Physik fur Biologen: Die physikalischen Grundlagen der Biophysik und anderer Naturwissenschaften (Springer-Lehrbuch)

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Springer-Lehrbuch

Dietrich Pelte

Physik für Biologen Die physikalischen Grundlagen der Biophysik und anderer Naturwissenschaften

Mit 151 Abbildungen und 22 Tabellen

A BC

Professor Dr. DIETRICH PELTE Physikalisches Institut der Universität Heidelberg Philosophenweg 12 69120 Heidelberg E-mail: [email protected]

ISBN 3-540-21162-4 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben auch bei nur auszugsweiser Verwertung vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Einbandgestaltung: deblik Berlin Titelbilder: deblik Berlin Satz: Druckfertige Vorlagen des Autors 29/3150WI - 5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf säurefreiem Papier

Vorwort

Dieses Buch behandelt die Methoden, mit deren Hilfe die Physik sich ein Verst¨ andnis u ¨ ber die beobachtbaren, und damit im engeren Sinne messbaren, Naturph¨ anomene verschafft. Die Forderung nach der Messbarkeit grenzt die Methodik der Physik auf bestimmte Bereiche der Natur ein, aber auch diese Bereiche sind so groß, dass bis heute die physikalische Forschung keineswegs an ihre Grenzen gestoßen ist, sich dagegen immer weiter entwickelt. Worin besteht die Methodik der Physik? Der wohl wichtigste Schritt in der ¨ Erkenntniskette besteht in der Ubersetzung der Beobachtungen in die Sprache der Mathematik, die es erlaubt, Zusammenh¨ange zwischen beobachtbaren Gr¨ oßen zu formulieren und Zusammenh¨ ange mit anderen Beobachtungen zu erkennen. Dieser Schritt macht die physikalische Methodik anwendbar auf viele Probleme, die zun¨ achst gar nicht als “physikalisch” angesehen werden, die sich aber nichts desto weniger mit messbaren Gr¨oßen besch¨aftigen. Dazu geh¨ oren unter anderem so wesensfremde Gebiete wie die Biowissenschaften oder die Wirtschaftswissenschaften. Die modernen Biowissenschaften benutzen die physikalische Methodik in steigendem Maß, sie wird zur Beschreibung biologischer Zusammenh¨ange immer wichtiger. Es ist daher keine Frage, dass ein Biologe wenigstens mit den Grundlagen der physikalischen Methodik vertraut sein sollte. Dieses Lehrbuch gibt eine Einf¨ uhrung in die Physik, wobei der wichtige Schritt, n¨amlich die ¨ Ubersetzung der Beobachtung in die mathematische Sprache, nicht ausgeblendet wird, sondern ein wesentlicher Inhalt dieses Lehrbuchs ist. Dabei wird besonderer Wert darauf gelegt, dass der Leser den Schritt von der Beobachtung zu der Formulierung eines physikalischen Gesetzes, d.h. in die mathematische Sprache, nachvollziehen kann. Denn das Ziel f¨ ur einen Studenten der Biowissenschaften ist nicht, eine Vielzahl von physikalischen Gesetzen kennen und auswendig zu lernen, sondern zu verstehen, wie das Ergebnis von Beobachtungen in mathematische Gleichungen umgesetzt wird, und dieses Verst¨andnis dann auf die Probleme in seinem eigenen Fachgebiet anzuwenden. Trotzdem sind die Anforderungen an die mathematischen Kenntnisse des Lesers dieses Lehrbuchs nicht besonders hoch, sie u ¨berschreiten nicht das Ni-

VI

Vorwort

veau, das mit dem Abschluss der gymnasialen Oberstufe erreicht sein sollte. Denn beim Lernen mithilfe dieses Lehrbuchs wird mehr die F¨ahigkeit zum logischen und konsequenten Denken verlangt als z.B. die F¨ahigkeit, mit komplexen Funktionen umgehen zu k¨ onnen. Und dieses Lehrbuch ist auch keine Einf¨ uhrung in die Biophysik, es vermittelt vielmehr die physikalischen Grundlagen, die zum Studium der Biophysik ben¨ otigt werden. Die Themenauswahl in diesem Lehrbuch orientiert sich an den Physikvorlesungen, die der Autor f¨ ur Studenten in den ersten Semestern mit Haupt- und Nebenfach Physik an der Universit¨ at Heidelberg gehalten hat. Begleitend zu den Vorlesungen fanden Tutorien statt, in denen die Studenten anhand von Aufgaben den Vorlesungsstoff angewendet haben. Bei der Frage, ob dieses Lehrbuch auch die entsprechenden Aufgaben mitenthalten sollte, haben sich der Autor und der Verlag letztendlich dagegen entschieden. Denn ein Aufgabenteil mit den zugeh¨ origen L¨ osungen w¨ urde den Umfang des Lehrbuchs, der etwa 500 Seiten betragen sollte, bei weitem u ¨ bersteigen. Dieses Lehrbuch ist daher auch als Begleitbuch zu den Physikvorlesungen an deutschen Hochschulen gedacht, wobei sich die Studenten in Arbeitsgruppen mit Aufgaben aus dem behandelten Gebieten der Vorlesungen auseinandersetzen m¨ ussen. Der Lehrstoff ist so gestaltet, dass er den Anforderungen in der Vor- und Diplompr¨ ufung im Nebenfach Physik entspricht. Der Autor ist dem Physikalischen Institut der Universit¨at Heidelberg verpflichtet, das ihm erlaubte, auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst dieses Lehrbuch in der vertrauten Umgebung fertigzustellen. Und er dankt dem Springer-Verlag f¨ ur die Unterst¨ utzung bei der Anfertigung des LATEX-Manuskripts.

Heidelberg, M¨ arz 2004

Dietrich Pelte

Inhaltsverzeichnis

Teil I Klassische Physik 1

Einf¨ uhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1 Die fundamentalen Kr¨ afte in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.1.1 Die Gravitationskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.1.2 Die elektrische Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1.3 Die kurzreichweitigen Kr¨ afte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2 Klassische oder moderne Physik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.3 Der Messprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.3.1 Die Messgr¨ oße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.3.2 Der Messfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2

Die Physik des Massenpunkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Kinematik des Massenpunkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die gleichf¨ ormige Kreisbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die beschleunigte Kreisbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Dynamik des Massenpunkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Newton’schen Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die abgeleiteten Kr¨ afte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Tr¨ agheitskr¨ afte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Die Bewegungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Energie und Energieerhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Impuls und Impulserhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Elastische und inelastische St¨oße zwischen zwei Massen

19 20 25 29 30 30 32 35 37 41 45 47 48

3

Die Physik des starren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Kinematik des starren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Translation des starren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Rotation des starren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Statik des starren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 52 52 53 57

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.2 Die Dynamik des starren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.3 Drehimpuls und Drehimpulserhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4

Die Physik des deformierbaren K¨ orpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die harmonische N¨ aherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Elastische Verformungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die elastische Dehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die elastische Biegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 69 72 73

5

Die Physik der Fl¨ ussigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Ruhende Fl¨ ussigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Ideale Fl¨ ussigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Reale Fl¨ ussigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 77 83 84 86

6

Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6.1 Die Zustandsgr¨ oßen des idealen Gases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.2 Die kinetische Gastheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6.2.1 Die Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung . . . . . . . . . 97 6.2.2 Die W¨ armekapazit¨ aten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.2.3 Transportprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 6.3.1 Zustands¨ anderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6.3.2 Reversible Kreisprozesse und thermodynamische Energiewandler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 6.4 Entropie und 2. Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . 122 6.4.1 Die mikroskopische Deutung der Entropie . . . . . . . . . . . . 124 6.4.2 Der Phasenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6.5 Reale Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6.5.1 Phasen¨ uberg¨ ange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6.5.2 Die adiabatische Expansion eines Gases . . . . . . . . . . . . . 135

7

Mechanische Schwingungen und Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 7.1 Mechanische Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7.1.1 Unged¨ ampfte harmonische Schwingungen . . . . . . . . . . . . 140 ¨ 7.1.2 Uberlagerung von harmonischen Schwingungen . . . . . . . 142 7.1.3 Kopplung von harmonischen Schwingungen . . . . . . . . . . 144 7.1.4 Ged¨ ampfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 7.1.5 Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 7.2 Mechanische Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 7.2.1 Schallwellen im Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 7.2.2 Die Kenngr¨ oßen der Schallwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 7.2.3 Der klassische Doppler-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7.2.4 Stehende Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Inhaltsverzeichnis

IX

8

Das elektrische und das magnetische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 8.1 Elektrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 8.1.1 Die elektrische Ladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 8.1.2 Das elektrische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 8.1.3 Das elektrische Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8.1.4 Der elektrische Dipol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.1.5 Materie im elektrischen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 8.1.6 Das elektrische Feld an einer Grenzfl¨ache . . . . . . . . . . . . 193 8.2 Der station¨ are elektrische Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 8.2.1 Der elektrische Strom im metallischen Leiter . . . . . . . . . 198 8.2.2 Der elektrische Strom in leitenden Fl¨ ussigkeiten . . . . . . 203 8.2.3 Elektrische Grenzfl¨ achen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 8.2.4 Der elektrische Strom in Gasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8.3 Magnetostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 8.3.1 Das magnetische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 8.3.2 Die Lorentz-Kraft auf eine bewegte Ladung . . . . . . . . . . 221 8.3.3 Messung von Strom und Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 8.3.4 Elektrischer Strom und Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 8.3.5 Die magnetischen Eigenschaften der Materie . . . . . . . . . 230 8.3.6 Materie im magnetische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 8.3.7 Das magnetische Feld an einer Grenzfl¨ache . . . . . . . . . . . 235

9

Zeitlich ver¨ anderliche Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 9.1 Die magnetische Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 9.2 Wechselstrom und Wechselspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 9.2.1 Die elektrische Leistung eines Wechselstromkreises . . . . 254 9.2.2 Der elektrische Schwingkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 9.3 Der Verschiebungsstrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 9.4 Die Maxwell’schen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 9.4.1 Die Existenz elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . . . . . 262 9.4.2 Phasen- und Gruppengeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 268 9.4.3 Die Entstehung elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . . 270 9.4.4 Die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . 273 9.4.5 Das elektromagnetische Frequenzspektrum . . . . . . . . . . . 275

10 Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 10.1 Strahlenoptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 10.1.1 Brechung und Reflexion an einer Grenzfl¨ache . . . . . . . . . 284 10.1.2 Die Totalreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 10.1.3 Optische Abbildungen durch d¨ unne Linsen . . . . . . . . . . . 289 10.1.4 Das menschliche Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 10.1.5 Optische Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 10.2 Wellenoptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 10.2.1 Brechung und Reflexion an einer Grenzfl¨ache . . . . . . . . . 298 10.2.2 Die Polarisation des Lichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

X

Inhaltsverzeichnis

10.2.3 Koh¨ arenz und Interferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 10.2.4 Beugung am Spalt und am Gitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 10.2.5 Vielstrahlinterferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Teil II Moderne Physik 11

Einf¨ uhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 11.1 Die Inertialsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

