche zu helfen. Also ist mein Herz zu dir hingegangen, wegen deines Mitleids und deiner Höflichkeit und der Klugheit deiner wenigen Jahre. Aber jene, die dem Pfad folgen, dürfen das Feuer eines Begehrens oder einer Bindung nicht zulassen, denn all das ist Trug. Wie geschrieben ist…« Er zitierte einen uralten chinesischen Text, belegte ihn durch einen zweiten und bekräftigte beide durch einen dritten. »Ich bin vom Pfad abgewichen, mein chela. Es war nicht deine Schuld. Ich habe mich ergötzt am Anblick des Lebens, an den neuen Menschen auf den Straßen und an deiner Freude über den Anblick dieser Dinge. Ich war glücklich über dich und hätte doch meine Suche und nichts als meine Suche bedenken sollen. Nun bin ich voll Trauer, denn du wirst mir genommen und mein Fluß ist weit. Das Gesetz ist es, das ich gebrochen habe.«
»Mächte der Finsternis in der Tiefe!« sagte Pater Victor; durch den Beichtstuhl geschult hörte er die Qual in jedem Satz. »Ich kann jetzt sehen, daß das Zeichen des Roten Stiers für mich ebenso ein Zeichen war wie für dich. Alles Begehren ist rot – und übel. Ich will Buße tun und meinen Fluß allein finden.« »Geh wenigstens zu der Kulu-Frau zurück«, sagte Kim, »sonst wirst du dich auf den Straßen verlieren. Sie wird dich ernähren, bis ich zu dir zurückgelaufen komme.« Der Lama machte eine Handbewegung, um zu zeigen, daß die Angelegenheit für ihn endgültig erledigt war. »Was« – sein Tonfall änderte sich, als er sich Kim zuwandte – »werden sie nun mit dir machen? Vielleicht kann ich wenigstens, indem ich Verdienst erwerbe, geschehenes Böses auslöschen.« »Sie werden einen Sahib aus mir machen – glauben sie. Übermorgen komme ich zurück. Sei nicht traurig.« »Was für einen Sahib? Einen wie diesen oder jenen Mann?« Er deutete auf Pater Victor. »Einen wie die, die ich heute abend sah – Männer, die Schwerter tragen und mit den Füßen stampfen?« »Vielleicht.« »Das ist nicht gut. Diese Männer folgen dem Begehren und erlangen Leere. Du darfst nicht von dieser Art sein.« »Der Priester in Ambala hat gesagt, daß mein Stern Krieg ist«, warf Kim ein. »Ich will diese Narren fragen – aber es ist wahrlich nicht nötig. Ich laufe noch diese Nacht fort, so sehr ich auch Neues sehen wollte.« Kim stellte Pater Victor zwei oder drei Fragen auf Englisch und übersetzte dem Lama die Antworten. Dann: »Er sagt, ›Ihr nehmt ihn mir weg und könnt nicht sagen, was ihr aus ihm machen werdet‹. Er sagt, ›Sagt es mir,
bevor ich gehe, denn es ist nichts Geringes, ein Kind zu erziehen‹.« »Du wirst auf eine Schule geschickt. Später sehen wir dann weiter. Kimball, ich nehme an, du willst gern Soldat werden?« »Gorah-log [Weißes-Volk]. Nein! Nein!« Kim schüttelte heftig den Kopf. So wie er beschaffen war, hatten Drill und Routine keinerlei Reiz für ihn. »Ich will kein Soldat werden.« »Du wirst das werden, was man dir sagt«, sagte Bennett; »und du solltest dankbar dafür sein, daß wir dir helfen.« Kim lächelte mitleidig. Wenn diese Männer sich der Illusion hingaben, er werde etwas tun, wozu er keine Lust hatte, um so besser. Wieder folgte langes Schweigen. Bennett rutschte ungeduldig hin und her und schlug vor, einen Posten zu rufen, um den Fakir wegführen zu lassen. »Wird bei den Sahibs Wissen geschenkt oder verkauft? Frag sie«, sagte der Lama, und Kim übersetzte. »Sie sagen, man zahlt dem Lehrer Geld – aber das Regiment wird dieses Geld geben… Wozu? Es ist doch nur für eine Nacht.« »Und – je mehr Geld gezahlt wird, desto besseres Wissen wird gegeben?« Der Lama kümmerte sich nicht um Kims Pläne für eine baldige Flucht. »Es ist kein Unrecht, für Wissen zu zahlen. Den Unwissenden zur Weisheit zu verhelfen ist immer ein Verdienst.« Der Rosenkranz ratterte wild wie ein Rechenbrett. Dann wandte er sich seinen Bedrückern zu. »Frag sie, für wieviel Geld sie kluge und angemessene Unterweisung erteilen? Und in welcher Stadt diese Unterweisung erteilt wird?« »Na ja«, sagte Pater Victor auf Englisch, als Kim übersetzt hatte, »kommt drauf an. Das Regiment würde für dich die ganze Zeit zahlen, die du im Militärwaisenhaus bist; oder du könntest auf die Liste vom Punjab-Freimaurer-Waisenhaus
kommen (nicht, daß einer von euch beiden verstehen würde, was das heißt); aber die beste Ausbildung, die ein Junge in Indien kriegen kann, wäre natürlich auf St. Xavier-in-Partibus in Lucknow.« Es dauerte einige Zeit, dies zu übersetzen, weil Bennett die Sache abbrechen wollte. »Er will wissen wieviel«, sagte Kim gelassen. »Zwei- oder dreihundert Rupien im Jahr.« Pater Victor war längst jenseits aller Verblüffung. Bennett, ungeduldig, verstand nichts. »Er sagt: ›Schreibt den Namen und das Geld auf ein Papier und gebt es ihm.‹ Und er sagt, ihr müßt euren Namen darunter schreiben, weil er euch in ein paar Tagen einen Brief schreiben wird. Er sagt, du bist ein guter Mann. Er sagt, der andere Mann ist ein Narr. Er geht jetzt.« Der Lama erhob sich plötzlich. »Ich folge meiner Suche«, rief er und war fort. »Er wird mitten in die Posten hineinrennen«, rief Pater Victor; er sprang auf, als der Lama hinausstapfte. »Aber ich kann doch den Jungen nicht alleinlassen.« Kim wollte ihm schnell folgen, hielt dann aber inne. Draußen hörte man keinen Anruf. Der Lama war verschwunden. Kim ließ sich gemessen auf dem Feldbett des Kaplans nieder. Immerhin hatte der Lama versprochen, er würde bei der Rajput-Frau aus Kulu bleiben, und alles andere war sehr unwichtig. Es machte ihm Spaß, daß die beiden Patres so offenkundig aufgeregt waren. Sie redeten lange leise miteinander; Pater Victor drängte auf ein bestimmtes Verfahren, doch Mr. Bennett schien ungläubig. All das war sehr neu und faszinierend, aber Kim war müde. Sie holten Männer ins Zelt – einer von ihnen war ganz sicher der Oberst, wie sein Vater prophezeit hatte – und stellten ihm unendlich viele Fragen, vor allem über die Frau, die sich um ihn
gekümmert hatte, und Kim beantwortete alles wahrheitsgemäß. Sie schienen die Frau nicht für einen guten Vormund zu halten. Letzten Endes war dies nur die neueste unter seinen Erfahrungen. Früher oder später konnte er, wenn er wollte, in das große graue formlose Indien entkommen, jenseits von Zelten und Patres und Obersten. Bis dahin würde er, wenn die Sahibs unbedingt beeindruckt sein wollten, sein Bestes tun, um sie zu beeindrucken. Auch er war ein weißer Mann. Nach vielem Gerede, das er nicht begreifen konnte, wurde er einem Sergeanten ausgehändigt, der die strikte Anweisung erhielt, ihn nicht entwischen zu lassen. Das Regiment würde weiter nach Ambala marschieren, und Kim würde man, teils auf Kosten der Loge, teils mit Subskriptionsbeträgen des Regiments, zu einem Ort namens Sanawar schicken. »Es ist über alles Wundergeschrei hinaus wunderbar, Oberst«, sagte Pater Victor, nachdem er zehn Minuten lang ununterbrochen geredet hatte. »Sein buddhistischer Freund ist auf und davon, nachdem er von mir Name und Adresse notiert hat. Ich bin mir noch nicht klar, ob er für die Erziehung des Jungen bezahlen will oder ne Art Hexerei auf eigene Faust ausheckt.« Dann, zu Kim: »Du wirst deinem Freund, dem Roten Stier, noch mal dankbar sein. In Sanawar werden wir nen Mann aus dir machen – selbst um den Preis, daß du Protestant wirst.« »Sicher – ganz sicher«, sagte Bennett. »Aber ihr werdet nicht nach Sanawar gehn«, sagte Kim. »Aber wir gehn wohl nach Sanawar, kleiner Mann. Das ist der Befehl vom Oberkommandierenden, der ein bißchen wichtiger ist als O’Haras Sohn.« »Ihr werdet nicht nach Sanawar gehn. Ihr geht in den Krieg.« Das volle Zelt brach in schallendes Gelächter aus. »Wenn du dein eigenes Regiment erst ein bißchen besser kennst, wirst du Marschlinie und Gefechtslinie nicht mehr
verwechseln, Kim. Wir hoffen, daß wir irgendwann einmal in ›den Krieg‹ ziehen.« »Aah, das weiß ich doch alles.« Kim spannte seinen Bogen wieder einmal auf gut Glück. Wenn sie nicht in den Krieg zogen, wußten sie doch wenigstens nicht, was er von dem Gespräch auf der Veranda in Ambala wußte. »Ich weiß, ihr seid jetzt nicht in dem Krieg; aber ich sag euch, sobald ihr nach Ambala kommt, werdet ihr in den Krieg geschickt – den neuen Krieg. Es ist ein Krieg von achttausend Mann, außerdem Kanonen.« »Das ist deutlich. Kannst du neben deinen anderen Talenten auch noch prophezeien? Nehmen Sie ihn mit, Sergeant. Besorgen Sie ihm nen Anzug von den Tambourjungen und passen Sie auf, daß er Ihnen nicht durch die Finger glitscht. Wer sagt denn, daß es keine Wunder mehr gibt? Ich glaub, ich geh jetzt schlafen. Mein armer Kopf läßt langsam nach.« Still wie ein wildes Tier saß Kim eine Stunde später am anderen Ende des Lagers, überall frisch gewaschen, in einem furchtbaren Anzug aus Wollstoff, der ihm Arme und Beine zerkratzte. »Toller junger Vogel«, sagte der Sergeant. »Taucht hier mit nem gelbköpfigen quasselnden Brahmanenpriester auf, hat die Looschenpapiere von seim Vater am Hals un redt weiß Gott was nich alles über nen roten Stier. Der Brahmane verduftet ohne was zu saang, un der Junge sitz kreuzbeinich auf m Bett vom Kaplan un prophezeit alle Mann nen blutigen Kriech. Indien is schon n wildes Land für nen gottesfürchtigen Kerl. Ich glaub, ich bind ihm s Bein an die Zeltstange, daß er nich durchs Dach abhaut. Was haste da vom Kriech gesacht?« »Achttausend Mann, außerdem Kanonen«, sagte Kim. »Du wirst es sehr bald sehn.«
»N feiner kleiner Teufel biste. Leg dich da zwischen die Trommler, in die Heia. Die beiden Jungs passen auf dein Schlaf auf.«
KAPITEL VI
Now I remember comrades – Old playmates on new seas – Whenas we traded orpiment Among the savages. Ten thousand leagues to southward, And thirty years removed – They knew not noble Valdez, But me they knew and loved. Song of Diego Valdez [Ich denk an Kameraden – alte Freunde auf neuen Seen – da wir mit Rauschgelb handelten unter den Wilden dort. Zehntausend Meilen südwärts und dreißig Jahre her – sie kannten den edlen Valdez nicht, doch kannten und liebten sie mich. Lied von Diego Valdez]
Sehr früh am Morgen wurden die weißen Zelte abgebrochen und verschwanden; die Mavericks nahmen eine Nebenstraße nach Ambala. Sie berührte den Rastplatz nicht, und Kim, der neben einem Gepäckwagen dahintrottete, unter dem Beschuß der Bemerkungen von Soldatenfrauen, war nicht mehr so zuversichtlich wie in der Nacht. Er stellte fest, daß man ihn scharf beobachtete – Pater Victor einer-, Mr. Bennett anderseits. Am Vormittag hielt die Kolonne an. Eine Ordonnanz zu Kamel reichte dem Obersten einen Brief. Er las ihn und sprach
mit einem Major. Eine halbe Meile zurück hörte Kim rauhes und freudiges Geschrei, das durch den dicken Staub über ihn hinwegrollte. Dann schlug jemand ihm auf die Schulter und rief: »Sag uns, woher du das gewußt hast, du kleiner Satansbraten? Lieber Pater, schaun Sie, ob Sie das aus ihm rauskriegen.« Ein Pony tauchte neben ihm auf, und er wurde auf den Sattelbug des Priesters gehoben. »Jetzt, mein Sohn, ist deine Prophezeiung von gestern abend in Erfüllung gegangen. Wir haben Befehl, uns morgen in Ambala für den Bahnmarsch zur Front verladen zu lassen.« »Was ist das?« sagte Kim, denn »Bahnmarsch« und »Front« waren neue Wörter für ihn. »Wir gehen in ›den Krieg‹ wie du ihn genannt hast.« »Natürlich geht ihr in den Krieg. Das hab ich letzte nacht doch schon gesagt.« »Hast du, ja; aber, Mächte der Finsternis, woher hast du das gewußt?« Kims Augen funkelten. Er preßte die Lippen zusammen, nickte und sah unaussprechlich geheimnisvoll drein. Der Kaplan ritt durch den Staub vorwärts, und Gemeine, Sergeanten und Leutnants machten einander auf den Jungen aufmerksam. Der Oberst, an der Spitze der Kolonne, musterte ihn neugierig. »Wahrscheinlich war das ein Basargerücht«, sagte er; »aber selbst dann…« Er schaute auf das Blatt in seiner Hand. »Teufel auch, das alles ist doch erst in den letzten achtundvierzig Stunden entschieden worden.« »Gibts in Indien noch viele wie dich?« sagte Pater Victor, »oder bist du sowas wie ein lusus naturae?« »Jetzt wo ich es euch gesagt hab«, sagte der Junge, »laßt ihr mich da zu meinem alten Mann zurück? Wenn er nicht bei dieser Frau aus Kulu geblieben ist, hab ich Angst, daß er stirbt.«
»Nach dem, was ich von ihm gesehn hab, ist er genausogut im Stand für sich selbst zu sorgen wie du. Nein. Du hast uns Glück gebracht, und wir machen nen Mann aus dir. Ich bring dich jetzt zu deinem Gepäckwagen zurück, und heut abend kommst du zu mir.« Den Rest des Tages fand sich Kim als Objekt respektvoller Achtung von einigen hundert Weißen. Die Geschichte seines Auftauchens im Lager, der Entdeckung seiner Abstammung und seiner Prophezeiung hatte beim Weitererzählen nichts verloren. Eine dicke, unförmige weiße Frau auf einem Haufen Bettzeug fragte ihn geheimnisvoll, ob er glaube, ihr Mann werde aus dem Krieg zurückkommen. Kim dachte feierlich nach und sagte, er werde zurückkehren, und die Frau gab ihm zu essen. In vieler Hinsicht ähnelte diese große Prozession, die in Abständen Musik machte – diese Menschenmenge, die so leicht redete und lachte –, einem Festumzug in Lahore. Bis jetzt gab es keinerlei Anzeichen für harte Arbeit, und er beschloß, dem Schauspiel seine Gönnerschaft zukommen zu lassen. Am Abend zogen ihnen Musikkorps entgegen und spielten die Mavericks ins Lager nahe dem Bahnhof von Ambala. Das war eine interessante Nacht. Männer von anderen Regimentern kamen die Mavericks besuchen. Die Mavericks ihrerseits machten auf eigene Faust Besuche. Ihre Patrouillen rückten eilig aus, um sie zurückzuholen, und trafen dabei Patrouillen anderer Regimenter mit gleicher Order; und nach einer Weile bliesen die Hörner wie toll nach weiteren Patrouillen mit Offizieren, um den Tumult unter Kontrolle zu bringen. Die Mavericks hatten den Ruf besonderer Lebhaftigkeit zu verteidigen. Aber am nächsten Morgen traten sie in bester Verfassung und vorschriftsmäßigem Zustand auf dem Bahnsteig an; und Kim, der mit den Kranken, Frauen und Troßjungen zurückblieb, ertappte sich dabei, daß er bei der Abfahrt der Züge begeistert Lebewohl schrie. Bis jetzt war das
Leben als Sahib amüsant; er ging aber nur sehr behutsam damit um. Dann ließen sie ihn unter der Aufsicht eines Tambourjungen zu leeren, gekalkten Kasernen zurückmarschieren, deren Böden mit Abfall, Schnüren und Papier bedeckt waren und unter deren Decken sein einsamer Schritt widerhallte. Wie ein Eingeborener rollte er sich auf einer nackten Pritsche zusammen und schlief ein. Ein verdrossener Mann stampfte über die Veranda herbei, weckte ihn und sagte, er sei Schulmeister. Das war für Kim genug, um sich in sein Gehäuse zurückzuziehen. Er konnte gerade eben die verschiedenen englischen Polizeibekanntmachungen in Lahore entziffern, weil sie die Bequemlichkeit seines Lebens beeinträchtigen mochten; und unter den vielen Gästen der Frau, die sich um ihn kümmerte, war ein wunderlicher Deutscher gewesen, der Dekorationen für ein wanderndes Parsi-Theater malte. Er hatte Kim erzählt, er sei »anno achtundvierzig auf den Barrikaden« gewesen, und deshalb – so jedenfalls war es Kim erschienen – wolle er dem Jungen Schreiben beibringen, als Gegenleistung für Essen. Bis zu den einzelnen Buchstaben war Kim damals mühsam gelangt, hegte aber keine freundlichen Gefühle für sie. »Ich weiß nichts. Geh weg!« sagte Kim; er witterte Unheil. Daraufhin packte der Mann ihn am Ohr, zerrte ihn zu einem Raum in einem entlegenen Gebäudeflügel, wo ein Dutzend Tambourjungen auf Bänken saß, und befahl ihm, wenn er sonst nichts könne, wenigstens ruhig zu sein. Das brachte Kim mit Erfolg zustande. Mit weißen Strichen auf einem schwarzen Brett erklärte der Mann irgendwas, mindestens eine halbe Stunde lang, und Kim setzte sein unterbrochenes Nickerchen fort. Die augenblickliche Lage der Dinge mißbilligte er sehr, denn das war genau die Schule und Disziplin, der zu entgehen er sich zwei Drittel seines jungen Lebens kräftig bemüht hatte.
Plötzlich kam ihm eine prachtvolle Idee, und er wunderte sich, daß er nicht eher daran gedacht hatte. Der Mann entließ sie, und der erste, der über die Veranda in den offenen Sonnenschein sprang, war Kim. »Eh, du! Halt! Stop!« sagte eine hohe Stimme gleich hinter ihm. »Ich muß auf dich aufpassen. Ich hab Befehl, daß ich dich nich aus die Aung laß. Wo willze hin?« Es war der Tambourjunge, der schon den ganzen Vormittag an ihm geklebt hatte – feist, vierzehnjährig und mit Sommersprossen, und Kim verabscheute ihn von den Stiefelsohlen bis zu den Bändern an seiner Kappe. »Zum Basar – Süßigkeiten holen – für dich«, sagte Kim bedächtig. »Also, der Basar is für uns gesperrt. Wenn wir dahingehn, dann krieng wir was zu hörn. Komm wieder her.« »Wie nah dürfen wir denn an ihn ran?« Kim wußte nicht, was »für uns gesperrt« heißen sollte, aber er wollte höflich sein – vorläufig. »Wie nah? Wie weit, meinze! Wir könn bis zum Baum da unten anner Straße gehn.« »Dann geh ich dahin.« »Na schön. Ich geh nicht. Is zu heiß. Ich kann dich ja von hier aus sehn. Wechlaufen is sinnlos. Wennze wechläufs, erkenn se dich an deine Klamotten. Das is Regimentszeuch, waste anhas. In Ambala gips kein Posten wo dich nich schneller wieder herbringt wieste wechläufs.« Das beeindruckte Kim weniger als das Wissen, daß die Kleidung ihn ermüden würde, wenn er zu rennen versuchte. Er latschte zu dem Baum an der Ecke der kahlen Straße, die zum Basar führte, und musterte die Eingeborenen, die vorbeigingen. Die meisten waren Kasernendiener von der niedrigsten Kaste. Kim rief einen Kehrer an, der ihm prompt eine unnötige Grobheit an den Kopf warf, natürlich überzeugt davon, daß der
europäische Junge ihm nicht würde folgen können. Die leise schnelle Antwort belehrte ihn eines Besseren. Kim legte seine gebundene Seele hinein, dankbar dafür, daß er endlich jemanden in der Sprache beschimpfen konnte, die er am besten beherrschte. »Und jetzt geh zum nächsten Briefschreiber im Basar und sag ihm, er soll herkommen. Ich will einen Brief schreiben.« »Aber… aber was für eine Art von Sohn eines Weißen bist du denn, daß du einen Briefschreiber vom Basar brauchst? Gibt es denn in der Kaserne keinen Schulmeister?« »Doch, und die Hölle ist auch voll von der Sorte. Tu, was ich dir sage, du – du Od! Deine Mutter hat unter einem Korb geheiratet! Diener von Lal Beg« (Kim kannte den Gott der Kehrer), »lauf, wie ich dir gesagt hab, oder wir sprechen uns wieder.« Der Kehrer schlurfte hastig fort. »Unter einem Baum an der Kaserne wartet ein weißer Junge, der kein weißer Junge ist«, stotterte er dem ersten Briefschreiber zu, dem er im Basar begegnete. »Er braucht dich.« »Kann er zahlen?« sagte dieser feinsinnige Schreibkünstler; er packte Pult, Federn und Siegelwachs zusammen, alles in bestem Zustand. »Ich weiß es nicht. Er ist nicht wie andere Jungen. Geh und schau. Es lohnt sich.« Kim tanzte vor Ungeduld, als der schlanke junge Kayeth in Sicht kam. Sobald seine Stimme ihn erreichen konnte, beschimpfte er ihn wortreich. »Zuerst will ich mein Geld«, sagte der Briefschreiber. »Schlimme Wörter haben den Preis erhöht. Aber wer bist du, daß du in dieser Art Kleidung diese Art Reden führst?« »Aha! Das steht in dem Brief, den du schreiben sollst. Solch eine Geschichte hat es noch nie gegeben. Aber ich hab es nicht
eilig. Ein anderer Schreiber tut es auch. Ambala ist genau so voll von ihnen wie Lahore.« »Vier Annas«, sagte der Schreiber; er setzte sich und breitete sein Tuch im Schatten eines verlassenen Kasernenflügels aus. Mechanisch hockte Kim sich neben ihn – hockte, wie nur die Eingeborenen hocken können –, trotz der widerlich engen Hosen. Der Schreiber schaute ihn von der Seite an. »Das ist der Preis, den man von Sahibs verlangt«, sagte Kim. »Jetzt mach mir einen richtigen.« »Anderthalb Annas. Wie soll ich sicher sein, daß du nicht wegrennst, wenn ich den Brief geschrieben habe?« »Ich darf nur bis zu diesem Baum, und dann ist da noch die Marke zu bedenken.« »Vom Preis der Marke bekomme ich keine Provision. Noch einmal, was für eine Art von weißem Jungen bist du?« »Das wird in dem Brief gesagt werden, der an Mahbub Ali gerichtet ist, den Pferdehändler im Kaschmir-Serai, in Lahore. Er ist mein Freund.« »Wunder über Wunder!« murmelte der Briefschreiber; er tunkte eine Rohrfeder ins Tintenfaß. »Soll es auf Hindi geschrieben werden?« »Natürlich. An Mahbub Ali also. Fang an! Ich bin mit dem alten Mann bis Ambala im Zug gefahren. In Ambala habe ich die Nachricht vom Stammbaum der braunen Stute überbracht.« Nach allem, was er im Garten gesehen hatte, dachte er nicht daran, von weißen Hengsten zu schreiben. »Ein bißchen langsamer. Was hat eine braune Stute zu tun mit… Ist das Mahbub Ali, der große Handelsherr?« »Wer sonst? Ich war in seinem Dienst. Nimm mehr Tinte. Weiter. Wie der Befehl war, so habe ich getan. Wir sind dann zu Fuß in Richtung Benares gegangen, aber am dritten Tag begegneten wir einem bestimmten Regiment. Hast du das?«
»Ja«, murmelte der Schreiber, ganz Ohr. »Ich ging in ihr Lager und wurde gefangen, und durch den Zauber an meinem Hals, wovon du weißt, wurde erwiesen, daß ich der Sohn eines Mannes aus diesem Regiment bin: gemäß der Prophezeiung vom Roten Stier, die, wie du weißt, in unserem Basar wohlbekannt war.« Kim wartete, bis der Schaft dieses Pfeils ins Herz des Briefschreibers gedrungen war, räusperte sich und fuhr fort: »Ein Priester hat mich gekleidet und mir einen neuen Namen gegeben… Einer der Priester war aber ein Narr. Die Kleider sind sehr schwer, aber ich bin ein Sahib und auch mein Herz ist schwer. Sie schicken mich in eine Schule und schlagen mich. Ich mag Luft und Wasser hier nicht. Komm denn also und hilf mir, Mahbub Ali, oder schick mir ein wenig Geld, denn ich habe nicht genug, um den Schreiber zu bezahlen, der dies schreibt.« »›Der dies schreibt.‹ Es ist mein eigener Fehler, daß ich mich habe betrügen lassen. Du bist gerissen wie Husain Bux, der die Stempel des Schatzamts von Nuckiao gefälscht hat. Aber was für eine Geschichte! Was für eine Geschichte! Ist sie am Ende auch noch wahr?« »Es ist nicht förderlich, Mahbub Ali zu belügen. Besser ist es, Mahbub Alis Freunden zu helfen, indem man ihnen eine Briefmarke leiht. Wenn das Geld kommt, zahle ich es dir zurück.« Der Schreiber knurrte zweifelnd, nahm aber eine Marke aus seinem Pult, versiegelte den Brief, reichte ihn Kim und ging. Mahbub Alis Name war mächtig in Ambala. »Das ist der Weg, bei den Göttern zu Ansehen zu kommen«, schrie Kim ihm hinterher. »Zahl mir lieber das Doppelte, wenn das Geld kommt«, rief der Mann über die Schulter zurück.
»Was haste da mit dem Nigger gequatscht?« sagte der Tambourjunge, als Kim zur Veranda zurückkehrte. »Ich hab dich gesehn.« »Ich hab nur mit ihm geredet.« »Du reds genau wie n Nigger auch, was?« »Nein, nein! Ich sprech nur ein bißchen davon. Was machen wir jetzt?« »In ner halben Minute wird zum Essen geblasen. Mein Gott! Wenn ich doch bloß mit m Regiment an de Front hätt gehn könn! Is ja furchba hier, nix wie Schule. Finze nich auch?« »Oja!« »Ich würd wegrenn, wenn ich bloß wüßt wohin, aber wie die Leut saang, biste in das verdampte Injen hier ja überall bloß wie n Gefangner auf Urlaub. Kanz nich desertiern, die schnappen dich doch bloß sofort wieder. Ich hab de Nase ganz schön voll.« »Bist du in Be… in England gewesen?« »Wieso, klar, ich bin erß mit m letzten Truppenschub mit meine Mutter rübergekomm. Klar bin ich in England gewesen. Du bis ja vleich n dusseliger kleiner Typ! Inner Gosse biste großgeworn, was?« »O ja. Erzähl mir was von England. Mein Vater ist auch von da gekommen.« Obwohl er es nicht sagte, glaubte Kim natürlich kein Wort von dem, was der Tambourjunge ihm über den Liverpooler Vorort erzählte, der für ihn England war. Das vertrieb die trübe Zeit bis zum Essen – ein höchst unappetitliches Mahl, das den Jungen und ein paar Invaliden in der Ecke einer Kasernenstube vorgesetzt wurde. Wenn er nicht an Mahbub Ali geschrieben hätte, wäre Kim beinahe deprimiert gewesen. An die Gleichgültigkeit eingeborener Volksmengen war er gewohnt; aber diese große Einsamkeit unter Weißen nagte an ihm. Er war dankbar, als ihn im Lauf des Nachmittags ein großer
Soldat zu Pater Victor brachte, der in einem anderen Flügel hinter einem anderen staubigen Exerzierplatz wohnte. Der Priester war dabei, einen mit purpurner Tinte geschriebenen englischen Brief zu lesen. Er musterte Kim neugieriger denn je. »Na, und wie gefällts dir bis jetzt so, mein Sohn? Nicht besonders, eh? Muß hart für dich sein – sehr hart für n wildes Tier. Jetzt hör zu. Ich hab hier nen erstaunlichen Brief von deinem Freund.« »Wo ist er? Geht es ihm gut? Aah! Wenn er es schafft, mir Briefe zu schreiben, dann geht es ihm gut.« »Du magst ihn sehr, nicht wahr?« »Natürlich mag ich ihn. Er hat mich auch gemocht.« »So sieht das hier auch aus. Er kann aber kein Englisch schreiben, oder?« »O nein. Nicht daß ich wüßt, aber natürlich hat er nen Briefschreiber gefunden, der sehr gut Englisch schreiben kann, und so hat er geschrieben. Ich hoffe, du verstehst das.« »Das erklärts jedenfalls. Weißt du irgendwas über seine Geldgeschäfte?« Kims Gesicht zeigte, daß er nichts wußte. »Wie sollte ich denn?« »Ich frag ja nur. Jetzt hör zu, ob du irgendwie draus schlau wirst. Den ersten Teil überspringen wir mal… Geschrieben an der Straße nach Jaghadir… ›Am Wegesrand sitzend in ernster Meditation, vertrauend auf Gunst von Euer Gnaden Applaus zu gegenwärtigem Schritt, den auszuführen Euer Gnaden anempfehle um Allmächtigen Gottes willen. Erziehung ist größter Segen wenn von bester Sorte. Andernfalls kein irdischer Nutzen.‹ Also wirklich, diesmal hat der alte Mann ins Schwarze getroffen! ›Wenn Euer Gnaden herablassend geben mein Junge beste Erziehungen Xavier‹ (ich nehme an, das ist St. Xavier-in-Partibus) ›zu Bedingungen von unser Konversation datiert in Ihr Zelt den 15ten des laufenden‹
(richtig geschäftsmäßiger Zug das!) ›dann Allmächtiger Gott segnend Euer Gnaden Nachfahren bis dritte und vierte Generation und‹ – jetzt hör zu! – ›zu vertrauen Euer Gnaden sein demütigen Diener wegen angemessene Entlohnung per hoondi per annum drei hundert Rupien im Jahr für eine teure Erziehung St. Xavier, Lucknow, und gewähren kleine Zeit für selbiges zu schicken per hoondi an jeden Teil von Indien wie Euer Ehren selb angeben. Dieser Diener von Euer Ehren gegenwärtig nicht Platz hat zu legen Scheitel Hauptes von sich, aber mit Zug nach Benares gehend wegen Verfolgung durch alte Frau viel redend und unbestrebt zu residieren Saharanpur in welch häusliche Eigenschaft.‹ Also was um alles in der Welt soll das bedeuten?« »Sie hat ihn aufgefordert, ihr puro zu werden – ihr Geistlicher – in Saharanpur, glaub ich. Davon wollte er nichts wissen, wegen seinem Fluß. Die hat vielleicht geredet!« »Dir ist das offenbar klar, wie? Mir ist das viel zu hoch. ›So nach Benares gehend wo werde finden Adresse und Rupien schicken für Junge der Apfel ist von Auge, und um Allmächtigen Gottes willen seine Erziehung ausführen, und Euer Bittsteller gebunden als durch Pflicht wird immer ehrfürchtig beten. Geschrieben von Sobrao Satai, durchgefallen bei Aufnahmeprüfung Universität Allahabad, für Ehrwürdigen Teshoo Lama Priester von Such-zen auf Suche nach Fluß, Anschrift c/o Tirthankars Tempel, Benares. P. M. – Bitte beachten Junge ist Apfel von Auge, und Rupien werden geschickt per hoondi drei hundert per annum. Um Allmächtigen Gottes willen.‹ Ist das nun heller Wahnsinn oder ein geschäftlicher Vorschlag? Ich frag dich, weil ich hier mit meinem Verstand ziemlich am Ende bin.« »Er sagt, er will mir dreihundert Rupien im Jahr geben? Dann wird er sie mir geben.« »Ah, so siehst du das also?«
»Natürlich. Wenn er es sagt!« Die Priester pfiff; dann redete er mit Kim wie mit einem Gleichstehenden. »Ich glaubs nicht; aber wir werden sehen. Eigentlich solltest du heute zum Militärwaisenhaus nach Sanawar geschickt werden; das Regiment würde da für deinen Unterhalt aufkommen, bis du alt genug bist, um bei uns einzutreten. Du würdest da als Mitglied der Kirche von England erzogen. Bennett hat das arrangiert. Andererseits – wenn du nach St. Xavier gehst, kriegst du eine bessere Erziehung und… und die Religion. Siehst du mein Dilemma?« Kim sah nichts als eine Vision des Lamas, wie er in einem Zug nach Süden fuhr und keinen hatte, der für ihn bettelte. »Ich werde tun, was die meisten tun, abwarten. Wenn dein Freund das Geld aus Benares schickt – Mächte der Finsternis, wo soll denn ein Straßenbettler dreihundert Rupien auftreiben? –, dann wirst du nach Lucknow runterfahren, und ich zahl für die Fahrt, weil ich das Subskriptionsgeld nicht anfassen darf, wenn ich aus dir, was ich vorhab, nen Katholiken machen will. Wenn er das Geld nicht schickt, gehst du auf Regimentskosten ins Militärwaisenhaus. Ich geb ihm drei Tage Zeit, obwohl ich nichts von allem glaube. Und selbst dann; wenn er mit den späteren Zahlungen nicht nachkommt… aber das ist alles zu hoch für mich. In dieser Welt können wir immer nur einen Schritt gleichzeitig tun, Gott sei gepriesen! Und Bennett haben sie zur Front geschickt und mich hiergelassen. Bennett kann ja nicht alles von mir erwarten.« »Och ja«, sagte Kim unbestimmt. Der Priester beugte sich vor. »Ich würd nen Monatssold geben, wenn ich rauskriegen könnt, was in deinem kleinen runden Kopf vorgeht.« »Nichts«, sagte Kim und kratzte diesen. Er fragte sich, ob Mahbub Ali ihm auch nur eine ganze Rupie schicken würde.
Dann könnte er den Briefschreiber bezahlen und dem Lama Briefe nach Benares schreiben. Vielleicht würde Mahbub Ali ihn ja auch besuchen, wenn er das nächste Mal mit Pferden nach Süden kam. Er mußte doch bestimmt wissen, daß die Übergabe des Briefs an den Offizier in Ambala durch Kim den großen Krieg ausgelöst hatte, von dem die Männer und Jungen an den Eßtischen in der Kaserne so laut geredet hatten. Aber wenn Mahbub Ali das nicht wußte, wäre es sehr ungeschickt, es ihm zu sagen. Mahbub Ali sprang sehr hart mit Jungen um, die zuviel wußten oder meinten, sie wüßten zuviel. »Na schön; bis ich was Neues erfahre…« Pater Victors Stimme unterbrach die Träumerei. »Du kannst jetzt gehn und mit den andern Jungs spielen. Die werden dir was beibringen – aber ich glaub nicht, daß du das mögen wirst.« Der Tag schleppte sich mühselig zu Ende. Als er schlafen wollte, zeigte man ihm, wie er seine Kleider falten und seine Stiefel hinstellen sollte; die anderen Jungen machten sich über ihn lustig. Hörner weckten ihn im Morgengrauen; nach dem Frühstück schnappte ihn der Schulmeister, hielt ihm eine Seite mit unverständlichen Schriftzeichen unter die Nase, gab ihnen sinnlose Namen und verprügelte ihn ohne Grund. Kim überlegte, ob er sich Opium von einem Kasernenkehrer leihen und den Lehrer vergiften sollte; dann fiel ihm aber ein, daß sie alle zusammen an einem Tisch aßen (das fand Kim ganz besonders widerlich, da er es beim Essen vorzog, der Welt den Rücken zuzuwenden), deshalb wäre das wohl gefährlich. Dann versuchte er, zu dem Dorf zu entkommen, wo der Priester den Lama hatte betäuben wollen – das Dorf, in dem der alte Soldat wohnte. Aber weitsichtige Posten an jedem Ausgang trieben die kleine rote Gestalt wieder zurück. Hose und Jacke verkrüppelten Körper und Geist gleichermaßen, deshalb ließ er den Plan fallen und kam nach orientalischer Art auf Zeit und Zufall zurück.
Drei Tage der Qual verstrichen in den großen, hallenden weißen Räumen. Nachmittags ging er mit dem Tambourjungen als Eskorte aus, und alles, was er von seinem Begleiter hörte, waren die paar nutzlosen Wörter, die zwei Drittel des Schimpfwortschatzes weißer Männer auszumachen schienen. Kim kannte und verachtete sie alle seit langem. Für sein Schweigen und seine Gleichgültigkeit rächte der Junge sich mit Prügeln, was nur natürlich war. Er interessierte sich für keinen der Basare innerhalb des erlaubten Bereichs. Er nannte alle Eingeborenen »Nigger«; dabei warfen Diener und Kehrer ihm abscheuliche Namen ins Gesicht, und durch ihre ehrerbietige Haltung getäuscht, verstand er nie etwas. Das tröstete Kim ein wenig über die Prügel hinweg. Am Morgen des vierten Tages überkam diesen Trommler ein Strafgericht. Sie waren zusammen in Richtung der Rennbahn von Ambala gegangen. Er kam allein zurück, weinend, mit der Nachricht, der junge O’Hara, dem er nichts Besonderes getan hätte, habe einen rotbärtigen Nigger zu Pferd angerufen; der Nigger sei sofort mit einer besonders anhänglichen Reitpeitsche auf ihn, den Trommler, losgegangen, habe den jungen O’Hara aufgehoben und ihn in vollem Galopp weggebracht. Die Nachricht erreichte Pater Victor, und er zog seine lange Oberlippe herab. Er war schon ausreichend aufgeregt über einen Brief aus dem Tempel der Tirthankars in Benares mit der Zahlungsanweisung eines eingeborenen Bankiers über dreihundert Rupien und einem erstaunlichen Gebet an den »Allmächtigen Gott«. Der Lama wäre noch verärgerter gewesen als der Priester, wenn er gewußt hätte, wie der Briefschreiber im Basar seinen Ausdruck »um Verdienst zu erwerben« übersetzt hatte. »Mächte der Finsternis in der Tiefe!« Pater Victor fuchtelte mit der Anweisung herum. »Und jetzt ist er mit einem anderen von seinen Eintagsfreunden auf und davon. Ich weiß nicht, obs
mir ne größere Erleichterung ist, ihn loszuwerden oder ihn zurückzukriegen. Er geht mir über den Verstand. Wie zum Teufel – ja, den mein ich! – kann ein Straßenbettler Geld aufbringen, um weiße Jungs erziehen zu lassen?« Drei Meilen entfernt, auf der Rennbahn von Ambala, zügelte Mahbub Ali einen grauen Kabuli-Hengst und sagte zu Kim, der vor ihm im Sattel saß: »Aber, Kleiner Freund der ganzen Welt, denk auch an meine Ehre und meinen Ruf. Ganz Ambala und alle Offizier-Sahibs in allen Regimentern kennen Mahbub Ali. Männer haben gesehen, wie ich dich aufgehoben und diesen Jungen gezüchtigt habe. Jetzt kann man uns weit über diese Ebene sehen. Wie soll ich dich da fortholen oder dein Verschwinden erklären, wenn ich dich jetzt absetze und ins Kornfeld rennen lasse? Sie würden mich ins Gefängnis stecken. Hab Geduld. Einmal ein Sahib, immer ein Sahib. Wenn du erst ein Mann bist – wer weiß? –, wirst du Mahbub Ali dankbar sein.« »Bring mich über ihre Posten hinaus, wo ich dieses Rot ablegen kann. Gib mir Geld, und ich gehe nach Benares und bin wieder bei meinem Lama. Ich will kein Sahib sein, und erinnere dich daran, daß ich diesen Brief wirklich abgegeben habe.« Der Hengst machte einen wilden Satz. Mahbub Ali hatte ihm unvorsichtig den scharfkantigen Steigbügel in den Leib getrieben. (Er gehörte nicht zur neuen, verbreiteten Sorte jener Pferdehändler, die englische Stiefel und Sporen tragen.) Kim zog seine eigenen Schlüsse aus dieser Bewegung, die einiges verriet. »Das war unbedeutend. Es lag ja direkt am Weg nach Benares. Ich und der Sahib haben das längst vergessen. Ich schicke so viele Briefe und Botschaften an Männer, die Fragen über Pferde haben, daß ich kaum den einen vom andern Brief
unterscheiden kann. Ging es da vielleicht um eine braune Stute, deren Stammbaum Peters Sahib wissen wollte?« Kim sah die Falle sofort. Hätte er »braune Stute« gesagt, dann hätte Mahbub an der bloßen Bereitschaft, auf die Änderung einzugehen, gewußt, daß der Junge einen Verdacht hatte. Deshalb antwortete Kim: »Braune Stute. Nein. Ich vergesse meine Botschaften nicht so schnell. Es war ein weißer Hengst.« »Ja, das stimmt. Ein weißer Araberhengst. Aber du hast mir doch von einer ›braunen Stute‹ geschrieben.« »Wer mag schon einem Briefschreiber die Wahrheit anvertrauen?« antwortete Kim; er spürte Mahbubs Handfläche auf seinem Herzen. »Heh! Mahbub, alter Schuft, anhalten!« schrie eine Stimme, und ein Engländer auf einem kleinen Polopony kam herbeigerast. »Ich jage Sie schon durchs halbe Land. Ihr Kabuli da läuft wirklich gut. Zu verkaufen, hoffe ich?« »Ich habe da was Junges an der Hand, vom Himmel geschaffen für das feine und schwierige Polospiel. Er ist unvergleichlich. Er…« »… spielt Polo und bedient bei Tisch. Ja. Kennen wir alles. Was zum Teufel haben Sie denn da?« »Einen Jungen«, sagte Mahbub ernst. »Ein anderer Junge hat ihn geschlagen. Sein Vater ist einmal ein weißer Soldat gewesen, in dem großen Krieg. Der Junge war schon als Kind in La-hore. Als Baby hat er mit meinen Pferden gespielt. Ich glaube, jetzt werden sie einen Soldaten aus ihm machen. Er ist gerade eingefangen worden, vom Regiment seines Vaters, das letzte Woche in den Krieg gezogen ist. Aber ich glaube, er will kein Soldat werden. Ich nehme ihn auf einen Ritt mit. Sag mir, wo deine Kaserne ist, und da setze ich dich ab.« »Laß mich gehn. Ich kann die Kaserne allein finden.«
»Und wenn du wegläufst, wer soll dann sagen, daß es nicht mein Fehler ist?« »Er wird schon zu seinem Essen zurücklaufen. Wohin soll er denn sonst rennen?« fragte der Engländer. »Er ist im Land geboren. Er hat Freunde. Er geht, wohin er will. Er ist ein chabuk sawai [gerissener Kerl]. Er braucht nur die Kleidung zu wechseln, und im Handumdrehen ist er ein Hindujunge von niedriger Kaste.« »Den Teufel ist er das!« Der Engländer musterte den Jungen kritisch, während Mahbub Richtung Kasernen ritt. Kim knirschte mit den Zähnen. Mahbub machte sich lustig über ihn, ganz treuloser Afghane; er fuhr nämlich fort: »Sie werden ihn auf eine Schule schicken und ihm schwere Stiefel anziehen und ihn in diese Kleider wickeln wie in Windeln. Dann wird er alles vergessen, was er weiß. Also, welche ist jetzt deine Kaserne?« Kim deutete – er konnte nicht sprechen – auf Pater Victors Flügel, ganz nah und grell weiß. »Vielleicht wird ein guter Soldat aus ihm«, sagte Mahbub nachdenklich. »Aber wenigstens eine gute Ordonnanz. Ich habe ihn einmal von Lahore mit einer Botschaft losgeschickt. Einer Botschaft, in der es um den Stammbaum eines weißen Hengstes ging.« Tödliche Beschimpfung nach noch tödlicherer Beleidigung – und der Sahib, dem er diesen kriegerweckenden Brief so schlau ausgehändigt hatte, hörte alles. Für diesen Verrat sah Kim im Geiste Mahbub Ali in den Flammen braten, aber für sich sah er eine lange graue Serie von Kasernen, Schulen und wieder Kasernen. Flehend starrte er in das scharfgeschnittene Gesicht, in dem kein Schimmer der Anerkennung zu sehen war; aber nicht einmal in dieser Notlage dachte er daran, die Gnade des weißen Mannes anzurufen oder den Afghanen anzuklagen. Und Mahbub starrte den Engländer unentwegt an,
und dieser ebenso unentwegt den sprachlosen und zitternden Kim. »Mein Pferd ist gut zugeritten«, sagte der Händler. »Andere hätten ausgeschlagen.« »Ah«, sagte der Engländer endlich; er rieb den feuchten Widerrist seines Ponys mit dem Peitschenknauf. »Wer macht aus dem Jungen einen Soldaten?« »Er sagt, das Regiment, das ihn gefunden hat, und vor allem der Pater Sahib des Regiments.« »Da ist der Pater!« würgte Kim hervor, als Pater Victor barhäuptig von der Veranda zu ihnen herabgesegelt kam. »Mächte der Finsternis in der Tiefe, O’Hara! Wieviel gemischte Freunde hältst du dir eigentlich in Asien noch?« rief er, als Kim aus dem Sattel glitt und hilflos vor ihm stand. »Guten Morgen, Pater«, sagte der Engländer fröhlich. »Vom Hörensagen kenn ich Sie schon ganz gut. Ich wollte schon längst mal rüberkommen und Sie besuchen. Ich bin Creighton.« »Vom Ethnologischen Dienst?« sagte Pater Victor. Der Engländer nickte. »Also, dann freu ich mich wirklich, Sie zu sehn; und ich schulde Ihnen was dafür, daß Sie den Jungen zurückbringen.« »Nichts zu danken, Pater. Außerdem wollte der Junge gar nicht ausreißen. Sie kennen den alten Mahbub Ali nicht.« Der Pferdehändler saß unbewegt im Sonnenschein. »Sie werden ihn schon kennenlernen, wenn Sie erst mal nen Monat in der Garnison sind. Sämtliche Klepper, die wir haben, kaufen wir von ihm. Der Junge hier ist ne nette Kuriosität. Können Sie mir irgendwas über ihn erzählen?« »Ihnen was erzählen?« Pater Victor schnaufte. »Sie sind der einzige, der mir aus dieser Klemme helfen könnte. Und ich soll Ihnen was erzählen! Mächte der Finsternis, ich platz ja schon
fast, weil ich endlich jemand was erzählen will, der sich mit den Eingeborenen auskennt!« Ein Pferdeknecht kam um die Ecke. Oberst Creighton hob die Stimme und redete Urdu. »Ja gut, Mahbub Ali, aber welchen Sinn hat es, mir all diese Geschichten über das Pony zu erzählen? Dreihundertfünfzig Rupien gebe ich und kein Pai mehr.« »Der Sahib ist nach dem Ritt ein wenig erhitzt und verärgert«, erwiderte der Pferdehändler mit dem Grinsen eines privilegierten Hofnarren. »Er wird schon bald die Qualitäten meines Pferds deutlicher sehen. Ich will warten, bis er sein Gespräch mit dem Pater beendet hat. Ich werde unter diesem Baum da warten.« »Hol dich der Teufel!« Der Oberst lachte. »Das kommt davon, wenn man sich eins von Mahbubs Pferden ansieht. Er ist ein richtiger alter Blutsauger, Pater. Warte denn also, wenn du soviel Zeit zu verschenken hast, Mahbub. Jetzt stehe ich zu Ihrer Verfügung, Pater. Wo ist der Junge? Ah, los, um mit Mahbub zu plauschen. Merkwürdiger Junge. Darf ich Sie bitten, mein Pferd unterstellen zu lassen?« Er ließ sich in einen Sessel fallen, vom dem aus er Kim und Mahbub Ali deutlich sehen konnte, die unter dem Baum konferierten. Der Pater ging hinein, um Zigarren zu holen. Creighton hörte Kim bitter sagen: »Trau lieber einem Brahmanen als einer Schlange, und lieber einer Schlange als einer Hure, und lieber einer Hure als einem Pathanen, Mahbub Ali.« »Das ist alles eins.« Der lange rote Bart bewegte sich feierlich auf und ab. »Kinder sollten nie einen Teppich auf dem Webstuhl sehen, solange nicht das Muster deutlich zu erkennen ist. Glaub mir, Freund der ganzen Welt, ich erweise dir einen großen Dienst. Sie werden keinen Soldaten aus dir machen.«
›Du gerissener alter Sünder!‹ dachte Creighton. ›Aber du hast gar nicht so unrecht. Der Junge wäre zu schade, verschwendet zu werden, wenn er wirklich so ist wie beschrieben.‹ »Entschuldigen Sie mich ne halbe Minute«, rief der Pater von drinnen, »ich hol nur schnell die betreffenden Dokumente.« »Falls durch mich die Gunst dieses kühnen und klugen Oberst Sahibs über dich kommt und du zu Ehren erhoben wirst, welchen Dank wirst du dann Mahbub Ali erweisen, wenn du ein Mann bist?« »Nein, nein! Ich habe dich gebeten, mich wieder auf die große Straße zu lassen, wo ich sicher gewesen wäre; und du hast mich den Engländern zurückverkauft. Was werden sie dir als Blutgeld geben?« »Ein netter kleiner Teufel!« Der Oberst biß seine Zigarre ab und wandte sich höflich Pater Victor zu. »Was sind das für Briefe, mit denen der fette Priester vor dem Oberst herumwedelt? Geh hinter den Hengst, als ob du das Zaumzeug anschauen wolltest!« sagte Mahbub Ali. »Ein Brief von meinem Lama, den er von der Straße nach Jagadhir geschrieben hat; darin sagt er, er wird dreihundert Rupien im Jahr für meinen Unterricht bezahlen.« »Oho! Ist die alte Rotmütze von der Sorte? In welcher Schule?« »Das weiß Gott. Ich glaube, in Nuckiao.« »Ja. Da gibt es eine große Schule für die Söhne von Sahibs – und Halb-Sahibs. Ich habe sie schon gesehen, wenn ich dort Pferde verkaufe. Dann hat also auch der Lama den Freund der ganzen Welt geliebt?« »Ja; und er hat keine Lügen erzählt und mich auch nicht in Gefangenschaft zurückgebracht.« »Kein Wunder, daß der Pater nicht weiß, wie er den Faden entwirren soll. Wie schnell er auf den Oberst Sahib einredet!« Mahbub Ali gluckste. »Bei Allah!« Die scharfen Augen
streiften einen Moment über die Veranda. »Dein Lama hat etwas geschickt, was mir wie ein Wechsel aussieht. Ich habe schon einige Male mit hoondis gearbeitet. Der Oberst Sahib schaut es sich an.« »Was nützt mir das alles?« sagte Kim erschöpft. »Du wirst fortgehen, und sie werden mich wieder in diese leeren Räume bringen, wo es keinen guten Platz zum Schlafen gibt und wo die Jungen mich schlagen.« »Das glaube ich nicht. Hab Geduld, Kind. Nicht alle Pathanen sind treulos – außer bei Pferdefleisch.« Fünf – zehn – fünfzehn Minuten vergingen. Pater Victor redete heftig oder stellte Fragen, die der Oberst beantwortete. »Jetzt hab ich Ihnen alles gesagt, was ich über den Jungen weiß, von Anfang bis Ende; und ich bin ordentlich erleichtert. Haben Sie je sowas gehört?« »Auf jeden Fall hat der alte Mann das Geld geschickt. Gobind Sahais Wechsel sind gut, von hier bis China«, sagte der Oberst. »Je mehr man über die Eingeborenen weiß, desto weniger kann man vorhersagen, was sie tun werden oder was nicht.« »Das ist tröstlich zu hören – vom Leiter des Ethnologischen Dienstes. Dieses Durcheinander von Roten Stieren und Flüssen der Heilung (armer Heide, Gott helf ihm!) und Zahlungsanweisungen und Freimaurer-Urkunden. Sind Sie zufällig auch Freimaurer?« »Bei Zeus, bin ich, jetzt wo Sie mich fragen. Das ist noch ein Grund mehr«, sagte der Oberst zerstreut. »Freut mich, daß Sie da irgendwo Grund sehen. Aber wie gesagt, dieses Durcheinander von Dingen ist es, was mir zu hoch ist. Und seine Prophezeiung vor unserm Oberst, wie er da auf meinem Bett sitzt, das Hemd vorn aufgerissen, daß man die weiße Haut sehen kann; und dann geht die Prophezeiung auch
noch in Erfüllung! In St. Xavier werden sie ihm hoffentlich all den Unsinn austreiben, eh?« »Die werden ihn mit Weihwasser besprengen.« Der Oberst lachte. »Ehrenwort, also, manchmal denk ich, das sollte ich auch machen. Aber ich hoff, daß ein guter Katholik aus ihm wird. Bloß – was mich beunruhigt, ist, was wird passieren, wenn der alte Bettler…« »Lama, Lama, mein lieber Sir; und einige von ihnen sind in ihrer Heimat Gentlemen.« »Der Lama also, was, wenn er nächstes Jahr nicht bezahlt. Er ist ein prima Geschäftsmann, wenns darum geht, aus dem Handgelenk was zu planen, aber irgendwann muß er sterben. Und von einem Heiden Geld nehmen, um einem Kind ne christliche Erziehung zu geben…« »Aber er hat doch deutlich klargemacht, was er will. Sobald er wußte, daß der Junge weiß ist, scheint er seine entsprechenden Vorkehrungen getroffen zu haben. Ich würde einen Monatssold geben, wenn ich hören könnte, wie er das alles im Tirthankar-Tempel in Benares erklärt hat. Schauen Sie, Pater, ich will nicht behaupten, viel über die Eingeborenen zu wissen, aber wenn er sagt, er zahlt, dann wird er zahlen – tot oder lebendig. Ich meine, seine Erben werden die Verpflichtung übernehmen. Ich kann Ihnen nur raten, schicken Sie den Jungen nach Lucknow. Wenn Ihr anglikanischer Kaplan meint, Sie hätten sich vorgedrängt…« »Pech für Bennett! Er ist statt mir an die Front geschickt worden. Doughty hat mich für medizinisch untauglich erklärt. Ich exkommuniziere Doughty, wenn er lebend zurückkommt! Bennett sollte eigentlich zufrieden sein mit…« »Ruhm, und Ihnen die Religion überlassen. Genau! Ich glaube übrigens nicht, daß Bennett sich viel draus machen wird. Schieben Sie die Schuld auf mich. Ich, eh, empfehle
dringend, den Jungen nach St. Xavier zu schicken. Als Soldatenwaise kann er mit einer Freikarte fahren, also bleiben die Fahrtkosten Ihnen erspart. Sie können ihm eine Ausstattung von der Regimentssubskription kaufen. Der Loge bleiben die Kosten für seine Ausbildung erspart, und das wird bei der Loge für gute Laune sorgen. Es ist ganz einfach. Ich muß nächste Woche nach Lucknow hinunter. Unterwegs werde ich mich um den Jungen kümmern – ihn in die Obhut meiner Diener geben und so weiter.« »Sie sind ein guter Mensch.« »Nicht im geringsten. Vertun Sie sich da nicht. Der Lama hat uns zu einem ganz bestimmten Zweck Geld geschickt. Wir können es nicht gut zurückgeben. Also müssen wir tun, was er sagt. Na ja, das ist erledigt, oder? Wollen wir sagen – nächsten Dienstag bringen Sie ihn mir an den Abendzug nach Süden? Das sind nur noch drei Tage. In drei Tagen kann er nicht mehr viel Unheil anrichten.« »Sie nehmen mir eine Last von der Seele, aber… dieses Ding hier?« Er schwenkte die Zahlungsanweisung. »Ich kenne Gobind Sahai nicht; auch nicht seine Bank, die genausogut ein Loch in der Mauer sein könnte.« »Sie waren ja auch nie Leutnant mit Schulden. Ich löse ihn gern ein, wenn Sie wollen, und schicke Ihnen die Belege, damit alles seine Ordnung hat.« »Aber Sie haben doch selbst so viel zu tun! Ist das nicht zu…« »Das macht mir wirklich überhaupt nichts aus. Wissen Sie, für mich als Ethnologen ist diese Sache sehr interessant. Ich würde das gern in einer Arbeit für die Regierung erwähnen, an der ich gerade sitze. Die Verwandlung eines Regimentsabzeichens wie Ihres Roten Stiers zu einer Art Fetisch, dem der Junge folgt, ist sehr interessant.« »Also, ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«
»Etwas können Sie schon für mich tun. Wir Ethnologen sind alle so neidisch wie die Dohlen, was Entdeckungen von Kollegen angeht. Außer uns interessiert das alles natürlich keinen Menschen, aber Sie wissen ja, wie Büchersammler sind. Also, sagen Sie bitte kein Wort, direkt oder indirekt, über die asiatische Seite im Charakter dieses Jungen – seine Abenteuer und seine Prophezeiung und so weiter. Ich werde das dem Jungen noch alles aus der Nase ziehen, und… verstehen Sie?« »Natürlich. Sie werden einen wunderschönen Bericht daraus machen. Ich erzähl keinem auch nur ein Sterbenswörtchen, bis ich es gedruckt seh.« »Danke. Da wird das Ethnologen herz richtig warm. Also, ich muß jetzt zurück zu meinem Frühstück. Lieber Himmel! Der alte Mahbub ist ja immer noch da!« Er hob die Stimme, und der Pferdehändler kam aus dem Schatten des Baums hervor. »Na, wie sieht es jetzt aus?« »Was dieses junge Pferd angeht«, sagte Mahbub, »finde ich, wenn ein Fohlen dazu geschaffen ist, ein Polopony zu werden, wenn es ohne Training dem Ball schon genau folgen kann – wenn solch ein Fohlen das Spiel instinktiv begreift –, dann, sage ich, ist es ein großes Unrecht, dieses Fohlen einen schweren Karren ziehen zu lassen, Sahib!« »Das sage ich auch, Mahbub. Das Fohlen soll nur für Polo eingesetzt werden. (Diese Kerle denken an nichts anderes auf der Welt als Pferde, Pater.) Ich schaue morgen bei Ihnen vorbei, Mahbub, ob Sie irgendwas Brauchbares zu verkaufen haben.« Der Händler grüßte nach Reiterart mit einer wischenden Bewegung der Rechten. »Hab ein wenig Geduld, Freund der ganzen Welt«, flüsterte er dem verzweifelten Kim zu. »Dein Glück ist gemacht. Bald gehst du nach Nuckiao, und – hier hast du etwas, um den Briefschreiber zu bezahlen. Wir werden
uns, glaube ich, noch sehr oft sehen«, und er galoppierte die Straße hinab. »Hör mir zu«, sagte der Oberst von der Veranda aus in der Umgangssprache. »In drei Tagen gehst du mit mir nach Lucknow und wirst die ganze Zeit dort neue Dinge sehen und hören. Deshalb sitz drei Tage still und lauf nicht fort. Du wirst in Lucknow in die Schule gehen.« »Werde ich dort meinen Heiligen sehen?« wimmerte Kim. »Lucknow ist jedenfalls näher an Benares als Ambala. Es kann sein, daß du unter meinem Schutz reisen wirst. Mahbub Ali weiß das, und er wird verärgert sein, wenn du jetzt auf die große Straße zurückgehst. Denk daran – ich habe vieles erfahren, was ich nicht vergesse.« »Ich werde warten«, sagte Kim, »aber die Jungen werden mich schlagen.« Dann bliesen die Hörner zum Essen.
KAPITEL VII
Unto whose use the pregnant suns are poised With idiot moons and stars retracting stars? Creep thou betweene – thy coming’s all unnoised. Heaven hath her high, as Earth her baser, wars. Heir to these tumults, this affright, that fraye (By Adam’s, fathers’, own, sin bound alway); Peer up, draw out thy horoscope and say Which planet mends thy threadbare fate or mars! SIR JOHN CHRISTIE [Zu wessen Nutz fruchtbare Sonnen schweben bei blöden Monden und zerstrittnen Sternen? Kriech nur dazwischen – keiner hört dein Kommen. Himmel hat hehren Krieg, wie Erde niedren. Erbe dieser Tumulte, Wirren, Fehden (durch Adams, Vaters, eigne Schuld gebunden): Schau auf, erstell dein Horoskop – sag welcher Planet dein schäbig Los flicht oder bricht! SIR JOHN CHRISTIE]
Am Nachmittag sagte der rotgesichtige Schulmeister zu Kim, er sei »von der Ist-Stärke gestrichen«, was ihm überhaupt nichts sagte, bis ihm befohlen wurde, fortzugehen und zu spielen. Dann rannte er zum Basar und fand den jungen Briefschreiber, dem er eine Marke schuldete. »Jetzt bezahle ich«, sagte Kim königlich, »und jetzt muß ich einen neuen Brief geschrieben haben.« »Mahbub Ali ist in Ambala«, sagte der Schreiber munter. Er war kraft seines Amtes ein Büro für allgemeine Fehlinformation.
»Dieser ist nicht an Mahbub Ali, sondern an einen Priester. Nimm deine Feder und schreib schnell. An Teshoo Lama, den Heiligen aus Bhotiyal, der einen Fluß sucht und jetzt im Tempel der Tirthankars in Benares ist. Nimm mehr Tinte! In drei Tagen soll ich nach Nuckiao fahren zur Schule in Nuckiao. Der Name der Schule ist Xavier. Ich weiß nicht, wo diese Schule ist, aber sie ist in Nuckiao.« »Aber ich kenne Nuckiao«, unterbrach ihn der Schreiber. »Ich kenne die Schule.« »Sag ihm wo sie ist, und ich gebe dir einen halben Anna.« Die Rohrfeder kratzte geschäftig. »Er kann es nicht verfehlen.« Der Mann hob den Kopf. »Wer beobachtet uns da über die Straße?« Kim blickte rasch auf und sah Oberst Creighton in Tenniskleidung. »Ach, das ist ein Sahib, der den fetten Priester in der Kaserne kennt. Er winkt mir.« »Was tust du da?« sagte der Oberst, als Kim herantrottete. »Ich… ich laufe nicht weg. Ich schicke einen Brief an meinen Heiligen in Benares.« »Daran hatte ich nicht gedacht. Hast du gesagt, daß ich dich nach Lucknow bringe?« »Nein, habe ich nicht. Lest den Brief, wenn Ihr zweifelt.« »Warum hast du denn meinen Namen ausgelassen im Brief an diesen Heiligen?« Der Oberst lächelte sehr seltsam. Kim nahm sein Herz in beide Hände. »Mir ist einmal gesagt worden, daß es ungeschickt ist, die Namen von Fremden zu nennen, die in irgendeine Sache verwickelt sind, weil durch das Nennen von Namen viele gute Pläne in Verwirrung gebracht werden.« »Man hat dich gut unterwiesen«, erwiderte der Oberst, und Kim errötete. »Ich habe meine Zigarrentasche auf der Veranda
des Paters vergessen. Bring sie mir heute abend zu meinem Haus.« »Wo ist das Haus?« sagte Kim. Sein schneller Verstand sagte ihm, daß er gerade auf die eine oder andere Art geprüft wurde, und er war auf der Hut. »Frag irgendwen im großen Basar.« Der Oberst ging weiter. »Er hat seine Zigarrentasche vergessen«, sagte Kim, als er zum Schreiber zurückkam. »Ich muß sie ihm heute abend bringen. Das ist der ganze Brief, außer dreimal Komm zu mir! Komm zu mir! Komm zu mir! Jetzt will ich dich für eine Marke bezahlen und den Brief zur Post bringen.« Er stand auf, um zu gehen, und wie nebenbei fragte er: »Wer ist eigentlich dieser Sahib mit dem verdrießlichen Gesicht, der die Zigarrentasche verloren hat?« »Ach, das ist Creighton Sahib – ein ganz närrischer Sahib, ein Oberst Sahib ohne Regiment.« »Was macht er denn?« »Das weiß Gott. Er kauft immer Pferde, die er nicht reiten kann, und fragt Rätselfragen über die Werke Gottes – wie über Pflanzen und Steine und die Gebräuche des Volks. Die Händler nennen ihn den Vater der Narren, weil er sich bei Pferden so leicht betrügen läßt. Mahbub Ali sagt, er ist noch verrückter als die meisten anderen Sahibs.« »Oh!« sagte Kim und ging. Seine Erfahrungen hatten ihm einige Menschenkenntnis eingebracht, und er sagte sich, daß Trottel keine Informationen erhalten, die dazu führen, daß achttausend Mann samt Kanonen in Marsch gesetzt werden. Der Oberkommandierende von ganz Indien redet nicht so, wie Kim ihn hatten reden hören, mit einem Narren. Und wenn der Oberst ein Trottel wäre, hätte sich auch Mahbub Alis Tonfall nicht jedesmal geändert, wenn er den Namen des Obersten erwähnte. Folglich – und dabei begann Kim zu hüpfen – gab es da irgendwo ein Geheimnis, und wahrscheinlich spionierte
Mahbub Ali so für den Oberst, wie Kim für Mahbub spioniert hatte. Und wie der Pferdehändler achtete der Oberst offenbar Leute, die nicht dauernd zeigen mußten, wie schlau sie waren. Er freute sich, nicht verraten zu haben, daß er wußte, wo das Haus des Obersten war; und als er bei seiner Rückkehr in die Kaserne entdeckte, daß dort keine Zigarrentasche vergessen worden war, strahlte er vor Vergnügen. Das war ein Mann nach seinem Herzen – eine windungsreiche umwegige Person, die ein verborgenes Spiel spielte. Nun, wenn er ein Narr sein konnte, dann Kim auch. Er zeigte nichts von dem, was in ihm vorging, während Pater Victor ihm drei lange Vormittage Predigten über einen völlig neuen Trupp von Göttern und Göttlein hielt – vor allem über eine Göttin namens Maria, die wie Kim herausfand, dieselbe war wie Bibi Miriam aus Mahbub Alis Theologie. Er zeigte keine Gemütsbewegung, als Pater Victor ihn nach der Vorlesung von Laden zu Laden schleppte, um seine Ausstattung zusammenzukaufen; er beklagte sich auch nicht, als neidische Tambourjungen ihn traten, weil er auf eine bessere Schule gehen würde, sondern wartete mit interessierter Seele auf den Fortgang des Spiels der Umstände. Pater Victor, der brave Mann, brachte ihn zum Bahnhof, setzte ihn in ein leeres Abteil zweiter Klasse neben dem erster Klasse von Oberst Creighton und sagte ihm mit wirklicher Rührung Lebewohl. »In St. Xavier machen sie nen Mann aus dir, O’Hara – nen weißen Mann und, hoff ich, nen guten Mann. Die wissen Bescheid, daß du kommst, und der Oberst sorgt dafür, daß du auf dem Weg nicht verloren gehst oder verlegt wirst. Ich hab dir Grundbegriffe von der Religion vermittelt – hoff ich wenigstens –, und denk dran, wenn du nach deiner Religion gefragt wirst, daß du katholisch bist. Sag am besten römischkatholisch, wenn ich das Wort auch nicht besonders mag.«
Kim zündete eine stinkige Zigarette an – im Basar hatte er vorsichtshalber ausreichenden Vorrat besorgt – und legte sich hin, um nachzudenken. Diese einsame Fahrt war etwas ganz anderes als die fröhliche Reise dritter Klasse mit dem Lama. ›Sahibs kriegen wenig Spaß beim Reisen‹, dachte er. ›Hai mai! Ich gehe von einem Ort zum andern wie ein Fußball. Das ist mein Kismet. Niemand kann seinem Kismet entgehen. Aber ich soll ja Bibi Miriam anbeten, und ich bin ein Sahib.‹ Traurig betrachtete er seine Stiefel. ›Nein; ich bin Kim. Das ist die große Welt, und ich bin bloß Kim. Wer ist Kim?‹ Er grübelte über seine eigene Identität, was er nie zuvor getan hatte, bis sein Kopf sich drehte. Er war nur eine bedeutungslose Person in all diesem dröhnenden Wirbel Indiens, und er reiste nach Süden wer weiß welchem Geschick entgegen. Bald schickte der Oberst nach ihm und redete sehr lange. Soweit Kim es verstand, sollte er fleißig sein und später als Feldmesser in den Indischen Vermessungsdienst eintreten. Wenn er sehr gut wäre und die entsprechenden Prüfungen bestünde, würde er mit siebzehn Jahren dreißig Rupien im Monat verdienen, und Oberst Creighton würde dafür sorgen, daß er eine passende Stelle fände. Kim tat zunächst so, als verstünde er vielleicht jedes dritte Wort dieser Rede. Dann begriff der Oberst, daß er einen Fehler gemacht hatte, begann fließendes, bilderreiches Urdu zu sprechen, und Kim war zufrieden. Einer, der die Sprache so inwendig kannte, sich so sanft und leise bewegte und dessen Augen so verschieden waren von den stumpfen fetten Augen anderer Sahibs, konnte kein Trottel sein. »Ja, und du mußt lernen, wie man Bilder von Straßen und Bergen und Flüssen macht – diese Bilder in deinem Auge zu tragen, bis eine angemessene Zeit kommt, sie auf Papier niederzulegen. Eines Tages, wenn du Feldmesser bist, sage ich dir vielleicht, wenn wir zusammen arbeiten: ›Geh über diese
Berge und sieh, was hinter ihnen liegt.‹ Dann wird einer sagen: ›In diesen Bergen leben böse Menschen, die den Feldmesser erschlagen, wenn er etwa aussieht wie ein Sahib.‹ Was dann?« Kim überlegte. Ob es ratsam war, den Ball des Obersten aufzunehmen? »Ich würde sagen, was der andere gesagt hat.« »Wenn ich dir aber antwortete: ›Ich gebe dir hundert Rupien für Wissen darüber, was hinter diesen Bergen liegt – für ein Bild von einem Fluß und kleine Nachrichten über das, was die Leute in den Dörfern dort erzählen‹?« »Wie kann ich das sagen? Ich bin doch nur ein Junge. Wartet, bis ich ein Mann bin.« Dann, als er sah, wie sich die Stirn des Obersten verdüsterte, fuhr er fort: »Aber ich glaube, ich würde die hundert Rupien in ein paar Tagen verdienen.« »Auf welchem Weg?« Kim schüttelte entschlossen den Kopf. »Wenn ich sagte, wie ich sie verdienen will, könnte ein anderer das hören und mir zuvorkommen. Es ist nicht gut, Wissen um nichts zu verkaufen.« »Sag es jetzt.« Der Oberst hielt eine Rupie hoch. Kims Hand streckte sich danach aus, sank aber auf halbem Weg zurück. »Nein, Sahib; nein. Ich kenne den Preis, der für die Antwort gezahlt wird, aber ich weiß nicht, warum die Frage gestellt wird.« »Dann nimm sie als Geschenk«, sagte Creighton; er warf ihm die Münze zu. »Du hast einen scharfen Geist in dir. Laß ihn nicht in St. Xavier stumpf werden. Dort gibt es viele Jungen, die die schwarzen Menschen verachten.« »Ihre Mütter waren Basarweiber«, sagte Kim. Er wußte sehr gut, daß es keinen Haß gibt gleich dem des Halbbluts auf seinen Schwager. »Das stimmt; aber du bist ein Sahib und Sohn eines Sahibs. Laß dich deshalb nie dazu verleiten, die schwarzen Menschen
zu verachten. Ich habe Jungen gekannt, frisch in den Regierungsdienst eingetreten, die so taten, als ob sie die Sprache oder die Gebräuche der schwarzen Leute nicht verstünden. Der Sold wurde ihnen gekürzt wegen ihrer Dummheit. Keine Sünde ist so groß wie die Dummheit. Denk daran.« Mehrmals im Lauf der langen, vierundzwanzigstündigen Fahrt gen Süden schickte der Oberst nach Kim und kam immer wieder auf das letztere Thema zurück. ›Wir werden also alle am gleichen Leitstrick sein‹, sagte Kim sich schließlich, ›der Oberst, Mahbub Ali und ich – wenn ich ein Feldmesser werde. Er wird mich benutzen wie Mahbub Ali mich verwendet hat, glaube ich. Das ist gut, wenn es mir erlaubt, wieder unterwegs zu sein. Diese Kleidung wird durch Tragen nicht leichter.‹ Als sie in den überfüllten Bahnhof von Lucknow kamen, war vom Lama nichts zu sehen. Kim schluckte seine Enttäuschung hinunter, während der Oberst ihn mit seiner sauberen Habe in ein ticca-gharri steckte und allein nach St. Xavier schickte. »Ich sage nicht Lebwohl, weil wir einander wieder begegnen werden«, rief er. »Immer wieder, viele Male, wenn du einer von guter Art bist. Aber noch bist du nicht erprobt.« »Auch nicht, als ich dir« – Kim wagte tatsächlich, das turn Gleichrangiger zu verwenden – »in jener Nacht den Stammbaum eines weißen Hengstes gebracht habe?« »Vieles wird durch Vergessen gewonnen, kleiner Bruder«, sagte der Oberst mit einem Blick, der Kims Schultern durchbohrte, als er sich in den Wagen drückte. Er brauchte fast fünf Minuten, um sich zu erholen. Dann schnüffelte er anerkennend die neue Luft. »Eine reiche Stadt«, sagte er. »Reicher als Lahore. Wie gut die Basare sein müssen! Kutscher, fahr mich ein wenig durch die Basare hier!«
»Mein Befehl lautet, dich zur Schule zu bringen.« Der Fahrer benutzte das »du«, was einem Weißen gegenüber eine Beleidigung ist. In der saubersten und flüssigsten Umgangssprache setzte Kim ihm seinen Irrtum auseinander, kletterte auf den Bock und fuhr, nachdem vollkommenes Einverständnis hergestellt war, ein paar Stunden hin und her, schätzte ab, verglich und freute sich. In ihrem grellen Glanz gibt es keine schönere Stadt – außer Bombay, der Königin aller Städte – als Lucknow, ob man sie von der Brücke über den Fluß besieht oder von der Spitze des Imambara auf die vergoldeten Schirmdächer des Chutter Munzil und die Bäume hinabschaut, in die die Stadt eingebettet ist. Könige haben sie mit fantastischen Gebäuden geschmückt, mit Stiftungen ausgestattet, mit Pensionären vollgestopft und mit Blut getränkt. Sie ist das Zentrum allen Müßiggangs, aller Intrige und allen Luxus’, und zusammen mit Delhi erhebt sie Anspruch darauf, das einzige reine Urdu zu sprechen. »Eine schöne Stadt – eine wunderbare Stadt.« Der Fahrer, als Mann aus Lucknow, fühlte sich durch das Kompliment geschmeichelt und erzählte Kim viele erstaunliche Dinge, wo ein englischer Führer von der Meuterei geredet hätte. »Jetzt wollen wir zur Schule fahren«, sagte Kim schließlich. Die große alte Schule von St. Xavier-in-Partibus, Block an Block niedriger weißer Gebäude, liegt in einem riesigen Park gegenüber dem Gumti-Fluß, etwas entfernt von der Stadt. »Welche Sorte Leute sind das da drinnen?« sagte Kim. »Junge Sahibs – lauter Teufel. Aber um die Wahrheit zu sagen, und ich fahre viele von ihnen vom und zum Bahnhof, nie habe ich einen gesehen, der die Anlagen zu einem vollkommeneren Teufel gehabt hätte als du… als dieser junge Sahib, den ich gerade fahre.« Da er niemals dazu angehalten worden war, sie für irgendwie unschicklich zu halten, hatte Kim natürlich mit einer oder zwei
frivolen Damen in den oberen Fenstern einer gewissen Straße Begrüßungen ausgetauscht, und natürlich hatte er beim Austausch von Komplimenten seine Sache prächtig gemacht. Er wollte sich eben für die letzte Unverschämtheit des Fahrers erkenntlich zeigen, als seine Augen – es begann, dunkel zu werden – auf eine Gestalt an der langgestreckten Mauer fielen. »Halt!« rief er. »Bleib hier. Ich gehe noch nicht sofort in die Schule.« »Aber was soll mich für dieses Kommen und Wiederkommen bezahlen?« sagte der Fahrer verdrossen. »Ist der Junge verrückt? Letztes Mal war es ein Tanzmädchen. Diesmal ist es ein Priester.« Kim stürzte sich kopfüber auf die Straße und streichelte die staubigen Füße unter dem gelben Gewand. »Ich habe hier gewartet einen Tag und einen halben«, begann die gleichmäßige Stimme des Lamas. »Nein, ich hatte einen Jünger bei mir. Er, der mein Freund im Tempel der Tirthankars war, gab mir einen Führer für diese Reise. Als mir dein Brief gegeben wurde, bin ich mit dem Zug von Benares hergekommen. Ja, ich habe gut gegessen. Ich brauche nichts.« »Aber warum bist du nicht bei der Frau aus Kulu geblieben, o Heiliger? Auf welche Weise bist du nach Benares gelangt? Mein Herz ist schwer gewesen, seit wir uns getrennt haben.« »Die Frau hat mich erschöpft durch unaufhörlich fließende Rede und Verlangen nach Zaubermitteln für Kinder. Ich habe mich von dieser Gesellschaft getrennt und ihr erlaubt, durch Gaben Verdienst zu erwerben. Immerhin ist sie eine Frau offener Hände, und ich habe ein Versprechen geleistet, daß ich zu ihrem Haus zurückkehren werde, wenn es nötig ist. Als ich mich dann allein in dieser großen und schrecklichen Welt fand, dachte ich wieder an den Zug nach Benares, wo ich von einem wußte, der im Tempel der Tirthankars weilte und ein Sucher war, genau wie ich.«
»Ah! Dein Fluß«, sagte Kim. »Ich hatte den Fluß vergessen.« »So bald, mein chela? Ich habe ihn nie vergessen. Aber als ich dich verlassen hatte, schien es mir besser, in den Tempel zu gehen und Rat zu suchen, denn siehst du, Indien ist sehr groß, und es mag sein, daß weise Männer vor uns, vielleicht zwei oder drei, einen Bericht über den Ort unseres Flusses hinterlassen haben. Im Tempel der Tirthankars wird über diese Sache beraten; manche sagen dieses, und manche etwas anderes. Sie sind höfliche Leute.« »So sei es; aber was tust du jetzt?« »Ich erwerbe Verdienst, indem ich dir, mein chela, zu Weisheit verhelfe. Der Priester jener Schar von Männern, die dem Roten Stier dienen, hat mir geschrieben, alles solle sein, wie ich es für dich wünsche. Ich habe das Geld geschickt, das für ein Jahr genügt, und dann bin ich gekommen, wie du mich hier siehst, um nach dir Ausschau zu halten, wie du zu den Toren der Gelehrsamkeit hinaufgehst. Einen Tag und einen halben habe ich gewartet – nicht, weil Zuneigung zu dir mich geführt hätte – das ist nicht Teil des Pfads –, sondern, wie sie im Tempel der Tirthankars gesagt haben, weil Geld bezahlt wurde für Wissen und es ziemlich ist, daß ich das Ende dieser Sache überprüfe. Ich hatte eine Befürchtung, daß ich vielleicht käme, weil ich dich zu sehen wünschte – verleitet vom Roten Nebel der Zuneigung. Es ist nicht so… Außerdem bin ich durch einen Traum beunruhigt.« »Aber bestimmt, Heiliger, hast du nicht die große Straße vergessen und alles, was auf ihr geschehen ist. Bestimmt war es auch ein wenig, um mich zu sehen, daß du gekommen bist?« »Die Pferde sind kalt, und es ist längst Zeit für ihr Futter«, jammerte der Fahrer. »Geh zur Dschehenna und bleib da samt deiner verrufenen Tante!« knurrte Kim über die Schulter. »Ich bin ganz allein in
diesem Land; ich weiß nicht, wohin ich gehe noch was mit mir geschehen soll. Mein Herz war in dem Brief, den ich dir geschickt habe. Außer Mahbub Ali, und der ist Pathane, habe ich keinen Freund als nur dich, Heiliger. Geh nicht ganz fort von mir.« »Auch das habe ich bedacht«, erwiderte der Lama mit bebender Stimme. »Es ist ganz offenbar, daß ich von Zeit zu Zeit Verdienst erwerben werde – wenn ich nicht vorher schon meinen Fluß gefunden habe –, indem ich mich davon überzeuge, daß deine Füße zur Weisheit wandeln. Was sie dich lehren werden, weiß ich nicht, aber der Priester hat mir geschrieben, daß kein Sohn eines Sahibs in ganz Indien besser unterwiesen werden soll als du. Deshalb werde ich also von Zeit zu Zeit wiederkommen. Vielleicht wirst du solch ein Sahib sein wie der, der mir diese Augengläser gegeben hat« – der Lama putzte sie umständlich – »im Wunder-Haus zu Lahore. Das ist mein Hoffen, denn er war ein Springquell der Weisheit – weiser als viele Äbte… Dann wiederum mag es auch sein, daß du mich und unsere Begegnungen vergißt.« »Wenn ich dein Brot esse«, rief Kim heftig, »wie kann ich dich da jemals vergessen?« »Nein – nein.« Er schob den Jungen von sich. »Ich muß zurückgehen nach Benares. Von Zeit zu Zeit, jetzt, da ich die Gewohnheiten der Briefschreiber in diesem Land kenne, werde ich dir einen Brief schreiben, und von Zeit zu Zeit werde ich kommen und nach dir sehen.« »Aber wohin soll ich meine Briefe schicken?« klagte Kim; er klammerte sich an das Gewand des Lamas und vergaß völlig, daß er ein Sahib war. »Zum Tempel der Tirthankars in Benares. Das ist der Ort, den ich erwählt habe, bis ich meinen Fluß finde. Weine nicht; denn, siehst du, alles Begehren ist Trug und neue Fesselung auf das Rad. Laß mich dich gehen sehen… Liebst du mich?