12 Die 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6

spezielle Relativit¨ atstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Das Michelson-Morley-Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Lorentz-Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Die Zeitdilatation und L¨ angenkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Der relativistische Doppler-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Die Addition der Geschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Die relativistische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 12.6.1 Die Erhaltung des Impulses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 12.6.2 Die Erhaltung der Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 12.6.3 Die Erhaltung des Drehimpulses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 12.6.4 Die Erhaltung der elektrischen Ladung . . . . . . . . . . . . . . 340

13

Die Quantelung des Lichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 13.1 Der lichtelektrische Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 13.1.1 Das Doppelspaltexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 13.2 Der Compton-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 13.3 Die Paarerzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 13.4 Die Unsch¨ arfe des Photons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

14

Materiewellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 14.1 Die Bragg-Reflexion an einem Kristallgitter . . . . . . . . . . . . . . . . 359 14.2 Materie und Antimaterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 14.3 Die Wellengleichung der Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 14.4 Station¨ are Zust¨ ande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 14.4.1 Das Elektron mit konstanter potenzieller Energie . . . . . 370 14.4.2 Das Elektron in einem Potenzialkasten . . . . . . . . . . . . . . 371

15

Atomphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 15.1 Das Einelektronatom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 15.1.1 Das Bohr’sche Atommodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 15.1.2 Die quantenmechanische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 381 15.2 Der Elektronenspin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 15.2.1 Der Stern-Gerlach-Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 15.2.2 Die atomare Feinstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 15.2.3 Das Pauli-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 15.3 Das Mehrelektronenatom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

Inhaltsverzeichnis

XI

15.3.1 Die Emission und Absorption von R¨ontgenstrahlen . . . . 395 15.3.2 Die Ionisierungsenergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 15.4 Das periodische System der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 15.5 Der Laser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 15.5.1 Der He-Ne-Laser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 16 Kernphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 16.1 Der Atomkern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 16.1.1 Die Gr¨ oße des Atomkerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 16.1.2 Die Masse des Atomkerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 16.2 Kernmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 16.2.1 Das Tr¨ opfchenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 16.2.2 Das Schalenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 16.3 Der Kernspin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 16.3.1 Die Methode der Kernspinresonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 16.4.1 Das radioaktive Zerfallsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 16.4.2 Die Wechselwirkung radioaktiver Strahlen mit der Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 16.5 Die radioaktive Belastung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 17.1 Die Vielteilchenwellenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 17.2 Die statistische Verteilungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 17.3 Die Bose-Einstein-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 17.3.1 Die Hohlraumstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 17.4 Die Fermi-Dirac-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 17.4.1 Die molare W¨ armekapazit¨ at freier Leitungselektronen . 460 17.4.2 Das Fermi-Modell des Atomkerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 17.5 Die Elektronenzust¨ ande in einem Festk¨orper . . . . . . . . . . . . . . . 463 17.5.1 Die elektrischen Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 17.5.2 Die Halbleiterdiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 17.5.3 Die Solarzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 18

Molek¨ ulphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 18.1 Die Molek¨ ulbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 ul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 18.1.1 Das H+ 2 -Molek¨ 18.1.2 Das H2 -Molek¨ ul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 18.1.3 Die Elektronenzust¨ ande in zweiatomigen Molek¨ ulen . . . 478 18.2 Molek¨ ulspektroskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 18.2.1 Das molekulare Rotationsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 18.2.2 Das molekulare Vibrationsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 18.2.3 Die Molek¨ ulspektren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 18.2.4 Die Raman-Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

XII

Inhaltsverzeichnis

19 Anh¨ ange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 19.1 Anhang 1: Rechenregeln f¨ ur Vektoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 19.2 Anhang 2: Das Skalar-Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 19.3 Anhang 3: Das Vektor-Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 19.4 Anhang 4: Die wichtigsten Beziehungen zwischen den harmonischen Funktionen sinϕ und cosϕ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 19.5 Anhang 5: Die Taylor-Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 19.6 Anhang 6: Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 19.7 Anhang 7: Physikalische Konstanten und Vorsilben zu den Maßeinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 19.8 Anhang 8: Stabile Atomkerne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507

Teil I

Klassische Physik

1 Einf¨ uhrung

Die Physik beschreibt Zust¨ ande und ihre Ver¨anderungen mit der Zeit, also Zustands¨ anderungen. Um einen Zustand zu beschreiben, ben¨otigen wir Gr¨ oßen, die diesen Zustand charakterisieren. Diese bezeichnet man als die Zustandsgr¨ oßen. Bei den Zustandsgr¨ oßen handelt es sich im Allgemeinen um messbare Gr¨ oßen, die durch Beziehungen miteinander verkn¨ upft sind. Diese Beziehungen werden als physikalische Gesetze bezeichnet, d.h. die physikalischen Gesetze sind das Ergebnis unserer Bem¨ uhungen, die Zust¨ande und ihre Ver¨ anderungen zu beschreiben und die dabei beobachtbaren Zusammenh¨ange letztendlich auf fundamentale Prinzipien zur¨ uckzuf¨ uhren. Ganz wichtig ist, dass Zustandsgr¨ oßen im Allgemeinen messbare Gr¨oßen sind. Das bedeutet, die G¨ ultigkeit der physikalischen Gesetze kann durch Messungen nachgepr¨ uft werden. Messungen in der Natur selbst sind oft außerordentlich schwierig, da diese Messungen Einfl¨ ussen ausgesetzt sind, die der Messende, also der Experimentator, nicht kontrollieren kann. Zum Beispiel k¨onnen die Gesetzm¨ aßigkeiten des freien Falls nicht mithilfe von Regentropfen untersucht werden, weil bei derartigen Untersuchungen die st¨andig wechselnden Windbedingungen einen nicht kontrollierbaren Einfluss aus¨ uben w¨ urden. Messungen in der Natur werden daher oft Resultate ergeben, die mit großen Fehlern behaftet sind. Seit Galileo Galilei (1564 - 1642) hat sich daher die “Experimentelle Physik” entwickelt, sodass Beziehungen zwischen den Zustandsgr¨oßen heute durch entsprechende Laborexperimente verifiziert werden. Im Labor lassen sich n¨ amlich die unerw¨ unschten Einfl¨ usse auf den Messprozess viel leichter kontrollieren, die Ergebnisse von Laborexperimenten sind wesentlich genauer. Mit dem Messprozess werden wir uns in Kap. 1.3 vertraut machen. ¨ In dem Kap 1.1 wollen wir uns zun¨ achst einen generellen Uberblick u ¨ ber die Zust¨ ande mit ihren Zustandsgr¨ oßen und die Ursachen f¨ ur ihre zeitlichen anderungen verschaffen. Ver¨

4

1 Einf¨ uhrung

1.1 Die fundamentalen Kr¨ afte in der Natur Zust¨ ande in der Natur werden immer im Raum und in der Zeit beobachtet, d.h. ein physikalisches Gesetz wird, neben vielen anderen Zustandsgr¨oßen ξi , auch immer die Zustandsgr¨ oßen x, y, z f¨ ur den Ort, und die Zustandsgr¨oße t f¨ ur die Zeit enthalten: f ({ξi }, t, x, y, z) = 0 .

(1.1)

Dabei k¨ onnen die Zustandsgr¨ oßen ξi selbst wieder implizit vom Ort und von der Zeit abh¨ angen. Ver¨ anderungen eines Zustands geschehen immer mit der Zeit, und das physikalische Gesetz (1.1) muss diese Ver¨anderung richtig und experimentell verifizierbar beschreiben. Was sind nun die Ursachen f¨ ur Zustands¨ anderungen? Der Grund f¨ ur Zustands¨ anderungen ist im Allgemeinen das Wirken von Kr¨ aften auf den Zustand. In der Natur kennen wir heute 4 fundamentale Kr¨ afte: • • • •

Die Die Die Die

Gravitationskraft elektrische Kraft starke Kraft schwache Kraft

Die Eigenschaften dieser Kr¨ afte wollen wir jetzt behandeln. 1.1.1 Die Gravitationskraft Die Gravitationskraft FG ist die fundamentale Kraft, die uns am vertrautesten ist. Sie ist daf¨ ur verantwortlich, dass wir “auf dem Erdboden bleiben”, d.h. sie beschreibt die anziehende Kraft zwischen K¨orpern mit Masse. Daher ist sie f¨ ur einen großen Teil der Ph¨ anomene verantwortlich, die wir auf der Erde und am Himmel direkt beobachten k¨ onnen. Die Ursache f¨ ur die Existenz der Gravitationskraft ist die schwere Masse m. Da das Wirken dieser Kraft immer die Existenz von zwei Massen m1 und m2 , zwischen denen sie wirken kann, voraussetzt, ist es einleuchtend, dass sie proportional zu dem Produkt aus diesen beiden Massen ist: FG ∝ m1 m2 . Von ebenso großer Wichtigkeit ist, u ¨ber welchen Abstand r zwischen den beiden Massen diese Kraft wirken kann. Diese Frage wurde zum ersten Mal von Cavendish (1731 - 1810) experimentell mit Hilfe der von ihm entwickelten Gravitationswaage untersucht. Sein experimentelles Ergebnis war, dass

1.1 Die fundamentalen Kr¨ afte in der Natur

5

die Gravitationskraft quadratisch mit der Entfernung zwischen den Massen abnimmt: FG ∝

m1 m2 . r2

Die beiden letzten wichtigen Fragen sind, wie stark diese Kraft ist und ob sie immer nur anziehend wirkt, oder ob sie auch abstoßend zwischen den Massen wirken kann. Die erste Frage wird beantwortet durch die Einf¨ uhrung einer Proportionalit¨ atskonstanten Γ , die ein Maß f¨ ur die Gravitationsst¨arke ist. Der Wert dieser Gravitationskonstanten ist durch die Maßeinheiten bestimmt, mit denen wir die Zustandsgr¨ oßen m und r messen wollen. Auf diese Frage kommen wir im Kap. 1.3 zur¨ uck. Die Frage, ob die Gravitationskraft nur anziehend ist, muss bejaht werden. Bis heute ist kein Experiment bekannt, mit dem zweifelsfrei eine abstoßende Wirkung der Gravitationskraft nachgewiesen wurde. Dieses Ergebnis wird dadurch ber¨ ucksichtigt, dass die Gravitationskraft immer negativ ist. Das heißt, sie wird beschrieben durch die Beziehung FG = −Γ

m1 m2 . r2

Durch diese Beziehung wird u.a. auch ausgedr¨ uckt, dass die Gravitationskraft zwar mit dem Abstand zwischen den Massen abnimmt, dass sie aber erst dann verschwindet, wenn der Abstand sehr groß wird, d.h. f¨ ur r → ∞. Eine Kraft mit dieser Eigenschaft bezeichnet man als langreichweitig im Gegensatz zu einer kurzreichweitigen Kraft, deren St¨ arke schon bei endlichen Abst¨anden verschwindet. 1.1.2 Die elektrische Kraft Die elektrische Kraft FC verdankt ihre Existenz der Tatsache, dass K¨orper nicht nur Masse besitzen, sondern unter Umst¨ anden auch geladen sein k¨onnen. Die Ursache f¨ ur die elektrische Kraft ist die elektrische Ladung q. Diese Kraft ist von ebenso großer Bedeutung wie die Gravitationskraft, denn sie ist verantwortlich f¨ ur die Bindung der Naturbausteine zu komplexen Systemen. Als Naturbausteine wollen wir hier die positiv geladenen Atomkerne und die negativ geladenen Elektronen ansehen, die sich zun¨achst zu Atomen, dann zu Molek¨ ulen und schließlich zu makroskopischen Einheiten, wie z.B. dem Muskelgewebe, binden. Die Eigenschaften der elektrischen Kraft sind in vielen Aspekten denen der Gravitationskraft sehr ¨ ahnlich. Diese Tatsache wurde zuerst von Coulomb (1736 - 1806) in einem Experiment entdeckt, das ganz ¨ahnlich zu der Gravitationswaage von Cavendish aufgebaut war und deswegen den Namen Coulomb-Waage erhalten hat. Beide Kr¨ afte unterscheiden sich nat¨ urlich durch