Dann geh, oder mein Herz birst… Ich werde wiederkommen. Bestimmt komme ich wieder.« Der Lama sah, wie das ticca-gharri aufs Schulgelände rumpelte, und er ging davon und schnupfte zwischen jedem der langen Schritte. Die »Tore der Gelehrsamkeit« schlossen sich klirrend. Der im Land geborene und aufgezogene Junge hat seine eigenen Sitten und Gewohnheiten, die denen keines anderen Landes gleichen; und seine Lehrer nähern sich ihm auf Wegen, die ein englischer Lehrer nicht verstünde. Deshalb fänden Leser wohl kaum Interesse an Kims Erfahrungen als Schüler von St. Xavier unter zwei- oder dreihundert frühreifen Jungen, von denen die meisten niemals das Meer gesehen hatten. Er erlitt die üblichen Strafen für Überschreitung der Schulgrenzen, als in der Stadt Cholera herrschte. Das war, ehe er gelernt hatte, gutes Englisch zu schreiben, und deshalb hatte er einen Briefschreiber im Basar finden müssen. Natürlich wurde er wegen Rauchens belangt und weil er vollmundiger fluchte, als man das selbst in St. Xavier je gehört hatte. Er lernte, sich mit der levitischen Gewissenhaftigkeit des im Lande Geborenen zu waschen, der insgeheim den Engländer für ziemlich schmutzig hält. Er trieb den üblichen Schabernack mit den geduldigen Kulis, die die punkahs in den Schlafsälen zogen, wo die Jungen sich in den heißen Nächten hin und her warfen und bis zum Morgengrauen Geschichten erzählten; und ganz still maß er sich an seinen selbstsicheren Kameraden. Sie waren Söhne von untergeordneten Beamten im Eisenbahn-, Telegraphen- und Kanaldienst; von PortepeeUnteroffizieren, teils im Ruhestand, teils im Amt als Oberkommandierende der Armee eines lehnspflichtigen Radschas; von Kapitänen der Indischen Handelsmarine, pensionierten Regierungsbeamten, Pflanzern, PresidencyKaufleuten und Missionaren. Einige waren jüngere Söhne aus
den alten eurasischen Häusern, die in Dhurrumtollah starke Wurzeln geschlagen haben – Pereiras, De Souzas und De Silvas. Ihre Eltern hätten sie sehr wohl in England erziehen lassen können, aber sie liebten die Schule, an der sie ihre eigene Jugend verbracht hatten, und eine fahlgelbe Generation folgte in St. Xavier der anderen. Ihre Heimatorte reichten vom Howrah der Bahnleute zu aufgegebenen Garnisonen wie Monghyr und Chunar; verlorenen Teegärten hinter Shillong; Dörfern in Oudh oder im Dekkan, wo ihre Väter Großgrundbesitzer waren; Missionsstationen eine Woche entfernt von der nächsten Bahnlinie; Seehäfen tausend Meilen südlich an der metallischen Brandung des Indischen Ozeans; und Cinchona-Plantagen ganz im Süden. Die bloße Erzählung ihrer Abenteuer, die für sie keine waren, auf dem Weg zur und von der Schule hätten einem europäischen Jungen die Haare zu Berge stehen lassen. Sie waren daran gewöhnt, allein durch hundert Meilen Dschungel zu schlendern, wo es immer die entzückende Chance gab, von Tigern aufgehalten zu werden; aber sie hätten ebensowenig in einem englischen August im Ärmelkanal gebadet, wie ihre Brüder auf der anderen Seite der Welt stillgelegen hätten, während ein Leopard an ihrem palankin schnüffelte. Es waren fünfzehnjährige Jungen, die eineinhalb Tage auf einem Inselchen inmitten eines über die Ufer getretenen Flusses verbracht und wie von Rechts wegen das Kommando über ein Lager panischer Pilger übernommen hatten, die von einem Schrein heimkehrten. Altere Jungen waren dabei, die im Namen von St. Franciscus Xavier den Elefanten eines zufällig vorbeikommenden Radschas requiriert hatten, wenn die Regenzeit einmal den Karrenweg zur Besitzung ihres Vaters zerstörte, und denen das riesige Tier um ein Haar in Treibsand abhanden gekommen wäre. Es gab einen Jungen, der, wie er sagte – und niemand bezweifelt es –, seinem Vater geholfen hatte, von der Veranda aus einen
Angriff von Akas mit Gewehren zurückzuschlagen, in den Tagen, als diese Kopfjäger sich gern an einsamen Plantagen vergriffen. Und jede Geschichte wurde mit der gleichmäßigen, leidenschaftslosen Stimme des im Lande Geborenen erzählt, durchsetzt mit seltsamen Überlegungen, die man halb unbewußt von eingeborenen Pflegemüttern übernommen hatte, und mit Redewendungen, die zeigten, daß sie erst in diesem Moment aus der Umgangssprache übersetzt worden waren. Kim schaute, lauschte und billigte. Das war nicht das fade, nur aus einer Wortart bestehende Gerede von Tambourjungen. Es handelte von einem Leben, das er kannte und zum Teil verstand. Die Atmosphäre sagte ihm zu, und er gedieh zollweise. Man gab ihm einen weißen Drillichanzug, als das Wetter wärmer wurde, und er genoß das neuentdeckte körperliche Behagen ebenso, wie er bei den Aufgaben, die man ihm stellte, seinen geschärften Geist genoß. Seine Schnelligkeit hätte einen englischen Lehrer begeistert; aber in St. Xavier kannten sie den ersten Ansturm der von Sonne und Umgebung entwickelten Geister ebenso wie den BeinaheZusammenbruch, der mit zwei- oder dreiundzwanzig einsetzt. Aber bei alledem vergaß er nie, sich zurückzuhalten. Wenn in den heißen Nächten Geschichten erzählt wurden, trumpfte Kim nicht mit seinen Erinnerungen auf; denn St. Xavier schaut auf Jungen hinab, die ganz zu Eingeborenen werden. Man darf nie vergessen, daß man ein Sahib ist und daß man eines Tages, wenn die Prüfungen bestanden sind, Eingeborene befehligen wird. Kim nahm es zur Kenntnis, denn er begann zu begreifen, wohin Prüfungen führten. Dann kamen die Ferien von August bis Oktober – die langen, von Hitze und Regenzeit erzwungenen Ferien. Kim erfuhr, daß er nach Norden reisen sollte, zu irgendeiner Station in den Bergen hinter Ambala, wo Pater Victor ihn unterbringen würde.
»Eine Kasernen-Schule?« sagte Kim, der viel gefragt und mehr gedacht hatte. »Ja, ich glaub schon«, sagte der Lehrer. »Es kann dir nicht schaden, wenn man dich vom Unfug abhält. Bis Delhi kannst du mit dem jungen De Castro fahren.« Kim bedachte es von allen möglichen Seiten. Er war fleißig gewesen, wie der Oberst ihm geraten hatte. Die Ferien eines Jungen waren sein Eigentum – das hatte er jedenfalls den Reden seiner Kameraden entnommen –, und nach St. Xavier wäre eine Kasernenschule Quälerei. Außerdem – dies war Magie, die mit nichts aufzuwiegen war – konnte er schreiben. Innerhalb von drei Monaten hatte er entdeckt, wie Menschen ohne Hilfe eines Dritten miteinander sprechen können, zum Preis eines halben Anna und mit ein wenig Wissen. Vom Lama hatte er nichts gehört, aber da war noch die große Straße. Kim sehnte sich nach der Liebkosung von weichem Schlamm, der zwischen den Zehen aufquillt, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen beim Gedanken an Hammelfleisch, mit Butter und Kohlköpfen geschmort, an Reis, besprenkelt mit scharf riechendem Kardamom, an safranfarbenes Gemenge aus Reis, Knoblauch und Zwiebeln und an die verbotenen fetttriefenden Süßwaren der Basare. In der Kasernenschule würde man ihm rohes Rindfleisch auf einem Teller zu essen geben, und rauchen dürfte er nur heimlich. Andererseits war er ein Sahib und in St. Xavier, und dieses Schwein Mahbub Ali… Nein, er würde Mahbubs Gastfreundschaft nicht auf die Probe stellen – und dennoch… Im Schlafsaal dachte er seine Gedanken zu Ende und kam zu dem Schluß, daß er Mahbub unrecht getan hatte. Die Schule war leer; fast alle Lehrer waren abgereist; Oberst Creightons Freikarte für die Bahn lag in seiner Hand, und Kim war sehr stolz, daß er das Geld von Oberst Creighton und Mahbub nicht für ausschweifende Schwelgereien ausgegeben
hatte. Noch immer war er Herr über zwei Rupien sieben Annas. Sein neuer großer Koffer aus Büffelleder, mit »K. O’H.« gekennzeichnet, und seine Bettzeugrolle lagen im leeren Schlafsaal. »Sahibs sind immer an ihr Gepäck gefesselt«, sagte Kim; er nickte ihnen zu. »Ihr bleibt hier.« Er ging hinaus in den warmen Regen, lächelte sündhaft und suchte ein bestimmtes Haus auf, dessen Äußeres er sich vor einiger Zeit gemerkt hatte… »Weißt du denn nicht, welche Sorte Frauen wir in diesem Viertel sind? Oh, schäm dich!« »Bin ich vielleicht erst gestern geboren?« Kim hockte sich wie ein Eingeborener auf die Kissen in dem Obergemach. »Ein wenig Färbemittel und drei Yards Stoff für einen Scherz. Ist das zuviel verlangt?« »Wer ist sie? Für einen Sahib bist du reichlich jung zu so einer Teufelei.« »Ach, sie? Sie ist die Tochter eines bestimmten Schulmeisters von einem Regiment in der Garnison. Er hat mich zweimal geschlagen, weil ich in diesen Kleidern über ihre Mauer geklettert bin. Jetzt möchte ich als Gärtnerjunge gehen. Alte Männer sind sehr eifersüchtig.« »Das stimmt. Halt das Gesicht still, während ich den Saft auftupfe.« »Nicht zu schwarz, Naikan. Ich will ihr doch nicht als hubshi [Neger] erscheinen.« »Ach, aus sowas macht sich doch Liebe nichts. Und wie alt ist sie?« »Zwölf, glaube ich«, sagte der schamlose Kim. »Trag es auch auf meiner Brust auf. Es kann ja sein, daß ihr Vater mir die Kleider vom Leib reißt, und wenn ich dann ein Schecke bin…« Er lachte.
Das Mädchen arbeitete eifrig; sie tunkte ein Tuchknäuel in eine kleine Schale mit brauner Farbe, die länger hält als jeder Walnuß-Saft. »Jetzt schick jemand los und besorg mir ein Tuch für den Turban. Weh über mich, mein Kopf ist ja ganz unrasiert! Und bestimmt schlägt er mir den Turban herunter.« »Ich bin kein Barbier, aber das krieg ich schon hin. Du bist zum Herzensbrecher geboren! Soviel Verkleidung für einen einzigen Abend? Denk daran, das Mittel läßt sich nicht abwaschen.« Sie schüttelte sich vor Lachen, bis ihre Arm- und Fußspangen klirrten. »Aber wer soll mich dafür bezahlen? Huneefa selbst hätte dir nichts Besseres geben können.« »Vertraue den Göttern, meine Schwester«, sagte Kim feierlich; er verzog das Gesicht, als die Farbe zu trocknen begann. »Außerdem, hast du jemals vorher einen Sahib so anzumalen geholfen?« »Nein, wirklich nie. Aber ein Spaß ist kein Geld.« »Er ist viel mehr wert.« »Kind, du bist ohne jeden Zweifel der schamloseste Sohn des Shaitan, der je einem armen Mädchen mit dieser Spielerei die Zeit gestohlen und dann gesagt hat: ›Ist der Spaß nicht genug?‹ Du wirst es weit bringen in dieser Welt.« Spöttisch entbot sie ihm den Gruß der Tanzmädchen. »Alles eins. Mach schnell und schneid mir das Haar ab.« Kim trat von einem Fuß auf den anderen; seine Augen loderten vor Wonne, während er an die fetten Tage dachte, die vor ihm lagen. Er gab dem Mädchen vier Annas, und als er die Treppe hinabrannte, glich er einem Hindujungen niedriger Kaste – in allen Einzelheiten perfekt. Sein nächster Anlaufpunkt war eine Kochbude, wo er üppig und in fetter Schlemmerei schwelgte. Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Lucknow beobachtete er den jungen De Castro, der übersät mit Hitzepusteln in ein Abteil zweiter Klasse stieg. Kim zog eines dritter Klasse vor
und war dessen Leben und Seele. Er erzählte der Gesellschaft, er sei der Gehilfe eines Gauklers, der ihn fieberkrank zurückgelassen habe, und er wolle sich jetzt in Ambala wieder seinem Meister anschließen. Wenn die Fahrgäste im Abteil wechselten, wandelte er seine Geschichte ab oder schmückte sie mit allen Sprößlingen einer blühenden Fantasie aus, die desto stärker wucherte, da er so lange nicht in der Landessprache hatte reden dürfen. In ganz Indien gab es in dieser Nacht keinen so fröhlichen Menschen wie Kim. In Ambala stieg er aus und ging nach Osten, planschte über die durchweichten Felder zu dem Dorf, in dem der alte Soldat wohnte. Etwa zu dieser Zeit wurde Oberst Creighton in Simla telegrafisch aus Lucknow benachrichtigt, daß der junge O’Hara verschwunden sei. Mahbub Ali hielt sich in der Stadt auf und verkaufte Pferde, und ihm vertraute der Oberst die Sache an, als sie eines Morgens um die Annandale-Rennbahn herumgaloppierten. »Ach, das macht nichts«, sagte der Pferdehändler. »Menschen sind wie Pferde. Zu bestimmten Zeiten brauchen sie Salz, und wenn keines in der Krippe ist, lecken sie es von der Erde auf. Er ist wieder unterwegs, für eine kleine Weile. Die madrissah hat ihn gelangweilt. Ich habe es vorhergewußt. Beim nächsten Mal nehme ich ihn selbst mit auf die Straße. Machen Sie sich keine Sorgen, Creighton Sahib. Das ist, als ob ein Polopony sich losreißt und fortrennt, um das Spiel allein zu lernen.« »Dann ist er nicht tot, meinen Sie?« »Fieber könnte ihn töten. Sonst habe ich keine Sorge um den Jungen. Ein Affe fällt nicht aus den Bäumen.« Am nächsten Morgen schob sich auf der gleichen Bahn Mahbubs Hengst neben den Obersten.
»Es ist so, wie ich es mir gedacht hatte«, sagte der Pferdehändler. »Er ist jedenfalls durch Ambala gekommen und hat mir einen Brief geschrieben, nachdem er im Basar erfahren hatte, daß ich hier bin.« »Lesen Sie!« sagte der Oberst mit einem Seufzer der Erleichterung. Es war absurd, daß ein Mann seiner Position sich für einen kleinen landgebürtigen Vagabunden interessierte; aber der Oberst erinnerte sich an das Gespräch im Zug, und während der letzten Monate hatte er sich oft dabei ertappt, daß er an den seltsamen, verschwiegenen, beherrschten Jungen dachte. Sein Verschwinden war natürlich der Gipfel der Unverschämtheit, sprach aber für einigen Mut und Einfallsreichtum. Mahbubs Augen zwinkerten, als er in die Mitte der engen kleinen Fläche lenkte, wo niemand ungesehen näherkommen konnte. »›Der Freund der Sterne, der der Freund der ganzen Welt ist…‹« »Was ist das denn?« »Ein Name, den wir ihm im Lahore geben. ›… der der Freund der ganzen Welt ist, nimmt Urlaub, um seine eigenen Wege zu gehen. Er wird am festgesetzten Tag zurückkommen. Laß nach der Kiste und der Bettzeugrolle schicken; und wenn ein Fehler begangen wurde, so laß die Hand der Freundschaft die Peitsche des Ungemachs abwenden.‹ Es geht noch ein wenig weiter, aber…« »Nichts aber, lies!« »›Gewisse Dinge sind jenen nicht bekannt, die mit Gabeln essen. Es ist besser, einige Zeit mit beiden Händen zu essen. Sprich sanfte Worte zu jenen, die dies nicht verstehen, damit die Wiederkehr versöhnlich sei.‹ Nun ist die Form, in die dies gegossen wurde, natürlich das Werk des Briefschreibers, aber
sieh, wie klug der Junge den Inhalt ersonnen hat, so daß keinem ein Hinweis gegeben wird außer den Wissenden!« »Ist dies die Hand der Freundschaft, die die Peitsche des Ungemachs abwendet?« Der Oberst lachte. »Sieh, wie klug der Junge ist. Er wollte wieder zurück auf die Straße, wie ich sagte. Da er dein Gewerbe noch nicht kennt…« »Dessen bin ich gar nicht so sicher«, murmelte der Oberst. »… wendet er sich an mich, um Friede zwischen euch zu stiften. Ist er nicht klug? Er sagt, er wird zurückkommen. Er vervollkommnet nur sein Wissen. Bedenke, Sahib! Er ist drei Monate in der Schule gewesen. An diese Kandare ist sein Mund noch nicht gewöhnt. Was mich betrifft, ich freue mich. Das Pony lernt das Spiel.« »Ja, aber beim nächsten Mal darf er nicht allein gehen.« »Warum? Er ist allein gegangen, ehe er unter den Schutz des Oberst Sahibs kam. Wenn er ins Große Spiel geht, muß er allein gehen können – allein, und unter Gefahr seines Hauptes. Wenn er dann anders spuckt oder niest oder sich setzt als die Leute, die er beobachtet, kann er erschlagen werden. Warum ihn jetzt hindern? Bedenke, wie die Perser es sagen: Der Schakal in der Wildnis von Mazanderan kann nur von den Hetzhunden von Mazanderan gepackt werden.« »Stimmt. Es ist wahr, Mahbub Ali. Und wenn er nicht zu Schaden kommt, will ich nichts Besseres. Aber es ist eine große Unverschämtheit von ihm.« »Nicht einmal mir sagt er, wohin er geht«, sagte Mahbub. »Er ist kein Narr. Wenn sich seine Zeit erfüllt hat, wird er zu mir kommen. Es ist Zeit, daß der Heiler der Perlen ihn in die Hand bekommt. Er reift zu schnell – nach Rechnung der Sahibs.« Einen Monat später ging diese Prophezeiung buchstäblich in Erfüllung. Mahbub war nach Ambala geritten, um eine frische Lieferung Pferde nach Simla zu schaffen, und Kim traf ihn in der Abenddämmerung auf der Straße nach Kalka, wo er allein
ritt; er bat ihn um ein Almosen, wurde beschimpft und antwortete auf Englisch. Niemand war in Hörweite, um Mahbubs Ächzen der Verblüffung zu hören. »Oho! Und wo bist du gewesen?« »Rauf und runter – runter und rauf.« »Komm unter einen Baum, aus der Nässe, und berichte.« »Eine Weile bin ich bei einem alten Mann nahe Ambala geblieben; dann in einem Haushalt von Bekannten in Ambala. Mit einem von ihnen bin ich nach Süden gereist, bis nach Delhi. Das ist eine wunderbare Stadt. Dann habe ich für einen tell [Ölhändler] einen Ochsen nach Norden getrieben; aber ich hörte von einem großen Fest, das in Patiala stattfinden sollte, und bin in Gesellschaft eines Feuerwerk-Machers dorthin gegangen. Es war ein großes Fest.« (Kim rieb sich den Magen.) »Ich habe Radschas gesehen und Elefanten mit goldenem und silbernem Paradegeschirr; und sie haben alles Feuerwerk auf einmal entzündet, woran elf Männer gestorben sind, unter ihnen mein Feuerwerk-Macher, und ich wurde über ein Zelt geblasen, habe aber keinen Schaden genommen. Dann bin ich zum rêl zurückgekommen mit einem Sikh-Reiter, bei ihm habe ich mein Brot als Pferdeknecht verdient; und so hierher.« »Shabash!« sagte Mahbub Ali. »Aber was sagt der Oberst Sahib? Ich will nicht geprügelt werden.« »Die Hand der Freundschaft hat die Peitsche des Ungemachs abgewendet; aber wenn du das nächste Mal auf die Straße gehst, dann mit mir. Es ist noch zu früh.« »Für mich spät genug. Ich habe in der madrissah ein wenig Englisch lesen und schreiben gelernt. Bald werde ich ganz ein Sahib sein.« »Hört ihn an!« Mahbub lachte und musterte die kleine durchnäßte Gestalt, die im Regen herumtanzte. »Salaam –
Sahib«, und er salutierte ironisch. »Na, bist du der Straße überdrüssig, oder willst du mit mir nach Ambala kommen und mir beim Pferdetreiben helfen?« »Ich will mit dir kommen, Mahbub Ali.«
KAPITEL VIII
Something I owe to the soil that grew – More to the life that fed – But most to Allah who gave me two Separate sides to my head. I would go without shirts or shoes, Friends, tobacco or bread Sooner than for an instant lose Either side of my head. The Two-Sided Man [Einiges dank ich dem Boden der trieb – mehr dem Leben das nährte – aber das meiste Allah Der mir zwei verschiedene Seiten zum Kopf gab. Lieber verzicht ich auf Hemde und Schuh, Freunde, Tabak und Brot, eh ich für einen Moment nur verlier eine der Seiten des Kopfs. Der Zweiseitige]
»Also dann nimm um Gottes willen blau statt rot«, sagte Mahbub; er spielte auf die Hindufarbe von Kims scheußlichem Turban an. Kim konterte mit dem alten Sprichwort: »Ich will meinen Glauben und mein Bettzeug wechseln, aber du mußt dafür bezahlen.« Der Händler lachte, bis er fast vom Pferd fiel. In einem Laden am Rand des Stadtkerns wurde der Wechsel vollzogen, und
Kim tauchte, jedenfalls äußerlich, als Mohammedaner wieder auf. Mahbub mietete einen Raum auf der anderen Seite des Bahnhofs, ließ ein gekochtes Mahl vom Feinsten bringen, dazu Mandelquark-Gebäck [balushai nennen wir das] und feingeschnittenen Lucknow-Tabak. »Das ist besser als gewisse Dinge, die ich bei dem Sikh gegessen habe«, sagte Kim; grinsend hockte er sich nieder. »Und glaub mir, auch in meiner madrissah gibt es keine solche Nahrung.« »Ich habe sehr den Wunsch, mehr von dieser madrissah zu hören.« Mahbub stopfte sich voll mit dicken Bällchen von gewürztem Hammelfleisch, in Fett gebraten mit Kohl und goldbraunen Zwiebeln. »Aber zuerst erzähl mir, vollständig und wahrhaftig, wie du entflohen bist. Denn, o Freund der ganzen Welt«, – er löste seinen krachenden Gürtel – »ich glaube nicht, daß es oft geschieht, daß ein Sahib und Sohn eines Sahibs von dort wegläuft.« »Wie sollten sie auch? Sie kennen das Land nicht. Es war gar nichts«, sagte Kim und begann mit seiner Erzählung. Als er zur Verkleidung und zum Gespräch mit dem Mädchen im Basar kam, ließ die Ernsthaftigkeit Mahbub Ali im Stich. Er lachte laut und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Shabash! Shabash! Oh, gut gemacht, mein Kleiner! Was wird wohl der Heiler der Türkise dazu sagen? Also, ganz langsam, laß uns hören, was danach geschehen ist – Schritt für Schritt, ohne etwas auszulassen.« Also erzählte Kim Schritt für Schritt seine Abenteuer, unterbrochen von Husten, wenn ihm der kräftige Tabak in die Lungen geriet. »Ich sagte es doch«, knurrte Mahbub Ali vor sich hin. »Ich habe es ja gesagt, daß das Pony ausbricht, um Polo zu spielen. Die Frucht ist schon reif – abgesehen davon, daß er noch die
Entfernungen einschätzen und die Gangarten erlernen muß, und die Maßruten und Zirkel. Jetzt hör zu. Ich habe die Peitsche des Obersten von deiner Haut abgewendet, und das ist kein geringer Dienst.« »Wahr.« Kim paffte gelassen. »Das ist sehr wahr.« »Aber man darf sich nicht einbilden, dieses Raus- und Reinrennen sei zu irgendwas gut.« »Das waren meine Ferien, Hadschi. Viele Wochen lang war ich ein Sklave. Warum sollte ich denn nicht fortlaufen, als die Schule geschlossen wurde? Bedenke außerdem, daß ich, indem ich von meinen Freunden gelebt oder für mein Brot gearbeitet habe, wie bei dem Sikh, dem Oberst Sahib große Kosten ersparte.« Mahbubs Lippen zuckten unter seinem feingestutzten Mohammedanerschnurrbart. »Was sind schon ein paar Rupien« – der Pathane machte eine wegwerfende Bewegung mit der offenen Hand – »für den Oberst Sahib? Er gibt sie zu einem bestimmten Zweck aus, keineswegs aus Liebe zu dir.« »Das«, sagte Kim langsam, »weiß ich schon sehr lange.« »Wer hat es gesagt?« »Der Oberst Sahib selbst. Nicht mit vielen Worten, aber deutlich genug für einen, dessen Kopf nicht ganz aus Lehm ist. Ja, er hat es mir im Zug gesagt, als wir nach Lucknow gefahren sind.« »Sei es. Dann will ich dir mehr dazu erzählen, Freund der ganzen Welt, wenn ich dir auch dadurch meinen Kopf ausliefere.« »Der war mir ohnehin schon verfallen«, sagte Kim sehr genüßlich, »in Ambala, als du mich auf das Pferd gehoben hast, nachdem der Trommeljunge mich geschlagen hatte.«
»Sprich ein wenig deutlicher. Alle Welt mag Lügen erzählen, aber du und ich nicht. Genauso ist nämlich dein Leben mir verfallen, wenn es mir gefällt, diesen Finger hier zu heben.« »Und das weiß ich auch sehr gut«, sagte Kim; er schob die Kugel glühender Holzkohle auf dem Tabak zurecht. »Es ist ein sehr zuverlässiges Band zwischen uns. Dein Griff ist in Wahrheit noch fester als meiner; wer würde denn schon einen Jungen vermissen, der totgeschlagen oder vielleicht in einen Brunnen am Straßenrand geworfen worden ist? Andererseits würden aber viele Leute hier und in Simla und jenseits der Pässe hinter den Bergen sagen: ›Was ist mit Mahbub Ali geschehen?‹, wenn man ihn tot bei seinen Pferden fände. Bestimmt würde auch der Oberst Sahib Nachforschungen anstellen. Andererseits würde er aber« – Kims Gesicht überzog sich mit listigen Falten – »nicht zu lange nachforschen, weil sonst die Leute fragen könnten: ›Was hat dieser Oberst Sahib mit dem Pferdehändler zu tun?‹ Aber ich… wenn ich am Leben bliebe…« »Da du bestimmt sterben würdest…« »Vielleicht; aber ich sage nur, wenn ich am Leben bliebe, dann würde ich, und ich allein, wissen, daß einer in der Nacht, vielleicht ein gewöhnlicher Dieb, zu Mahbub Alis Verschlag im Serai gekommen ist und ihn dort getötet hat, entweder bevor oder nachdem dieser Dieb eine gründliche Suche in den Satteltaschen und zwischen den Sohlen seiner Pantoffeln unternommen hat. Sind das Neuigkeiten, die man dem Oberst erzählen soll, oder würde er mir nur sagen – ich habe nicht vergessen, wie er mich nach einer Zigarrentasche schickte, die er gar nicht vergessen hatte – ›Was habe ich mit Mahbub Ali zu schaffen‹«? Ein Ball schweren Rauchs stieg empor. Eine lange Pause trat ein; dann sagte Mahbub Ali voll Bewunderung: »Und mit diesen Dingen in deinem Kopf legst du dich nieder und erhebst
dich wieder unter all den jungen Söhnen von Sahibs in der madrissah und nimmst demütig Unterweisungen von deinen Lehrern an?« »Es ist ein Befehl«, sagte Kim sanft. »Wer bin ich denn, einen Befehl anzufechten?« »Ein ganz vollendeter Sohn des Iblis«, sagte Mahbub Ali. »Aber was ist das für eine Geschichte mit dem Dieb und der Suche?« »Das, was ich gesehen habe«, sagte Kim, »in der Nacht, als mein Lama und ich gleich neben deinem Platz im KaschmirSerai lagen. Die Tür war nicht verschlossen, was, glaube ich, nicht deine Gewohnheit ist, Mahbub. Er ist hereingekommen wie einer, der sicher ist, daß du nicht bald zurückkehrst. Mein Auge war an einem Astloch im Brett. Er hat gesucht wie nach etwas – kein Teppich, keine Steigbügel, auch kein Zügel, auch keine Messingtöpfe – nach etwas Kleinem, das sehr sorgsam versteckt ist. Warum sonst hätte er mit einem Eisen zwischen den Sohlen deiner Pantoffeln gestochert?« »Ha!« Mahbub Ali lächelte freundlich. »Und nachdem du diese Dinge gesehen hattest, welche Geschichte hast du für dich daraus gemacht, Brunnen der Wahrheit?« »Keine. Ich habe die Hand auf mein Amulett gelegt, das immer gleich auf meiner Haut ist; dann habe ich mich daran erinnert, daß ich den Stammbaum eines weißen Hengstes aus einem Stück Moslembrot gebissen hatte, und ich bin nach Ambala gegangen in dem Wissen, daß mir eine schwere Bürde des Vertrauens auferlegt war. Hätte ich es so gewollt, wäre in dieser Stunde dein Kopf verloren gewesen. Ich hätte nur diesem Mann sagen müssen: ›Ich habe hier ein Papier, das ich nicht lesen kann; es betrifft ein Pferd.‹ Und dann?« Kim blickte Mahbub unter herabgezogenen Brauen an.
»Dann hättest du anschließend noch zweimal Wasser getrunken – vielleicht dreimal. Ich glaube, nicht mehr als dreimal«, sagte Mahbub schlicht. »Das ist wahr. Ein wenig habe ich daran gedacht, aber vor allem habe ich gedacht, daß ich dich liebe, Mahbub. Deshalb bin ich nach Ambala gegangen, wie du weißt, aber (und das weißt du nicht) ich lag versteckt im Gartengras um zu sehen, was Oberst Creighton Sahib wohl macht, wenn er den Stammbaum des weißen Hengstes gelesen hat.« »Und was hat er getan?« Denn Kim hatte das Gespräch abgebrochen. »Gibst du Nachrichten um Liebe oder verkaufst du sie?« fragte Kim. »Ich verkaufe und – ich kaufe.« Mahbub nahm ein Vierannastück aus dem Gürtel und hielt es hoch. »Acht!« sagte Kim, der automatisch dem Schacherinstinkt des Ostens folgte. Mahbub lachte und steckte die Münze ein. »Es ist zu leicht, auf diesem Markt zu handeln, Freund der ganzen Welt. Erzähl es mir um Liebe. Unsere Leben liegen in der Hand des anderen.« »Sehr gut. Ich sah den Jang-i-Lat Sahib [Oberkommandierenden] zu einem großen Essen kommen. Ich sah ihn in Creighton Sahibs Arbeitszimmer. Ich sah, wie die beiden den Stammbaum des weißen Hengstes lasen. Ich hörte selbst noch die Befehle zur Eröffnung eines großen Kriegs.« »Hah!« Mahbub nickte; tief in seinen Augen glühte es. »Das Spiel ist gut gespielt. Dieser Krieg ist nun vorüber und das Übel, wie wir hoffen, gekappt, bevor es aufblühen konnte – dank meiner – und deiner. Was hast du danach getan?« »Ich habe die Nachrichten genommen wie einen Haken, um Nahrung und Ansehen einzufangen bei den Bewohnern eines Dorfs, dessen Priester meinen Lama mit Drogen betäubt hat.
Aber ich hatte den Geldbeutel des alten Mannes, und der Brahmane hat nichts gefunden. Deshalb war er am nächsten Morgen verärgert. Ho! Ho! Und ich habe die Neuigkeit auch verwendet, als ich in die Hände dieses weißen Regiments mit ihrem Stier gefallen bin.« »Das war eine Dummheit.« Mahbub schnitt eine Grimasse. »Neuigkeiten sind nicht dazu da, wie Dungfladen herumgeworfen, sondern sparsam verwendet zu werden – wie bhang.« »Das denke ich jetzt auch, und außerdem hat es mir nichts Gutes eingebracht. Aber das war vor sehr langer Zeit«, – er tat, als wolle er all dies mit einer dünnen braunen Hand wegwischen – »und seitdem, und vor allem in den Nächten unter dem punkah in der madrissah, habe ich sehr viel gedacht.« »Ist es erlaubt zu fragen, wohin das Denken des Himmelsgeborenen geführt haben mag?« sagte Mahbub mit erlesenem Sarkasmus; dabei glättete er seinen scharlachroten Bart. »Es ist erlaubt«, sagte Kim, und er gab im gleichen Tonfall zurück: »In Nuckiao sagen sie, daß kein Sahib je einem schwarzen Mann sagen darf, daß er einen Fehler gemacht hat.« Mahbubs Hand fuhr in sein Brustkleid, denn einen Pathanen einen »schwarzen Mann« [kala admi] nennen ist eine Beleidigung, die nach Blut schreit. Dann besann er sich und lachte. »Sprich, Sahib. Dein schwarzer Mann lauscht.« »Aber«, sagte Kim, »ich bin kein Sahib, und ich sage, ich habe einen Fehler gemacht, als ich dich verfluchte, Mahbub Ali, an dem Tag in Ambala, als ich glaubte, ein Pathane hätte mich verraten. Ich war bewußtlos; man hatte mich ja eben erst eingefangen, und ich wollte diesen Trommeljungen niedriger Kaste töten. Jetzt sage ich, Hadschi, daß es gut gemacht war;
und ich sehe meine Straße zu einem guten Dienst ganz klar vor mir. Ich werde in der madrissah bleiben, bis ich reif bin.« »Gut gesprochen. Vor allem sind für dieses Spiel Entfernungen und Zahlen und der Umgang mit dem Kompaß zu lernen. Oben in den Bergen wartet einer, um es dir zu zeigen.« »Ich will ihre Unterweisungen unter einer Bedingung lernen – daß, wenn die madrissah geschlossen ist, meine Zeit mir gehört, ohne daß Fragen gestellt werden. Fordere dies für mich von dem Oberst.« »Aber warum willst du das nicht selbst in der Zunge der Sahibs vom Oberst verlangen?« »Der Oberst ist Diener der Regierung. Er wird mit einem einzigen Wort hierhin und dahin geschickt und muß an seine eigene Beförderung denken. (Sieh, wieviel ich schon in Nuckiao gelernt habe!) Außerdem kenne ich den Oberst erst seit drei Monaten. Einen namens Mahbub Ali kenne ich seit sechs Jahren. Da! Zur madrissah will ich gehen. Auf der madrissah will ich lernen. In der madrissah will ich ein Sahib sein. Aber wenn die madrissah geschlossen ist, muß ich frei sein und zu meinen Leuten gehen. Sonst sterbe ich!« »Und wer sind deine Leute, Freund der ganzen Welt?« »Dieses große und wundervolle Land«, sagte Kim und schwenkte die Hand rund um den kleinen Raum mit Lehmwänden, wo die Öllampe in ihrer Nische träge durch den Tabakrauch glomm. »Und außerdem möchte ich meinen Lama wiedersehen. Und außerdem brauche ich Geld.« »Das braucht jeder«, sagte Mahbub traurig. »Ich will dir acht Annas geben, denn viel Geld ist nicht aus Pferdehufen zu kratzen, und es muß für viele Tage reichen. Was alles andere angeht, bin ich sehr zufrieden, und es bedarf keiner weiteren Rede. Beeile dich mit dem Lernen, und in drei Jahren, oder schon früher, wirst du eine Hilfe sein – sogar für mich.«
»Bin ich denn bis jetzt solch ein Hindernis gewesen?« sagte Kim mit einem Jungenkichern. »Gib keine Antworten«, knurrte Mahbub. »Du bist mein neuer Pferdejunge. Geh und leg dich bei meinen Leuten schlafen. Sie sind nahe am Nordende des Bahnhofs, mit den Pferden.« »Sie werden mich bis zum Südende prügeln, wenn ich ohne Befehl komme.« Mahbub griff in seinen Gürtel, befeuchtete den Daumen an einem Plättchen chinesischer Tinte und preßte den Abdruck auf ein Stück weichen indischen Papiers. Von Balkh bis Bombay kennen Männer diesen grobrissigen Abdruck mit der alten diagonal darüber verlaufenden Narbe. »Es reicht, wenn du das meinem Vormann zeigst. Ich komme am Morgen.« »Auf welcher Straße?« »Auf der Straße von der Stadt her. Es gibt nur eine, und dann kehren wir zu Creighton Sahib zurück. Ich habe dir Prügel erspart.« »Allah! Was sind schon Prügel, wenn der Kopf selbst lose auf den Schultern sitzt?« Kim schlüpfte leise in die Nacht hinaus, ging halb um das Haus herum, hielt sich eng an der Wand und entfernte sich etwa eine Meile vom Bahnhof. Dann ging er gemütlich in einem großen Bogen zurück, denn er brauchte Zeit, um eine Geschichte zu erfinden, falls jemand aus Mahbubs Gefolge Fragen stellen sollte. Sie lagerten auf einem Stück Ödland neben der Bahnlinie, und als gute Eingeborene hatten sie natürlich die beiden Waggons nicht entladen, in denen Mahbubs Tiere zwischen einer Lieferung im Hinterland gezüchteter Pferde standen, die die Bombay-Trambahn-Gesellschaft gekauft hatte. Der Vormann, ein ausgemergelter, schwindsüchtig aussehender
Mohammedaner, fuhr Kim sofort an, ließ sich aber durch den Anblick von Mahbubs Handzeichen besänftigen. »In seiner Güte hat der Hadschi mich in Dienst genommen«, sagte Kim mürrisch. »Wenn es daran Zweifel gibt, warte, bis er am Morgen kommt. Bis dahin, einen Platz am Feuer.« Es folgte das übliche sinnlose Geplapper, das jeder Eingeborene niedriger Kaste bei jeder Gelegenheit veranstalten muß. Es erstarb, und Kim streckte sich aus hinter dem kleinen Knäuel von Mahbubs Gefolge, fast unter den Rädern eines Pferdewagens, mit einer geliehenen Decke. Nun würde ein Bett zwischen Ziegelbrocken, Schotter und Abfall in einer feuchten Nacht, neben zusammengedrängten Pferden und ungewaschenen Baltis, nicht vielen weißen Jungen reizvoll erscheinen; aber Kim war vollkommen glücklich. Wechsel von Szene, Arbeit und Umgebung waren Odem für seine kleinen Nüstern, und der Gedanke an die sauberen weißen Betten in St. Xavier, in einer Reihe unter dem punkah, machte ihm so viel Vergnügen wie das Aufsagen des Einmaleins auf Englisch. ›Ich bin sehr alt‹, dachte er schläfrig. ›Jeden Monat werde ich ein Jahr älter. Ich war sehr jung und außerdem ein Narr, als ich Mahbubs Botschaft nach Ambala gebracht habe. Sogar als ich bei dem weißen Regiment war, war ich sehr jung und klein und ohne jede Klugheit. Aber nun lerne ich jeden Tag etwas, und in drei Jahren wird mich der Oberst aus der madrissah nehmen und mich mit Mahbub auf die Straße gehen lassen, um nach Stammbäumen von Pferden zu jagen, oder vielleicht gehe ich sogar allein; oder, vielleicht, finde ich den Lama und gehe mit ihm. Ja; das ist am besten. Wieder als chela mit meinem Lama wandern, wenn er nach Benares zurückkehrt.‹ Die Gedanken kamen langsamer und ohne Zusammenhang. Er tauchte in ein herrliches Traumland ein, als seine Ohren über dem monotonen Plappern am Feuer ein dünnes scharfes Flüstern
auffingen. Es kam von jenseits des eisenbeschlagenen Viehwaggons. »Dann ist er also nicht hier?« »Wo soll er schon sein? Er wird sich in der Stadt suhlen. Wer sucht denn eine Ratte im Froschteich? Komm weg. Er ist nicht unser Mann.« »Er darf nicht ein zweites Mal über die Pässe zurück. So sagt der Befehl.« »Miete irgendeine Frau, die ihm etwas eingibt. Das kostet nur ein paar Rupien, und es gibt keine Beweise.« »Außer der Frau. Es muß sicherer sein; und denk an den Preis, der auf seinen Kopf steht.« »Ja, aber die Polizei hat einen langen Arm, und wir sind weit von der Grenze. Wenn das hier Peshawar wäre!« »Ja – Peshawar.« Die zweite Stimme klang höhnisch. »Peshawar, voll von seinen Blutsverwandten – voll von Schlupfwinkeln und Frauen, hinter deren Kleidern er sich verstecken kann. Ja, Peshawar oder die Dschehenna wären beide gleich gut für uns.« »Wie sieht denn dann dein Plan aus?« »O du Narr, habe ich ihn dir nicht hundert Mal gesagt? Warte, bis er kommt, um sich niederzulegen, und dann ein gezielter Schuß. Die Wagen sind zwischen uns und Verfolgern. Wir brauchen nur über die Geleise zurückzulaufen und zu verschwinden. Sie werden nicht sehen, woher der Schuß kam. Warte hier wenigstens bis zum Morgengrauen. Was für eine Art Fakir bist du denn, daß du zitterst, wenn du ein wenig Wache halten sollst?« ›Oho!‹ dachte Kim mit festgeschlossenen Augen. ›Das geht wieder einmal um Mahbub. Der Stammbaum eines weißen Hengstes ist wirklich keine gute Ware, um sie an Sahibs zu verhökern! Vielleicht hat Mahbub aber auch andere Neuigkeiten verkauft. Was ist denn jetzt zu tun, Kim? Ich weiß
nicht, wo Mahbub steckt, und wenn er vor Tagesanbruch herkommt, werden sie ihn erschießen. Das wäre kein Vorteil für dich, Kim. Und dies hier ist keine Sache für die Polizei. Das wäre kein Vorteil für Mahbub; und‹ – hier hätte er beinahe laut gekichert – ›ich kann mich an keinen Unterricht in Nuckiao erinnern, der mir jetzt hilft. Allah! Hier ist Kim und dort sind die. Dann muß Kim zuerst erwachen und fortgehen, damit sie nicht argwöhnisch werden. Böse Träume wecken einen Mann… so…‹ Er warf die Decke vom Gesicht und richtete sich jäh auf mit dem schrecklichen gurgelnden sinnlosen Gellen des von einem Albtraum geweckten Asiaten. »Urr-urr-urr-urr! Ya-la-la-la-la! Narain! Die churel! Die churel!« Eine churel ist der besonders bösartige Geist einer Frau, die im Kindbett gestorben ist. Sie geistert über einsame Wege, ihre Füße sind an den Knöcheln rückwärts gedreht, und sie führt Männer zu Folterqualen. Kims quäkendes Heulen stieg immer lauter auf, bis er schließlich auf die Füße sprang und schläfrig forttaumelte, während das Lager ihn wegen der Schlafstörung verfluchte. Etwa zwanzig Yards den Schienenstrang aufwärts legte er sich wieder hin und sorgte dafür, daß die Flüsterer sein Grunzen und Ächzen hören konnten, während er sich wieder beruhigte. Ein paar Minuten später rollte er zur Straße und verdrückte sich im dichten Dunkel. Er trabte rasch vorwärts, bis er an eine Kanalöffnung kam; dahinter ließ er sich fallen, das Kinn auf Höhe des Kappsteins. Hier konnte er den ganzen nächtlichen Verkehr beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Zwei oder drei Karren kamen klirrend auf dem Weg in die Vororte vorbei; ein hustender Polizist und ein oder zwei
hastende Fußgänger, die sangen, um böse Geister abzuwehren. Dann klapperten die beschlagenen Hufe eines Pferds. ›Ah! Das klingt eher nach Mahbub‹, dachte Kim, als das Tier vor dem kleinen Kopf über dem Kanalloch scheute. »Ohe, Mahbub Ali«, flüsterte er, »sieh dich vor!« Das Pferd wurde gezügelt, daß es fast auf die Hinterbeine stieg, und dann vorwärts zum Kanalloch getrieben. »Nie wieder«, sagte Mahbub, »nehme ich ein beschlagenes Pferd für Nachtritte. Sie sammeln alle Knochen und Nägel in der Stadt auf.« Er bückte sich, um den Vorderfuß des Pferdes anzuheben, und das brachte seinen Kopf bis auf einen Fuß an den vom Kim heran. »Runter – bleib unten«, murmelte er. »Die Nacht ist voller Augen.« »Zwei Männer warten hinter den Pferdewaggons darauf, daß du kommst. Sie werden dich erschießen, sobald du dich hinlegst, weil ein Preis auf deinen Kopf steht. Ich habe es gehört, weil ich nah bei den Pferden schlief.« »Hast du sie gesehen?… Halt still, du Erzeuger von Teufeln!« Das wütend zum Pferd. »Nein.« »War einer vielleicht wie ein Fakir gekleidet?« »Einer sagte zum anderen: ›Was für eine Art Fakir bist du denn, daß du zitterst, wenn du ein wenig Wache halten sollst?‹« »Gut. Geh zurück ins Lager, und leg dich hin. Ich sterbe heute nacht nicht.« Mahbub wandte sein Pferd und verschwand. Kim schlich am Kanalgraben entlang zurück, bis er eine Stelle gegenüber von seinem zweiten Ruheplatz erreichte; dann glitt er wie ein Wiesel über die Straße und wickelte sich wieder in seine Decke. ›Jedenfalls weiß Mahbub Bescheid‹, dachte er zufrieden.
›Und er hat geredet wie einer, der so etwas erwartet. Ich glaube nicht, daß diese beiden Männer viel Förderliches in ihrer Nachtwache finden.‹ Eine Stunde verging, und auch beim allerbesten Willen, die ganze Nacht wachzubleiben, schlief er fest ein. Hin und wieder röhrte ein Zug zwanzig Fuß von ihm entfernt über die Metallstränge; aber bloßem Lärm gegenüber besaß er die ganze Gleichgültigkeit des Orientalen, und es webte ihm nicht einmal einen Traum in den Schlummer. Mahbub war alles andere als schläfrig. Es ärgerte ihn heftig, daß Leute, die nicht seinem Stamm angehörten und auch nichts mit seinen gelegentlichen Liebschaften zu tun hatten, ihm ans Leben wollten. Sein erster und natürlicher Impuls war, die Bahnlinie weiter unten zu überqueren, sich an ihr emporzuarbeiten, seine Gönner von hinten zu schnappen und sie schlicht zu erschlagen. Dann, so bedachte er traurig, mochte ein anderer Zweig der Regierung ohne jeden Bezug zu Oberst Creighton Erklärungen verlangen, die schwierig beizubringen wären; und er wußte, daß man südlich der Grenze wegen einer oder zwei Leichen einen absolut albernen Aufstand machte. In dieser Form war er nicht mehr belästigt worden, seit er Kim mit der Botschaft nach Ambala geschickt hatte, und er hatte gehofft, den Verdacht endgültig abgelenkt zu haben. Dann kam ihm eine ganz brillante Idee. »Die Engländer sagen ewig die Wahrheit«, sagte er, »deshalb stehen wir aus diesem Land hier ewig wie die Narren da. Bei Allah, ich werde einem Engländer die Wahrheit sagen! Welchen Sinn hat denn die Regierungspolizei, wenn einem armen Kabuli schon die Pferde aus den Waggons gestohlen werden. Das ist ja so schlimm wie in Peshawar! Ich sollte mich auf der Polizeistation beschweren. Oder noch besser bei einem
jungen Sahib von der Eisenbahn! Die sind eifrig, und wenn sie Diebe fangen, wird es ihnen zur Ehre angerechnet.« Er band sein Pferd vor dem Bahngebäude an und stapfte auf den Bahnsteig. »Hallo, Mahbub Ali!« sagte ein junger Stellvertretender Distrikts-Verkehrs-Superintendent, der bald die Strecke abfahren sollte – ein großer, hanfhaariger, pferdsgesichtiger Bursche in schmierigem weißen Leinen. »Was machen Sie hier? Klepper verhökern – eh?« »Nein; es geht mir nicht um meine Pferde. Ich wollte Lutuf Ullah suchen. Ich habe eine Wagenladung weiter oben auf den Schienen. Könnte irgendwer sie rausholen, ohne daß die Bahn es bemerkt?« »Glaub ich nicht, Mahbub. Und wenn, dann können Sie uns auf Ersatz verklagen.« »Ich habe zwei Männer gesehen, die fast die ganze Nacht unter den Rädern von einem der Wagen kauern. Fakire stehlen keine Pferde, deshalb habe ich sie nicht weiter beachtet. Ich möchte Lutuf Ullah finden, meinen Partner.« »Teufel auch! Und Sie haben sich nicht den Kopf wegen der beiden zerbrochen? Ehrenwort, es ist wirklich gut, daß ich Sie treffe. Wie haben die beiden ausgesehen, eh?« »Es waren doch nur Fakire. Sie werden höchstens ein bißchen Getreide stehlen, aus einem der Waggons. Auf dem Bahndamm stehen viele davon. Der Staat wird die milde Gabe verschmerzen können. Aber ich wollte wirklich meinen Partner, Lutuf Ullah…« »Lassen Sie mal Ihren Partner beiseite. Wo stehen Ihre Viehwaggons?« »Ein bißchen diesseits von der letzten Stelle, wo man Lampen für die Züge macht.« »Das Stellwerk? Aha.«
»Und auf dem Geleise neben der Straße auf der rechten Seite – wenn man so die Strecke hinaufschaut. Aber was Lutuf Ullah angeht – ein großer Mann mit gebrochener Nase und einem persischen Windhund… Aie!« Der junge Mann war losgestürmt, um einen jungen beflissenen Polizisten zu wecken; denn, sagte er, die Bahn hatte genug unter den Plündereien im Frachtlager zu leiden. Mahbub Ali kicherte in seinen gefärbten Bart. »Sie werden in ihren Stiefeln gehen und Lärm machen, und dann werden sie sich wundern, daß keine Fakire da sind. Das sind sehr kluge Jungen – Barton Sahib und Young Sahib.« Gelassen wartete er einige Minuten und rechnete damit, sie zur Tat gewappnet die Strecke entlanglaufen zu sehen. Eine leichte Lokomotive glitt durch den Bahnhof, und im Führerstand sah er flüchtig den jungen Barton. »Ich habe dem Kind unrecht getan. Er ist doch nicht völlig ein Narr«, sagte Mahbub Ali. »Einen Feuerwagen nehmen, um einen Dieb zu schnappen, das ist ein neues Spiel!« Als Mahbub Ali im Morgengrauen zu seinem Lager kam, hielt keiner es für nötig, ihm irgendwelche nächtlichen Neuigkeiten zu erzählen. Keiner jedenfalls außer dem kleinen Pferdejungen, der eben erst zum Diener des großen Mannes aufgestiegen war und den Mahbub in sein kleines Zelt rief, damit er ihm beim Packen half. »Ich weiß alles«, flüsterte Kim; er beugte sich über Satteltaschen. »Zwei Sahibs sind mit einem Zug hergekommen. Ich bin auf dieser Seite der Wagen hin und her gelaufen, als der Zug langsam auf und ab gefahren ist. Sie sind über zwei Männer hergefallen, die unter diesem Wagen gesessen haben – Hadschi, was soll ich mit diesem Klumpen Tabak machen? In Papier wickeln und unter den Salzbeutel legen? Ja – und haben sie niedergeschlagen. Aber ein Mann hat mit einem Fakir-Bockshorn« (Kim meinte die
zusammengefügten Schwarzbockhörner, die eines Fakirs einzige weltliche Waffe sind) »nach einem Sahib gestoßen, und Blut ist geflossen. Da hat der andere Sahib, der zuerst seinen Gegner bewußtlos geschlagen hatte, den zweiten mit einem kurzen Gewehr geschlagen, das dem ersten Mann aus der Hand gefallen war. Sie haben alle gegeneinander gewütet wie wahnsinnig.« Mahbub lächelte in himmlischer Ergebenheit. »Nein! Das ist weniger dewanee [Wahnsinn, oder auch Fall fürs Zivilgericht – man kann in beide Richtungen ein Wortspiel damit machen] als nizamut [ein Strafgerichtsfall]. Ein Gewehr, sagst du? Zehn gute Jahre im Gefängnis.« »Danach lagen beide still, aber ich glaube, sie waren fast tot, als man sie auf den Zug gelegt hat. Ihre Köpfe haben sich so bewegt. Und es ist viel Blut auf dem Bahndamm. Komm und sieh.« »Ich weiß, wie Blut aussieht. Das Gefängnis ist ein sicherer Ort – und bestimmt geben sie falsche Namen an, und bestimmt wird lange Zeit keiner sie finden. Sie waren Unfreunde von mir. Dein Geschick und meines scheinen auf die gleiche Schnur gezogen zu sein. Was für eine Geschichte für den Heiler der Perlen! Jetzt schnell mit den Satteltaschen und dem Kochgeschirr. Wir laden die Pferde aus, und dann nach Simla.« Eilig – nach orientalischem Verständnis von Eile –, mit langen Erörterungen, mit Beschimpfungen und leerem Gerede, sorglos, mit hundert Pausen wegen vergessener Kleinigkeiten, brach das unordentliche Lager auf und führte das halbe Dutzend steifer und launischer Pferde in der Frische des regenverhangenen Morgens die Straße nach Kalka entlang. Kim, von allen, die sich mit dem Pathanen gut stellen wollten, als Mahbub Alis Günstling betrachtet, wurde zu keiner Arbeit aufgefordert. Sie schlenderten in überaus gemächlichen
Etappen dahin, und hielten alle paar Stunden bei einer Unterkunft am Straßenrand. Sehr viele Sahibs reisen auf der Kalka-Straße; und wie Mahbub Ali sagt, muß jeder junge Sahib sich unbedingt für einen Pferdekenner halten und so tun, als ob er kaufen will, selbst wenn er beim Geldverleiher bis über beide Ohren in Schulden steckt. Das war der Grund, weshalb ein Sahib nach dem anderen seine Landkutsche anhielt und ein Gespräch eröffnete. Einige stiegen sogar aus ihren Wagen und befingerten die Beine der Pferde, stellten unsinnige Fragen, oder sie beleidigten in schierer Unkenntnis der Landessprache den unerschütterlichen Händler gröblich. »Als ich das erste Mal mit Sahibs zu tun hatte, und das war, als Oberst Soady Sahib Gouverneur von Fort Abazai war und den Lagerplatz des Commissioners aus Gehässigkeit unter Wasser gesetzt hat«, sagte Mahbub vertraulich zu Kim, als der Junge ihm unter einem Baum die Pfeife füllte, »da wußte ich noch nicht, welch große Narren sie sind, und das brachte mich oft in Zorn. So etwa…« und er erzählte Kim von einer in aller Unschuld mißbrauchten Redewendung, bei der Kim sich vor Vergnügen krümmte. »Jetzt aber begreife ich«, – langsam atmete er Rauch aus – »daß es bei ihnen wie bei allen Menschen ist – bei gewissen Dingen sind sie klug und bei anderen ganz närrisch. Sehr närrisch ist es, einem Fremden gegenüber das falsche Wort zu verwenden; denn wenn das Herz auch rein sein mag von aller Kränkung, wie soll der Fremde es wissen? Er wird dann eher mit einem Dolch die Wahrheit suchen.« »Wahr. Wahre Rede«, sagte Kim feierlich. »Narren sprechen zum Beispiel von einer Katze, wenn eine Frau bald gebärt. Das habe ich gehört.« »Deshalb ist es für dich und in deiner Lage besonders wichtig, daran mit beiden Gesichtern zu denken. Unter Sahibs
vergiß nie, daß du ein Sahib bist; unter den Leuten von Hind, denk immer daran, daß du…« Er hielt inne, mit verwirrtem Lächeln. »Was bin ich? Moslem, Hindu, Jain oder Buddhist? Das ist ein schwieriger Knoten.« »Du bist ohne jeden Zweifel ein Ungläubiger, und deshalb wirst du verdammt werden. So sagt es mein Gesetz – oder ich glaube, daß es das sagt. Aber du bist auch mein Kleiner Freund der ganzen Welt, und ich liebe dich. So spricht mein Herz. Mit diesen Glaubensgeschichten ist es wie mit Pferdefleisch. Der kluge Mann weiß, Pferde sind gut – daß man mit allem Profit machen kann; und in meinem Herzen – außer, daß ich ein guter Sunnit bin und die Männer von Tirah hasse – könnte ich dasselbe von allen Religionen glauben. Nun wird aber bekanntlich eine Kathiawar-Stute lahmen, wenn man sie aus ihrem sandigen Geburtsland fortholt und ins westliche Bengalen bringt – und sogar ein Balkh-Hengst (und es gibt keine bessere Pferde als die aus Balkh, wenn sie nur nicht so schwer in den Schultern wären) ist in den großen Wüsten des Nordens nicht viel wert neben den Schneekamelen, die ich gesehen habe. Alles hat seine Verdienste im eigenen Land.« »Aber mein Lama hat ganz etwas anderes gesagt.« »Ach, er ist ein alter Traumträumer aus Bhotiyal. Mein Herz ist ein wenig zornig, Freund der ganzen Welt, daß du so viel Wert in einem so wenig gekannten Mann siehst.« »Das stimmt, Hadschi; aber ich sehe diesen Wert, und mein Herz ist zu ihm hingezogen.« »Und seins zu deinem, wie ich höre. Herzen sind wie Pferde. Sie kommen und gehen, gegen Kandare und Sporen. Ruf Gul Sher Khan da drüben zu, er soll die Pflöcke dieses braunen Hengstes fester einschlagen. Wir brauchen nicht bei jeder Rastetappe einen Pferdekampf, und der Dunkelbraune und der Schwarze sind gleich nicht mehr auseinanderzubringen… Nun
hör mir zu. Ist es für das Wohlbefinden deines Herzens notwendig, den Lama zu sehen?« »Das ist ein Teil meiner Abmachung«, sagte Kim. »Wenn ich ihn nicht sehe und wenn er mir genommen wird, gehe ich fort aus der madrissah in Nuckiao und… und… wenn ich einmal fort bin, wer soll mich wiederfinden?« »Das ist wahr. Nie wurde ein Fohlen an einer leichteren Fußleine gehalten als du.« Mahbub nickte. »Sorge dich nicht.« Kim sprach, als könnte er sich jeden Moment in Luft auflösen. »Mein Lama hat gesagt, daß er kommen und mich in der madrissah besuchen wird…« »Ein Bettler und seine Schüssel in der Gegenwart dieser jungen Sa…« »Nicht alle sind das!« warf Kim ein; er schnaubte. »Ihre Augen sind bläulich und ihre Nägel schwärzlich gefärbt mit Blut niedriger Kaste, bei vielen von ihnen. Söhne von mehteranees – Schwäger eines bunghi [Kehrer].« Wir brauchen dem Rest des Stammbaums nicht nachzugehen; aber Kim machte diese Kleinigkeit klar und ohne Erregung deutlich; dabei kaute er ein Stück Zuckerrohr. »Freund der ganzen Welt«, sagte Mahbub; er schob dem Jungen die Pfeife zum Reinigen hin; »ich habe viele Männer, Frauen und Jungen getroffen, und nicht wenige Sahibs. In meinem ganzen Leben habe ich aber nie solch einen kleinen Teufel getroffen wie du einer bist.« »Und warum? Wenn ich dir doch immer die Wahrheit sage.« »Vielleicht gerade aus dem Grund, denn dies ist für ehrliche Menschen eine Welt der Gefahren.« Mahbub Ali stemmte sich vom Boden hoch, zog den Gürtel enger und ging zu den Pferden hinüber. »Oder weil ich sie verkaufe?« In dem Tonfall war etwas, das Mahbub anhalten und sich umdrehen ließ. »Was ist das für eine neue Teufelei?«
»Acht Annas, und ich erzähle es dir«, sagte Kim grinsend. »Es betrifft deinen Frieden.« »O Shaitan!« Mahbub gab ihm das Geld. »Erinnerst du dich an die kleine Sache mit den Dieben im Dunkeln, unten in Ambala?« »Da sie mein Leben suchten, habe ich es nicht völlig vergessen. Warum?« »Erinnerst du dich an das Kaschmir-Serai?« »Ich werde dir gleich die Ohren umdrehen – Sahib.« »Nicht nötig – Pathane. Bloß, der zweite Fakir, den die Sahibs bewußtlos geschlagen haben, war der Mann, der deinen Verschlag in Lahore untersuchte. Ich habe sein Gesicht gesehen, als sie ihn auf die Lokomotive gelegt haben. Derselbe Mann.« »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?« »Ach, er wird ins Gefängnis kommen und einige Jahre in Sicherheit sein. Es ist nicht nötig, jedesmal mehr zu erzählen als sein muß. Außerdem brauchte ich da noch kein Geld für Süßigkeiten.« »Allah kerim!« sagte Mahbub Ali. »Wirst du eines Tages meinen Kopf für ein wenig Zuckerwerk verkaufen, wenn es dich überkommt?« Bis zu seinem Tod wird Kim sich an diese lange lässige Reise von Ambala durch Kalka und die nahen Pinjore-Gärten hinauf nach Simla erinnern. Jähes Hochwasser des Gugger-Flusses riß ein Pferd mit sich (natürlich das wertvollste) und hätte Kim beinahe zwischen den tanzenden Geröllblöcken ertränkt. Weiter die Straße hinauf wurden die Pferde von einem Regierungselefanten in wilde Flucht gejagt, und da sie wegen des Grasfutters in bester Verfassung waren, kostete es anderthalb Tage, sie wieder zusammenzutreiben. Dann trafen sie Sikander Khan mit ein paar nicht zu verkaufenden Kleppern – dem Rest seiner letzten Lieferung –, und Mahbub,
der im Nagel des kleinen Fingers mehr Pferdeverstand hat als Sikander Khan in seinen sämtlichen Zelten, mußte unbedingt zwei der schlimmsten kaufen, und das bedeutete acht Stunden mühseliger Diplomatie und Unmengen Tabak. Aber alles war lautere Wonne – die schweifende Straße, die stieg und stürzte und die wuchernden Bergausläufer streifte; die Röte des Morgens, ausgebreitet auf fernen Schneefeldern; die vielarmigen Kakteen, Reihe über Reihe an den steinigen Bergflanken; die Stimmen von tausend Wasserläufen; das Geplapper der Affen; die feierlichen Deodars, die mit tiefgesenkten Zweigen übereinander kletterten; der Anblick der Ebenen, weit unter ihnen ausgerollt; das unausgesetzte Plärren der Tongahörner und der wilde Sturm der angeseilten Pferde, wenn eine Tonga um eine Kurve bog; die Gebetspausen (Mahbub war sehr religiös, was Trockenwaschung und Gebetsgebrüll betraf, sofern die Zeit nicht drängte); die Abendkonferenzen auf den Rastplätzen, wenn Kamele und Ochsen gemeinsam feierlich kauten und die gleichmütigen Treiber die Neuigkeiten der Straße erzählten – all diese Dinge machten Kims Herz in seiner Brust singen. »Aber wenn dein Singen und Tanzen vorüber ist«, sagte Mahbub Ali, »beginnt das vom Oberst Sahib, und das ist nicht so lieblich.« »Ein schönes Land – ein ganz wunderbares Land ist dieses Land Hind – und das Land der Fünf Ströme ist schöner als alles.« Kim sang dies beinahe. »Dahin will ich wieder gehen, wenn Mahbub Ali oder der Oberst Hand oder Fuß wider mich heben. Wenn ich einmal fort bin, wer soll mich finden? Schau, Hadschi, ist das da drüben die Stadt Simla? Allah, was für eine Stadt!« »Meines Vaters Bruder – und er war ein alter Mann, als Mackerson Sahibs Brunnen in Peshawar neu war – konnte sich an die Zeit erinnern, als hier nur zwei Häuser standen.«
Er führte die Pferde unterhalb der Hauptstraße in den Unteren Basar von Simla – den wimmelnden Kaninchenbau, der aus dem Tal in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zum Rathaus emporklimmt. Einer, der sich dort auskennt, kann der gesamten Polizei von Indiens Sommerhauptstadt trotzen, so listig fügen sich Veranda an Veranda, Durchgang an Durchgang und Schlupfloch an Schlupfloch. Hier leben jene, die die Bedürfnisse der fröhlichen Stadt stillen – jhampanis, die abends die Rikschas der schönen Damen ziehen und bis zum Morgengrauen beim Glücksspiel sitzen; Krämer, Ölverkäufer, Raritätenhändler, Brennholzverkäufer, Priester, Taschendiebe und eingeborene Regierungsangestellte. Hier werden von Kurtisanen jene Dinge diskutiert, die der Indische Rat für größte Staatsgeheimnisse hält; und hier versammeln sich alle Unter-Unter-Agenten der Hälfte aller Native States. Hier mietete auch Mahbub Ali ein Zimmer, viel sicherer verschlossen als sein Verschlag in Lahore, und zwar im Haus eines mohammedanischen Viehhändlers. Es war dies auch ein Ort der Wunder, denn im Abendzwielicht ging ein mohammedanischer Pferdejunge hinein, und eine Stunde später kam ein eurasischer Bursche heraus – die Farbe des Mädchens aus Lucknow war vom Besten –, in schlecht sitzender Arbeitskleidung. »Ich habe mit Creighton Sahib geredet«, sagte Mahbub Ali, »und ein zweites Mal hat die Hand der Freundschaft die Peitsche des Ungemachs abgewendet. Er sagt, du hast sechzig Tage sinnlos unterwegs vergeudet, und deshalb ist es zu spät, um dich noch in irgendeine Bergschule zu schicken.« »Ich habe gesagt, daß meine Ferien mir gehören. Ich gehe nicht in zwei Schulen gleichzeitig. Das ist ein Teil meiner Abmachung. «
»Der Oberst Sahib kennt diesen Kontrakt noch nicht. Du sollst in Lurgan Sahibs Haus wohnen, bis es Zeit ist, wieder nach Nuckiao zu gehen.« »Ich würde lieber bei dir wohnen, Mahbub.« »Du weißt nicht, welche Ehre es für dich ist. Lurgan Sahib selbst hat nach dir gefragt. Du wirst den Berg hinaufgehen und die Straße ganz oben entlang, und da mußt du eine Weile vergessen, daß du mich je gesehen oder gesprochen hast – Mahbub Ali, der Creighton Sahib, den du nicht kennst, Pferde verkauft. Denk an diesen Befehl.« Kim nickte. »Gut«, sagte er. »Und wer ist Lurgan Sahib? Nein«, – er fing Mahbubs degenscharfen Blick auf – »ich habe seinen Namen wirklich noch nie gehört. Ist er zufällig« – er senkte die Stimme – »einer von uns?« »Was ist das für eine Rede von uns, Sahib?« erwiderte Mahbub Ali in dem Tonfall, den er Europäern gegenüber anschlug. »Ich bin ein Pathane; du bist ein Sahib und Sohn eines Sahibs. Lurgan Sahib hat einen Laden zwischen den übrigen europäischen Läden. Ganz Simla weiß das. Frag dort oben… und, Freund der ganzen Welt, er ist einer, dem man bis ins letzte Zwinkern seiner Wimpern zu gehorchen hat. Die Leute sagen, er macht Magie, aber das braucht dich nicht zu kümmern. Geh den Berg hinauf und frag. Hier beginnt das Große Spiel.«
KAPITEL IX
S’doaks was son of Yelth the wise – Chief of the Raven clan. Itswoot the Bear had him in care To make him a medicine-man. He was quick and quicker to learn – Bold and bolder to dare: He danced the dread Kloo-Kwallie Dance To tickle Itswoot the Bear! Oregon Legend [S’doaks war Sohn von Yelth dem Weisen – Häuptling des Rabenclans. Itswoot der Bär nahm sich seiner an, daß er Medizinmann werde. Er war schnell und lernte schneller – kühn und wagte kühner: Er tanzte den schrecklichen Kloo-Kwallie-Tanz, Itswoot den Bären zu necken! Legende aus Oregon]
Kim warf sich mit ganzem Herzen auf die nächste Drehung des Rads. Eine Weile würde er wieder ein Sahib sein. Mit diesem Gedanken sah er sich, sobald er die breite Straße unterhalb des Rathauses von Simla erreicht hatte, nach einem um, den er beeindrucken könnte. Ein etwa zehnjähriger Hindujunge hockte unter einem Laternenpfahl. »Wo ist Mr. Lurgans Haus?« fragte Kim.
»Ich verstehe kein Englisch«, war die Antwort, und Kim wechselte die Sprache entsprechend. »Ich werde es zeigen.« Gemeinsam brachen sie in den geheimnisvollen Abenddämmer auf, der voll war von den Tonen einer Stadt unterhalb des Berghangs und vom Atem eines kühlen Windes auf dem deodarbekrönten Jakko, der die Sterne schultert. Die in allen Höhen verstreuten Lichter der Häuser bildeten gleichsam ein zweites Firmament. Einige als Fixsterne, andere gehörten zu den Rikschas der sorglosen, offen redenden Engländer, die zum Dinner ausgingen. »Es ist hier«, sagte Kims Führer und hielt auf einer Veranda in gleicher Höhe wie die Hauptstraße. Keine Tür hielt sie auf, sondern ein Vorhang aus Perlenschnüren, der das Lampenlicht aus dem Inneren spaltete. »Er ist gekommen«, sagte der Junge mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Seufzen, und verschwand. Kim war sicher, daß der Junge überhaupt nur postiert worden war, um ihn zu führen, aber er setzte eine mutige Miene auf und teilte den Vorhang. Ein schwarzbärtiger Mann mit grünem Schirm über den Augen saß an einem Tisch und nahm mit kurzen, weißen Händen ein Lichtkügelchen nach dem anderen aus einer vor ihm stehenden Schale, fädelte sie auf eine glänzende Seidenschnur und summte dabei vor sich hin. Kim nahm wahr, daß jenseits des Lichtkreises der Raum voll von Dingen war, die wie alle Tempel des ganzen Ostens rochen. Ein Hauch von Moschus, ein Schweifen von Sandelholz und ein Wehen von übersüßem Jasminöl drang ihm in die offenen Nüstern. »Ich bin hier«, sagte Kim schließlich in der Umgangssprache; die Gerüche ließen ihn vergessen, daß er ein Sahib sein sollte. »Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig.« Der Mann zählte vor sich hin, reihte Perle um Perle so schnell auf, daß Kim seinen Fingern kaum folgen konnte. Er streifte den grünen
Schirm ab und sah Kim eine volle halbe Minute fest an. Die Pupillen dehnten sich und verengten sich dann zu Nadelspitzen, wie willkürlich. Am Taksali-Tor gab es einen Fakir, der die gleiche Gabe hatte und Geld damit machte, vor allem wenn er dumme Frauen verfluchte. Kim starrte interessiert hin. Sein verrufener Freund konnte außerdem mit den Ohren wackeln, fast wie eine Ziege, und Kim war enttäuscht, daß dieser neue Mann ihn nicht nachahmen konnte. »Hab keine Angst«, sagte Lurgan Sahib plötzlich. »Wovor sollte ich Angst haben?« »Du wirst diese Nacht hier schlafen und bei mir bleiben bis es Zeit ist, wieder nach Nuckiao zu gehen. Es ist ein Befehl.« »Es ist ein Befehl«, wiederholte Kim. »Aber wo soll ich schlafen?« »Hier, in diesem Raum.« Lurgan Sahib winkte mit der Hand in die Dunkelheit hinter sich. »So sei es«, sagte Kim gefaßt. »Jetzt?« Er nickte und hielt die Lampe über seinen Kopf. Als das Licht über sie wischte, sprang von den Wänden eine Sammlung tibetischer Teufelstanz-Masken hervor, die über den dämonbestickten Gewändern dieser gräßlichen Zeremonien hingen – gehörnte Masken, verzerrte Masken und Masken schwachsinnigen Grauens. In einer Ecke drohte ihm ein japanischer Krieger in Panzer und Federbusch mit einer Hellebarde, und Dutzende khandas und kuttars warfen den Ungewissen Schimmer zurück. Was aber Kim mehr interessierte als all diese Dinge – er hatte Teufelstanz-Masken im Museum von Lahore gesehen –, war der flüchtige Anblick des sanftäugigen Hindujungen, der ihn am Eingang verlassen hatte; er saß mit gekreuzten Beinen unter dem Tisch der Perlen, ein kleines Lächeln auf den scharlachroten Lippen. ›Ich glaube, Lurgan Sahib will, daß ich mich fürchte. Und ich bin sicher, dieser Teufelsbalg unter dem Tisch möchte sehen,
wie ich mich fürchte.‹ – »Dieser Ort«, sagte er laut, »ist wie ein Wunder-Haus. Wo ist mein Bett?« Lurgan Sahib wies auf die landesübliche Steppdecke in einer Ecke unter den schauerlichen Masken, nahm die Lampe auf und ließ den Raum schwarz zurück. »War das Lurgan Sahib?« fragte Kim, während er sich zusammenkuschelte. Keine Antwort. Er konnte den Hindujungen jedoch atmen hören, und geleitet von dem Geräusch kroch er über den Boden, hieb ins Dunkel und rief: »Gib Antwort, Teufel! Belügt man so einen Sahib?« Er meinte, aus dem Dunkel das Echo eines Kicherns zu hören. Sein weichfleischiger Gefährte konnte es nicht sein, denn der weinte. Deshalb hob Kim die Stimme und rief laut: »Lurgan Sahib! O Lurgan Sahib! Ist es ein Befehl, daß dein Diener nicht mit mir sprechen soll?« »Es ist ein Befehl.« Die Stimme klang hinter ihm auf, und er zuckte zusammen. »Sehr gut. Aber denk dran«, murmelte er, während er zur Decke zurückkehrte, »am Morgen werde ich dich verprügeln. Ich mag Hindus nicht.« Das war keine fröhliche Nacht; der Raum war zu voll von Stimmen und Musik. Zweimal wurde Kim davon geweckt, daß jemand seinen Namen rief. Beim zweiten Mal machte er sich auf die Suche; sie endete damit, daß er sich die Nase an einem Kasten stieß, der zwar in menschlicher Zunge, aber keinesfalls mit menschlichem Ton sprach. Er schien in einer Blechtrompete auszulaufen und durch Drähte mit einem kleineren Kasten auf dem Boden verbunden zu sein – jedenfalls soweit er dies tastend feststellen konnte. Und die sehr harte sirrende Stimme kam aus der Trompete. Kim rieb sich die Nase und wurde wütend; dabei dachte er wie immer auf Hindi.
›Für einen Bettler aus dem Basar wäre das wohl etwas, aber… ich bin ein Sahib und Sohn eines Sahibs und, was noch zweimal wichtiger ist, ein Student aus Nuckiao. Yess‹, (hier ging er zu Englisch über) ›ein Junge von St. Xavier. Der Teufel soll Mr. Lurgans Augen holen! – Das ist irgendein Apparat wie eine Nähmaschine. Also, das ist wirklich eine Unverschämtheit von ihm – wir aus Lucknow lassen uns doch von sowas nicht erschrecken – nein!‹ Dann wieder auf Hindi: ›Aber was gewinnt er? Er ist nur ein Händler – ich bin in seinem Laden. Aber Creighton Sahib ist ein Oberst – und ich glaube, Creighton Sahib hat Befehl gegeben, daß es so sei. Wie ich diesen Hindu morgen verprügeln werde! Was ist das?‹ Der Trompetenkasten verströmte eine Serie der ausgesuchtesten Beschimpfungen, die selbst Kim je gehört hatte, mit einer hohen gleichgültigen Stimme, die ihm einen Moment lang die kleinen Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Als das üble Ding Luft holte, wurde Kim durch das sanfte, nähmaschinenartige Sirren beruhigt. »Chûp [Sei ruhig]!« schrie er, und wieder hörte er ein Kichern, das ihn zu einem Entschluß brachte. »Chûp – oder ich schlage dir den Schädel ein.« Der Kasten kümmerte sich nicht darum. Kim zerrte an der Blechtrompete, und irgend etwas hob sich klickend. Offenbar hatte er einen Deckel angehoben. Wenn es darin einen Teufel gab, dann war jetzt seine Zeit abgelaufen, denn – er schnüffelte – so rochen auch die Nähmaschinen im Basar. Diesen shaitan würde er austreiben. Er streifte seine Jacke ab und stopfte sie in die Öffnung des Kastens. Etwas Langes und Rundes bog sich unter dem Druck, er hörte ein Sirren, und die Stimme verstummte – Stimmen bleibt nichts anderes übrig, wenn man einen dreimal gefalteten Rock auf den Wachszylinder und in das Werk eines teuren Phonographen rammt. Heiteren Gemüts beendete Kim seinen Schlummer.
Am Morgen bemerkte er, daß Lurgan Sahib auf ihn herabsah. »Aah!« sagte Kim, fest entschlossen, an seinem Sahibtum festzuhalten. »In der Nacht war da ein Kasten, der mich mit Flüchen überschüttet hat. Deshalb habe ich ihn angehalten. War das Ihr Kasten?« Der Mann streckte die Hand aus. »Shake hands, O’Hara«, sagte er. »Ja, das war mein Kasten. Ich habe solche Sachen hier, weil meine Freunde, die Radschas, sie mögen. Der da ist jetzt entzwei, aber zu dem Preis war er billig. Ja, meine Freunde, die Könige, lieben Spielzeug sehr – und ich manchmal auch.« Aus den Augenwinkeln musterte Kim ihn. Er war insofern ein Sahib, als er Sahibskleider trug; der Akzent seines Urdu und die Intonation seines Englisch zeigten, daß er alles andere als ein Sahib war. Er schien zu verstehen, was in Kims Kopf vorging, noch ehe der Junge den Mund öffnete, und er ließ sich gar nicht auf Selbsterklärungen ein, anders als Pater Victor und die Lehrer in Lucknow. Am schönsten von allem – auf der asiatischen Seite behandelte er Kim als Gleichgestellten. »Tut mir leid, daß du meinen Boy heute morgen nicht verprügeln kannst. Er sagt, er wird dich mit einem Messer oder Gift umbringen. Er ist eifersüchtig, deshalb habe ich ihn in die Ecke gestellt und werde heute nicht mit ihm reden. Er hat eben versucht, mich umzubringen. Du mußt mir mit dem Frühstück helfen. Im Moment ist er einfach zu eifersüchtig, als daß man ihm bei irgendwas trauen könnte.« Nun hätte ein echter aus England importierter Sahib wegen dieser Geschichte großes Tamtam gemacht. Lurgan Sahib erwähnte sie so schlicht, wie Mahbub Ali gewöhnlich von seinen kleinen Affairen im Norden berichtete. Die hintere Veranda des Ladens war über den nackten Berghang hinausgebaut, und sie blickten ihren Nachbarn in die Schornsteine, wie es in Simla üblich ist. Noch mehr jedoch als
das rein persische Mahl, das Lurgan Sahib mit eigener Hand kochte, faszinierte Kim der Laden. Das Museum von Lahore war größer, aber hier gab es mehr Wunder – Geisterdolche und Gebetsmühlen aus Tibet; Halsketten aus Türkis und rohem Bernstein; Armringe aus grüner Jade; seltsam gepackte Weihrauchstäbe in Krügen, überkrustet mit Rohgranat; die Teufelsmasken der vergangenen Nacht und eine Wand voll pfauenblauer Tuchwaren; vergoldete Buddhafiguren und kleine tragbare Lackaltäre; russische Samowars mit Türkisen auf dem Lid; hauchdünnes Porzellangeschirr in zierlichen achteckigen Rohrschachteln; gelbe Elfenbein-Kruzifixe – ausgerechnet aus Japan, wie Lurgan Sahib sagte; Teppiche in staubigen Ballen, die scheußlich rochen, hinter zerfetzten und verrotteten Wandschirmen mit geometrischen Mustern; persische Wasserkrüge, für die Hände nach dem Mahl; trübe kupferne Weihrauchgefäße weder chinesischen noch japanischen Ursprungs, überzogen von Friesen fantastischer Teufel; blinde Silbergürtel, die Pocken warfen wie Rohleder; Haarnadeln aus Jade, Elfenbein und lauchgrünem Chalzedon; Waffen jeder Art und Sorte und tausend andere Seltsamkeiten waren verpackt oder gestapelt oder einfach auf den Boden geworfen, so daß ein freier Raum nur um den zerbrechlichen Tisch aus Kieferbrettchen blieb, an dem Lurgan Sahib arbeitete. »Diese Dinge sind nichts«, sagte Kims Gastgeber, der seinem Blick folgte. »Ich kaufe sie, weil sie hübsch sind, und manchmal verkaufe ich – wenn mir die Nase des Käufers paßt. Meine Arbeit ist auf dem Tisch – ein Teil davon.« Es loderte im Morgenlicht – lauter rote und blaue und grüne Blitze, hier und da durchschossen vom grellen blauweißen Strahl eines Diamanten. Kim riß die Augen auf. »Ach, die sind ganz gesund, diese Steine. Ein bißchen Sonne kann ihnen nicht schaden. Außerdem sind sie billig. Mit
kranken Steinen sieht es aber anders aus.« Er füllte Kims Teller wieder. »Es gibt keinen außer mir, der eine kranke Perle aufdoktern und Türkise wieder blau machen kann. Opale – geschenkt, jeder Narr kann einen Opal kurieren –, aber für eine kranke Perle gibts nur mich. Stell dir vor, ich sterbe! Dann gäbs gar keinen mehr… O nein! Du kannst mit Juwelen gar nichts machen. Es reicht, wenn du ein bißchen vom Türkis verstehst – eines Tages.« Er ging ans Ende der Veranda, um den schweren, porösen, irdenen Wasserkrug aus dem Filter aufzufüllen. »Willst du was trinken?« Kim nickte. Lurgan Sahib, fünfzehn Fuß entfernt, legte eine Hand auf den Krug. Im nächsten Moment stand dieser neben Kims Ellenbogen, bis einen halben Zoll unter dem Rand gefüllt – das weiße Tischtuch zeigte nur durch eine winzige Falte, wo er entlanggeglitten war. »Wah!« sagte Kim vollkommen verblüfft. »Das ist Magie.« Lurgan Sahibs Lächeln zeigte, daß das Kompliment gut angekommen war. »Wirf ihn zurück.« »Er wird zerbrechen.« »Wirf ihn zurück, sag ich.« Kim warf ihn aufs Geratewohl. Er fiel zu schnell und zerschellte in fünfzig Stücke, und das Wasser rann zwischen die groben Planken der Veranda. »Ich habe doch gesagt, daß er zerbricht.« »Alles eins. Schau ihn an. Schau das größte Stück an.« Es lag dort mit einem Wasserglitzern in der Höhlung, fast wie ein Stern auf dem Boden. Kim sah gespannt hin. Lurgan Sahib legte ihm eine Hand leicht aufs Genick, strich zwei- oder dreimal darüber und flüsterte: »Schau! Er wird wieder zum Leben erwachen, Stück für Stück. Zuerst wird sich das große
Stück mit zwei anderen rechts und links verbinden – rechts und links. Schau!« Auch wenn es um sein Leben gegangen wäre, hätte Kim den Kopf nicht drehen können. Die leichte Berührung hielt ihn wie in einem Schraubstock, sein Blut kribbelte angenehm. Da war ein großes Stück vom Krug, wo zuvor drei gelegen hatten, und darüber die schattigen Umrisse des ganzen Gefäßes. Durch das Gefäß konnte er die Veranda sehen, aber mit jedem Schlag seines Pulses wurde es dicker und dunkler. Trotzdem war der Krug – wie langsam die Gedanken kamen! – der Krug war vor seinen Augen zerbrochen. Eine weitere Welle prickelnden Feuers raste seinen Nacken hinab, als Lurgan Sahib die Hand bewegte. »Schau! Er formt sich wieder«, sagte Lurgan Sahib. Bis jetzt hatte Kim auf Hindi gedacht, aber nun überlief ihn ein Zittern, und mit der Anstrengung eines von Haien verfolgten Schwimmers, der sich halb aus dem Wasser bäumt, sprang sein Geist aus einer Dunkelheit hoch, die ihn zu verschlucken begann, und nahm seine Zuflucht im – englischen Einmaleins! »Schau! Er formt sich wieder«, flüsterte Lurgan Sahib. Der Krug war zerschmettert worden – yess, smashed – nicht das Hindiwort, daran wollte er nicht denken – sondern smashed – zu fünfzig Stücken, und zweimal drei war sechs, und dreimal drei war neun, und viermal drei war zwölf. Verzweifelt klammerte er sich ans Heruntersagen. Der Schattenumriß des Krugs schwand wie ein Schleier, wenn man sich die Augen gerieben hat. Da lagen die Scherben; dort trocknete das verschüttete Wasser in der Sonne, und durch die Spalten im Verandaboden zeigte sich gerippt die weiße Hauswand darunter – und dreimal zwölf war sechsunddreißig! »Schau! Formt er sich wieder?« fragte Lurgan Sahib.
»Aber er ist zerschmettert – zerschmettert«, ächzte Kim – Lurgan Sahib hatte seit einer halben Minute leise gemurmelt. Kim riß seinen Kopf zur Seite. »Schau! Dekho! Da liegt alles wie vorher.« »Alles liegt da wie vorher«, sagte Lurgan; er beobachtete Kim aufmerksam, während der Junge sich das Genick rieb. »Aber von sehr vielen bist du der erste, der das je so gesehen hat.« Er wischte sich die breite Stirn. »War das wieder Magie?« fragte Kim mißtrauisch. Das Kribbeln war aus seinen Adern gewichen; er fühlte sich ungewöhnlich wach. »Nein, das war keine Magie. Ich wollte nur sehen, ob… ob der Edelstein einen Makel hat. Manchmal zerspringen sehr feine Steine in tausend Stücke, wenn einer sie in die Hand nimmt und weiß, wie er anfassen muß. Deshalb muß man vorsichtig sein, ehe man sie einfaßt. Sag mal, hast du die Form des Topfs gesehen?« »Kurze Zeit. Er fing an, wie eine Blume aus dem Boden zu wachsen.« »Und was hast du dann gemacht? Ich meine, wie hast du gedacht?« »Aah! Ich wußte, er ist zerbrochen, und das, glaub ich, war, was ich gedacht hab – und er war zerbrochen.« »Hm! Hat schon mal jemand mit dir die gleiche Sorte Magie gemacht?« »Und wenn«, sagte Kim, »meinen Sie, ich würde es dann nochmal mitmachen? Ich würde weglaufen.« »Und jetzt hast du keine Angst – eh?« »Jetzt nicht.« Lurgan Sahib sah ihn noch schärfer an als zuvor. »Ich werde Mahbub Ali fragen – nicht jetzt, sondern in ein paar Tagen«, murmelte er. »Ich bin zufrieden mit dir – ja; und ich bin zufrieden mit dir – nein. Du bist der erste, der sich je hat retten
können. Ich wünschte, ich wüßte, was es war, das… Aber du hast recht. Du solltest es nicht erzählen – nicht einmal mir.« Er kehrte zurück in die dämmerige Düsternis des Ladens und setzte sich an den Tisch; dabei rieb er sich sanft die Hände. Ein kleiner heiserer Schluchzer kam hinter einem Stapel Teppichen hervor. Es war der Hindujunge, der gehorsam das Gesicht zur Wand gedreht hielt. Seine dünnen Schultern zuckten vor Kummer. »Ah! Er ist eifersüchtig, so eifersüchtig. Ich frage mich, ob er noch einmal versuchen wird, mich mit dem Frühstück zu vergiften und es mich zweimal kochen läßt.« »Kubbee – kubbee nahin! [Niemals – niemals, nein!]« kam die gestammelte Antwort. »Und ob er diesen anderen Jungen töten wird?« »Kubbee – kubbee nahin.« »Was meinst du, daß er tun wird?« Er wandte sich jäh Kim zu. »Och! Ich weiß es nicht. Vielleicht lassen Sie ihn am besten gehen. Warum wollte er Sie denn vergiften?« »Weil er so sehr an mir hängt. Nimm an, du hast jemand lieb, und dann siehst du jemand kommen, und der Mann den du magst ist plötzlich mit dem anderen zufriedener als mit dir, was würdest du dann tun?« Kim überlegte. Lurgan wiederholte den Satz langsam in der Umgangssprache. »Ich würde diesen Mann nicht vergiften«, sagte Kim nachdenklich, »sondern den anderen Jungen verprügeln – wenn der Junge wirklich an meinem Mann hängt. Aber zuerst würde ich den Jungen fragen, ob es stimmt.« »Ah! Er meint, jeder muß mich lieben.« »Dann glaube ich, er ist ein Narr.« »Hörst du?« sagte Lurgan Sahib zu den bebenden Schultern. »Der Sahibssohn meint, du bist ein kleiner Narr. Komm
heraus, und wenn dein Herz das nächste Mal bekümmert ist, dann versuch es nicht ganz so offen mit weißem Arsen. Sicher war an diesem Tag der Teufel Dasim Herr unseres Tischtuchs! Es hätte mich krank machen können, Kind, und dann hätte ein Fremder die Juwelen gehütet. Komm!« Mit von vielem Weinen geschwollenen Augen kroch das Kind hinter dem Ballen hervor und warf sich leidenschaftlich Lurgan Sahib zu Füßen, mit solch einem Übermaß an Reue, daß sogar Kim beeindruckt war. »Ich werde in den Tintenspiegel schauen – ich werde die Juwelen ganz treu bewachen! Oh, mein Vater und meine Mutter, schick ihn weg!« Mit einem Rückruck seiner nackten Ferse wies er auf Kim. »Nicht gleich – nicht gleich. In einer kleinen Weile wird er wieder gehen. Aber jetzt ist er in der Schule – in einer neuen madrissah –, und du sollst sein Lehrer sein. Spiel das Spiel der Juwelen gegen ihn. Ich werde zählen und aufpassen.« Der Junge trocknete sofort seine Tränen und stürzte in den Hintergrund des Ladens, von wo er mit einer Kupferschale zurückkehrte. »Gib du mir!« sagte er zu Lurgan Sahib. »Laß sie von deiner Hand kommen, denn er könnte sonst sagen, daß ich sie schon vorher kannte.« »Langsam – langsam«, antwortete der Mann, und aus einer Schublade unter dem Tisch warf er eine halbe Handvoll klickender Kleinigkeiten in die Schale. »Jetzt«, sagte der Junge; er schwenkte eine alte Zeitung. »Schau sie dir an, solange du willst, Fremder. Zähl und, wenn nötig, faß an. Für mich reicht ein Blick.« Stolz wandte er Kim den Rücken zu. »Aber worum geht das Spiel?« »Wenn du gezählt und befühlt hast und sicher bist, daß du dich an sie alle erinnern kannst, dann bedecke ich sie mit
dieser Zeitung, und du mußt sie Lurgan Sahib vorrechnen. Ich werde meine Rechnung selbst schreiben.« »Aah!« Der Wettkampfinstinkt erwachte in seiner Brust. Er beugte sich über die Schale. In ihr lagen nur fünfzehn Steine. »Das ist leicht«, sagte er nach einer Minute. Der Junge schob die Zeitung über die blinzelnden Edelsteine und kritzelte in ein indisches Kontobuch. »Unter dieser Zeitung liegen fünf blaue Steine – ein großer, ein kleinerer und drei kleine«, sagte Kim ganz eilig. »Dann vier grüne Steine, und einer hat ein Loch; ein gelber Stein, durch den ich hindurchsehen kann, und einer wie ein Pfeifenstiel. Zwei rote Steine sind da, und…und…ich komme auf fünfzehn, aber zwei habe ich vergessen. Nein! Gebt mir Zeit. Einer war aus Elfenbein, klein und bräunlich; und… und… gebt mir Zeit…« »Eins – zwei – « Lurgan Sahib zählte für ihn bis zehn. Kim schüttelte den Kopf. »Hör meine Zählung!« platzte der Junge heraus; er trällerte vor Lachen. »Zuerst sind da zwei Saphire mit Fehlern – einer von zwei ruttees und einer von vier ruttees, schätze ich. Der vier-ruttee-Saphir ist an der Kante angeschlagen. Dann ist da ein Türkis aus Turkestan, einfach, mit schwarzen Adern, und zwei mit Inschriften – einer mit einem Namen Gottes in Gold, und über den anderen läuft ein Riß, weil er aus einem alten Ring gekommen ist, deshalb kann ich ihn nicht lesen. Jetzt haben wir alle fünf blauen Steine. Vier Smaragde mit Fehlern sind da, aber einer ist an zwei Stellen angebohrt und der andere ein bißchen angeschliffen…« »Ihr Gewicht?« sagte Lurgan Sahib gleichmütig. »Drei – fünf – fünf – und vier ruttees, schätze ich. Dann ein Stück alter grünlicher Pfeifenbernstein und ein geschliffener Topas aus Europa. Ein Rubin aus Burma, zwei ruttees schwer, ohne Fehler, und ein Ballasrubin, mit Fehlern, zwei ruttees
schwer. Dann ist da eine Elfenbeinschnitzerei aus China; sie stellt eine Ratte dar, die ein Ei aussaugt; und schließlich ist da noch – ah ha! – eine Kristallkugel, groß wie eine Bohne, in ein goldenes Blatt gefaßt.« Am Schluß klatschte er in die Hände. »Er ist dein Meister«, sagte Lurgan Sahib lächelnd. »Hah! Er wußte die Namen der Steine«, sagte Kim; er wurde rot. »Noch ein Versuch! Mit gewöhnlichen Sachen, die wir beide kennen.« Sie häuften wieder allen möglichen Kleinkram auf die Platte, zusammengesucht aus dem Laden und sogar aus der Küche, und jedesmal gewann der Junge, bis Kim staunte. »Verbinde mir die Augen – laß mich nur einmal mit meinen Fingern fühlen, und sogar dann werde ich dich mit offenen Augen hinter mir lassen«, sagte der Kleine herausfordernd. Kim stampfte vor Ärger mit dem Fuß, als der Junge seine Prahlerei einlöste. »Wenn es Menschen wären – oder Pferde«, sagte er, »dann könnte ich es besser machen. Diese Spielerei mit Pinzetten und Messern und Scheren ist zu wenig.« »Erst lernen – dann lehren«, sagte Lurgan Sahib. »Ist er dein Meister?« »Er ist es. Aber wie wird es gemacht?« »Indem man es viele Male tut, bis man es vollkommen tut – denn es ist es wert.« Der Hindujunge, in bester Laune, klopfte Kim tatsächlich auf die Schulter. »Nicht verzweifeln«, sagte er. »Ich selbst werde dich lehren.« »Und ich werde dafür sorgen, daß du gut gelehrt wirst«, sagte Lurgan Sahib, noch immer in der Umgangssprache, »denn außer meinem Jungen hier – es war dumm von ihm, soviel weißes Arsen zu kaufen, wo ich es ihm doch geschenkt hätte, wenn er mich gefragt hätte – außer meinem Jungen hier habe
ich seit langem keinen getroffen, der es besser verdient hätte, ausgebildet zu werden. Und wir haben noch zehn Tage, bis du nach Nuckiao zurückkehren kannst, wo sie auf lange Sicht zu hohem Preis nichts lehren. Wir werden, glaube ich, Freunde werden.« Das waren völlig verrückte zehn Tage, aber Kim hatte zu viel Spaß, um über ihre Verrücktheit nachzudenken. Morgens spielten sie das Juwelenspiel – manchmal mit richtigen Steinen, manchmal mit Haufen von Schwertern und Dolchen, manchmal mit Fotos von Eingeborenen. Nachmittags hielten er und der Hindujunge Wache im Laden, saßen stumm hinter einem Teppichballen oder einem Wandschirm und beobachteten Mr. Lurgans zahlreiche und sehr sonderbare Besucher. Kleine Radschas waren dabei – ihre Eskorten husteten auf der Veranda herum –, die Kuriositäten kaufen wollten, wie Phonographen und mechanisches Spielzeug. Es kamen Damen auf der Suche nach Halsketten, und Männer, wie es Kim schien – aber sein Geist mag durch frühes Training verdorben worden sein –, auf der Suche nach den Damen; Eingeborene von unabhängigen und lehnspflichtigen Fürstenhöfen, deren vorgebliches Anliegen die Reparatur zerbrochener Halsketten – Lichtströme, die sich über den Tisch ergossen – war, deren wahres Ziel es jedoch zu sein schien, Geld für ärgerliche Maharanis oder junge Radschas aufzutreiben. Da waren Babus, zu denen Lurgan Sahib mit Strenge und Autorität sprach, aber am Schluß jeden Gesprächs gab er ihnen Geld in Silbermünzen, Banknoten und Schatzamtverschreibungen. Gelegentlich gab es Versammlungen langberockter, theatralischer Eingeborener, die zu Mr. Lurgans höchster Erbauung auf Englisch und Bengali über Metaphysik diskutierten. Mr. Lurgan war immer an Religionen interessiert. Am Ende des Tages sollten Kim und der Hindujunge – dessen Name nach Lurgans Belieben
wechselte – einen detaillierten Bericht über alles abgeben, was sie gesehen und gehört hatten – ihre Meinung über den Charakter jedes Besuchers, wie er sich in seinem Gesicht, seiner Sprechweise und seinem Verhalten zeigte, und ihre Ansicht über sein wahres Anliegen. Nach dem Essen wandte Lurgan Sahibs Fantasie sich eher etwas zu, was man Verkleiden nennen könnte; an diesem Spiel hatte er ein sehr lehrreiches Interesse. Er konnte wunderbar Gesichter bemalen; mit einem Pinseltupfer hier und einem Strich da veränderte er sie bis zur Unkenntlichkeit. Der Laden war voll von allen möglichen Anzügen und Turbanen, und Kim wurde wechselnd ausstaffiert als junger Mohammedaner aus guter Familie, als Ölverkäufer, einmal auch – das war ein sehr fröhlicher Abend – als Sohn eines Grundbesitzers aus Oudh in allerfeinster Gala. Mit seinem Falkenauge entdeckte Lurgan Sahib den winzigsten Fehler in einer Verkleidung; und auf einer abgenutzten Teakholzcouch liegend erklärte er oft stundenlang, wie diese oder jene Kaste redete oder ging oder hustete oder spuckte oder nieste und, da das »Wie« in dieser Welt wenig bedeutet, das »Warum« von allem. Bei diesem Spiel war der Hindujunge schwerfällig. Sein kleiner Geist, scharf wie ein Eiszapfen, wenn es ums Juwelenzählen ging, konnte sich nicht umschmelzen, um in die Seele eines anderen einzudringen; aber in Kim erwachte ein Dämon und sang vor Lust, als er die wechselnden Verkleidungen anlegte und mit ihnen Sprache und Gestik änderte. Von Begeisterung hingerissen bot er Lurgan Sahib eines Abends an, ihm zu zeigen, wie die Schüler einer bestimmten Kaste von Fakiren, alte Bekannte aus Lahore, am Wegesrand um Almosen bettelten; und welche Sorte Sprache er gegenüber einem Engländer, einem Punjabi-Bauern auf dem Weg zu einem Jahrmarkt und einer Frau ohne Schleier verwenden würde. Lurgan Sahib lachte unbändig und bat Kim, so zu
bleiben, wie er war, unbeweglich, eine halbe Stunde lang – mit gekreuzten Beinen, aschebeschmiert und mit wilden Augen, im Hinterzimmer. Als diese Zeit verstrichen war, trat ein ungefüger, feister Babu ein, dessen bestrumpfte Beine von Fett wabbelten, und Kim ließ auf ihn sofort einen Schauer von Straßenrand-Gespött los. Lurgan Sahib – das ärgerte Kim – beobachtete den Babu, nicht das Schauspiel. »Ich denke«, sagte der Babu schwerfällig, wobei er eine Zigarette anzündete, »ich bin von Meinung, daß es höchst außerordentliche und effiziente Vorstellung ist. Außer, daß Sie mir erzählt hatten, hätte ich befunden, daß… daß… daß Sie mich auf Ihren Arm nehmen wollen. Wie schnell kann er einigermaßen effizienter Meßmann werden? Weil ich ihn dann in Lehre nehmen will.« »Das soll er eben in Lucknow lernen.« »Dann befehlen Sie ihm, er soll ganz verdammt schnell machen. Gute Nacht, Lurgan.« Mit dem Gang einer Kuh, die durch Schlamm watet, schaukelte der Babu hinaus. Als sie die Tagesliste von Besuchern durchgingen, fragte Lurgan Sahib Kim, wer seiner Meinung nach dieser Mann sein könnte. »Das weiß Gott!« sagte Kim munter. Vielleicht hätte der Ton Mahbub Ali beinahe getäuscht, dem Heiler kranker Perlen gegenüber versagte er jedoch völlig. »Das ist richtig. Gott – Er weiß es; ich möchte aber wissen, was du meinst.« Von der Seite schaute Kim seinen Gastgeber an, dessen Auge etwas hatte, das die Wahrheit herauszwang. »Ich… ich glaube, er will mich haben, wenn ich aus der Schule komme, aber« – vertraulich, da Lurgan Sahib beifällig nickte – »ich glaube nicht, daß er viele Kleider tragen und viele Zungen sprechen kann.«
»Du wirst viele Dinge später begreifen. Er ist ein Verfasser von Geschichten für einen gewissen Oberst. Nur in Simla ist seine Ehre groß, und es ist bemerkenswert, daß er keinen Namen hat, sondern nur eine Nummer und einen Buchstaben – das ist ein Brauch bei uns.« »Und steht auch auf seinen Kopf ein Preis – wie bei Mah… bei allen anderen?« »Noch nicht; aber wenn ein Junge, der jetzt hier sitzt, aufstünde und – schau, die Tür ist offen! – bis zu einem bestimmten Haus mit einer rotgestrichenen Veranda ginge hinter dem, was einmal das alte Theater im Unteren Basar war, und durch die Fensterläden flüsterte: ›Hurree Chunder Mookerjee hat letzten Monat die schlechte Nachricht überbracht‹, dann könnte dieser Junge einen Gürtel voller Rupien mitnehmen.« »Wieviel?« sagte Kim prompt. »Fünfhundert – tausend – so viele, wie er fordern würde.« »Gut. Und wie lange könnte solch ein Junge leben, nachdem er die Nachricht erzählt hat?« Fröhlich grinste er direkt in Lurgan Sahibs Bart. »Ah! Das will gründlich überlegt sein. Vielleicht, wenn er sehr schlau ist, könnte er den Tag zu Ende leben – aber nicht die Nacht. Die Nacht auf keinen Fall.« »Was ist denn der Sold des Babus, wenn so viel auf seinen Kopfsteht?« »Achtzig – vielleicht hundert – vielleicht hundertfünfzig Rupien; aber die Bezahlung ist der unwichtigste Teil der Arbeit. Von Zeit zu Zeit läßt Gott Menschen geboren werden – und du bist einer von diesen –, die Lust haben, bei Gefahr ihres Lebens auf die Straße zu gehen und Neuigkeiten zu entdecken – heute vielleicht über entlegene Dinge, morgen über einen verborgenen Berg und am nächsten Tag über irgendwelche Männer ganz in der Nähe, die etwas Törichtes gegen den Staat
getan haben. Diese Seelen sind sehr selten; und von diesen seltenen Seelen gehören nicht mehr als zehn zu den Besten. Zu diesen zehn zähle ich den Babu, und das ist merkwürdig. Wie groß und gehrenswert muß also ein Geschäft sein, das das Herz eines Bengali kühn macht!« »Das ist wahr. Aber die Tage verstreichen für mich langsam. Ich bin noch ein Junge, und erst vor zwei Monaten habe ich gelernt, Angrezi zu schreiben. Selbst jetzt kann ich es noch nicht gut lesen. Und doch sind da immer noch Jahre und Jahre und lange Jahre, bis ich wenigstens ein Meßmann werden kann.« »Sei geduldig, Freund der ganzen Welt« – Kim fuhr hoch bei der Anrede. »Ich wollte, ich hätte ein paar von den Jahren, die dich so sehr verdrießen. Ich habe dich auf vielerlei kleine Weisen erprobt. Dies wird nicht vergessen werden, wenn ich meinen Bericht für den Oberst Sahib mache.« Mit einem tiefen Lachen ging er dann plötzlich zu Englisch über: »Bei Zeus! O’Hara, ich glaube, in dir steckt einiges; aber du darfst nicht stolz werden und du darfst nicht schwätzen. Du mußt nach Lucknow zurückgehen und ein braver kleiner Junge sein und die Nase in die Bücher stecken, wie man so sagt, und vielleicht – in den nächsten Ferien, wenn du magst – kannst du wieder zu mir kommen!« Kim machte ein langes Gesicht. »Na, ich meine, falls du magst. Ich weiß ja, wohin du gehen willst.« Vier Tage später war für Kim und seinen kleinen Koffer ein Platz hinten auf einer Tonga aus Kalka gebucht. Sein Reisegefährte war der walartige Babu, der einen fransigen Schal um den Kopf gewickelt und sein fettes linkes Bein, das in einem durchbrochen gewerkten Strumpf steckte, unter sich gezogen hatte und in der Kälte des Morgens zitterte und grunzte. ›Wie kommt es, daß dieser Mann einer von uns ist?‹ dachte Kim; er musterte den Gallertrücken, während sie die Straße
hinunterpolterten, und die Überlegung versetzte ihn in die angenehmsten Tagträume. Lurgan Sahib hatte ihm fünf Rupien gegeben – eine prächtige Summe – und dazu noch seine Protektion versprochen, falls er fleißig wäre. Anders als Mahbub hatte Lurgan Sahib ganz ausdrücklich von dem Lohn gesprochen, der dem Gehorsam folgen würde, und Kim war zufrieden. Wenn er sich doch erst, wie der Babu, der Würde eines Buchstabens und einer Ziffer erfreuen könnte – und eines Preises auf seinen Kopf! Eines Tages würde er all das sein und mehr. Eines Tages könnte er sogar fast so großartig sein wie Mahbub Ali! Die Hausdächer seiner Suche sollten halb Indien sein; er würde Königen und Ministern folgen, wie er in den alten Tagen vakils und den Schleppern von Anwälten quer durch Lahore für Mahbub Ali gefolgt war. Vorerst lag die gegenwärtige und gar nicht unangenehme Tatsache St. Xavier unmittelbar vor ihm. Es würde neue Jungen geben, auf die man hinabschauen konnte, und Erzählungen über Ferienabenteuer würden zu hören sein. Der junge Martin, Sohn des Teepflanzers von Manipur, hatte geprahlt, er werde mit einem Gewehr in den Krieg gegen die Kopfjäger ziehen. Das konnte schon sein, aber sicher war der junge Martin nicht von einer Feuerwerksexplosion halb über den Vorhof eines Palasts von Patiala geschleudert worden; noch hatte er… Kim begann, sich selbst die Geschichte seiner Abenteuer der letzten drei Monate zu erzählen. Er könnte St. Xavier – sogar die größten Jungen, die sich rasierten – mit der Erzählung lahmlegen, wenn das erlaubt wäre. Aber natürlich kam es nicht in Frage. In nicht allzu ferner Zeit würde ein Preis auf seinen Kopf stehen, wie Lurgan Sahib ihm versichert hatte; und wenn er jetzt wie ein Narr quasselte, würde nicht nur dieser Preis nie ausgesetzt, sondern Oberst Creighton würde ihn auch verstoßen – und er
wäre dem Zorn von Lurgan Sahib und Mahbub Ali ausgeliefert – für die kurze Lebensspanne, die ihm dann noch verbliebe. ›So verlöre ich denn Delhi um einen Fisch‹, war seine Sprichwort-Philosophie. Er hatte seine Ferien zu vergessen (ihm würde immer der Spaß bleiben, imaginäre Abenteuer zu erfinden) und, wie Lurgan Sahib gesagt hatte, zu arbeiten. Unter allen Jungen, die nach St. Xavier zurückeilten, von Sukkur in der Sandwüste bis Galla unter den Palmen, war keiner so erfüllt von Tugend wie Kimball O’Hara, der da nach Ambala hinunterratterte hinter Hurree Chunder Mookerjee, dessen Name in den Büchern einer Sektion des Ethnologischen Dienstes R.17 war. Und wenn er noch eines weiteren Ansporns bedurfte, so sorgte für diesen der Babu. Nach einer gewaltigen Mahlzeit in Kalka redete er ununterbrochen. Ob Kim zur Schule fahre? Dann wolle er, ein Magister Artium der Universität Kalkutta, die Vorzüge der Bildung darlegen. Viele Punkte könne man gewinnen, indem man sich mit geziemender Sorgfalt dem Lateinischen und Wordsworths Excursion widme (für Kim war das alles Spanisch). Auch Französisch sei überaus wichtig, und das beste könne man in Chandernagore aufpicken, wenige Meilen von Kalkutta entfernt. Man könne es auch weit bringen, wie er selbst es getan habe, indem man zwei Dramen größte Aufmerksamkeit zolle, und zwar Lear und Julius Caesar, die beide bei den Prüfern sehr gefragt seien. Lear sei nicht so voll von historischen Anspielungen wie Julius Caesar; das Buch koste vier Annas, im Bow-Basar könne man es aber antiquarisch für zwei kaufen. Noch bedeutender als Wordsworth oder die eminenten Autoren Burke und Hare sei die Kunst und Wissenschaft des Vermessens. Ein Junge, der sein Examen in diesen Fächern bestanden habe – für die es, nebenbei bemerkt, keine Paukbücher gebe –, könne, indem er einfach mit einem Kompaß, einer Wasserwaage und einem
guten Auge durch eine Landschaft marschiere, ein Bild dieser Landschaft davontragen, das man für große Summen in gemünztem Silber verkaufen könne. Da es jedoch bisweilen unzweckmäßig sei, Meßketten mit sich herumzutragen, sei ein Junge gut beraten, sich die genaue Länge seiner Schritte einzuprägen, damit er, wenn ihm jenes abgehe, was Hurree Chunder »zusätzliche Hilfsmittel« nannte, immer noch seine Distanzen abschreiten könne. Um Tausende Schritte richtig zu zählen, habe Hurree Chunders Erfahrung ihm nichts Wertvolleres gezeigt als einen Rosenkranz mit einundachtzig oder hundertacht Perlen, denn dieser sei teilbar und unterteilbar in viele Vielfache und Sub-Vielfache. Aus diesen salvenartigen Ergüssen auf Englisch hörte Kim die allgemeine Richtung des Vortrags heraus, und sie interessierte ihn sehr. Da gab es eine neue Fertigkeit, die man im Kopf speichern konnte; und so wie sich die große weite Welt vor ihm entfaltete, schien es, daß es desto besser für einen war, je mehr man wußte. Nachdem der Babu eineinhalb Stunden geredet hatte, sagte er: »Ich hoffe, eines Tages in amtlicher Eigenschaft Freude deiner Bekanntschaft zu machen. Ad Interim, wenn dieser Ausdruck mir verstattet sei, will ich dir diese Beteldose schenken; es ist höchst wertvoller Artikel und hat mich erst vor vier Jahren zwei Rupien gekostet.« Es war ein billiges, herzförmiges Ding mit drei Fächern zur Aufnahme von Kalk, einem pan-Blatt und der unvermeidlichen Betelnuß; es war jedoch gefüllt mit kleinen Pillenflaschen. »Das ist Lohn für Verdienst in deiner Darstellung als Charakter des heiligen Mannes. Weißt du, du bist so jung, daß du meinst, du wirst ewig halten, und nimmst keine Rücksicht auf deinen Körper. Es ist großes Ärgernis, mitten im Geschäft krank zu werden. Ich selbst schätze Arzneien sehr, und sie sind auch gut bei Hand, wenn arme Leute kuriert werden sollen. Das sind gute
Arzneien vom Departement – Chinin und so weiter. Ich gebe sie dir als Andenken. Jetzt Goodbye. Ich habe dringende Privatsache hier am Straßenrand.« Geräuschlos wie eine Katze glitt er hinaus auf die AmbalaStraße, rief einen vorbeifahrenden Wagen an und klirrte von dannen, während Kim sprachlos die Beteldose hin und her drehte. Einzelheiten der Erziehung eines Jungen interessieren wenige außer seinen Eltern, und Kim war ja eine Waise. In den Büchern von St. Xavier-in-Partibus steht geschrieben, daß am Ende eines jeden Trimesters ein Bericht über Kims Fortschritte an Oberst Creighton geschickt wurde und an Pater Victor, aus dessen Hand regelmäßig das Geld für Kims Ausbildung kam. In diesen Büchern ist ferner verzeichnet, daß er große Begabung für mathematische Studien und fürs Kartenzeichnen an den Tag legte und daß er für gute Leistungen hierin einen Preis erhielt (The Life of Lord Lawrence, braunes Leder, zwei Bände, neun Rupien acht Annas); im gleichen Trimester spielte er in der Kricketmannschaft von St. Xavier gegen das Mohammedanische College Aligarh. Inzwischen war er vierzehn Jahre und zehn Monate alt. Weiterhin wurde er in dieser Zeit erneut geimpft (daraus läßt sich schließen, daß es in Lucknow eine neue Blatternepidemie gegeben hatte). Bleistiftnotizen auf dem Rand einer alten Stammrolle besagen, daß er mehrfach wegen »Umgangs mit unschicklichen Personen« bestraft wurde, und einmal scheint er zu schwerer Strafe verurteilt worden zu sein, weil er »einen Tag in Gesellschaft eines Straßenbettlers der Schule fernblieb«. Das war, als er über das Tor kletterte und einen ganzen Tag lang den Lama am Ufer des Gumti anflehte, ihn in den nächsten Ferien auf der Wanderung begleiten zu dürfen – für einen Monat – für eine kleine Woche; und der Lama verhärtete sein Gesicht dagegen wie Feuerstein und behauptete, die Zeit sei
noch nicht gekommen. Kims Aufgabe, sagte der alte Mann, als sie miteinander Kuchen aßen, sei es, alle Weisheit der Sahibs zu erlangen, und danach wolle er weitersehen. Die Hand der Freundschaft hat wohl irgendwie die Peitsche des Ungemachs abgewendet, denn sechs Wochen später scheint Kim eine Prüfung in Grundkenntnissen der Landvermessung bestanden zu haben, »mit ausgezeichnetem Erfolg«; da war er fünfzehn Jahre und acht Monate alt. Von dieser Zeit an schweigen die Bücher über ihn. Sein Name taucht nicht auf im jährlichen Schub derer, die in die unteren Ränge des Indischen Vermessungsdienstes eintraten; er ist lediglich mit dem Vermerk versehen: »Zur Anstellung entlassen«. In diesen drei Jahren lief der Lama mehrfach in den Tempel der Tirthankars zu Benares ein, etwas dünner und einen Hauch gelber, sofern das möglich war, aber sanft und makellos wie immer. Manchmal kam er von Süden – südlich noch von Tuticorin, von wo die wundersamen Feuerboote nach Ceylon fahren, wo es Priester gibt, die Pali beherrschen; manchmal kam er aus dem feuchten grünen Westen, von den tausend Baumwollfabrikschloten, die Bombay umgeben; und einmal aus dem Norden, als er achthundert Meilen hin und zurück gewandert war, um einen Tag lang mit dem Hüter der Bildwerke im Wunder-Haus zu reden. Dann schritt er in seine Zelle im kühlen behauenen Marmor – die Priester des Tempels waren gut zu dem alten Mann –, wusch den Reisestaub ab, verrichtete Gebete und brach nach Lucknow auf, in einem Abteil dritter Klasse, da er sich nun an die Bahn gewöhnt hatte. Wie sein Freund der Sucher dem Oberpriester gegenüber bedeutete, war es auffällig, daß der Lama nach seiner Rückkehr von dort für einige Zeit nicht mehr den Verlust seines Flusses betrauerte oder wundersame Bilder vom Rad des Lebens zeichnete, sondern vorzüglich von Schönheit und Weisheit eines gewissen mysteriösen chela sprach, den
niemand vom Tempel je gesehen hatte. Ja, er sei den Spuren der Seligen Füße durch ganz Indien gefolgt. (Der Kurator besitzt noch immer einen ganz wunderbaren Bericht über seine Wanderungen und Meditationen.) Im Leben bleibe nun nichts mehr zu tun, als den Fluß des Pfeils zu finden. Doch sei ihm in seinen Träumen gezeigt worden, daß dies Unterfangen nur dann mit einiger Hoffnung auf Erfolg begonnen werden könne, wenn der Sucher einen chela bei sich habe, der dazu vorbestimmt sei, die Suche zu einem glücklichen Ende zu führen, und der in großer Weisheit bewandert sei – solcher Weisheit, wie sie der weißhaarige Hüter der Bildwerke besitze. Zum Beispiel (hier wurde die Schnupfdose hervorgeholt, und die liebenswürdigen Jainpriester schwiegen schleunigst still): »Vor langer, langer Zeit, als Devadatta König zu Benares war – o lauschet alle der Játaka! –, wurde ein Elefant für eine Weile von den Jägern des Königs gefangengehalten und, ehe er ausbrach, mit einem schmerzlichen Beineisen beringt. Dies zu entfernen mühte er sich mit Haß und Raserei im Herzen, und wie er in den Wäldern auf und ab rannte, flehte er seine Elefantenbrüder an, es zu zerreißen. Mit ihren starken Rüsseln versuchten sie es einer nach dem anderen, aber es gelang ihnen nicht. Zuletzt taten sie dies als ihre Meinung kund, daß der Ring nicht zu brechen sei durch die Kraft irgendeines Tieres. Und in einem Dickicht, neugeboren und feucht von der Nässe der Geburt, lag ein eintägiges Kalb der Herde, dessen Mutter gestorben war. Der gefesselte Elefant vergaß seine eigene Qual und sagte: ›Wenn ich diesem Säugling nicht helfe, so wird er unter unseren Füßen zugrunde gehen.‹ So stellte er sich denn über das junge Geschöpf und machte seine Beine zu Stützpfeilern wider die unruhig schwankende Herde; und von einer tugendhaften Kuh erbat er Milch, und das Kalb gedieh, und der beringte Elefant war sein Führer und Beschützer. Nun sind die Tage des Elefanten – o lauschet alle der Játaka! –
fünfunddreißig Jahre bis zu seiner vollen Kraft, und fünfunddreißig Regenzeiten lang war der beringte Elefant der Freund des Jüngeren, und all diese Zeit fraß die Fessel in sein Fleisch. Dann sah eines Tages der junge Elefant das tief eingesunkene Eisen, und er wandte sich dem Älteren zu und sprach: ›Was ist das?‹ ›Das eben ist mein Kummer‹, sagte jener, der ihm Freund gewesen war. Da streckte der andere seinen Rüssel aus und so schnell wie ein Lid zwinkert löste er den Ring und sagte dabei: ›Die festgesetzte Zeit ist gekommen.‹ Also wurde der tugendhafte Elefant, der maßvoll ausgeharrt und gute Taten begangen hatte, zur festgesetzten Zeit durch eben jenes Kalb erlöst, das zu hegen er seinen Weg verlassen hatte – o lauschet alle der Játaka! –, denn der Elefant war Ananda, und das KAlb, das den Ring zerbrach, war kein anderer als Der HErr Selbst…« Dann wiegte er freundlich den Kopf, und über dem immer klickenden Rosenkranz wies er darauf hin, wie frei das Elefantenkalb von der Sünde des Stolzes gewesen sei. So demütig sei es gewesen wie ein chela, der seinen Meister vor den Toren der Gelehrsamkeit im Staub sitzen sah, über das Tor sprang (obwohl es verschlossen war) und seinen Meister im Angesicht der stolzbrüstigen Stadt ans Herz drückte. Reich werde der Lohn solch eines Meisters und solch eines chela sein, wenn erst die Zeit für sie komme, gemeinsam Freiheit zu suchen! So sprach der Lama, der sacht wie eine Fledermaus durch Indien kam und ging. Eine scharfzüngige alte Frau in einem Haus zwischen den Obstbäumen hinter Saharanpur ehrte ihn, wie die Frau den Propheten ehrte; seine Kammer war jedoch keineswegs auf der Mauer. Er pflegte dort in einem Gemach des Vorhofs zu sitzen, beschaut von girrenden Tauben, während sie ihren unnützen Schleier ablegte und von Kulus
Geistern und Dämonen plapperte, von ungeborenen Enkeln und von dem freizüngigen Lümmel, der auf dem Rastplatz mit ihr gesprochen hatte. Einmal schweifte er auch unterhalb Ambalas von der Grand Trunk Road ab zu eben dem Dorf, dessen Priester versucht hatte, ihn zu betäuben; aber der gütige Himmel, der über Lamas wacht, schickte ihn im Abendzwielicht durch die Felder, zerstreut und arglos, zur Tür des Rissaldars. Hier hätte es fast ein schlimmes Mißverständnis gegeben, denn der alte Soldat fragte ihn, warum der Freund der Sterne erst vor sechs Tagen den gleichen Weg gegangen sei. »Das kann nicht sein«, sagte der Lama. »Er ist zu seinem eigenen Volk zurückgekehrt.« »Er hat vor fünf Nächten in dieser Ecke gesessen und hundert fröhliche Geschichten erzählt«, beharrte sein Gastgeber. »Wohl ist er im Morgengrauen ein wenig jäh verschwunden, nach närrischem Gerede mit meiner Enkelin. Er wächst schnell, aber er ist derselbe Freund der Sterne, der mir einmal die wahre Nachricht vom Krieg gebracht hat. Habt ihr euch getrennt?« »Ja – und nein«, erwiderte der Lama. »Wir… wir haben uns nicht völlig getrennt, aber noch ist die Zeit nicht reif, daß wir gemeinsam auf die Wanderung gehen. Er erwirbt an einem anderen Ort Weisheit. Wir müssen warten.« »Alles eins – aber wenn das nicht dieser Junge war, wie kommt es dann, daß er so unausgesetzt von dir gesprochen hat?« »Und was hat er gesagt?« fragte der Lama eifrig. »Süße Worte – hunderttausend –, daß du ihm Vater und Mutter bist und derlei. Schade, daß er nicht in den Dienst der Königin tritt. Er ist furchtlos.« Diese Nachricht verwirrte den Lama, der damals noch nicht wußte, wie gewissenhaft Kim den mit Mahbub Ali
geschlossenen und von Oberst Creighton notgedrungen ratifizierten Kontrakt einhielt… »Das junge Pony ist nicht vom Spiel abzuhalten«, sagte der Pferdehändler, als der Oberst meinte, in den Ferien durch ganz Indien zu vagabundieren sei absurd. »Wird die Erlaubnis verweigert, zu kommen und zu gehen wie es ihm beliebt, wird er die Verweigerung mißachten. Wer sollte ihn dann einfangen? Oberst Sahib, nur einmal in tausend Jahren wird ein Pferd geboren, das so geeignet ist für das Spiel wie dieses unser Füllen. Und wir brauchen Männer.«
KAPITEL X
Your tiercel’s too long at hack, Sire. He’s no eyass But a passage-hawk that footed ere we caught him, Dangerously free o’ the air. Faith! were he mine (As mine’s the glove he binds to for his tirings) I’d fly him with a make-hawk. He’s in yarak Plumed to the very point – so manned, so weathered… Give him the firmament God made him for, And what shall take the air of him? Gow’s Watch [Euer Terz ist zu lang gebunden, Sire. Er ist kein Nestling; er flog und riß längst, ehe wir ihn fingen aus freien Lüften. Wahrlich: Wär er mein (wie mein der Handschuh ist, darauf er rastet), er flög mit einem Führfalk. Er ist jagdreif, vollfiedrig und an Mensch und Licht gewöhnt… Gebt ihm das Firmament, dem Gott ihn schuf, und wer sollt höhersteigend ihm entkommen? Gows Wache]
Lurgan Sahib sprach nicht so direkt, aber sein Rat stimmte mit dem Mahbubs überein; und das Ergebnis war gut für Kim. Er hütete sich nun davor, Lucknow in der Kleidung eines Einheimischen zu verlassen, und wenn Mahbub irgendwo brieflich zu erreichen war, dann steuerte er Mahbubs Lager an und vollzog seine Verwandlung unter den wachsamen Augen des Pathanen. Hätte der kleine Malkasten des Vermessungsdienstes, den er während der Trimester zum Einfärben gezeichneter Karten benutzte, eine Zunge gefunden, um von den Ereignissen während der Ferien zu reden, wäre
Kim wohl von der Schule geflogen. Einmal zogen er und Mahbub bis zur schönen Stadt Bombay, mit drei Waggons voller Tram-Pferde, und Mahbub schmolz beinahe, als Kim vorschlug, in einer Dhau über den Indischen Ozean zu segeln und am Golf Araber zu kaufen, die, wie er von einem Handlanger des Händlers Abdul Rahman erfahren hatte, bessere Preise erzielten als bloße Kabulis. Mit diesem großen Handelsherren tauchte er seine Hand in die Schüssel, als Mahbub und ein paar Glaubensbrüder zu einem großen Hadsch-Essen geladen waren. Sie fuhren über See nach Karachi zurück, wobei Kim auf dem Vorderdeck eines Küstendampfers seine erste Bekanntschaft mit der Seekrankheit machte, fest überzeugt, man habe ihn vergiftet. Die famose Arzneidose des Babus erwies sich als nutzlos, obwohl Kim sie in Bombay aufgefüllt hatte. Mahbub hatte Geschäfte in Quetta, und dort zeigte Kim, wie Mahbub zugab, daß er seinen Unterhalt wert war, und vielleicht noch ein wenig mehr, indem er vier seltsame Tage lang als Küchenjunge im Haus eines fetten Sergeanten von der Intendantur arbeitete, aus dessen Büroschrank er in einem günstigen Moment eine kleine Velinkladde entfernte – darin schien es ausschließlich um Vieh- und Kamelverkäufe zu gehen –, die er bei Mondschein in einer heißen Nacht hinter einem Schuppen liegend abschrieb. Dann brachte er die Kladde an ihren Platz zurück, verließ auf Mahbubs Anweisung diesen Dienst ohne Bezahlung und traf sechs Meilen die Straße hinunter wieder mit Mahbub zusammen, die saubere Kopie unter der Jacke. »Dieser Soldat ist ein kleiner Fisch«, erläuterte Mahbub Ali, »aber mit der Zeit werden wir den großen fangen. Der hier verkauft nur Rinder zu zweierlei Preis – einen für sich und einen für die Regierung-, was, glaube ich, keine Sünde ist.«
»Warum konnte ich denn das kleine Buch nicht einfach wegnehmen und fertig?« »Er hätte Angst bekommen und alles seinem Meister erzählt. Dann würden wir vielleicht eine große Zahl neuer Gewehre verpassen, die ihren Weg von Quetta hinauf nach dem Norden suchen. Das Spiel ist so groß, daß man jedesmal nur ein Stückchen davon sieht.« »Oho!« sagte Kim und hielt den Mund. Das war in den Monsunferien, nachdem er den Mathematikpreis gewonnen hatte. Die Weihnachtsferien verbrachte er – abgerechnet zehn Tage für private Vergnügungen – bei Lurgan Sahib, wo er die meiste Zeit vor einem lodernden Holzfeuer saß – die JakkoStraße lag in dem Jahr unter vier Fuß Schnee; und da der kleine Hindu fortgegangen war, um verheiratet zu werden, half Kim Lurgan beim Aufreihen von Perlen. Lurgan ließ ihn ganze Korankapitel auswendig lernen, bis er sie genau mit Zungenschlag und Tonfall eines Mullahs herbeten konnte. Außerdem brachte er Kim die Namen und Eigenschaften vieler einheimischer Arzneien bei und auch die Zauberverse, die man zu rezitieren hat, wenn man die Mittel verabreicht. Und an den Abenden schrieb er magische Formeln auf Pergament – kunstvolle Pentagramme, gekrönt mit den Namen von Teufeln – Murra, und Awan der Gefährte von Königen – alle fantastisch verschnörkelt in die Ecken geschrieben. Eher praktisch waren seine Ratschläge für Kim, die die Pflege des eigenen Körpers angingen, die Behandlung von Fieberanfällen und einfache Heilmittel der Straße. Eine Woche ehe es Zeit wurde abzureisen schickte Oberst Creighton Sahib – das war unfair – Kim einen Bogen mit handschriftlichen Prüfungsfragen, die sich ausschließlich mit Meßruten, Ketten, Bändern und Winkeln befaßten. In den nächsten Ferien war er mit Mahbub unterwegs, und dabei wäre er nebenbei bemerkt fast verdurstet, als er sich auf
einem Kamel durch den Sand zur geheimnisvollen Stadt Bikaner mühte, wo die Brunnen vierhundert Fuß tief sind und durchweg von Kamelknochen gesäumt. Aus Kims Blickwinkel war das keine vergnügliche Reise, weil der Oberst ihm – ungeachtet ihrer Abmachung – aufgetragen hatte, eine Karte dieser wilden, umwallten Stadt anzufertigen; und da mohammedanische Pferdejungen und Pfeifenwärter besser keine Meßketten um die Hauptstadt eines unabhängigen Native State schleppen sollten, war Kim gezwungen, alle Entfernungen mit Hilfe der Perlen des Rosenkranzes abzuschreiten. Zur Orientierung nutzte er den Kompaß, wenn sich die Gelegenheit bot – vor allem nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Kamele gefüttert waren –, und mit Hilfe seines kleinen Meßamt-Malkastens mit sechs Farbplättchen und drei Pinseln brachte er etwas zustande, das der Stadt Jaisalmer nicht ganz unähnlich war. Mahbub lachte sehr und riet ihm, auch einen schriftlichen Bericht anzufertigen; und auf den letzten Seiten des großen Geschäftsbuchs, das unter der Klappe von Mahbubs Lieblingssattel lag, machte Kim sich an die Arbeit. »Er muß alles enthalten, was du gesehen oder berührt oder bedacht hast. Schreib, als wäre der Jang-i-Lat Sahib selbst heimlich mit einer großen Armee gekommen, um einen Krieg zu beginnen.« »Wie groß ist die Armee?« »Ach, ein halbes lakh Männer.« »Närrisch! Bedenke, wie selten und wie schlecht die Brunnen im Sand waren. Nicht einmal tausend durstige Männer könnten hier nahe herankommen.« »Dann schreib das nieder – auch alle alten Breschen in den Mauern – und wo das Brennholz geschnitten wird – und was die Stimmung und Neigung des Königs ist. Ich bleibe hier, bis all meine Pferde verkauft sind. Ich werde einen Raum beim
Stadttor mieten, und du sollst mein Buchhalter sein. Es ist ein gutes Schloß an der Tür.« Der Bericht mit der unverkennbaren St. Xavier-Schreibschrift und der braun-gelb-rötlich verklecksten Landkarte war bis vor ein paar Jahren noch vorhanden (ein achtloser Schreiber hatte ihn zusammen mit den Rohnotizen von E.23 über seine zweite Vermessung von Seistan abgelegt), aber inzwischen dürfte die Bleistiftschrift kaum noch zu lesen sein. Unter dem Licht einer Öllampe schwitzend übersetzte Kim den Bericht für Mahbub, am zweiten Tag ihrer Rückreise. Der Pathane stand auf und beugte sich über seine scheckigen Satteltaschen. »Ich wußte, es würde eines Ehrenkleides würdig sein, deshalb habe ich eines bereitgehalten«, sagte er lächelnd. »Wäre ich Emir von Afghanistan (und vielleicht sehen wir ihn eines Tages), würde ich deinen Mund mit Gold füllen.« Förmlich legte er Kim die Gewänder zu Füßen. Da war eine goldbestickte Turbankappe nach Art von Peshawar, kegelförmig ansteigend, und ein großes Turbantuch, das in einem Goldsaum endete. Da war eine bestickte Delhi-Weste, zu tragen über einem milchweißen Hemd, rechts schließend, weit und wallend; grüne Pumphosen mit einer Hüftschnur aus gezwirnter Seide; und, damit nichts fehlte, himmlisch duftende Pantoffeln aus Juchtenleder mit arrogant gekräuselten Spitzen. »Es ist förderlich und verheißungsvoll, an einem Mittwoch, und dann auch noch morgens, neue Kleidung anzulegen«, sagte Mahbub feierlich. »Aber wir dürfen nicht die bösen Leute auf der Welt vergessen. Also!« Er krönte all die Pracht, die Kim den verzückten Atem raubte, mit einem perlmuttbesetzten, vernickelten, selbstauswerfenden 45er-Revolver. »Ich hatte an ein kleineres Kaliber gedacht, dann aber überlegt, daß dieser hier Regierungsmunition faßt. Die kann ein Mann sich überall verschaffen – vor allem jenseits der
Grenze. Steh auf und laß mich schauen.« Er klopfte Kim auf die Schulter. »Mögest du niemals ermüden, Pathane! Oh, die brechenden Herzen! Oh, die Augen, die seitlich unter den Wimpern hindurchblicken werden!« Kim wandte sich hin und her, streckte die Zehen, reckte sich und fühlte automatisch nach dem Schnurrbart, der eben zu sprießen begann. Dann neigte er sich zu Mahbubs Füßen, um mit flatternden, tätschelnden Händen geziemend zu danken, sein Herz zu voll für Worte. Mahbub kam ihm zuvor und umarmte ihn. »Mein Sohn«, sagte er, »was braucht es Worte zwischen uns? Aber ist das kleine Gewehr nicht entzückend? Alle sechs Patronen kommen auf eine Drehung heraus. Es wird an der Brust gleich auf der Haut getragen, das hält es gewissermaßen immer geölt. Steck es nie woanders hin, und wenn es Gott gefällt, wirst du damit eines Tages einen Mann töten.« »Hai mai!« sagte Kim betrübt. »Wenn ein Sahib einen Mann tötet, wird er im Kerker gehängt.« »Das stimmt; aber einen Schritt jenseits der Grenze sind die Menschen klüger. Steck es weg; aber füll es zuerst. Welchen Nutzen hat ein Gewehr, das nicht gefüttert ist?« »Wenn ich zur madrissah zurückkehre, muß ich es dir zurückgeben. Sie lassen keine kleinen Gewehre zu. Wirst du es für mich aufbewahren?« »Sohn, ich bin dieser madrissah müde, wo sie einem Mann die besten Jahre nehmen, um ihm etwas beizubringen, was er doch nur auf der Straße lernen kann. Die Torheit der Sahibs hat weder Deckel noch Boden. Macht nichts. Vielleicht wird dein schriftlicher Bericht dir weitere Knechtschaft ersparen; und Gott weiß, daß wir Männer mehr und mehr brauchen für das Spiel.« Mit verbundenem Mund, um sich vor Flugsand zu schützen, zogen sie durch die Salzwüste nach Jodhpur, wo Mahbub und
sein hübscher Neffe Habib Ullah viel Handel trieben; und dann reiste Kim traurig, in europäischer Kleidung, die ihm sehr schnell zu klein wurde, zweiter Klasse nach St. Xavier. Drei Wochen später hatte es Oberst Creighton, als er in Lurgans Laden tibetische Geisterdolche abschätzte, mit Mahbub Ali in offener Meuterei zu tun. Lurgan Sahib hielt sich als Eingreifreserve zurück. »Das Pony ist fertig – vollendet – Maul und Gang geschult, Sahib! Von jetzt an wird er Tag für Tag seine Qualitäten verlieren, wenn man ihn mit Kleinkram beschäftigt. Geben Sie ihm die Zügel frei und lassen Sie ihn gehen«, sagte der Pferdehändler. »Wir brauchen ihn.« »Aber er ist so jung, Mahbub – erst sechzehn – oder?« »Als ich fünfzehn war, hatte ich meinen Mann geschossen und meinen Mann gezeugt, Sahib.« »Sie verstockter alter Heide!« Creighton wandte sich Lurgan zu. Der schwarze Bart nickte zustimmend zur Weisheit des scharlachgefärbten des Afghanen. »Ich hätte ihn schon längst eingesetzt«, sagte Lurgan. »Je jünger, desto besser. Deshalb lasse ich meine wirklich wertvollen Juwelen auch immer von einem Kind bewachen. Sie haben ihn mir geschickt, um ihn zu erproben. Ich habe ihn auf jede Art geprüft: Er ist der einzige Junge, den ich keine Dinge sehen lassen konnte.« »Im Kristall – im Tintenspiegel?« wollte Mahbub wissen. »Nein. Unter meiner Hand, wie ich Ihnen gesagt habe. Das ist noch nie vorgekommen. Es bedeutet, daß er stark genug ist – aber Sie halten das ja für Unsinn, Oberst Creighton –, um jedem seinen Willen beliebig aufzuzwingen. Und das war vor drei Jahren. Seitdem habe ich ihm einiges beigebracht, Oberst Creighton. Ich glaube, Sie vergeuden ihn jetzt sinnlos.« »Hmmm! Vielleicht haben Sie recht. Aber wie Sie wissen, gibt es im Moment für ihn keine Vermessungsarbeiten.«
»Lassen Sie ihn raus – lassen Sie ihn gehen«, unterbrach Mahbub. »Wer erwartet denn, daß ein Füllen gleich schwere Lasten trägt? Lassen Sie ihn mit den Karawanen ziehen – wie unsere weißen Kamelfüllen – auf gut Glück. Ich würde ihn selbst mitnehmen, aber…« »Da gibt es eine kleine Angelegenheit, bei der er sehr nützlich wäre – im Süden«, sagte Lurgan seltsam sanft; dabei senkte er seine blaugefärbten Lider. »E.23 hat das in Händen«, sagte Creighton schnell. »Dahin darf er jetzt nicht gehen. Außerdem kann er kein Turkestanisch.« »Sagen Sie ihm nur Form und Geruch der Briefe, die wir brauchen, und er bringt sie uns«, beharrte Lurgan. »Nein. Das ist Männerarbeit«, sagte Creighton. Es handelte sich um eine halsbrecherische Sache, unerlaubte und aufrührerische Korrespondenz zwischen einer Person, die die letzte Autorität in allen Fragen der mohammedanischen Religion auf der ganzen Welt zu sein behauptete, und dem jüngeren Angehörigen eines Königshauses, den man zur Verantwortung gezogen hatte, weil er auf britischem Territorium Frauen zu rauben pflegte. Der moslemische Erzbischof hatte sich nachdrücklich und überaus anmaßend geäußert; der junge Prinz war lediglich verdrossen, weil man seine Privilegien beschnitten hatte, aber er mußte nicht unbedingt eine Korrespondenz fortführen, die ihn eines Tages kompromittieren konnte. Tatsächlich hatte man einen Brief beschafft; der Finder wurde jedoch später in der Kleidung eines arabischen Händlers tot am Straßenrand gefunden, wie E.23, der die Sache übernahm, pflichtgemäß berichtet hatte. Diese und einige weitere Tatsachen, die nicht zur Veröffentlichung geeignet sind, ließen Mahbub und Creighton den Kopf schütteln.
»Lassen Sie ihn mit seinem Roten Lama losziehen«, sagte der Pferdehändler mit sichtbarer Überwindung. »Er hängt an dem alten Mann. Dabei kann er wenigstens Entfernungen am Rosenkranz abzählen lernen.« »Ich hatte ein paarmal mit dem alten Mann zu tun – per Brief«, sagte Oberst Creighton; er lächelte vor sich hin. »Wohin geht er?« »Auf und ab im Land, wie in den letzten drei Jahren. Er sucht einen Fluß der Heilung. Gottes Fluch über alle…« Mahbub unterbrach sich. »Er wohnt im Tempel der Tirthankars oder in Buddh Gaya, wenn er von der Wanderung zurückkommt. Dann geht er den Jungen in der madrissah besuchen, wie wir wissen; der Junge ist ja zwei- oder dreimal deshalb bestraft worden. Er ist ziemlich verrückt, aber friedfertig. Ich bin ihm begegnet. Der Babu hat auch mit ihm zu tun gehabt. Wir haben ihn die drei Jahre lang beobachtet. Rote Lamas sind nicht so häufig in Hind, daß man sie nicht im Auge behalten könnte.« »Babus sind sehr sonderbar«, sagte Lurgan versonnen. »Wissen Sie, was Hurree Babu wirklich will? Er möchte für seine ethnologischen Aufzeichnungen zum Mitglied der Royal Society gemacht werden. Ich sag Ihnen, ich erzähle ihm alles über den Lama, was Mahbub und der Junge mir erzählt haben. Hurree Babu reist sofort los nach Benares – auf eigene Kosten, glaub ich.« »Ich nicht«, sagte Creighton knapp. Er hatte Hurrees Reisekosten bezahlt, aus einer sehr lebhaften Neugier zu erfahren, was es mit dem Lama auf sich habe. »Und er wendet sich an den Lama um Informationen über Lamaismus und Teufelstänze und Zauberformeln und magische Sprüche, etliche Male in diesen paar Jahren. Heilige Jungfrau! Das hätte ich ihm alles schon vor Jahren erzählen können. Ich glaube, Hurree Babu wird zu alt für die Straße. Er
sammelt lieber Informationen über Sitten und Gebräuche. Ja, er will ein F. R. S. werden.« »Hurree hält etwas von dem Jungen, nicht wahr?« »O ja, sehr viel – wir hatten ein paar nette Abende hier in meiner kleinen Hütte –, aber ich glaube, es wäre eine Vergeudung, ihn mit Hurree in die Ethnologie wegzuwerfen.« »Nicht als erster Versuch. Was halten Sie davon, Mahbub? Wir lassen den Jungen sechs Monate lang mit dem Lama wandern. Danach sehen wir weiter. Er wird Erfahrungen sammeln.« »Die hat er schon, Sahib – wie ein Fisch das Wasser beherrscht, in dem er schwimmt. Aber egal aus welchem Grund, es ist gut, ihn aus der Schule loszulassen.« »Na gut dann«, sagte Creighton halb zu sich selbst. »Er kann mit dem Lama gehen, und wenn Hurree Babu ein Auge auf die beiden werfen will, um so besser. Er wird den Jungen nicht in irgendwelche Gefahren bringen, wie Mahbub es tun würde. Seltsam – sein Wunsch, ein F. R. S. zu werden. Und auch sehr menschlich. Er ist wirklich bei der Ethnologie am besten aufgehoben – Hurree.« Kein Geld und keine Beförderung hätte Creighton von seiner Arbeit im Indischen Vermessungsdienst weggeholt, aber tief in seinem Herzen hegte auch er den Ehrgeiz, »F. R. S.« hinter seinen Namen schreiben zu können. Er wußte, daß Ehrungen bestimmter Art durch Einfallsreichtum und Hilfe von Freunden zu erlangen waren, doch konnte, seinem besten Wissen und Gewissen nach, nichts als Arbeit – Papiere, die für ein ganzes Arbeitsleben standen – einen Mann in jene Königliche Gesellschaft bringen, die er seit Jahren mit Monographien über seltene asiatische Kulte und unbekannte Gebräuche bombardierte. Neun von zehn Männern würden der Soiree einer Royal Society in alleräußerster Langeweile entfliehen; aber Creighton war der zehnte, und bisweilen lechzte seine
Seele nach den überfüllten Räumen im behaglichen London, wo silberhaarige und kahlköpfige Herren, die nichts von der Armee wissen, sich mit spektroskopischen Experimenten befassen, mit den niederen Pflanzenarten der gefrorenen Tundren, elektrischen Flugmeßgeräten und Apparaten, die das linke Auge des Moskitoweibchens in Bruchteile von Millimetern dünne Scheibchen zerlegen. Nach allem Fug und Recht hätte die Königliche Geographische Gesellschaft ihn reizen müssen, aber bei der Wahl ihres Spielzeugs sind Männer ebenso unberechenbar wie Kinder. Deshalb lächelte Creighton und dachte desto besser von Hurree Babu, da ihn ein ähnlicher Wunsch bewegte. Er ließ den Geisterdolch fallen und blickte zu Mahbub auf. »Wie bald können wir das Füllen aus dem Stall holen?« sagte der Pferdehändler, der in seinen Augen las. »Hmm! Wenn ich jetzt seine Entlassung anordne – was, meinen Sie, wird er dann machen? Ich habe noch nie bei der Ausbildung von so einem mitgemacht.« »Er wird zu mir kommen«, sagte Mahbub prompt. »Lurgan Sahib und ich werden ihn für die Straße vorbereiten.« »Also gut, von mir aus. Sechs Monate soll er frei laufen, wie es ihm gefällt. Aber wer will sich für ihn verbürgen?« Lurgan neigte leicht den Kopf. »Er wird nichts ausplaudern, wenn es das ist, wovor Sie Angst haben, Oberst Creighton.« »Er ist ja immerhin bloß ein Junge.« »Ja-a; aber erstens hat er noch nichts auszuplaudern; und zweitens weiß er, was passieren würde. Außerdem hat er Mahbub sehr gern, und mich ein wenig.« »Wird er Sold beziehen?« fragte der praktisch denkende Pferdehändler. »Nur für Essen und Trinken. Zwanzig Rupien im Monat.« Ein Vorteil des Geheimdienstes ist, daß er keine lästige Rechnungskontrolle kennt. Dieser Dienst ist natürlich
lächerlich unterfinanziert, aber die Mittel werden von ein paar Männern verwaltet, die weder nach Belegen schreien noch detaillierte Rechnungen vorlegen. Mahbubs Augen strahlten vor Liebe zu Geld, die fast schon die eines Sikhs war. Selbst Lurgans beherrschtes Gesicht veränderte sich. Er bedachte die kommenden Jahre, wenn Kim dem Großen Spiel, das Tag und Nacht überall in Indien niemals endet, eingefügt und eingepaßt sein würde. Aus dem Mund weniger Auserwählter sah er Ehre und Ansehen voraus, die ihm durch seinen Schüler erwachsen würden. Lurgan Sahib hatte E.23 zu dem gemacht, was E.23 jetzt war, aus einem wirren, unverschämten, verlogenen kleinen Mann aus der Nordwest-Provinz. Aber die Freude dieser Meister war fahl und matt neben Kims Freude, als der Leiter von St. Xavier ihn beiseite rief und ihm mitteilte, Oberst Creighton habe nach ihm geschickt. »Wenn ich es recht verstehe, O’Hara, hat er für Sie eine Stelle als Meßassistent im Kanaldepartement gefunden: Das kommt, weil Sie sich mit Mathematik beschäftigt haben. Sie haben großes Glück, Sie sind ja erst sechzehn; aber Sie wissen natürlich, daß Sie erst pukka [fertig; festangestellt] werden, wenn Sie die Prüfung im Herbst bestanden haben. Bilden Sie sich also nicht ein, Sie gingen jetzt zum Vergnügen in die Welt hinaus, und auch nicht, daß Ihr Glück schon gemacht ist. Vor Ihnen liegt viel harte Arbeit. Nur wenn es Ihnen gelingt, pukka zu werden, können Sie es einmal bis auf vierhundertfünfzig im Monat bringen, wissen Sie.« Der Direktor gab ihm noch viele gute Ratschläge für sein Benehmen, seine Manieren und seine Moral; und andere, ältere Schüler, die noch nicht zu Anstellungen beordert worden waren, redeten, wie nur angloindische Burschen reden können, über Begünstigung und Korruption. Der junge Cazalet, dessen Vater Pensionär in Chunar war, deutete sogar ganz offen an, Oberst Creightons Interesse an Kim sei eindeutig väterlich; und Kim rächte sich
nicht dafür, nicht einmal mit Worten. Er dachte an den unermeßlichen Spaß, der vor ihm lag, an Mahbubs Brief vom Vortag, ganz sauber auf Englisch geschrieben, in dem er für den Nachmittag zu einem Haus bestellt wurde, dessen bloßer Name dem Direktor vor Entsetzen die Haare gekräuselt hätte… An diesem Abend, im Bahnhof von Lucknow, sagte Kim über die Gepäckwaage hinweg zu Mahbub: »Ich hatte Angst, am Ende würde mir noch das Dach auf den Kopf fallen und mich um alles bringen. Ist denn nun wirklich alles vorbei, o mein Vater?« Mahbub schnippte mit den Fingern, um die Endgültigkeit dieses Endes zu bedeuten, und seine Augen flammten wie glühende Kohlen. »Wo ist dann die Pistole, daß ich sie trage?« »Gemach! Ein halbes Jahr ohne Fußfessel rennen. Soviel habe ich vom Oberst Sahib erbeten. Bei zwanzig Rupien im Monat. Die alte Rotmütze weiß, daß du kommst.« »Ich werde dir dasturi [Provision] für meinen Sold zahlen, drei Monate lang«, sagte Kim ernst. »Ja, zwei Rupien im Monat. Aber zuerst müssen wir das hier loswerden.« Er zupfte an seiner dünnen Leinenhose und zerrte an seinem Kragen. »Ich habe alles mitgebracht, was ich auf der Straße brauche. Mein Koffer ist unterwegs zu Lurgan Sahib.« »Der dir seine Salaams sendet – Sahib.« »Lurgan Sahib ist ein sehr kluger Mann. Aber was machst du?« »Ich gehe wieder nach Norden, in dem Großen Spiel. Was sonst? Bist du noch immer entschlossen, der alten Rotmütze zu folgen?« »Vergiß nicht, er hat mich zu dem gemacht, was ich bin – obwohl er das nicht wußte. Jahr um Jahr hat er das Geld geschickt, für das ich unterrichtet wurde.«
»Das hätte ich auch getan – wenn es meinem dicken Kopf eingefallen wäre«, knurrte Mahbub. »Komm jetzt. Die Lampen sind nun entzündet, und niemand wird dich im Basar bemerken. Wir gehen zu Huneefas Haus.« Auf dem Weg dorthin gab Mahbub ihm so ziemlich die gleiche Sorte von Ratschlägen, wie Lemuel sie von seiner Mutter erhielt, und seltsamerweise setzte Mahbub ihm eingehend auseinander, wie Huneefa und ihresgleichen Könige vernichteten. »Und ich entsinne mich«, zitierte er boshaft, »eines, der da sagte: ›Trau lieber einer Schlange als einer Hure, und einer Hure lieber als einem Pathanen, Mahbub Ali.‹ Nun ja, abgesehen von den Pathanen, deren ich einer bin, ist all das wahr. Besonders wahr ist es beim Großen Spiel, denn vermöge der Frauen ist es, daß alle Pläne zunichte werden und wir im Morgengrauen irgendwo mit zerschnittener Kehle herumliegen. So ist es dem geschehen.« Er führte die blutigsten Einzelheiten an. »Warum dann…?« Kim hielt vor einer schmierigen Treppe, die zum warmen Dunkel eines Obergemachs emporklomm, im Geviert hinter Azim Ullahs Tabakladen. Jene, die es kennen, nennen es den Vogelkäfig – so voll ist es von Gewisper und Gepfeif und Gezirp. Der Raum mit seinen schmutzigen Kissen und halbgerauchten hookahs roch widerlich nach schalem Tabak. In einer Ecke lag eine gewaltige unförmige Frau, gekleidet in grünliche Gaze und an Braue, Nase, Ohr, Hals, Handgelenk, Arm, Hüfte und Knöchel von schwerem einheimischen Geschmeide bedeckt. Wenn sie sich bewegte, klang es wie aneinanderklirrende Kupfertöpfe. Eine magere Katze auf dem Balkon vor dem Fenster miaute hungrig. Verwirrt blieb Kim am Türvorhang stehen.