6

1 Einf¨ uhrung

ihre Ursache (ersetze Massen m durch elektrische Ladungen q) und durch ihre St¨ arke (ersetze Gravitationskonstante Γ durch elektrische Feldkonstante ǫ0 ). In den Maßeinheiten, die wir im Kap. 1.3 einf¨ uhren werden, lautet die Beziehung f¨ ur die elektrische Kraft: FC =

1 q1 q2 . 4πǫ0 r2

Diese Beziehung zeigt, dass auch die elektrische Kraft eine langreichweitige Kraft ist. Aber wichtiger ist, dass die elektrische Kraft im Gegensatz zur Gravitationskraft sowohl anziehend wie auch abstoßend sein kann. Dies liegt daran, dass wir 2 elektrische Ladungstypen in der Natur kennen. In der Natur gibt es positive Ladungen q + = +|q| und negative Ladungen q − = −|q|. Die Kraft ist daher anziehend (FC ist negativ), wenn das Produkt q1 q2 negativ ist, dagegen ist sie abstoßend (FC ist positiv), wenn das Produkt q1 q2 positiv ist: “Gleichnamige Ladungen stoßen sich ab, ungleichnamige Ladungen ziehen sich an”. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen der Gravitationskraft und der elektrischen Kraft ist, dass die elektrische Ladung gequantelt ist. Alle in der Natur beobachtbaren Ladungen q sind Vielfache einer Elementarladung e. In den von den Naturbausteinen aufgebauten komplexen Systemen sind im Allgemeinen gleichviel positive Ladungen q + wie negative Ladungen q − vorhanden, d.h. diese Systeme sind nach außen neutral, also ungeladen. Dies ist der Grund daf¨ ur, dass in unserem t¨ aglichen Leben das Wirken der Gravitationskraft soviel leichter beobachtbar ist als das Wirken der elektrischen Kraft. 1.1.3 Die kurzreichweitigen Kr¨ afte In der Natur existieren noch zwei kurzreichweitige fundamentale Kr¨afte, die starke Kraft FS und die schwache Kraft FW . Die Ursache f¨ ur die starke Kraft ist die starke Ladung, die Ursache f¨ ur die schwache Kraft ist die schwache Ladung. Die Worte “starke” und “schwache” Ladung sind nur ein Ausdruck daf¨ ur, dass manche elementare Bausteine der Natur Eigenschaften besitzen, die als Ursache f¨ ur die starke bzw. schwache Kraft anzusehen sind. In der Elementarteilchenphysik werden diese Kr¨ afte mit einem Formalismus beschrieben, der im Rahmen dieses Lehrbuchs nicht behandelt werden soll. Die Reichweiten der starken und schwachen Kraft sind k¨ urzer als der Durchmesser des Atomkerns, und daher ist ihre Wirkung auf den Atomkern

1.1 Die fundamentalen Kr¨ afte in der Natur

7

und die noch kleineren Naturbausteine, die ihn aufbauen, beschr¨ankt. Wir k¨ onnen die Wirkung dieser Kr¨ afte daher nur bei den Zustands¨anderungen des Atomkerns beobachten, und die M¨ oglichkeiten der Beobachtung sind erst im 20. Jahrhundert entwickelt worden. Trotzdem sind auch diese Kr¨afte von großer Bedeutung, denn sie garantieren die Stabilit¨at der Atomkerne, und sie sind verantwortlich f¨ ur die Energieabstrahlung von der Sonne, die Voraussetzung f¨ ur unsere Existenz ist. Wir werden uns wieder mit diesen Kr¨aften in Kap. 16 besch¨ aftigen, wenn wir z.B. die Gesetzm¨aßigkeiten des radioaktiven Zerfalls behandeln. Abschließend wollen wir uns in der folgenden Zusammenstellung noch ¨ einen Uberblick u ¨ ber die wichtigsten Eigenschaften der in der Natur vorkommenden fundamentalen Kr¨ afte verschaffen: Kraft

Ursache

Gravitationskraft Schwere Masse

Reichweite Relative St¨arke ∞

1

Elektrische Kraft Elektrische Ladung ∞

1036

Starke Kraft

Starke Ladung

10−15 m

1038

Schwache Kraft

Schwache Ladung

10−18 m

1024

Obwohl daher die Gravitationskraft die Kraft mit der bei weitem geringsten St¨ arke ist, ist sie dennoch die Kraft, die als erste von Newton (1643 - 1727) in seinen ber¨ uhmten “Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” wissenschaftlich untersucht wurde. Anmerkung 1.1.1: Um die Eigenschaften der 4 fundamentalen Kr¨ afte zu erforschen, muss ihre Wirkung auf zwei Probeteilchen innerhalb der vorgegebenen Reichweiten experimentell m¨ oglichst vollst¨ andig vermessen werden. Dies ist, wegen ihrer großen Reichweiten, relativ problemlos m¨ oglich f¨ ur die Gravitationskraft und die elektrische Kraft. Im Falle der kurzreichweitigen Kr¨ afte ist dies aber schwierig, denn oft besitzen die Probeteilchen auch die gleichnamige elektrische Ladung. Im Experiment muss daher zun¨ achst die abstoßende Wirkung der elektrischen Kraft u ¨ berwunden werden. Dazu sind sehr große Energien notwendig, die Temperaturen von u ¨ ber 10 Mrd. ◦C entsprechen. Solche hohen Temperaturen werden im Inneren von Sternen erreicht, in Laborexperimenten erfordern sie den Bau großer Beschleunigeranlagen. Anmerkung 1.1.2: In der modernen Physik wird der Begriff der Kraft ersetzt durch den Begriff des Felds bzw. der Wechselwirkung. Wir werden die physikalische Messgr¨ oße “Feld” erst bei der Behandlung der elektrischen Kraft einf¨ uhren. Bei der Behandlung der Gravitation beschr¨ anken wir uns auf die Kraft FG , obwohl auch in diesem Fall das Feldkonzept ohne Schwierigkeiten benutzt werden k¨ onnte.

8

1 Einf¨ uhrung

Anmerkung 1.1.3: Nat¨ urlich sind die Fragen interessant, • •

ob sich die 4 fundamentalen Kr¨ afte wirklich fundamental unterscheiden, ob weitere fundamentale Kr¨ afte in der Natur existieren, die bisher nicht entdeckt wurden.

In der Tat ist es gelungen, die elektrische und die schwache Kraft zu der elektroschwachen Wechselwirkung zu vereinen. Die sich aus der Vereinigung ergebenden Folgerungen sind experimentell verifiziert. An der Vereinigung der elektro-schwachen Wechselwirkung mit der starken Wechselwirkung wird z.Z. gearbeitet. Dagegen scheint es im Augenblick ziemlich aussichtslos, auch die Gravitationskraft mit den restlichen 3 fundamentalen Kr¨ aften zu vereinen. Und schließlich gibt es bisher kein Experiment, das auf die Existenz weiterer fundamentaler Kr¨ afte hinweist.

1.2 Klassische oder moderne Physik? Der Lehrstoff in diesem Lehrbuch ist geordnet in zwei großen Bl¨ocken, dem Block “Klassische Physik” (Kap. 1 - 10) und dem Block “Moderne Physik” (Kap. 11 - 18) . Diese Ordnung ist nicht prinzipieller Natur, denn in beiden Bl¨ ocken basieren die physikalischen Gesetze auf den gleichen fundamentalen Prinzipien. Diese Ordnung wird vielmehr nahegelegt durch die Anforderungen an den Messprozess. Es ist eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts, dass manche der Zustandsgr¨ oßen sich nicht kontinuierlich ver¨ andern, sondern in diskreten Schritten, wobei die Schrittweite bestimmt wird durch das Planck’sche Wirkungsquantum h = 6,626 · 10−34 kg m2 s−1 .

(1.2)

Das Planck’sche Wirkungsquantum h ist eine Naturkonstante. Das bedeutet, ihr Wert ist u ¨ berall im Universum gleich und hat sich, soweit wir heute wissen, seit Entstehung des Universums auch nicht ver¨andert. Eine Zusammenstellung der wichtigsten, heute bekannten Naturkonstanten findet sich im Anhang 7. Die Maßeinheit von h ist kg m2 s−1 , d.h. sie ist zusammengesetzt aus den Maßeinheiten kg, m und s. Wie wir im n¨ achsten Kap. 2 lernen werden, ist das kg die Maßeinheit f¨ ur die Masse, m die Maßeinheit f¨ ur den Ort und s die Maßeinheit f¨ ur die Zeit. Von Heisenberg (1901 - 1976) wurde gezeigt, dass es kein Experiment geben kann, dass eine h¨ ohere Messgenauigkeit besitzt als die, die durch h festgelegt ist. Das bedeutet, dass Experimente mit großen Massen im Prinzip eine sehr hohe Orts- und Zeitaufl¨osung besitzen k¨onnen. Die Grenzen der Aufl¨ osung sind in jedem Fall so hoch, dass sie vollst¨andig u ¨ berdeckt werden von den Messfehlern, die bei jeder Messung auftreten. Die Quantisierung der Messgr¨ oßen ist im Experiment daher nicht beobachtbar, innerhalb der Messfehler erscheint die Messgr¨ oße als kontinuierlich variabel. Ph¨anomene, die diese Bedingung einer nicht beobachtbaren Quantisierung erf¨ ullen, werden wir in dem Block “Klassische Physik” behandeln.