»Ist das die neue Lieferung, Mahbub?« sagte Huneefa träge; sie machte sich kaum die Mühe, das Mundstück aus den Lippen zu nehmen. »O Buktanoos!« – wie die meisten ihrer Art rief sie die Dschinns bei allem an – »O Buktanoos! Er ist sehr gut anzuschauen.« »Das gehört beim Verkauf eines Pferdes dazu«, erklärte Mahbub Kim; der lachte. »Die Art Rede kenne ich seit meinem sechsten Tag«, antwortete er; er hockte sich neben die Lampe. »Wohin führt sie?« »Zu Schutz. Heute abend verändern wir deine Farbe. Dieses Schlafen unter Dächern hat dich gebleicht wie eine Mandel. Aber Huneefa kennt das Geheimnis einer dauerhaften Farbe. Keine Malerei für einen Tag oder zwei. Außerdem wollen wir dich gegen die Wechselfälle der Straßen festigen. Das ist mein Geschenk an dich, mein Sohn. Nimm alles Metall heraus, das du bei dir trägst, und leg es hierhin. Mach dich bereit, Huneefa.« Kim zog seinen Kompaß hervor, den Malkasten des Meßamtes und die frischgefüllte Medizindose. Sie alle hatten ihn auf den Reisen begleitet, und nach Jungenart waren sie ihm unendlich teuer. Die Frau erhob sich langsam; beim Gehen hielt sie die Hände ein wenig nach vorn abgespreizt. Da sah Kim, daß sie blind war. »Nein, nein«, murmelte sie, »der Pathane sagt die Wahrheit – meine Farbe schwindet nicht nach einer Woche oder einem Monat, und die, die ich schütze, sind unter starker Hut.« »Wenn man weit fort und allein ist, wäre es nicht gut, plötzlich fleckig und leprös auszusehen«, sagte Mahbub. »Als du bei mir warst, konnte ich darauf aufpassen. Außerdem sind Pathanen hellhäutig. Zieh dich jetzt bis zu den Hüften aus und sieh, wie weiß du geworden bist.« Huneefa tastete sich aus
einem Hinterzimmer zurück. »Es hat keine Bedeutung, sie kann nicht sehen.« Er nahm eine Zinnschale aus ihrer beringten Hand. Der Farbstoff schien blau und klebrig. Mit einem Wattebausch experimentierte Kim auf dem Handgelenkrücken; aber Huneefa hörte es. »Nein, nein«, rief sie, »so wird diese Sache nicht gemacht, sondern mit den ziemlichen Zeremonien. Die Farbe ist das Geringste dabei. Ich gebe dir vollen Schutz für die große Straße.« »Jadoo [Magie]?« sagte Kim; er schreckte halb zurück. Er mochte die weißen blicklosen Augen nicht. Mahbubs Hand lag auf seinem Nacken und beugte ihn zum Boden, bis die Nase einen Zoll von den Bohlen entfernt war. »Still. Dir wird nichts Böses geschehen, mein Sohn. Ich bin dein Pfand!« Er konnte nicht sehen, was die Frau tat, er hörte nur lange Minuten das Klickklack ihres Schmucks. Ein Streichholz erhellte das Dunkel; er fing das wohlbekannte Rieseln und Zischen von Weihrauchkörnern auf. Dann füllte sich der Raum mit Rauch – schwer, würzig und betäubend. Durch wuchernden Schlummer hörte er die Namen von Teufeln – von Zulbazan, Sohn des Iblis, der in Basaren und paraos lebt und all die jähe zotige Bosheit einer Rast am Wegesrand verursacht; von Dulhan, unsichtbar in Moscheen, der zwischen den Pantoffeln der Rechtgläubigen haust und die Leute von ihren Gebeten abhält; und Musboot, Herr der Lügen und der Panik. Einmal flüsterte Huneefa ihm ins Ohr, dann wieder sprach sie wie aus unermeßlicher Ferne, berührte ihn mit grausig weichen Fingern, aber nie hob sich Mahbubs Griff von seinem Nacken, bis der Junge sich endlich mit einem Seufzer entspannte und ohnmächtig wurde.
»Allah! Wie er sich gewehrt hat! Ohne die Drogen hätten wir es niemals geschafft. Das muß wohl sein weißes Blut machen«, sagte Mahbub verdrossen. »Fahr fort mit dem dawut [Beschwörung]. Gib ihm vollen Schutz.« »O Hörer! Du der du hörest mit Ohren, sei bei uns! Lausche, o Hörer!« Huneefa stöhnte, die toten Augen nach Westen gewandt. Der dunkle Raum füllte sich mit Ächzen und Schnaufen. Auf dem äußeren Balkon hob eine gewichtige Gestalt den runden Kugelkopf und hüstelte nervös. »Unterbrechen Sie nicht diese bauchredende Nekromantin«, sagte der Kopf auf Englisch. »Ich wähne, es muß für Sie sehr bestürzlich sein, aber kein aufgeklärter Beobachter läßt sich fies verwirren.« »… Ich will Ränke wirken zu ihrem Verderben! 0 Prophet, ertrage die Ungläubigen! Laß sie eine Weile in Frieden!« Huneefas Gesicht, nach Norden gewandt, verzerrte sich furchtbar, und es war, als ob Stimmen von der Decke ihr antworteten. Hurree Babu nahm sein Notizbuch wieder auf, wiegte sich auf dem Fenstersims, aber seine Hand zitterte. Huneefa, in einer Art ekstatischen Drogenrauschs, wand sich hin und her, während sie mit gekreuzten Beinen neben Kims stillem Kopf saß, und rief in der uralten rituellen Reihenfolge Teufel um Teufel an und verpflichtete sie, allem Tun des Jungen fernzubleiben. »Bei Ihm sind die Schlüssel der Geheimen Dinge! Niemand kennet sie außer Ihm. Er kennet was ist, auf trockenem Lande und in der See!« Wieder brachen die unirdischen fauchenden Antworten hervor. »Ich… ich erfasse, daß dies keineswegs bösartig in seiner Wirkweise ist?« sagte der Babu; er sah die Kehlmuskeln beben und zucken, als Huneefa in Zungen redete. »Es… es ist kaum
wahrscheinlich, daß sie den Jungen getötet hat? Falls doch, lehne ich es ab, beim Gerichtsverfahren Zeuge zu sein… Wer war der letzte erwähnte hypothetische Teufel?« »Babuji«, sagte Mahbub in der Umgangssprache. »Ich schere mich nicht um die Teufel von Hind, aber die Söhne von Iblis sind etwas anderes, und ob sie nun jumalee [wohlwollend] oder jullalee [schrecklich] sind, jedenfalls mögen sie kafirs nicht.« »Dann meinen Sie, ich sollte besser gehen?« sagte Hurree Babu; er stand halb auf. »Natürlich sind sie entmaterialisierte Phänomene. Spencer sagt…« Huneefas Krise endete, wie diese Dinge enden müssen, in einem Paroxysmus des Heulens, mit Spuren von Schaum auf den Lippen. Sie lag entkräftet und reglos neben Kim, und die wahnsinnigen Stimmen verstummten. »Wah! Das Werk ist getan. Möge es dem Jungen nützen; und Huneefa ist zweifellos eine Meisterin des dawut. Hilf mir, sie beiseite zu schleppen, Babu. Keine Angst.« »Wie sollte ich das absolut Nichtexistente fürchten?« sagte Hurree Babu; er sprach Englisch, um seine Fassung wiederzugewinnen. Es ist etwas Furchtbares, die Magie noch zu fürchten, die man geringschätzig erforscht – mit lebhaftem Glauben an alle Mächte der Finsternis volkskundliche Kenntnisse für eine Royal Society zu sammeln. Mahbub gluckste. Er war schon mit Hurree unterwegs gewesen. »Wir wollen das Färben vollenden«, sagte er. »Der Junge ist gut geschützt, wenn… wenn die Herren der Luft Ohren haben zu hören. Ich bin ein Sufi [Freidenker], aber wenn man einer Frau, einem Hengst oder einem Teufel die schwache Seite abgewinnen kann, wozu dann auf die andere Seite gehen und sich treten lassen? Bring ihn auf den Weg, Babu, und sieh zu, daß die alte Rotmütze ihn nicht aus unserer Reichweite führt. Ich muß zu meinen Pferden zurück.«
»In Ordnung«, sagte Hurree Babu. »Gegenwärtig ist er sonderliches Schauspiel.«
Um den dritten Hahnenschrei erwachte Kim aus einem jahrtausendelangen Schlaf. Huneefa in ihrer Ecke schnarchte heftig, aber Mahbub war fort. »Ich hoffe, Sie waren nicht beängstigt«, sagte eine ölige Stimme neben seinem Ellenbogen. »Ich war ganze Operation aufsichtführend, was vom ethnologischen Gesichtspunkt höchst interessant war. Es war hochklassiges dawut.« »Huh!« sagte Kim, als er Hurree Babu erkannte, der verbindlich lächelte. »Und ich hatte auch Ehre, Ihnen von Lurgan Ihr gegenwärtiges Kostüm zu bringen. Ich bin offiziell nicht gewohnt, derlei Putz Untergebenen nachzutragen, aber« – er kicherte – »Ihr Fall ist als ausnähmlich in den Büchern verzeichnet. Ich hoffe, Mr. Lurgan wird mein Tun vermerken.« Kim gähnte und räkelte sich. Es tat gut, sich endlich wieder in lockeren Kleidern drehen und wenden zu können. »Was ist das?« Neugierig musterte er den schweren Düffelstoff, geladen mit den Düften des fernen Nordens. »Oho! Das ist unauffälliger Dress für chela, der attachiert ist zu Dienst bei lamaistischem Lama. Komphn in allen Besondernissen«, sagte Hurree Babu; er wälzte sich auf den Balkon, um sich die Zähne an einem irdenen Wasserkännchen zu reinigen. »Ich bin die Meinung, das ist nicht genau Religion von Ihrem alten Gentleman, sondern eher Subvariante von selbiger. Ich habe zu diesem Thema beigetragen abgelehnte Berichte an Asiatic Quarterly Review. Nun ist es aber seltsam, daß der alte Gentleman selbst jeglicher Religiosität entbehrt. Er ist da nicht sehr pingelig.« »Kennen Sie ihn denn?«
Hurree Babu hob die Hand, um anzuzeigen, daß er mit den vorschriftsmäßigen Riten befaßt war, die Zähneputzen und ähnliche Verrichtungen unter anständig erzogenen Bengalis begleiten. Dann rezitierte er auf Englisch ein Arya-SomajGebet theistischer Natur und stopfte sich pan und Betel in den Mund. »O ja. Ich habe ihn mehrmals in Benares getroffen und auch in Buddh Gaya, um ihn über religiöse Punkte und Teufelsanbetung zu fragen. Er ist reiner Agnostiker – genau wie ich.« Huneefa bewegte sich im Schlaf, und Hurree Babu sprang nervös zum kupfernen Weihrauchkessel, der ganz schwarz und farblos im Morgenlicht war, rieb einen Finger durch den angesammelten Ruß und zog ihn diagonal über sein Gesicht. »Wer ist in deinem Hause gestorben?« fragte Kim in der Umgangssprache. »Niemand. Aber sie hat vielleicht den Bösen Blick – diese Zauberin«, erwiderte der Babu. »Was wirst du denn nun tun?« »Ich werde dich auf deinen Weg nach Benares bringen, wenn du dorthin gehst, und dir sagen, was Wir wissen müssen.« »Ich gehe dorthin. Zu welcher Stunde fährt der te-rain?« Er stand auf, blickte in dem öden Raum umher und auf das wachsgelbe Gesicht von Huneefa, während die niedrigstehende Sonne über den Boden kroch. »Ist dieser Hexe Geld zu bezahlen?« »Nein. Sie hat dich gefeit gegen alle Teufel und alle Gefahren – im Namen ihrer Teufel. Es war Mahbubs Wunsch.« Auf Englisch: »Er ist höchst obsolet, finde ich, solchem Aberglauben zu frönen. Also, das alles ist doch nur Ventriloquenz. Bauchsprechen – eh?« Kim schnippte automatisch mit den Fingern, um jegliches Übel abzuwenden – Mahbub, das wußte er, plante keines –,
das durch Huneefas Handlungen eingesickert sein mochte; und Hurree kicherte wieder. Aber als er den Raum durchquerte, achtete er darauf, nicht in Huneefas fleckigen untersetzten Schatten auf dem Boden zu treten. Hexen können – wenn ihre Zeit über sie gekommen ist – die Fersen der Seele eines Mannes packen, falls er das tut. »Jetzt müssen Sie gut aufpassen«, sagte der Babu, als sie an der frischen Luft waren. »Ein Teil dieser Zeremonien, denen wir beigewohnt haben, beinhaltet Beschaffung von wirksamem Amulett für Angehörige unseres Departements. Wenn Sie Ihren Nacken betasten, werden Sie ein kleines Silberamulett finden, sehr billig. Das ist unseres. Verstehen Sie?« »Oah, ja, hawa-dilli [ein Herz-Erheber]«, sagte Kim; er tastete an seinem Nacken. »Huneefa macht sie für zwei Rupien zwölf Annas mit – ach, alle Arten von Exorzismen. Sie sind ganz gewöhnlich, außer daß sie teilweise schwarzes Emaille sind, und in jedem steckt ein Papier voll mit Namen von lokalen Heiligen und derlei. Das ist Huneefas Teil, verstehen Sie? Huneefa macht sie nur für uns, aber für den Fall, daß nicht, stecken wir, ehe wir sie ausgeben, ein kleines Stückchen Türkis hinein. Mr. Lurgan liefert sie. Es gibt keine andere Bezugsquelle; aber ich bin derjenige, der das alles erfunden hat. Natürlich ist das streng inoffiziell, aber sehr brauchbar für untere Ränge. Oberst Creighton weiß nichts davon. Er ist Europäer. Der Türkis ist in das Papier gewickelt… Ja, das ist Straße zum Bahnhof… Nun angenommen, Sie gehen mit dem Lama, oder, hoffe ich, eines Tages mit mir, oder mit Mahbub. Angenommen, wir geraten in eine verdammt enge Klemme. Ich bin ein furchtsamer Mann – sehr furchtsam –, aber ich sage Ihnen, ich war in mehr verdammt engen Klemmen, als ich Haare auf dem Kopf habe. Sie sagen: ›Ich bin Sohn des Zaubers.‹ Sehr gut.«
»Ich verstehe nicht ganz. Man sollte uns hier nicht Englisch reden hören.« »Das macht nichts. Ich bin bloß Babu, der vor Ihnen unbedingt mit seinem Englisch angeben muß. Wir Babus reden alle Englisch um anzugeben«, sagte Hurree; munter warf er sein Schultertuch zurück. »Wie ich eben sagen wollte: ›Sohn des Zaubers‹ bedeutet, daß Sie vielleicht Mitglied der Sat Bhai sind – der Sieben-Brüder, was gleichzeitig Hindi und Tantrisch ist. Allgemein hält man es für ausgestorbene Gesellschaft, aber ich habe Berichte geschrieben um zu zeigen, sie existiert noch. Sie sehen, das ist alles meine Erfindung. Sehr gut. Sat Bhai hat viele Mitglieder, und vielleicht, bevor die Ihnen ganz lieb einfach so die Kehle durchschneiden, könnten sie Ihnen noch eine kleine Chance zum Weiterleben geben. Das ist jedenfalls nützlich. Und außerdem machen diese dummen Eingeborenen – wenn sie nicht zu aufgeregt sind – immer eine Denkpause, bevor sie einen töten, der sagt, er gehört irgendeiner besonderen Organisation an. Verstehen Sie? Sie sagen also, wenn Sie in einer Klemme stecken, ›Ich bin Sohn des Zaubers‹, und Sie kriegen – vielleicht – eh – Ihre zweite Luft. Das ist aber nur für extreme Lagen, oder um Unterhandlungen mit einem Fremden zu eröffnen. Können Sie mir folgen? Sehr gut. Aber nehmen wir nun an, ich, oder sonst jemand vom Departement, kommt zu Ihnen und ist ganz anders gekleidet. Sie würden mich überhaupt nicht erkennen, wenn ich es nicht will, wette ich. Irgendwann werde ich das beweisen. Ich komme als Ladakhi-Händler – ach, irgendwas – und sage zu Ihnen: ›Willst du kostbare Steine kaufen?‹ Sie sagen: ›Sehe ich aus wie einer, der kostbare Steine kauft?‹ Dann sage ich: ›Sogar ein ganz armer Mann kann einen Türkis oder tarkeean kaufen.‹« »Das ist kichree – Gemüsecurry «, sagte Kim.
»Natürlich. Sie sagen: ›Laß mich das tarkeean sehen.‹ Dann sage ich: ›Eine Frau hat es gekocht, und vielleicht ist es schlecht für deine Kaste.‹ Dann sagen Sie: ›Es gibt keine Kaste, wenn Männer Hunger auf… tarkeean haben.‹ Sie machen eine kleine Pause zwischen diesen Wörtern, ›auf… tarkeean‹. Das ist das ganze Geheimnis. Die kleine Pause zwischen den Wörtern.« Kim wiederholte den Testsatz. »So ist es richtig. Dann werde ich Ihnen meinen Türkis zeigen, wenn Zeit dazu ist, und dann wissen Sie, wer ich bin, und dann tauschen wir Ansichten und Dokumente und sowas alles aus. Und genauso geht es mit jedem anderen von uns. Manchmal reden wir von Türkisen und manchmal von tarkeean, aber immer mit dieser kleinen Pause zwischen den Wörtern. Es ist ganz einfach. Zuerst ›Sohn des Zaubers‹, wenn Sie in einer Klemme stecken. Vielleicht hilft Ihnen das – vielleicht auch nicht. Dann das, was ich Ihnen über das tarkeean erzählt habe, wenn Sie offizielle Transaktion mit einem Fremden machen wollen. Natürlich haben Sie im Augenblick keine offizielle Angelegenheit zu erledigen. Sie sind – ah ha! – Statist in Probezeit. Ganz einzigartiges Spezimen. Wenn Sie Asiat von Geburt wären, würde man Sie vielleicht sofort einstellen; aber dieses halbe Jahr Urlaub soll Sie entenglischisieren, verstehen Sie? Der Lama erwartet Sie, denn ich habe ihn demioffiziell informiert, daß Sie alle Examina bestanden haben und bald Regierungsanstellung erlangen. O ho! Sie beziehen Vergütung für Diensttuende, wissen Sie; wenn Sie also aufgefordert werden, Söhnen des Zaubers zu helfen, denken Sie dran, daß Sie es fein flugs versuchen. Jetzt sage ich Goodbye, mein Lieber, und ich hoffe, Sie – eh – kommen ganz hoch raus.« Hurree Babu trat einen oder zwei Schritte zurück in die Menge am Eingang zum Bahnhof von Lucknow und – war
verschwunden. Kim holte tief Luft und beglückwünschte sich gründlich. Den vernickelten Revolver konnte er in der Brust seiner dunklen Robe fühlen, das Amulett hing an seinem Hals; Bettelnapf, Rosenkranz und Geisterdolch (Mr. Lurgan hatte nichts vergessen) waren alle zur Hand, nebst Medizin, Malkasten und Kompaß, und in einer abgetragenen alten Geldkatze, bestickt mit Mustern wie Stachelschweinskiele, lag ein Monatssold. Könige konnten nicht reicher sein. Er kaufte Zuckerwerk in einem Blattbecher von einem Hinduhändler und aß es fröhlich und verzückt, bis ein Polizist ihn von den Stufen wies.
KAPITEL XI Give the man who is not made To his trade Swords to fling and catch again, Coins to ring and snatch again, Men to harm und cure again, Snakes to charm and lure again – He’ll be hurt by his own blade, By his serpents disobeyed, By his clumsiness betrayed, By the people mocked to scorn – So ‘tis not with juggler born! Pinch of dust or withered flower, Chance-flung fruit or borrowed staff, Serve his need and shore his power, Bind the spell, or loose the laugh! But a man who, etc. The Juggler’s Song, Op. 15. [Laß den Mann, der nicht gemacht ist für sein Werk, Schwerter schleudern und dann fangen, Münzen werfen und dann schnappen, Menschen härmen und dann heilen, Schlangen schmeicheln und dann locken – seine Klinge wird ihn ritzen seine Schlange nicht gehorchen, seine Plumpheit ihn verraten, und das Volk wird höhnend schmähen – nicht so beim gebornen Gaukler! Prise Staubs und welke Blume, fremder Stab, geworfne Frucht dienen ihm und seinem Zauber, bannen oder lösen Lachen! Aber einer der usw. ]
Es folgte eine jähe natürliche Reaktion. ›Jetzt bin ich allein – ganz allein‹, dachte er. ›In ganz Indien ist keiner so allein wie ich! Wenn ich heute sterbe – wer soll die Nachricht überbringen – und wem? Wenn ich lebe und Gott gut ist, wird ein Preis auf meinen Kopf gesetzt werden, denn ich bin ein Sohn des Zaubers – ich, Kim.‹ Einige sehr wenige Weiße, aber viele Asiaten können sich selbst in eine Art Taumel versetzen, indem sie ihren Namen immer und immer wieder wiederholen und den Geist freilassen zu Spekulationen über das, was man persönliche Identität nennt. Wenn man älter wird, verläßt diese Gabe einen gewöhnlich, aber solange sie anhält, mag sie einen jederzeit überkommen. ›Wer ist Kim – Kim – Kim?‹ Er hockte in einer Ecke des gellenden Warteraums, allen anderen Gedanken entrückt; die Hände im Schoß gefaltet und die Pupillen zu Nadelspitzen verengt. Er fühlte, in einer Minute – in einer weiteren halben Sekunde – würde er die Lösung des furchtbaren Rätsels erreichen; aber hier, wie es immer geschieht, fiel sein Geist aus diesen Höhen herab mit dem Sturzflug eines wunden Vogels, und er fuhr mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf. Ein langhaariger Hindu-bairagi [heiliger Mann], der eben eine Fahrkarte gekauft hatte, blieb in diesem Moment vor ihm stehen und starrte ihn eindringlich an. »Ich habe es auch verloren«, sagte er traurig. »Es ist eines der Tore zum Pfad, aber für mich ist es seit vielen Jahren verschlossen.« »Wovon sprichst du?« fragte Kim verlegen. »Du hast da in deinem Geiste begrübelt, welche Art von Ding deine Seele sein mag. Es hat dich jäh ergriffen. Ich weiß es. Wer sollte es denn besser wissen als ich? Wohin gehst du?« »Nach Kashi [Benares].«
»Dort gibt es keine Götter. Ich habe sie geprüft. Ich gehe nach Prayag [Allahabad], zum fünften Mal – die Straße zur Erleuchtung zu suchen. Welchen Glaubens bist du?« »Auch ich bin ein Sucher«, sagte Kim; er verwendete eines der Lieblings Wörter des Lamas. »Obwohl« – einen Moment lang vergaß er seine Kleidung aus dem Norden – »obwohl Allah allein weiß, was ich suche.« Der alte Mann schob die bairagi-Krücke in seine Achselhöhle und setzte sich auf einen Fetzen rötlichen Leopardenfells, während Kim aufstand, weil der Zug nach Benares ausgerufen wurde. »Geh in Hoffnung, kleiner Bruder«, sagte der Mann. »Es ist eine lange Straße zu den Füßen des Einen; aber dorthin reisen wir alle.« Kim fühlte sich danach nicht mehr so einsam, und noch ehe er zwanzig Meilen im überfüllten Abteil hinter sich hatte, erheiterte er seine Nachbarn mit einer Kette vom wundervollsten Garn über seine und seines Meisters magische Gaben. Benares erschien ihm als eine besonders schmutzige Stadt, wenn es auch angenehm war festzustellen, wie sehr man sein Gewand achtete. Wenigstens ein Drittel der Bevölkerung betet ewig zur einen oder anderen Gruppe der vielen Millionen Gottheiten und verehrt daher jede Art von heiligen Männern. Kim wurde zum Tempel der Tirthankars, etwa eine Meile außerhalb der Stadt, nahe Sarnath, von einem Punjabi-Bauern geführt, den er zufällig getroffen hatte – einem Kamboh aus der Gegend von Jullundur, der vergebens jeden Gott seiner Heimat angefleht hatte, seinen Sohn zu heilen, und der nun Benares als letzte Zuflucht versuchte. »Du bist aus dem Norden?« fragte er; mit den Schultern bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge der engen stinkenden Straßen, ganz wie sein Lieblingsstier zu Hause.
»Ja, ich kenne den Punjab. Meine Mutter war eine pahareeny aber mein Vater kam aus Amritsar – nahe Jandiala«, sagte Kim; er ölte seine geläufige Zunge bereits für die Bedürfnisse der Straße. »Jandiala – Jullundur? Oho! Dann sind wir ja beinahe Nachbarn, wie?« Zärtlich nickte er dem klagenden Kind in seinen. Armen zu. »Wem dienst du?« »Einem sehr heiligen Mann im Tempel der Tirthankars.« »Sie sind alle sehr heilig und… sehr gierig«, sagte der Jat bitter. »Ich habe die Säulen umwandert und die Tempel abgetreten, daß mir das Fell von den Füßen fällt, und dem Kind geht es kein bißchen besser. Und die Mutter ist auch noch krank… Schsch, schsch, mein Kleiner… Wir haben seinen Namen geändert, als das Fieber kam. Wir haben ihn in Mädchenkleider gesteckt. Nichts, was wir nicht getan hätten, außer… Ich habe seiner Mutter gesagt, als sie mich nach Benares gehetzt hat… ich habe ihr gesagt, Sakhi Sarwar Sultan wäre am besten für uns. Wir kennen Seine Großmut, aber diese Götter hier im Süden sind Fremde.« Das Kind drehte sich auf dem Kissen der mächtigen knotigen Arme herum und blickte Kim unter schweren Lidern an. »Und war alles nutzlos?« fragte Kim ruhig. »Alles nutzlos – alles nutzlos«, sagte das Kind, die Lippen rissig vom Fieber. »Wenigstens haben die Götter ihm einen guten Verstand gegeben«, sagte der Vater stolz. »Daß er so klug zugehört hat! Da drüben ist dein Tempel. Nun bin ich zwar ein armer Mann – viele Priester haben sich mit mir befaßt –, aber mein Sohn ist mein Sohn, und wenn ihn ein Geschenk an deinen Meister heilen kann… ich bin mit meinem Witz am Ende.« Kim überlegte eine Weile, prickelnd vor Stolz. Vor drei Jahren hätte er prompt Profit aus der Situation geschlagen und wäre dann gedankenlos seines Weges gegangen; aber allein die
Achtung, die der Jat ihm zollte, bewies ihm nun, daß er ein Mann war. Außerdem hatte er selbst schon ein- oder zweimal Fieber gekostet und wußte genug, um den Hungertod zu erkennen, wenn er ihn sah. »Ruf ihn heraus, und ich will ihm einen Schuldbrief über mein bestes Joch geben, damit das Kind geheilt wird.« Kim blieb vor der geschnitzten Außentür des Tempels stehen. Ein weißgekleideter Oswal-Bankier aus Ajmer, seine Sünden des Wuchers frisch getilgt, fragte ihn, was er wolle. »Ich bin chela von Teshoo Lama, einem Heiligen aus Bhotiyal – da drinnen. Er befahl mir zu kommen. Ich warte. Sag es ihm.« »Vergiß nicht das Kind«, rief ihm der zudringliche Jat über die Schulter zu, und dann brüllte er auf Punjabi: »O Heiliger – O Jünger des Heiligen – O Götter über allen Welten – sehet die Trübsal sitzen am Tor!« Dieser Schrei ist in Benares so gewöhnlich, daß die Vorübergehenden nicht einmal den Kopf wenden. Der Oswal, in Friede mit der Menschheit, trug die Botschaft ins rückwärtige Dunkel, und die gelassenen ungezählten Minuten des Ostens glitten vorüber; denn der Lama schlief in seiner Zelle, und kein Priester wollte ihn wecken. Als das Klicken seines Rosenkranzes erneut die Stille des inneren Hofs brach, wo die ruhigen Bilder der Arhats stehen, flüsterte ein Novize: »Dein chela ist da«, und der alte Mann vergaß das Ende dieses Gebets und schritt hinaus. Kaum zeigte sich die hohe Gestalt am Eingang, als der Jat auch schon zu ihm lief, das Kind hochhielt und rief: »Blick auf diesen, Heiliger; und wenn die Götter es wollen, wird er leben – leben!« Er suchte in seinem Leibgurt und zog eine kleine Silbermünze heraus.
»Was ist das?« Die Augen des Lamas wandten sich Kim zu. Schon die wenigen Wörter zeigten, daß er ein viel reineres Urdu sprach als vor langer Zeit, unter Zam-Zammah; aber der Vater wollte kein privates Gespräch zulassen. »Es ist nicht mehr als ein Fieber«, sagte Kim. »Das Kind ist nicht gut genährt.« »Ihm wird von allem übel, und seine Mutter ist nicht hier.« »Wenn es erlaubt ist, Heiliger, könnte ich ihn heilen.« »Was! Haben sie dich zum Heiler gemacht? Warte hier«, sagte der Lama und setzte sich neben dem Jat auf die unterste Stufe des Tempels, während Kim, der sie aus den Augenwinkeln beobachtete, langsam die kleine Beteldose öffnete. In der Schule hatte er sich träumerisch vorgestellt, er werde als ein Sahib zum Lama zurückkehren – den alten Mann necken, bevor er sich zu erkennen gäbe – lauter Jungenträume. Viel dramatischer war nun diese geistesabwesende Suche mit gerunzelter Stirn zwischen den Pillenflaschen, hier und da mit einer Pause des Überlegens und bisweilen einer gemurmelten Beschwörung. Chinin hatte er in Tablettenform, und dunkelbraune Fleischplättchen – Rindfleisch höchstwahrscheinlich, aber das war nicht sein Problem. Das kleine Ding wollte zwar nicht essen, aber es lutschte gierig an einem Plättchen und sagte, es schmecke fein nach Salz. »Dann nimm diese sechs.« Kim händigte sie dem Mann aus. »Preise die Götter und koch drei in Milch; die anderen drei in Wasser. Wenn er die Milch getrunken hat, gib ihm das« (es war die Hälfte einer Chinintablette) »und wickle ihn warm ein. Gib ihm das Wasser der drei anderen und dann die zweite Hälfte dieser weißen Pille, wenn er aufwacht. Und dann ist hier noch eine braune Medizin, die er auf dem Heimweg lutschen kann.« »Götter, welche Weisheit!« sagte der Kamboh; er schnappte danach.
Das war alles, woran Kim sich von seiner eigenen Behandlung bei einem Anfall von Herbstmalaria erinnern konnte – sieht man von dem Geplapper ab, das er zusetzte, um den Lama zu beeindrucken. »Nun geh! Komm am Morgen wieder.« »Aber der Preis – der Preis«, sagte der Jat, und er wölbte die Brust unter den starken Schultern vor. »Mein Sohn ist mein Sohn. Nun, da er wieder heil sein wird, wie kann ich da zu seiner Mutter zurückkehren und sagen, ich habe am Straßenrand Hilfe empfangen und nicht einmal eine Schale Quark dafür gegeben?« »Sie sind alle gleich, diese Jats«, sagte Kim sanft. »Der Jat stand auf seinem Dunghaufen, als des Königs Elefanten vorüberzogen. ›O Treiber‹, sagte er, ›für wieviel verkaufst du diese Eselchen?‹« Der Jat brach in brüllendes Gelächter aus, das er in Entschuldigungen gegenüber dem Lama erstickte. »So redet man in meiner Heimat – ganz genau so. So sind wir Jats alle. Ich werde morgen mit dem Kind kommen; und der Segen der Götter der Heimstätten – es sind gute kleine Götter – sei mit euch beiden… Jetzt, Sohn, werden wir wieder stark. Spuck es nicht aus, kleiner Fürst! König meines Herzens, spuck es nicht aus, und morgen früh werden wir starke Männer sein, Ringer und Keulenschwinger.« Summend und murmelnd ging er fort. Der Lama wandte sich zu Kim, und seine ganze liebevolle alte Seele blickte durch die schmalen Augen heraus. »Die Kranken heilen ist Verdienst erwerben; aber zuerst erwirbt man Wissen. Das war weise getan, o Freund der ganzen Welt.« »Durch dich wurde ich weise gemacht, Heiliger«, sagte Kim; dabei vergaß er das eben beendete kleine Spiel; vergaß St. Xavier; vergaß sein weißes Blut; vergaß sogar das Große Spiel,
als er sich nach Mohammedanerart vorbeugte, um die Füße seines Meisters im Staub des Jain-Tempels zu berühren. »Meine Belehrung danke ich dir. Drei Jahre lang habe ich dein Brot gegessen. Meine Zeit ist beendet. Ich bin aus den Schulen befreit. Ich komme zu dir.« »Darin ist mein Lohn. Tritt ein! Tritt ein! Und ist alles gut?« Sie gingen zum inneren Hof, in den die Nachmittagssonne eine goldene Böschung goß. »Bleib stehen, laß mich schauen. So!« Er spähte kritisch. »Es ist nicht länger ein Kind, sondern ein Mann, gereift in Weisheit, wandelnd als Arzt. Ich tat wohl – ich tat wohl, als ich dich in jener schwarzen Nacht den bewaffneten Männern überließ. Erinnerst du dich an unseren ersten Tag unter Zam-Zammah?« »Ja«, sagte Kim. »Erinnerst du dich, wie ich vom Wagen gesprungen bin, am ersten Tag, als ich eintrat in…« »Die Tore der Gelehrsamkeit? Aber ja. Und an den Tag, da wir hinter dem Fluß bei Nuckiao gemeinsam die Kuchen aßen. Aha! Viele Male hast du für mich gebettelt, aber an dem Tag bettelte ich für dich.« »Aus gutem Grund«, sagte Kim. »Damals war ich ein Schüler hinter den Toren der Gelehrsamkeit, und gekleidet wie ein Sahib. Vergiß nicht, Heiliger«, fuhr er scherzhaft fort, »daß ich immer noch ein Sahib bin – durch deine Gunst.« »Wahr. Und ein Sahib von höchstem Ansehen. Komm zu meiner Zelle, chela.« »Wie kannst du das wissen?« Der Lama lächelte. »Zuerst durch Briefe von dem gütigen Priester, den wir im Lager der bewaffneten Männer getroffen haben; aber er ist nun in sein eigenes Land gegangen, und ich habe das Geld an seinen Bruder geschickt.« Oberst Creighton, der die Treuhänderschaft übernommen hatte, als Pater Victor mit den Mavericks nach England ging, war kaum der Bruder des Kaplans. »Aber ich verstehe Sahib-Briefe nicht gut. Sie
müssen mir übersetzt werden. Ich wählte einen sicheren Weg. Viele Male, wenn ich von meiner Suche zu diesem Tempel heimkehrte, der mir stets ein Nest gewesen ist, kam einer, der Erleuchtung suchte – ein Mann aus Leh – der, wie er sagte, ein Hindu gewesen war, aber nun all dieser Götter überdrüssig.« Der Lama wies auf die Arhats. »Ein fetter Mann?« sagte Kim zwinkernd. »Sehr fett; aber ich fand bald heraus, daß sein Geist gänzlich den unnützen Dingen ergeben war – wie Teufeln und Zaubern und der Form und Weise unseres Teetrinkens in den Klöstern, und auf welche Art wir die Novizen einführen. Ein Mann, der von Fragen überfließt; aber er war dein Freund, chela. Er hat mir erzählt, du seist auf dem Weg zu großer Ehre als ein Schreiber. Und nun sehe ich, du bist ein Arzt.« »Ja, das bin ich – ein Schreiber, wenn ich ein Sahib bin, aber das wird abgelegt, wenn ich als dein Jünger komme. Ich habe die für einen Sahib festgesetzten Jahre vollendet.« »Gleich einem Novizen?« sagte der Lama; er nickte. »Bist du von den Schulen befreit? Ich möchte dich nicht unreif haben.« »Ich bin ganz frei. Zur vorgesehenen Zeit trete ich in den Dienst der Regierung, als Schreiber…« »Nicht als Krieger. Das ist gut.« »Aber zuerst komme ich um zu wandern – mit dir. Deshalb bin ich hier. Wer bettelt für dich in diesen Tagen?« fuhr er schnell fort. Das Eis war dünn. »Sehr oft bettle ich selbst; aber wie du weißt bin ich selten hier, außer wenn ich herkomme, um wieder nach meinem Jünger zu sehen. Von einem Ende Hinds zum anderen bin ich gereist, zu Fuß und im te-rain. Ein großes und ein wundervolles Land! Aber wenn ich hier einkehre, ist es, als wäre ich in meinem Bhotiyal.« Zufrieden blickte er in der kleinen sauberen Zelle umher. Ein niedriges Kissen diente ihm als Sitz, auf dem er sich
niedergelassen hatte mit gekreuzten Beinen in der Haltung des Bodhisat, der aus der Meditation auftaucht; ein schwarzer Teakholztisch, keine zwanzig Zoll hoch, besetzt mit kupfernen Teetassen, stand vor ihm. In einer Ecke stand ein kleiner Altar, ebenfalls aus reichgeschnitztem Teak; er trug ein Bildnis des sitzenden Buddha aus vergoldetem Kupfer. Vor diesem standen eine Lampe, ein Weihrauchgefäß und ein paar kupferne Blumentöpfe. »Der Hüter der Bildwerke im Wunder-Haus hat Verdienst erworben, indem er mir diese gab vor einem Jahr«, sagte der Lama; er folgte Kims Blick. »Wenn man fern ist vom eigenen Land, bergen solche Dinge das Erinnern; und wir müssen den HErrn ehren, da Er den Pfad gewiesen hat. Schau!« Er deutete auf einen seltsam geformten Hügel aus gefärbtem Reis, gekrönt von einem fantastischen Metallornament. »Als ich Abt war in meiner Heimat – bevor ich besseres Wissen erlangte –, habe ich diese Gabe täglich dargebracht. Es ist das Opfer des Universums an den HErrn. So opfern wir in Bhotiyal jeden Tag die Welt dem Vortrefflichen Gesetz. Und ich tue es auch jetzt noch, obwohl ich weiß, daß der Vortreffliche jenseits allen Zwickens und Tätschelns ist.« Er schnupfte aus seiner Dose. »Es ist wohlgetan, Heiliger«, murmelte Kim; er sank entspannt auf die Kissen, sehr glücklich und ziemlich müde. »Und außerdem« – der alte Mann gluckste – »schreibe ich Bilder vom Rad des Lebens. Drei Tage für ein Bild. Ich war damit beschäftigt – es kann auch sein, daß ich ein wenig die Augen geschlossen hatte –, als man mir deine Nachricht brachte. Es ist gut, dich hier zu haben: Ich will dir meine Kunst zeigen – nicht um des Stolzes willen, sondern weil du lernen mußt. Die Sahibs besitzen nicht alle Weisheit dieser Welt.« Unter dem Tisch zog er ein Blatt seltsam duftenden gelben chinesischen Papiers hervor, die Pinsel und einen kleinen
Block indischer Tinte. In reinstem strengsten Umriß hatte er das Große Rad gezeichnet mit seinen sechs Speichen, dessen Mittelpunkt die Verbindung von Schwein, Schlange und Taube ist (Unwissenheit, Zorn und Wollust) und dessen Unterteilungen alle Himmel und Höllen sind und alle Wechselfälle des menschlichen Lebens. Es heißt, der Bodhisat Selbst habe es als erster mit Reiskörnern in Staub gezeichnet, um Seine Jünger den Grund der Dinge zu lehren. Viele Menschenalter haben daraus eine ganz wunderbare Konvention kristallisiert, überfüllt mit Hunderten kleiner Gestalten, deren jede einzelne Linie eine Bedeutung birgt. Wenige können die Bildparabel übersetzen; in der ganzen Welt gibt es nicht einmal zwanzig, die sie ohne Vorlage treffend zeichnen können; und derer, die sie sowohl zeichnen als auch auslegen können, sind nur drei. »Ich habe ein wenig zeichnen gelernt«, sagte Kim. »Aber dies ist ein Wunder jenseits aller Wunder.« »Seit vielen Jahren schreibe ich es«, sagte der Lama. »Es gab eine Zeit, da ich alles zwischen einem Anzünden der Lampe und dem nächsten schreiben konnte. Ich will dich die Kunst lehren – nach geziemender Vorbereitung; und ich werde dir die Bedeutung des Rads zeigen.« »Wir werden also wieder auf der Straße sein?« »Auf der Straße und unserer Suche. Ich habe nur auf dich gewartet. Es ist mir in hundert Träumen klar bedeutet worden – vor allem in einem, der mir in jener Nacht kam, als die Tore der Gelehrsamkeit sich zum ersten Mal schlossen –, daß ich ohne dich meinen Fluß niemals finden kann. Wie du weißt, habe ich dies wieder und wieder von mir geschoben, da ich einen Trug befürchtete. Deshalb wollte ich dich nicht mit mir nehmen, an jenem Tag in Lucknow, als wir die Kuchen gegessen haben. Ich wollte dich nicht mitnehmen, bis die Zeit reif und verheißungsvoll war. Von den Bergen zur See, von der
See zu den Bergen bin ich gegangen, aber es war eitel. Dann entsann ich mich der Játaka.« Er erzählte Kim die Geschichte des Elefanten mit dem Beineisen, wie er sie so oft den Jain-Priestern erzählt hatte. »Weiteren Zeugnisses bedarf es nicht«, schloß er heiter. »Du bist als Hilfe gesandt worden. Als diese Hilfe entfernt war, führte meine Suche zu nichts. Deshalb werden wir zusammen wieder hinausgehen, dann ist unsere Suche gewiß.« »Wohin gehen wir?« »Was bedeutet es, Freund der ganzen Welt? Die Suche, sage ich, ist gewiß. Wenn es nötig ist, wird der Fluß vor uns aus dem Boden brechen. Ich habe Verdienst erworben, als ich dich zu den Toren der Gelehrsamkeit schickte und dir das Kleinod gab, das die Weisheit ist. Du bist zurückgekehrt, wie ich eben erst sah, als Nachfolger von Sakyamuni dem Arzt, dessen Altäre in Bhotiyal zahlreich sind. Es ist genug. Wir sind zusammen, und alle Dinge sind wie sie waren – Freund der ganzen Welt – Freund der Sterne – mein chela!« Dann sprachen sie von weltlichen Dingen; aber es war merkwürdig, daß der Lama nie nach Einzelheiten des Lebens in St. Xavier fragte noch die leiseste Wißbegier nach den Sitten und Gebräuchen der Sahibs zeigte. Sein Geist bewegte sich ganz in der Vergangenheit, und er rief jeden Schritt ihrer herrlichen ersten gemeinsamen Reise hervor, rieb sich die Hände und kicherte dazu, bis es ihm gefiel, sich im jähen Schlaf des hohen Alters zusammenzurollen. Kim beobachtete, wie der letzte staubige Sonnenschein aus dem Hof schwand, und spielte mit seinem Geisterdolch und dem Rosenkranz. Der Lärm von Benares, der ältesten aller Städte der Erde, Tag und Nacht den Göttern gegenüber wach, toste um die Mauern wie das Brüllen der See um einen Wellenbrecher. Hin und wieder überquerte ein Jain-Priester den Hof, mit einer kleinen Gabe für die Götterbilder, und fegte
seinen Pfad vor sich, damit er nicht durch Zufall das Leben eines Wesens nahm. Eine Lampe blinzelte, und es folgten die Laute eines Gebets. Kim sah den Sternen zu, wie sie einer nach dem anderen ins stille stickige Dunkel stiegen, bis er zu Füßen des Altars einschlief. In dieser Nacht träumte er auf Hindi, ohne ein einziges englisches Wort… »Heiliger, da ist noch das Kind, dem wir die Medizin gegeben haben«, sagte er gegen drei Uhr morgens, als der Lama, ebenfalls aus Träumen erwachend, zur Pilgerfahrt aufbrechen wollte. »Mit dem Tageslicht wird der Jat herkommen.« »Diese Antwort habe ich verdient. In meiner Hast hätte ich ein Unrecht getan.« Er setzte sich auf die Kissen und kehrte zu seinem Rosenkranz zurück. »Alte Menschen sind wahrlich wie Kinder«, sagte er feierlich. »Sie begehren etwas – sieh da, es muß sofort erfüllt werden, sonst grämen sie sich und weinen. Viele Male, wenn ich unterwegs war, bin ich bereit gewesen, wegen der Behinderung durch einen Ochsenkarren auf der Straße oder wegen einer bloßen Staubwolke mit dem Fuß zu stampfen. Es war nicht so, als ich ein Mann war – vor langer Zeit. Trotzdem ist es ungerecht…« »Aber du bist doch wirklich alt, Heiliger.« »Das Ding ist geschehen. Eine Ursache wurde in die Welt gesetzt, und alt oder jung, siech oder gesund, wissend oder unwissend, wer kann denn die Auswirkung dieser Ursache zügeln? Steht denn das Rad still, wenn ein Kind es dreht – oder ein Trunkener? Chela, dies ist eine große und schreckliche Welt.« »Ich finde sie gut.« Kim gähnte. »Was gibt es hier zu essen? Ich habe seit gestern nachmittag nichts gegessen.« »Ich hatte deine Bedürfnisse vergessen. Dort sind guter Bhotiyal-Tee und kalter Reis.«
»Auf so etwas können wir nicht weit gehen.« Kim verspürte die ganze Gier des Europäers nach Fleisch, das in einem JainTempel nicht zu bekommen ist. Dennoch blieb er, statt gleich mit seiner Bettelschale hinauszugehen, und hielt seinen Magen mit kalten Reisklumpen hin, bis die völlige Dämmerung kam. Diese brachte den Bauern, redselig, stotternd vor Dankbarkeit. »In der Nacht ist das Fieber gebrochen und der Schweiß gekommen«, rief er. »Da, fühl – seine Haut ist frisch und neu! Die Salzplättchen hat er gemocht, und die Milch hat er gierig getrunken.« Er zog das Tuch vom Gesicht des Kinds, und es lächelte Kim verschlafen an. Ein kleiner Knäuel von JainPriestern, schweigsam, aber alles beobachtend, sammelte sich am Tempeltor. Sie wußten, und Kim wußte, daß sie wußten, wie der alte Lama seinem Jünger begegnet war. Da sie höflich waren, hatten sie sich nachts weder durch Anwesenheit noch Wort noch Geste aufgedrängt. Wofür Kim sie entschädigte, als die Sonne aufging. »Danke den Göttern der Jains, Bruder«, sagte er; er wußte nicht, wie diese Götter hießen. »Das Fieber ist wirklich gebrochen.« »Schaut! Seht!« Im Hintergrund strahlte der Lama seine Gastgeber der letzten drei Jahre an. »Gab es je solch einen chela? Er folgt unserem HErrn dem Heiler.« Nun erkennen die Jains zwar offiziell alle Götter des Hinduismus an, ebenso den Lingam und die Schlange. Sie tragen die Brahmanenschnur; sie halten sich fest an alle Kastenvorschriften der Hindus. Aber da sie den Lama kannten und liebten, da er ein alter Mann war, da er den Pfad suchte, da er ihr Gast war und da er nächtelang mit dem Oberpriester disputiert hatte – einem so freidenkerischen Metaphysiker, wie nur je einer ein Haar in siebzig Teile gespalten hat –, murmelten sie ihre Zustimmung.
»Vergiß nicht« – Kim beugte sich über das Kind –, »dieses Übel kann wiederkehren.« »Nicht, wenn du den richtigen Spruch kennst«, sagte der Vater. »Aber wir gehen sehr bald fort.« »Es ist wahr«, sagte der Lama zu allen Jains. »Wir gehen nun gemeinsam auf die Suche, von der ich so oft gesprochen habe. Ich habe gewartet, bis mein chela reif war. Schaut ihn an. Wir gehen nach Norden. Nie wieder werde ich diesen Ort meiner Ruhe beschauen, o ihr Männer guten Willens.« »Aber ich bin kein Bettler.« Der Landwirt sprang auf, das Kind in den Armen. »Sei still. Störe den Heiligen nicht«, rief ein Priester. »Geh«, flüsterte Kim. »Wir treffen uns unter der großen Eisenbahnbrücke, und um aller Götter unseres Punjab willen, bring Essen mit – Curry, Gemüse, in Fett gebackene Kuchen und Zuckerwerk. Vor allem Zuckerwerk. Beeil dich!« Die Blässe des Hungers kleidete Kim gut, als er dastand, groß und schmächtig, in seinen dunklen schleppenden Gewändern, eine Hand auf seinem Rosenkranz und die andere zum Segen erhoben in einer Haltung, die er dem Lama getreulich abgeschaut hatte. Ein englischer Beobachter hätte sagen können, er gleiche sehr dem jungen Heiligen eines bunten Kirchenfensters; dabei war er nur ein Halbwüchsiger, halb ohnmächtig vor Hunger. Lang und förmlich waren die Abschiede, dreimal beendet und dreimal neubegonnen. Der Sucher – er, der den Lama vom fernen Tibet her zu diesem Zufluchtsort geladen hatte, ein silbergesichtiger haarloser Asket – nahm nicht daran teil, sondern meditierte, wie immer, allein zwischen den Götterbildern. Die anderen waren ganz irdisch; sie drängten dem alten Mann kleine Gaben auf – eine Beteldose, einen feinen neuen
Federkasten aus Eisen, einen Proviantbeutel und dergleichen –, warnten ihn vor den Gefahren der Welt draußen und prophezeiten ein glückliches Ende der Suche. Kim, einsamer denn je, hockte währenddessen auf den Stufen und fluchte in der Sprache von St. Xavier vor sich hin. »Aber das ist mein eigener Fehler«, schloß er. »Bei Mahbub hab ich Mahbubs Brot gegessen, oder das von Lurgan Sahib. In St. Xavier drei Mahlzeiten am Tag. Hier muß ich verdammt für mich selbst sorgen. Außerdem bin ich nicht gut im Training. Als ob ich im Moment nen Teller mit Rindfleisch essen könnte!… Ist es zu Ende, Heiliger?« Der Lama hatte beide Hände erhoben und intonierte einen letzten Segen in prunkvollem Chinesisch. »Ich muß mich auf deine Schulter stützen«, sagte er, als die Tempeltore sich schlossen. »Wir werden steif, glaube ich.« Es ist nicht leicht, das Gewicht eines sechs Fuß großen Mannes durch Meilen überfüllter Straßen zu stützen, und Kim, beladen mit Bündeln und Packen für die Reise, war froh, als sie den Schatten der Eisenbahnbrücke erreichten. »Hier essen wir«, sagte er entschieden, als der Kamboh in Sicht kam, blaugewandet und lächelnd, einen Korb in der einen Hand und das Kind auf der anderen. »Greift zu, ihr Heiligen!« rief er aus fünfzig Yards Entfernung. (Sie standen am flachen Ufer unter dem ersten Brückenbogen, außer Sichtweite hungriger Priester.) »Reis und gutes Curry, Kuchen, ganz warm und gut mit hing [Asa foetida] gewürzt, Quark und Zucker. König meiner Felder« – das zu seinem kleinen Sohn –, »wir wollen diesen heiligen Männern zeigen, daß wir Jats aus Jullundur einen Dienst belohnen können… Ich hatte gehört, daß die Jains nie etwas essen, was sie nicht selbst gekocht haben, aber« – er blickte höflich weg über den breiten Strom – »wo kein Auge ist, da ist auch keine Kaste.«
»Und wir«, sagte Kim, wobei er ihm den Rücken zuwandte und einen Blatt-Teller für den Lama überhäufte, »sind jenseits aller Kasten.« Schweigend stopften sie sich voll mit dem guten Essen. Erst als er die letzten Reste klebrigen Zuckerwerks von seinem kleinen Finger geleckt hatte, bemerkte Kim, daß auch der Kamboh zur Reise gegürtet war. »Wenn unsere Wege die gleichen sind«, sagte er rauh, »gehe ich mit euch. Man findet nicht oft einen, der Wunder wirkt, und das Kind ist noch schwach. Aber ich bin kein schwaches Rohr.« Er nahm seinen latbi auf – einen fünf Fuß langen männlichen Bambus, besetzt mit Ringen aus poliertem Eisen – und schwenkte ihn in der Luft. »Die Jats sollen streitsüchtig sein, aber das stimmt nicht. Außer wenn man uns in die Quere kommt, sind wir wie unsere Büffel.« »So sei es«, sagte Kim. »Ein guter Stock ist ein guter Grund.« Der Lama schaute mild stromaufwärts, wo in langem rußigen Perspektiv nie abreißende Rauchsäulen aus den Brenn-Ghats am Fluß aufstiegen. Trotz aller behördlichen Vorschriften tanzte hin und wieder der Rest eines halbverbrannten Leichnams auf der kraftvollen Strömung vorüber. »Ohne dich«, sagte der Kamboh zu Kim, wobei er das Kind an seine behaarte Brust zog, »wäre ich heute vielleicht dorthin gegangen – mit ihm hier. Die Priester sagen uns, daß Benares heilig ist – woran keiner zweifelt – und ein erstrebenswerter Ort, um zu sterben. Aber ich kenne die Götter nicht, und sie verlangen Geld; und wenn man ein Gebet verrichtet hat, sagt einem der nächste Kahlkopf, alles sei unwirksam, außer, man verrichtet ein zweites. Wasch dich hier! Wasch dich da! Begieß dich, trink, bade und streu Blumen aus – aber bezahl immer die Priester. Nein, für mich der Punjab, und die Scholle des Jullundur-doah als bester Boden dort.«
»Ich habe es oft gesagt – im Tempel, glaube ich –, daß der Fluß, wenn es sein muß, sich zu unseren Füßen auftun wird. Deshalb werden wir nach Norden gehen«, sagte der Lama; er stand auf. »Ich entsinne mich eines angenehmen Orts, umgeben von Obstbäumen, wo man in Meditation wandeln kann – und dort ist die Luft kühler. Sie kommt aus den Bergen und vom Schnee der Berge.« »Wie heißt der Ort?« sagte Kim. »Wie kann ich das wissen? Bist du denn nicht – nein, das war, nachdem die Armee aus dem Boden wuchs und dich mitnahm. Ich habe dort in Meditation gelebt, in einem Raum gegenüber dem Taubenschlag – außer, wenn sie ewig geredet hat.« »Oho! Die Frau aus Kulu. Das ist bei Saharanpur.« Kim lachte. »Wie bewegt der Geist deinen Meister? Geht er zu Fuß, wegen vergangener Sünden?« fragte der Jat vorsichtig. »Bis Delhi ist es weit.« »Nein«, sagte Kim. »Ich werde ein tikkut für den te-rain erbetteln.« In Indien bekennt man sich nicht zum Besitz von Geld. »Dann laß uns, im Namen der Götter, den Feuerwagen nehmen. Mein Sohn ist am besten in den Armen seiner Mutter aufgehoben. Die Regierung hat viele Steuern über uns gebracht, aber sie gibt uns ein Gutes – den te-rain, der Freunde verbindet und Sehnende vereint. Ein wundervolles Ding ist der te-rain.« Ein paar Stunden später drängten sie sich alle hinein und schliefen während der Hitze des Tages. Der Kamboh plagte Kim mit zehntausend Fragen über des Lamas Tun und Treiben im Leben und erhielt einige merkwürdige Antworten. Kim war zufrieden, zu sein, wo er war, auf die flache Landschaft des Nordwestens hinauszuschauen und mit der wechselnden Schar
von Mitreisenden zu reden. Indischen Landleuten sind noch heute Fahrkarten und Fahrkartenknipsen düstere Bedrückung. Sie verstehen nicht, wieso, wenn sie Geld für ein magisches Stück Papier bezahlt haben, Fremde große Stücke aus dem Zauber herausknipsen müssen. Deshalb gibt es lange und wütende Debatten zwischen Reisenden und eurasischen Schaffnern. Bei zwei oder drei Streitigkeiten gab Kim feierliche Ratschläge, mit dem Ziel, das Geheimnis weiter zu verfinstern und vor dem Lama und dem bewundernden Kamboh mit seiner Weisheit anzugeben. Aber bei Somna Road sandten die Faten ihm etwas zum Nachdenken. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, taumelte ein kleiner, hagerer, gewöhnlicher Mann ins Abteil – ein Mahratta, soweit Kim das nach der Art beurteilen konnte, wie er den engen Turban aufgesetzt hatte. Sein Gesicht war zerschnitten, das Obergewand aus Musselin arg zerrissen, und ein Bein war verbunden. Er erzählte ihnen, ein Landkarren sei umgestürzt und habe ihn fast erschlagen; nun fahre er nach Delhi, wo sein Sohn wohne. Kim beobachtete ihn aufmerksam. Wenn er, wie er behauptete, auf dem Boden herumgerollt und geschleift worden wäre, hätte die Haut aufgeschrammt sein müssen. Aber all seine Verletzungen schienen saubere Schnitte zu sein, und ein bloßer Sturz vom Wagen konnte einen nicht derart in Schrecken versetzen. Als er mit zitternden Fingern das zerrissene Tuch an seinem Hals verknotete, entblößte er ein Amulett von der Art, die man Herz-Erheber nennt. Nun sind Amulette sehr verbreitet; man zieht sie aber normalerweise nicht auf plattierten Kupferdraht, und noch seltener sind Amulette mit schwarzer Emaille auf Silber. Außer dem Kamboh und dem Lama war niemand im Abteil, das zum Glück von der alten Art und abgeschlossen war. Kim tat, als wolle er sich die Brust kratzen, und dabei hob er sein eigenes Amulett. Das Gesicht des Mahratta änderte sich bei dem
Anblick vollkommen, und er legte sein Amulett frei auf die Brust. »Ja«, fuhr er fort, zu dem Kamboh gewandt, »ich war in Eile, und der Wagen, gefahren von einem Bastard, ist mit dem Rad in einen Wassergraben gesprungen, und abgesehen von dem Schaden, der mir zugefügt wurde, ist auch noch eine ganze Schüssel voll tarkeean verloren gegangen. An diesem Tag war ich kein Sohn des Zaubers [glücklicher Mann].« »Das war ein großer Verlust«, sagte der Kamboh; er mäßigte sein Interesse. Seine Erfahrungen in Benares hatten ihn mißtrauisch gemacht. »Wer hatte es gekocht?« sagte Kim. »Eine Frau.« Der Mahratta hob die Augen. »Aber alle Frauen können doch tarkeean kochen«, sagte der Kamboh. »Es ist ein gutes Currygericht, wie ich wohl weiß.« »O ja, das ist gutes Curry«, sagte der Mahratta. »Und billig«, sagte Kim. »Aber wie steht es mit der Kaste?« »Ach, es gibt keine Kaste, wenn Männer Hunger auf… tarkeean haben«, erwiderte der Mahratta, in der vorgeschriebenen Kadenz. »In wessen Dienst stehst du?« »Im Dienst dieses Heiligen.« Kim deutete auf den glücklichen, schläfrigen Lama, der bei dem geliebten Wort mit einem Ruck erwachte. »Ah, er wurde vom Himmel geschickt, um mir zu helfen. Man nennt ihn Freund der ganzen Welt. Er heißt auch Freund der Sterne. Er wandelt als Arzt – nun, da seine Zeit reif ist. Groß ist seine Weisheit.« »Und ein Sohn des Zaubers«, sagte Kim halblaut, während der Kamboh hastig eine Pfeife stopfte, aus Angst, der Mahratta könnte ihn anbetteln. »Und wer ist das?« fragte der Mahratta mit einem nervösen Seitenblick.
»Einer, dessen Kind ich… wir geheilt haben, er ist uns gegenüber in großer Schuld. – Setz dich ans Fenster, Mann aus Jullundur. Hier ist ein Kranker.« »Humph! Ich habe keine Lust, mich mit hergelaufenen Taugenichtsen abzugeben. Meine Ohren sind nicht lang. Ich bin doch keine Frau, die Geheimnisse belauschen will.« Schwerfällig rutschte der Jat in eine entfernte Ecke. »Bist du so etwas wie ein Heiler? Ich stecke zehn Meilen tief in Ungemach«, rief der Mahratta, der das Stichwort aufgriff. »Dieser Mann ist ganz zerschnitten und zerschunden. Ich werde ihn heilen«, stellte Kim fest. »Niemand hat sich zwischen dein Kind und mich gedrängt.« »Ich verdiene Tadel«, sagte der Kamboh demütig. »Ich bin dein Schuldner um das Leben meines Sohns. Du bist ein Wunderwirker – ich weiß es.« »Zeig mir die Schnitte.« Kim beugte sich über den Hals des Mahratta; dabei erstickte er fast am Klopfen seines Herzens, denn dies war wirklich das Große Spiel. »Jetzt erzähl schnell deine Geschichte, während ich einen Zauberspruch sage.« »Ich komme aus dem Süden, wo ich etwas zu erledigen hatte. Einen von uns haben sie am Wegesrand getötet. Hast du davon gehört?« Kim schüttelte den Kopf. Natürlich wußte er nichts vom Vorgänger von E.23, der unten im Süden in der Kleidung eines arabischen Händlers getötet worden war. »Nachdem ich einen bestimmten Brief gefunden hatte, den zu suchen ich geschickt wurde, bin ich geflohen. Ich bin aus der Stadt entkommen und nach Mhow gelaufen. Ich war so sicher, daß keiner etwas weiß, daß ich mein Gesicht nicht verändert habe. In Mhow hat eine Frau mich angeklagt, wegen Geschmeidediebstahls in der Stadt, die ich eben verlassen hatte. Da wußte ich, daß sie hinter mir her waren. In der Nacht bin ich aus Mhow geflohen; ich habe die Polizei bestochen, die schon bestochen worden war, um mich ohne weitere Fragen
meinen Feinden im Süden auszuhändigen. Dann habe ich eine Woche in der alten Stadt Chitor gelegen, als Bußfertiger in einem Tempel, aber ich konnte den Brief nicht loswerden, der mir anvertraut war. Ich habe ihn in Chitor unter dem Stein der Königin vergraben, an der Stelle, die wir alle kennen.« Kim kannte sie nicht, aber um nichts in der Welt hätte er den Faden der Erzählung unterbrochen. »In Chitor, weißt du, war ich ja ganz im Land von Königen; denn Kota im Osten liegt außerhalb des Gesetzes der Königin, und noch weiter östlich liegen Jaipur und Gwalior. Beide mögen Spione nicht, und es gibt dort keine Gerechtigkeit. Ich wurde gejagt wie ein nasser Schakal; aber in Bandakui bin ich ausgebrochen, als ich hörte, daß in der Stadt, die ich verlassen hatte, gegen mich eine Mordklage bestand – Mord an einem Jungen. Sie haben eine Leiche, und sie haben Zeugen, die warten.« »Aber kann die Regierung dich nicht schützen?« »Wir vom Spiel sind außerhalb allen Schutzes. Wenn wir sterben, sterben wir. Unsere Namen werden aus dem Buch getilgt. Das ist alles. In Bandakui, wo einer von uns lebt, wollte ich die Spur verwischen, indem ich das Gesicht wechselte, und deshalb habe ich einen Mahratta aus mir gemacht. Dann kam ich nach Agra und wollte eigentlich zurück nach Chitor, um den Brief zu holen. So sicher war ich, daß ich ihnen entkommen war. Deshalb habe ich keinem ein tar [Telegramm] geschickt, um zu sagen, wo der Brief liegt. Ich wollte alle Ehre für mich haben.« Kim nickte. Das Gefühl konnte er gut verstehen. »Aber als ich in Agra über die Straße ging, hat ein Mann eine Schuld ausgerufen, die ich bei ihm hätte; er ist mit vielen Zeugen gekommen und wollte mich sofort vor Gericht zerren. Oh, sie sind schlau da im Süden! Er hat mich als seinen
Baumwollagenten erkannt. Möge er dafür in der Hölle brennen!« »Und warst du sein Baumwollagent?« »Narr! Ich war der Mann, den sie wegen der Sache mit dem Brief suchten! Ich bin ins Fleischerviertel gerannt und beim Haus des Juden herausgekommen, der Angst vor einem Auflauf hatte und mich fortjagte. Zu Fuß bin ich nach Somna Road gekommen – ich hatte nur Geld für mein tikkut nach Delhi –, und während ich da mit Fieber in einem Graben lag, ist einer aus den Büschen gesprungen und hat mich geschlagen und geschnitten und von Kopf bis Fuß untersucht. Ganz dicht beim te-rain war das!« »Warum hat er dich denn nicht einfach getötet?« »So verrückt sind sie nicht. Wenn ich auf Veranlassung von Anwälten in Delhi wegen einer nachgewiesenen Mordanklage festgenommen werde, wird mein Körper dem Staat ausgehändigt, der ihn haben will. Ich werde unter Bewachung hingebracht, und dann – sterbe ich langsam, als Beispiel für die anderen von Uns. Der Süden ist nicht mein Land. Ich renne im Kreis herum – wie ein einäugiger Ziegenbock. Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen. Ich bin gezeichnet«, – er berührte die schmierige Bandage an seinem Bein – »damit sie mich in Delhi erkennen können.« »Wenigstens im te-rain bist du sicher.« »Mach ein Jahr im Großen Spiel mit und erzähl es mir dann nochmal! In Delhi werden schon die Telegramme gegen mich angekommen sein, in denen jeder einzelne Riß und Fetzen an mir beschrieben ist. Zwanzig – hundert, wenn es sein muß – werden gesehen haben, wie ich diesen Jungen umgebracht habe. Und du kannst nichts tun!« Kim wußte genug über einheimische Methoden des Angriffs, um nicht zu bezweifeln, daß die Anklage tödlich vollkommen sein würde – bis hin zum Leichnam. Von Zeit zu Zeit zuckten
die Finger des Mahratta vor Schmerz. In seiner Ecke stierte der Kamboh verdrossen; der Lama war mit seinen Perlen beschäftigt; und Kim betastete wie ein Arzt den Hals des Mannes und dachte sich zwischen Beschwörungen seinen Plan aus. »Hast du einen Zauber, um meine Gestalt zu verändern? Sonst bin ich tot. Fünf… zehn Minuten allein, wenn ich nicht so gehetzt gewesen wäre, und vielleicht hätte ich…« »Ist er noch nicht geheilt, Wunderwirker?« sagte der Kamboh eifersüchtig. »Du hast lange genug gesungen.« »Nein. Es gibt keine Heilung für seine Verletzungen, wie ich es sehe, außer, er sitzt drei Tage lang im Gewand eines bairagi still.« Dies ist eine übliche Buße, wie sie oft einem fetten Händler von seinem geistlichen Lehrer auferlegt wird. »Ein Priester will immer einen anderen Priester machen«, war die Antwort. Wie die meisten plump abergläubischen Leute konnte es der Kamboh sich nicht verkneifen, seine Kirche zu verspotten. »Wird dein Sohn dann Priester werden? Es ist Zeit für ihn, daß er noch etwas von meinem Chinin nimmt.« »Wir Jats sind sämtlich Büffel«, sagte der Kamboh; er wurde wieder kleinlaut. Kim rieb eine Fingerspitze Bitternis auf die vertrauensvollen kleinen Lippen des Kindes. »Ich habe um nichts gebeten«, sagte er streng zum Vater, »außer um Essen. Gönnst du mir das nicht einmal? Ich will einen anderen heilen. Habe ich deine Erlaubnis – Fürst?« Die riesigen Pranken des Mannes flogen flehend empor. »Nein – nein. Verhöhne mich nicht so.« »Es beliebt mir, diesen Kranken zu heilen. Du wirst Verdienst erwerben, indem du hilfst. Welche Farbe hat die Asche in deinem Pfeifenkopf? Weiß. Das ist glückverheißend. Hattest du vielleicht rohe Kurkuma bei deinen Vorräten?«
»Ich… ich…« »Öffne dein Bündel!« Es war die übliche Sammlung von kleinem Krimskrams: Tuchfetzen, Quacksalber-Arzneien, billige Jahrmarktsgeschenke, ein Tuch voll atta – gräuliches, grobgemahlenes Mehl der Einheimischen –, Röllchen Bauerntabak, kitschige Pfeifenstiele und ein Päckchen CurryZubehör, alles gewickelt in eine Steppdecke. Kim durchsuchte es mit der Miene eines weisen Hexers und murmelte dabei eine mohammedanische Beschwörung. »Das ist Weisheit, die ich von den Sahibs gelernt habe«, flüsterte er dem Lama zu; und wenn man an sein Training bei Lurgan denkt, sagte er damit nichts als die Wahrheit. »Im Geschick dieses Mannes gibt es ein großes Übel, wie die Sterne zeigen, und es… es bedrückt ihn. Soll ich es ihm nehmen?« »Freund der Sterne, du hast in allem wohlgetan. Tu, wie es dir beliebt. Ist dies eine weitere Heilung?« »Schnell! Mach schnell!« ächzte der Mahratta. »Der Zug könnte halten.« »Eine Heilung gegen den Schatten des Todes«, sagte Kim; er mischte das Mehl des Kamboh mit der vermengten Holzkohlen- und Tabakasche aus dem roten, irdenen Pfeifenkopf. E.23 streifte ohne ein Wort seinen Turban ab und schüttelte sein langes schwarzes Haar aus. »Das ist mein Essen – Priester«, knurrte der Jat. »Ein Büffel im Tempel! Hast du etwa gewagt, bis jetzt zuzuschauen?« sagte Kim. »Ich muß heilige Handlungen vor Narren durchführen; aber hüte deine Augen. Ist schon ein Schleier vor ihnen? Ich rette dein Kind, und du, zum Dank… oh, schamlos!« Vor dem direkten Blick zuckte der Mann zurück, denn Kim sprach in vollem Ernst. »Soll ich dich verfluchen, oder soll ich…« Er nahm das äußere Tuch des
Bündels und warf es über den gesenkten Kopf. »Wage es, auch nur zu denken, daß du sehen möchtest, und… und… nicht einmal ich kann dich dann noch retten. Sitz still! Sei stumm!« »Ich bin blind… stumm. Verfluch mich nicht! Ko… komm, Kind; wir spielen ein wenig Verstecken. Um meinetwillen, schau nicht unter dem Tuch heraus.« »Ich sehe Hoffnung«, sagte E.23. »Was ist dein Plan?« »Das kommt als nächstes«, sagte Kim; er zupfte am dünnen Leibhemd. E.23 zögerte, mit der ganzen Abneigung des Nordwestlers gegen die Entblößung seines Körpers. »Was ist die Kaste, wenn es ans Kehlenschlitzen geht?« sagte Kim; er zerriß das Hemd bis zur Hüfte. »Wir müssen einen gelben saddhu aus dir machen, ganz. Zieh dich aus – zieh dich schnell aus, und schüttle das Haar über deine Augen, während ich die Asche verstreue. Jetzt ein Kastenzeichen auf deine Stirn.« Aus seinem Brustgewand zog er den kleinen Malkasten des Amts heraus und ein Plättchen Karmesinlack. »Bist du wirklich ein Anfänger?« sagte E.23; er rang buchstäblich ums liebe Leben, als er aus seinen Körperhüllen schlüpfte und nackt nur noch im Hüfttuch stand, während Kim ein vornehmes Kastenzeichen auf die aschebeschmierte Stirn kleckste. »Erst vor zwei Tagen ins Spiel aufgenommen, Bruder«, antwortete Kim. »Schmier mehr Asche auf deine Brust.« »Hast du einen… Arzt für kranke Perlen getroffen?« Er peitschte sein langes, dichtgerolltes Turbantuch auf, und mit sehr flinken Händen wickelte er es über, unter und um seine Lenden in die verschlungenen Muster eines saddhu-Gürtels. »Hah! Du erkennst also seine Hand? Er war mein Lehrer, eine Weile lang. Wir müssen deine Beine mit Streifen versehen. Asche heilt Wunden. Beschmier sie nochmal.« »Ich war einmal sein Stolz, aber du bist fast noch besser. Die Götter sind freundlich zu uns! Gib mir das.«
Es war eine Blechdose mit Opiumpillen unter dem Kram im Bündel des Jats. E.23 schlang eine halbe Handvoll hinunter. »Sie sind gut gegen Hunger, Furcht und Kälte. Außerdem machen sie die Augen rot«, erklärte er. »Nun habe ich genug Herz, um das Spiel zu spielen. Jetzt fehlen nur die Zangen eines saddhu. Was wird mit den alten Kleidern?« Kim rollte sie eng zusammen und stopfte sie in die losen Falten seines Gewands. Mit einem Plättchen gelber Ockerfarbe beschmierte er Beine und Brust, große Striemen auf dem Hintergrund von Mehl, Asche und Kurkuma. »Das Blut daran reicht aus, um dich zu hängen, Bruder.« »Vielleicht; aber trotzdem muß man sie nicht aus dem Fenster werfen… Es ist vollendet.« Seine Stimme bebte in der schlichten jungenhaften Lust am Spiel. »Dreh dich um und schau, o Jat!« »Die Götter mögen uns schützen«, sagte der Kamboh, der aus seinem Überwurf auftauchte wie ein Büffel aus dem Ried. »Aber… wohin ist der Mahratta gegangen? Was hast du getan?« Kim war von Lurgan Sahib ausgebildet worden; und E.23 war dank seiner Tätigkeit kein schlechter Schauspieler. Statt des zitternden verschreckten Händlers rekelte sich in der Ecke ein fast vollständig nackter, aschebeschmierter, ockerstriemiger, staubhaariger saddhu, die geschwollenen Augen – Opium wirkt sehr schnell auf leeren Magen – leuchtend von Unverschämtheit und tierischer Gier, die Beine unter dem Körper gekreuzt, Kims braunen Rosenkranz um den Hals und einen knappen Yard abgenutzten, beblümten Möbelkattun um die Schultern. Das Kind vergrub das Gesicht in den Armen des fassungslosen Vaters. »Schau auf, kleiner Fürst! Wir reisen mit Hexern, aber sie werden dir nichts tun. Ach, nun weine nicht… Welchen Sinn
hat es, ein Kind an einem Tag zu heilen und es am nächsten zu Tode zu erschrecken?« »Das Kind wird in seinem ganzen Leben Glück haben. Es hat eine große Heilung gesehen. Als ich ein Kind war, habe ich Menschen und Pferde aus Lehm gemacht.« »Das habe ich auch schon gemacht. Sir Banas kommt in der Nacht und macht sie alle lebendig, hinter unserem Küchenabfall«, piepste das Kind. »Und deshalb hast du vor überhaupt nichts Angst. Eh, kleiner Fürst?« »Ich hatte Angst, weil mein Vater Angst hatte. Ich habe gespürt, wie seine Arme zitterten.« »O Küken-Mann!« sagte Kim, und sogar der verlegene Jat lachte. »Ich habe an diesem armen Händler eine Heilung vorgenommen. Er muß seine Gewinne und seine Rechnungsbücher fahren lassen und am Wegesrand sitzen, drei Nächte lang, um die Böswilligkeit seiner Feinde zu überwinden. Die Sterne sind gegen ihn.« »Je weniger Geldverleiher, um so besser, sage ich; aber ob saddhu oder kein saddhu, er sollte für meinen Stoff auf seiner Schulter zahlen.« »So? Aber das auf deiner Schulter ist dein Kind – vor nicht einmal zwei Tagen dem Brenn-Ghat übergeben. Noch eines, was zu erwähnen ist. Ich habe diesen Zauber in deiner Gegenwart getan, weil die Not groß war. Ich habe seine Gestalt und seine Seele verändert. Trotzdem – wenn du dich durch irgendeinen Zufall, o Mann aus Jullundur, an das erinnerst, was du gesehen hast, sei es, wenn du mit den Ältesten unter dem Dorfbaum sitzt oder in deinem eigenen Haus, oder in Gegenwart deines Priesters, wenn er dein Vieh segnet, dann wird eine Seuche über deine Büffel kommen und ein Feuer in dein Dach, und Ratten in deinen Kornkasten, und der Fluch unserer Götter über deine Felder, daß sie vor deinen Füßen und
hinter deiner Pflugschar unfruchtbar sind.« Das war Teil eines alten Fluchs, den Kim in den Tagen seiner Unschuld am Taksali-Tor von einem Fakir aufgeschnappt hatte. Er wurde nicht schwächer durch Wiederholung. »Halt ein, Heiliger! Hör auf, aus Gnade!« rief der Jat. »Leg keinen Fluch auf den Haushalt. Ich habe nichts gesehen! Ich habe nichts gehört! Ich bin deine Kuh!« und er streckte die Hand nach Kims nacktem Fuß aus; dabei schlug er rhythmisch auf den Boden des Wagens. »Aber da es dir gestattet war, mir mit einer Prise Mehl und ein wenig Opium zu helfen, und anderen Kleinigkeiten, die ich durch Verwendung bei meiner Kunst geehrt habe, werden die Götter es mit einem Segen vergelten«, und zur ungeheuren Erleichterung des Mannes erteilte er diesen ausgiebig. Es war einer, den er von Lurgan Sahib gelernt hatte. Der Lama starrte verwunderter durch seine Brille, als er dies bei der Verkleidungsaktion getan hatte. »Freund der Sterne«, sagte er schließlich. »Du hast große Weisheit erworben. Hüte dich, daß sie nicht Stolz gebiert. Keiner, der das Gesetz vor Augen hat, spricht eilfertig von etwas, das er gesehen oder angetroffen hat.« »Nein – nein – nein, wirklich nicht«, rief der Bauer, voller Angst, daß der Meister die Absicht haben könnte, den Schüler zu übertreffen. E.23 gab sich mit entspanntem Mund dem Opium hin, das dem erschöpften Asiaten Fleisch, Tabak und Arznei ist. So, in einem Schweigen der Ehrfurcht und großen Mißverstehens, glitten sie etwa zur Zeit des Lampenanzündens nach Delhi hinein.
KAPITEL XII
Who hath desired the Sea – the sight of salt-water unbounded? The heave and the halt and the hurl and the crash of the comber wind-hounded? The sleek-barrelled svvell before storm – grey, foamless, enormous, and growing? Stark calm on the lap of the Line – or the crazy-eyed hurricane blowing? His Sea in no showing the same – his Sea and the same ‘neath all showing – His Sea that his being fulfils? So and no otherwise – so and no otherwise hill-men desire their Hills! The Sea and the Hills [Wer hat die See je begehrt – die Salzwassersicht ohne Grenzen? Das Steigen und Stocken und Stürzen und Krachen des windwunden Brechers? Das sanftrunde Schwellen vorm Sturm – grau, schaumlos, gewaltig und wachsend? Voll kalm bei Äquatorgeplätscher – oder Hurrikan irräugig blasend? Die See, in keinem Schein gleich – doch in allem Scheinen dieselbe – Seine See die sein Wesen erfüllt? So und nicht anders – so und nicht anders begehren Bergmenschen die Berge! Die See und die Berge]
»Ich habe mein Herz wiedergefunden«, sagte E.23 im Schutz des Gedränges auf dem Bahnsteig. »Hunger und Furcht betäuben die Menschen; sonst hätte ich wohl eher an diesen
Ausweg gedacht. Ich hatte recht. Da kommen sie mich jagen. Du hast meinen Kopf gerettet.« Eine Gruppe gelbhosiger Punjabi-Polizisten, geführt von einem hitzigen, schwitzenden jungen Engländer, bahnte sich einen Weg durch die Menge neben den Wagen. Hinter ihnen, unauffällig wie ein Kater, schlenderte eine kleine fette Person, die aussah wie der Schlepper eines Anwalts. »Schau, wie der junge Sahib etwas auf Papier liest. Meine Beschreibung hat er in der Hand«, sagte E.23. »Sie gehen von Wagen zu Wagen, wie Fischer mit dem Netz um einen Teich.« Als die Prozession ihr Abteil erreichte, war E.23 dabei, mit gleichmäßigem Ruck des Handgelenks seine Perlen abzuzählen, während Kim ihn verhöhnte, weil er so sehr unter Drogen sei, daß er die beringten Feuerzangen verloren habe, das Kennzeichen des saddhu. Der Lama, tief in Meditation, starrte geradeaus vor sich hin; und der Bauer sammelte unter verstohlenen Seitenblicken seine Habseligkeiten. »Nichts drin hier, bloß ein Haufen Heiligkeit«, sagte der Engländer laut und ging weiter, umspült von verrieselndem Unbehagen; denn für die Eingeborenen in ganz Indien bedeutet eingeborene Polizei Erpressung. »Die Schwierigkeit«, flüsterte E.23, »ist jetzt, ein Kabel mit der Stelle zu schicken, wo ich den Brief versteckt habe, den ich finden sollte. In dieser Verkleidung kann ich nicht zum tarBüro gehen.« »Ist es nicht genug, daß ich deinen Hals gerettet habe?« »Nicht, wenn die Arbeit unvollendet bleibt. Hat der Heiler kranker Perlen dir das nie gesagt? Da kommt noch ein Sahib! Ah!« Diesmal war es ein großer, fahlgelber Distrikt-Superintendent der Polizei – Koppel, Helm, polierte Sporen und alles, was dazu gehört –, der entlangstolziert kam und dabei seinen dunklen Schnurrbart zwirbelte.
»Was für Narren diese Polizei-Sahibs sind!« sagte Kim freundlich. E.23 bückte unter gesenkten Lidern auf. »Das war gut gesagt«, murmelte er mit veränderter Stimme. »Ich gehe Wasser trinken. Halt meinen Platz frei.« Er stolperte hinaus, dem Engländer fast genau in die Arme, und wurde in plumpem Urdu beschimpft. »Tum mut? Du betrunken? Du mußt hier nicht so rumtorkeln, als ob dir der ganze Bahnhof von Delhi gehörte, mein Freund.« E.23 antwortete, ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu verziehen, mit einem Schwall schmierigster Schimpfwörter, über die Kim natürlich begeistert war. Es erinnerte ihn an die Tambourjungen und die Kasernenfeger in Ambala in der schrecklichen Zeit seines ersten Schulbesuchs. »Mein lieber Trottel«, sagte der Engländer schleppend. »Nickle-jao! Geh zurück in deinen Wagen.« Schritt für Schritt, unterwürfig zurückweichend und dabei immer leiser redend, klomm der gelbe saddhu zurück in den Wagen, während er den D. S. P. bis zur fernsten Ahnenschaft verfluchte, bei – hier wäre Kim beinahe aufgesprungen – dem Fluch des Steins der Königin, bei der Schrift unter dem Stein der Königin und bei einer Menge assortierter Götter mit völlig neuen Namen. »Ich weiß nicht was du sagst«, – der Engländer lief rot an vor Zorn – »aber es ist bestimmt irgendeine verdammte Frechheit. Komm raus da!« E. 2 3 tat, als ob er es nicht verstünde, zog feierlich seine Fahrkarte, und der Engländer riß sie ihm wütend aus der Hand. »Oh, zoolum! Welche Unterdrückung!« knurrte der Jat aus seiner Ecke. »Und alles bloß wegen eines Scherzes.« Er hatte über die Freimütigkeit der Zunge des saddhu gegrinst. »Deine Zauber wirken heute nicht gut, Heiliger!«
Der saddhu folgte dem Polizisten flehend und kriecherisch. Der Haufen der Reisenden, beschäftigt mit ihren Babies und Bündeln, hatte den Vorfall nicht beachtet. Kim schlüpfte hinter dem saddhu aus dem Zug; es schoß ihm nämlich durch den Kopf, daß er eben diesen wütenden dummen Sahib vor drei Jahren nahe Ambala mit einer alten Dame hatte persönliche Anzüglichkeiten austauschen hören. »Es ist gut«, flüsterte der saddhu, eingeklemmt im rufenden, schreienden, wirren Gedränge – mit einem persischen Windhund zwischen den Beinen und einem Tragrahmen voll gellender Falken in der Obhut eines Rajputen-Falkners im Kreuz, »Er ist jetzt losgegangen, um Nachricht über den Brief abzuschicken, den ich versteckt habe. Man hatte mir gesagt, er sei in Peshawar. Ich hätte wissen können, daß er wie das Krokodil ist – immer an der anderen Furt. Er hat mich vor gegenwärtigem Ungemach gerettet, aber mein Leben verdanke ich dir.« »Ist er denn auch einer von Uns?« Kim tauchte unter der schmierigen Achselhöhle eines Kameltreibers aus Mewar weg und kollidierte mit einem Schwarm plappernder SikhMatronen. »Sogar der Größte. Wir haben beide Glück! Ich werde ihm berichten, was du getan hast. Unter seinem Schutz bin ich sicher.« Er bohrte sich durch den Saum der Menge, die die Wagen belagerte, und hockte sich neben die Bank am Telegrafenbüro. »Geh zurück, sonst nehmen sie dir den Platz weg! Sorge dich nicht um die Arbeit, Bruder – noch um mein Leben. Du hast mir eine Atempause verschafft, und Strickland Sahib hat mich an Land gezogen. Vielleicht arbeiten wir noch zusammen im Spiel. Leb wohl!«
Kim eilte zu seinem Wagen: freudig erregt, verwirrt, aber auch ein wenig verärgert, weil er keinen Schlüssel zu den Geheimnissen hatte, die ihn umgaben. ›Ich bin nur ein Anfänger im Spiel, das ist sicher. Ich hätte nicht in Sicherheit springen können wie der saddhu. Er wußte, daß es unter der Lampe am dunkelsten ist. Ich wäre nicht darauf gekommen, Nachrichten in Flüchen versteckt weiterzugeben… und wie klug der Sahib war! Egal, ich habe jemand das Leben gerettet.‹… »Wohin ist der Kamboh verschwunden, Heiliger?« flüsterte er, als er im nun überfüllten Abteil seinen Platz einnahm. »Eine Furcht hat ihn gepackt«, erwiderte der Lama mit einem Anflug sanfter Boshaftigkeit. »Er hat gesehen, wie du den Mahratta in einem Augenblick zu einem saddhu verwandelt hast, zum Schutz gegen Unheil. Das hat ihn erschüttert. Dann sah er ihn geradewegs in die Hände der polis fallen – alles die Wirkung deiner Kunst. Da hat er seinen Sohn genommen und ist geflohen; denn er sagte, du habest einen ruhigen Händler in einen verwandelt, der aufsässig Worte mit Sahibs wechselt, und er fürchte ein ähnliches Schicksal. Wo ist der saddhu?« »Bei der polis«, sagte Kim. »… Aber ich habe doch das Kind des Kambohs gerettet.« Der Lama schnupfte mild. »Ah, chela, sieh, wie deine Taten dich einholen! Das Kind des Kambohs hast du nur geheilt, um Verdienst zu erwerben. Aber den Mahratta hast du stolz und selbstgefällig verzaubert – ich habe dich beobachtet –, und mit Seitenblicken, um einen alten, alten Mann und einen närrischen Bauern zu verwirren: daher nun Ungemach und Verdacht.« Kim beherrschte sich; diese Anstrengung ging eigentlich über seine Jahre hinaus. Er mochte sich genausowenig wie jeder andere Junge verkennen lassen oder beknirschen, aber er sah sich in einer Klemme. Der Zug rollte aus Delhi in die Nacht.
»Es ist wahr«, murmelte er. »Wo ich dich verletzt habe, da habe ich unrecht getan.« »Es ist mehr, chela. Du hast eine Tat über die Welt gebracht, und wie bei einem Stein, der in einen Teich geworfen wird, breiten sich nun die Folgen aus; wie weit, kannst du nicht wissen.« Diese Unwissenheit war gut, sowohl für Kims Eitelkeit als auch für die Seelenruhe des Lamas, wenn wir bedenken, daß nun eben in Simla ein verschlüsseltes Kabel eintraf, in dem über die Ankunft von E.23 in Delhi berichtet wurde und, was wichtiger war, über den Verbleib eines Briefs, den zu entwenden er beauftragt gewesen war. Zufällig hatte ein übereifriger Polizist einen entsetzlich entrüsteten Baumwollmakler aus Ajmer verhaftet, unter dem Verdacht, in einem Staat weit im Süden einen Mord begangen zu haben; der Makler erklärte sich auf dem Bahnsteig von Delhi einem gewissen Mr. Strickland gegenüber, während E.23 über Nebenstraßen ins verschlossene Herz von Delhi trottete. Innerhalb von zwei Stunden hatten mehrere Telegramme den verärgerten Minister eines südlichen Staats erreicht, in denen ihm berichtet wurde, jede Spur eines leicht lädierten Mahrattas habe sich aufgelöst; und als der gemächliche Zug in Saharanpur hielt, leckte die letzte Welle des Steins, den Kim zu werfen geholfen hatte, an den Stufen einer Moschee im fernen Roum – wo sie einen frommen Mann beim Gebet störte. Seines verrichtete der Lama ausgiebig neben dem betauten Bougainvilleen-Spalier nahe dem Bahnsteig, beglückt durch den hellen Sonnenschein und die Anwesenheit seines Jüngers. »Wir wollen diese Dinge hinter uns lassen«, sagte er; dabei wies er auf die eherne Maschine und die glitzernden Geleise. »Das Rütteln des te-rain – wenn er auch eine wunderbare Sache ist – hat meine Knochen zu Wasser gemacht. Von nun an wollen wir reine Luft atmen.«
»Laß uns zum Haus der Kulu-Frau gehen«, sagte Kim; munter schritt er unter den Bündeln aus. Bei Saharanpur ist der frühe Morgen rein und würzig. Er dachte an die anderen Morgen in St. Xavier, und das machte seine ohnehin dreifach selige Zufriedenheit vollkommen. »Woraus ist denn diese neue Hast geboren? Weise Männer rennen nicht wie Küken in der Sonne herum. Wir haben schon Hunderte und Aberhunderte kos zurückgelegt, und bis jetzt bin ich kaum einen Moment mit dir allein gewesen. Wie kannst du Unterweisung empfangen in wüstem Gedränge? Wie kann ich, überflutet von Gerede, den Pfad bedenken?« »Dann wird ihre Zunge also mit den Jahren nicht kürzer?« Sein Jünger lächelte. »Auch ihr Begehr nach Zauber nicht. Ich erinnere mich, als ich einmal vom Rad des Lebens sprach«, – er tastete in seinem Brustgewand nach der letzten Kopie – »wollte sie nur Genaues über die Teufel wissen, die Kinder bedrängen. Sie wird Verdienst erwerben, indem sie für unseren Unterhalt sorgt – in einer kleinen Weile – bei einer späteren Gelegenheit – gemach, gemach. Jetzt wollen wir freien Fußes wandern und der Kette der Dinge folgen. Die Suche ist gewiß.« So reisten sie sehr gemächlich durch die ausgedehnten, blühenden Obstgärten – über Aminabad, Sahaigunge, Akrola bei der Furt und das kleine Phulesa –, die Linie der Siwaliks immer im Norden, und jenseits der Siwaliks der Schnee. Nach langem süßen Schlaf unter den trockenen Sternen kam die würdige, müßige Wanderung durch ein erwachendes Dorf – die Bettelschale schweigend hingehalten, aber die Augen, dem Gesetz trotzend, schweiften von Himmelsrand zu Himmelsrand. Danach pflegte Kim auf leisen Füßen durch den Staub zu seinem Meister zurückzukehren, in den Schatten eines Mangobaums oder den dünneren Schirm eines weißen Dun-siris, um dort in aller Gelassenheit zu essen und zu
trinken. Um Mittag, nach Reden und wenigem Wandern, schliefen sie; erfrischt stellten sie sich der Welt, wenn die Luft kühler war. Die Nacht fand sie, wie sie sich auf neues Gebiet wagten – irgendein ausgewähltes Dorf, drei Stunden zuvor über das fette Land entdeckt und auf dem Weg vielberedet. Dort erzählten sie ihre Geschichte – jeden Abend eine neue, was Kim betraf –, und dort wurden sie willkommen geheißen, entweder vom Priester oder vom Dorfältesten, nach der Sitte des gastlichen Ostens. Wenn die Schatten kürzer wurden und der Lama sich schwerer auf Kim stützte, gab es immer das Rad des Lebens, das man hervorholen, unter abgewischten Steinen flach ausbreiten und mit einem Strohhalm Zyklus um Zyklus auslegen konnte. Hier saßen hoch oben die Götter – und sie waren Träume von Träumen. Hier war unser Himmel und die Welt der Halbgötter – Reiter, die zwischen den Bergen kämpften. Hier gab es die Todesqualen, die den Tieren auferlegt sind, Seelen, die die Leiter hinauf- oder hinabsteigen und die man folglich in Frieden lassen sollte. Hier waren die Höllen, heiß und kalt, und Aufenthalt gepeinigter Geister. Möge der chela studieren, welche Leiden aus zu vielem Essen erwachsen – geblähter Bauch und brennendes Gedärm. Dann studierte der chela, gehorsam, mit gesenktem Kopf und braunem Finger, der dem Zeigestab willig folgte; aber sobald sie zur Menschenwelt kamen, die gleich oberhalb der Höllen liegt, emsig und nutzlos, war sein Geist abgelenkt; denn am Straßenrand drehte sich ja das Rad selbst, essend, trinkend, handelnd, heiratend und streitend – ganz voll warmen Lebens. Oft machte der Lama die lebenden Bilder zum Gegenstand seines Textes, indem er Kim – der nur zu gern bereit war – aufforderte zu bemerken, wie das Fleisch tausendmal tausend Formen annimmt, die nach menschlichem Ermessen begehrenswert oder abscheulich sein mögen, in Wahrheit
jedoch gänzlich bedeutungslos sind; und wie der törichte Geist, sklavisch dem Schwein, der Taube und der Schlange hörig – lüstern nach Betelnüssen, einem neuen Joch Ochsen, Frauen oder der Gunst von Königen –, dem Körper durch alle Himmel und Höllen zu folgen gebunden ist, und immer wieder rundherum. Manchmal beobachtete eine Frau oder ein armer Mann das Ritual – nichts anderes war es –, wenn die große gelbe Karte entfaltet wurde, und warf ein paar Blumen oder eine Handvoll kauris auf den Rand. Diesen schlichten Menschen genügte es, einen Heiligen getroffen zu haben, der vielleicht geneigt sein würde, ihrer bei seinen Gebeten zu gedenken. »Heile sie, wenn sie krank sind«, sagte der Lama, als Kims sportlicher Ehrgeiz erwachte. »Heile sie, wenn sie Fieber haben, aber auf keinen Fall wirke Zauber. Bedenke, was dem Mahratta widerfahren ist.« »Dann ist alles Tun übel?« erwiderte Kim; er lag ausgestreckt unter einem großen Baum an der Gabelung der Dun-Straße und sah den kleinen Ameisen zu, die über seine Hand liefen. »Es ist gut, sich der Tat zu enthalten – außer, um Verdienst zu erwerben.« »Hinter den Toren der Gelehrsamkeit hat man uns beigebracht, daß es einem Sahib nicht ansteht, sich der Tat zu enthalten. Und ich bin ein Sahib.« »Freund der ganzen Welt«, – der Lama schaute Kim direkt ins Gesicht – »ich bin ein alter Mann – über Darbietungen so glücklich wie Kinder es sind. Für jene, die dem Pfad folgen, gibt es weder schwarz noch weiß, Hind noch Bhotiyal. Wir alle sind Seelen, die zu entkommen suchen. Gleich, was deine bei den Sahibs gelernte Weisheit sagen mag, wenn wir zu meinem Fluß kommen, wirst du von allem Trug befreit werden – an meiner Seite. Hai! meine Knochen ächzen nach diesem Fluß,
wie sie im te-rain ächzten; aber über meinen Knochen sitzt mein Geist, wartend. Die Suche ist gewiß!« »Ich habe eine Antwort erhalten. Ist es erlaubt, eine Frage zu fragen?« Der Lama neigte sein erhabenes Haupt. »Ich habe dein Brot gegessen, drei Jahre lang – wie du weißt. Heiliger, woher kam…?« »Es gibt viel Reichtum, wie Menschen ihn zählen, in Bhotiyal«, antwortete der Lama gelassen. »In meiner Heimat wird mir der Trug der Ehre zuteil. Ich fordere, was ich brauche. Ich trage keine Sorge für die Rechnung. Das geht mein Kloster an. Ai! Die schwarzen hohen Sitze im Kloster, und die Novizen in einer Reihe!« Und er erzählte Geschichten, wobei er mit einem Finger im Staub zeichnete, über das ungeheuerliche und prachtvolle Ritual in lawinengeschützten Kathedralen; über Prozessionen und Teufelstänze; über die Verwandlung von Mönchen und Nonnen in Schweine; über heilige Städte, fünfzehntausend Fuß hoch in der Luft; über Intrigen zwischen Kloster und Kloster; über Stimmen in den Bergen und über die geheimnisvolle Spiegelung, die auf trockenem Schnee tanzt. Er sprach sogar von Lhasa und dem Dalai Lama, den er gesehen und angebetet hatte. Jeder lange, vollkommene Tag erhob sich hinter Kim als Schranke, um ihn von seiner Rasse und seiner Muttersprache abzutrennen. Unversehens begann er wieder, in der Umgangssprache zu denken und zu träumen, und automatisch befolgte er die zeremoniellen Observanzen des Lamas beim Essen, Trinken und dergleichen. Der Geist des alten Mannes wandte sich mehr und mehr seinem Kloster zu, wie seine Augen dem ewigen Schnee. Sein Fluß machte ihm keine Sorge. Zwar starrte er hin und wieder lange Zeit auf einen Busch oder Zweig, in der Erwartung, wie er sagte, daß die
Erde sich spalte und ihren Segen hervorbringe; aber er war zufrieden, mit seinem Jünger zusammenzusein, behaglich im linden Wind, der vom Dun herabweht. Dies war nicht Ceylon noch Buddh Gaya noch Bombay noch irgendwelche von Gras überwucherten Ruinen, über die er vor zwei Jahren gestolpert zu sein schien. Er sprach von diesen Orten als ein Gelehrter, der Eitelkeit entrückt, als ein Sucher, der in Demut wandelt, als ein alter Mann, weise und maßvoll, der Wissen durch leuchtende Einsichten erhellt. Stück für Stück, ohne Zusammenhang, jede Geschichte hervorgerufen durch irgend etwas am Wegesrand, sprach er über all seine Wanderungen auf und ab in Hind; bis Kim, der ihn grundlos geliebt hatte, ihn schließlich aus fünfzig guten Gründen liebte. So erfreuten sie sich größten Glücks und enthielten sich, wie die Regel es verlangt, übler Worte und lüsterner Begierden; sie aßen nicht zuviel, noch schliefen sie auf hohem Pfühl, noch trugen sie reiche Gewänder. Ihr Magen zeigte ihnen die Zeit an, und das Volk brachte ihnen zu essen, wie es in den Schriften heißt. Sie waren geehrte Herren in den Dörfern Aminabad, Sahaigunge, Akrola bei der Furt und im kleinen Phulesa, wo Kim der Frau ohne Seele einen Segen erteilte. Aber Neuigkeiten verbreiten sich schnell in Indien, und allzu bald kam ein Dienstmann mit weißem Backenbart – ein hagerer, dürrer Oorya –, beladen mit einem Obstkorb voller Kabul-Trauben und goldener Orangen, über die Kornfelder geschlurft und bat sie, die Ehre ihrer Gegenwart zu seiner Herrin zu tragen, die bekümmert sei in ihrem Gemüt, daß der Lama sie so lange vernachlässigt habe. »Nun entsinne ich mich« – der Lama sprach, als sei dies ein gänzlich unerwartetes Anliegen. »Sie ist tugendhaft, aber zügellos in ihrer Rede.« Kim saß auf dem Rand eines Viehtrogs und erzählte den Kindern eines Dorfschmieds Geschichten.
»Sie wird nur um einen weiteren Sohn für ihre Tochter bitten. Ich habe sie nicht vergessen«, sagte er. »Laß sie Verdienst erwerben. Sag ihr, wir werden kommen.« In zwei Tagen legten sie die elf Meilen durch Felder zurück und wurden am Ziel von Aufmerksamkeiten überwältigt; denn die alte Dame hielt auf eine feine Tradition von Gastfreundschaft, zu der sie ihren Schwiegersohn zwang, der von seinem Weibervolk unterm Daumen gehalten wurde und Friede erkaufte, indem er beim Geldverleiher borgte. Das Alter hatte weder ihre Zunge noch ihr Gedächtnis geschwächt, und aus einem diskret vergitterten oberen Fenster, in Hörweite von nicht weniger als einem Dutzend Diener, begrüßte sie Kim mit Komplimenten, die eine europäische Zuhörerschaft in unreinliche Bestürzung versetzt hätten. »Aber du bist noch immer der Bettlerlümmel vom parao«, schrillte sie. »Ich habe dich nicht vergessen. Wascht euch und eßt. Der Vater des Sohnes meiner Tochter ist ein wenig ausgegangen. Deshalb sind wir armen Frauen stumm und nutzlos.« Dies zu beweisen überschüttete sie den ganzen Haushalt schonungslos mit Gerede, bis Speise und Trank gebracht wurden; und am Abend – dem rauchgewürzten Abend, kupferfahl und türkis über den Feldern – beliebte es ihr, ihren palankin bei qualmigem Fackellicht in den unordentlichen Vorhof setzen zu lassen; und dort, hinter nicht übermäßig dicht zugezogenen Vorhängen, schwätzte sie. »Wenn der Heilige allein gekommen wäre, hätte ich ihn anders empfangen; aber mit diesem Schuft, wer kann da schon vorsichtig genug sein?« »Maharani«, sagte Kim; wie immer wählte er die umfänglichste Anrede. »Ist es denn mein Fehler, daß kein anderer als ein Sahib – ein polis-Sahib – die Maharani, deren Gesicht er…«
»Tscht! Das war auf der Pilgerreise. Wenn man reist… du kennst das Sprichwort.« »… die Maharani eine Zerbrecherin der Herzen und Walterin der Wonnen genannt hat?« »Daran zu denken! So war es. Das hat er getan. Das war in der Blütezeit meiner Schönheit.« Über dem Zuckerklümpchen gluckste sie wie ein zufriedener Papagei. »Nun erzähl mir von deinem Gehen und Kommen – soviel ohne Verletzung der Scham möglich ist. Wieviele Mädchen, und wessen Ehefrauen, schmachten an deinen Wimpern? Ihr kommt aus Benares? Ich wäre dieses Jahr auch wieder dorthin gegangen, aber meine Tochter… wir haben nur zwei Söhne. Phau! Das ist die Wirkung dieses niedrigen Flachlands. Also, in Kulu, da sind die Männer Elefanten. Aber ich wollte deinen Heiligen – geh beiseite, Schuft – um einen Zauber bitten, gegen höchst beklagenswert windige Koliken, die den Ältesten meiner Tochter zur Mangozeit überkommen. Vor zwei Jahren hat er mir einen machtvollen Zauber gegeben.« »Oh, Heiliger!« sagte Kim, überschäumend vor Fröhlichkeit beim Anblick von des Lamas reuevollem Gesicht. »Es ist wahr. Ich habe ihr einen gegen Wind gegeben.« »Zähne – Zähne – Zähne«, keifte die alte Frau. »›Heile sie, wenn sie krank sind‹«, zitierte Kim genüßlich, »›aber auf keinen Fall wirke Zauber. Bedenke, was dem Mahratta widerfahren ist.‹« »Das war vor zwei Regenzeiten; sie hat mich mit ihrer unausgesetzten Zudringlichkeit ermüdet.« Der Lama ächzte, wie vor ihm schon der Ungerechte Richter geächzt hatte. »So kommt es – merk es dir, mein chela –, daß selbst jene, die dem Pfad folgen wollen, von müßigen Frauen zur Seite gestoßen werden. Drei volle Tage, als das Kind krank war, hat sie zu mir gesprochen.«
»Arre! Und mit wem sonst hätte ich reden sollen? Die Mutter des Jungen wußte nichts, und der Vater – in den Nächten der kalten Jahreszeit war es – ›Bete zu den Göttern‹, hat er gesagt, wahrlich, und dann hat er sich umgedreht und geschnarcht!« »Ich habe ihr den Zauber gegeben. Was soll ein alter Mann machen?« »›Es ist gut, sich der Tat zu enthalten – außer, um Verdienst zu erwerben.‹« »Ah, chela, wenn du mich verläßt, bin ich ganz allein.« »Seine Milchzähne hat er jedenfalls ganz leicht bekommen«, sagte die alte Dame. »Aber alle Priester sind gleich.« Kim hustete streng. Da er jung war, billigte er ihr leichtfertiges Gerede nicht. »Die Weisen zur Unzeit behelligen heißt, Ungemach heraufbeschwören.« »Da sitzt über den Ställen ein sprechender mynah«, – der Gegenhieb kam zusammen mit dem unvergessenen Stoß des juwelenbesetzten Zeigefingers – »der sogar den genauen Tonfall des Familienpriesters nachahmen kann. Vielleicht vergesse ich, meine Gäste zu ehren, aber wenn ihr ihn gesehen hättet, wie er sich krümmt und die Fäuste in den Leib drückt, der wie ein halb ausgewachsener Kürbis aussieht und dabei schreit: ›Hier tut es weh!‹, dann würdet ihr mir vergeben. Ich bin fast soweit, die Medizin des hakims anzunehmen. Er verkauft sie billig, aber sie macht ihn so fett wie Shivas Bullen selbst. Er versagt einem keine Heilmittel, aber ich hatte Sorgen um das Kind wegen der ungünstigen Farbe der Flaschen.« Unter dem Mantel des Monologs war der Lama in die Dunkelheit entschwunden, hin zum vorbereiteten Raum. »Du hast ihn verärgert, scheint es«, sagte Kim. »Ihn doch nicht. Er ist müde, und ich habe es vergessen in meiner Großmutterbesorgtheit. (Niemand außer einer Großmutter sollte je ein Kind hüten. Mütter sind nur fürs Gebären gut.) Morgen, wenn er sieht, wie der Sohn meiner
Tochter gewachsen ist, wird er den Zauber aufschreiben. Dann kann er auch die Drogen des neuen hakims beurteilen.« »Wer ist der hakim, Maharani?« »Ein Wanderer, wie du einer bist, aber ein überaus nüchterner Bengali aus Dacca – ein Meister der Medizin. Er hat mich von einer Beklemmung nach Fleischgenuß erlöst, mit Hilfe einer kleinen Pille, die gewütet hat wie ein entfesselter Teufel. Er reist jetzt umher und verkauft Zubereitungen von großem Wert. Er hat sogar Papiere, gedruckt auf Angrezi, auf denen steht, was er für schwachrückige Männer und schlaffe Frauen getan hat. Er ist seit vier Tagen hier; aber als er hörte, daß ihr kommen würdet [hakims und Priester sind auf der ganzen Welt wie Schlange und Tiger], ist er, glaube ich, in Deckung gegangen.« Während sie nach dieser Salve Luft holte, murmelte der alte Diener, der ungerügt am Rande des Fackellichts saß: »Dieses Haus ist gleichsam ein Pfandstall für alle Scharlatane und… Priester. Der Junge sollte aufhören, Mangos zu essen… aber wer kann schon mit einer Großmutter reden?« Respektvoll hob er die Stimme: »Sahiba, der hakim schläft, seit er gegessen hat. Er ist in dem Gemach hinter dem Taubenschlag.« Kim sträubten sich die Borsten wie einem erwartungsvollen Terrier. Einen in Kalkutta ausgebildeten Bengali, einen zungenfertigen Arzneihändler aus Dacca dreist zu übertrumpfen und niederzureden mußte doch ein feiner Spaß sein. Es war ungebührlich, daß der Lama, und beiläufig auch er selbst, von so einem verdrängt wurden. Er kannte die absonderlichen Anzeigen in Bastardenglisch auf den Rückseiten einheimischer Zeitungen. Manchmal schmuggelten Jungen von St. Xavier sie ins Haus, um mit ihren Kameraden darüber zu kichern; die Sprache des dankbaren Patienten, der seine Symptome aufzählt, ist nämlich sehr schlicht und enthüllend. Der Oorya, durchaus willens, einen Parasiten
gegen den anderen auszuspielen, verdrückte sich zum Taubenschlag. »Ja«, sagte Kim, mit gemessener Verachtung. »Ihr Warenvorrat besteht aus ein wenig gefärbtem Wasser und sehr großer Unverschämtheit. Ihre Beute sind heruntergekommene Könige und überfütterte Bengalis. Ihr Profit liegt in Kindern – die noch nicht geboren sind.« Die alte Dame gluckste. »Sei nicht neidisch. Zauberformeln sind besser, eh? Ich habe nie etwas anderes gesagt. Sieh zu, daß dein Heiliger mir am Morgen ein gutes Amulett schreibt.« »Nur die Unwissenden leugnen« – eine dicke, schwere Stimme dröhnte durchs Dunkel, während eine Gestalt in der Hocke zur Ruhe kam – »nur die Unwissenden leugnen den Wert von Zauberformeln. Nur die Unwissenden leugnen den Wert von Arzneien.« »Eine Ratte fand ein Stückchen Kurkuma. Sie sagte: ›Ich werde einen Gemüseladen aufmachen‹«, gab Kim zurück. Die Schlacht war somit eröffnet, und sie hörten, wie die alte Dame sich interessiert aufrichtete. »Der Sohn des Priesters kennt die Namen seiner Amme und dreier Götter. Er sagt: ›Hört auf mich, sonst verfluche ich euch bei den drei Millionen Größten.‹« Dieser Unsichtbare hatte ganz entschieden einen oder zwei Pfeile in seinem Köcher. Er fuhr fort: »Ich bin nur ein Lehrer des Alphabets. Ich habe alle Weisheit der Sahibs gelernt.« »Die Sahibs werden nie alt. Sie tanzen und spielen wie Kinder, wenn sie schon Großväter sind. Eine starkrückige Brut«, quäkte die Stimme im palankin. »Ich habe auch unsere Arzneien, die die Säfte des Kopfes bei hitzigen und zornigen Männern lösen. Sind, gut gemischt, wenn der Mond im geziemenden Haus steht; gelbe Erden habe ich – arplan aus China, das einem Mann die Jugend wiedergibt, so daß er seinen Haushalt in Erstaunen versetzt;
Safran aus Kaschmir und den besten Salep aus Kabul. Viele Leute sind gestorben, ehe…« »Das glaube ich gern«, sagte Kim. »… sie den Wert meiner Arzneien erkannten. Ich gebe meinen Kranken nicht nur die Tinte, mit der ein Zauber geschrieben wird, sondern scharfe und reißende Arzneien, die sich auf das Übel senken und mit ihm ringen.« »Sehr gewaltig tun sie das«, seufzte die alte Dame. Die Stimme stürzte sich in eine ungeheure Geschichte von Unheil und Bankrott, reichlich garniert mit Petitionen an die Regierung. »Wäre da nicht mein Schicksal, das über allem thront, so wäre ich jetzt im Regierungsdienst. Ich besitze einen Grad von der großen Schule in Kalkutta – wohin, vielleicht, der Sohn dieses Hauses gehen wird.« »Das wird er. Wenn dieser Lümmel unseres Nachbarn in ein paar Jahren ein F. A. werden kann«, (First Arts – sie verwendete die englische Abkürzung, von der sie so oft gehört hatte), »wieviel mehr werden dann Kinder, die so klug sind wie einige, die ich kenne, Preise im reichen Kalkutta davontragen.« »Niemals«, sagte die Stimme, »habe ich solch ein Kind gesehen! Geboren in glückverheißender Stunde und – abgesehen von dieser Kolik, die, weh! zu schwarzer Galle werden und ihn wie ein Täubchen dahinraffen könnte – zu vielen Jahren vorherbestimmt; er ist zu beneiden.« »Hai mai!« sagte die alte Dame. »Kinder zu loben zieht Unheil an; sonst könnte ich dieser Rede wohl zuhören. Aber die Rückseite des Hauses ist unbewacht, und sogar in dieser schlappen Luft halten Männer sich für Männer, und Frauen kennen wir ja… Der Vater des Kindes ist auch nicht hier, und in meinem hohen Alter muß ich chowkedar [Wächter] sein. Auf! Auf! Hoch mit dem palankin. Laßt den hakim und den jungen Priester unter sich ausmachen, ob Zauber oder Medizin
nützlicher ist. Ho! wertloses Gesindel, holt Tabak für die Gäste, und – ich mache die Runde um die Heimstatt!« Der palankin schwankte davon, gefolgt von bummelnden Fackeln und einer Hundehorde. Zwanzig Dörfer kannten die Sahiba – ihre Mängel, ihre Zunge und ihre große Mildtätigkeit. Zwanzig Dörfer betrogen sie, gemäß uraltem Brauch, aber um kein Geschenk unter dem Himmel hätte jemand im Bereich ihrer Gerichtsbarkeit gestohlen oder geraubt. Trotzdem machte sie aus ihren formellen Inspektionen eine große Parade, deren Lärm man fast bis Mussoorie hören konnte. Kim entspannte sich, wie ein Augur es muß, wenn er einem anderen begegnet. Der hakimy noch immer in der Hocke, schob mit freundlichem Fuß seine hookah hinüber, und Kim sog an dem guten Kraut. Die lungernden Zuhörer erwarteten eine ernste, professionelle Debatte und vielleicht ein wenig kostenlose Behandlung. »Medizin vor Unwissenden zu erörtern ist gleich dem Versuch, den Pfau das Singen zu lehren«, sagte der hakim. »Wahre Höflichkeit«, echote Kim, »ist oft Nichtbeachtung.« Dies waren wohlgemerkt Reden, die die umgebende Gesellschaft beeindrucken sollten. »He! Ich habe ein Geschwür am Bein«, rief ein Küchenjunge. »Seht es euch an!« »Geht weg! Entfernt euch!« sagte der hakim. »Ist es die Gewohnheit dieses Orts, geehrte Gäste zu belästigen? Ihr drängelt euch hier wie die Büffel.« »Wenn die Sahiba wüßte…«, begann Kim. »Ai! Ai! Kommt weg hier. Die sind nur für die Herrin da. Wenn die Koliken von ihrem jungen Shaitan geheilt sind, dürfen wir armes Volk vielleicht…« »Die Herrin hat deine Frau ernährt, als du im Gefängnis warst, weil du dem Geldverleiher den Schädel eingeschlagen hattest. Wer spricht gegen sie?« Der alte Dienstmann kräuselte
wild seinen weißen Schnurrbart im jungen Mondlicht. »Ich bin verantwortlich für die Ehre dieses Hauses. Geht!« und er trieb die Untergebenen vor sich her. Kaum die Wörter mit den Lippen formend, hauchte der hakim: »Wie geht es Ihnen, Mister O’Hara? Freut mich sehr, Sie wiederzusehen.« Kims Hand umklammerte den Pfeifenstiel. Irgendwo auf offener Straße wäre er vielleicht nicht erstaunt gewesen; aber hier, in diesem stillen Seitenarm des Lebens, war er nicht auf Hurree Babu vorbereitet. Außerdem ärgerte es ihn, daß er sich hatte täuschen lassen. »Ah ha! Ich habe es Ihnen in Lucknow gesagt – resurgam – ich werde wieder auferstehen, und Sie werden mich nicht erkennen. Wieviel haben Sie gewettet – eh?« Er kaute lässig auf ein paar Kardamomkernen, atmete jedoch unruhig. »Aber warum kommen Sie her, Babuji?« »Ah! Dasss ist die Frage, wie Shakespeare meint. Ich komme, um Sie zu Ihrem außerordentlich wirksamen Auftritt in Delhi zu beglückwünschen. Aah! Ich kann Ihnen sagen, wir waren alle stolz auf Sie. Das war sehr sauber und gekonnt. Unser gemeinsamer Freund, er ist alter Freund von mir. Er ist schon in einigen verdammten Klemmen gewesen. Jetzt wird er in noch ein paar geraten. Er hat mir erzählt; ich erzähle Mr. Lurgan; und er freut sich, weil Sie so fein graduieren. Das ganze Departement freut sich.« Zum ersten Mal in seinem Leben durchrieselte Kim der reine Stolz (der trotz allem auch eine tödliche Fallgrube sein kann) über Lob innerhalb des gleichen Departements – verführerisches Lob eines Gleichgestellten für Arbeit, die von den Mitarbeitern geschätzt wurde. Auf dieser Ebene bietet die Erde nichts Vergleichbares. Aber, schrie der Orientale in ihm, Babus reisen nicht so weit, um Komplimente zu übermitteln.
»Erzähl deine Geschichte, Babu«, sagte er herrisch. »Ach, es ist nichts. Nur, daß ich in Simla war, als das Kabel ankam über das, was unser gemeinsamer Freund versteckt zu haben sagte, und der alte Creighton…« Er blickte auf, um zu sehen, wie Kim diese Dreistigkeit aufnehmen würde. »Der Oberst Sahib«, korrigierte der Junge von St. Xavier. »Natürlich. Er fand, daß ich nicht viel zu tun hätte, und deshalb mußte ich runter nach Chitor, um diesen verflixten Brief zu holen. Ich mag den Süden nicht – zu viel Bahnfahren; aber ich habe gute Reisespesen bezogen. Ha! Ha! Unseren gemeinsamen Freund habe ich dann in Delhi getroffen, auf dem Rückweg. Im Moment rührt er sich nicht und sagt, saddhu-Verkleidung gefällt ihm prima. Also, da höre ich, was Sie getan haben, so gut, so schnell, in der augenblicklichen Eingabe des Moments. Ich sag unserem gemeinsamen Freund, Sie schießen den verdammten Vogel ab, bei Zeus! Es war prachtvoll. Ich komme, um Ihnen das zu sagen.« »Mmmm.« Die Frösche in den Gräben waren rastlos, und der Mond glitt in den Untergang. Irgendein überglücklicher Diener war hinausgegangen, um mit der Nacht Zwiesprache zu halten und eine Trommel zu schlagen. Kim sagte den nächsten Satz wieder in der Umgangssprache. »Wie bist du uns gefolgt?« »Aah. Das war nichts. Ich wußte von unserem gemeinsamen Freund, Sie gehen nach Saharanpur. Also komme ich auch. Rote Lamas sind nicht unauffällige Personen. Ich kaufe mir Arzneikasten, und ich bin wirklich sehr guter Doktor. Ich gehe zu Akrola bei der Furt und höre alles über Sie und ich rede hier und rede da. Alle gewöhnlichen Leute wissen, was Sie machen. Ich wußte sofort, als gastfreundliche alte Dame dooli geschickt hat. Sie haben großartige Erinnerungen hier an Besuche von altem Lama. Ich weiß, daß alte Damen die Finger
nicht von Medizin lassen können. Also bin ich Doktor, und… bemerken Sie, wie ich rede? Ich finde mich sehr überzeugend. Ehrenwort, Mister O’Hara, im Umkreis von fünfzig Meilen weiß man über Sie und den Lama Bescheid – die gewöhnlichen Leute. Also bin ich gekommen. Haben Sie was dagegen?« »Babuji«, sagte Kim; er schaute in das breite, grinsende Gesicht hinauf. »Ich bin ein Sahib.« »Mein lieber Mister O’Hara…« »Und ich möchte das Große Spiel spielen.« »Im Moment sind Sie mir unterstellt, was das Departement angeht.« »Warum reden Sie dann wie ein Affe auf dem Baum? Man folgt einem nicht von Simla aus und verkleidet sich, nur um ein paar liebe Worte loszuwerden. Ich bin doch kein Kind. Reden Sie Hindi und laß uns zum Dotter des Eies kommen. Du bist hier – und sagst unter zehn Wörtern nicht ein wahres. Warum bist du hier? Gib eine gerade Antwort.« »Das ist es, was mich bei den Europäern oft so stört, Mister O’Hara. In Ihrem Alter sollten Sie es eigentlich längst besser wissen.« »Ich wüßte es aber wirklich gern«, sagte Kim lachend. »Wenn es um das Spiel geht, kann ich vielleicht helfen. Aber wie kann ich etwas tun, wenn Sie hier um den heißen Brei herum bukh machen [quasseln]?« Hurree Babu langte nach der Pfeife und sog daran, bis sie wieder gurgelte. »Jetzt werde ich Umgangssprache reden. Bleiben Sie still sitzen, Mister O’Hara… Es betrifft den Stammbaum eines weißen Hengstes.« »Immer noch? Das ist doch vor langer Zeit erledigt worden.« »Wenn jeder einzelne tot ist, dann ist das Große Spiel erledigt. Vorher nicht. Lausche mir bis zum Schluß. Es waren
Fünf Könige, die vor drei Jahren einen jähen Krieg bereiteten, als Mahbub Ali dir den Stammbaum des weißen Hengstes gab. Wegen dieser Nachricht, und ehe sie bereit waren, fiel unsere Armee über sie her.« »Ja – achttausend Männer mit Kanonen. Ich erinnere mich an die Nacht.« »Der Krieg wurde aber nicht zu Ende geführt. Das ist so Brauch bei der Regierung. Die Truppen wurden zurückgerufen, weil die Regierung glaubte, die Fünf Könige seien eingeschüchtert; und es ist nicht billig, Männer in den hohen Pässen zu ernähren. Hilàs und Bunàr – Radschas mit Kanonen – haben sich um einen Preis bereitgefunden, die Pässe zu hüten gegen alles, was aus dem Norden kommen mag. Sie beteuerten gleichermaßen Furcht wie Freundschaft.« Kichernd fiel er ins Englische: »Natürlich sage ich Ihnen das inoffiziell, um politische Situation zu beleuchten, Mister O’Hara. Offiziell steht es mir nicht zu, etwelche Maßnahmen von Vorgesetzten zu kritisieren. Nun fahre ich fort. – Dies hat der Regierung gefallen, da sie ängstlich bedacht ist, Kosten zu vermeiden, und ein Bund wurde geschlossen um sehr viele Rupien jeden Mond, daß Hilàs und Bunàr die Pässe hüten sollten, sobald die Truppen des Staats abgezogen sein würden. Zu jener Zeit – das war, nachdem wir einander begegneten – wurde ich, der ich bis dahin Tee in Leh verkaufte, Schreiber im Rechnungswesen der Armee. Als die Truppen abgezogen wurden, ließ man mich zurück, um die Kulis zu bezahlen, die neue Straßen in den Bergen machten. Dieses Straßenmachen war Teil des Bundes zwischen Bunàr, Hilàs und der Regierung.« »Aha? Und dann?« »Ich kann Ihnen sagen, es war verflixt fies kalt da oben, nach dem Sommer«, sagte Hurree Babu vertraulich. »Angst hab ich gehabt, daß diese Bunàr-Männer mir jede Nacht die Kehle
durchschneiden, wegen der Geldkiste. Meine eingeborene Sepoy-Wache… die haben mich ausgelacht! Was war ich doch für ein furchtsamer Mann. Aber egal. Weiter in unserer Sprache… Viele Male sandte ich Nachricht, daß diese beiden Könige sich an den Norden verkauft hatten; und Mahbub Ali, der noch weiter im Norden weilte, bekräftigte das vollkommen. Nichts wurde getan. Nur meine Füße froren, und ein Zeh fiel ab. Ich sandte Nachricht, daß die Straßen, für die ich den Erdgräbern Geld bezahlte, für die Füße von Fremden und Feinden gemacht wurden.« »Für?« »Für die Russen. Unter den Kulis war diese Sache ein offener Scherz. Dann wurde ich zurückgerufen, um das, was ich wußte, mit der Zunge zu sagen. Auch Mahbub kam nach Süden. Sieh, was daraus wird! Über die Pässe kommen dieses Jahr, nach der Schneeschmelze«, – er erschauerte erneut – »zwei Fremde unter dem Vorwand, Wildziegen zu schießen. Sie tragen Gewehre, doch tragen sie auch Meßketten und Wasserwaagen und Kompasse.« »Oho! Die Dinge werden klarer.« »Sie werden von Hilàs und Bunàr gut aufgenommen. Sie machen große Verheißungen; sie reden als die Sprachrohre eines kaisar, mit Geschenken. Die Täler hinauf, die Täler hinunter gehen sie und sagen: ›Hier ist ein Platz, um ein Schanzwerk anzulegen; hier könnt ihr eine Festung errichten. Hier könnt ihr die Straße gegen eine Armee halten‹ – eben jene Straße, für die ich in jedem Mond Rupien bezahlt habe. Die Regierung weiß, aber sie tut nichts. Die drei anderen Könige, die nicht für das Hüten der Pässe bezahlt wurden, berichten durch Botenläufer über die Treulosigkeit von Bunàr und Hilàs. Als alles Übel geschehen ist, siehst du – als diese beiden Fremden mit ihren Waagen und Kompassen den Fünf Königen eingeredet haben, morgen oder übermorgen werde eine große
Armee durch die Pässe strömen –, da kommt zu mir, Hurree Babu, der Befehl: ›Geh nach Norden und schau, was diese Fremden treiben.‹ Ich sage zu Creighton Sahib: ›Dies ist kein Rechtshandel, daß wir umhergehen und Beweise sammeln müßten.‹« Jäh fiel Hurree wieder ins Englische: »›Bei Zeus‹, sag ich, ›warum zum Teufel geben Sie nicht irgendeinem tapferen Mann halboffiziell die Order, sie zum Beispiel zu vergiften? Es ist, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, überaus tadelnswerte Laxheit Ihrerseits.‹ Und Oberst Creighton hat mich ausgelacht! Das kommt bloß von eurem verflixten englischen Stolz. Ihr glaubt, niemand wagt, gegen euch zu konspirieren! Das ist doch alles großer Blödsinn.« Kim rauchte langsam; dabei drehte er die Angelegenheit, soweit er sie verstand, in seinem schnellen Geist hin und her. »Dann ziehst du aus, den Fremden zu folgen?« »Nein. Um sie zu treffen. Sie kommen nach Simla, um ihre Hörner und Köpfe nach Kalkutta zum Präparieren zu schicken. Sie sind ja nichts anderes als sportbegeisterte Gentlemen, und die Regierung gewährt ihnen Sondervergünstigungen. So was machen wir doch immer. Das ist unser britischer Stolz.« »Was ist denn dann von ihnen zu befürchten?« »Bei Zeus, das sind doch keine Schwarzen. Mit schwarzen Leuten kann ich natürlich alles mögliche anstellen. Aber das sind Russen, und zwar ganz skrupellose Leute. Ich… ich will ohne Zeugen nichts mit ihnen zu tun haben.« »Werden sie dich töten?« »Aah, das macht nichts. Ich bin Herbert-Spencerianer genug, glaube ich, um kleinem Ding wie Tod zu begegnen, was ganz in meinem Schicksal liegt, wissen Sie. Aber… aber sie könnten mich schlagen.« »Warum?« Hurree Babu schnippte irritiert mit den Fingern. »Natürlich werde ich mich ihrem Lager affiliieren in überzähliger
Eigenschaft, vielleicht als Dolmetscher oder Person, die geistig unfähig oder hungrig ist, oder so etwas. Und dann muß ich aufpicken, was ich kann, schätze ich. Das ist für mich so einfach wie bei der alten Dame Mister Doktor spielen. Nur… nur… wissen Sie, Mister O’Hara, ich bin unglücklicherweise Asiate, was in mancher Hinsicht ernstlicher Nachteil ist. Und außerdem bin ich Bengali – ein furchtsamer Mann.« »Gott schuf den Hasen und den Bengali. Weshalb schämen?« sagte Kim, das Sprichwort zitierend. »Es war Prozeß von Evolution, glaube ich, aus Allererster Notwendigkeit, aber die Tatsache bleibt, mit all ihrem cui bono. Ich bin, oh, furchtbar furchtsam! – Ich erinnere mich, einmal wollte man mir den Kopf abschneiden, auf dem Weg nach Lhasa. (Nein, ich habe nie nach Lhasa gereicht.) Ich habe mich hingesetzt und geweint, Mister O’Hara, in Erwartung von chinesischen Foltern. Ich nehme nicht an, daß diese beiden Gentlemen mich foltern werden, aber ich möchte gern wegen möglicher Ernstfälligkeit für europäische Assistenz bei Notlage sorgen.« Er hustete und spuckte die Kardamomkerne aus. »Das ist ganz inoffizielle Bestallung, zu der Sie sagen können ›Nein, Babu‹. Wenn Sie keine pressierenden Verpflichtungen mit Ihrem alten Mann haben – vielleicht können Sie ihn umleiten; vielleicht kann ich seine Fantasie verführen – mir wäre lieb, wenn Sie in departementaler Berührung mit mir blieben, bis ich diese sportlichen Kumpel auftreibe. Ich habe hohe Meinung von Ihnen, seit ich meinen Freund in Delhi getroffen habe. Und außerdem werde ich Ihren Namen meinem offiziellen Report einverleiben, wenn Angelegenheit endgültig beurteilt ist. Es wird eine große Feder an Ihrem Hut sein. Das ist, weshalb ich wirklich gekommen bin.« »Humph! Das Ende der Geschichte, glaube ich, ist wahr; aber wie steht es mit dem Vorderteil?«
»Über die Fünf Könige? Aah! Da steckt furchtbar viel Wahrheit drin. Mengen mehr, als Sie annehmen würden«, sagte Hurree ernst. »Sie kommen – eh? Ich gehe von hier direkt ins Dün. Es ist sehr grün und Anger wie gemalt. Ich werde nach Mussoorie gehen – das gute alte Mussoorie Pahar, wie die feinen Herren und Damen sagen. Dann über Rampur nach Chini. Das ist die einzige Strecke, über die sie kommen können. Es gefällt mir gar nicht, im Kalten zu warten, aber wir müssen auf sie warten. Ich will mit ihnen nach Simla gehen. Wissen Sie, einer von den Russen ist ein Franzose, und mein Französisch ist ganz gut. Ich habe Freunde in Chandernagore.« »Er wäre sicher glücklich, die Berge wiederzusehen«, sagte Kim nachdenklich. »Diese letzten zehn Tage ist seine Rede kaum über etwas anderes gewesen. Wenn wir zusammen gehen…« »Aah! Auf der Straße können wir sehr gut wie Fremde sein, wenn Ihr Lama das vorzieht. Ich gehe einfach vier oder fünf Meilen voraus. Keine Eile – no hurry for Hurree – das ist ein Europa-Scherz, ha! ha! –, und Sie kommen hinterher. Wir haben viel Zeit; Sie werden natürlich messen und zeichnen und Karten malen. Ich werde morgen gehen, und Sie am Tag danach, wenn Sie mögen. Eh? Denken Sie bis zum Morgen drüber nach. Bei Zeus, es ist ja schon fast Morgen.« Er gähnte gewaltig und polterte ohne ein höfliches Abschiedswort zu seinem Schlafplatz. Kim aber schlief kaum, und seine Gedanken kamen auf Hindustani: ›Mit Recht nennt man das Spiel groß! Vier Tage war ich ein Küchenjunge in Quetta und habe die Frau des Mannes bedient, dessen Buch ich stahl. Und das war Teil des Großen Spiels! Aus dem Süden – Gott weiß wie weit her – ist der Mahratta gekommen und hat unter Todesangst das Große Spiel gespielt. Nun werde ich weit, weit in den Norden gehen, um das Große Spiel zu spielen. Wahrlich, wie ein Weberschiffchen läuft es
durch ganz Hind. Und meinen Teil und meine Freude‹ – er lächelte der Dunkelheit zu – ›verdanke ich dem Lama hier. Auch Mahbub Ali – auch Creighton Sahib, aber vor allem dem Heiligen. Er hat recht – eine große und wundervolle Welt – und ich bin Kim – Kim – Kim – allein – eine Person – inmitten von allem. Aber ich werde diese Fremden mit ihren Waagen und Ketten sehen…‹ »Was war das Ergebnis der Rederei in der Nacht?« fragte der Lama nach Verrichtung seiner Gebete. »Ein wandernder Arzneiverkäufer kam vorbei – einer, der sich an die Sahiba hängt. Ihn habe ich vernichtet durch Beweise und Gebete und damit bewiesen, daß unsere Zauber würdiger sind als seine gefärbten Wässer.« »Ach, meine Zauber! Ist die tugendhafte Frau noch immer auf einen neuen versessen?« »Ganz entschieden.« »Dann muß er geschrieben sein, oder sie wird mich taub machen mit ihrem Gezeter.« Er tastete nach seinem Federkasten. »In den Ebenen«, sagte Kim, »sind immer zu viele Leute. In den Bergen sind es wohl weniger.« »Oh! Die Berge, und der Schnee auf den Bergen.« Der Lama riß ein winziges Stück Papier ab, das gerade in ein Amulett paßte. »Aber was weißt du von den Bergen?« »Sie sind sehr nah.« Kim stieß die Tür auf und blickte zur langen, friedvollen Linie der Himalayas, überflutet von Morgengold. »Außer in der Kleidung eines Sahibs habe ich nie einen Fuß dorthin gesetzt.« Der Lama sog sehnsüchtig den Wind ein. »Wenn wir nach Norden gingen« – Kim stellte diese Frage dem erwachenden Sonnenaufgang – »würde dann nicht viel Mittagshitze vermieden werden, wenn wir wenigstens unter
den niedrigeren Bergen wanderten?… Ist der Zauber fertig, Heiliger?« »Ich habe die Namen von sieben albernen Teufeln geschrieben – von denen keiner auch nur ein Staubkorn im Auge wert ist. So zerren uns törichte Frauen vom Pfad!« Hurree Babu kam hinter dem Taubenschlag hervor und putzte sich mit rituellem Gepränge die Zähne. Mit kräftigem Fleisch, schweren Hüften, Stiernacken und tiefer Stimme wirkte er nicht wie ein »furchtsamer Mann«. Fast unmerklich bedeutete Kim ihm, daß die Angelegenheit sich gut entwickelte, und als er seine Morgentoilette beendet hatte, kam Hurree Babu herbei, um dem Lama in blumiger Rede Ehre zu erweisen. Natürlich aßen sie getrennt voneinander, und anschließend kam die alte Dame, mehr oder minder verschleiert hinter einem Fenster, auf die lebenswichtige Frage der Grüne-MangoKoliken des Jungen zurück. Das medizinische Wissen des Lamas war natürlich rein sympathetisch. Er glaubte, der Dung eines schwarzen Pferdes, vermengt mit Schwefel und aufbewahrt in einer Schlangenhaut, sei ein gesundes Mittel gegen Cholera; der Symbolismus interessierte ihn jedoch weit mehr als die Wissenschaft. Hurree Babu beugte sich diesen Ansichten mit bezaubernder Höflichkeit, so daß der Lama ihn einen liebenswürdigen Arzt nannte. Hurree Babu erwiderte, er sei in diesen Mysterien nur ein unerfahrener Stümper; doch wisse er wenigstens – und dafür danke er den Göttern –, wann er sich in Gegenwart eines Meisters befinde. Er selbst sei unterwiesen worden von den Sahibs, die keine Kosten berücksichtigten, in den herrschaftlichen Hallen Kalkuttas; doch sei er stets der erste anzuerkennen, daß jenseits irdischer Weisheit eine andere Weisheit liege – die hohe und einsame Lehre der Meditation. Kim sah neidisch zu. Der Hurree Babu, den er kannte – ölig, überschwenglich und nervös –, war verschwunden; verschwunden desgleichen der dreiste
Arzneihändler der letzten Nacht. Es blieb – geschliffen, höflich, zuvorkommend – ein nüchterner, gelehrter Sohn der Erfahrung und der Fährnisse, der von den Lippen des Lamas Weisheit las. Die alte Dame vertraute Kim an, solch seltene Höhen lägen über ihrem Horizont. Sie mochte Zauberformeln mit viel Tinte, die man mit Wasser abwaschen und verschlucken konnte und fertig. Was sonst wäre denn der Nutzen der Götter? Sie mochte Männer und Frauen und sprach über sie – über kleine Könige, die sie einmal gekannt hatte; über ihre eigene Jugend und Schönheit; über die Verheerungen durch Leoparden und die exzentrischen Formen asiatischer Liebe; über das Zusammenwirken von Besteuerung, Wucherzinsen, Bestattungszeremonien, ihren Schwiegersohn (dies durch unmißverständliche Anspielungen), Sorge um die Jungen und des Zeitalters Mangel an Ziemlichkeit. Und Kim, am Leben dieser Welt so interessiert wie sie daran, es bald zu verlassen, hockte mit den Füßen unter dem Saum seines Gewandes und sog alles in sich auf, während der Lama alle Theorien über die Heilung des Leibes, die Hurree Babu aufstellte, nacheinander zerfetzte. Am Mittag hängte der Babu sich seinen messingbeschlagenen Arzneikasten um, nahm die zeremoniellen Lacklederschuhe in eine Hand, einen munteren blau-weißen Schirm in die andere und brach nach Norden zum Dun hin auf, wo, wie er sagte, die minderen Könige jener Lande nach ihm verlangten. »Wir werden in der Abendkühle gehen, chela«, sagte der Lama. »Dieser Doktor, bewandert in Dingen des Leibes und der Höflichkeit, sagt, die Leute in diesen niedrigen Bergen seien fromm, großherzig und bedürften sehr eines Lehrers. In sehr kurzer Zeit – so sagt der hakim – erreichen wir kühle Luft und den Duft der Kiefern.« »Ihr geht zu den Bergen? Und auch noch die Straße nach Kulu? Oh, dreifach glücklich!« schrillte die alte Dame. »Wenn
ich nicht ein wenig von der Sorge um die Heimstatt hier bedrängt wäre, nähme ich den palankin… aber das wäre schamlos, und mein Ruf erhielte Risse. Ho! Ho! Ich kenne die Straße – jeden Schritt auf dieser Straße kenne ich. Ihr werdet überall Mildherzigkeit finden – Menschen von einnehmendem Aussehen wird sie nicht versagt. Ich werde Anweisungen geben, was Wegzehrung angeht. Ein Diener, der euch auf den Weg bringt? Nein… Dann will ich euch wenigstens gutes Essen kochen.« »Welch eine Frau die Sahiba ist!« sagte der weißbärtige Oorya, als in der Küche ein Tumult ausbrach. »Sie hat niemals einen Freund vergessen; sie hat in all ihren Jahren nie einen Feind vergessen. Und ihre Kochkunst – uah!« Er rieb sich den schlanken Magen. Es gab Kuchen, es gab Zuckerwerk, es gab kaltes Geflügel, zu Fetzen gekocht mit Reis und Pflaumen – genug, um Kim wie einen Maulesel zu beladen. »Ich bin alt und unnütz«, sagte sie. »Niemand liebt mich heute noch – und niemand achtet mich –, aber es gibt wenige, die sich mit mir messen können, wenn ich die Götter anrufe und mich an meine Kochtöpfe hocke. Kommt wieder, o ihr Menschen guten Willens. Heiliger und Jünger, kommt wieder. Der Raum ist immer bereitet; das Willkommen ist immer bereit… Sieh zu, daß die Frauen deinem chela nicht allzu offen folgen. Ich kenne die Frauen von Kulu. Gib acht, chela, daß er nicht fortläuft, wenn er seine Berge wieder wittert… Hai! Häng den Reisbeutel nicht verkehrt herum… Segne den Haushalt, Heiliger, und vergib deiner Dienerin ihre Dummheiten!« Sie wischte sich die roten alten Augen mit einem Zipfel ihres Schleiers und gluckste kehlig. »Frauen reden«, sagte der Lama später, »aber das ist die Schwäche einer Frau. Ich habe ihr einen Zauber gegeben. Sie
ist auf dem Rad und gänzlich den Darbietungen dieses Lebens ergeben, aber trotz allem, chela, ist sie tugendhaft, gütig, gastfreundlich – mit ganzem und eifrigem Herzen. Wer wollte sagen, daß sie kein Verdienst erwürbe?« »Ich nicht, Heiliger«, sagte Kim; er warf sich den reichen Proviant wieder über die Schulter. »In meinem Geist – hinter meinen Augen – habe ich versucht, mir solch eine auszumalen, ganz und gar frei vom Rad – nichts begehrend, nichts bewirkend – eine Nonne, gewissermaßen.« »Und, o kleiner Teufel?« Der Lama lachte beinahe laut. »Das Bild kann ich nicht malen.« »Ich auch nicht. Aber vor ihr liegen viele, viele Millionen Leben. Es mag sein, daß sie in jedem ein wenig Weisheit erhält.« »Und wird sie vergessen, auf diesem langen Weg, wie man einen Schmortopf mit Safran macht?« »Dein Geist klammert sich an unwerte Dinge. Aber sie besitzt Geschicklichkeit. Ich bin vollkommen erfrischt. Wenn wir die niedrigeren Berge erreichen, werde ich noch stärker sein. Der hakim hat mir heute früh Wahres gesprochen, als er sagte, daß ein Windhauch von den Schneebergen zwanzig Jahre vom Leben eines Mannes wegweht. Wir werden in die Berge hinaufgehen – die hohen Berge – hinauf zum Klang von Schneewasser und zum Klang der Bäume – für kurze Zeit. Der hakim sagte, wir könnten jederzeit zu den Ebenen zurückkehren, denn wir werden ja die ersprießlichen Orte nur streifen. Der hakim ist voll der Gelehrsamkeit; aber er ist keineswegs stolz. Ich habe ihm – als du mit der Sahiba geredet hast – von einem gewissen Schwindel gesprochen, der nachts nach meinem Nacken greift, und er sagte, das komme von zu großer Hitze – zu heilen durch kühle Luft. Als ich es bedachte, wunderte ich mich, daß ich nicht an ein so einfaches Heilmittel gedacht hatte.«
»Hast du ihm von deiner Suche erzählt?« sagte Kim ein wenig eifersüchtig. Er zog es vor, den Lama durch seine eigenen Worte zu lenken – nicht durch die Listen von Hurree Babu. »Gewiß. Ich habe ihm von meinem Traum erzählt und davon, wie ich Verdienst erwarb, indem ich sorgte, daß man dich Weisheit lehrte.« »Du hast ihm aber nicht gesagt, daß ich ein Sahib bin?« »Wozu? Ich habe dir viele Male gesagt, daß wir nur zwei Seelen sind, die Befreiung suchen. Er sagte – und darin hat er recht –, daß der Fluß der Heilung hervorbrechen wird, ganz wie ich es geträumt habe – zu meinen Füßen, wenn nötig. Siehst du, nachdem ich den Pfad gefunden habe, der mich vom Rad befreien wird, soll ich mich da noch sorgen, daß ich einen Weg über bloße Felder der Erde finde – die Trug sind? Das wäre unsinnig. Ich habe meine Träume, die sich Nacht für Nacht wiederholen; ich habe die Játaka; und ich habe dich, Freund der ganzen Welt. Im Horoskop stand geschrieben, daß ein Roter Stier auf einem grünen Feld – ich habe es nicht vergessen – dich zu Ehren bringen würde. Wer sonst als ich hat denn diese Prophezeiung in Erfüllung gehen sehen? Wahrlich, ich war das Werkzeug. Du wirst meinen Fluß für mich finden, hierzu deinerseits das Werkzeug sein. Die Suche ist gewiß!« Er wandte sein elfenbeingelbes Gesicht, heiter und ungetrübt, den winkenden Bergen zu; sein Schatten schob sich weit vor ihm durch den Staub.