1.3 Der Messprozess

9

Experimente mit sehr kleinen Massen (z.B. Masse des Elektrons me = 9,11 · 10−31 kg) erreichen im Prinzip Genauigkeiten, die gr¨oßer sind als die durch h festgelegte Grenze. Und dann wird die Quantisierung der Messgr¨oße im Experiment sichtbar. Ph¨ anomene aus diesem Bereich werden wir im Block “Moderne Physik” behandeln. Da sehr kleine Massen Geschwindigkeiten erreichen k¨ onnen, die makroskopische Massen nicht erreichen, behandelt dieser Block auch die Ph¨ anomene, die erst bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit beobachtbar werden. Wir wollen noch die Bedeutung der fundamentalen Prinzipien, die in beiden Bl¨ ocken g¨ ultig sind, an Hand eines Beispiels verdeutlichen. Eines dieser Prinzipien besagt, dass in einem abgeschlossenen System die Energie erhalten sein muss. In speziellen F¨ allen gilt dieses Erhaltungsgesetz auch f¨ ur eine besondere Form der Energie, die mechanische Energie. Das Erhaltungsgesetz lautet dann: Klassische Physik (Kap. 2.3) Moderne Physik (Kap. 12.6.2) Wtot = Wkin + Wpot

Etot = E + Wpot

Mit Hilfe dieser Beziehungen lassen sich die Bewegungsgleichungen eines Teilchens ableiten. Im Fall der klassischen Physik ergibt dies das 2. Newton’sche Axiom (Kap. 2.2.1), im Fall der modernen Physik werden wir nur die nichtrelativistische N¨aherung des Erhaltungsgesetzes betrachten und erhalten so die Schr¨ odinger-Gleichung (Kap. 14.3). Auf jeden Fall f¨ uhrt in beiden Bl¨ocken das gleiche Prinzip zu den Bewegungsgleichungen, und welche dieser Bewegungsgleichungen wir zu benutzen haben, wird durch die experimentellen Gegebenheiten bestimmt.

1.3 Der Messprozess In der experimentellen Physik sind die Durchf¨ uhrung von Experimenten, die Analyse der Messdaten und ihre Interpretation von entscheidender Bedeutung. Ziel einer Messung ist immer das Messergebnis, das sich zusammensetzt aus der Messgr¨ oße und dem zugeh¨ origen Messfehler. Wir wollen jetzt diese Begriffe nacheinander diskutieren. 1.3.1 Die Messgr¨ oße Die Messgr¨ oße ξ ergibt sich durch Angabe des im Experiment gefundenen Messwerts ξ und der Maßeinheit [ξ], auf die sich der Messwert bezieht: ξ = ξ [ξ] . Das bedeutet, man erh¨ alt den Messwert durch Vergleich mit einer vorher festgelegten Maßeinheit. In diesem Lehrbuch werden wir, bis auf besondere F¨ alle, die Maßeinheiten benutzen, die im Syst` eme International d’Unit´ es

10

1 Einf¨ uhrung

(SI) festgelegt wurden und von der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1969 gesetzlich u ¨ bernommen wurden. Bei den meisten Maßeinheiten ist ihre Festlegung durch die physikalischen Gesetze vorgeschrieben. Es gibt nur 7 Maßeinheiten, die sog. Basismaßeinheiten , die sich nicht durch physikalische Gesetze festlegen lassen, sondern die durch eine besondere Messvorschrift definiert werden m¨ ussen. Im SI sind dies die folgenden in Tabelle 1.1 festgelegten Basismaßeinheiten. Tabelle 1.1. Die Basismessgr¨ oßen im SI Basismessgr¨ oße

Symbol Basismaßeinheit Bezeichnung

L¨ ange

l

[l] = m

Meter

Zeit

t

[t] = s

Sekunde

Masse

m

[m] = kg

Kilogramm

Elektrischer Strom I

[I] = A

Ampere

Temperatur

T

[T ] = K

Kelvin

n 

[ n] = mol

Mol

[L] = cd

Stoffmenge Lichtst¨ arke

L

Candela

Die Messvorschriften, die diese Basimaßeinheiten definieren, werden dann beschrieben, wenn in den folgenden Kapiteln eine Basismessgr¨oße zum ersten Mal erscheint. In vielen F¨ allen wird eine Kombination von Basismaßeinheiten auch zu einer neuen Maßeinheit zusammengefasst, die dann ein neues Symbol und eine neue Bezeichnung erh¨ alt. Darauf wird jedesmal hingewiesen werden. Die Messgr¨ oßen in der Physik k¨ onnen von sehr verschiedenem Charakter sein. Es gibt Messgr¨ oßen, wie z.B. die Masse oder die Zeit, bei denen gen¨ ugt die Angabe eines einzigen Messwerts und die Angabe der Maßeinheit, um sie eindeutig zu bestimmen. Solche Messgr¨ oßen nennt man skalare Messgr¨oßen. Skalare Messgr¨ oßen erfordern die Angabe eines Messwerts und der Maßeinheit. Auf der anderen Seite gibt es Messgr¨ oßen, bei denen die Angabe nur eines Messwerts nicht reicht, um sie eindeutig zu bestimmen. Ein Beispiel f¨ ur derartige Messgr¨ oßen, die wir bereits kennengelernt haben, ist die Kraft. Die Kraft besitzt nicht nur eine St¨ arke F , sondern sie wirkt zwischen zwei Probeteilchen, durch deren Position im Raum eine Richtung e festgelegt wird. Mit e kennzeichnen wir einen Einheitsvektor, d.h. dieser Vektor hat die L¨ange | e| = 1 und seine Richtung legt eine bestimmte Richtung im Raum fest. Die Kraft ist daher eine vektorielle Messgr¨ oße, die sich formal folgendermaßen schreiben l¨ asst: F = F e .

(1.3)

1.3 Der Messprozess

m2 FG

11

Abb. 1.1. Die Orientierung der Vektoren F G und r. Aus der Orientierung folgt FG = −r, und die Kraft F G ist anziehend

r m1 Die Gr¨oße F wird allgemein als Komponente des Vektors F bezeichnet, dagegen wird der Betrag (L¨ange) des Vektors F mit |F | gekennzeichnet. Es ist wichtig, zwischen der Komponente und dem Betrag eines Vektors zu unterscheiden. Denn die Komponente F ist nur dann positiv, d.h. F = |F |, wenn der Vektor F die gleiche Richtung hat wie der Einheitsvektor e. Dagegen ist die Komponente immer negativ, d.h. F = −|F |, wenn F und e entgegengesetzt gerichtet sind. Der letzte Fall ist uns bei der Gravitationskraft begegnet: F G ist immer anziehend, d.h. die Richtung der Kraft ist immer entgegengesetzt zu der Richtung des Einheitsvektors r, der durch die Lage der beiden Probemassen mit Abstand r im Raum festgelegt ist. Der Abstandsvektor zwischen ¨ ¨ den Probemasse ist r = r r, siehe Abb. 1.1. Ahnliche Uberlegungen gelten auch f¨ ur die elektrische Kraft, d.h. beide Kr¨afte sind vektorielle Messgr¨oßen, ihre exakten Definitionen lauten: m1 m2 Gravitationskraft: F G = FG r = −Γ r . (1.4) r2 1 q1 q2 r . (1.5) Elektrische Kraft: F C = FC r = 4πǫ0 r2

Die Gleichung (1.3) ist zwar formal richtig, sie erlaubt aber eine exakte Bestimmung der Richtung von e bzw. F erst dann, wenn die 3 voneinander unabh¨angigen Richtungen des Ortsraums mit Hilfe der x-,y-,z-Achsen eines rechtwinkligen Koordinatensystems festgelegt werden. Ein derartiges Koordinatensystem nennt man ein kartesisches Koordinatensystem, seine Achs, richtungen werden durch die Einheitsvektoren x y , z bestimmt. Die Lage des Ursprungs dieses Systems (Kreuzungspunkt aller 3 Achsen) ist im Prinzip willk¨ urlich: Der Ursprung kann im Raum beliebig verschoben werden. Dieser Verschiebung entspricht eine Parallelverschiebung aller Vektoren, d.h. Vektoren k¨onnen beliebig parallel verschoben werden, ohne dass sich das physikalische Problem dadurch ¨andert. Es ist jedoch sinnvoll, die Lage des Ursprungs so zu w¨ahlen, dass sie den Besonderheiten des physikalischen Problems entspricht. Zum Beispiel legt die Abb. 1.1 es nahe, den Koordinatenursprung in den Ort einer der Massen, etwa

12

1 Einf¨ uhrung

z ϑ

Abb. 1.2. Definition des Vektors r in den kartesischen Koordinaten x, y, z und in den sph¨ arischen Polarkoordinaten |r|, ϑ, ϕ

r

z

y x ϕ

x y

den der Masse m1 , zu legen. Dann kann jeder Vektor beschrieben werden durch seine Komponenten bez¨ uglich der Koodinatenachse, die Komponente ergibt sich durch die Projektion des Vektors auf die Achsen. F¨ ur den Abstand r und die Kraft F ergibt sich allgemein (siehe Abb. 1.2):  + y y + z z , r = xx  + Fy y + Fz z . F = Fx x

(1.6) (1.7)

F¨ ur die Komponenten gilt unter der Voraussetzung, dass F und r die entgegengesetzte Richtung besitzen: x = |r| sin ϑ cos ϕ , y = |r| sin ϑ sin ϕ , z = |r| cos ϑ ,

Fx = |F | sin (π − ϑ) cos (π + ϕ) , Fy = |F | sin (π − ϑ) sin (π + ϕ) , Fz = |F | cos (π − ϑ) .

Die Transformationen |F | → |F | ,

ϑ→π−ϑ ,

ϕ→π+ϕ ,

(1.8)

Fz → −Fz

(1.9)

bzw. in Komponenten ausgedr¨ uckt Fx → −Fx

,

Fy → −Fy

,

bezeichnet man als Spiegelung. Die Spiegelung spielt in der Physik eine besondere Rolle, wir werden darauf z.B. in den Kap. 2.1.1 und 18.1.3 noch zur¨ uckkommen. Eine weitere Vereinfachung l¨ asst sich in solchen F¨ allen durchf¨ uhren, in denen z.B. F nur von r abh¨ angt. Dann k¨ onnen wir die x. Das heißt in diesem Achse in die Richtung von r drehen und es gilt F = F x

1.3 Der Messprozess

13

speziellen Koordinatensystem besitzt F nur eine Komponente ungleich null, das Problem ist nur noch 1-dimensional. Trotzdem m¨ ussen in jedem Fall alle 3 Komponenten einer Vektor-Messgr¨ oße im Experiment bestimmt werden. Vektorielle Messgr¨ oßen erfordern die Angabe von 3 Messwerten und der Maßeinheit. Mithilfe der Komponenten l¨ asst sich auch der Betrag eines Vektors einfach berechnen:  √ |F | = Fx2 + Fy2 + Fz2 = F 2 , (1.10)  √ |r| = x2 + y 2 + z 2 = r2 . (1.11)

Wir haben die Kraft F und den Abstand r als Beispiele f¨ ur vektorielle Messgr¨ oßen gew¨ ahlt, so wie die Masse m und die Zeit t als Beispiele f¨ ur skalare Messgr¨ oßen gew¨ ahlt wurden. Es gibt in der Natur noch wesentlich mehr vektorielle wie auch skalare Messgr¨ oßen, die wir im Laufe der Kapitel kennenlernen werden. Es gibt sogar Messgr¨ oßen, die noch mehr als nur drei Messwerte ben¨ otigen, um sie eindeutig zu bestimmen. Diese sog. Tensor-Messgr¨ oßen werden wir allerdings nicht benutzen, was darauf hinausl¨auft, dass manche physikalische Probleme in diesem Lehrbuch vereinfacht behandelt werden. Anmerkung 1.3.1: Wir haben gelernt, dass das kartesische Koordinatensystem beliebig verschoben und gedreht werden kann, ohne dass sich dabei das physikalische Problem ver¨ andert. Diese Invarianzen gegen Translationen und Rotationen kommen uns zwar nat¨ urlich vor, sie sind aber von fundamentaler Bedeutung, denn sie sind eng verkn¨ upft mit der Existenz von Erhaltungsgesetzen in der Natur. Eines haben wir bereits kennengelernt: Die Erhaltung der Energie. Weitere Erhaltungsgesetze werden wir noch kennenlernen. Anmerkung 1.3.2: Die mathematische Behandlung von vektoriellen Messgr¨ oßen ist zwar nur ein mathematisches und kein physikalisches Problem, es sollen aber trotzdem die wichtigsten Regeln im Anhang 1 zusammengestellt werden. Zu diesen Regeln kommen sp¨ ater noch die Regeln der skalaren und vektoriellen Multiplikation von Vektoren. Im Anhang 4 finden sich die wichtigsten Beziehungen zwischen den harmonischen Funktionen sin ϕ und cos ϕ.

1.3.2 Der Messfehler Das Ergebnis einer einzelnen Messung besitzt immer einen Messfehler, der im besten Fall die durch h festgelegte untere Grenze erreicht. Im Allgemeinen sind die Messfehler jedoch wesentlich gr¨ oßer und durch die Messapparatur selbst bedingt.

14

1 Einf¨ uhrung

Wir unterscheiden zwei Arten von Messfehlern: • •

Systematische Fehler Statistische Fehler

Systematische Fehler entstehen z.B. durch eine fehlerhafte Messapparatur oder durch die falsche Eichung einer ansonsten fehlerfreien Apparatur. H¨aufig gelingt es, derartige Fehler durch Kontrollmessungen zu entdecken und die Fehlerquellen auszuschalten. Systematische Fehler k¨ onnen im Prinzip durch eine bessere Messapparatur reduziert oder sogar vermieden werden. Ist dies unm¨ oglich, z.B. wegen extensiver Kosten f¨ ur die Verbesserung, muss die Gr¨ oße der systematischen Fehler wenigstens abgesch¨atzt und die gesch¨atzte Gr¨ oße bei der Angabe des Messergebnisses mitangegeben werden. Statistische Fehler werden verursacht durch unkontrollierbare a¨ußere Einfl¨ usse auf die Messapparatur. Die Ursachen f¨ ur statistische Fehler sind unkontrollierbare ¨außere Einfl¨ usse. Sie machen sich dadurch bemerkbar, dass bei jeder Wiederholung einer Messung das Messergebnis etwas von den Ergebnissen fr¨ uherer Messungen abweicht. Die Messergebnisse schwanken um einen gewissen h¨aufigsten Wert. Das heißt, sie bilden eine Verteilung, die bei einer endlichen Anzahl von durchgef¨ uhrten Messungen diskret ist. In der Abb. 1.3 ist z.B. gezeigt, wie diese Messwertverteilung P (x) etwa aussieht, wenn man 1000-mal eine L¨ange x misst und diese Messungen nur statistische Schwankungen aufweisen. Die Verteilung P (x) gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass ein bestimmter Messwert x in dem Intervall xi < x ≤ xi+1 wirklich bei den Messungen aufgetreten ist. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung ist ungef¨ ahr symmetrisch um den Wert x, von dem wir sagen w¨ urden, er sei der wahre Messwert, wenn wir nur genauer h¨atten messen k¨ onnen. In der mathematischen Statistik wird diese Aussage quantifiziert: Eine Gr¨ oße x, die durch sehr viele ¨ außere Einfl¨ usse statistischen Schwankungen ausgesetzt ist, besitzt die Verteilung P (x) =

√1 2π σ

e−(x−x)

2

/(2 σ2 )

.

(1.12)

Diese Verteilung, die Normalverteilung oder Gauss-Verteilung genannt wird, ist im Gegensatz zu unserer Messwertverteilung kontinuierlich, denn f¨ ur die Mathematik ist es keine Schwierigkeit, unendlich viele Messungen durchzuf¨ uhren und so die Intervallbreite xi < x ≤ xi+1 gegen null gehen zu lassen. Da auch dies eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ist, muss gelten

1.3 Der Messprozess

15

100∗(Wahrscheinlichkeit P(x))

25

20 15 10 5 0

7

8

9 10 11 Messwert x

12

13

Abb. 1.3. Messwerthistogramm mit dar¨ ubergelegter Kurve der zugeh¨ origen GaussVerteilung. Die schraffierte Fl¨ ache zeigt die Intervallbreite dieser Messung, der Sch¨ atzwert f¨ ur der wahren Messwert betr¨ agt x = 10 +∞  P (x)dx = 1 ,

(1.13)

−∞

denn die Wahrscheinlichkeit, irgendeinen Wert zu messen, muss 1 sein. Das 1. Moment dieser Verteilung bezeichnet man als den wahren Wert, er ergibt sich zu +∞  x = x P (x)dx .

(1.14)

−∞

Der Verteilungsparameter σ 2 wird Varianz genannt, er ergibt sich aus dem 2. Moment der Verteilung   2 σ = x2 − x = 2

+∞  2 x2 P (x)dx − x .

−∞

(1.15)

√ Die Varianz oder besser die Standardabweichung σ = σ 2 ist offensichtlich ein Maß f¨ ur die Breite der Verteilung. Sie sagt aus, dass ungef¨ahr 68% aller

16

1 Einf¨ uhrung

Ergebnisse der Einzelmessungen in dem Intervall x ± σ liegen, 95% in dem Intervall x ± 2σ, und 99,7% in dem Intervall x ± 3σ. Die Normalverteilung kommt bei der Behandlung physikalischer Probleme sehr oft vor, sie wird uns z.B. wieder begegnen, wenn wir die Geschwindigkeitsverteilung von Atomen untersuchen, die oft und unkontrollierbar miteinander zusammenstoßen (Kap. 6.2.1). Diese Beziehungen f¨ ur den wahren Wert x und die Standardabweichung σ n¨ utzen uns nur wenig, da wir niemals unendlich viele Messungen durchf¨ uhren k¨onnen, sondern immer nur endlich viele, z.B. n Messungen. Diese bezeichnet man als Stichprobe {x1 , x2 , ..., xn } vom Umfang n. Mit Hilfe der Stichprobe k¨ onnen wir aber Sch¨ atzwerte f¨ ur den wahren Wert und die Standardabweichung angeben. Der Sch¨ atzwert f¨ ur den wahren Wert, genannt Messwert der Stichprobe, ist das arithmetische Mittel: x =

n 1  xi , n i=1

und als Sch¨ atzwert f¨ ur die Standardabweichung ergibt sich

n

1  2 σ= (xi − x) . n − 1 i=1

(1.16)

(1.17)

Der Sch¨ atzwert der Standardabweichung ist der Fehler, mit dem jede Einzelmessung behaftet ist. Der Messfehler ∆x der Stichprobe ist jedoch kleiner, da sich die Fehler der Einzelmessungen bei der Mittelwertbildung zum Teil kompensieren. F¨ ur den Messfehler ∆x bei einer Stichprobe vom Umfang n ergibt sich

n 

σ 1 2 ∆x = √ = (xi − x) . (1.18) n n(n − 1) i=1 Das bedeutet, man kann trotz einer großen Standardabweichung bei jeder Einzelmessung immer noch ein sehr genaues Messergebnis erzielen, wenn man die Messungen nur oft genug wiederholt. Beachten Sie aber, dass diese Verbesserung nur mit der Wurzel aus der Anzahl der Messungen zunimmt, d.h. um ein doppelt so gutes Messergebnis zu erzielen, muss man viermal l¨anger messen. Und Voraussetzung ist, dass der Messfehler tats¨achlich nur von statistischer Natur ist. F¨ ur eine beliebige Zustandsgr¨ oße wird das Messergebnis daher in der Form

1.3 Der Messprozess

ξ = (ξ ± ∆ξ) [ξ]

17

(1.19)

angegeben. Diese Angabe sagt aus, dass bei einer erneuten Stichprobe von gleichem Umfang n das Messergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von 68% in dem Intervall ξ ± ∆ξ liegt, mit 95% Wahrscheinlichkeit in dem Intervall ξ ± 2∆ξ, und mit 99,7% Wahrscheinlichkeit in dem Intervall ξ ± 3∆ξ. Unter Umst¨ anden muss zus¨ atzlich eine Absch¨ atzung des systematischen Fehlers gesondert angegeben werden. H¨ aufig wird aus den Messergebnissen mit Hilfe physikalischer Gesetze η = oße η berechnet. In diesem Fall f ({ξj }) der Wert einer nicht gemessen Gr¨ muss aus den Messfehlern der k Gr¨ oßen ξj (1 ≤ j ≤ k) auf die Genauigkeit geschlossen werden, mit welcher der Wert von η wirklich angegeben werden kann. Dies geschieht mit Hilfe des Gesetzes u ¨ber die Fehlerfortpflanzung:

k

 df 2 (1.20) ∆ξj2 . ∆η = dξ j j=1

Hierbei ist df die Ableitung der Funktion f ({ξj }) nach der Messgr¨oße ξj an dξj der Stelle ξj = ξj . Als Beispiel wollen wir den Bremsweg eines Autos betrachten, das von einer Anfangsgeschwindigkeit v0 = 100 km h−1 zur Ruhe abgebremst wird, wobei der Gleitreibungskoeffizient der R¨ ader mit dem Erdboden µg = 1 betr¨ agt. Die statistische Unsicherheit bei der Messung der Geschwindigkeit, die auch die Polizei ber¨ ucksichtigt, ist ±5 km h−1 , d.h. im SI ist die Anfangsgeschwindigkeit v0 = (28 ± 1,4) m s−1 . Wegen der unkontrollierbaren Straßenverh¨ altnisse kann der Gleitreibungskoeffizient nur mit einem Fehler angegeben werden: µg = 1 ± 0,1. Den Zusammenhang zwischen Bremsweg s, Geschwindigkeit v0 und Gleitreibungskoeffizient µg werden wir in Kap. 2.2.2 ableiten, er ergibt sich zu (siehe Gleichung (2.39)) s=

v02 , 2 µg g

(1.21)

wobei g = 9,81 m s−2 die Erdbeschleunigung ist. Mit Hilfe des Gesetzes der Fehlerfortpflanzung erhalten wir f¨ ur die Schwankung des Bremswegs: 

2 2

2 v0 v0 . (1.22) ∆v0 + ∆µ ∆s = g g µg 2 g µ2g Setzen wir die Werte ein, ergibt sich √ ∆s = 16 + 16 = 5,7 m,

(1.23)

d.h. das Ergebnis lautet s = (40 ± 5,7) m. In diesem einfachen Fall k¨onnten wir dies durch Messung des Bremswegs, also durch eine Kontrollmessung,

18

1 Einf¨ uhrung

nachpr¨ ufen. Ergibt die Kontrollmessung ein anderes Ergebnis, besitzt das Experiment entweder einen systematischen Fehler, oder die Beziehung (1.21) gilt nicht f¨ ur das Problem der Abbremsung eines Autos. Anmerkung 1.3.3: Da jedes Messergebnis einen Messfehler aufweist, ist die Angabe des Messwerts nur bis zu der Genauigkeit sinnvoll, die dem Messfehler entspricht. Zum Beispiel ist die Angabe x = (3,48561±0,56) m sinnlos, denn die letzten 5 Stellen des Messwerts besitzen keine Aussagekraft. Die Stellen, die Aussagekraft besitzen, bezeichnet man als signifikante Stellen, ihre Anzahl ist durch die im Experiment erreichte Genauigkeit gegeben. Zum Beispiel gilt f¨ ur das Planck’sche Wirkungsquantum h = (6,6260755 ± 0,0000040) · 10−34 kg m2 s−1 , d.h. die Naturkonstante h ist mit 6 signifikanten Stellen bekannt. Anmerkung 1.3.4: In der Literatur werden oft auch verwendet der • •

relative Fehler ∆ξ (ohne Einheit), ξ 100%. prozentuale Fehler ∆ξ ξ

Berechnen wir die relativen Fehler f¨ ur das oben behandelte Beispiel, so gilt ∆s = s

 

∆v0 2 v0

2

+



∆µg µg

2

=



0,01 + 0,01 = 0,141 ,

und dies stimmt mit dem Ergebnis (1.23) u ¨ berein, erfordert aber weniger Rechenaufwand.