KAPITEL XIII
Who hath desired the Sea – the immense and contemptuous surges? The shudder, the stumble, the swerve ere the star-stabbing bowsprit emerges? The orderly clouds of the Trades and the ridged roaring sapphire thereunder – Unheralded cliff-lurking flaws and the head-sails’ low-volleying thunder? His Sea in no wonder the same – his Sea and the same in each wonder – His Sea that his being fulfils? So and no otherwise – so and no otherwise hill-men desire their Hills! The Sea and the Hills [Wer hat die See je begehrt – das maßlos hochmütige Branden? Das Schaudern, das Straucheln, das Schweifen eh der Bugspriet sternstoßend auftaucht? Sittsames Passatgewölk – gratig, röhrend, der Saphir darunter – die jähe Bö, lauernd an Klippen, und des Vorsegels grollendes Donnern? Die See, in keinem Wunder gleich – doch in jedem Wunder dieselbe – Seine See die sein Wesen erfüllt? So und nicht anders – so und nicht anders begehren Bergmenschen die Berge! Die See und die Berge]
»Wer zu den Bergen geht, geht zu seiner Mutter.« Sie hatten die Siwaliks und den halbtropischen Dün durchquert, Mussoorie hinter sich gelassen und wanderten auf den schmalen Bergstraßen nach Norden. Tag um Tag drangen sie
tiefer ins enge Gebirge, und Tag um Tag sah Kim, wie der Lama zur Kraft eines Mannes zurückfand. Zwischen den Terrassen des Dün hatte er sich auf die Schulter des Jungen gestützt, bereit, jede Rast am Wege zu nutzen. Vor dem großen Aufstieg nach Mussoorie riß er sich zusammen wie ein alter Jäger angesichts eines wohlbekannten Hügels, und wo er erschöpft hätte niedersinken sollen, schwang er die langen Gewänder um sich, sog tief eine doppelte Lungevoll der diamantenen Luft ein und schritt aus, wie nur ein Bergbewohner es kann. Kim, in den Ebenen geboren und aufgewachsen, schwitzte und keuchte erstaunt. »Dies ist mein Land«, sagte der Lama. »Neben Such-zen ist das hier flacher als ein Reisfeld«; und mit stetigen, wuchtigen Schüben aus den Lenden schritt er bergan. Aber es war bei den steilen Märschen bergab, dreitausend Fuß in drei Stunden, daß Kim, dessen Rücken vom Rückstemmen schmerzte und dessen großer Zeh von der Bastschnur seiner Sandale fast abgeschnitten wurde, ganz hinter ihm zurückblieb. Durch den gescheckten Schatten der großen Deodarwälder, durch farngefiederte Eiche, Birke, Ilex, Rhododendron und Kiefer, hinaus auf das schlüpfrige sonnverbrannte Gras der nackten Berghänge und wieder zurück in die Kühle des Waldlands, bis Eiche dem Bambus und der Palme des Tals wich, lief der Lama mit langen Schritten unermüdlich dahin. Beim Rückblick im Zwielicht auf die gewaltigen Grate hinter ihm und die undeutliche dünne Linie der Straße, die sie genommen hatten, entwarf er mit der großzügigen, weitherzigen Vision eines Gebirglers neue Märsche für den Morgen; oder er hielt auf dem höchsten Punkt eines erhobenen Passes, der nach Spiti und Kulu blickte, und streckte seine Hände sehnsüchtig den Schneegipfeln des Horizonts entgegen. In den Morgendämmerungen flammten sie windig-rot über tiefem Blau, wenn Kedarnath und Badrinath – Könige dieser
Wildnis – das erste Sonnenlicht auffingen. Den ganzen langen Tag lagen sie wie geschmolzenes Silber unter der Sonne, und abends legten sie wieder ihr Geschmeide an. Zunächst behauchten sie die Reisenden mild mit Winden, wie man ihnen gern begegnet, wenn man über einen riesigen Eberrücken kriecht; aber einige Tage später, in neun- oder zehntausend Fuß Höhe, bissen diese Brisen; und Kim erlaubte es den Bewohnern eines Bergdorfs gnädig, Verdienst zu erwerben, indem sie ihm einen Mantel aus rauhem Deckenstoff gaben. Der Lama war gelinde erstaunt, daß jemand Einwände haben konnte gegen die messerscharfen Brisen, die ihm die Jahre von den Schultern geschnitten hatten. »Das sind doch nur die Hügel, chela. Kälte gibt es erst, wenn wir in die richtigen Berge kommen.« »Luft und Wasser sind gut, und die Leute sind fromm genug, aber das Essen ist sehr schlecht«, knurrte Kim; »und wir laufen, als ob wir verrückt wären – oder Engländer. Außerdem friert es nachts.« »Vielleicht ein wenig; aber gerade genug, daß alte Knochen sich an der Sonne ergötzen. Wir müssen nicht immer in weichen Betten und reichem Essen schwelgen.« »Wenigstens könnten wir auf der Straße bleiben.« Kim besaß die ganze Zuneigung des Flachländers zum gutgetrampelten Weg, keine sechs Fuß breit, der sich zwischen den Bergen entlangschlängelte; aber der Lama als Tibeter konnte Abkürzungen über Bergausläufer und Ränder von Geröllhängen nicht widerstehen. Wie er seinem hinkenden Jünger erklärte, kann ein zwischen Bergen Aufgewachsener den Verlauf einer Bergstraße vorhersagen, und wenn tiefhängende Wolken auch dem Fremden, der eine Abkürzung nehmen will, ein Hindernis sein mochten, so seien sie doch einem Aufmerksamen gänzlich bedeutungslos. Nach langen Stunden von etwas, das in zivilisierten Ländern als sehr
anständige bergsteigerische Leistung betrachtet worden wäre, keuchten sie so über einen Bergsattel, umgingen ein paar Erdrutsche und kletterten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad durch Wald wieder zur Straße hinunter. An ihrem Weg lagen die Dörfer des Bergvolks – Hütten aus Lehm und Erde, hin und wieder grob mit der Axt behauenes Holz –, wie Schwalbennester an die Steilhänge geklammert, auf winzigen Plateaus in halber Höhe eines dreitausend Fuß tiefen Absturzes zusammengedrängt; in einen Winkel zwischen Klippen gerammt, die jeden schweifenden Sturmstoß trichterten und bündelten; oder wegen der Sommerweiden auf einen Bergrücken gekauert, der im Winter unter zehn Fuß Schnee liegen würde. Und die Leute – die fahlgelben, schmierigen, düffelgekleideten Leute mit kurzen nackten Beinen und Gesichtern fast wie Eskimos – strömten heraus und beteten an. Die Ebenen – sanft und freundlich – hatten den Lama als einen Heiligen unter vielen behandelt. Aber die Berge beteten ihn an als Vertrauten all ihrer Teufel. Sie betrieben einen fast völlig entstellten Buddhismus, überwuchert von einem Naturglauben, so fantastisch wie ihre eigenen Landschaften und so ausgeklügelt wie die Terrassierung ihrer winzigen Felder; aber sie erkannten die große Mütze, den klickenden Rosenkranz und die kostbaren chinesischen Texte als große Gewalt; und sie achteten den Mann unter der Mütze. »Wir sahen dich über die schwarzen Brüste von Eua herabkommen«, sagte ein Betah, der ihnen eines Abends Käse, saure Milch und steinhartes Brot gab. »Dahin gehen wir nicht oft – außer, wenn kalbende Kühe im Sommer streunen. Zwischen diesen Steinen ist ein jäher Wind, der auch am stillsten Tag Männer hinabwirft. Aber was sollen sich solche Leute wie ihr um den Teufel von Eua scheren!« Da begann Kim, weh bis in jede Faser, schwindlig vom Hinabschauen, fußwund von unzulänglichen Spalten, in die
sich die Zehen verzweifelt krampften, Freude am Tagesmarsch zu empfinden – solche Freude, wie ein Junge von St. Xavier, der die Viertelmeile gewonnen hat, am Beifall seiner Freunde finden mag. Die Berge ließen ihn den Talg von ghi und Zucker von den Knochen schwitzen; die trockene Luft, schluchzend eingesogen am Kopf grausamer Pässe, stärkte und weitete seine oberen Rippen; und die schrägen Flächen gaben ihm neue harte Muskeln in Wade und Schenkel. Oft meditierten sie über das Rad des Lebens – dies um so mehr, da sie, wie der Lama sagte, von seinen sichtbaren Versuchungen befreit waren. Abgesehen von dem grauen Adler und einem gelegentlich aus der Ferne erblickten Bären, der an einem Berghang grub und wühlte, der Vision eines wütenden bunten Leoparden, der im Morgengrauen in einem stillen Tal eine Ziege verschlang, und hin und wieder einem grellfarbigen Vogel waren sie allein mit den Winden und dem Gras, das im Wind sang. Die Frauen in den rauchigen Hütten, über deren Dächer die beiden gingen, wenn sie von den Bergen hinabstiegen, waren unschön und unsauber, Frauen vieler Gatten und mit Kröpfen geschlagen. Die Männer waren Holzfäller, wenn sie nicht Bauern waren – sanftmütig und von unglaublicher Schlichtheit. Daß jedoch geziemende Rede nicht fehle, sandte ihnen das Schicksal, überholend und überholt auf der Straße, den höflichen Arzt aus Dacca, der für sein Essen mit Salben gegen Kropf und mit Ratschlägen zahlte, die den Frieden zwischen Männern und Frauen wieder herstellen. Er schien diese Berge so gut zu kennen, wie er die Bergdialekte kannte, und legte dem Lama das Land bis Ladakh und Tibet aus. Er sagte, sie könnten jederzeit zu den Ebenen zurückkehren. Inzwischen mochte jene Straße drüben einen erfreuen, der die Berge liebte. Dies wurde nicht alles auf einmal enthüllt, sondern bei abendlichen Begegnungen auf den steinernen Tennen, wenn die Patienten behandelt waren und
der Arzt rauchte und der Lama schnupfte, während Kim den kleinen Kühen zusah, wie sie auf den Hausdächern grasten, oder seine Seele den Augen hinterherschleuderte über die tiefen blauen Abgründe zwischen Bergkette und Bergkette. Und es gab auch diskrete Gespräche in den düsteren Wäldern, wenn der Arzt Kräuter suchte und Kim, als knospender Heiler, ihn begleiten mußte. »Sehen Sie, Mister O’Hara, ich weiß wirklich nicht, was zum Teufel ich tun werde, wenn ich unsere Sportsfreunde finde; aber wenn Sie freundlicherweise in Sichtweite meines Schirms bleiben mögen, der feiner Fixpunkt für katastrale Vermessung ist, fühle ich mich viel wohler.« Kim blickte hinaus über den Dschungel von Gipfeln. »Dies ist nicht mein Land, hakim. Es ist leichter, glaube ich, eine einzelne Laus in einem Bärenfell zu finden.« »Ach, das ist gerade meine Stärke. Keine Eile – no hurry for Hurree. Sie waren in Leh, gar nicht so lange her. Sie haben gesagt, sie kämen vom Karakorum herunter mit ihren Köpfen und Hörnern und allem. Ich fürchte nur, sie werden von Leh aus all ihre Briefe und kompromittierenden Dinge in russisches Territorium zurückgeschickt haben. Natürlich werden sie so weit nach Osten gehen wie möglich – bloß um zu zeigen, daß sie überhaupt nie in den Westlichen Staaten gewesen sind. Kennen Sie die Berge nicht?« Er kratzte mit einem Zweig auf dem Boden. »Sehen Sie! Eigentlich hätten sie über Srinagar oder Abbottabad hereinkommen sollen. Das ist für sie die kürzeste Strecke – flußabwärts über Bunji und Astor. Aber sie haben im Westen Unfug angerichtet. Deshalb« – er zog eine Furche von links nach rechts – »marschieren und marschieren sie immer weiter von Leh nach Osten (ah! da ist ist es kalt), und den Indus abwärts nach Han-le (ich kenne die Straße) und dann weiter abwärts, sehen Sie, nach Bushahr und ins ChiniTal. Das ist gesichert durch Eliminierungsverfahren und
außerdem dadurch, daß ich Leute, die ich so gut heile, Fragen frage. Unsere Freunde haben sich sehr lange herumgetrieben und Eindrücke gemacht. Also kennt man sie auch aus der Ferne sehr gut. Sie werden sehen, ich erwische sie irgendwo im Chini-Tal. Bitte halten Sie den Schirm im Auge.« Dieser nickte wie eine windgewiegte Glockenblume die Täler hinab und um Bergausläufer, und der Lama und Kim, die nach dem Kompaß gingen, überholten ihn immer wieder, wenn er zur Abendzeit Salben und Pulver verkaufte. »Wir haben diesen und jenen Weg genommen!« Der Lama pflegte mit achtlosem Finger hinter sich auf Grate zu deuten, und der Schirm erging sich in Komplimenten. Sie überquerten in kaltem Mondlicht einen verschneiten Paß, und der Lama, der Kim sanft verspottete, watete bis an die Knie versunken hindurch wie ein baktrisches Kamel – die schneegewohnte zottelhaarige Art, die ins Kaschmir-Serai kommt. Versinkend stapften sie über Betten lockeren Schnees und pulverschneebedeckten Schieferton, wo sie vor einem Sturm Zuflucht in einem Lager von Tibetern suchten, die winzige Schafe bergab trieben, jedes beladen mit einem Beutel Borax. Sie erreichten grasige, immer noch schneegescheckte Schultern von Bergen und kamen dann durch Wald wieder auf Gras. Trotz all ihres Marsch ierens zeigten sich Kedarnath und Badrinath ganz unbeeindruckt; und erst nach tagelanger Wanderung konnte Kim von irgendeinem unbedeutenden zehntausend Fuß hohen Buckel aus sehen, daß eine Schulteragraffe oder ein Horn der beiden großen Herren sich – kaum merklich – im Umriß verändert hatte. Schließlich traten sie in eine Welt innerhalb einer Welt – ein zahllose Meilen durchmessendes Tal, in dem die höchsten Erhebungen aus dem bloßen Schutt und Abfall vom Knie der Berge gebildet waren. Hier schien ein Tagesmarsch sie nicht weiter zu bringen, als der bleischwere Schritt des Träumers
diesen in einem Albtraum trägt. Stundenlang umgingen sie mühsam eine Schulter, aber es war nichts als der vorgeschobene Buckel einer vorgeschobenen Rippe des Hauptsockels. Eine runde Weide enthüllte sich, sobald sie sie erreicht hatten, als weites Tafelland, das sich fern ins Tal erstreckte. Drei Tage später war es nur eine undeutliche Erdfalte im Süden. »Bestimmt leben hier die Götter!« sagte Kim, erschlagen von der Stille und dem erschreckenden Fegen und Fetzen der Wolkenschatten nach dem Regen. »Dies ist kein Ort für Menschen!« »Vor langer, langer Zeit«, sagte der Lama wie zu sich selbst, »wurde der HErr gefragt, ob die Welt ewig währe. Hierauf gab der Vortreffliche keine Antwort… Als ich in Ceylon war, bestätigte ein weiser Sucher dies aus der Lehre, die in Pali geschrieben ist. Da wir den Weg zur Freiheit kennen, wäre diese Frage auch gewiß nicht förderlich, aber – sieh und erkenne den Trug, chela! Dies sind sie wahren Berge! Sie sind gleich meinen Bergen bei Such-zen. Nie gab es solche Berge!« Über ihnen, noch unermeßlich hoch über ihnen, türmte sich die Erde zur Schneegrenze empor, wo über Hunderte von Meilen von Ost nach West, wie mit dem Lineal gezogen, auch die letzten der verwegenen Birken endeten. Darüber mühten sich in Schanzen und aufgetürmten Blöcken die Felsen, ihre Köpfe über die weiße Erstickung zu recken. Wieder darüber, unverändert seit Anfang der Welt und sich doch ändernd mit jeder Laune von Sonne und Gewölk, erstreckte sich der ewige Schnee. In seinem Gesicht konnten sie Tupfen und Flecken sehen, wo Sturm und wandernder wullie-wa sich zum Tanz erhoben. Unter ihnen, dort wo sie standen, glitt der Wald Meile um Meile hinab in einem Laken aus Blau und Grün; unterhalb des Waldes lag ein Dorf in seinem Gesprenkel terrassierter Felder und steiler Weideflächen. Unter dem Dorf, wußten sie –
wenn dort auch gerade ein Gewitter würgte und grollte –, stürzte sich ein Hang von zwölf- oder fünfzehnhundert Fuß ins feuchte Tal, wo die Ströme sich sammeln, die die Mütter des jungen Sutlej sind. Wie gewöhnlich hatte der Lama Kim über Viehpfade und Nebenwege weit von der Hauptstrecke geführt, auf der Hurree Babu, dieser »furchtsame Mann«, sich drei Tage zuvor durch einen Sturm gestemmt hatte, dem neun von zehn Engländern bereitwillig den Weg freigegeben hätten. Hurree war kein Wildschütze – das Knacken eines Abzugs ließ ihn die Farbe wechseln –, aber er war, wie er selbst gesagt hätte, »ganz brauchbarer Pirscher«, und mit einem billigen Fernglas hatte er das riesige Tal tüchtig durchkämmt. Außerdem ist das Weiß abgenutzter Segeltuchzelte auf grünem Hintergrund weit sichtbar. Hurree Babu hatte alles gesehen, was er sehen wollte, als er auf der Tenne von Ziglaur saß, zwanzig Meilen Luftlinie entfernt und vierzig auf der Straße – nämlich zwei kleine Punkte, die an einem Tag knapp unterhalb der Schneegrenze waren und sich am nächsten Tag vielleicht sechs Zoll die Bergflanke hinab bewegt hatten. Wenn sie erst einmal ausgeschüttelt und in Bewegung gebracht waren, konnten seine fetten nackten Beine eine erstaunliche Strecke Weges zurücklegen, und das war der Grund, aus dem – während Kim und der Lama in einer lecken Hütte in Ziglaur lagen und das Ende des Unwetters erwarteten – ein öliger, nasser, aber immer lächelnder Bengali, der bestes Englisch garniert mit übelsten Redewendungen sprach, sich bei zwei durchweichten und ziemlich rheumatischen Fremdlingen einschmeichelte. Viele wilde Pläne in seinem Kopf wälzend, war er dort nach einem Gewitter eingetroffen, das eine Kiefer gerade gegenüber von ihrem Lager gespalten hatte und dadurch ein oder zwei Dutzend gewaltig beeindruckte Gepäckkulis davon überzeugte, daß der Tag für weiteres Reisen ungünstig sei, so daß sie
einmütig scheuten und ihre Lasten abwarfen. Sie waren Untertanen eines Bergradschas, der ihre Dienste dem Herkommen entsprechend für seinen privaten Gewinn vermietete; und zur Mehrung ihrer persönlichen Bekümmerung hatten die fremden Sahibs sie schon mit Gewehren bedroht. Die meisten von ihnen kannten seit langem Gewehre und Sahibs: Sie waren Fährtensucher und shikarris aus den Tälern des Nordens, eifrige Bären- und Wildziegenjäger; aber nie in ihrem Leben hatte man sie so behandelt. Deshalb nahm nun der Wald sie auf in seinen Schoß und weigerte sich, allem Fluchen und Lärmen trotzend, sie wieder herzugeben. Es gab nun keinen Grund mehr zur Vortäuschung von Wahnsinn oder… der Babu hatte noch an eine andere Möglichkeit gedacht, sich ein Willkommen zu sichern. Er wrang seine nassen Kleider aus, schlüpfte in die Lacklederschuhe, öffnete den blau-weißen Schirm, und mit affektierter Haltung und Herzklopfen bis in die Mandeln erschien er als »Agent Seiner Königlichen Hoheit des Radschas von Rampur, Gentlemen. Was kann ich bitte sehr für Sie tun?« Die Gentlemen waren entzückt. Einer war offensichtlich Franzose, der andere Russe, aber beide sprachen ein Englisch, das nicht viel schlechter war als das des Babus. Sie baten um seinen gütigen Beistand. Ihre einheimischen Diener seien in Leh krank geworden. Man sei weitergeeilt, weil man die Jagdtrophäen dringend nach Simla bringen wolle, ehe die Felle von Motten zerfressen würden. Man besitze ein allgemeines Empfehlungsschreiben (der Babu erwies diesem nach Art des Orients ein Salaam) an alle Regierungsbeamten. Nein, man habe en route keine anderen Jagdgesellschaften getroffen. Man sei selbstgenügsam. Man habe ausreichende Vorräte. Man wünsche lediglich, sobald wie möglich weiterzukommen. An dieser Stelle bemächtigte sich der Babu eines zwischen den Bäumen kauernden Gebirglers, und nach drei Minuten des
Redens sowie ein wenig Silber (im Staatsdienst kann man nicht sparsam sein, wenn Hurrees Herz auch wegen der Verschwendung blutete) tauchten die elf Kulis und die drei Mitläufer wieder auf. Immerhin würde der Babu Zeuge ihrer Unterdrückung sein. »Mein königlicher Herr wird sehr verärgert sein, aber diese Leute sind nur gewöhnliches Volk und gröblich unwissend. Wenn Euer Gnaden freundlichst unselige Affaire übersehen wollten, wäre ich sehr glücklich. Noch ein bißchen, dann hört der Regen auf, und wir können weiter. Sie waren schießen, eh? Das ist feine Verrichtung!« Behende hüpfte er von einem kilta zum anderen und tat dabei, als wolle er die konischen Körbe einzeln zurechtrücken. Der Engländer geht in der Regel mit dem Asiaten nicht vertraulich um, würde aber einen freundlichen Babu nicht auf die Hand schlagen, wenn dieser zufällig einen kilta mit rotem Öltuch obenauf umgestoßen hätte. Andererseits würde er einem noch so freundlichen Babu niemals Alkohol aufdrängen und ihn auch nicht einladen, Fleisch zu essen. Die Fremden taten all das und stellten viele Fragen – meistens über Frauen –, worauf Hurree muntere und ungezwungene Antworten gab. Sie gaben ihm ein Glas mit einer weißlichen Flüssigkeit, ähnlich Gin, und dann noch mehr davon; und nach kurzer Zeit verließ ihn sein gemessenes Benehmen. Er näherte sich eindeutigem Hochverrat und sprach in weitestgehend unflätigen Begriffen über eine Regierung, die ihm die Ausbildung eines Weißen aufgedrängt hatte, das Gehalt eines Weißen jedoch vorenthielt. Er plapperte Geschichten von Unterdrückung und Unrecht, bis Tränen ob des Elends seiner Heimat ihm die Wangen hinabrannen. Dann torkelte er davon, Liebeslieder aus Niederbengalen singend, und brach über einem nassen Baumstamm zusammen. Niemals wurde ein
solch unseliges Produkt der englischen Herrschaft in Indien Ausländern unglücklicher vorgeführt. »Die sind alle so«, sagte einer der Sportsmänner auf Französisch zum anderen. »Wenn wir erst ins eigentliche Indien kommen, wirst du es schon sehen. Ich würde gern seinen Radscha besuchen. Man könnte da das geeignete Wort sagen. Vielleicht hat er ja schon von uns gehört und will uns seinen guten Willen beweisen.« »Die Zeit haben wir nicht. Wir müssen so schnell wie möglich nach Simla«, erwiderte sein Gefährte. »Was mich angeht – mir wäre wohler, wenn wir unsere Berichte von Hilàs oder schon von Leh aus zurückgeschickt hätten.« »Die englische Post ist besser und zuverlässiger. Vergiß nicht, wir haben hier alle Möglichkeiten, und bei Gott, sie haben sie uns selbst eingeräumt! Ist das eigentlich unglaubliche Dummheit?« »Es ist Stolz – Stolz, der bestraft werden muß und wird.« »Jawohl! Bei unserem Spiel gegen einen anderen Europäer kämpfen wäre ja noch was. Da gibt es ein Risiko, aber diese Leute hier – bah! Es ist zu einfach.« »Stolz – nichts als Stolz, mein Freund.« ›Also was zum Teufel nützt es jetzt, daß Chandernagore so nah bei Kalkutta ist und überhaupt‹, sagte sich Hurree, der mit offenem Mund im nassen Moos schnarchte, ›wenn ich doch ihr Französisch nicht verstehen kann? Sie reden so furchtbar schnell! Es wäre viel besser gewesen, ihnen die verdammten Kehlen durchzuschneiden.‹ Als er wieder zum Vorschein kam, war er von Kopfschmerzen zermartert – bußfertig und voll geschwätziger Angst, er könnte in seiner Betrunkenheit indiskret gewesen sein. Er liebe die Britische Regierung – sie sei Quell allen Wohlstands und aller Ehre, und sein Herr in Rampur sei der gleichen Ansicht.
Daraufhin begannen die beiden Männer ihn zu verspotten und seine früheren Reden zu zitieren, bis der arme Babu Schritt für Schritt, mit entschuldigenden Grimassen, schmierigem Grinsen und unendlich gerissenem Geblinzel aus seiner Verschanzung herausgetrieben und gezwungen war, zu reden – die Wahrheit. Als Lurgan später diese Geschichte hörte, bejammerte er laut, daß er nicht an Stelle der sturen, achtlosen Kulis hatte sein können, die mit Bastmatten über dem Kopf den Regentropfen zusahen, die in ihren Fußabdrücken Pfützen bildeten, und auf anderes Wetter warteten. Alle Sahibs, die sie kannten – derbgekleidete Männer, die Jahr für Jahr fröhlich zu den einmal gewählten Schluchten zurückkehrten –, hatten Diener und Köche und Burschen, sehr oft Bergmenschen. Diese Sahibs hier reisten ohne jedes Gefolge. Es mußten daher arme Sahibs sein, und sehr unwissende; denn kein seiner Sinne mächtiger Sahib würde auf den Ratschlag eines Bengalis hören. Aber der von irgendwoher erschienene Bengali hatte ihnen Geld gegeben und kam mit ihrem Dialekt zurecht. Da sie an umfassende Mißhandlung durch Leute ihrer eigenen Farbe gewohnt waren, argwöhnten sie irgendwo eine Falle und waren bereit fortzulaufen, wenn sich die Gelegenheit bot. Durch die frischgewaschene Luft, die von köstlichen Erddüften dampfte, führte dann der Babu die Gruppe bergab – stolz ging er vor den Kulis, demütig hinter den Fremden her. Seine Gedanken waren zahlreich und unterschiedlich. Der geringste von ihnen würde seine Gefährten unsagbar interessiert haben. Aber er war ein angenehmer Führer, immer bereit, die Schönheiten des Herrschaftsbereichs seines königlichen Herren aufzuzeigen. Er bevölkerte die Berge mit allem, was sie gern erlegt hätten – Thar, Steinbock, Markhor und Bären, soviel Elisa liefern mochte. Mit tadelloser Ungenauigkeit dozierte er über Botanik und Ethnologie, und sein Vorrat an örtlichen Legenden – er war ja, nicht zu
vergessen, seit fünfzehn Jahren Vertrauensagent des Staats – war unerschöpflich. »Der Bursche ist eindeutig ein Original«, sagte der größere der beiden Ausländer. »Er ist ja wie ein Albtraum von einem Wiener Fremdenführer.« »Im Kleinen repräsentiert er das Indien des Übergangs – das monströse Zwittertum von Ost und West«, erwiderte der Russe. »Und wir sind es, die mit Orientalen umgehen können.« »Er hat sein eigenes Land verloren und kein anderes dafür bekommen. Aber er hat einen gründlichen Haß auf seine Eroberer. Hör dir an, was er mir gestern abend anvertraut hat«, sagte der andere. Unter dem gestreiften Schirm mühte Hurree Babu Ohr und Hirn ab, um dem schnell fließenden Französisch zu folgen; dabei hielt er beide Augen auf einen kilta voller Karten und Dokumente gerichtet – einen besonders großen, abgedeckt mit doppeltem roten Öltuch. Er wollte nichts stehlen. Er wollte nur wissen, was es da zu stehlen gab, und außerdem wie er entkommen konnte, wenn er es gestohlen hatte. Er dankte allen Göttern Hindustans sowie Herbert Spencer, daß überhaupt noch einige stehlenswerte Dinge da waren. Am zweiten Tag stieg die Straße steil zu einem grasigen Ausläufer über dem Wald an; und dort war es, daß sie gegen Sonnenuntergang auf einen alten Lama trafen – sie nannten ihn allerdings Bonze –, der mit gekreuzten Beinen über einer geheimnisvollen, mit Steinen beschwerten Karte saß, die er einem jungen Mann erläuterte, offenkundig einem Neophyten von einzigartiger, wenngleich ungewaschener Schönheit. Sie hatten den gestreiften Schirm einen halben Tagesmarsch entfernt gesichtet, und Kim hatte vorgeschlagen, eine Pause zu machen, bis der Schirm sie erreichte.
»Ha!« sagte Hurree Babu, einfallsreich wie der Gestiefelte Kater. »Das ist eminenter Ortsheiliger. Vermutlich Untertan meines königlichen Herren.« »Was macht er da? Das ist aber merkwürdig.« »Er legt heiliges Bild dar – ganz handgearbeitet.« Die beiden Männer standen barhäuptig in der Brandung des abendlichen Sonnenlichts tief über dem goldgefärbten Gras. Die mürrischen Kulis, froh über einen Halt, blieben stehen und ließen ihre Lasten sinken. »Sieh mal!« sagte der Franzose. »Das ist wie ein Bild über die Geburt einer Religion – der erste Lehrer und der erste Jünger. Ist er Buddhist?« »Von einer verkommenen Form des Buddhismus«, antwortete der andere. »In den Bergen gibt es keine richtigen Buddhisten. Aber sieh dir die Falten seines Gewandes an. Schau dir seine Augen an – wie unverschämt! Warum gibt einem das das Gefühl, daß wir ein zu junges Volk sind?« Der Sprecher schlug hitzig nach einem hohen Halm. »Wir haben noch nirgendwo unser Zeichen hinterlassen. Nirgendwo! Das, verstehst du, ist es, was mich beunruhigt.« Er starrte finster auf das friedvolle Gesicht und die monumentale Ruhe der Haltung. »Nur Geduld. Wir werden euer Zeichen noch zusammen hinterlassen – wir und dein junges Volk. Inzwischen zeichne besser sein Bild ab.« Der Babu kam hochmütig näher; die Haltung seines Rückens paßte keineswegs zu seiner unterwürfigen Sprache und auch nicht zu dem Blinzeln, das er Kim gönnte. »Heiliger, das sind Sahibs. Meine Medizinen haben einen von einem Ausfluß geheilt, und ich gehe nach Simla, über seine Genesung zu wachen. Sie möchten dein Bild sehen…« »Die Kranken heilen ist immer gut. Dies ist das Rad des Lebens«, sagte der Lama, »das gleiche, das ich dir in der Hütte in Ziglaur gezeigt habe, als der Regen fiel.«
»… und es von dir dargelegt hören.« Die Augen des Lamas leuchteten bei der Aussicht auf neue Zuhörer. »Den Höchst Vortrefflichen Pfad darlegen ist gut. Besitzen sie irgendwelche Kenntnisse des Hindi, wie es der Hüter der Bildwerke hatte?« »Vielleicht ein wenig.« Hierauf, schlicht wie ein Kind, das sich in ein neues Spiel vertieft, warf der Lama den Kopf nach hinten und begann mit der vollmundigen Beschwörung, die der Theologe der eigentlichen Doktrin vorangehen läßt. Die Fremden lehnten auf ihren Alpenstöcken und lauschten. Kim hockte demütig da, betrachtete das rote Sonnenlicht auf ihren Gesichtern und die Vermengung und Zertrennung ihrer langen Schatten. Sie trugen unenglische Gamaschen und seltsame eingeschlagene Gürtel, die ihn undeutlich an die Bilder in einem Buch der Bibliothek von St. Xavier erinnerten, Die Abenteuer eines jungen Naturkundlers in Mexiko betitelt. Ja, sie ähnelten sehr dem wunderbaren Herrn Sumichrat dieser Geschichte und keineswegs den »höchst skrupellosen Gesellen« von Hurree Babus Darstellung. Die Kulis, erdfarben und stumm, kauerten ehrfurchtsvoll einige zwanzig oder dreißig Yards entfernt, und der Babu, dessen weites leichtes Gewand in der kalten Brise wie ein Markierwimpel knatterte, stand mit der Miene eines glücklichen Eigentümers daneben. »Das sind die Männer«, flüsterte Hurree, während das Ritual seinen Verlauf nahm und die beiden Weißen dem Grashalm folgten, der von der Hölle zum Himmel und wieder zurück wanderte. »All ihre Bücher sind in dem großen kilta mit der rötlichen Bedeckung – Bücher und Berichte und Karten –, und ich habe einen Königsbrief gesehen, den entweder Hilàs oder Bunàr geschrieben hat. Sie bewahren ihn sehr sorgfältig. Aus Hilàs oder Leh haben sie nichts zurückgeschickt. Das ist sicher.«
»Wer ist bei ihnen?« »Nur die beegar-Kulis. Sie haben keine Diener. Sie sind so vorsichtig, daß sie sogar ihr Essen selbst kochen.« »Aber was soll ich tun?« »Warte und sieh zu. Nur, wenn mir etwas zustoßen sollte, wirst du nun wissen, wo du nach den Papieren suchen mußt.« »Da wäre ich in Mahbub Alis Händen besser aufgehoben als in denen eines Bengalis«, sagte Kim verächtlich. »Wenn man zu einem Liebchen will, ist die Wand einreißen nicht die einzige Möglichkeit.« »Schaut hier die Hölle, die dem Geiz und der Habgier bestimmt ist. Umgeben von der Begierde auf dieser und der Ungeduld auf der anderen Seite.« Der Lama erwärmte sich für sein Werk, und einer der Fremden skizzierte ihn im schnell schwindenden Licht. »Das reicht«, sagte der Mann schließlich brüsk. »Ich kann ihn nicht verstehen, aber das Bild will ich haben. Er ist ein besserer Künstler als ich. Fragen Sie ihn, ob er es verkauft.« »Er sagt ›Nein, Sar‹ «, erwiderte der Babu. Der Lama hätte seine Karte natürlich einer zufälligen Straßenbekanntschaft ebensowenig überlassen, wie ein Erzbischof die heiligen Gefäße seiner Kathedrale verpfänden würde. Ganz Tibet ist voll von billigen Reproduktionen des Rads; aber der Lama war ein Künstler und außerdem wohlhabender Abt in seiner Heimat. »In drei Tagen, oder vier, oder zehn, wenn ich sehe, daß der Sahib ein Sucher ist und von gutem Begreifen, werde ich ihm vielleicht ein anderes malen. Aber dieses wurde zur Einweihung eines Novizen verwendet. Sag ihm das, hakim.« »Er will es jetzt – für Geld.« Der Lama schüttelte langsam den Kopf und begann, das Rad zusammenzufalten. Der Russe seinerseits sah nichts als einen unsauberen alten Mann, der um ein schmutziges Stück Papier
feilschte. Er zog eine Handvoll Rupien hervor und griff halb im Scherz nach der Karte, die im Griff des Lamas zerriß. Ein leises Murmeln des Entsetzens stieg von den Kulis auf – einige von ihnen waren Männer aus Spiti und, nach ihrem Vermögen, gute Buddhisten. Der Lama erhob sich bei dieser Schmähung; seine Hand faßte nach dem schweren eisernen Federkasten, der des Priesters einzige Waffe ist, und der Babu tanzte in Höllenqualen herum. »Da sehn Sie – da sehn Sie, warum ich Zeugen haben wollte. Das sind ganz skrupellose Leute. Oh, Sar! Sar! Sie dürfen heiligen Mann nicht schlagen!« »Chela! Er hat das Geschriebene Wort geschändet!« Es war zu spät. Ehe Kim ihn abwehren konnte, schlug der Russe den alten Mann mitten ins Gesicht. Im nächsten Moment rollte er kopfüber den Berg hinab, mit Kim an der Kehle. Der Schlag hatte im Blut des Jungen alle unbekannten irischen Teufel geweckt, und der plötzliche Fall seines Feindes besorgte den Rest. Der Lama sackte in die Knie, halb betäubt; die Kulis flohen unter ihren Lasten so schnell bergauf, wie Flachländer über die Ebene rennen. Sie hatten unsagbaren Frevel gesehen, und es geziemte sich für sie, sich zu entfernen, ehe die Götter und Teufel der Berge Rache nahmen. Der Franzose rannte zum Lama hin und tastete nach seinem Revolver, in der Absicht, den alten Mann als Geisel für seinen Gefährten zu nehmen. Ein Schauer kantiger Steine – Bergmenschen sind sehr treffsicher – trieb ihn fort, und ein Kuli aus Ao-chung riß den Lama in die wilde Flucht. Alles kam so schnell wie das jähe Gebirgs-dunkel. »Sie haben das Gepäck und alle Gewehre«, gellte der Franzose; er feuerte blindlings ins Zwielicht. »All right, Sar! Alles in Ordnung! Nicht schießen. Ich gehe retten«, und Hurree stampfte den Hang hinunter und warf sich
leibhaftig auf den entzückten und verblüfften Kim, der den Kopf seines atemlosen Feindes gegen einen Felsen hämmerte. »Geh zurück zu den Kulis«, flüsterte ihm der Babu ins Ohr. »Sie haben das Gepäck. Die Papiere sind in dem kilta mit dem roten Deckel, aber schau in allen nach. Nimm ihre Papiere und vor allem den murasla [Königsbrief]. Geh! Der andere Mann kommt!« Kim stürmte bergauf. Eine Revolverkugel klirrte neben ihm auf einen Felsen, und er kauerte sich wie ein Rebhuhn. »Wenn Sie schießen«, schrie Hurree, »werden sie runterkommen und uns auslöschen. Ich habe den Gentleman gerettet, Sar. Das ist ganz besonders gefährlich.« ›Bei Zeus!‹ Kim dachte angestrengt auf Englisch nach. ›Das ist ne verdammte Klemme, aber ich glaub, es ist Notwehr.‹ Er fühlte an seiner Brust nach Mahbubs Geschenk, und unsicher – außer einigen Übungsschüssen in der Wüste von Bikaner hatte er das kleine Gewehr noch nie verwendet – drückte er ab. »Was habe ich gesagt, Sar!« Der Babu schien in Tränen aufgelöst zu sein. »Kommen Sie runter und helfen Sie bei Wiederbelebung. Wir sitzen alle in Tinte, sag ich Ihnen.« Das Schießen endete. Kim hörte stolpernde Füße und eilte aufwärts durch die Düsternis; dabei schimpfte er wie eine Katze – oder ein im Land Aufgewachsener. »Haben sie dich verwundet, chela?« rief der Lama über ihm. »Nein. Und du?« Er tauchte in eine Gruppe verkümmerter Tannen. »Unverletzt. Komm fort. Wir gehen mit diesen Leuten nach Shamlegh-unter-dem-Schnee.« »Aber nicht bevor wir Gerechtigkeit geübt haben«, rief eine Stimme. »Ich habe die Gewehre der Sahibs – alle vier. Laßt uns hinabgehen.« »Er hat den Heiligen geschlagen – wir haben es gesehen! Unser Vieh wird unfruchtbar werden – unsere Weiber werden
nicht mehr gebären! Der Schnee wird über uns kommen auf dem Heimweg… Und das zu aller anderen Bedrängnis!« Die kleine Tannengruppe füllte sich mit zeternden Kulis – von Panik befallen und in ihrem Entsetzen zu allem fähig. Der Mann aus Ao-chung ließ ungeduldig seinen Gewehrhahn schnappen und tat, als wolle er bergab gehen. »Warte ein wenig, Heiliger; sie können nicht weit sein. Warte, bis ich zurückkomme«, sagte er. »Diese Person ist es, die Unrecht erlitten hat«, sagte der Lama, die Hand auf der Stirn. »Eben deswegen«, war die Antwort. »Wenn diese Person es übersieht, sind eure Hände rein. Außerdem erwerbt ihr Verdienst durch Gehorsam.« »Warte, und dann gehen wir alle zusammen nach Shamlegh«, beharrte der Mann. Einen Augenblick lang, genausolang, wie man braucht, um eine Patrone in einen Hinterlader zu schieben, zögerte der Lama. Dann erhob er sich und legte dem Mann einen Finger auf die Schulter. »Hast du gehört? Ich sage, es soll kein Toten sein – ich, der ich Abt von Such-zen war. Hegst du das Verlangen, als Ratte wiedergeboren zu werden, oder als Natter unter der Traufe – ein Wurm im Bauch des niedrigsten Tieres? Ist es dein Wunsch, zu…« Der Mann aus Ao-chung fiel auf die Knie, denn die Stimme dröhnte wie ein tibetischer Teufelsgong. »Ai! Ai!« riefen die Männer aus Spiti. »Verfluch uns nicht – verfluch ihn nicht. Es war nur sein Eifer, Heiliger!… Weg mit dem Gewehr, du Narr!« »Zorn auf Zorn! Übel auf Übel! Es wird kein Töten sein. Laßt die Priesterschläger gehen, wie Sklaven gebunden an ihre eigenen Taten. Gerecht und sicher ist das Rad, und es weicht nicht um ein Haar ab! Sie werden viele Male geboren werden –
in Qualen.« Sein Kopf sank, und er lehnte schwer auf Kims Schulter. »Ich bin großem Übel sehr nahe gekommen, chela«, flüsterte er in das tote Schweigen unter den Tannen. »Ich war versucht, die Kugel fahren zu lassen; und wahrlich, in Tibet wäre ihnen ein schwerer und langsamer Tod geworden… Er hat in mein Gesicht geschlagen… auf das Fleisch…« Schwer atmend glitt er zu Boden, und Kim konnte das überbeanspruchte Herz holpern und anhalten hören. »Haben sie ihn zu Tode verletzt?« sagte der Mann aus Aochung, während die anderen stumm dastanden. In tödlicher Angst kniete Kim über dem Körper. »Nein«, rief er leidenschaftlich, »das ist nur eine Schwäche.« Dann erinnerte er sich daran, daß er ein weißer Mann war und die Lagerausrüstung eines weißen Mannes zur Verfügung hatte. »Öffnet die kiltas! Vielleicht haben die Sahibs eine Medizin.« »Oho! Dann kenne ich sie«, sagte der Mann aus Ao-chung mit einem Lachen. »Ich bin nicht fünf Jahre lang Yankling Sahibs shikarri gewesen, ohne diese Medizin zu kennen. Auch ich habe sie geschmeckt. Schau!« Aus seinem Brustgewand zog er eine Flasche mit billigem Whisky – wie man ihn Forschern in Leh verkauft –, und geschickt ließ er ein wenig davon zwischen die Zähne des Lamas fließen. »So habe ich es gemacht, als Yankling Sahib sich jenseits von Astor den Fuß verdrehte. Aha! Ich habe schon in ihre Körbe geschaut – aber in Shamlegh werden wir gerecht teilen. Gib ihm noch ein wenig. Es ist gute Medizin. Fühl nur! Sein Herz geht schon besser. Leg seinen Kopf niedrig und reib ihm die Brust ein wenig. Wenn er ruhig gewartet hätte, bis ich mit den Sahibs fertig bin, wäre das nie geschehen. Aber vielleicht werden die Sahibs uns hier jagen. Dann wäre es doch kein Unrecht, sie mit ihren eigenen Gewehren zu erschießen, heh?«
»Einer ist, glaube ich, schon entlohnt«, sagte Kim durch die Zähne. »Ich habe ihn in die Leisten getreten, als wir bergab rollten. Wenn ich ihn doch getötet hätte!« »Man kann gut tapfer sein, wenn man nicht in Rampur lebt«, sagte einer, dessen Hütte nur wenige Meilen vom wackligen Palast des Radschas entfernt lag. »Wenn wir uns bei den Sahibs einen schlechten Ruf machen, wird niemand uns mehr als shikarris anstellen.« »Ach, das hier sind doch keine Angrezi Sahibs – keine Männer munteren Gemüts wie Fostum Sahib oder Yankling Sahib. Es sind Fremdlinge – sie sprechen Angrezi nicht so wie Sahibs.« Hier hustete der Lama und setzte sich auf; dabei griff er nach seinem Rosenkranz. »Es soll kein Töten sein«, murmelte er. »Gerecht ist das Rad! Übel auf Übel…« »Nein, Heiliger. Wir sind alle hier.« Schüchtern tätschelte ihm der Mann aus Ao-chung die Füße. »Außer auf deinen Befehl wird niemand getötet werden. Ruh dich ein wenig aus. Wir werden hier ein kleines Lager machen und später, wenn der Mond aufgeht, gehen wir nach Shamlegh-unter-demSchnee.« »Nach einem Schlag«, sagte ein Spiti-Mann salbungsvoll, »ist es am besten, zu schlafen.« »Es ist da eine Art Schwindelgefühl in meinem Nacken und auch ein Zwicken. Laß mich meinen Kopf auf deinen Schoß legen, chela. Ich bin ein alter Mann, aber nicht frei von Leidenschaft…. Wir müssen über die Ursache der Dinge nachdenken.« »Gebt ihm eine Decke. Wir dürfen kein Feuer machen, damit die Sahibs uns nicht sehen.« »Wir sollten besser gleich nach Shamlegh gehen. Keiner wird uns nach Shamlegh folgen.«
Das war der nervöse Mann aus Rampur. »Ich war Fostum Sahibs shikarri, und ich bin Yankling Sahibs shikarri. Ich wäre auch jetzt bei Yankling Sahib, ohne diesen verfluchten beegar [Frondienst]. Zwei Männer sollten unten mit den Gewehren wachen, falls die Sahibs neue Tollheiten anstellen. Ich werde diesen Heiligen nicht verlassen.« Sie setzten sich ein wenig entfernt vom Lama nieder, und nachdem sie eine Weile gelauscht hatten, ließen sie eine Wasserpfeife herumgehen, deren Gefäß eine alte Day & Martin-Schwarzwichskruke war. Während sie von Hand zu Hand ging, beleuchtete das Glühen der roten Holzkohle die schmalen, blinzelnden Augen, die hohen chinesischen Backenknochen und die Stiernacken, die mit den dunklen Düffelfalten um die Schultern verschmolzen. Sie sahen aus wie Kobolde aus einer Zaubergrotte – Berggnomen im Konklave. Und während sie redeten, verstummten die Stimmen der Schneewässer ringsum eine nach der anderen, als der Nachtfrost die Rinnen drosselte und verstopfte. »Wie er auf uns losgegangen ist!« sagte ein Spiti-Mann bewundernd. »Ich erinnere mich an einen alten Steinbock, drüben in Ladakh, den Dupont Sahib mit einem Blattschuß verfehlt hat. Der ist genauso auf uns losgegangen. Dupont Sahib war ein guter shikarri.« »Nicht so gut wie Yankling Sahib.« Der Mann aus Ao-chung trank wieder aus der Whiskyflasche und reichte sie weiter. »Nun hört auf mich – es sei denn, ein anderer meint, er weiß es besser.« Die Herausforderung wurde nicht angenommen. »Wir brechen nach Shamlegh auf, wenn der Mond aufgeht. Dort werden wir das Gepäck gerecht zwischen uns teilen. Ich gebe mich mit dieser kleinen neuen Flinte und all ihren Patronen zufrieden.«
»Sind die Bären etwa nur auf deinem Pachtland schlimm?« sagte einer der anderen; er sog an der Pfeife. »Nein; aber Moschusbeutel sind jetzt sechs Rupien das Stück wert, und deine Frauen können die Leinwand der Zelte und einiges vom Kochgeschirr haben. Wir werden das alles in Shamlegh machen, vor Morgengrauen. Dann geht jeder seines Wegs und jeder denkt daran, daß wir diese Sahibs nie gesehen und ihnen auch nicht gedient haben; immerhin könnten sie ja sagen, daß wir ihr Gepäck gestohlen haben.« »Für dich ist das alles schön, aber was wird unser Radscha sagen?« »Wer soll es ihm erzählen? Diese Sahibs, die unsere Sprache nicht sprechen, oder der Babu, der uns Geld gegeben hat aus Gründen, die nur er kennt? Soll er vielleicht eine Armee gegen uns führen? Welchen Beweis wird es denn geben? Was wir nicht brauchen, werden wir in den Shamlegh-Schlund werfen, wohin noch kein Mensch den Fuß gesetzt hat.« »Wer ist diesen Sommer in Shamlegh?« Der Ort war nur ein Weideplatz mit drei oder vier Hütten. »Die Frau von Shamlegh. Sie empfindet keine Liebe für Sahibs, wie wir wissen. Die anderen werden sich über kleine Geschenke freuen; und hier ist genug für uns alle.« Er tätschelte die feiste Rundung des nächststehenden Korbs. »Aber… Aber…« »Ich habe doch schon gesagt, daß sie keine richtigen Sahibs sind. Alle ihre Felle und Köpfe haben sie im Basar von Leh gekauft. Ich kenne die Zeichen. Auf dem letzten Marsch habe ich sie euch gezeigt.« »Das ist wahr. Es sind alles gekaufte Köpfe und Felle. Einige hatten sogar schon Motten.« Das war ein schlaues Argument, und der Mann aus Ao-chung kannte seine Gefährten. »Wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kommt, werde ich alles Yankling Sahib erzählen; er ist ein Mann von munterem
Gemüt, und er wird lachen. Wir tun doch keinen Sahibs etwas, die wir kennen. Die da sind Priesterschläger. Sie haben uns erschreckt. Wir sind geflohen! Wer weiß, wo wir das Gepäck haben fallen lassen? Glaubt ihr denn, Yankling Sahib wird es zulassen, daß Polizisten aus dem Flachland über alle Berge laufen und sein Wild verstören? Von Simla bis Chini ist es weit, und noch weiter von Shamlegh zum Shamlegh-Schlund.« »So sei es; aber ich trage den großen kilta. Den Korb mit dem roten Deckel, den die Sahibs jeden Morgen selbst packen.« »Damit ist ja bewiesen«, sagte der Shamlegh-Mann geschickt, »daß sie Sahibs ohne Bedeutung sind. Wer hätte denn je gehört, daß Fostum Sahib, oder Yankling Sahib, oder auch der kleine Peel Sahib, der nachts aufsitzt, um Serows zu schießen – also, wer hätte je gehört, daß diese Sahibs in die Berge kommen ohne einen Koch aus dem Flachland, und einen Träger, und… und alle möglichen gutbezahlten, hochmütigen und herrschsüchtigen Leute in ihrem Gefolge? Wie können diese also Ärger machen? Was ist mit dem kilta?« »Nichts, außer daß er voll ist vom Geschriebenen Wort – Bücher und Papiere, die sie selbst beschrieben haben, und seltsame Geräte, wie zum Gottesdienst.« »Der Shamlegh-Schlund wird alles aufnehmen.« »Wahr! Aber was, wenn wir dadurch die Götter der Sahibs beleidigen? Ich mag das Geschriebene Wort nicht so behandeln. Und ihre Metallgötzen gehen über mein Begreifen. Das ist keine Beute für einfaches Bergvolk.« »Der alte Mann schläft noch. Hst! Wir wollen seinen chela fragen.« Der Mann aus Ao-chung stärkte sich und schwoll an vor Führerstolz. »Wir haben hier«, flüsterte er, »einen kilta, von dessen Wesen wir nichts wissen.« »Aber ich weiß«, sagte Kim vorsichtig. Der Lama atmete in natürlichem leichten Schlaf, und Kim hatte an Hurrees letzte
Worte gedacht. Als Spieler im Großen Spiel war er gerade jetzt bereit, den Babu zu ehren. »Es ist ein kilta mit rotem Deckel, voll von wunderbaren Dingen, die nicht in die Hände von Narren gehören.« »Ich habe es doch gesagt; ich habe es gesagt«, rief der Träger dieser Bürde. »Glaubst du, es wird uns verraten?« »Nicht, wenn ihr es mir gebt. Ich kann den Zauber daraus entfernen. Sonst wird alles großes Unheil anrichten.« »Ein Priester will immer seinen Teil.« Der Whisky untergrub die Moral des Mannes aus Ao-chung. »Es hat für mich keine Bedeutung«, antwortete Kim mit der List seines Mutterlandes. »Teilt es unter euch auf und seht zu, was dabei herauskommt!« »Ich nicht. Ich habe nur einen Scherz gemacht. Gib den Befehl. Es ist mehr als genug für uns alle da. Von Shamlegh aus gehen wir im Morgengrauen unseres Weges.« Sie besprachen ihre einfältigen kleinen Pläne eine weitere Stunde lang immer wieder von neuem, während Kim vor Kälte und Stolz schauerte. Das Witzige an der Lage kitzelte den Iren und den Orientalen in seiner Seele. Hier waren die Abgesandten der gefürchteten Macht im Norden, in ihrem eigenen Land vielleicht ebensogroß wie Mahbub oder Oberst Creighton, und jählings waren sie hilflos. Einer von ihnen würde, wie Kim persönlich wußte, einige Zeit lahm sein. Sie hatten Königen Versprechen gemacht. In dieser Nacht lagen sie irgendwo da unten, ohne Karte, ohne Essen, ohne Zelt, ohne Gewehr – und ohne Führer, abgesehen von Hurree Babu. Und dieser Zusammenbruch ihres Großen Spiels (Kim fragte sich, wem sie wohl darüber berichten mußten), dieses panische Durchgehen in die Nacht hinein war weder durch eine List von Hurree noch durch einen Einfall von Kim, sondern so einfach, wunderschön und unvermeidlich geschehen wie die Festnahme
von Mahbubs Fakir-Freunden durch den eifrigen jungen Polizisten in Ambala. ›Da unten sind sie – ohne alles; und bei Zeus, es ist kalt! Ich bin hier mit all ihren Sachen. Oh, werden die sauer sein! Hurree Babu tut mir leid.‹ Kim hätte sich dieses Mitleid sparen können; denn wenn der Bengali auch im Moment empfindlich im Fleische litt, war seine Seele doch aufgeplustert und hochgemut. Eine Meile bergab, am Rande des Kiefernwaldes, ergingen sich zwei halberfrorene Männer – einem wurde in Abständen ziemlich übel – abwechselnd in gegenseitigen Beschuldigungen und bissigsten Beschimpfungen des Babus, der vor Schrecken wahnsinnig geworden schien. Sie forderten einen Schlachtplan. Er erklärte, sie könnten glücklich sein, noch zu leben; daß ihre Kulis sich entweder gerade an sie heranpirschten oder aber unwiederbringlich verschwunden seien; daß der Radscha, sein Herr, neunzig Meilen entfernt sei und ihnen nicht nur kein Geld und keine Eskorte für den Weg nach Simla leihen, sondern sie sicherlich ins Gefängnis werfen würde, wenn er erführe, daß sie einen Priester geschlagen hatten. Er verbreitete sich über diese Sünde und ihre Konsequenzen, bis sie ihm befahlen, das Thema zu wechseln. Ihre einzige Hoffnung, sagte er, sei eine unauffällige Flucht von Dorf zu Dorf, bis sie die Zivilisation wieder erreicht hätten; und, zum hundertsten Mal in Tränen aufgelöst, bat er die hohen Sterne um Auskunft, warum die Sahibs »geschlagen haben heiligen Mann«. Zehn Schritte hätten Hurree in die knisternde Düsternis völlig außerhalb ihrer Reichweite gebracht – zu Obdach und Essen im nächsten Dorf, wo glattzüngige Ärzte selten waren. Aber er zog es vor, Kälte, Magenknurren, Beschimpfungen und gelegentliche Schläge in der Gesellschaft seiner verehrten Dienstherren zu erdulden. An einen Baumstamm gekauert, schnüffelte er jämmerlich.
»Und hast du dir überlegt«, sagte der unverletzte Mann hitzig, »was für ein Schauspiel wir abgeben werden, wenn wir zwischen diesen Ureinwohnern durch die Berge wandern?« Hurree Babu hatte seit einigen Stunden an kaum etwas anderes gedacht, aber die Bemerkung war nicht an ihn gerichtet. »Wir können nicht wandern! Ich kann ja kaum gehen«, ächzte Kims Opfer. »Vielleicht wird der heilige Mann barmherzig sein in liebevoller Güte, Sar, sonst…« »Ich verspreche mir ein besonderes Vergnügen davon, bei der nächsten Begegnung meinen Revolver in diesen jungen Bonzen zu leeren«, war die unchristliche Antwort. »Revolver! Rache! Bonzen!« Hurree duckte sich noch tiefer. Der Krieg brach wieder los. »Denkst du überhaupt nicht an unseren Verlust? Das Gepäck! Das Gepäck!« Er konnte den Sprecher buchstäblich auf dem Gras herumtanzen hören. »Alles, was wir hatten! Alles, was wir herausgefunden haben! Unsere Ergebnisse! Acht Monate Arbeit! Weißt du eigentlich, was das bedeutet? ›Ganz entschieden sind wir es, die mit Orientalen umgehen können!‹ Oh, das hast du fein gemacht.« Sie fielen weiter in verschiedenen Sprachen übereinander her, und Hurree lächelte. Kim war bei den kiltas, und in den kiltas steckten acht Monate guter Diplomatie. Es gab keine Möglichkeit, sich mit dem Jungen ins Benehmen zu setzen, aber man konnte ihm vertrauen. Was das übrige betraf, konnte Hurree die Reise durch die Berge so arrangieren, daß Hilàs, Bunàr und vierhundert Meilen Bergstraßen die Geschichte eine Generation lang erzählen würden. Männer, die ihre eigenen Kulis nicht unter Kontrolle halten können, werden in den Bergen nicht sehr geachtet, und der Gebirgler hat einen ganz ausgeprägten Sinn für Humor.
›Wenn ich es selbst gemacht hätte‹, dachte Hurree, ›hätte es nicht besser sein können; und bei Zeus, jetzt, wo ich es mir überlege, habe ich es natürlich selbst arrangiert. Wie schnell ich gewesen bin! Erst als ich bergab gerannt bin, habe ich es mir ausgedacht! Die Schändlichkeit war zufällig, aber außer mir hätte keiner das so ausnutzen können – ah –, wie es das verdammt wert war. Man bedenke die moralische Auswirkung auf diese unwissenden Leute! Keine Verträge – keine Papiere – überhaupt keine schriftlichen Dokumente – und ich als Dolmetscher für sie. Wie der Oberst und ich darüber lachen werden! Ich wünschte, ich hätte auch ihre Papiere: Aber man kann nicht gleichzeitig einnehmen zwei Orte im Raum. Das ist axiomatisch.‹
KAPITEL XIV
My brother kneels (so saith Kabir) To stone and brass in heathen wise, But in my brother’s voice I hear My own unanswered agonies. His God is as his Fates assign – His prayer is all the world’s – and mine. The Prayer [Mein Bruder kniet (so sagt Kabir) vor Stein und Erz nach Heidenart, doch in des Bruders Stimme hör ich meine eigne Todesnot. Sein Gott ist, was das Los ihm gibt, sein Beten das der Welt – und meins. Das Gebet]
Bei Mondaufgang machten sich die vorsichtigen Kulis auf den Weg. Der Lama, erfrischt durch seinen Schlaf und den Alkohol, brauchte nur Kims Schulter, um voranzukommen – ein schweigender, schnell schreitender Mann. Eine Stunde blieben sie auf dem von Schieferton gesprenkelten Gras, bogen um die Schulter einer unsterblichen Klippe und klommen zu einem neuen Land, von dem jede Aussicht auf das Chini-Tal versperrt war. Eine riesige Weidefläche lief fächerförmig hinauf bis zum lebenden Schnee. Am unteren Ende lag vielleicht ein halber Morgen ebenen Bodens, auf dem ein paar Hütten aus Lehm und Holz standen. Hinter ihnen – denn nach Bergart hockten sie am äußersten Saum aller Dinge – fiel der
Boden zweitausend Fuß steil hinab in den Shamlegh-Schlund, wohin noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat. Die Männer machten keine Anstalten, die Beute zu teilen, ehe sie nicht dafür gesorgt hatten, daß der Lama im besten Raum des Orts gebettet wurde, wo Kim ihm nach mohammedanischem Brauch die Füße wusch und knetete. »Wir werden Essen schicken«, sagte der Mann aus Aochung, »und den kilta mit dem roten Deckel. Bei Morgengrauen wird keiner mehr dasein, der etwas bezeugen könnte – so oder so. Wenn etwas aus dem kilta nicht gebraucht wird – sieh her!« Er wies aus dem Fenster – es eröffnete sich von schneegespiegeltem Mondlicht erfüllter Weite – und warf eine leere Whiskyflasche hinaus. »Sinnlos, etwas fallen hören zu wollen. Dies ist das Ende der Welt«, sagte er und ging. Eine Hand an jede Fensterseite gelegt, schaute der Lama hinaus, mit Augen, die wie gelbe Opale glänzten. Aus dem unermeßlichen Abgrund vor ihm hoben sich weiße Gipfel sehnend dem Mondlicht entgegen. Alles übrige war wie das Dunkel des interstellaren Raums. »Dies«, sagte er langsam, »sind wahrlich meine Berge. So sollte ein Mann verweilen, über der Welt sitzend, getrennt von den Wonnen, weite Dinge bedenkend.« »Ja; wenn er einen chela hat, der ihm den Tee bereitet und eine Decke für seinen Kopf faltet und kalbende Kühe hinausjagt.« Eine qualmende Lampe brannte in einer Nische, aber das volle Mondlicht minderte sie; und im vermischten Licht bewegte sich Kim, über Beutel und Eßbecher gebeugt, wie ein großes Gespenst. »Ai! Nun aber habe ich das Blut abkühlen lassen, und mein Kopf klopft und trommelt noch immer, und eine Schnur läuft um meinen Nacken.«
»Kein Wunder. Es war ein harter Schlag. Möge der, der ihn erteilte…« »Ohne meine eigenen Leidenschaften hätte sich kein Übel ereignet.« »Welches Übel? Du hast die Sahibs vor dem Tod bewahrt, den sie hundertfach verdient haben.« »Du hast die Lehre nicht gut gelernt, chela.« Der Lama kam auf einer gefalteten Decke zur Ruhe, während Kim in seinen allabendlichen Verrichtungen fortfuhr. »Der Schlag war nur ein Schatten auf einem Schatten. Selbst Übel – in diesen letzten Tagen ermüden meine Beine schnell! – traf er Übel in mir – Zorn, Wut und die Lust, Übel zu vergelten. All dies raste in meinem Blut, weckte Aufruhr in meinem Bauch und betäubte meine Ohren.« Hier nahm er den heißen Becher aus Kims Hand entgegen und trank zeremoniell den siedenden Ziegeltee. »Wäre ich frei gewesen von Leidenschaft, so hätte der üble Schlag nur leiblichen Schaden bewirkt – eine Narbe oder eine Beule –, der Trug ist. Aber mein Geist war nicht lauter, sondern überströmte mich jählings mit einer Lust, die Spiti-Männer nicht vom Töten abzuhalten. Im Kampf mit dieser Lust wurde meine Seele zerrissen und verzerrt, schlimmer als durch tausend Schläge. Erst als ich die Segnungen aufgesagt hatte« (er meinte die Buddhistischen Seligpreisungen), »erlangte ich Ruhe. Aber das Übel, das durch die Achtlosigkeit dieses Augenblicks in mir gepflanzt wurde, tut sein Werk bis zum Ende. Gerecht ist das Rad, es weicht nicht um ein Haar ab! Lern diese Lehre, chela.« »Sie ist zu hoch für mich«, murmelte Kim. »Ich bin noch immer ganz durchgeschüttelt. Ich bin froh, daß ich den Mann verletzt habe.« »Das fühlte ich, als ich auf deinen Knien schlief, unten im Wald. Es hat mich in meinen Träumen beunruhigt – das Übel in deiner Seele wirkte hinüber in meine. Aber auf der anderen
Seite« – er löste seinen Rosenkranz – »habe ich Verdienst erworben, indem ich zwei Leben rettete – die Leben derer, die mich kränkten. Nun muß ich in die Ursache der Dinge schauen. Das Boot meiner Seele taumelt.« »Schlafe und stärke dich. Das ist das Weiseste.« »Ich will meditieren. Die Not dazu ist größer als du weißt.« Bis zum Morgengrauen, Stunde um Stunde, während das Mondlicht auf den hohen Gipfeln fahl wurde und das, was Gürtel der Schwärze an den Flanken ferner Berge gewesen war, sich als zartgrüner Wald zeigte, starrte der Lama unentwegt auf die Wand. Von Zeit zu Zeit ächzte er. Jenseits der verriegelten Tür, wo verdrossene Kühe einen Weg in ihren alten Stall suchten, ergaben sich Shamlegh und die Kulis der Beute und lautem Wohlleben. Der Mann aus Ao-chung war ihr Anführer, und als sie erst einmal die Konserven der Sahibs geöffnet und großen Gefallen daran gefunden hatten, konnten sie nicht mehr umkehren. Der Shamlegh-Abfallschlund schluckte allen Ballast. Als Kim nach einer Nacht voll schlimmer Träume in den frostigen Morgen hinausschlich, um sich die Zähne zu putzen, zog ihn eine hellhäutige Frau mit einer von Türkisen besetzten Kopfbedeckung beiseite. »Die anderen sind fort. Sie haben dir diesen kilta hiergelassen, wie es versprochen war. Ich liebe Sahibs nicht, aber du wirst uns hierfür einen Zauber machen. Wir wollen nicht, daß unser kleines Shamlegh einen schlimmen Namen bekommt wegen dieses… Vorfalls. Ich bin die Frau von Shamlegh.« Sie musterte ihn mit kühnen, hellen Augen, ganz anders als der übliche verstohlene Blick der Bergfrauen. »Gewiß. Aber es muß im geheimen getan werden.« Sie hob den schweren kilta wie ein Spielzeug und warf ihn in ihre eigene Hütte.
»Hinaus, und verriegele die Tür! Laß keinen nahekommen, bis es getan ist«, sagte Kim. »Aber danach – können wir miteinander reden?« Kim kippte den kilta auf dem Boden aus – eine Kaskade von Vermessungsinstrumenten, Büchern, Tagebüchern, Briefen, Karten und sonderbar duftenden Schreiben von Eingeborenen. Ganz am Boden fand sich ein bestickter Beutel mit einer versiegelten, vergoldeten und illuminierten Urkunde, wie ein König sie einem anderen schickt. Kim hielt vor Begeisterung den Atem an und bedachte die Lage vom Standpunkt eines Sahibs aus. ›Die Bücher will ich nicht. Außerdem sind es Logarithmen – vermutlich zur Vermessung.‹ Er legte sie beiseite. ›Die Briefe verstehe ich nicht, aber Oberst Creighton wird sie verstehen. Sie alle müssen aufbewahrt werden. Die Karten – sie zeichnen bessere Karten als ich – natürlich. Alle Briefe von Eingeborenen – oho! – und besonders der murasla.‹ Er schnüffelte an dem bestickten Beutel. ›Das muß aus Hilàs oder Bunàr sein, und Hurree Babu hat die Wahrheit gesagt. Bei Zeus! Das ist ein feiner Fischzug. Ich wünschte, Hurree könnte es sehen… Der Rest muß aus dem Fenster.‹ Er befühlte einen prachtvollen Prismenkompaß und die glitzernde Spitze eines Theodoliten. Aber letzten Endes kann ein Sahib nicht gut stehlen, und später mochten die Sachen lästige Beweisstücke werden. Er sortierte alle handbeschriebenen Fetzen, alle Karten und die Briefe von Eingeborenen aus. Das ergab ein weiches dünnes Päckchen. Die drei verschlossenen Bücher mit Metallbeschlägen und fünf verschlissene Taschenbücher legte er beiseite. ›Die Briefe und den murasla muß ich im Rock und unterm Gürtel tragen, und die handgeschriebenen Bücher muß ich in den Proviantbeutel stecken. Er wird sehr schwer werden. Nein. Ich glaube, sonst ist da nichts mehr. Und wenn, dann haben die
Kulis es den khud hinabgeworfen, also ist das in Ordnung. Jetzt seid ihr dran.‹ Er packte wieder alles in den kilta, was er beseitigen wollte, und stemmte ihn aufs Fenstersims. Tausend Fuß unter ihm lag eine lange, träge, rundliche Nebelbank, von der Morgensonne noch nicht berührt. Wiederum tausend Fuß unter ihr lag ein hundertjähriger Kiefernwald. Wie ein Moosbett konnte er die grünen Wipfel sehen, wenn Windkreisel die Wolken verdünnte. ›Nein! Ich glaube nicht, daß jemand dir nachklettert!‹ Der Korb überschlug sich im Fallen und brach seinen Inhalt aus. Der Theodolit traf eine vorspringende Felskante und explodierte wie ein Geschoß; die Bücher, Tintenfässer, Farbkästen, Zirkel und Lineale glichen einige Sekunden lang einem Bienenschwarm. Dann verschwanden sie; und obwohl Kim sich halb aus dem Fenster hängte und seine jungen Ohren anstrengte, hörte er aus dem Abgrund keinen einzigen Laut. ›Nicht für fünfhundert – nicht mal für tausend Rupien könnte man das alles kaufen‹, dachte er betrübt. ›Eine große Verschwendung, aber ich habe ja alles andere – alles, was sie gemacht haben – hoffe ich. Also, wie zum Teufel soll ich es jetzt Hurree Babu sagen, und was zum Teufel soll ich tun? Und mein alter Mann ist krank. Ich muß die Briefe in Ölhaut wickeln. Das ist das erste – sonst werden sie ganz durchgeschwitzt…. Und ich bin ganz allein!‹ Er machte ein sauberes Paket daraus, indem er die steife, klebrige Ölhaut an den Ecken umschlug, denn sein Vagabundenleben hatte dafür gesorgt, daß er bei allem, was die Straße betraf, so methodisch war wie ein alter Jäger. Dann verstaute er mit doppelter Sorgfalt die Bücher auf dem Boden des Proviantbeutels. Die Frau schlug gegen die Tür. »Aber du hast keinen Zauber gemacht«, sagte sie; sie blickte sich um.
»Es ist nicht nötig.« Kim hatte das Bedürfnis nach ein wenig schnellem Singsang völlig übersehen. Die Frau lachte respektlos über seine Verwirrung. »Nicht nötig für dich. Du kannst einen Zauber wirken, indem du nur blinzelst. Aber denk an uns armes Volk hier, wenn du erst gegangen bist! In der letzten Nacht waren sie alle zu betrunken, um auf eine Frau zu hören. Du bist nicht betrunken?« »Ich bin ein Priester.« Kim hatte sich wieder gefaßt, und da die Frau alles andere als unschön war, hielt er es für das Beste, auf seinem Amt zu bestehen. »Ich habe sie gewarnt; die Sahibs werden zornig sein Und eine Untersuchung und einen Bericht für den Radscha machen. Dann ist da noch der Babu bei ihnen. Schreiber haben lange Zungen.« »Ist dies all dein Kummer?« Der Plan ging voll entwickelt in Kims Geist auf, und er lächelte hinreißend. »Nicht ganz«, sagte die Frau; sie streckte eine harte braune Hand aus, über und über bedeckt mit silbergefaßten Türkisen. »Diesen Kummer kann ich dir im Nu nehmen«, fuhr er schnell fort. »Der Babu ist niemand anders als der hakim (du hast von ihm gehört?), der durch die Berge bei Ziglaur wanderte. Ich kenne ihn.« »Für eine Belohnung wird er schon reden. Sahibs können einen Bergmenschen nicht vom anderen unterscheiden, aber Babus haben Augen für Männer – und Frauen.« »Bring ihm ein Wort von mir.« »Es gibt nichts, was ich für dich nicht täte.« Er nahm das Kompliment gelassen an, wie Männer es in Ländern tun müssen, wo Frauen den Hof machen; er riß ein Blatt aus einem Notizbuch und schrieb darauf mit Tintenstift in plumper Shikast – der Schrift, die böse kleine Jungen verwenden, wenn sie Unfug auf Mauern schmieren: Ich habe
alles, was sie geschrieben haben: ihre Landbilder und viele Briefe. Vor allem den mu-rasla. Sag mir, was ich tun soll. Ich bin in Shamlegh-unter-dem-Schnee. Der alte Mann ist krank. »Bring ihm das. Es wird seinen Mund vollkommen verschließen. Er kann noch nicht weit gegangen sein.« »Allerdings nicht. Sie sind noch immer in dem Wald hinter dem Ausläufer. Als das Licht kam, sind unsere Kinder hingegangen, um sie zu beobachten, und wenn sie sich bewegt haben, haben sie es hergerufen.« Kim machte ein erstauntes Gesicht; aber vom Rand der Schafweide her klang ein schriller Triller wie der des Geiers. Ein Kind, das dort Vieh hütete, hatte ihn von einem Bruder oder einer Schwester auf der anderen Hangseite aufgenommen, von wo man das Chini-Tal überblicken konnte. »Meine Gatten sind auch da draußen und sammeln Holz.« Sie zog eine Handvoll Walnüsse aus ihrem Brustgewand, brach eine säuberlich auf und begann zu essen. Kim tat, als begriffe er nichts von allem. »Kennst du denn die Bedeutung der Walnuß nicht – Priester?« sagte sie gemessen und reichte ihm die Schalenhälften. »Gut bedacht.« Schnell schob er das Papierstück zwischen die Schalen. »Hast du ein wenig Wachs, damit sie diesen Brief umschließen?« Die Frau seufzte laut, und Kim ließ sich erweichen. »Es gibt keine Bezahlung, ehe nicht der Dienst geleistet ist. Bring das dem Babu und sag ihm, es wurde vom Sohn des Zaubers geschickt.« »Ai! Natürlich! Natürlich! Von einem Magier – der wie ein Sahib ist.« »Nein, ein Sohn des Zaubers; und frag, ob es eine Antwort gibt.« »Aber wenn er grob wird? Ich… ich fürchte mich.«
Kim lachte. »Er ist, daran zweifle ich nicht, sehr müde und sehr hungrig. Die Berge sind kalte Bettgenossen. Hai, meine« – es lag ihm auf der Zunge, Mutter zu sagen, aber er machte Schwester daraus – »du bist eine weise und scharfsinnige Frau. Inzwischen wissen alle Dörfer, was den Sahibs widerfahren ist – eh?« »Wahr. Um Mitternacht war die Nachricht in Ziglaur, und morgen sollte sie Kotgarh erreicht haben. Die Dörfer sind sowohl verängstigt als auch verärgert.« »Kein Grund dafür. Sag den Dörfern, sie sollen die Sahibs nähren und in Frieden weiterziehen lassen. Wir müssen sie unauffällig aus unseren Tälern loswerden. Stehlen ist eine Sache – töten eine andere. Der Babu wird es verstehen, und es wird keine späteren Beschwerden geben. Beeil dich. Ich muß meinen Meister pflegen, wenn er erwacht.« »So sei es. Nach dem Dienst – du hast es gesagt? – kommt der Lohn. Ich bin die Frau von Shamlegh und vom Radscha belehnt. Ich bin keine gewöhnliche Kindergebärerin. Shamlegh ist dein: Huf und Horn und Haut, Milch und Butter. Nimm oder laß.« Entschlossen wandte sie sich bergauf, der Morgensonne fünfzehnhundert Fuß über ihnen entgegen; die silbernen Halsketten klickten auf ihrer breiten Brust. Diesmal dachte Kim in der Umgangssprache, während er die Ölhautecken der Pakete mit Wachs befestigte. ›Wie kann ein Mann denn nur dem Pfad oder dem Großen Spiel folgen, wenn er so unaufhörlich von Frauen geplagt wird? Da war das Mädchen in Akrola bei der Furt; und da war die Frau des Küchenjungen hinter dem Taubenschlag – die anderen gar nicht zu zählen –, und nun kommt diese! Als ich ein Kind war, war das schön und gut, aber jetzt bin ich ein Mann, und sie wollen mich nicht als Mann ansehen. Walnüsse, wahrhaftig! Ho! Ho! In der Ebene sind es Mandeln!‹
Er zog aus, um im Dorf Nahrung zu erheben – nicht mit einer Bettlerschale, was im Flachland angebracht sein mochte, sondern als ein Fürst. Shamleghs Sommerbevölkerung besteht nur aus drei Familien – vier Frauen und acht oder neun Männern. Sie waren sämtlich angefüllt mit Büchsenfleisch und gemischten Getränken, von ammoniumbehandeltem Chinin bis zu weißem Wodka, denn sie hatten ihren vollen Anteil am nächtlichen Plündergelage gehabt. Die feinen europäischen Zelte waren längst zerschnitten und aufgeteilt worden, und glänzende Schmortiegel aus Aluminium lagen herum. Sie hielten jedoch die Anwesenheit des Lamas für einen vollkommenen Schutz vor allen Folgen, und ohne jedes Zeichen von Reue brachten sie Kim von ihrem Besten – sogar bis hin zu einem Schluck chang, dem Gerstenbier aus Ladakh. Dann ließen sie sich von der Sonne auftauen, saßen mit baumelnden Beinen über unendlichen Abgründen, plauderten, lachten und rauchten. Indien und seine Regierung beurteilten sie allein von ihren Erfahrungen mit wandernden Sahibs, denen sie oder ihre Freunde als shikarris gedient hatten. Kim hörte Geschichten über Fehlschüsse auf Steinbock, Serow oder Markhor, abgefeuert von Sahibs, die seit zwanzig Jahren in ihren Gräbern lagen – jede Einzelheit von rückwärts beleuchtet wie Zweige in Baumwipfeln auf dem Hintergrund eines Blitzes. Sie erzählten ihm von ihren kleinen Krankheiten und, wichtiger, denen ihrer kleinen Rinder mit den sicheren Füßen; von Reisen bis ins ferne Kotgarh, wo die seltsamen Missionare leben, und sogar noch weiter bis zum wunderbaren Simla, wo die Straßen mit Silber gepflastert sind und jeder, glaub es nur, Dienst bei den Sahibs finden kann, die in zweirädrigen Wagen herumfahren und Geld mit der Schaufel ausgeben. Würdevoll und in sich gekehrt gesellte sich bald der Lama zum Geplauder unter den Traufen, und man machte ihm reichlich Platz. Die dünne Luft erfrischte ihn, und mit den Besten saß er am Saum
der Abgründe, und als das Gespräch stockte, warf er Kiesel ins Leere. Dreißig Meilen Adlerflugs entfernt lag die nächste Bergkette, zernarbt, zerfurcht und gedellt von kleinen Gestrüppflecken – Wälder, jeder ein düsterer Tagesmarsch. Hinter dem Dorf schnitt der Shamleghberg selbst jede Sicht nach Süden ab. Es war, als säße man in einem Schwalbennest unter der Traufe des Daches der Welt. Von Zeit zu Zeit streckte der Lama seine Hand aus, und wenn man ihn mit leiser Stimme ein wenig dazu aufforderte, zeigte er, wo die Straße nach Spiti und nordwärts über den Parang verlief. »Dort drüben, wo die Berge am dichtesten stehen, liegt Dech’en«, (er meinte Han-le) »das große Kloster s’Tag-stan-rasch’en erbaute es, und von ihm erzählt man sich folgendes.« Dann erzählte er es: eine fantastische aufgetürmte Geschichte von Hexerei und Wundern, bei der es Shamlegh den Atem verschlug. Dann wandte er sich ein wenig westwärts, spähte nach den grünen Bergen von Kulu und suchte Kyelang unter den Gletschern. »Denn dorthin kam ich in den alten, alten Tagen. Von Leh kam ich, über den Bara Lacha.« »Ja, ja; den kennen wir«, sagten die weitgereisten Leute von Shamlegh. »Und ich schlief zwei Nächte bei den Priestern von Kyelang. Dies sind die Berge meiner Wonne! Schatten gesegnet vor allen Schatten! Dort öffneten sich meine Augen zu dieser Welt; dort wurden meine Augen für diese Welt geöffnet; dort fand ich Erleuchtung; und dort gürtete ich die Lenden für meine Suche. Aus den Bergen kam ich – den hohen Bergen und den starken Winden. Oh, gerecht ist das Rad!« Er segnete sie alle einzeln – die großen Gletscher, die nackten Felsen, die aufgetürmten Moränen und den Wirrwarr von Schieferton; trockenes Hochland, verborgenen Salzsee, uralte Hölzer und fruchtbares wasserdurchschossenes Tal, eins nach dem
anderen, wie ein Sterbender seine Angehörigen segnet; und Kim staunte über seine Leidenschaft. »Ja – ja. Kein Ort ist wie unsere Berge«, sagten die Leute von Shamlegh. Und sie begannen ein großes Wundern darüber, daß jemand auf den heißen furchtbaren Ebenen leben könne, wo Rinder herumlaufen, groß wie Elefanten und ungeeignet, um an einem Berghang zu pflügen; wo, wie sie gehört hatten, über hundert Meilen hin ein Dorf das andere berührt; wo die Leute in ganzen Banden zum Stehlen auszogen und die Polizei vollends alles wegschleppte, was die Räuber übrigließen. So verstrich der stille Vormittag, und an seinem Ende kam Kims Botin von der steilen Weide herab, so ruhig atmend wie bei ihrem Aufbruch. »Ich habe dem hakim eine Nachricht geschickt«, erklärte Kim, als sie sich vor dem Lama verneigte. »Er hat sich den Götzendienern angeschlossen? Nein, ich entsinne mich, er hat an einem von ihnen eine Heilung vollzogen. Er hat Verdienst erworben, wenn der Geheilte auch seine Kraft zu Üblem verwandte. Gerecht ist das Rad! Was ist mit dem hakim?« »Ich fürchtete, du seist verletzt worden, und… und ich wußte ja, er ist weise.« Kim nahm die wachsverklebte Walnußschale und las auf der Rückseite seines Zettels auf Englisch: Ihr Geehrtes empfangen. Kann gegenwärtig nicht fort von gegenwärtiger Gesellschaft, werde sie aber nach Simla bringen. Wonach ich hoffe, Sie wieder zu treffen. Unzweckmäßig, ärgerlichen Gent lernen zu folgen. Rückkehr über Straße, die Sie gekommen sind, und werde überholen. Höchst befriedigt über Korrespondenz dank meiner Voraussicht. »Er sagt, Heiliger, daß er den Götzendienern entfliehen und zu uns zurückkehren will. Sollen wir dann nicht so lange in Shamlegh warten?«
Der Lama blickte lange und liebevoll auf die Berge und schüttelte den Kopf. »Das darf nicht sein, chela. Von meinem Gebein nach außen begehre ich es, aber es ist verboten. Ich habe die Ursache der Dinge gesehen.« »Warum? Wenn die Berge dir doch Tag für Tag deine Kraft zurückgeben? Erinnere dich, wir waren schwach und hinfällig dort unten im Dün.« »Ich wurde stark, um Übles zu tun und zu vergessen. Ein Schreihals und Raufbold in den Bergen, das war ich.« Kim verbiß sich ein Lächeln. »Gerecht und vollkommen ist das Rad; es weicht nicht um ein Haar ab. Als ich ein Mann war – vor langer Zeit –, machte ich eine Pilgerreise nach Guru Ch’wan unter den Pappeln« (er deutete Richtung Bhutan), »wo sie das Heilige Pferd hüten.« »Still, sei still!« sagte Shamlegh ganz erregt. »Er spricht von Jam-lin-nin-k’or, dem Pferd Das An Einem Tag Rund Um Die Welt Gehen Kann.« »Ich spreche nur zu meinem chela«, sagte der Lama mit sanftem Tadel, und sie zerstreuten sich wie Frost auf SüdTraufen an einem Morgen. »In jenen Tagen suchte ich nicht die Wahrheit, sondern das Gerede der Doktrin. Alles Trug! Ich trank das Bier und aß das Brot von Guru Ch’wan. Am nächsten Tag sagte einer: ›Wir ziehen zum Kampf gegen Sangor Gutok unten im Tal, um herauszufinden‹, (merke wieder, wie Gier an Zorn gebunden ist!) ›welcher Abt im Tale herrschen und den Gewinn haben soll von den Gebeten, die sie in Sangor Gutok drucken.‹ Ich ging mit, und wir kämpften einen Tag lang.« »Aber wie, Heiliger?« »Mit unseren langen Federkästen; ich hätte es dir zeigen können… Ich sage, wir kämpften unter den Pappeln, beide Äbte und alle Mönche, und einer legte meine Stirn bis auf den Knochen bloß. Schau!« Er schob seinen Hut zurück und zeigte
eine runzlige silbrige Narbe. »Gerecht und vollkommen ist das Rad! Gestern juckte die Narbe, und nach fünfzig Jahren erinnerte ich mich der Art, wie ich sie erhielt, und des Gesichts dessen, der sie mir gab; ich verweilte ein wenig im Trug. Es folgte das, was du gesehen hast – Streit und Torheit. Gerecht ist das Rad! Der Schlag des Götzendieners fiel auf die Narbe. Da wurde ich in meiner Seele erschüttert: Meine Seele wurde verfinstert, und das Boot meiner Seele schaukelte auf den Wassern des Trugs. Erst als ich nach Shamlegh kam, konnte ich über die Ursache der Dinge meditieren und den Verlauf der Graswurzeln des Übels aufspüren. Die ganze lange Nacht habe ich gerungen.« »Aber, Heiliger, du bist unschuldig an allem Übel. Möge ich dein Pfand sein!« Kim war aufrichtig betrübt über den Kummer des alten Mannes, und Mahbub Alis Redewendung schlüpfte unversehens heraus. »Im Morgen«, fuhr der Lama ernster fort, »kam Erleuchtung. Hier ist sie… Ich bin ein alter Mann… in den Bergen geboren und aufgewachsen, und soll mich nie wieder zwischen meinen Bergen niedersetzen. Drei Jahre reiste ich durch Hind, aber – kann Erde stärker sein als Mutter Erde? Mein dummer Leib sehnte sich nach den Bergen und dem Schnee der Berge, von dort unten. Ich habe gesagt, und es ist wahr, daß meine Suche gewiß ist. So wandte ich mich dann, im Haus der Frau aus Kulu, den Bergen zu, allzu überzeugt von mir selbst. Der hakim ist hierfür nicht zu tadeln. Er – der Begierde folgend – sagte voraus, daß die Berge mich stark machen würden. Sie kräftigten mich um Übles zu tun, meine Suche zu vergessen. Ich habe mich des Lebens und der Lust am Leben ergötzt. Ich begehrte steile Hänge zu erklimmen. Ich sann darauf, sie zu finden. Ich maß die Kraft meines Leibes, was übel ist, wider die hohen Berge. Dich habe ich verspottet, als unter dem
Yamnotri dein Atem kurz wurde. Ich habe gescherzt, als du dich dem Schnee des Passes nicht stellen wolltest.« »Aber was ist denn dabei? Ich hatte doch Angst. Es war gerecht. Ich bin kein Bergmensch; und ich liebte dich wegen deiner neuen Stärke.« »Mehr als einmal, erinnere ich mich«, – kummervoll legte er seine Wange in die Hand – »suchte ich dein und des hakims Lob für die bloße Kraft meiner Beine. So folgte Übel auf Übel, bis der Kelch gefüllt war. Gerecht ist das Rad! Drei Jahre lang hat mir ganz Hind jede Ehre erwiesen. Vom Springquell der Weisheit im Wunder-Haus bis zu« – er lächelte – »einem kleinen Jungen, der neben einer großen Kanone spielte, hat die Welt meine Straße bereitet. Und warum?« »Weil wir dich liebten. Es ist nur das Fieber von dem Schlag. Ich bin ja selbst noch ganz krank und durcheinander.« »Nein! Es war, weil ich auf dem Pfad ging – eingestimmt, wie sinen [Zimbeln] auf den Willen des Gesetzes eingestimmt sind. Von dieser Bestimmung bin ich abgewichen. Die Einstimmung zerbrach: Es folgte die Strafe. In meinen eigenen Bergen, am Rande meines eigenen Heimatlandes, kommt der Hieb – hierhin!« (Er berührte seine Stirn.) »Wie ein Novize geschlagen wird, wenn er die Becher verwirrt, so bin ich geschlagen, der ich Abt von Such-zen war. Kein Wort, begreifst du, sondern ein Schlag, chela.« »Aber die Sahibs kannten dich doch nicht, Heiliger?« »Wir paßten gut zueinander. Unwissenheit und Gier begegneten auf der Straße Unwissenheit und Gier, und sie zeugten Zorn. Der Schlag war ein Zeichen für mich, der ich nicht besser bin als ein streunender Yak, daß mein Platz nicht hier ist. Wer die Ursache einer Tat lesen kann, ist auf dem halben Weg zur Freiheit! ›Zurück auf den Weg‹, sagt der Schlag. ›Die Berge sind nicht für dich. Du kannst nicht Befreiung wählen und Knecht der Wonnen des Lebens sein.‹«
»Hätten wir doch diesen verfluchten Russen nie getroffen!« »Nicht einmal unser HErr Selbst kann das Rad zurückdrehen. Und um des Verdienstes willen, das ich erworben hatte, erhielt ich noch ein weiteres Zeichen.« Er steckte die Hand in sein Brustgewand und zog das Rad des Lebens hervor. »Schau! Ich habe dies bedacht, nachdem ich meditiert hatte. Unzerrissen durch den Götzendiener bleibt nicht mehr als die Breite meines Fingernagels.« »Ich sehe es.« »So groß ist also die Spanne meines Lebens in diesem Körper. All meine Tage habe ich dem Rad gedient. Nun dient das Rad mir. Ohne das Verdienst, das ich erwarb, als ich dich auf den Pfad leitete, wäre mir noch ein weiteres Leben auferlegt worden, ehe ich meinen Fluß finden darf. Ist es deutlich, chela?« Kim starrte auf die brutal entstellte Karte. Der Riß verlief diagonal von links nach rechts – vom Elften Haus, wo die Begierde das Kind gebiert (wie die Tibeter es malen) – quer über die Menschen- und Tierwelten, zum Fünften Haus – dem leeren Haus der Sinne. Die Logik war unwiderlegbar. »Ehe unser HErr Erleuchtung gewann« – der Lama faltete alles voller Ehrfurcht zusammen –, »wurde Er versucht. Auch ich bin versucht worden, aber es ist vorüber. Der Pfeil fiel in der Ebene – nicht in den Bergen. Darum also: Was tun wir hier?« »Sollen wir nicht wenigstens auf den hakim warten?« »Ich weiß, wie lange ich in diesem Körper leben werde. Was kann ein hakim da tun?« »Aber du bist ganz krank und erschüttert. Du kannst nicht gehen.« »Wie kann ich krank sein, wenn ich Freiheit sehe?« Unsicher kam er auf die Beine.
»Dann muß ich Essen holen aus dem Dorf. Oh, die mühselige Straße!« Kim fühlte, daß auch er Ruhe brauchte. »Das ist ziemlich. Laß uns essen und gehen. Der Pfeil fiel in der Ebene… aber ich habe meiner Begierde nachgegeben. Mach dich bereit, chela.« Kim wandte sich der Frau mit dem Kopfschmuck voller Türkise zu, die müßig Kiesel über den Felsrand geworfen hatte. Sie lächelte sehr freundlich. »Ich fand ihn wie einen verirrten Büffel in einem Kornfeld – den Babu; schnaubend und niesend vor Kälte. Er war so hungrig, daß er seine Würde vergessen und mir süße Worte gesagt hat. Die Sahibs haben nichts.« Ruckartig zeigte sie ihre leere Handfläche. »Einer ist um den Magen herum sehr krank. Dein Werk?« Kim nickte mit leuchtenden Augen. »Zuerst habe ich mit dem Bengali gesprochen – und danach mit den Leuten eines nahen Dorfs. Die Sahibs werden Essen bekommen, da sie es brauchen – die Leute werden dafür auch kein Geld verlangen. Die Beute ist schon verteilt. Der Babu hält den Sahibs lügenhafte Reden. Warum verläßt er sie nicht?« »Wegen der Weite seines Herzens.« »Kein Bengali hatte je eins größer als eine trockene Walnuß. Aber das ist unbedeutend… Was nun Walnüsse angeht. Nach dem Dienst kommt der Lohn. Ich habe gesagt, daß das Dorf dein ist.« »Es ist mein Verlust«, begann Kim. »Eben erst hatte ich erstrebenswerte Dinge in meinem Herzen erwogen, die…« – es ist nicht nötig, all die Komplimente aufzuführen, die solchen Gelegenheiten angemessen sind. Er seufzte tief… »Aber mein Meister, geleitet von einer Vision…« »Hah! Was können alte Augen sehen außer einer vollen Bettelschale?«
»… wendet sich von diesem Dorf wieder den Ebenen zu.« »Bitte ihn zu bleiben.« Kim schüttelte den Kopf. »Ich kenne meinen Heiligen und seinen Zorn, wenn man seine Absichten durchkreuzt«, erwiderte er mit Nachdruck. »Seine Verfluchungen erschüttern die Berge.« »Ein Jammer, daß sie ihn nicht vor einem gebrochenen Kopf bewahrt haben! Ich hörte, daß du der Tigerherzige warst, der den Sahib geschlagen hat. Laß ihn noch ein wenig träumen. Bleib!« »Bergfrau«, sagte Kim mit einer Strenge, die doch die Umrisse seines jungen ovalen Gesichts nicht verhärten konnte, »diese Dinge sind zu hoch für dich.« »Die Götter seien uns gnädig! Seit wann sind denn Männer und Frauen etwas anderes als Männer und Frauen?« »Ein Priester ist ein Priester. Er sagt, er will in dieser Stunde gehen. Ich bin sein chela, und ich gehe mit ihm. Wir brauchen Essen für die Straße. In allen Dörfern ist er ein geehrter Gast, aber« – er erlaubte sich ein richtiges Jungengrinsen – »das Essen hier ist gut. Gib mir etwas.« »Was, wenn ich es dir nicht gebe? Ich bin die Frau dieses Dorfs.« »Dann verfluche ich dich – ein wenig –, nicht sehr, aber genug, daß du daran denken wirst.« Er mußte lächeln. »Du hast mich schon verflucht mit den gesenkten Wimpern und dem erhobenen Kinn. Flüche? Was soll ich mich um bloße Worte scheren?« Sie preßte die Hände über ihrem Busen zusammen… »Aber ich will nicht, daß du im Zorn gehst und Böses denkst über mich – Sammlerin von Kuhdung und Gras in Shamlegh, aber dennoch eine Frau von Bedeutung.« »Ich denke nichts«, sagte Kim, »außer daß ich mich gräme zu gehen, denn ich bin sehr müde; und daß wir Essen brauchen. Hier ist der Beutel.«
Die Frau schnappte verärgert danach. »Ich war närrisch«, sagte sie. »Wer ist deine Frau in den Ebenen? Hell oder schwarz? Ich war einmal hell. Lachst du? Einmal, vor langer Zeit, wenn du es glauben magst, trug ich europäische Kleider in dem Missions-Haus drüben.« Sie deutete in Richtung Kotgarh. »Einmal, vor langer Zeit, war ich Ker-lis-ti-an und sprach Englisch – wie die Sahibs es sprechen. Ja. Mein Sahib hat gesagt, er werde zurückkommen und mich heiraten – ja, mich heiraten. Er ist fortgegangen – ich hatte ihn gepflegt, als er krank war –, aber er ist nie zurückgekommen. Da sah ich, daß die Götter der Kerlistians lügen, und ich bin zu meinem eigenen Volk zurückgekehrt… Seitdem habe ich keinen Sahib mehr angeschaut. (Lach nicht über mich. Der Anfall ist vorüber, kleines Priesterchen.) Dein Gesicht und dein Gang und deine Art zu reden haben mich an meinen Sahib erinnert, obwohl du nichts bist als ein wandernder Bettler, dem ich ein Almosen gebe. Mich verfluchen? Du kannst weder verfluchen noch segnen!« Sie stemmte die Hände in die Hüften und lachte bitter. »Deine Götter sind Lügen; deine Werke sind Lügen; deine Worte sind Lügen. Es gibt keine Götter, unter allen Himmeln. Ich weiß es… Aber eine Weile habe ich geglaubt, du wärst mein Sahib, zurückgekommen, und er war mein Gott. Ja, ich habe einmal Musik gemacht auf einem pianno im Missions-Haus in Kotgarh. Jetzt gebe ich Almosen für Priester, die nichts sind als heathen.« Sie endete mit dem englischen Wort und band den übervollen Beutel zu. »Ich warte auf dich, chela«, sagte der Lama; er lehnte am Türpfosten. Die Frau überflog mit den Augen die hohe Gestalt. »Er und gehen! Er schafft keine halbe Meile. Wohin sollten alte Knochen gehen?«
An dieser Stelle verlor Kim, ohnehin verwirrt durch den Zusammenbruch des Lamas und im Vorblick auf das Gewicht des Beutels, die Fassung. »Was geht es dich an, Frau von üblem Omen, wohin er geht?« »Nichts – aber dich wohl, Priester mit Sahibsgesicht. Willst du ihn auf deinen Schultern tragen?« »Ich gehe zu den Ebenen. Niemand darf mich an der Rückkehr hindern. Ich habe mit meiner Seele gerungen, daß ich nun kraftlos bin. Der dumme Leib ist erschöpft, und wir sind fern von den Ebenen.« »Schau!« sagte sie schlicht und trat beiseite, damit Kim seine eigene vollkommene Hilflosigkeit sah. »Verfluche mich. Vielleicht gibt ihm das Kraft. Mach einen Zauber! Ruf deinen großen Gott an. Du bist ein Priester.« Der Lama hatte sich kraftlos hingehockt und hielt sich noch immer am Türpfosten fest. Ein alter Mann, den man niederschlägt, erholt sich davon nicht wie ein Junge über Nacht. Schwäche beugte ihn zu Boden, aber seine Augen, die an Kim hingen, waren lebendig und flehten. »Es ist alles gut«, sagte Kim. »Es ist die dünne Luft, die dich schwächt. Wir gehen bald! Es ist die Bergkrankheit. Ich bin auch ein wenig krank um den Magen«,… und er kniete und tröstete mit solch ärmlichen Worten, wie sie ihm gerade auf die Lippen kamen. Dann kehrte die Frau zurück, aufrechter denn je. »Deine Götter nutzlos, eh? Versuch’s mit meinen. Ich bin die Frau von Shamlegh.« Sie stieß einen heiseren Ruf aus, und aus einem Kuhpferch kamen ihre beiden Gatten und drei weitere Männer mit einer dooli, der plumpen Tragbahre der Bergbewohner, die sie zum Tragen von Kranken und für Staatsbesuche verwenden. »Diese Stücke Vieh« – sie ließ sich
nicht dazu herab, sie anzublicken – »sind dein, solange du sie brauchst.« »Aber wir werden nicht nach Simla gehen. Wir wollen nicht nahe an die Sahibs heran«, rief der erste Gatte. »Sie werden nicht weglaufen, wie die anderen es getan haben, und sie werden auch kein Gepäck stehlen. Von zweien weiß ich, daß sie Schwächlinge sind. Stellt euch an die hintere Stange, Sonoo und Taree.« Sie gehorchten sofort. »Niedriger jetzt, und hebt diesen heiligen Mann hinein. Ich werde auf das Dorf und eure tugendhaften Frauen achten, bis ihr zurückkommt.« »Wann wird das sein?« »Fragt die Priester. Behelligt mich nicht. Legt den Eßbeutel ans Fußende, so ist es besser ausgewogen.« »Oh, Heiliger, deine Berge sind gütiger als unsere Ebenen!« rief Kim erleichtert, als der Lama zur Bahre wankte. »Es ist ein wahres Königsbett – ein Ort der Ehre und Behaglichkeit. Und wir verdanken es…« »… einer Frau von üblem Omen. Deine Segnungen brauche ich so dringend wie deine Flüche. Dies ist mein Befehl und nicht einer von deinen. Anheben und los! Hier! Hast du Geld für den Weg?« Sie winkte Kim in ihre Hütte und beugte sich über eine zerbeulte englische Geldkassette unter ihrer Pritsche. »Ich brauche nichts«, sagte Kim, der verärgert war, wo er hätte dankbar sein sollen. »Ich bin längst von Gunstbeweisen ungebührlich überladen.« Mit einem seltsamen Lächeln blickte sie auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Danke mir wenigstens. Ich bin schlimm anzuschauen und eine Bergfrau, aber, wie du zu sagen pflegst, ich habe Verdienst erworben. Soll ich dir zeigen, wie die Sahibs Dank abstatten?« und ihre harten Augen wurden weich.
»Ich bin nur ein wandernder Priester«, sagte Kim; seine Augen leuchteten Antwort. »Du brauchst weder meinen Segen noch meinen Fluch.« »Nein. Aber für einen kleinen Moment… du kannst die dooli mit zehn Schritten überholen… wenn du ein Sahib wärst, soll ich dir zeigen, was du dann tun würdest?« »Was, wenn ich es einfach errate?« sagte Kim, legte seinen Arm um ihre Hüfte und küßte sie auf die Wange; dann setzte er hinzu: »Thank you verree much, my dear.« Küssen ist unter Asiaten praktisch unbekannt, was der Grund dafür gewesen sein mag, daß sie sich mit aufgerissenen Augen und panikerfülltem Gesicht zurückbog. »Nächstes Mal«, sagte Kim auf Englisch, »darfst du nicht so sicher sein, was deine Heidenpriester angeht. Jetzt sage ich Good-bye.« Wie ein Engländer streckte er die Hand aus. Automatisch nahm sie sie. »Good-bye, my dear.« »Good-bye, and… and« – Wort um Wort erinnerte sie sich an ihr Englisch – »you will come back again? Good-bye, and… thee God bless you.« Als eine halbe Stunde später die knirschende Bahre den Bergpfad hinaufschwankte, der von Shamlegh nach Südosten führt, sah Kim eine kleine Gestalt an der Hüttentür einen weißen Fetzen schwenken. »Sie hat Verdienst erworben über alle anderen hinaus«, sagte der Lama. »Denn einen Mann auf den Pfad zur Befreiung bringen ist halb so groß, als habe sie selbst Freiheit gefunden.« »Mmmm«, machte Kim versonnen; er bedachte die Vergangenheit. »Es kann sein, daß auch ich Verdienst erworben habe… Jedenfalls hat sie mich nicht als Kind behandelt.« Er zog den Vorderteil seines Gewands fester, wo das Bündel der Dokumente und Karten sich befand, verstaute den kostbaren Proviantbeutel erneut zu Füßen des Lamas, legte
seine Hand auf den Rand der Bahre und paßte sich dem langsamen Schritt der knurrenden Gatten an. »Auch diese erwerben Verdienst«, sagte der Lama drei Meilen weiter. »Mehr als das, sie werden sogar mit Silber bezahlt werden«, sagte Kim. Die Frau von Shamlegh hatte es ihm gegeben; und es war nur fair, sagte er sich, daß ihre Männer es zurückverdienten.
KAPITEL XV
I’d not give room for an Emperor. – I’d hold my road for a King. To the Triple Crown I’d not bow down – But this is a different thing! I’ll not fight wirh thc Powers of Air – Sentry, pass him through! Drawbridge let fall – He’s the Lord of us all – The Dreamer whose dream came true! The Siege of the Fairies [Einem Kaiser gäb ich den Weg nicht frei – einem König wich ich nicht aus. Ich neigte mich vor der Tiara nicht – doch dies ist ein ander Ding! Ich kämpfe nicht mit den Mächten der Luft – Posten, laß ihn passieren! Zugbrücke ab! – Er ist uns allen Herr, Er, dessen Traum sich erfüllte! Die Belagerung der Feen]
Zweihundert Meilen nördlich von Chini, auf dem blauen Schieferton von Ladakh, liegt Yankling Sahib, der Mann munteren Gemüts; durch ein Fernrohr schaut er grimmig über die Grate hin nach einem Lebenszeichen seines liebsten Fährtensuchers – einem Mann aus Ao-chung. Aber dieser Abtrünnige treibt sich anderswo herum, mit einem neuen Männlicher-Gewehr und zweihundert Patronen, schießt Moschustiere für den Markt; und in der nächsten Saison wird Yankling Sahib erfahren, wie furchtbar krank er gewesen ist.
Die Täler von Bushahr hinauf – die weitblickenden Adler der Himalayas verfliegen sich angesichts seines neuen Schirms aus blauen und weißen Zwickeln – eilt ein Bengali, einst fett und gutaussehend, nun hager und verwittert. Er hat den Dank zweier vornehmer Fremdlinge empfangen, die er nicht ungeschickt zum Mashobra-Tunnel gelotst hatte, welcher zur großen und fröhlichen Hauptstadt Indiens führt. Es war nicht sein Fehler, daß er sie, von feuchten Nebeln zugedeckt, an der Telegrafenstation und der europäischen Kolonie von Kotgarh vorbeigeleitete. Es war nicht sein Fehler, sondern der der Götter, über die er sich so gewinnend verbreitete, daß er sie über die Grenzen von Nahan führte – in einen Staat, dessen Radscha sie irrtümlich für desertierende englische Soldaten hielt. Hurree Babu setzte ihm auseinander, welcher Größe und Glorie seine Gefährten in ihrer Heimat teilhaftig waren, bis der schläfrige Kleinkönig lächelte. Er setzte es jedem auseinander, der fragte – viele Male – lauthals – mit Varianten. Er bettelte um Essen, sorgte für Unterkunft, erwies sich als geschickter Arzt für eine Leistenverletzung – einen Schlag, wie man ihn sich wohl zuziehen mag, wenn man im Dunkeln einen felsigen Berghang hinabrollt – und war in jeder Beziehung unentbehrlich. Der Grund für seine Freundlichkeit ehrte ihn. Wie Millionen von Mitsklaven habe er gelernt, Rußland als den großen Befreier aus dem Norden zu betrachten. Er sei ein furchtsamer Mann. Er habe Angst gehabt, seine erlauchten Dienstherren nicht vor dem Zorn einer erregten Bauernschaft schützen zu können. Er selbst habe durchaus keine Einwände dagegen, einen heiligen Mann zu schlagen, aber… Er sei zutiefst dankbar und wahrhaft beglückt, daß er sein »geringes Mögliches« getan habe, ihr Unterfangen zu einem – abgesehen vom verlorenen Gepäck – erfolgreichen Abschluß zu bringen. Er hatte die Schläge vergessen; leugnete, daß in jener unziemlichen ersten Nacht unter den Kiefern überhaupt
Schläge ausgeteilt worden seien. Er bitte weder um Kostgeld noch um ein Honorar für weitere Verfügbarkeit; ob sie ihm aber nicht, falls sie ihn dessen für würdig hielten, ein Zeugnis ausstellen könnten? Es möchte ihm später nützlich sein, wenn andere, ihre Freunde, über die Pässe kämen. Er bat sie, seiner in ihrer künftigen Größe zu gedenken, denn er »befinde feinsinnig«, daß er, sogar er, Mohendro Lal Dutt, M. A. aus Kalkutta, »dem Staat einen Dienst erwiesen« habe. Sie gaben ihm ein Zertifikat, das seine Höflichkeit, Nützlichkeit und unfehlbare Geschicklichkeit als Führer pries. Er schob es in seinen Leibgurt und schluchzte vor Rührung; sie hatten ja so viele Gefahren gemeinsam bestanden. Am hellsten Mittag führte er sie über die von Menschen wimmelnde Simla Mall zur Alliance Bank von Simla, wo sie sich ausweisen sollten. Von dort verschwand er wie eine frühe Morgenwolke über dem Jakko. Man betrachte ihn, wie er, zu abgemagert, um zu schwitzen, zu sehr in Eile, um die Arzneien in seiner kleinen messingbeschlagenen Kiste anzupreisen, den Shamlegh-Hang ersteigt, ein Gerechter im Zustand der Vollkommenheit. Man mustere ihn, wie er, allen Babutums ledig, zu Mittag auf einer Pritsche raucht, während eine Frau mit türkisenbesetztem Kopfputz nach Südosten über das kahle Gras deutet. Tragbahren, sagt sie, reisen nicht so schnell wie einzelne Männer, doch sollten seine Vögel nun wohl die Ebenen erreicht haben. Der heilige Mann habe nicht bleiben wollen, obwohl Lispeth ihn dazu gedrängt habe. Der Babu ächzt schwer, gürtet erneut seine mächtigen Lenden und ist wieder unterwegs. Er reist nicht gern nach Beginn der Abenddämmerung; seine Tagesmärsche – niemand ist da, der sie in ein Buch eintrüge – würden jedoch Leute, die seine Rasse verspotten, in Erstaunen versetzen. Freundliche Dörfler, die sich nach zwei Monaten noch des Arzneiverkäufers aus
Dacca erinnern, geben ihm Obdach wider die üblen Geister des Waldes. Er träumt von bengalischen Göttern, Lehrbüchern der Universität und der Royal Society, London, England. Im nächsten Morgengrauen zieht der hüpfende blau-weiße Schirm weiter. Am Rande des Dun, Mussoorie weit im Rücken und die Ebene vor ihnen in goldenem Staub ausgebreitet, ruht eine verschlissene Tragbahre, auf der – alle Berge wissen es – ein kranker Lama liegt, der einen Fluß zu seiner Heilung sucht. Dörfer haben sich fast geschlagen um die Ehre, die Bahre tragen zu dürfen, denn nicht nur hat der Lama ihnen Segen erteilt, sondern sein Jünger auch gutes Geld – ein volles Drittel von Sahib-Preisen. Zwölf Meilen am Tag ist die dooli gereist, wie die schmierigen, abgeriebenen Enden der Tragstangen zeigen, und dies über Wege, die wenige Sahibs benutzen. Über den Nilang-Paß bei Sturm, wo der treibende Schneestaub jede Falte im Gewand des gleichmütigen Lamas füllte; zwischen den schwarzen Hörnern von Raieng hindurch, wo sie durch die Wolken das Pfeifen der wilden Ziegen hörten; schlingernd und stürzend auf dem Schieferton weiter unten; hart gehalten zwischen Schulter und verkrampftem Kiefer, als sie die gräßlichen Kurven der Sprengstraße unterhalb des Bhagirati umrundeten; schwingend und knirschend zum gleichmäßigen Trab des Abstiegs ins Tal der Wasser; eilig über den dampfenden Grund dieses ringsum abgeschlossenen Tals; aufwärts, aufwärts und wieder hinaus, den brüllenden Böen entgegen, die vom Kedarnath herabwehen; an Mittagen abgesetzt in der fahlbraunen Düsternis freundlicher Eichenwälder; von Dorf zu Dorf weitergereicht im eisigen Morgen, wenn man auch den Frömmsten vergeben sollte, daß sie ungeduldige heilige Männer verfluchen; oder bei Fackellicht, wenn selbst die Furchtlosesten an Geister denken – so hat die dooli ihre letzte Station erreicht. Die kleinen
Bergmenschen schwitzen in der relativen Hitze der unteren Siwaliks und sammeln sich um die Priester für Segen und Lohn. »Ihr habt Verdienst erworben«, sagt der Lama. »Größeres Verdienst als ihr wißt. Und ihr werdet zu den Bergen heimkehren.« Er seufzt. »Gewiß. Zu den hohen Bergen, so bald wie möglich.« Der Träger reibt sich die Schulter, trinkt Wasser, speit es wieder aus und zerrt seine Bastsandalen zurecht. Kim – sein Gesicht ist angespannt und erschöpft – zahlt mit sehr kleinen Silbermünzen aus seinem Gürtel, hebt den Proviantbeutel von der Bahre, stopft ein Ölhaut-Paket – es handelt sich um heilige Schriften – in sein Brustgewand und hilft dem Lama auf die Beine. Friede ist wieder eingekehrt in die Augen des alten Mannes, und er erwartet nicht mehr, daß die Berge niederstürzen und ihn zermalmen, wie er es in jener furchtbaren Nacht tat, als der über die Ufer getretene Fluß sie aufhielt. Die Männer heben die dooli an und geraten zwischen den Gestrüppgruppen allmählich außer Sicht. Der Lama hebt eine Hand zum Wall der Himalayas. »Nicht zwischen euch, o Gesegnete unter allen Bergen, fiel der Pfeil unseres HErrn! Und nie wieder werde ich eure Lüfte atmen!« »Aber in dieser guten Luft hier bist du zehnmal stärker«, sagt Kim, denn seine erschöpfte Seele labt sich an den wohlbebauten, freundlichen Ebenen. »Hier, oder hier in der Nähe, ist der Pfeil gefallen, ja. Wir werden ganz sachte gehen, vielleicht ein kos am Tag, denn die Suche ist gewiß. Aber der Beutel wiegt schwer.« »Ja, unsere Suche ist gewiß. Ich bin aus großer Versuchung hervorgegangen.«
Nun waren es nie mehr als ein paar Meilen am Tag, und Kims Schulter trug all ihre Last – die Bürde eines alten Mannes, die Bürde des schweren Proviantbeutels mit den verschlossenen Büchern, die Last der Schriften auf seinem Herzen und alle Einzelheiten der täglichen Verrichtungen. Er bettelte im Morgengrauen, legte die Decken zurecht für die Meditation des Lamas, hielt in der Mittagshitze das müde Haupt auf seinem Schoß, fächelte die Fliegen fort, bis ihm die Handgelenke schmerzten, bettelte am Abend erneut und rieb die Füße des Lamas, der ihn mit der Verheißung von Freiheit belohnte – heute, morgen oder allerspätestens am Tag danach. »Nie gab es solch einen chela. Bisweilen zweifle ich, ob Ananda Unseren HErrn treuer umsorgte. Und du bist ein Sahib? Als ich ein Mann war – vor langer Zeit –, habe ich das immer vergessen. Nun blicke ich oft auf dich, und jedes Mal erinnere ich mich, daß du ein Sahib bist. Es ist seltsam.« »Du hast gesagt, es gibt weder schwarz noch weiß. Warum plagst du mich mit dieser Rede, Heiliger? Laß mich den anderen Fuß reiben. Es quält mich. Ich bin kein Sahib. Ich bin dein chela, und mein Kopf ist schwer auf meinen Schultern.« »Nur ein wenig Geduld! Wir erlangen zusammen die Freiheit. Dann werden du und ich, vom jenseitigen Ufer des Flusses, auf unsere Leben zurückblicken, wie wir in den Bergen unsere Tagesmärsche hinter uns ausgelegt sahen. Vielleicht war ich einmal ein Sahib.« »Nie gab es einen Sahib wie dich, das schwöre ich.« »Ich bin sicher, der Hüter der Bildwerke im Wunder-Haus war in einem früheren Leben ein weiser Abt. Aber selbst seine Augengläser machen mich nicht mehr sehen. Schatten fallen, wenn ich genau hinschauen möchte. Unwichtig – wir kennen die Streiche des armen dummen Kadavers – Schatten, der sich zu anderem Schatten wandelt. Ich bin gebunden durch den
Trug von Zeit und Raum. Wie weit kamen wir heute im Fleisch?« »Vielleicht ein halbes kos.« (Drei Viertel einer Meile, und es war ein mühseliger Marsch.) »Ein halbes kos. Ha! Im Geiste ging ich zehntausend kos. Wie wir alle gehüllt, gewindelt und gewickelt sind in diese sinnlosen Dinge.« Er betrachtete seine dünne, blaugeäderte Hand, die die Perlen des Rosenkranzes so schwer fand. »Chela, hast du nie den Wunsch, mich zu verlassen?« Kim dachte an das Ölhaut-Paket und die Bücher im Proviantbeutel. Wenn nur irgendein Zuständiger sie übernähme, könnte das Große Spiel sich selbst spielen, was ihn betraf. Er war müde, sein Kopf war heiß, und ein Husten, der fast aus dem Magen kam, bekümmerte ihn. »Nein«, sagte er beinahe streng. »Ich bin kein Hund und keine Schlange, daß ich beiße, wenn ich zu lieben gelernt habe.« »Du bist allzu bedacht auf mich.« »Auch das nicht. In einer Sache habe ich gehandelt, ohne dich zu fragen. Ich habe eine Nachricht an die Kulu-Frau geschickt, durch die Frau, die uns heute früh die Ziegenmilch gab; eine Botschaft, daß du ein wenig schwach bist und eine Sänfte brauchst. In meinem Geiste habe ich mich geschlagen, weil ich das nicht schon getan habe, als wir den Dun erreichten. Wir bleiben hier, bis die Sänfte kommt.« »Ich bin zufrieden. Sie ist eine Frau mit goldenem Herzen, wie du sagst, aber geschwätzig – ein wenig geschwätzig.« »Sie wird dich nicht verdrießen. Auch dafür habe ich gesorgt. Heiliger, mein Herz ist schwer wegen meiner zahlreichen Achtlosigkeiten dir gegenüber.« Ein hysterischer Würgegriff legte sich um seine Kehle. »Ich habe dich zu weit wandern lassen; ich habe nicht immer gutes Essen für dich ausgesucht; ich habe die Hitze nicht bedacht; ich habe mit Leuten auf der
Straße geredet und dich allein gelassen… Ich habe… ich habe… Hai mai! Aber ich liebe dich… und alles ist zu spät… Ich war ein Kind… Oh, warum war ich denn kein Mann?…« Überwältigt von Anspannung, Erschöpfung und der für seine Jahre zu großen Last brach Kim zusammen und schluchzte zu Füßen des Lamas. »Welch ein Aufhebens ist das!« sagte der alte Mann sanft. »Du bist nie auch nur um ein Haar vom Pfad des Gehorsams gewichen. Mich vernachlässigen? Kind, ich habe von deiner Kraft gelebt wie ein alter Baum vom Kalk einer neuen Wand. Tag um Tag, seit wir Shamlegh verließen, habe ich dir Stärke gestohlen. Deshalb, nicht durch eigene Sünde, bist du geschwächt. Es ist der Leib – der törichte, dumme Leib –, der jetzt spricht. Nicht die sichere Seele. Laß dich trösten! Zumindest erkenne die Teufel, mit denen du kämpfst. Sie sind erdgeboren – Kinder des Trugs. Wir werden zur Frau aus Kulu gehen. Sie wird Verdienst erwerben, indem sie Obdach gibt, und besonders, indem sie mich pflegt. Du sollst frei herumlaufen, bis die Kraft wiederkehrt. Ich hatte den dummen Leib vergessen. Wenn da ein Tadel ist, so trifft er mich. Aber wir sind den Toren der Erlösung zu nah, um Tadel abzuwiegen. Ich könnte dich preisen, aber ist es nötig? Bald – sehr bald – werden wir jenseits aller Not sitzen.« Und so streichelte und tröstete er Kim mit weisen Sprüchen und gewichtigen Texten über jenes kaum begriffene Tier, unseren Leib, der nichts als Blendwerk ist und eben deshalb darauf besteht, sich als die Seele auszugeben, zur Verfinsterung des Pfads und zur unermeßlichen Vermehrung unnötiger Teufel. »Hai! hai! Laß uns von der Frau aus Kulu sprechen. Meinst du, sie wird wieder einen Zauber für ihre Enkelsöhne haben wollen? Als ich ein junger Mann war, vor sehr langer Zeit, wurde ich von diesen – und einigen anderen – Dünsten geplagt
und ging zu einem Abt – einem sehr heiligen Mann und Wahrheitssucher, wenn ich dies auch damals nicht wußte. Setz dich aufrecht und lausche, Kind meiner Seele! Meine Geschichte war erzählt. Da sagte er zu mir: ›Chela, wisse dies. Es gibt viele Lügen in der Welt, und nicht wenige Lügner, aber kein Lügner ist so übel wie unser Leib, außer vielleicht die Empfindungen unseres Leibes.‹ Dies bedenkend war ich getröstet, und in seiner großen Güte duldete er, daß ich Tee trank in seiner Gegenwart. Dulde nun du, daß ich Tee trinke, denn ich bin durstig.« Mit einem Lachen unter seinen Tränen küßte Kim die Füße des Lamas und befaßte sich mit der Bereitung von Tee. »Du stützt dich auf mich mit dem Körper, Heiliger, aber ich stütze mich auf dich in anderen Dingen. Weißt du das?« »Ich habe es vielleicht erraten.« Die Augen des Lamas zwinkerten. »Das müssen wir ändern.« Als dann mit Schlurfen und Schrappen und gewichtigem Getue nichts Geringeres als der zwanzig Meilen weit geschickte Lieblings-palankin der Sahiba angeschaukelt kam, unter der Aufsicht des vertrauten alten grauen Oorya-Dieners, und als sie die unordentliche Ordnung des langen weißen wuselnden Hauses hinter Saharanpur erreichten, traf der Lama seine Vorkehrungen. Nach dem Austausch von Komplimenten sagte die Sahiba munter aus einem oberen Fenster: »Was nützen schon die Ratschläge einer alten Frau an einen alten Mann? Ich habe dir gesagt – ich habe dir doch wirklich gesagt, Heiliger, du sollst deinen chela im Auge behalten. Und was hast du getan? Du brauchst nicht zu antworten! Ich weiß es doch. Er hat sich mit Frauen herumgetrieben. Schau dir seine Augen an – hohl und eingesunken –, und die Linie der Enthüllung von der Nase abwärts! Er ist leergesogen! Pfui! Pfui! Und auch noch ein Priester!«
Kim blickte hinauf, zu erschöpft zum Lächeln, und schüttelte verneinend den Kopf. »Scherze nicht«, sagte der Lama. »Die Zeit dafür ist vorüber. Gewaltige Dinge bringen uns her. In den Bergen packte mich eine Krankheit der Seele und ihn eine Krankheit des Leibes. Seitdem lebe ich von seiner Kraft – ich zehre ihn auf.« »Kinder alle beide – jung und alt.« Sie schnaufte, verzichtete aber auf weitere Scherze. »Möge die Gastfreundschaft hier euch wieder herstellen! Warte ein wenig; später komme ich, um über die guten hohen Berge zu plaudern.« Am Abend – ihr Schwiegersohn war zurückgekehrt, also brauchte sie keine Inspektionsrunde um das Anwesen zu machen – erfuhr sie den Kern der Angelegenheit, mit leiser Stimme vom Lama erläutert. Die beiden alten Häupter nickten weise miteinander. Kim war zu einem Zimmer mit einer Pritsche getaumelt und schlief wie betäubt. Der Lama hatte ihm verboten, Decken auszubreiten oder Essen zu holen. »Ich weiß – ich weiß. Wer besser als ich?« kicherte sie. »Wir, die wir zu den Brenn-Ghats hinabgehen, klammern uns an die Hände jener, die vom Fluß des Lebens mit vollen Wasserkrügen heraufkommen – ja, mit überfließenden Wasserkrügen. Ich habe dem Jungen unrecht getan. Er hat dir seine Kraft geliehen? Es ist wahr, jeden Tag zehren die Alten die Jungen auf. Nun müssen wir ihn also wieder zu Kräften bringen.« »Du hast viele Male Verdienst erworben…« »Mein Verdienst! Was ist es denn? Ein alter Knochensack kocht Curry für Männer, die nicht fragen, ›Wer hat das gekocht?‹ Wenn mein Verdienst für meinen Enkel aufbewahrt werden könnte…« »Ihn, der die Bauchschmerzen hatte?« »Daß der Heilige sich daran erinnert! Ich muß es seiner Mutter erzählen. Das ist eine ganz einzigartige Ehre! ›Ihn, der
die Bauchschmerzen hatte‹ – der Heilige hat es gleich wieder gewußt. Sie wird stolz sein.« »Mein chela ist für mich, was ein Sohn den Unerleuchteten bedeutet.« »Sag lieber Enkel. Mütter haben nicht die Weisheit unserer Jahre. Wenn ein Kind schreit sagen sie, die Himmel stürzen. Eine Großmutter dagegen ist weit genug entfernt von der Qual des Gebärens und der Wonne des Säugens, um zu bedenken, ob Geschrei reine Bosheit oder ein Wind ist. Und da du eben wieder von Wind geredet hast – als der Heilige das letzte Mal hier war, habe ich ihn vielleicht beleidigt, weil ich wegen eines Zaubers gedrängelt habe.« »Schwester«, sagte der Lama mit der Anrede, die ein buddhistischer Mönch manchmal einer Nonne gegenüber verwenden mag, »wenn Zauber dich beruhigen…« »Sie sind besser als zehntausend Ärzte.« »Ich sage, wenn sie dich beruhigen, so will ich, der ich Abt von Such-zen war, so viele machen, wie du nur begehrst. Ich habe nie dein Gesicht gesehen…« »Das würden nicht einmal die Affen, die unsere Loquats stehlen, für einen Verlust halten. Hi!Hi!« »… aber wie er, der dort schläft, sagte«, – er nickte zur geschlossenen Tür der Gästekammer auf der anderen Seite des Vorhofs – »du hast ein Herz aus Gold… Und in meinem Geist ist er mir wahrlich mein ›Enkel‹.« »Gut! Ich bin die Kuh des Heiligen.« Das war reiner Hinduismus, aber der Lama beachtete es nicht. »Ich bin alt. Ich habe Söhne im Leib getragen. Oh, einst konnte ich den Männern gefallen! Nun kann ich sie heilen.« Er hörte, wie ihre Armreifen klirrten, als zöge sie blank. »Ich werde den Jungen übernehmen und ihm Arzneien geben und ihn vollstopfen und ganz gesund machen. Hai! hai! Wir Alten verstehen auch noch etwas.«
Als Kim, den jeder einzelne Knochen schmerzte, die Augen aufschlug und zum Kochhaus gehen wollte, um Essen für seinen Meister zu holen, sah er sich daher starkem Zwang gegenüber und einer verschleierten alten Gestalt an der Tür, flankiert von dem ergrauten Dienstmann; sie sagte ihm ganz genau, was er auf gar keinen Fall tun solle. »Du mußt etwas haben? Nichts wirst du haben. Was? Eine verschließbare Kiste zur Aufbewahrung heiliger Bücher? Ah, das ist etwas anderes. Der Himmel sei davor, daß ich mich zwischen einen Priester und seine Gebete stelle! Sie wird dir gebracht werden, und du sollst den Schlüssel haben.« Sie schoben die Kassette unter seine Pritsche, und Kim schloß Mahbubs Pistole weg, das Ölhaut-Paket mit den Briefen und die verschlossenen Bücher und Tagebücher, mit einem Seufzen der Erleichterung. Aus irgendeinem absurden Grund war ihr Gewicht auf seinen Schultern nichts gegen ihr Gewicht auf seinem armen Gemüt. In den Nächten schmerzte sein Nacken davon. »Die Krankheit, die du hast, ist in diesen Tagen bei der Jugend nicht gewöhnlich: Weil junge Leute das Pflegen der Alten aufgegeben haben. Das Heilmittel ist Schlaf; und gewisse Arzneien«, sagte die Sahiba; und gern ergab er sich der weißen Leere, die ihn halb bedrohte und halb besänftigte. In einer mysteriösen asiatischen Art Hausbrennerei braute sie Getränke – Tränke, die pestilenzialisch rochen und noch schlimmer schmeckten. Sie beugte sich über Kim, bis sie herunter waren, und fragte erschöpfend, nachdem sie hochgekommen waren. Sie belegte den Vorhof mit einem Tabu und setzte dies mittels eines Bewaffneten durch. Zwar war er weit über siebzig, und das Schwert in seiner Scheide endete unter dem Knauf; aber er vertrat die Autorität der Sahiba, und beladene Wagen, plappernde Diener, Kälber, Hunde, Hennen und dergleichen machten um dieses Geviert
einen weiten Bogen. Das Beste aber war, daß sie, als der Körper geläutert war, aus der Menge armer Verwandter, die sich im hinteren Teil der Gebäude drängten – Haushaltshunde nennen wir sie hier –, die Witwe eines Vetters heraussuchte, die geschickt war in dem, was Europäer, die nichts davon verstehen, Massage nennen. Und die beiden streckten ihn ostwestlich aus, damit die rätselhaften Erdströme, die den Lehm unserer Leiber durchrieseln, halfen und nicht hinderten, und an einem langen Nachmittag nahmen sie ihn ganz auseinander – Knochen um Knochen, Muskel um Muskel, Sehne um Sehne und zuletzt Nerv um Nerv. Zu unzurechnungsfähigem Brei zerknetet, halb hypnotisiert vom ewigen Sacken und Zurechtrücken der unbequemen chadors vor ihren Augen, glitt Kim zehntausend Meilen tief in Schlummer – sechsunddreißig Stunden lang –, Schlaf, der einsickerte wie Regen nach Dürre. Dann fütterte sie ihn, und das Haus wirbelte bei ihrem Gekeife. Sie ließ Geflügel schlachten; sie schickte nach Gemüse, und der brave schwerfällige Gärtner, fast so alt wie sie, schwitzte deswegen; sie nahm Gewürze und Milch und Zwiebeln, dazu kleine Fische aus den Bächen – dann wieder Limonen für Sorbets, feiste Wachteln aus den Gruben, danach Hühnerlebern am Spieß mit Ingwerscheibchen dazwischen. »Ich habe einiges von dieser Welt gesehen«, sagte sie über den übervollen Schüsseln, »und in ihr gibt es nur zwei Arten von Frauen – jene, die einem Mann die Kraft nehmen, und jene, die sie ihm zurückgeben. Einst war ich das eine, und jetzt bin ich das andere. Nein – spiel nicht das Priesterchen für mich. Es war nur ein Scherz. Wenn er dir jetzt nicht gefällt – er wird dir gefallen, sobald du wieder unterwegs bist. Kusine«, – das zu der armen Verwandten, die nimmermüde die Barmherzigkeit ihrer Gönnerin pries – »seine Haut erblüht wie die eines frischgestriegelten Pferds. Unser Werk ist wie das
Polieren von Juwelen, die bald einem Tanzmädchen hingeworfen werden – eh?« Kim saß aufrecht und lächelte. Die schreckliche Schwäche war von ihm abgefallen wie ein alter Schuh. Seine Zunge juckte wieder nach ungezügelter Rede, und dabei war es erst eine Woche her, daß das leichteste Wort sie wie Asche verklebt hatte. Der Schmerz in seinem Nacken (er mußte sich beim Lama angesteckt haben) war mit den schlimmen dengueSchmerzen und dem üblen Geschmack im Mund verflogen. Die beiden alten Frauen, die nun ein wenig, aber nicht viel, sorgsamer mit ihren Schleiern umgingen, gluckten so munter wie die Hennen, die pickend durch die offene Tür hereingekommen waren. »Wo ist mein Heiliger?« fragte er. »Hör ihn dir an! Deinem Heiligen geht es gut«, sagte sie giftig. »Obwohl das nicht sein Verdienst ist. Wenn ich einen Zauber wüßte, ihn klug zu machen, würde ich meine Juwelen verkaufen und ihn beschaffen. Gutes Essen, das ich selbst gekocht habe, abzulehnen – und sich zwei Nächte lang mit leerem Bauch in den Feldern herumzutreiben – und am Schluß in einen Bach zu fallen – nennst du das Heiligkeit? Dann, nachdem er das wenige, was du von meinem Herzen übriggelassen hast, noch fast mit Besorgnis gebrochen hat, erzählt er mir, daß er Verdienst erworben hat. Oh, wie gleich doch alle Männer sind! Nein, das war es nicht – er erzählt mir, daß er befreit ist von aller Sünde. Ich hätte ihm das sagen können, bevor er sich völlig durchnäßt. Es geht ihm jetzt gut – das ist vor einer Woche geschehen –, aber verschont mich mit solcher Heiligkeit! Ein dreijähriges Kind hält sich besser. Sorg dich nicht um deinen Heiligen. Er hängt an dir mit beiden Augen, wenn er nicht gerade durch unsere Bäche watet.« »Ich erinnere mich nicht, ihn gesehen zu haben. Ich erinnere mich, daß die Tage und Nächte verstrichen sind wie weiße und
schwarze Riegel, immer auf und zu. Ich war nicht krank: Ich war nur müde.« »Eine Lethargie, wie sie mit Recht einige Dutzend Jahre später kommt. Aber es ist nun vorüber.« »Maharani«, begann Kim, aber wegen des Blicks ihrer Augen ging er zur Anrede schlichter Liebe über – »Mutter, ich schulde dir mein Leben. Wie soll ich Dank abstatten? Zehntausend Segen über dein Haus und…« »Das Haus sei entsegnet!« (Es ist unmöglich, die genauen Worte der alten Dame wiederzugeben.) »Danke den Göttern wie ein Priester, wenn du willst, aber danke mir, wenn dir daran liegt, wie ein Sohn. O ihr Himmel! Habe ich dich geschoben und gehoben und beklopft und deine zehn Zehen verdreht, damit mir jetzt Schrifttexte an den Kopf geworfen werden? Irgendwo muß dich doch eine Mutter getragen haben, damit du ihr Herz brichst. Wie hast du ihr gedankt – Sohn?« »Ich hatte keine Mutter, meine Mutter«, sagte Kim, »ist gestorben, sagt man mir, als ich noch sehr klein war.« »Hai mai! Dann kann keine sagen, ich hätte sie irgendeines Rechts beraubt, wenn… sobald du wieder weiterziehst und dieses Haus nur eins von tausend ist, die du zu Obdach verwendet und vergessen hast, nach einem leichthin geworfenen Segen. Unwichtig. Ich brauche keinen Segen, sondern… sondern…« Sie stampfte mit dem Fuß, an die arme Verwandte gerichtet. »Bring die Schüsseln ins Haus. Was nützt denn schales Essen im Raum, o Frau von üblem Omen?« »Ich ha. habe auch einen Sohn geboren, zu meiner Zeit, aber er ist gestorben«, wimmerte die gebeugte Schwestergestalt hinter dem chador. »Du weißt, daß er gestorben ist! Ich habe nur auf den Befehl gewartet, um die Schüsseln fortzubringen.« »Ich bin hier die Frau von üblem Omen«, rief die alte Dame reumütig. »Wir, die wir hinabgehen zu den chattris [den großen Schirmen über den Brenn-Ghats, wo die Priester ihre
letzten Gebühren erheben], klammern uns mit Gewalt an die Träger der chattis [Wasserkrüge – sie meinte junge Leute voll vom Übermut des Lebens; aber das Wortspiel ist plump]. Wenn man nicht beim Fest tanzen kann, muß man eben durch das Fenster zuschauen, und Großmutterspielen nimmt alle Zeit einer Frau in Anspruch. Dein Meister gibt mir alle Zauber, die ich jetzt für den Ältesten meiner Tochter haben möchte, aus dem Grund – ja? –, weil er nun völlig frei ist von Sünde. Der hakim ist in diesen Tagen tief gesunken. Er geht herum und vergiftet meine Diener, weil er an die Höhergestellten nicht herankommt.« »Welcher hakim, Mutter?« »Eben der Mann aus Dacca, der mir die Pille gegeben hat, die mich in drei Teile zerriß. Vor einer Woche ist er wie ein verlaufenes Kamel hier aufgetaucht; er hat geschworen, er und du wärt oben Richtung Kulu Blutsbrüder geworden, und er schien sehr um deine Gesundheit besorgt. Er war ganz dünn und hungrig; also habe ich befohlen, daß man ihn auch vollstopft – ihn und seine Besorgnis!« »Ich würde ihn gern sehen, wenn er noch hier ist.« »Er ißt fünfmal am Tag und sticht meinen Knechten Geschwüre auf, um sich selbst vor einem Schlaganfall zu bewahren. Er ist so voll von Besorgnis um deine Gesundheit, daß er an der Tür des Kochhauses klebt und sich dauernd mit Bröckchen stärkt. Er wird da kleben bleiben. Wir werden ihn nie wieder los.« »Schick ihn her, Mutter«, – für einen Moment blitzte in Kims Auge wieder der Schalk auf – »dann versuche ich, ihn loszuwerden.« »Ich schicke ihn, aber ihn wegjagen wäre nicht gut. Immerhin hatte er genug Verstand, den Heiligen aus dem Bach zu fischen und so, wie der Heilige nicht sagte, Verdienst zu erwerben.« »Er ist ein sehr kluger hakim. Schick ihn mir, Mutter.«
»Priester preist Priester? Ein Wunder! Wenn er wirklich dein Freund ist (bei eurer letzten Begegnung hier habt ihr euch ja gezankt), dann schleppe ich ihn mit Pferdestricken her und… danach gebe ich ihm ein Kasten-Essen, mein Sohn… Steh auf und schau dir die Welt an! Dieses Herumliegen im Bett ist die Mutter von siebzig Teufeln… mein Sohn! mein Sohn!« Sie trabte fort, um im Kochhaus einen Taifun zu entfachen, und fast noch in ihrem Schatten wälzte sich der Babu herein, bis an die Schultern wie ein römischer Imperator gekleidet, mit Hängebacken wie Titus, barhäuptig, mit neuen Lacklederschuhen; er stand in bestem Fett und sonderte Freude und Begrüßungen ab. »Bei Zeus, Mister O’Hara, ich bin aber wirklich verdammt froh, Sie zu sehen. Freundlicherweise will ich die Tür schließen. Ein Jammer, daß Sie krank sind. Sind Sie sehr krank?« »Die Papiere – die Papiere aus dem kilta. Die Karten und der murasla.« Er hielt ihm ungeduldig den Schlüssel hin, denn im Augenblick hatte seine Seele kein anderes Bedürfnis, als die Beute loszuwerden. »Sie haben ganz recht. Das ist korrekter departementaler Standpunkt. Haben Sie alles?« »Alles Handschriftliche aus dem kilta habe ich genommen. Den Rest habe ich den Berg hinuntergeworfen.« Er konnte den Schlüssel im Schloß knirschen hören, das klebrige Schmatzen der schwer aufzureißenden Ölhaut und ein rasches Rascheln von Papieren. Er hatte sich fast um den Verstand geärgert, in dem Wissen, daß dies alles da unter ihm gelegen hatte, in den müßigen Tagen der Krankheit – eine Bürde, die er nicht weitergeben konnte. Aus diesem Grund prickelte ihm das Blut im ganzen Leib, als Hurree wie ein Elefant herumhüpfte und ihm wieder die Hand schüttelte.
»Das ist fein! Das ist oberfein! Mister O’Hara! Sie haben – ha! ha! – die ganze Trickkiste ausgeräumt und eingesackt – mit Stumpf und Stiel und Stempel. Mir haben sie gesagt, damit wären acht Monate Arbeit durch die Lappen! Bei Zeus, wie die mich verhauen haben!… Ah, da ist der Brief aus Hilàs!« Er intonierte eine oder zwei Zeilen Hofpersisch, die Sprache zulässiger und unzulässiger Diplomatie. »Mister Radscha Sahib steckt jetzt mit beiden Beinen so gut wie im Loch. Er wird offiziell zu erklären haben, wie zum Teufel er dazu kommt, dem Zar Liebesbriefe zu schreiben. Und das sind sehr schlaue Landkarten… und da sind drei oder vier Erste Minister aus der Gegend in die Korrespondenz verwickelt. Bei Gott, Sar! Die Britische Regierung wird die Thronfolge in Hilàs und Bunàr ändern und neue Thronerben bestimmen. ›Niederträchtigs-ter Ver-rat‹… aber Sie verstehen das gar nicht? Eh?« »Sind sie in deinen Händen?« sagte Kim. Das war alles, was ihn interessierte. »Darauf können Sie eine verdammt feine Wette abschließen.« Er verstaute den gesamten Fund an seinem Körper, wie nur Orientalen es können. »Das geht alles ans Büro. Die alte Dame meint, ich sei hier schon unbewegliches Zubehör, aber mit all dem werde ich gleich verschwinden – sofort. Mr. Lurgan wird stolzer Mann sein. Offiziell sind Sie mir unterstellt, aber ich werde Ihren Namen meinem mündlichen Bericht einverleiben. Es ist ein Jammer, daß wir keine schriftlichen Berichte machen dürfen. Wir Bengalis sind großartig in der exakten Wissenschaft.« Er warf ihm den Schlüssel wieder zu und zeigte ihm die leere Kassette. »Gut. Das ist gut. Ich war sehr müde. Auch mein Heiliger war krank. Und ist er wirklich gefallen, in…« »Ooh ja. Ich bin sein guter Freund, kann ich Ihnen sagen. Er hat sich sehr merkwürdig verhalten, als ich nach Ihnen herkam, und ich dachte schon, vielleicht hat er die Papiere. Ich bin ihm
bei seinen Meditationen gefolgt, und auch, um ethnologische Punkte zu diskutieren. Wissen Sie, verglichen mit all seinen Zaubern bin ich hier heutzutage sehr geringe Person. Bei Zeus, O’Hara, wußten Sie schon, daß er behaftet ist mit Krankheit von Anfällen? Jawohl, ich sag’s Ihnen. Kataleptisch noch dazu, wenn nicht sogar epileptisch. In solch einem Zustand habe ich ihn unter einem Baum in articulo mortem gefunden, und dann ist er aufgesprungen und in einen Bach gelaufen und wäre ohne mich beinahe ertrunken. Ich habe ihn rausgezogen.« »Weil ich nicht mit ihm war!« sagte Kim. »Er hätte sterben können.« »Ja, er hätte sterben können, aber jetzt ist er trocken, und er verficht, eine Transfiguration mitgemacht zu haben.« Der Babu tippte sich wissend an die Stirn. »Ich habe seine Bemerkungen für die Royal Society aufgezeichnet – in posse. Sie müssen sich beeilen und ganz gesund werden und nach Simla zurückkommen, und da erzähle ich Ihnen bei Lurgan meine ganze Geschichte. Es war prachtvoll. Ihre Hosenböden waren wirklich sehr zerrissen, und der olle Radscha von Nahan hat gemeint, sie wären europäische Soldaten, die desertieren wollen.« »Ach, die Russen? Wie lange waren sie mit dir?« »Einer war ein Franzose. Ach, Tage und Tage und Tage! Jetzt glauben sämtliche Bergmenschen, alle Russen sind Bettler. Bei Zeus! sie hatten keinen einzigen verdammten Fetzen mehr, den ich ihnen nicht besorgt hätte. Und den einfachen Leuten habe ich – ach, was für Geschichten und Anekdoten ich denen erzählt hab! Ich erzähl Ihnen das alles beim ollen Lurgan, sobald Sie raufkommen. Wir werden uns – ah – einen lustigen Abend machen! Darauf können wir uns beide was einbilden! Ja, und dann haben sie mir noch ein Zeugnis ausgestellt. Das ist überhaupt der beste Witz von allen. Sie hätten sie sehen sollen, wie sie versucht haben, sich
in der Alliance Bank auszuweisen! Und Gott dem Allmächtigen sei Dank, daß Sie ihre Papiere so fein geklaut haben! Jetzt lachen Sie nicht gerade viel, aber Sie werden lachen, wenn es Ihnen wieder besser geht. Ich gehe jetzt direkt zur Eisenbahn und weg. Sie werden für Ihr Spiel alle denkbare Anerkennung kriegen. Wann kommen Sie nach? Wir sind sehr stolz auf Sie, obwohl Sie uns ganz schön in Angst versetzt haben. Und vor allem Mahbub.« »Ja, Mahbub. Und wo ist er?« »Er verkauft Pferde hier in der Nähe; was sonst?« »Hier! Wieso? Sprich langsam. In meinem Kopf ist noch immer etwas Dickes.« Der Babu schaute verlegen an seiner Nase hinab. »Also, wissen Sie, ich bin ein furchtsamer Mann, und ich mag keine Verantwortung. Sie waren krank, nicht wahr, und ich wußte doch nicht, wo zum Teufel all die Papiere waren, und wenn überhaupt, dann wie viele. Als ich hergekommen bin, hab ich deshalb privates Kabel an Mahbub rausgeschmuggelt – er war in Meerut, wegen Pferderennen –, und ich sag ihm, wie Sache steht. Er kommt mit seinen Männern her und steckt Köpfe mit Lama zusammen, und dann nennt er mich Trottel und ist sehr grob…« »Aber warum – warum?« »Das frag ich doch auch. Ich erwähne nur, wenn jemand die Papiere stiehlt, hätte ich gern ein paar gute starke, tapfere Männer, die sie nochmal klauen. Wissen Sie, sie sind furchtbar wichtig, und Mahbub Ali wußte ja nicht, wo Sie stecken.« »Mahbub Ali soll das Haus der Sahiba berauben? Du bist wahnsinnig, Babu«, sagte Kim entrüstet. »Ich wollte die Papiere. Angenommen, sie hätte sie gestohlen? Es war nur praktischer Vorschlag, finde ich. Ihnen gefällt das nicht, eh?«
Ein einheimisches Sprichwort – nicht wiederzugeben – zeigte die ganze Schwärze von Kims Mißbilligung. »Na schön«, – Hurree zuckte mit den Achseln – »für seinen Geschmack kann keiner was. Alahbub war auch verärgert. Er hat hier überall Pferde verkauft, und er sagt, alte Dame ist pukka [sehr, vollkommen] alte Dame und würde sich nicht zu so unkavalierigen Dingen herablassen. Mir ist das egal. Ich habe die Papiere, und ich war sehr froh über moralische Unterstützung von Mahbub. Ich sage Ihnen, ich bin furchtsamer Mann, aber auf die eine oder andere Weise, je furchtsamer ich bin, in desto mehr Klemmen gerate ich. Deshalb war ich froh, daß Sie mit mir nach Chini gekommen sind, und ich bin froh, daß Mahbub hier in der Nähe war. Die alte Dame ist manchmal sehr grob zu mir und meinen wunderschönen Pillen.« »Allah sei uns gnädig!« sagte Kim fröhlich; er stützte sich auf den Ellenbogen. »Welch wundersames Tier doch ein Babu ist! Und dieser Mann ist allein – wenn er gehen konnte – mit ausgeraubten und erzürnten Fremdlingen gegangen!« »Ach, das war nichts, nachdem sie mit Prügeln fertig waren; aber wenn ich die Papiere verloren hätte, das wäre bös ernst gewesen. Mahbub hat mich auch fast geschlagen, und dann ist er zum Lama gegangen und hat mit ihm endlos lang die Köpfe zusammengesteckt. Hinfort werde ich mich mit ethnologischen Forschungen begnügen. Aber jetzt Good-bye, Mister O’Hara. Wenn ich mich beeile, kann ich den 4:25-Zug nach Ambala noch kriegen. Es wird sehr lustig werden, wenn wir alle oben bei Mr. Lurgan die Geschichte erzählen. Ich werde berichten, daß es Ihnen amtlicherweise besser geht. Good-bye, moin lüber Jonge, und wenn Sie das nächste Mal unter Emotionen stehen, bitte verwenden Sie dann nicht mohammedanische Begriffe zusammen mit tibetischem Gewand.«
Er schüttelte ihm zweimal die Hand – ein Babu bis in die Zehenspitzen – und öffnete die Tür. Als das Sonnenlicht auf sein noch immer triumphierendes Gesicht fiel, wurde er wieder zum bescheidenen Quacksalber aus Dacca. ›Er hat sie ausgeraubt‹, dachte Kim und vergaß ganz seinen eigenen Anteil am Spiel. ›Er hat sie überlistet. Er hat sie wie ein Bengali belogen. Sie haben ihm einen chit [Zeugnis] gegeben. Bei Gefahr für sein eigenes Leben macht er sie zum Gespött – ich wäre nach den Pistolenschüssen niemals zu ihnen hinuntergegangen –, und dann sagt er, er ist ein furchtsamer Mann… Und er ist ja ein furchtsamer Mann. Ich muß wieder in die Welt kommen.‹ Zunächst bogen sich seine Beine wie schlechte Pfeifenstiele, und das Strömen und Rauschen der sonnenhellen Luft betäubte ihn. Er hockte neben der weißen Wand, sein Geist stöberte in den Vorfällen der langen dooli-Reise, den Schwächeanfällen des Lamas und auch, da nun die Anregung des Gesprächs fehlte, in seinem eigenen Selbstmitleid, wovon er wie die Kranken einen großen Vorrat besaß. Das abgespannte Hirn scheute vor allem Äußeren zurück, wie ein unerfahrenes Pferd, das zum ersten Mal die Sporen gespürt hat, sich seitlich von ihnen wegzudrängen sucht. Es war genug, vollauf genug, daß die Beute aus dem kilta fort war – aus seinen Händen – aus seinem Besitz. Er versuchte an den Lama zu denken – sich zu wundern, warum er in einen Bach gestolpert war –, aber die Größe der Welt, die er zwischen den Toren des Vorhofs sah, fegte zusammenhängendes Denken beiseite. Dann blickte er auf die Bäume und die breiten Felder, mit den zwischen Getreide verborgenen strohgedeckten Hütten – blickte mit fremden Augen, die unfähig waren, Größe und Proportion und Zweck der Dinge zu erfassen – starrte eine stille halbe Stunde lang. All diese Zeit fühlte er, wenn er es auch nicht in Worte fassen konnte, daß seine Seele von der Umgebung abgekoppelt
war – ein mit keinem Teil der Maschinerie verbundenes Zahnrad, ganz wie das nutzlose Zahnrad einer billigen Zuckerpresse aus Beheea, das in einer Ecke herumlag. Die Brisen fächelten über ihn hinweg, die Papageien kreischten ihn an, der Lärm des belebten Hauses hinter ihm – Gezänk, Befehle und Vorwürfe – schlug an taube Ohren. ›Ich bin Kim. Ich bin Kim. Und was ist Kim?‹ Seine Seele wiederholte es noch und noch. Er wollte nicht weinen – in seinem ganzen Leben hatte er sich nie weniger nach Weinen gefühlt –, aber plötzlich tröpfelten leichte, dumme Tränen seine Nase hinab, und er fühlte, wie mit einem beinahe hörbaren Klicken die Räder seines Wesens wieder mit der Welt draußen zusammengriffen. Dinge, die einen Moment zuvor bedeutungslos vor dem Augapfel herumgetrieben waren, glitten in ihre richtigen Beziehungen. Straßen waren dazu da, auf ihnen zu gehen, Häuser, in ihnen zu leben, Vieh, getrieben zu werden, Felder, bestellt zu werden, und Männer und Frauen, mit ihnen zu reden. Sie alle waren wirklich und wahr – fest auf die Füße gestellt – vollkommen begreifbar – Lehm von seinem Lehm, nicht mehr und nicht weniger. Er schüttelte sich wie ein Hund, der einen Floh im Ohr spürt, und wanderte zum Tor hinaus. Die Sahiba, der wachsame Augen die Bewegung meldeten, sagte: »Laßt ihn gehen. Ich habe meinen Teil getan. Mutter Erde muß das übrige tun. Wenn der Heilige von der Meditation zurückkommt, sagt es ihm.« Eine halbe Meile entfernt stand ein leerer Ochsenkarren auf einer kleinen Kuppe mit einem jungen barryan-Baum dahinter – wie eine Art Ausguck über frischgepflügte Flächen; und seine Lider, von sanfter Luft gebadet, wurden schwer, als er näherkam. Der Boden war guter sauberer Staub – kein frisches Grün, das lebt und damit schon auf halbem Weg zum Tod ist, sondern der hoffnungsvolle Staub, der den Samen allen Lebens
birgt. Er spürte ihn zwischen seinen Zehen, tätschelte ihn mit der flachen Hand, und Glied um Glied streckte er sich mit schwelgerischem Seufzen lang aus im Schatten des holzbenagelten Karrens. Und Mutter Erde war treu wie die Sahiba. Sie durchhauchte ihn und gab ihm die Schwere zurück, die er verloren hatte, indem er so lange auf einer Pritsche lag, abgeschnitten von ihren guten Strömen. Sein Kopf lag machtlos auf ihrer Brust, und seine offenen Hände ergaben sich ihrer Kraft. Der vielwurzlige Baum über ihm und sogar das tote, von Menschen gefügte Holz daneben wußten, was er suchte, ebenso wie er es nicht wußte. Stunde um Stunde lag er dort in etwas, das tiefer war als Schlaf. Gegen Abend, als der Staub heimkehrender Rinder alle Horizonte rauchen ließ, kamen der Lama und Mahbub Ali; beide waren zu Fuß und gingen behutsam, denn das Haus hatte ihnen gesagt, wohin er gewandert war. »Allah! Was für Narrenspiele hier im offenen Land!« murmelte der Pferdehändler. »Man hätte ihn hundertmal erschießen können – aber das ist hier nicht das Grenzland.« »Und«, sagte der Lama, indem er eine viele Male erzählte Geschichte wiederholte, »nie gab es solch einen chela. Maßvoll, gütig, weise, ohne jeden Groll in seinem Gemüt, ein fröhliches Herz unterwegs, niemals vergeßlich, gelehrt, wahrhaftig, höflich. Groß ist sein Lohn!« »Ich kenne den Jungen selbst – wie ich schon gesagt habe.« »Und war er all das?« »Einiges davon – ich habe aber noch keinen RotmützenZauber gefunden, um ihn übermäßig wahrheitsliebend zu machen. Er ist wirklich gut gepflegt worden.« »Die Sahiba ist ein Herz aus Gold«, sagte der Lama ernst. »Sie betrachtet ihn als ihren Sohn.« »Hmph! Halb Hind scheint sowas zu empfinden. Ich wollte nur sehen, daß der Junge nicht zu Schaden gekommen ist und
sich nach eigenem Willen bewegen kann. Wie du weißt, waren er und ich in den ersten Tagen eurer gemeinsamen Pilgerreise schon alte Freunde.« »Das ist ein Band zwischen uns.« Der Lama ließ sich nieder. »Wir sind am Ende der Pilgerreise.« »Dein Verdienst ist es nicht, daß deine Pilgerreise nicht vor einer Woche jäh und endgültig abgeschnitten wurde. Ich habe gehört, was die Sahiba zu dir sagte, als wir dich mit der Pritsche getragen haben.« Mahbub lachte und zupfte an seinem frischgefärbten Bart. »Zu der Zeit befand ich mich in Meditation über andere Belange. Der hakim aus Dacca war es, der meine Meditation gebrochen hat.« »Sonst« – dieser Satz kam aus Gründen des Anstands auf Pashtu – »hättest du deine Meditationen auf der schwüleren Seite der Hölle beendet – da du bei all deiner kindlichen Einfalt ein Ungläubiger und Götzendiener bist. – Aber was willst du jetzt machen, Rotmütze?« »Noch diese Nacht«, – die Wörter kamen langsam, bebend von Triumph – »noch diese Nacht wird er frei sein von allem Makel der Sünde – der Freiheit vom Rad der Dinge so gewiß wie ich, wenn er seinen Leib verläßt. Ich habe ein Zeichen«, – er legte die Hand auf die zerrissene Karte in seinem Brustgewand – »daß meine Zeit kurz ist; aber ich werde ihn beschirmt haben für alle Jahre. Bedenke, ich habe Wissen erlangt, wie ich dir erst vor drei Nächten erzählte.« ›Es muß wohl stimmen, was der Tirah-Priester sagte, als ich die Frau seines Vetters stahl, daß ich ein Sufi [Freidenker] bin; denn hier sitze ich‹, sagte Mahbub sich, ›und höre mir unvorstellbare Lästerungen an…‹ »Ich erinnere mich an die Geschichte. Deswegen geht er nun also zum Jannatu l’Adn [Garten Eden]. Aber wie? Willst du ihn erschlagen oder in
diesem wunderbaren Fluß ertränken, aus dem der Babu dich gezogen hat?« »Ich wurde aus keinem Fluß gezogen«, sagte der Lama schlicht. »Du hast vergessen, was geschehen ist. Ich fand ihn durch Wissen.« »Oh, ja. Wahr«, stammelte Mahbub, hin- und hergerissen zwischen höchster Entrüstung und maßloser Erheiterung. »Ich hatte vergessen, was genau da passiert ist. Du hast den Fluß wissentlich gefunden.« »Und sagen, ich könnte Leben nehmen, ist – keine Sünde, sondern schlichter Wahnsinn. Mein chela hat mir zu dem Fluß verholfen. Es ist sein Recht, von Sünde gereinigt zu werden – mit mir.« »Ja, wenn er der Reinigung bedarf. Aber danach, alter Mann – was dann?« »Welche Bedeutung hat das denn noch unter allen Himmeln? Er ist des Nibban sicher – erleuchtet – wie ich es bin.« »Gut gesprochen. Ich hatte schon Angst, er könnte Mohammeds Pferd besteigen und fortfliegen.« »Nein – er muß ausziehen als Lehrer.« »Aha! Jetzt verstehe ich! Das ist die richtige Gangart für das Füllen. Natürlich muß er ausziehen als Lehrer. Zum Beispiel wird er vom Staat ziemlich dringend als Schreiber verlangt.« »Zu diesem Behuf wurde er vorbereitet. Ich habe Verdienst erworben, indem ich seinetwegen Almosen gab. Eine gute Tat stirbt nicht. Er hat mir bei meiner Suche geholfen. Ich half ihm bei seiner. Gerecht ist das Rad, o Pferdeverkäufer aus dem Norden. Laß ihn Lehrer sein; laß ihn Schreiber sein – was bedeutet es denn? Am Ende wird er Freiheit erlangt haben. Alles übrige ist Trug.« »Was es bedeutet? Wo ich ihn doch in sechs Monaten bei mir haben muß, jenseits von Balkh! Ich komme her mit zehn lahmen Pferden und drei starkrückigen Männern – dank dieses
feigen Kükens von Babu –, um einen kranken Jungen mit Gewalt aus dem Haus eines alten Weibes zu holen. Es scheint, daß ich dumm herumstehe, während ein junger Sahib durch die alte Rotmütze in Allah weiß welche Sorte von Götzendienerhimmel gehoben wird. Und dabei hält man mich durchaus für einen ganz brauchbaren Spieler des Spiels! Aber dieser Wahnsinnige hängt an dem Jungen; und deshalb muß ich vernünftigerweise auch verrückt sein.« »Welches Gebet betest du da?« sagte der Lama, während das rauhe Pashtu in den roten Bart rumpelte. »Ganz unwichtig; aber nun, da ich begreife, daß der Junge, dem das Paradies sicher ist, trotzdem in den Dienst der Regierung treten kann, ist mein Herz leichter. Ich muß zu meinen Pferden. Es wird dunkel. Weck ihn nicht auf. Ich habe kein Verlangen danach, zu hören, wie er dich Meister nennt.« »Aber er ist doch mein Jünger. Was sonst?« »Er hat es mir gesagt.« Mahbub schluckte seinen Anflug von Verdruß herunter und erhob sich lachend. »Ich bin nicht ganz von deinem Glauben, Rotmütze – wenn eine so geringe Angelegenheit dich berührt.« »Es bedeutet nichts«, sagte der Lama. »Das habe ich mir gedacht. Deshalb wird es dich auch nicht bekümmern, sündenfrei, frisch gewaschen und dazu noch zu drei Vierteln ertrunken, wenn ich dich einen guten Mann nenne – einen sehr guten Mann. Wir haben nun fünf oder sechs Abende lang miteinander gesprochen, und wenn ich auch noch so sehr ein Pferdehändler bin, kann ich doch, wie man so sagt, jenseits der Beine eines Pferds Heiligkeit erkennen. Ja, und auch, wie unser Freund der ganzen Welt von Anfang an seine Hand in deine gelegt hat. Behandle ihn gut und laß ihn als Lehrer in die Welt zurückkehren, wenn du – seine Beine gebadet hast, wenn das denn die richtige Medizin für ein Füllen ist.«
»Warum willst du nicht selbst dem Pfad folgen und so den Jungen begleiten?« Mahbub starrte, verblüfft von der großartigen Unverschämtheit des Vorschlags, den er jenseits der Grenzen mit Schlimmerem als einem Schlag vergolten hätte. Dann rührte der Witz des Ganzen seine weltliche Seele an. »Sachte – sachte – einen Fuß nach dem anderen, wie der lahme Wallach in Ambala über die Hindernisse ging. Vielleicht komme ich ins Paradies nach – ich arbeite mich in die Richtung – ich habe große Neigungen – und die danke ich deiner Einfalt. Du hast niemals gelogen?« »Wozu?« »O Allah, hör ihn an! ›Wozu‹ in dieser deiner Welt! Und du hast auch nie einen Menschen verletzt?« »Einmal – mit einem Federkasten – bevor ich weise wurde.« »So? Dann denke ich um so besser über dich. Deine Lehren sind gut. Du hast einen Mann, den ich kenne, abgebracht vom Pfad des Haders.« Er lachte unbändig. »Er ist in der besten Absicht hergekommen, um ein dacoity [gewaltsamen Einbruch] zu begehen. Ja, um zu verwunden, rauben, töten und wegzuschleppen, was er begehrte.« »Eine große Torheit!« »Oh! und auch eine schwarze Schande. So dachte er, nachdem er dich gesehen hatte – und ein paar andere, Männer und Frauen. Deshalb hat er es aufgegeben; und jetzt zieht er los, um einen großen fetten Babumann zu verprügeln.« »Ich verstehe dich nicht.« »Allah sei davor! Manche Männer sind stark im Wissen, Rotmütze. Deine Stärke ist noch stärker. Bewahre sie – ich glaube, du wirst sie bewahren. Wenn der Junge kein guter Diener ist, reiß ihm die Ohren ab.« Der Pathane zog seinen breiten Bukhara-Gürtel hoch, dann ging er mit wiegenden Schritten ins Zwielicht hinein, und der
Lama kam lange genug von seinen Wolken herab, um noch den breiten Rücken zu sehen. »Diese Person ermangelt der Höflichkeit und läßt sich täuschen vom Schatten des Scheins. Aber er hat gut über meinen chela gesprochen, der nun seinen Lohn in Besitz nimmt. Ich will das Gebet beten!… Erwache, o du Glücklicher über allen von Frauen Geborenen! Erwache! Er ist gefunden!« Kim kam aus diesen tiefen Brunnenschächten empor, und der Lama bewachte seine gähnende Wonne; dabei schnippte er geziemend mit den Fingern, um böse Geister abzuwehren. »Ich habe hundert Jahre lang geschlafen. Wo…? Heiliger, bist du schon lange hier? Ich bin ausgegangen, um nach dir zu suchen, aber« – er lachte schläfrig – »ich bin unterwegs eingeschlafen. Jetzt geht es mir sehr gut. Hast du gegessen? Laß uns zum Haus gehen. Viele Tage habe ich dich nicht mehr gehütet. Und die Sahiba hat dich gut genährt? Wer hat deine Beine gerieben? Was ist mit den Schwächen – dem Bauch und dem Nacken und dem Pochen in den Ohren?« »Vergangen – alles vergangen. Weißt du es denn nicht?« »Ich weiß nichts, außer daß ich dich die Lebenszeit eines Affen lang nicht mehr gesehen habe. Was soll ich wissen?« »Seltsam, daß das Wissen nicht zu dir hinüberreichte, da doch all meine Gedanken zu dir gingen.« »Ich kann das Gesicht nicht sehen, aber die Stimme ist wie ein Gong. Hat die Sahiba mit ihrer Kocherei einen jungen Mann aus dir gemacht?« Er spähte nach der Gestalt, die mit gekreuzten Beinen dasaß, pechschwarz umrissen vor dem zitronenfarben dahintreibenden Licht. So sitzt der steinerne Bodhisat, der auf die geduldig zählenden Drehkreuze des Museums von Lahore hinabschaut. Der Lama schwieg. Abgesehen vom Klicken des Rosenkranzes und einem schwachen klop-klop von Mahbubs
sich entfernenden Füßen hüllte die weiche, rauchige Stille des indischen Abends sie dicht ein. »Hör mich an! Ich bringe Neuigkeiten.« »Aber sollen wir…« Schweigen gebietend schoß die lange gelbe Hand vor. Gehorsam zog Kim die Füße unter den Saum seines Gewands. »Hör mich an! Ich bringe Neuigkeiten! Die Suche ist beendet. Nun kommt der Lohn… So. Als wir zwischen den Bergen waren, lebte ich von deiner Kraft, bis der junge Ast sich bog und beinahe brach. Als wir aus den Bergen kamen, war ich bekümmert deinetwegen und wegen anderer Belange, die ich in meinem Herzen barg. Das Boot meiner Seele hatte keine Lenkung; ich konnte nicht in die Ursache der Dinge schauen. Deshalb gab ich dich ganz in die Obhut der tugendhaften Frau. Ich nahm kein Essen zu mir. Ich trank kein Wasser. Noch immer sah ich jedoch den Pfad nicht. Sie drängten mir Nahrung auf und schrien vor meiner verschlossenen Tür. Deshalb entfernte ich mich zu einer Senke unter einem Baum. Ich nahm kein Essen. Ich nahm kein Wasser. Ich saß in Meditation, zwei Tage und zwei Nächte, wandte meinen Geist ab; ich atmete ein und atmete aus in der vorgeschriebenen Weise… In der zweiten Nacht – so groß war mein Lohn – löste sich die weise Seele vom dummen Leib und schweifte frei. Dies habe ich nie zuvor erreicht, wenn ich auch auf der Schwelle gestanden habe. Bedenke es, denn es ist ein Wunder!« »Wirklich ein Wunder! Zwei Tage und zwei Nächte ohne Essen! Wo war die Sahiba?« sagte Kim halblaut. »Ja, meine Seele schweifte frei, und wie ein Adler kreisend sah sie in Wahrheit, daß es keinen Teshoo Lama und auch keine andere Seele gab. Wie es einen Tropfen zum Wasser zieht, so zog es meine Seele zur Großen Seele, die jenseits aller Dinge ist. An diesem Punkt, erhöht in der Schau, sah ich
ganz Hind, von Ceylon in der See bis zu den Bergen und zu meinen eigenen Bunten Felsen von Such-zen; ich sah bis zum allergeringsten jedes Lager und Dorf, wo wir je gerastet haben. Ich sah sie zu einer Zeit und in einem Ort; denn sie waren innerhalb der Seele. So wußte ich, daß die Seele vorgedrungen war jenseits des Trugs von Zeit und Raum und Dingen. So wußte ich, daß ich frei war. Ich sah dich auf deinem Lager liegen, und ich sah dich unter dem Götzendiener bergabstürzen – zu einer Zeit, an einem Ort, in meiner Seele, die, wie ich sage, die Große Seele berührt hatte. Ich sah auch den dummen Leib von Teshoo Lama unten liegen, und den hakim aus Dacca, der daneben kniete und in sein Ohr schrie. Dann war meine Seele ganz allein, und ich sah nichts, denn ich war alle Dinge, da ich die Große Seele erreicht hatte. Und ich meditierte tausendmal tausend Jahre, frei von Leidenschaft, wohl gewahr der Ursache aller Dinge. Dann rief eine Stimme: ›Was soll aus dem Jungen werden, wenn du tot bist?‹, und in mir wurde ich hin und her geschüttelt von Mitleid für dich; und ich sagte: ›Ich will zu meinem chela zurückkehren, daß er den Pfad nicht verfehle.‹ Hierauf zog sich meine Seele, welche die Seele von Teshoo Lama ist, aus der Großen Seele zurück, mit Sträuben und Sehnen und Würgen und Todespein, die unsagbar sind. Wie das Ei aus dem Fisch, wie der Fisch aus dem Wasser, wie das Wasser aus der Wolke, wie die Wolke aus der dichten Luft, so kam hervor, so sprang heraus, so zerrte sich fort, so dampfte empor die Seele von Teshoo Lama aus der Großen Seele. Dann rief eine Stimme: ›Der Fluß! Gib acht auf den Fluß!‹, und ich blickte hinab auf die ganze Welt, die war, wie ich sie zuvor gesehen hatte – zu einer Zeit, in einem Ort –, und deutlich sah ich den Fluß des Pfeils zu meinen Füßen. Zu dieser Stunde wurde meine Seele von irgendeinem Übel behindert, dessen ich nicht völlig gereinigt war, und es legte sich auf meine Arme und wand sich um meine Hüfte;
aber ich stieß es beiseite und strömte voran wie ein Adler in meinem Flug zu dem wahren Ort meines Flusses. – Deinetwegen schob ich Welt um Welt beiseite. Ich sah den Fluß unter mir – den Fluß des Pfeils –, und indem ich niederstieß, schlossen sich seine Wasser über mir; und siehe, ich war wieder im Leib von Teshoo Lama, aber frei von Sünde, und der hakim aus Dacca hob mein Haupt aus den Wassern des Flusses. Er ist hier! Er ist hinter dem Mangohain hier – gleich hier!« »Allah kerim! O wie gut, daß der Babu da war! Warst du sehr naß?« »Warum sollte ich darauf achten? Ich erinnere mich, der hakim war besorgt um den Leib von Teshoo Lama. Er zog ihn mit seinen Händen aus dem heiligen Wasser, und danach kam dein Pferdeverkäufer aus dem Norden mit einer Bahre und Männern, und sie legten den Leib auf die Bahre und trugen ihn zum Haus der Sahiba.« »Was hat die Sahiba gesagt?« »Ich war in diesem Leib in Meditation und habe es nicht gehört. So ist denn auf diese Weise die Suche beendet. Um das Verdienst, das ich erworben habe, ist der Fluß des Pfeils hier. Er brach zu unseren Füßen hervor, wie ich gesagt habe. Ich habe ihn gefunden. Sohn meiner Seele, ich habe meine Seele von der Schwelle der Freiheit zurückgerissen, um dich von aller Sünde zu befreien – wie ich frei bin und sündenlos! Gerecht ist das Rad! Gewiß ist unsere Erlösung! Komm!« Er kreuzte die Hände auf seinem Schoß und lächelte, wie ein Mann lächeln darf, der Erlösung gewonnen hat für sich und einen, den er liebt.