2 Die Physik des Massenpunkts

Mit dem Massenpunkt wird eine Methode in die physikalische Behandlung von Problemen eingef¨ uhrt, die Physiker oft benutzen. Der Massenpunkt ist die idealisierte Vereinfachung eines K¨orpers, der zwar Masse m, aber kein Volumen V besitzt. Der Ersatz der tats¨ achlichen Zust¨ ande in der Natur durch ein ideales Modell geschieht, um das Problem zu vereinfachen. Ein K¨orper ohne Volumen kann n¨ amlich seine innere Struktur nicht ver¨ andern, da er keine innere Struktur besitzt. Er kann z.B. sein Volumen nicht ver¨ andern, und er kann sich auch nicht um eine k¨ orpereigene Achse drehen. Daher gilt: Jeder K¨ orper, der keine inneren Freiheitsgrade besitzt, kann als Massenpunkt behandelt werden. Die einzige Bewegung, die ein Massenpunkt ausf¨ uhren kann, ist die Translation, d.h. die Bewegung entlang einer Bahnkurve durch den Ortsraum. Zur Festlegung dieser Bewegung ben¨ otigen wir Ortsvektoren r(t), die sich stetig mit der Zeit t ver¨ andern. Es ist also notwendig, die Einheiten der folgenden Messgr¨ oßen zu definieren, da all diese Gr¨ oßen Basismessgr¨oßen im SI sind (siehe Tabelle 1.1): •

Die Einheit der Masse ist [m] = kg.

Das Kilogramm ist die Masse eines Platin-Iridium Zylinders, der im “Bureau International des Poids et Mesures” in Sevr`es bei Paris aufbewahrt wird. Die Genauigkeit dieser Definition h¨ angt von der G¨ ute der Massen-Messger¨ate (Waagen) ab und betr¨ agt etwa 6 signifikante Stellen. •

Die Einheit der Zeit ist [t] = s.

20

2 Die Physik des Massenpunkts

Die Sekunde ist die Zeitdauer von 9192631770 Schwingungsperioden des ¨ Lichts, das beim Ubergang zwischen den Hyperfeinniveaus des Grundzustands von 137 Cs emittiert wird. Die Genauigkeit dieser Definition wird durch die Messger¨ate zur Bestimmung der Lichtfrequenz bestimmt und betr¨ agt 9 signifikante Stellen. •

Die Einheit der L¨ ange ist [l] = m.

Das Meter ist die Wegl¨ ange, die das Licht im Vakuum im 299792458ten Teil einer Sekunde zur¨ ucklegt. Die Genauigkeit dieser Definition h¨ angt davon ab, wie pr¨azise die Vakuumlichtgeschwindigkeit gemessen werden kann, und betr¨agt 8 signifikante Stellen. Aus diesen Definitionen ergibt sich unmittelbar der mit hoher Pr¨azision gemessene Wert f¨ ur die Vakuumlichtgeschwindigkeit c = 299792458 m s−1 ≈ 3 · 108 m s−1 .

(2.1)

Die Vakuumlichtgeschwindigkeit ist eine Naturkonstante und die h¨ochste Geschwindigkeit, die ein Massenpunkt im Grenzfall erreichen kann.

2.1 Die Kinematik des Massenpunkts Die prinzipiell m¨ oglichen Zust¨ ande eines Massenpunkts, die wir jetzt behandeln wollen, sind: •

Die Ruhe

Die Trajektorie des ruhenden Massenpunkts ist r(t) = r e mit r = konst und fester Richtung e.

(2.2)

Obwohl es seltsam erscheint, auch die Ruhe stellt eine spezielle Form der Bewegung dar. •

Die Bewegung

Die Trajektorie des Massenpunkts ist in Abb. 2.1 dargestellt. Zur Zeit t zeigt der Ortsvektor r(t) auf einen Punkt der Trajektorie, zu einem etwas sp¨ateren Zeitpunkt lautet der Ortsvektor r(t + ∆t), d.h. er hat sich um ∆r = r(t + ∆t) − r(t) ver¨andert. Das Verh¨ altnis ∆r/∆t ist ein Maß f¨ ur die St¨arke der Ver¨anderung, die wir als Durchschnittsgeschwindigkeit bezeichnen: v =

r(t + ∆t) − r(t) ∆r = . ∆t ∆t

(2.3)

2.1 Die Kinematik des Massenpunkts

y

r(t)

21

Abb. 2.1. Darstellung der Bahnkurve (gestrichelt) eines Massenpunkts in der x-yEbene. Die Ortsvektoren zum Massenpunkt zu den Zeiten t und t + ∆t sind ebenfalls dargestellt, so wie die Ver¨ anderung des Ortsvektors ∆r

Bahnkurve ∆r

r(t+∆ t)

x

Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist abh¨angig von dem Zeitintervall ∆t. Jedoch ergibt sich f¨ ur v ein eindeutiger Vektor, wenn man ∆t gegen null gehen l¨asst: Seine Richtung ist die Tangentenrichtung an die Trajektorie im Punkt mit Ortsvektor r(t). Diese eindeutige Geschwindigkeit wird Momentangeschwindigkeit oder auch nur Geschwindigkeit genannt: v = lim

∆t→0

∆r r(t + ∆t) − r(t) = lim . ∆t→0 ∆t ∆t

In der Mathematik bezeichnet man den Grenz¨ ubergang ∆t → 0 als 1. Ableitung der Funktion r(t) nach t zur Zeit t.1 dr(t) . dt

v(t) =

Die Geschwindigkeit ist die erste Ableitung der Ort-Zeit-Funktion nach der Zeit v=

dr dt

,

[v] = m s−1 .

(2.4)

Die Funktion r(t), welche die Trajektorie beschreibt, ist eine Vektor-Funktion, d.h. sie besitzt in einem kartesischen Koordinatensystem die 3 Komponenten x(t) , y(t) , z(t). Und entsprechend wird auch die Geschwindigkeit durch eine Vektor-Funktion v(t) dargestellt mit den Komponenten vx (t) =

dx(t) dt

, vy (t) =

dy(t) dt

, vz (t) =

dz(t) . dt

(2.5)

Und f¨ ur die Geschwindigkeit gilt daher 1

Um die Abh¨ angigkeit einer Funktion f von einem speziellen Messwert ξ zu zeigen, verwenden wir oft, aber nicht immer, die Schreibweise f (ξ).

22

2 Die Physik des Massenpunkts

 + vy (t) y + vz (t) z . v(t) = vx (t) x

(2.6)

. r(t) = r(t) x

(2.7)

Wir wollen jetzt einige Beispiele betrachten, zun¨achst die geradlinige Bewegung. Geradlinig bedeutet, dass sich die Bewegungsrichtung mit der Zeit nicht ver¨andert. Das kartesische Koordinatensystem kann mit seinem Ursprung auf die Trajektorie verschoben werden, und die x-Achse kann in die Trajektorienrichtung gedreht werden. Dann lauten die Ortsvektoren zu jedem Ort auf der Trajektorie

Wir k¨ onnen zwei einfache F¨ alle unterscheiden: •

Ver¨ andert sich r(t) linear mit t, also gilt r(t) = v t, dann ist die Geschwindigkeit konstant: d r(t) = v . dt • Ver¨ andert sich r(t) quadratisch mit t, also gilt r(t) = b t2 , dann ver¨andert sich die Geschwindigkeit linear mit t: d r(t) = v(t) = a t mit a = 2b . dt Eine Bewegung, bei der die Geschwindigkeit selbst eine Funktion der Zeit ist, nennen wir beschleunigte Bewegung. In dem speziellen Fall, den wir hier betrachten, ist die Bewegung geradlinig beschleunigt. Die Beschleunigung ist die erste Ableitung der Geschwindigkeit-ZeitFunktion nach der Zeit a=

dv dt

, [a] = m s−2 ,

(2.8)

und die 2. Ableitung der Ort-Zeit-Funktion nach der Zeit a=

d2 r . dt2

(2.9)

Die Beziehung (2.9) f¨ ur die Definition der Beschleunigung a ist ¨aquivalent zu der Beziehung (2.8), denn die Geschwindigkeit selbst ist die 1. Ableitung der Ort-Zeit-Funktion nach der Zeit. In der Komponentenschreibweise lauten diese Definitionen d2 x(t) dvx (t) , = 2 dt dt d2 y(t) dvy (t) ay = , = dt2 dt dvz (t) d2 z(t) az = . = 2 dt dt

ax =

(2.10)

2.1 Die Kinematik des Massenpunkts

23

Bei der Angabe der Komponenten von a fehlt der Hinweis auf eine m¨ogliche Zeitabh¨ angigkeit, und dies ist mit Absicht so geschehen. Wir werden n¨amlich nur gleichf¨ ormig beschleunigte Bewegungen betrachten, bei denen die Beschleunigung sich in der Gr¨ oße und in der Richtung zeitlich nicht ver¨andert. Spielt dieser Spezialfall in der Natur eine Rolle? Ja, denn die Gravitationskraft zwischen der Erde und einem Massenpunkt m auf der Erdoberfl¨ ache ist in guter N¨ aherung konstant, da die Erde (fast) eine Kugel mit dem Radius r⊕ = 6,375 · 106 m ist. Die Masse der Erde betr¨agt agt der Wert der Gravitationskonstanten m⊕ = 5,977 · 1024 kg, im SI betr¨ Γ = 6,674 · 10−11 m3 kg−1 s−2 . Daher ergibt sich die Gravitationskraft zu m⊕    2 m r = −g m r = −G r . r⊕

F G = −Γ

(2.11)

G = m g wird als Gewicht der Masse m bezeichnet, g ist die (fast) konstante Erdbeschleunigung, die einen Wert g=Γ

m⊕ −2 2 = 9,81 m s r⊕

(2.12)

besitzt. Eine Masse m, die zur Zeit t = t0 aus der H¨ohe h auf den Erdboden f¨ allt, erf¨ ahrt genau diese Erdbeschleunigung, wenn h ≪ r⊕ gilt. Kann man aus dieser Tatsache die Trajektorie der frei fallenden Masse bestimmen? Bisher haben wir mit Hilfe der bekannten Trajektorie r(t) durch ein- bzw. zweifache Differentiation die Geschwindigkeit v(t) und die Beschleunigung a berechnet. Jetzt muss dieser Rechengang in umgekehrter Richtung durchlaufen werden. Die Umkehrung der Differentiation ist die Integration. Außerdem vereinfachen wir das Problem durch Drehung der y-Achse in die Richtung r. Dann gilt a = a r = −g y, und wir erhalten vy (t) =

t

t0

a dt = a (t − t0 ) = a t + vy,0 .