EDITORISCHE NOTIZ
Kim erschien zunächst als Vorabdruck in ›McClure’s Magazine‹, Dezember 1900-Oktober 1901, und ›CasseWs Magazine‹, Januar-November 1901, danach als Buch im Oktober 1901 bei Doubleday, Page & Company, New York, und Macmillan and Co. London. Eine erste deutsche Übersetzung (Kim – Ein Roman aus dem gegenwärtigen Indien, deutsch von Sebastian Harms) erschien 1908 bei Vita, Berlin; die bis heute verbreitete zweite Fassung (Kim, deutsch von Hans Reisiger) erstmals 1925 bei List, Leipzig, später München. Die vorliegende Neuübersetzung ist vollständig und folgt dem Text in Macmillans »Uniform Edition« (1901 f.).
Zur Entstehung Am 30-VI-1885 schrieb Kipling aus Simla an seine Tante Edith Macdonald, man habe sein Gehalt bei der ›Civil & Military Gazette‹, Lahore, soeben auf 420 £ im Jahr oder 35 £ im Monat erhöht, und dafür liefere er den Gegenwert von 40 £ an Artikeln, Berichten, Skizzen etc.; ferner schreibe er für andere Zeitungen, vor allem den ›Pioneer‹ in Allahabad, Erzählungen und Gedichte. Außerdem habe er eine gute Strecke – 237 Seiten »foolscap«, etwa DIN A-3 – in seinem angloindischen Roman Mother Maturin zurückgelegt, was wohl auf mindestens zwei Bände hinauslaufen werde. »Es ist kein bißchen nett oder anständig… und versucht, die unaussprechliche Grauenhaftigkeit des Lebens der eurasischen Unterklasse und der Eingeborenen zu behandeln, wie es
außerhalb [offizieller] Berichte und Berichte und Berichte tatsächlich gelebt wird… Trixie [Schwester] sagt, es sei ganz furchtbar; Mutter meint, es sei unflätig, aber kraftvoll, und ich weiß, daß fast alles darin wahr ist.« Bis er 1889 Indien verließ, arbeitete er immer wieder an diesem Werk, dessen Titelfigur eine alte Irin ist, die in der Unterwelt von Lahore eine Opiumhöhle betreibt. Anfang 1890 ließ er sich das in Lahore zurückgelassene Manuskript nach London schicken, um es nach Details und Hintergründen für die indischen Erzählungen in Life‘s Handicap zu plündern, legte es danach wieder beiseite, da er mit neuen Ideen befaßt war und neben den Erzählungen und Gedichten an einem Roman (The Light that Failed) arbeitete. Auch in seiner Zeit in Vermont (1892-96) gab es immer wieder Hinweise – in Briefen, Tagebucheintragungen seiner Frau etc. – auf Mother Maturin, die insgesamt auf eine Art indischen »Zola« schließen lassen. Ursprünglich wohl aus einer Nebenlinie von Mother Maturin entwickelt, tauchte dann 1892 erstmals »Kim o’ the Rishti« in Notizen auf, wurde aber zurückgestellt zugunsten einer anderen Figur, die gleichzeitig Gestalt annahm: Mowgli. 1895 arbeitete RK wieder an Kim und stellte ihn erneut zurück, um für Captains Courageous bei den Fischern von Boston zu recherchieren und den Roman zu beenden. Erst 1899 nahm RK Kim wieder in Angriff; diesmal war sein »Dämon« mit am Werk, und im Sommer 1900 wurde das Buch abgeschlossen. In seiner Autobiographie Something of Myself berichtet RK, sein Vater, der ehemalige Kurator des Museums von Lahore, habe ihn bei vielen Details beraten und schließlich, als RK Kim als beendet meldete, gefragt: »›Hat es aufgehört oder du?‹ Und als ich ihm sagte, Es, sagte er: ›Dann kann es nicht allzu schlecht sein.‹« In der vor-endgültigen Fassung dürfte Kim etwa den eineinhalbfachen Umfang gehabt haben; wie immer tilgte RK
alles, was nicht unbedingt hineingehörte: »Und da gab es ein Halbkapitel, in dem der Lama sich in den blaugrünen Schatten am Fluß eines Gletschers niederläßt und Kim Geschichten aus den Játakas erzählt; es war wirklich wunderschön, aber, wie mein alter Lateinlehrer gesagt hätte, otiose [müßig], und es wurde beinahe unter Tränen entfernt.« Vermutlich ist auch die gegen Ende von Kap. ix in Klammern eingeschobene Bemerkung, der Kurator besitze noch immer einen ganz wunderbaren Bericht über die Wanderungen und Meditationen des Lamas, als ironischer Hinweis auf eine weitere Tilgung und ihren Verbleib zu verstehen. Was mit Mother Maturin geschah, ist ungeklärt. Wahrscheinlich vernichtete RK selbst das Manuskript, nachdem er es noch einmal konsultiert hatte, um das eine oder andere daraus in Kim einzuarbeiten.
Zur Rezeption »Stalky chilled me and Kim killed me« – so Arnold Bennetts unübersetzbares Negativurteil. Arthur Bartlett Maurice schrieb im Oktober 1901 im ›Bookman‹, New York, nach einer ungenauen Zusammenfassung: »Und da haben Sie also Kim, einen Mischmasch aus Eingeborenenphrasen, blödsinnigen Gesprächen, östlicher Mystik… Es ist dies alles so kalt, so tot, so leblos.« Der Amerikaner Edmund Wilson fand, Kim hätte sich logischerweise zum Freiheitskämpfer gegen die Engländer entwickeln müssen; da er dies nicht tue, sei das Buch ein »Versager«. Die meisten damaligen und heutigen Kommentare erklären Kim zu einem der größten Meisterwerke der englischen Literatur. Es gibt eine Reihe spezieller Ansätze, die sich z. B. mit RKs Deskriptionstechnik befassen oder die Vielzahl
unterschiedlicher Darstellungsweisen anhand der Nebenfiguren und ihrer Funktionen analysieren. Die Gesamtdarstellungen laufen jedoch immer wieder auf eines hinaus, was J. H. Millar in ›Blackwood’s Magazine‹ (Dez. 1901) bereits formulierte: »Aber der Zauber von Kim liegt nicht in der Geschichte (so aufregend und einfallsreich diese auch ist) noch in der Darstellung von Charakteren (so kunstfertig und überzeugend sie auch ist). Das Geheimnis liegt in dem wunderbaren Panorama des Lebens auf der großen Halbinsel…« Der Pakistaner Shamsul Islam betont »Kiplings Liebe zu Indien«, die das Werk durchdringe; RK gelange über genaue Kenntnis durch Liebe zu Verstehen, während z. B. der von Europäern fälschlich höhergeschätzte E. M. Forster (A Passage to India) aus Fremdheit durch kühle Analyse zu Befremdung komme; Thema des Romans sei »Kims Suche nach Identität, eng verbunden mit der Suche des Lamas nach Auslöschung der Identität.« (Chronicles of the Raj, 1979, und Kiplings Law, 1975, beide London). Angus Wilson zieht in The Strange Ride of Rudyard Kipling (London, 1977) Parallelen zu Don Quijote, den Pickwick Papers, Pilgrim’s Progress und den Canterbury Tales, »nicht um anzudeuten, Kim sei an sie angelehnt, denn es ist die absolute Originalität des Buchs, die seinen Wert ausmacht, sondern… um die literarische Höhe anzudeuten, auf der wir uns in diesem seltsamen Werk bewegen.« Kipling gelinge etwas, was kein anderer Autor je versucht habe: »Denn in der Person Kim vereinigt er Erfahrung, Gerissenheit, Humor und Attraktivität des Dodg-ers mit der Sanftmut und Güte von Oliver Twist, eine scheinbar unmögliche Aufgabe.« Der Bengale Nirad C. Chaudhuri nennt Kim (in ›Encounter‹, April 1957) den besten englischsprachigen Roman über Indien; »wir Inder werden niemals aufhören, Kipling dafür dankbar zu sein, daß er uns die vielen Gesichter unseres Landes… gezeigt
hat«, und RK sei »in unseren Ebenen, Hügeln und Bergen« gleichermaßen zu Hause gewesen. Als einziger unter allen westlichen Autoren habe RK die größte Realität Indiens begriffen, »die aus dem Leben der Menschen und der Religionen in der Doppelszenerie der Berge und Ebenen besteht. Diese vier sind die wichtigsten und wirklichsten Charaktere in Kim.« In einer Besprechung der ersten deutschen Übersetzung von Kim schrieb die ›Frankfurter Zeitung‹ 1908: »In diesem Roman gibt uns Kipling die Kulturgeschichte eines ganzen Landes und seiner bunten Volkspsyche. Des Autors verblüffende Kenntnis der ganzen indischen Welt paart sich hier mit einer tiefeindringenden Rassenpsychologie; das unterirdische Innenleben der braunen Arier am Ganges wird von Meisterhand vor uns bloßgelegt. Lebende Bilder in steter Bewegung zeigen uns unvergeßliche Typen… Wer ›Kim‹… angestimmt, von dem gilt, was der Lama in seiner Buddhistensprache rühmt: ›Er hat sich Verdienst erworben‹ – um die ganze Menschheit.«
Zu Übersetzung und Edition Zur immer noch uneinheitlichen lateinischen Transkription indischer Ortsnamen habe ich mich an die Versionen in The Times Atlas of The World/Knaurs Großer Weltatlas (9. Aufl. 1984) gehalten; so wurde Umballa zu Ambala, Saharaunpore zu Saharanpur, Cawnpore zu Kanpur usw. Anpassungen an deutsche Schreibweisen (Hajji zu Hadschi, Kashmir zu Kaschmir etc.) habe ich nur dort vorgenommen, wo sie eingebürgert sind. Neben RKs gewaltigem Wortschatz (vgl. hierzu Anm. Kap. X, »Gow’s Watch«) stellen die Übergänge zwischen Englisch
und »vernacular« ein besonderes Problem dar. Zur Verdeutlichung: Hurree Chunder Mookerjee redet, je nach Lage, Laune, Konzentrationsfähigkeit usw. a) reines Akademikerenglisch, b) dieses durchsetzt mit meist falschen Latinismen, c) Umgangsenglisch mit richtigen idiomatischen Wendungen, d) dieses mit falschen idiomatischen Wendungen, e) bengalisiertes »Babu-Englisch« mit Wegfall des unbestimmten Artikels und anderen Eigentümlichkeiten, f) mehrere Schattierungen von Hindi oder Hindustani. Diese zur Charakterisierung gehörenden Abstufungen sind von Kipling sehr subtil nuanciert und oft nur durch nicht immer adäquat übersetzbare Formulierungen angedeutet, gelegentlich durch zwei oder drei auffällige Wörter. So signalisiert RK den Übergang vom Englischen zum »vernacular«, indem er die jeweiligen Sprecher – Hurree, Mahbub, Kim, Lurgan, Creighton – vom normalen »you« (hier meist gleich »Sie«) zum alten »thou« (»du«) wechseln läßt. Im Deutschen kann, da beide Formen üblich sind, leicht der Eindruck entstehen, z. B. in Kap. XII rede der Europäer Kim herablassend per du mit dem Eingeborenen Hurree, der ihn siezt; Hurree ist jedoch Kims Vorgesetzter und redet Englisch, während Kim Hindustani verwendet. Um nicht die Anmerkungen vom Umfang her den Roman überwuchern zu lassen, habe ich mich darauf beschränkt, z. B. mehrfach vorkommende Begriffe nur beim ersten Auftauchen zu erklären; aus dem gleichen Grund habe ich davon abgesehen, »enzyklopädische« Erläuterungen zu Themen wie Empire, Mogulreich, Geschichte Indiens, Indische Sprachen, Buddhismus, Hinduismus, Islam, Jains, Sikhs usw. abzufassen, und verweise, mit der Bitte um Verständnis, auf einschlägige Lexika. Nicht überall aufzufindende Spezialbegriffe und Dinge, die zum unmittelbaren Textverständnis gehören, sind in den Anmerkungen erklärt, soweit sie zu ermitteln waren. Für
Rat und Hilfe bei den Anmerkungen bedanke ich mich herzlich bei Prof. Michael Weiers, Zentralasiatisches Seminar der Universität Bonn. Textzusätze in eckigen Klammern sind von Kipling. In einigen Fällen des Abweichens von deutschen Interpunktionsregeln (wenn diese z. B. für einen durchaus durchschaubaren Satz 5 oder 6 Kommata vorschreiben) habe ich mich an RKs Zeichensetzung gehalten, die – noch freier als im Englischen ohnehin – eher Atem- und Sinneinheiten denn syntaktischen Erwägungen folgt.
ANMERKUNGEN
Kapitel I Das Gedicht »Buddha at Kamakura« erschien am 2. Juli 1892 in ›The Times‹, London, und ›Sun‹, New York, von RK 1903 in den Gedichtband The Five Nations aufgenommen. Das Gedicht besteht aus 12 vierzeiligen Strophen; Strophe 1 steht in Kim über Kap. 1, Strophe 2 (ohne Refrainzeile) ist die »herrliche buddhistische Anrufung« des Lamas in Kap. I; Strophe 6 steht über Kap. II. Die Zeilen über Kap. II finden sich nicht im Gedicht. -/- Die Kanone Zam-Zammah steht immer noch an der gleichen Stelle in Lahore; heute ist sie von einem kleinen Graben und einem niedrigen Geländer umgeben. Eine Schriftplatte gibt Auskunft über die Geschichte dieser Kanone: The Zam Zama Gun Die Kanone ist 14 Fuß 4/2 Inches lang; der Rohrdurchmesser beträgt an der Mündung 9/2 Inches. Sie ist eines der größten Beispiele für Gußwerk aus dem indopakistanischen Subkontinent und wurde aus einer Kupfer-Messing-Legierung hergestellt. Von Kipling wurde sie unsterblich gemacht als »Kim’s Gun«. 1757 AD: Gegossen in Lahore von Shah Nazir auf Befehl von Ahmad Shah Abdali unter der Aufsicht von Shah Wali Khan, Premierminister des Abdali-Monarchen. 1761 AD: Vom Abdali-Monarchen in der Schlacht von Pinapat verwendet. 1761 AD: Nach Lahore gebracht und dem afghanischen Gouverneur Khwaja Ubaid Khan überlassen.
1762 AD: Khwaja Ubaid Khan ermordet. Hari Singh Bhangi erbeutete die Kanone. Sie lag demontiert in der Festung Lahore. 1764 AD: Lahna Singh, Gujjar Singh und Sobha Singh eroberten Lahore und nahmen die Kanone in Besitz. 1764 AD: Von den Eroberern Lahores als Beuteanteil Charhat Singh Sukerchakkia angeboten. Er schleppte sie mit Hilfe seiner 2000 Krieger zu seiner Festung in Gujranwala. 17?-72 AD: Erbeutet von zwei Brüdern, Ahmed Khan und Pir Muhammad Khan, Chaththa-Häuptlingen, die sie nach Ahmad Nagar brachten. Anschließend stritten die Brüder um den Besitz der Kanone, und in einem daraus erwachsenen Kampf wurden zwei Söhne des ersteren und einer des letzteren getötet. Gujjar Singh Bhangi, der Pir Muhammad Khan zu Hilfe kam, betrog seinen Verbündeten und brachte die Kanone zu seinem Hauptquartier in Gujrat. 1772 AD: Die Chaththas gewannen sie zurück und brachten sie nach Rasul Nagar. 1773-1802 AD: Jhanda Singh Bhangi entriß sie den Chaththas und brachte sie zur Festung Bhangi nach Amritsar. 1802 AD: Ranjit Singh eroberte Amritsar und die Kanone. 1802-1818 AD: Ranjit Singh setzte sie ein bei seinen Feldzügen gegen Daska, Kasur, Sujanpur, Wazirabad und Multan. 1818 AD: Bei der Belagerung von Multan beschädigt und nach Lahore gebracht, da nicht weiter verwendbar. 1818-1870 AD: Aufgestellt vor dem Delhi-Tor, Lahore. 1870 AD: Im Februar gegenüber dem Eingang zum Museum von Lahore gebracht und auf einen erhöhten Sockel gestellt. Punjab: Wörtlich Fünf-Ströme (Sutlej, Bias, Ravi, Chenab, Jhelum, Nebenflüsse des Indus); ältere deutsche Schreibweisen Pandschab bzw. Pendschab. Die britische Provinz Punjab
wurde 1849 im wesentlichen aus Gebieten des eroberten SikhReichs gebildet und schloß 43 kleinere Fürstentümer, halbautonome »Native States«, ein. Gehört heute teils zu Indien, teils zu Pakistan. -/- »Umgangssprache«: hier und a. a. O. gewählte Übersetzung für vernacular, die (Undefinierte) Umgangs- bzw. Verkehrssprache eines Landes, einer Region, Stadt oder auch Kaste. Dabei handelt es sich, wenn nicht von RK ausdrücklich anders benannt, um die Mischsprache Hindustani, die unter den Mogulkaisern aus dem Hindi-Dialekt von Delhi und Agra sowie dem Urdu der Mogul entstand. Später wurde Hindustani zur lingua franca des Subkontinents und blieb dies auch während der englischen Herrschaft. »Fahnensergeant«: colour-sergeant, der oberste Sergeant einer Kompanie der Infanterie; zu seinen Aufgaben gehört es, die Fahne der Einheit zu hüten. Die »Mavericks« sind ein von RK erfundenes Regiment, das auch in der Erzählung »The Mutiny of the Mavericks« (in Life’s Handicap, 1891) eine Rolle spielt. -/- »ne varietur« (lat.): er/sie/es soll nicht geändert werden; vermutlich ein Freimaurer-Papier. -/- »KlarierungsZeugnis«: Bescheinigung der Entlassung aus dem Militärdienst. -/- »Kim’s Hörn würde erhöht werden…«: vgl. 1 Samuel 2, 1 und 10, et. al.; das Hörn ist im AT Symbol der Kraft und Herrschaft. Die »Säulen der Schönheit und Kraft« sind ein dem AT (1 Könige 7,21: »Und er [Salomon] richtete die Säulen auf vor der Halle des Tempels. Und die er zur rechten Hand setzte, hieß er Jachin; und die er zur linken Hand setzte, hieß er Boas.«) entlehntes Freimaurersymbol; Alec Mellor schreibt in Logen Rituale Hochgrade (deutsch 1985): »Der Logeneingang befindet sich… zwischen zwei Säulen, welche die Familie der Freimaurer versinnbildlichen… In der Mitte der Loge… liegt das ›längliche Viereck‹ (oder der Tapis), den mit Ausnahme des soeben Eingeweihten niemand betreten darf. An drei Ecken stehen die Lichter ›Weisheit‹,
›Stärke‹, ›Schönheit‹ – Die symbolische Bedeutung der beiden Säulen… ist Gegenstand zahlloser Kommentare gewesen. Nach allgemeiner Ansicht verkörpert die eine das männlichaktive, die andere das weiblich-passive Prinzip, was allerdings nur metaphysisch, nicht sexualistisch zu verstehen ist.« (S. 318/19) Im Buch sind die beiden Säulen, zwischen denen Kim reift und »erhöht« wird, der aktive Mahbub Ali und der kontemplative Lama. Kipling war Freimaurer; am 6. April 1886 trat er in Lahore der Loge Hope and Perseverance No. 782 bei, der er bis zu seinem Tod verbunden blieb. Nach seinem Abschied von Indien wurde er dort als »abwesender Bruder« geführt; im Dezember 1936 (elf Monate nach RKs Tod) nannte sie sich zusätzlich »The Kip-ling’s Lodge«. Vgl. auch sein Gedicht »The Mother-Lodge/Die Mutter-Loge« in Selected Poems/Ausgewählte Gedichte, Zürich 1987. Ebenso wie diese Loge in Lahore war auch die zweite, der RK in Indien beitrat, Lodge Independence with Philantrophy No. 391 in Allahabad, rassisch gemischt; RK zog es vor, der fast rein englischen Amity and Independence Lodge in Allahabad nicht beizutreten. (Vgl. hierzu Bro. Harry Carr, »Kipling and the Craft« in Transactions of the Quatuor Coronati Lodge, vol. LXXVII, 1964, sowie Enamul Karim, »Rudyard Kipling and Lodge Hope and Perseverance« in Kipling Journal No. 189, March »Fakire… mit ihnen war er gut bekannt«: vgl. E. Kay Robinson, »Kipling in India« (in Orel, RK – Interviews and Recollections, London 1983): »… dort hockten jeden Tag nackte, aschebeschmierte Fakire im Kreis; sie warfen vorüberfahrenden Europäern finsterste Blicke zu, aber für Kipling war immer Platz in diesem Zirkel.« -/- »Deodar«: eine Zedernart. -/- »ghi«: geklärte Butter. -/- »Punjabi«: dem Hindustani verwandte Sprache im Punjab, s. o. -/- Kulu: Bergregion südöstlich von Kaschmir; Kailas: Heiliger Berg (6654 m) in Tibet. -/- Die Vier Heiligen Stätten des
Buddhismus sind: a) der Lumbini-Hain nahe Ka-pilavastu an der Grenze Nepals, Geburtsort des Buddha; b) Buddh-Gaya in Bihar, wo Buddha unter dem Bodhi-Baum meditierte und Erleuchtung fand; c) Sarnath bei Benares, wo sich der »Gazellenhain« befand, in dem Buddha erstmals seine Lehre verkündete (heute befindet sich dort das Zentrum des Buddhismus in Indien, mit Tempel, Bücherei und Rasthäusern); d) Kusinagara, heute Kasia, nahe der Grenze zu Nepal, Ort von Buddhas Tod. -/- Sahib: aus dem arab. gahib, »Freund«, Anrede nicht nur an Europäer; entspricht etwa unserem »Herr« und wird nachgestellt- Mister Kipling ist Kipling Sahib. (Das -i- in Sahib ist stumm.) -/- stupas: Nach dem Tod des Buddha wurde seine Asche in zehn Teile geteilt und den Fürsten der Länder übergeben, in denen er gelebt hatte; stupas sind die über diesen Reliquien errichteten Monumente. -/- viharas: buddhistische Klöster oder Bildungsstätten. -/- dewas: »Himmelswesen« bzw. Götter; leben in einer »glücklichen« Sphäre, unterliegen aber noch dem Kreislauf der Wiedergeburten. -/- Bodhisat: Buddha, wörtlich »der Weise«. -/- Sakya Muni: Buddha, »der Wissende aus dem Sakya-Volk«. -/- Maya: Mutter des Buddha. -/Ananda: Vetter und Jünger des Buddha. -/- »Ein weißbärtiger Engländer«: Der gütige, weise Kurator des Museums ist ein liebevolles Portrait von Kiplings Vater John Lockwood Kipling, der seit 1872 das Museum leitete. -/- Lung-Cho, Suchzen, Bunte Felsen: nicht genau zu ermitteln, vermutlich am Südrand des zentralen Hochlands von Tibet. -/- Asita: Der Weise, der Buddhas spätere Größe vorhersagte, als dieser noch ein Kind war; entspricht Simeon, der das Kind Jesus segnete. -/- Devadatta: Vetter Buddhas; zunächst Jünger, fiel später von ihm ab. -/- Fa-Hsien und Hsüan-tsang: chinesische Buddhisten des 4. bzw. 7. Jahrhunderts; beide reisten als Pilger nach Indien und verfaßten ausführliche Reiseund
Ortsbeschreibungen; Hsüan-tsang brachte ferner viele Bücher aus Indien nach China und übersetzte sie in seinen letzten Lebensjahren. -/- Samuel Beal (1825-1889), WesleyMethodist, kam als Marine-Kaplan nach China, befaßte sich dort als einer der ersten mit dem chinesischen Buddhismus; 1877 wurde er Professor für Chinesisch am University College London. Verfaßte u. a. The Travels of Fah-hian and Sung-yung (1869). -/- Stanislas-Aignan Julien (1799-187 3), einer der führenden Sinologen seiner Zeit; brachte sich selbst Griechisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Deutsch bei, anschließend fühlte er sich dem Chinesischen gewachsen. 1832 wurde er Professor für Chinesisch am College de France. Schrieb u. a. über die Reise chinesischer Indien-Pilger und übersetzte die Lebensgeschichte von Hsüantsang. -/- Reich der Mitte: im Original Middle Kingdom; entweder Nepal (»in der Mitte« zwischen Tibet und Indien) oder China. -/- Altes Gesetz / Erneuertes Gesetz: Ca. 770 gründete der aus Indien gekommene Padma Sambhava das erste buddh. Kloster in Tibet, Samyas, und die »Sekte der Alten«, Nying-mapa, kurz »Rotmützen« genannt. Ab etwa 850 spalteten sich zahlreiche Sekten ab und vermengten sich mit präbuddhistischen und schamanistischen Elementen. Um 1400 reformierte Tsong Khapa den Lamaismus und gründete die Sekte der Gelugpa (»Tugendschule«), kurz »Gelbmützen« genannt. (Vgl. auch Anm. zu Kap. XIV). -/- maya: bei RK immer als illusion übersetzt; in dieser deutschen Fassung durchgehend »Trug«. -/- Benares: Die heilige Stadt der Hindus, am Ganges; vgl. Kap. XI. Pathankot: Stadt nordöstlich von Amritsar, am Fuß der Himalaya-Ausläufer; Endstation der Bahn. -/- Rad des Lebens/Padma Samthora: vgl. Beschreibung in Kap. XIII. und Anm. dazu. -/- Shivas heiliger Bulle: Shivas Verehrer Nandi nahm die Gestalt eines Stiers an, weil der menschliche Körper nicht stark genug war, seine ekstatische
Hingabe an den Gott zu ertragen. -/- bhisti: Wasserträger. -/»Allerbarmer«: einer der Namen Allahs; der bhisti ist also Moslem. -/- Tabakverkäufer, »stinkende Zigarre«: Am 7. Mai 1884 schrieb RK in der ›Civil & Military Gazette‹, Lahore: »Der Verfasser dieser Zeilen hatte einmal das Pech, billigen Tabak während des Prozesses der Zubereitung… zu sehen. Der Tabakhändler war alt und ausgedörrt – vermutlich deshalb, weil er lange auf einem wackligen Brett über einem ekligen Abwassergraben gesessen hatte. Am Rand der Straße, wo der Staub des Verkehrs am dichtesten war und der Pariahund Zuflucht vor den Karren suchte, lag der Tabak in staubigen Bündeln auf einem groben Tuchfetzen; und der Käufer, ein junger und lebhafter Kuli, dessen einzige sichtbare Kleidung ein am Hals getragener Zahnstocher aus Messing war, erhielt – allerdings erst nach langem Zanken – die Erlaubnis, seinen Tabak selbst auszusuchen. Er bedeutete dem Greis seine Wahl mittels einer ausdrucksvollen Geste der Zehen, und sogleich wurde das betreffende Bündel zerrieben, befeuchtet, gerollt und geknufft, all dies in einem übel anzusehenden Tuch zweifelhafter Abkunft, bis es schließlich als braune klebrige Masse auf das oben erwähnte Brett sickerte. Das Wasser zum Befeuchten wurde, nebenbei bemerkt, hastig in einem irdenen Topf aus dem unterhalb rinnenden Strom geschöpft, und vermutlich zur Bekämpfung dieses ganz besonderen Bouquets rührte der Greis etwas aus einer drecküberkrusteten Bierflasche hinein, was er ›Rosenöl‹ nannte. Ein wenig Kalk, vermengt mit noch mehr Wasser, eine gemessene Handvoll von etwas, das aussah wie getrocknete Tamarinden und roch wie alle kölnischen Abwässer, machten das Mus dick und schwartig, und mit ein wenig geschicktem Streicheln und Schlagen glitt das Ganze in ein großes getrocknetes Blatt, fertig zum sofortigen Genuß.« Zu Mahbub Ali schreibt E. Kay Robinson: »Ich erinnere mich besonders an einen langen
Pathanen… [namens] Mahbub Ali…. der Kipling als ganz etwas anderes als die übrigen ›Sahibs‹ betrachtete. Nach jeder seiner Reisen… erschien Mahbub Ali schmutziger und majestätischer als zuvor zu vertraulichem Gespräch mit seinem Freund ›Kuppeleen Sahib‹…« -/- Anna: Die damalige Währung Indiens war 1 Rupie = 16 Annas zu je 4Pais (pice). Um die Jahrhundertwende entsprach i Rupie etwa i Shilling 4 Pence, der Anna etwa 1 Penny. Demnach entspräche 1 £ etwa 15 Rupien; eine Kaufkraft-Relation ist jedoch schwierig zu berechnen, da Indien entschieden billiger war als England. Frank Richards gibt (in Old Soldier Sahib, London, 1936) etwa für die Jahrhundertwende folgende Vergleichs werte an: 1 Pfund (453,6 gr) Beefsteak 1 Anna, 1 Pfund Hammelkoteletts 6 Pais, 4 Eier 1 Anna, 1 Pfund bacon 3 Anna 2 Pais, ein Huhn 3-4 Annas. Kim hätte also für »ganze acht Annas in Münzen«, die er von Mahbub Ali erhielt, 2 Hühner oder 3,5 kg bestes Rindfleisch kaufen können – fürstlicher Lohn für einen Straßenjungen. Nach Angaben in einer frühen Erzählung (»His Chance in Life« in Plain Tales from the Hills, 1888) wären acht Annas ein Hundertstel des Monatslohns eines eurasischen Telegraphenbeamten; die in Kap. x als Nonplusultra für einen Vermessungsbeamten genannten 450 Rupien im Monat taugen nicht als Vergleichswert, da es sich hierbei um einen ausgesprochenen Elitedienst nach Eliteausbildung handelt. -/hookah: Wasserpfeife. -/- Baltis: aus Baltistan im nördlichen Kaschmir. -/- Indian Survey Department: Indisches Vermessungsamt, Dach- bzw. Tarnorganisation des brit.-ind. Geheimdienstes. -/- pandit: gelehrter Brahmane, später allgemein Gelehrter in Sanskrit, Philosophie, Religion und Recht; aber auch Scheingelehrter (»Eierkopf«).
Kapitel II »Getreideumschlag des Nordens«: Der Punjab war eine der Kornkammern des Empire. -/- te-rain: aus engl. train, Zug. -/Babu: bengalische Anrede (eigentlich »Vater«), entspricht »Herr«; allgemeine Bezeichnung für europ. gebildete Bengalis. -/- Jat, Dogra: Völker bzw. Stämme verschiedener Gegenden des Punjab. -/- Jullundur: andere Schreibweise Jalandhar. -/Sepoy: indischer Soldat in britischen Diensten (pers. sipahi, Soldat). -/- Sirkar: Regierung (pers. sar, Haupt, und kär, Werk). -/- Pirzai Kotal: an der Nordwestgrenze zu Afghanistan. -/- Afridis: afghan. Volksstamm an der Nordwestgrenze; von den Engländern endgültig erst 1897/98 unterworfen. -/- Dschehenna: im Orig. Jehannum, Hölle. -/tikkut: engl. ticket, Fahrkarte, -/- pan: Betelblatt, Betelnuß und eine Prise feinen Kalks. -/- Ganga: Ganges. -/- Om mani padme hum: mystische buddhistische Anrufung, »O du Kleinod im Lo-tos«. -/- kos: Längenmaß, nach Regionen verschieden lang; zwischen 3 und 3,5 km. -/- dog-cart: leichter, meist zweirädriger Jagdwagen. -/- Ein großer schwarzhaariger Mann…: Der damalige Oberkommandierende der Britischen Armee in Indien, im folgenden Kapitel genauer beschrieben, war Lord Roberts, den RK gut kannte. -/- Pindi: Rawalpindi. -/- Sarsut-Brahmane: Brahmane aus einem Distrikt in Mittelbengalen.
Kapitel III Arain: Angehöriger einer Bauernkaste; Mali: Angehöriger eines Gärtnervolks; beide sind nicht unbedingt vereinbar. Dieser Arain ist wahrscheinlich Punjabi. -/- rel: engl. rail,
Schiene, Eisenbahn. -/- nol-kol: Kohlrabi. -/- Prayag: Der Hindu-Name für Allahabad. -/- Deputy Commissioner: Stellvertretender Distriktsverwalter, Zivilbeamter. -/-Leutnant der top-khana: Der spätere Field Marshai Lord Roberts begann seine Laufbahn 1852 als junger Leutnant in Indien. -/Meuterei: Der indische Sepoy-Aufstand von 1857. Hierbei handelte es sich nicht um einen allgemeinen Volksaufstand, sondern zunächst um eine Rebellion zahlreicher, wenngleich nicht aller Einheiten der Eingeborenen-Truppen. Neben Unzufriedenheit mit Lebensumständen und Ärger über politische Fehler und Taktlosigkeiten der damals noch für den größten Teil Indiens zuständigen Ostindischen Kompanie (nach der »Meuterei« wurde das Land der Krone unterstellt) war der eigentliche Auslöser des Aufstands eine Mischung aus neuer Waffentechnik und unfaßbarer Gedankenlosigkeit. Die neuen Enfield-Hinterlader wurden noch nicht mit Patronen incl. Zündkapsel, sondern aus Kartuschen geladen, die von den Soldaten aufzubeißen waren, ehe das Laden erfolgen konnte. Damit sie nicht austrockneten, wurden die Kartuschen eingefettet, mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweinefett – man mutete also den Hindus und Moslems der Sepoy-Truppen zu, etwas in den Mund zu nehmen, was beiden Religionsgruppen strengstens verboten war. Britische und loyale Sepoy-Verbände schlugen die Meuterei nieder. -/-»Ich habe das Land von Delhi nach Süden mit Blut überspült gesehen«: Die schwersten Kämpfe im Sommer 1857 fanden in und um Delhi, Meerut, Lucknow und Kanpur statt (heute alle im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh). -/- Sobraon, Chilianwala, Mudki, Ferozeshahr: An diesen vier Orten im Punjab fanden zwischen 1845 und 1849 die entscheidenden Schlachten zwischen britischen Truppen und Sikhs statt. -/»als die Kaisar-i-Hind fünfzig Jahre ihrer Herrschaft vollendet hatte«: Königin Victoria (1819-1901) bestieg am 20. Juni 1837
den Thron und beging 1887 ihr »Golden Jubilee«, seit 1876 war sie Kaiserin von Indien (Kaisar-i-Hind). -/- Ressaldar, Ressaldar-Major: die höchsten »Eingeborenen«-Ränge in einem Regiment der Native Cavalry; der Rissaldar-Major entspricht etwa einem Rittmeister. (Höhere Ränge waren brit. Offizieren vorbehalten.) -/- Nikal Seyn vor Delhi: John Nicholson (1821-57), brit. Offizier, gefallen vor Delhi; wurde wegen der Kühnheit seiner Operationen und seines persönlichen Muts zum legendären Volkshelden und fand zeitweilig auch Aufnahme in indische Volksmythen, neben den Halbgott-Helden der alten Epen. -/- chumars: Angehörige einer niedrigen Kaste von Lederwerkern und -händlern. -/bunnias: Getreide- und Saathändler.
Kapitel IV Das Gedicht »The Wishing-Caps« wurde von RK später erweitert und in Songs from Books (1913) aufgenommen; dort und in späteren Ausgaben ist es dreistrophig. Der hier zitierte Teil entspricht der 3. Strophe mit dem Refrain (ab »Largesse!«) der 1. -/- takkus: engl. taxy Steuer. -/- be-laiteepani: wörtl. »englisches (bzw. europäisches) Wasser«. -/Sansi: eine der unberührbaren Kasten. -/- Khalsa: (wörtl. »frei«) Sammelbegriff für die Sikhs, ihre Regierung, Religion, Armee etc. -/- Sieben-Schwestern: Stare. -/- Ooryas: Angehörige einer Bauernkaste aus Orissa. -/- zemindars: Grundbesitzer, die ihre Abgaben direkt an die Regierung entrichten. -/- Oudh: Früher selbständiges Fürstentum, dann mit Agra zu den United Provinces zusammengefaßt; heute Uttar Pradesh. -/- Kangra: Bergregion mit gleichnamiger Hauptstadt im nordöstlichen Punjab. -/- shraddha: Opferhandlung für einen Verstorbenen (Sanskrit:
»Totenmahl«), -/- kauri: engl. cowrie, kleine Muschel aus dem Indischen Ozean, in Indien und Ostafrika als Münze verwendet. -/- zenana: Harem, Frauenhaus. -/- nat-kat: im Orig. nut-cut, hat vermutlich nichts mit engl. »Nuß« zu tun, sondern mit den Nut oder Nat, einem lt. Cyclopaedia of India in ganz Zentralindien verbreiteten wandernden Volk von Dieben, Wahrsagern etc. -/- PoMzeiwallahs: laut Concise Oxford Dictionary ist -wallab ein Suffix, das etwa -mann oder -er entspräche; die Verwendung reicht von Gebrauchsgegenständen (-dings) bis zu Amtspersonen (-leiter) wie hier: Polizei-Superintendent.
Kapitel V Das Gedicht »The Prodigal Son« findet sich erweitert erstmals in Songs from Books (1913); die hier abgedruckten Zeilen entsprechen der ersten von sechs Strophen, mit zwei Veränderungen: Statt »sib to« heißt es dort »cheered by«, statt »styes« »yards«. -/- ferasbes: Diener. -/-Plündergut aus dem Sommerpalast von Peking: 1858 erzwangen Frankreich und England von der durch den T’ai-p’ing-Aufstand (1850-64) geschwächten chinesischen Zentralregierung wirtschaftliche und politische Konzessionen (Öffnung von Häfen, Akkreditierung von Gesandten, Freizügigkeit für Händler und Missionare); dieser »Vertrag von Tientsin« wurde erst nach einer Strafexpedition 1860 ratifiziert, bei der u. a. der Sommerpalast zerstört wurde. -/- Choor? Mallum?: Dieb? Verstehen? -/- Skapulier: von manchen kath. Orden getragener, über Brust und Rücken bis zu den Füßen reichender Überwurf in Form eines breiten Tuchstreifens oder zweier Tuchstücke, die durch über die Schulter führende Bänder
zusammengehalten werden. -/- kabarri: Händler mit allen möglichen Gebrauchtwaren, eher Trödler als Antiquar, -/pukka: wörtl. »gekocht, gar, reif« (Hind.); im angloind. Gebrauch drückt es in einer Vielzahl von Schattierungen Positives aus – echt, gewichtig, bedeutend, kompetent, dauerhaft usw. -/- kismet: Schicksal. -/-… dem religiösen Arm ausgeliefert…: Kiplings ironische Variante zum Urteilsspruch der Inquisition, die den Deliquenten »dem weltlichen Arm auslieferte«, zum Zweck der Hinrichtung. -/- Sanawar: Ort bei Patiala, wo sich das Militär-Waisenhaus befand.
Kapitel VI »The Song of Diego Valdez« erschien komplett erstmals in The Five Nations (1903); die hier zitierten Zeilen sind dort die 3. von 14 Strophen und beginnen mit »But« statt »Now«. -/lusus naturae: Lat. Spiel bzw. Laune der Natur. -/- »anno achtundvierzig auf den Barrikaden«: bei der Märzrevolution von 1848, wahrscheinlich in Berlin; allerdings kam es auch in anderen Orten (Wien, München etc.) zu Unruhen und Straßenkämpfen. -/- Od: Angehöriger einer niedrigen Kaste von Fegern und Erdarbeitern. -/- Kayeth: Angehöriger der Kaste der Schreiber. -/ – Nuckiao: Lucknow. -/- »Bist du in Be… in England gewesen?«: Kim hätte sich fast verraten, indem er das »Eingeborenenwort« Belait für England/Europa verwendete. -/- hoondi: Wechsel. -/- Tirthankars: von Tirthankara (Sanskrit), »Furtbereiter«, Name der 24 großen Lehrer und Begründer des Jainismus.
Kapitel VII Das einem »Sir John Christie« zugeschriebene Gedicht ist von RK und wurde später wörtlich in Songsfrom Books aufgenommen. -/- ticca-gharri: vierrädriger Mietwagen. -/Imambara: 1784 von Nawab Asaf-ud-dow-lah während einer Hungersnot zur Besänftigung Gottes errichtetes Gebäude, beschrieben als »einer der größten Räume der Welt«, mit gewölbtem Dach ohne Stützpfeiler. -/- Chutter Munzil bzw. Chhattar Manzil: 1814 für die Frauen des Herrschers Ghaziud-din Haidar errichteter Palast. -/- Lucknow war die Hauptstadt von Oudh und einer der Hauptschauplätze der »Meuterei«. -/- St. Xavier-in-Partibus: Vermutlich das College La Martiniere SJ, errichtet 1800 als Stiftung des frz. Generals Claude Martin; galt als eine der besten Schulen Indiens. Angus Wilson schließt aus der spärlichen Beschreibung des Gebäudes, daß Kipling es nicht selbst gesehen haben kann, denn vor dem Portal stehen monströse Steinlöwen, die Kipling (und Kim) sicher aufgefallen wären. -/- punkah: an der Zimmerdecke befestigte große Fächer; werden mit einer Schnur bewegt. -/- Presidency-Kaufleute: Zu Zeiten der Ostindischen Kompanie war Indien, soweit es nicht mehr unabhängig war, in drei »Presidencies« unterteilt: Bombay, Madras, Kalkutta. Im späteren angloindischen Gebrauch bezeichneten Zusammensetzungen mit Presidency (hier: Presidency shopkeepers) Personen oder Gegenstände aus den Hauptstädten der ehemaligen Presidencies; PresidencyKaufleute sind also Besitzer altehrwürdiger Handelshäuser in Bombay, Madras oder Kalkutta. -/- Dhurrumtollah: der Eurasierbezirk von Kalkutta. -/- Cinchona: der sog. Chinabaum, aus dessen Rinde Chinin gewonnen wird; kommt allerdings in China weder vor, noch hat der Name mit China zu
tun. Die Bäume wurden von Spaniern in Peru entdeckt, wo sie quina-quina genannt wurden; ein Marques de Chinchön machte sie bekannt. -/- palankin: meist Sänfte, gelegentlich auch Karren. -/- Akas: Stamm an der assamesischen Grenze. -/- Naikan: Tanzmädchen. -/- Huncefa: tritt in Kap. x auf.
Kapitel VIII »The Two-Sided-Man« erschien erstmals vollständig (5 Strophen) in Songs from Books; die hier zitierten Zeilen entsprechen der 1. und 5. Strophe. In der späteren Fassung ist »soil« durch »Land« ersetzt.-/-Hadschi: Moslem, der nach Mekka gepilgert ist. -/- Iblis: Teufel, auch Hölle. -/- bhang: Hanf, Haschisch. -/- »Sehr viele Sahibs reisen auf der KalkaStraße«: Die Straße von Ambala über Kalka führt nach Simla, der hochgelegenen und vergleichsweise kühlen »Sommerhauptstadt« von Britisch Indien. -/- »… die Männer von Tirah«: Das Gebiet an der afghan. Grenze wird von mehrheitlich schiitischen Afridistämmen bewohnt. -/- Balkh: Provinz im Norden Afghanistans. -/- mehteranees: Frauen der Kehrer-Kaste. -/- Allah kerim: Allah sei gnädig. -/- Tonga: leichter zweirädriger Karren. -/- Native States: Staaten mit weitgehender innerer Autonomie, in denen der Vizekönig lediglich »Residenten«, politische Berater, unterhielt. Die Native States machten etwa die Hälfte des Territoriums von Britisch Indien aus.
Kapitel IX Die »Oregon Legend« betitelten Zeilen zu Beginn sind nicht von RK; eine Quelle war nicht zu ermitteln. -/- »Teufelstanz-
Masken«: Vermutlich Masken, die beim kultischen TschamTanz verwendet werden; hierbei werden die wichtigsten lamaistischen Glaubensinhalte, Dämonenmythen etc. durch Tanz, Gestik und Maskerade dargestellt. -/- Khandas und kuttars: Dolche und Schwerter. -/- »Er war insofern ein Sahib…«: Vorbild für Kiplings »Lurgan Sahib« war ein Alexander M. Jacob (1849-1921), der lange Zeit einen Laden in Simla unterhielt und gelegentlich verdächtigt wurde, als »Doppelagent« auch für Rußland zu arbeiten. Jacob war ein begabter Gaukler und Mesmerist, der einmal Madame Blavatsky in einem Wettbewerb um das Heraufbeschwören übernatürlicher Phänomene aus dem Feld schlug. Er beherrschte eine ungenannte Anzahl orientalischer Sprachen. Eigenen Auslassungen zufolge war Jacob gebürtiger Türke aus der Nähe von Istanbul, wurde mit 10 Jahren an einen Pascha verkauft und pilgerte mit 21 nach Mekka. Jacob erscheint in zwei weiteren Romanen: in Mr. Isaacs von Marion Crawford (1882) als »Mr. Isaacs«; in Jadoo von Colonel Newnham Davis (1898) als »Emanuel«. -/- Geisterdolche: tib. »p’ur-bu«, Eiseninstrument, symbolisiert die Bändigung dämonischer Aggression. Beim Tscham-Tanz wird er in eine Puppe gestoßen, in welche die »Seele« eines Dämons gebannt ist. -/Tintenspiegel: im Orig. ink-pool. Dem »Schauenden« wird Tinte in die hohle Hand gegossen und daraus die Zukunft gelesen. -/- »das Spiel der Juwelen« ist bei englischen Pfadfindern auch als »Kim’s Game« bekannt. -/- ruttee: Juweliersgewicht, 121,5mg = 7/8 Karat. -/- Angrezi: Englisch. -/- vakils: Advokaten. -/-Wordsworths Excursion: Gedicht, veröffentlicht 1814, besteht größtenteils aus philosophischer und politischer Diskussion. -/- Chanderna-göre: Stadt bei Kalkutta, französische Enklave in Britisch Indien. -/- »die eminenten Autoren Burke und Hare«: Hurree Chunder Mookerjee verwechselt hier den großen britischen Staatsmann
Edmund Burke (1729-97) mit William Burke, hingerichtet 1829, einem Mörder und Leichendieb, der mit einem »Kollegen« namens Hare in Edinburgh die Anatomie mit Studienobjekten belieferte und bei Nachschubmangel selbst für frische Leichen sorgte. Dieser Burke war auch das Vorbild für R. L. Stevensons The Body Snatcher. Von drei Autoren namens Hare im 19. Jh. weist keiner Beziehungen zu Burke auf; auch ist keiner von ihnen »eminent« zu nennen. -/- The Life of Lord Lawrence: John Lawrence (1811-79) wurde 1853 Chief Commissioner im Punjab; während der Meuterei gelang es ihm, den Punjab ruhig zu halten und 60 000 Sepoys (größtenteils Sikhs) zur Rückeroberung Delhis aufzustellen. Man nannte ihn den »Retter Indiens«; 1863 wurde er Generalgouverneur. Nach seiner Rückkehr nach England wurde er 1869 geadelt als Baron Lawrence of the Punjab and of Grately. -/- Pali: vermutlich vom Sanskrit abgeleiteter altindischer Dialekt, in dem die kanonischen Texte des Hinayana-Buddhismus abgefaßt sind. -/- Játaka: wörtl. »Geburtsgeschichte« (Pali); die 547 Jätakas erzählen von den früheren Leben Buddhas, seiner Anhänger und Gegner und zeigen auf, wie das Verhalten während früherer Leben die gegenwärtige Existenz beeinflußt. Viele der Jätakas sind Volkserzählungen aus vorbuddhistischer Zeit, die von den Buddhisten für ihre Zwecke adaptiert wurden. -/- »… ehrte ihn, wie die Frau den Propheten ehrte, seine Kammer war jedoch keineswegs auf der Mauer«: Anspielung auf den Propheten Elisa, vgl. 2 Könige 4,10.
Kapitel X »Gow’s Watch« ist ein im Lauf der Jahre von RK immer wieder ergänztes und umgearbeitetes Bühnenstück, das
unvollendet blieb; in seine spätere Sammlung RK’s Verse – Inclusive Edition (lojof.) nahm er Akt 11 Szene 2 (sie beginnt mit den hier zitierten Zeilen), Akt iv Szene 4 und Akt v Szene 3 auf. Die Übersetzung der Zeilen ist problematisch, da für viele der Beiz-Termini deutsche Entsprechungen entweder nicht existieren oder längst unverständlich geworden sind, z. B. »passage-hawk« gleich »Dreckfalke« (zu »trecken«, ziehen). Zur Illustration: tiercel-Terz, männl. Falke; at hack – im Zustand der Halbfreiheit, hack ist das Brett, auf dem dem Falken, der noch nicht jagen darf, sein Fleisch gereicht wird; eyass – Nestling, Falke, der aus dem Nest geholt und in Gefangenschaft aufgezogen wurde; passage-hawk – Falke, der bereits flog, als er gefangen wurde; tofoot- reißen, schlagen; to bind- den Beutevogel in der Luft fangen und mit den Klauen halten; tirings, to tire – »sich ermüden«, wird vom Falken gesagt, wenn man ihm ein zähes Stück Fleisch gibt, um ihn bzw. seine Schnabelarbeit zu trainieren; make-hawk – fertig ausgebildeter, zuverlässiger Falke, der als »Ausbilder« mit jüngeren fliegt; inyarak – in bester Verfassung zum Jagen; plumed to the very point – Wortspiel von RK; einerseits »mit voll entwickeltem Gefieder«, andererseits ist to plume – rupfen, das Rupfen der Beute durch den gut ausgebildeten Jagdfalken, und to make the point bezeichnet die Fähigkeit des Falken, ein Beutetier, das sich auf dem Boden, z. B. unter einem Busch, versteckt hat, dadurch zu markieren, daß er genau darüber in der Luft stehen bleibt; manned – an den Menschen gewöhnt; weathered – daran gewöhnt, ohne Haube auf dem Block zu sitzen; to take the air -vom Beutevogel gesagt, wenn er dem Falken entkommt, indem er höher steigt als dieser. -/- Bikaner, Jaisalmer: zwei Städte in der TharWüste, heute nahe der indisch-pakistanischen Grenze. -/- lakb: 100000. -/-Seistan: Region im südwestlichen Afghanistan. -/45er Revolver: 45/00 inch = 114,3mm. -/- »Als ich fünfzehn
war…«: eines der berühmtesten Zitate aus Kim; im Original: »When I was fifteen, I had shot my man and begot my man«. Vgl. hierzu auch Borges’ Kommentar in »Geschichte des Tango«, Essays 1932-1936, München 1981. -/- Royal Society: Akademie der Wissenschaften, gegr. 1660, organisiert nach Gebieten (Royal Geographical Society, R. Astronomical S. usw.). -/-F. R. S.: Fellow (Mitglied) of the Royal Society. -/Ratschläge, wie Lemuel sie von seiner Mutter erhielt: vgl. Sprüche, 31 (Vers 3: »Laß nicht den Weibern dein Vermögen, und gehe die Wege nicht, darin sich die Könige verderben.«) -/- Babuji: Das Suffix -ji drückt in der Regel freundlichen Respekt des Sprechers vor der angeredeten Person aus; hier ironisch. -/- kafirs: Ungläubige, Nichtmohammedaner. -/Herbert Spencer (1820-1903): engl. Philosoph, wandte die Evolutionslehre auch auf Bereiche wie den menschlichen Intellekt und die Gesellschaft an und erfand das »Überleben der Stärksten« (survival of the fittest); als Kim erschien, lebte er noch. -/- Sufi: werden im allgemeinen als islamische Mystikersekte bezeichnet, was nicht zutrifft; Kiplings »Freidenker« ist korrekt. Der Sufi Idries Shah (The Sufis, New York 1964) stellt fest, es handle sich beim Sufismus um eine mystische Philosophie, für die die Gegebenheiten der islamischen Welt lediglich ein guter Nährboden gewesen seien – wie die Mistel auf der Eiche lebt, ohne selbst Eiche zu sein. Shah bezeichnet die Freimaurerei als westlichen Ableger des Sufismus und zählt an großen Sufis auf u.a. Saadi, Fariduddin Attar, Jalaluddin Rumi, Ibn El-Arabi, El-Ghazali, Omar Khayyam. -/Arya-Somaj: Hindu-Reformbewegung, entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter westlichem Einfluß. -/- Sat Bhai: Hindu-Geheimgesellschaft. Tantrisch: zu Tantra, »Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum« (Sanskrit), gehört zu den Grundlagen des Hinduismus; Zentralthema ist die göttliche Energie und Schöpfungskraft, personifiziert als
Göttin, meist als Gemahlin Shivas, die die jeweilige weibliche Form eines Gottesaspekts darstellt. Für die Tantra-Riten werden fünf Dinge benötigt: Madya (Wein), Mänsa (Fleisch), Matsya (Fisch), Mudrä (geröstetes Getreide und mystische Gesten), Maithuna (Geschlechtsverkehr).
Kapitel XI »The Juggler’s Song«: Später von RK erweitert auf 2 15zeilige Strophen in Songs from Books; die hier zitierten Zeilen entsprechen der 2. Strophe, die jedoch »chance-flung nut« statt »fruit« hat. -/- Tore zum Pfad: der Befreiung von persönlicher Identität. -/- einen Moment lang vergaß er seine Kleidung aus dem Norden: Kim im Gewand eines Lama-Jüngers zitiert anschließend Allah; in Kap. xv sagt Hurree Chun-der zu ihm: »Und wenn Sie das nächste Mal unter Emotionen stehen, bitte verwenden Sie dann keine mohammedanischen Begriffe zusammen mit dem tibetischen Gewand« – d. h. der langhaarige Hindu-bairagi in Kap. XI ist Hurree Chunder Mookerjee. -/- Kamboh: Angehöriger einer Bauernkaste im Punjab. -/- Jat: Im Punjab und angrenzenden Gebieten siedelndes Volk von etwa 7 Mio. (1900); unklar, ob es sich bei ihnen um Nachfahren der antiken Geten handelt. -/- Sakhi Sarwar Sultan: wundertätiger moslemischer Heiliger bzw. dessen Heiligtum (Ziel von Pilgerfahrten) in Sakhi Sarwar, heute Distrikt Dera Ghazi Khan, Pakistan. -/- Ajmer: Ort und Bezirk in Rajputana. -/- Oswal: Angehöriger einer Kaste von Händlern und Geldverleihern. -/- Arhat: Heiliger, der die höchste Stufe, die des »Nicht-mehr-Lernens«, erreicht hat und weiß, daß alle Befleckungen und Leidenschaften ausgelöscht sind; der Arhat erreicht unmittelbar nach diesem Leben das Nirwana. -/- Leh: Hauptstadt von Ladakh. -/- Rad des Lebens,
Bhava-Chakra bzw. Padma Samsara (bei Kipling Padma Samthora): Darstellung des Kreislaufs der Existenzen.
Das Rad des Lebens Vereinfachte Darstellung; das Rad ist meistens farbig, wimmelt von Figuren und Darstellungen, die allesamt zusätzliche Bedeutung haben, und wird von einem Dämon gehalten, der je nach Auslegung die Lebensgier oder den Todesgott Yama repräsentiert. In der Radnabe findet sich die Ursache für den Kreislauf der Existenzen: Gier (Hahn, bei Kipling Taube), Unwissenheit (Schwein), Haß (Schlange). Im breiten Kreis sind die sechs Bereiche der Wiedergeburten. Oben in der Mitte der Götterhimmel, rechts die Welt der Gegengötter (Asu-ras), links die Menschenwelt mit dem Buddha in der Mitte. Unten links die Welt der Tiere, in denen Elende wiedergeboren werden; rechts die Vorhölle der Hungrigen Geister, die (wie Tantalus) Hunger und Durst nicht stillen können; dabei die Herrin des Feurigen Mundes, die ihre eigenen Kinder frißt. In der Mitte die Hölle voller Kreaturen, die Qualen leiden; rechts oben in diesem Segment die guten und bösen Engel, die die Seelen der Menschen wägen. Der kleine Ring um die Nabe zeigt (links) gute weiße Geschöpfe aufsteigend auf dem Weg der Tugend, rechts böse finstere Geschöpfe absteigend auf dem Weg zur Hölle. Im äußeren Ring finden sich, beginnend links unten (bei 7 Uhr), die zwölf Begriffe des »Bedingten Entstehens«, die eine philosophische Deutung des Kreislaufs bieten:
1 (7 Uhr) Unwissenheit: Eine blinde Greisin folgt einem Jüngling, der sie an einer Leine hinter sich her zieht; der blinde Lebenswille zwi schen Tod und Wiedergeburt. 2 (8 Uhr) Schöpfungskräfte: Töpfer und Töpferin bei der Arbeit- die »elterlichen Kräfte« formen das Material des Individuums. 3 (9 Uhr) Bewußtsein: Affe und Äffin auf einem Baum – gegenseitige körperliche Anziehung. 4 (10 Uhr) Körper und Geist: Zwei Boote, in einem ein Mann, im an deren eine Frau, auf einem Fluß mit Klippen. 5 (11 Uhr) die sechs Sinne: Sechs leere Häuser, die fünf physischen Sinne und der Geist; die Leere der materiellen Erfahrung.
6 (12 Uhr) Berührung: Ein Liebespaar in Umarmung; Liebe. 7 (1 Uhr) Empfindung, Wahrnehmung: Ein Mann zieht einen Pfeil aus seinem Auge; die Schmerzlichkeit der Sinne. 8 (2 Uhr) Durst, sinnliche Begierde: Ein Mann trinkt Wein, den eine Frau ihm reicht. 9 (3 Uhr) Verbindung: Ein Mann sammelt Früchte und reicht sie einer Frau; Heirat. 10 (4 Uhr) Werden: Eine schwangere Frau; Zeugung und Geburt bin den das Individuum noch fester ans Rad. 11 (5 Uhr) Entstehen: Eine Gebärende. 12 (6 Uhr) Tod: Sohn und Frau tragen den Leichnam des Mannes zum Friedhof, der das Bild unten abschließt (Geier und Wölfe). Lingam (Phallus) und Schlange: Symbole für Schöpfungskraft und Zerstörung. -/- Asa foetida: Stinkasant, Teufelsdreck, braunrotes Gummiharz; laut Brockhaus (1926) »von widerlichem Geruch und Geschmack, medizinisch benutzt (Reizmittel, krampfstillend, Wurmmittel u. a.)«, aber auch – wie hier – als Würzmittel. -/- Brenn-Ghats: Ghats sind breite Stufen, die zu einem Fluß hinabführen; in Indien gibt es besondere Ghats für rituelle Waschungen, Baden und für das Verbrennen von Toten, deren Überreste dem Heiligen Fluß Ganges übergeben werden, -/- doab: Fruchtbares Schwemmland am Zusammenfluß zweier Flüsse, hier zwischen Kapurthala und Sutlej. -/- Somna Road: heute Ort (Somna), damals lediglich Bahnstation nahe Straßenkreuzung. -/- Mahratta: Hinduvolk im südwestlichen Indien, das lange Zeit eine große Militärmacht war und ein ausgedehntes Reich besaß; von den Engländern in mehreren Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterworfen. -/- Mhow: in Indore. -/- Chiton heute Chittaurgarh in Rajpu-tana, eine der berühmtesten alten Rajputen-Festungen; Kipling beschrieb die grandiosen Ruinen
in einem Reiseartikel (in From Sea to Sea, 1900) und nahm sie als Vorlage für die Ruinenstadt in The Naulahka und »KalteStätten« (Cold Lairs) im Dschungelbuch. -/- Kota: Native State in Rajputana. -/- Jaipur: desgl. -/- Gwalior: Stadt und Native State südlich von Agra. -/- Bandakui: Stadt in Rajputana. -/Kurkuma: Gelb-wurz. -/- saddhu bzw. sadhw. von Sanskritsaäb, »zum Ziel führen«, Heiliger und Bettler, der Gott verwirklichen will und der Welt entsagt hat. -/- Sir Banäs: freundlicher Geist der Hindu-Mythologie.
Kapitel XII »The Sea and the Hills« findet sich 1903 in The Five Nations, dort 4 Strophen; die 1. ist hier, die 2. über Kap. XIII zitiert. Die Zeile »His Sea that his being fulfills« lautet in der späteren Version »His Sea as she slackens or thrills« (1. Strophe) bzw. »His Sea as she rages or stills« (2. Strophe). -/- Nickk-jao: Hau ab. -/- D. S. P.: District Superintendent of Police. -/- zoolum: Tyrannei. -/- Strickland Sahib: Der Polizist spielt in insgesamt 6 Erzählungen von RK eine Rolle; über ihn heißt es, er habe Indien und die Inder besser gekannt, als es seinen Vorgesetzten lieb war, und er sei imstande gewesen, sich entsprechend maskiert in vielen Kasten und Volksgruppen als Dazugehöriger zu bewegen. (Vgl. »Miss Youg-hal’s Sais«, »The Bronckhorst Divorce Case« und »To Be Filed for Reference« in Plain Tales from the Hills, »The Mark of the Beast« in Life’s Handicap, »The Son of His Father« in Land and Sea Tales und »A Deal in Cotton« in Actions and Reactions.) -/- Roum: arab. er-Roum (Ost-»Rom«) = Byzanz bzw. Konstantinopel. -/- Siwaliks: Ausläufer des Himalaya. -/Doon, Dün: Das Land zwischen Ganges und Yamuna (Jumna) im Norden der damaligen United Provinces (heute Uttar Pra-
desh). -/- siris: Akazie. -/- Ungerechter Richter: vgl. Lukas 18. -/- my-nah: Star, -/- hakim: Arzt. -/- Dacca: in Bengalen, heute Dhaka, Hauptstadt von Bangla Desh. -/- Sina: pers. sinah, »Brust, Busen«; ein Herz-tonikum; arplan:?; Salep: Wurzelknollen von Orchideen, enthalten Stärke, Zucker, Eiweiß; als Pulver mit kochendem Wasser zu Gallerte verarbeitet und als Heilmittel gegen Durchfälle sowie als Beigabe in Suppen und Getränken verwendet. -/- First Arts: das erste (niedrigste) Examen eines geisteswissenschaftlichen Studiums, etwa Magisterprüfung. -/- dooli: Sänfte, Bahre. -/»… sich an den Norden verkauft hatten«: an Rußland. -/kaisar: Kaiser, hier der Zar. -/- cui bono: lat. »Wem nützt es?« -/- Rampur, Chini: Im Himalaya, nahe der tibet. Grenze.
Kapitel XIII Zu »The Sea and the Hills« vgl. Anm. zu Kap. XII. -/- Spiti: Tal eines Nebenflusses des Sutlej, im Himalaya. -/- Kedarnath, Badrinath: zwei Sechstausender in diesem Teil des Himalaya. /- Bunji, Astor, Han-le, Bushahr: sämtlich in Kaschmir; ChiniTal: am Oberlauf des Sutlej. -/ – wullie-wa: auch williwaw, jähe Bö bzw. Wirbel (engl. Seemannssprache). -/- shikarri: Jäger. -/- Thar, Markhor: Wildziegen- bzw. ZiegenantilopenArten. -/- »Bären, soviel Elisa liefern mochte«: Der Bär ist eines der Attribute des Propheten Elisa, vgl. 2 Könige 2 f. -/beegar: Frondienst, unentgeltliche Zwangsarbeit im Dienst eines Fürsten. -/-Moschusbeutel: beuteiförmige Moschusdrüse des hirschähnlichen Moschus- oder Bisamtiers; ein Beutel enthält ca. 30-50 gr. Moschus, das in der Parfümerie begehrt war. -/- Serow: Gemsenart.
Kapitel XIV Das Gedicht »The Prayer« findet sich so in späteren Sammlungen (Songs from Books, RK’s Verse – Inclusive Edition, etc.). -/- Parang, Parang-la (tib. la, »Paß«): Paß zwischen Spiti und Lahul (Himachal Pradesh). -/- Der Lama sTag-stan ras-ch’en gilt als Gründer des Klosters von Han-le, vermutlich ca. 800 AD. -/- Kyelang (bei RK Kailung): im westl. Lahul, nahe dem Oberlauf des Chenab. -/- Bara Lacha: Paß im nördl. Lahul. -/- Bhutan, Guru Ch’wan, Sangor Gutok: Die Lage der beiden Klöster ist nicht genau zu ermitteln, vermutlich an der Westgrenze Bhutans zu Sikkim und Tibet. Dort setzten sich ab ca. 1550 die »Rotmützen«, nach der Reform durch Tsong Khapa (vgl. Anm. zu Kap. I) in langen Kämpfen den »Gelbmützen« unterlegen, mit Klostergründungen fest. Guru Ch’wan (»Großer Guru«) verweist evtl. auf Vorfälle in Klöstern der Täler Yalung und Chumbi, bei denen es um die Austreibung eines als Großer Guru sein Unwesen treibenden Dämons ging (vgl. E. E. Koch, Auf dem Dach der Welt, Frankfurt i960). Das Pferd Jam-linnin-k’or (tib. zam-glin-nin-k’or, »Welt-Tag-umrunden«) ist ein alter, »gezähmter« Luftdämon. -/- Yamnotri: Berg und Ort am Oberlauf des Yamuna. -/- »Einmal… trug ich europäische Kleider…«: vgl. die Erzählung »Lispeth« in Piain Tales from the Hills. -/- Ker-lis-ti-an: engl. Christian, Christ, -/- heathen: Heide.
Kapitel XV Das Gedicht »The Siege of the Fairies« findet sich als »The Fairies’ Siege« in Songs from Books; die hier zitierten Zeilen
sind dort die letzte von 3 Strophen. -/- Mashobra-Tunnel: Bergstraße, die nach Simla führt. -/- Nahan: Native State, ca. 80 km südöstlich von Simla. -/-»dem Staate einen Dienst erwiesen«: Shakespeare, Othello, V, ii, 338. -/- Nilang-Paß: an der indisch-tibetischen Grenze. -/- Raieng:? -/-Bhagirati: vermutl. Bhairogati, Ort und Fluß westl. von Nilang. -/- Tal der (dampfenden) Wasser: Gebiet mit heißen Quellen südl. des Yam-notri, am Oberlauf des Yamuna. -/- Loquat: Frucht der jap. Mispel (Photinie). -/- chador: Schleier, -/- dengue: Infektionskrankheit mit Mattigkeit, Kopfschmerzen, Fieber, Hautausschlag und heftigen Gelenk-und Muskelschmerzen, vor allem in der Lendengegend; durch letzteres erhält der Gang des Kranken etwas Geckenhaftes, daher in England auch Dandykrankheit genannt. -/- in articulo mortem: Hurrees Version von in articulo mortis, im Moment des Todes (lat.). -/in posse: (lat.) theoretisch, für alle Fälle. -/- banyan-Baum: indische Feige mit besonders ausgedehntem Wurzelwerk. -/Pashtu: Pathanisch. -/- Nibban: Nirwana.