(2.13)

vy,0 wird als Integrationskonstante bezeichnet. In unserem Beispiel ist vy,0 die Anfangsgeschwindigkeit zur Zeit t = t0 , also vy,0 = 0. Ebenso erhalten wir y(t) =

t

t0

vy dt =

t

t0

a t dt =

1 1 a (t2 − t20 ) = a t2 + y0 . 2 2

(2.14)

y0 ist wiederum die Integrationskonstante, also der Anfangsort der Masse zur Zeit t = t0 , d.h y0 = h. Setzen wir a = −g, so folgt f¨ ur die Trajektorie der frei fallenden Masse m: y(t) = h −

1 2 gt . 2

24

2 Die Physik des Massenpunkts

Die Ort-Zeit-Funktion ver¨ andert sich beim freien Fall quadratisch mit der Zeit. Diese Beispiele sind sehr einfach, denn durch geschickte Ausrichtung des Koordinatensystems haben wir ein 1-dimensionales Problem erhalten. L¨asst sich ein Problem so nicht vereinfachen, ergeben sich bei der Berechnung der Trajektorie trotzdem keine neuen Schwierigkeiten, denn es gilt das Superpositionsprinzip der Kinematik: Die Bewegung eines Massenpunkts auf einer beliebigen Trajektorie l¨asst sich immer zerlegen in die voneinander unabh¨ angigen Bewegungen l¨angs der 3 Achsen eines kartesischen Koordinatensystems. Das bedeutet, wir errechnen die Gesamttrajektorie aus den Trajektorien l¨angs der Koordinatenachsen. Also 1 (2.15) r(t) = a t2 + v 0 t + r 0 . 2 Wir wollen das an Hand eines Beispiels untersuchen. •

Der schiefe Wurf

Der schiefe Wurf ist die beliebige Bewegung eines Massenpunkts unter dem Einfluss der Erdbeschleunigung. Man kann sich leicht klarmachen, dass diese Bewegung immer in einer Ebene stattfinden muss, die senkrecht zur Erdoberfl¨ ache gerichtet ist. Von der Erdoberfl¨ ache wollen wir annehmen, dass sie f¨ ur das Problem des schiefen Wurfs als eben angenommen werden kann. Dann l¨ asst sich die Wurfebene durch die x- und y-Achsen eines Koordinatensystems beschreiben, wobei die y-Achse, wie im letzten Beispiel, senkrecht auf der Erdoberfl¨ ache steht. Wir kennen also die Beschleunigungskomponenten ax = 0 , ay = −g . Daraus ergeben sich f¨ ur die Trajektorien l¨ angs der x- und y-Achsen 1 (2.16) x = vx,0 t + x0 , y = − g t2 + vy,0 t + y0 . 2 Diese beiden Gleichungen sind in der Tat alles, was wir wissen m¨ ussen, um den schiefen Wurf vollst¨ andig zu beschreiben. Bekannt sein m¨ ussen allerdings die Integrationskonstanten vx,0 , vy,0 , x0 , y0 , die auch Anfangsbedingungen genannt werden. Wir wollen als besondere Anfangsbedingungen w¨ahlen x0 = y0 = 0 , d.h. der Wurf beginnt an der Erdoberfl¨ache (siehe Abb. 2.2). Dann l¨ asst sich sehr einfach die Zeit in den beiden Gleichung (2.16) eliminieren, und wir erhalten als Bahnkurve in der x-y-Ebene vy,0 g 2 x− y(x) = 2 x vx,0 2 vx,0 g = (tan ϕ0 ) x − x2 2 2 v0 cos2 ϕ0 vy,0 vx,0 , sin ϕ0 = . mit cos ϕ0 = |v0 | |v 0 |

2.1 Die Kinematik des Massenpunkts

25

y Bahnkurve

v0 ϕ0 .. Erdoberflache

x

Abb. 2.2. Die Bahnkurve (gestrichelt) des schiefen Wurfs. Die Anfangswerte sind x0 = y0 = 0 und vx,0 , vy,0 , aus denen sich v 0 und tan ϕ0 berechnen lassen

Diese Bahnkurve beschreibt eine Parabel, die Wurfparabel. Ihr Scheitelpunkt ergibt sich aus der Maximumsbedingung (siehe Anhang 4) dy(x) =0 dx v 2 sin 2 ϕ0 vx,0 vy,0 = 0 → xmax = g 2g 2 2 2 vx,0 v cos ϕ0 = 0 . → ymax = 2g 2g Die Wurfparabel ist symmetrisch zum Scheitelpunkt xmax , und daraus ergibt sich als Reichweite des Wurfs R = 2 xmax =

v02 sin 2ϕ0 . g

ur 2 ϕ0 = π/2, also ϕ0 = Die Funktion sin 2ϕ0 erreicht ihren gr¨oßten Wert f¨ π/4. Das heißt, wird der Wurf von der Erdoberfl¨ache unter einem Winkel von 45◦ gestartet, erreicht der Wurf die gr¨oßte Reichweite Rmax und eine H¨ohe hmax mit den Werten Rmax =

v02 g

, hmax =

v02 . 4g

2.1.1 Die gleichf¨ ormige Kreisbewegung Im Gegensatz zur Gleichung (2.2) erfolgt die Kreisbewegung eines Massenpunkts auf der Trajektorie r(t) = r e(t) mit r = konst,

(2.17)

26

2 Die Physik des Massenpunkts

d.h. die Richtung e(t) ver¨ andert sich mit der Zeit. Diese Ver¨anderung besitzt wegen r = konst einen Mittelpunkt, den Kreismittelpunkt O, und sie definiert eine Ebene, die Kreisebene. Den Ursprung des kartesischen Koordinatensystems legen wir in O, in der Ebene befinden sich die x- und y-Achsen des Koordinatensystems. Dann lautet die Komponentenschreibweise der Richtung e(t):  + (sin ϕ(t)) y . e(t) = (cos ϕ(t)) x

(2.18)

Die Bewegung auf dem Kreis ist gleichf¨ ormig, wenn die Ver¨anderung von ϕ(t) gleichf¨ ormig ist, d.h. wenn gilt ϕ(t) = ω t ,

[ω] = s−1 .

(2.19)

Dabei ist ϕ(t) der Kreiswinkel und ω die konstante Winkelgeschwindigkeit. Um den Kreiswinkel zu messen, kennen wir zwei Verfahren: Das Winkelmaß und das Bogenmaß (siehe Abb. 2.3). ◦



Das Winkelmaß ϕ , [ϕ] =



Das Bogenmaß ϕ , [ϕ] = Rad “Radiant”.

“Winkelgrad”.

Definition: ϕ = 1◦ entspricht dem 360sten Teil des Vollkreises.

Definition: ϕ = (Bogenl¨ ange auf dem Kreis)/(Radius des Kreises) = s/r. Aus diesen Definitionen wird klar, dass die Einheiten ◦ bzw. Rad nicht wirklich Einheiten sind, denn das Verh¨ altnis ist in beiden F¨allen einheitenlos. Vielmehr dienen sie zur Unterscheidung, welches der beiden Verfahren zur Winkelmessung benutzt wurde. Wir werden den Winkel meistens im Bogenmaß angeben und die Kennzeichnung Rad dann fortlassen. Nur wenn wir das Winkelmaß benutzen, werden wir die Kennzeichnung ◦ verwenden. Wichtig ist auch, von welchem Punkt ab und in welche Richtung der Winkel ϕ zu messen ist. Definitionsgem¨ aß wird der Winkel von der x-Achse

y r

s ϕ

x Abb. 2.3. Definition des Winkels ϕ in Einheiten des Bogenmaßes durch ϕ = s/r, wobei r der Radius eines Kreises ist und s die Bogenl¨ ange auf dem Kreis. Beachten Sie die Richtung x → y, in der ϕ zunimmt

2.1 Die Kinematik des Massenpunkts

27

in Richtung zur y-Achse gemessen. Damit hat es den Anschein, als ob die gleichf¨ ormige Kreisbewegung auf ein 2-dimensionales Problem reduziert werden kann, wie der schiefe Wurf. Das ist jedoch nicht der Fall, denn die x-yEbene kann im Raum eine beliebige Orientierung besitzen. Zur Kennzeichnung der Orientierung benutzen wir die z-Achse, die senkrecht auf der x-y-Ebene steht. Dabei entsteht folgendes Problem: Eine Ebene besitzt 2 Seiten, eine Ober- und eine Unterseite. Auf welcher Seite soll die z-Achse stehen? Diese Frage wird mit Hilfe des Vektor-Produkts (siehe Anhang 3) eindeutig beantwortet. Und zwar muss die z-Achse auf der Seite stehen, sodass gilt  = y × z , y = z × x  , z = x  × y . x

(2.20)

Jede dieser Gleichungen beschreibt den gleichen Sachverhalt, n¨amlich dass die  , y , z die Achsen eines rechtsh¨ Richtungen x andigen kartesischen Koor die dinatesystems definieren. Diese Bezeichnung ist so zu verstehen, dass x Richtung des Daumens, y die Richtung des Zeigefingers, und z die Richtung des Mittelfingers hat, wenn man diese Finger der rechten Hand rechtwinklig spreizt. Gleichzeitig beschreibt die Kr¨ ummung der rechten Hand die Richtung, in der sich ϕ(t) ver¨ andert, wenn der Daumen in die Richtung z zeigt. Eine Spiegelung x → −x , y → −y , z → −z macht aus einem rechtsh¨ andigen Koordinatensystem ein linksh¨ andiges Koordinatensystem:

Das bedeutet

 . − x = (−y) × (− z ) = y × z = −( z × y)  = z × y , y = x  × z , z = y × x  x

sind die Definitionsgleichungen f¨ ur ein linksh¨ andiges Koordinatensystem. Ein derartiges Koordinatensystem werden wir nie benutzen. Nach diesen Vorbemerkungen sind wir jetzt in der Lage, die Trajektorie der gleichf¨ ormigen Kreibewegung zu untersuchen. In Komponentenschreibweise lautet sie x(t) = r cos ωt , y(t) = r sin ωt .

(2.21)

Die Bahngeschwindigkeit auf dem Kreis erhalten wir durch die 1. Ableitung der Ort-Zeit-Funktion nach der Zeit (beachten Sie Anhang 4) vx (t) = −r ω sin ωt = r ω cos (ωt + π/2) ,

(2.22)

vy (t) = r ω cos ωt = r ω sin (ωt + π/2) .

Vergleichen wir diese Komponenten von v(t) mit den Komponenten von r(t),  um den Winkel π/2, d.h. 90◦ , zur Richso erkennen wir, dass die Richtung v  steht sowohl senkrecht auf e wie auch tung e gedreht ist. Das bedeutet, v senkrecht auf z (siehe Abb. 2.4). Die Gleichung (2.22) in Verbindung mit

28

2 Die Physik des Massenpunkts Abb. 2.4. Definition der Winkelgeschwindigkeit ω (in Richtung der z-Achse) und der dazu geh¨ orenden Bahngeschwindigkeit v = ω × r auf einem Kreis

z ω e

v r

Gleichung (2.20) ist daher so zu interpretieren, dass f¨ ur die Bahngeschwindigkeit auf dem Kreis gilt v(t) = r ω ( z × e(t)) = (ω z) × (r e(t)) = ω × r(t) .

(2.23)

Also auch die Winkelgeschwindigkeit ist ein Vektor ω = ω z, d.h. seine Richtung zeigt in Richtung z eines rechth¨ andigen Koordinatensystems. Ihre Komponente ergibt sich aus der Zeit T , die ben¨ otigt wird, um den Kreis einmal zu durchlaufen, ω=

2π v = > 0. r T

(2.24)

Da auch die Komponente r von r(t) immer positiv ist, muss auch die Komponente v von v(t) immer positiv sein, d.h. es gilt f¨ ur eine Kreisbewegung: r > 0 , v > 0.

(2.25)

Schließlich berechnen wir jetzt die Bahnbeschleunigung durch die 1. Ableitung der Geschwindigkeit-Zeit-Funktion nach der Zeit und erhalten ax (t) = −r ω 2 cos ωt , ay (t) = −r ω 2 sin ωt , d.h. die Bahnbeschleunigung lautet wegen e = r a(t) = −r ω 2 r = −

v2 r . r

(2.26)

(2.27)

Der Beschleunigungsvektor ist also immer entgegengesetzt gerichtet zu der Richtung r; man nennt diesen Vektor die Zentripetalbeschleunigung aZP . In Bezug auf die so definierte Richtung lautet seine Komponente aZP = −r ω 2 = −

v2 . r

(2.28)

2.1 Die Kinematik des Massenpunkts

29

Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass die Zentripetalbeschleunigung immer existieren muss, wenn sich ein K¨ orper auf einer Kreisbahn bewegen soll. F¨ ur die Bewegung auf einer Kreisbahn muss eine Zentripetalbeschleunigung aZP = −r ω 2 r existieren, die immer auf den Kreismittelpunkt gerichtet ist. Es gibt mehrere Methoden, die Zentripetalbeschleunigung zu erzeugen, denn Kreisbewegungen treten h¨ aufig in der Natur auf, z.B. bei der Bewegung des ¨ Monds um die Erde, oder wenn ein Auto um die Kurve f¨ahrt. Uber diese Methoden werden wir in den folgenden Kapiteln einiges erfahren. 2.1.2 Die beschleunigte Kreisbewegung Bei der gleichf¨ ormigen Kreisbewegung wirkt nur eine Beschleunigung, die immer auf den Kreismittelpunkt gerichtet ist: Die Zentripetalbeschleunigung aZP . Es kann aber auch geschehen, dass ein Massenpunkt zus¨atzlich auf seiner Kreisbahn beschleunigt wird. Diese tangentiale Beschleunigung muss dann von der Form at = r

d2 ϕ  v dt2

(2.29)

sein, wobei d2 ϕ/dt2 sowohl positiv wie auch negativ sein kann. In Kap. 2.2.4 werden wir ein Beispiel daf¨ ur kennenlernen. Anmerkung 2.1.1: Zwischen dem Winkel, gemessen im Winkelmaß, und dem Winkel im Bogenmaß gibt es nat¨ urlich eine Umrechnungsformel. Sie lautet 1◦ =

2π = 0,0175 Rad . 360

¨ Wenn wir unserer Schreibkonvention folgen, ergeben sich daraus folgende Aquivalenzen: π , 4 π ◦ , 90 = 2 ◦ 180 = π . 45◦ =

Anmerkung 2.1.2: Die Unterscheidung zwischen rechtsh¨ andigem und linksh¨ andigem Koordinatensystem ist auch in der Natur von einiger Bedeutung. Zum Beispiel gibt es eine rechtsdrehende und eine linksdrehende Milchs¨ aure. Physikalisch werden diese unterschieden durch die Ausrichtung von z : Bei der rechtsdrehenden Milchs¨ aure zeigt z in Blickrichtung, bei der linksdrehenden Milchs¨ aure ist z entgegengesetzt gerichtet zur Blickrichtung. In beiden F¨ allen wird aber immer ein rechtsh¨ andiges Koordinatensystem benutzt.

30

2 Die Physik des Massenpunkts

Anmerkung 2.1.3: Bei einer Spiegelung wird aus einem rechtsh¨ andigen ein linksh¨ andiges Koordinatensystem. Viele Vektoren, wie z.B. r oder v, wechseln dabei ihr Vorzeichen: r → −r ,

v → −v . Solche Vektoren nennt man polare Vektoren. F¨ ur andere Vektoren, die neben Betrag und Richtung auch eine Drehrichtung enthalten, gilt dies aber nicht, z.B. f¨ ur die Winkelgeschwindigkeit ω: ω → ω bei Spiegelung. Diese Vektoren werden definiert durch ein Vektor-Produkt aus polaren Vektoren, wie z.B. (beachten Sie Gleichung (2.20)) ω (r × v) . rv

ω=

Man nennt derartige Vektoren axiale Vektoren. Physikalische Gesetze, die vektorielle Messgr¨ oßen enthalten, m¨ ussen auf ihrer linken und rechten Seite das gleiche Verhalten gegen Spiegelungen aufweisen. Das bedeutet, sie besitzen auf den beiden Seiten entweder einen polaren Vektor oder einen axialen Vektor, siehe z.B. Gleichung (3.18).

2.2 Die Dynamik des Massenpunkts Aus Kap. 1 wissen wir, dass Zustands¨ anderungen durch Kr¨afte F bewirkt werden. Eine Bewegungs¨ anderung wird immer charakterisiert durch die Beschleunigung a. Es gilt daher, einen Zusammenhang zwischen F und a zu finden. 2.2.1 Die Newton’schen Axiome Der einfachste Zusammenhang w¨ are F ∝a,

(2.30)

und dies ist in der Tat richtig, wie zuerst von Newton erkannt wurde. Die Proportionalit¨ at (2.30) ist so zu verstehen, dass sich ein Massenpunkt jeder Bewegungs¨ anderung widersetzt, die nur durch eine Kraft u ¨ berwunden werden kann. Diese Eigenschaft einer Masse bezeichnet man als ihre Tr¨agheit. Die St¨ arke der Tr¨ agheit ist offensichtlich durch die Proportionalit¨atskonstante gegeben, und Newton nannte die Proportionalit¨ atskonstante “tr¨ age Masse” mTr . Der exakte Zusammenhang zwischen Kraft und Beschleunigung lautet daher F = mTr a .

(2.31)

2.2 Die Dynamik des Massenpunkts

31

Hier taucht zun¨ achst eine neue Masse mTr auf, die im Prinzip verschieden von der schweren Masse m sein kann, die die Ursache f¨ ur die Gravitationskraft ist. Ob beide Massen verschieden oder gleich sind, muss durch das Experiment entschieden werden. Ist die Gleichung (2.31) richtig, dann muss f¨ ur den freien Fall eines Massenpunkts nach Gleichung (2.11) gelten mTr a = −m g r .

Eine Messung des Verh¨ altnisses a/g sollte den Wert f¨ ur das Massenverh¨altnis m/mTr liefern. Alle bisherigen Experimente haben ergeben a/g = 1, woraus folgt m/mTr = 1, und daher gilt: Das Ergebnis aller bisherigen Gravitationsexperimente ist die Gleichheit von tr¨ager und schwerer Masse mit einem relativen Fehler von 10−10 : mTr = m . Wir k¨ onnen jetzt die 3 Newton’schen Axiome angeben, die die Grundlage f¨ ur die Dynamik von K¨ orpern unter dem Einfluss von Kr¨aften bilden. Sie werden als Axiome bezeichnet, weil sie sich zur Zeit ihrer Formulierung nicht auf noch fundamentalere Prinzipien zur¨ uckf¨ uhren und sich daher nur experimentell verifizieren ließen. Axiom 1: Ein K¨ orper bewegt sich geradlinig gleichf¨ormig, wenn keine a¨ußeren Kr¨ afte auf ihn wirken. Axiom 2: Die Bewegungs¨ anderung eines K¨orpers wird durch a¨ußere Kr¨ afte bewirkt und ist diesen proportional: F = ma

, [F ] = kg m s−2 = N

“Newton”

(2)

Axiom 3: Die Kraft F 1 , die der K¨ orper 2 auf den K¨orper 1 aus¨ ubt, ist (1) gleich, aber entgegengesetzt gerichtet zu der Kraft F 2 , die der K¨orper 1 auf den K¨ orper 2 aus¨ ubt: (2)

(1)

F 1 = −F 2 . In diesem Lehrbuch bezeichnet der obere Index in Klammern das System, auf (2) das sich die physikalische Messgr¨ oße bezieht. F 1 ist daher die Kraft, welche die im System (2) ruhende Masse auf die Masse 1 aus¨ ubt. Ist das System nicht durch den oberen Index spezifiziert, wird automatisch das System zugrunde gelegt, in dem der Beobachter (Experimentator) ruht. Das 1. Newton’sche Axiom wird auch als Relativit¨ atsprinzip bezeichnet, denn es impliziert, dass alle Systeme, die sich geradlinig gleichf¨ormig zueinander bewegen, ¨ aquivalent sind. Denn die Massenpunkte in diesen Systemen unterliegen keinen ¨ außeren Kr¨ aften, sondern nur den inneren Kr¨aften

32

2 Die Physik des Massenpunkts

zwischen ihnen. Daher gelten in allen derartigen Systemen die gleichen physikalischen Gesetze, die den Zusammenhang zwischen inneren Kr¨aften und Zustands¨ anderungen beschreiben. Auf die Bedeutung solcher Systeme, die man auch Inertialsysteme nennt, kommen wir sp¨ ater noch zur¨ uck. Und weiterhin: Ein System, auf das keine ¨ außeren Kr¨ afte oder Drehmomente (siehe Kap. 3.2) wirken, nennt man ein abgeschlossenes System. Auf der anderen Seite ist ein System, auf das ¨außere Kr¨afte wirken, beschleunigt und unterscheidet sich deswegen von allen Inertialsystemen. In einem beschleunigten System wirken zus¨ atzlich zu den inneren Kr¨aften noch weitere ¨ außere Kr¨afte auf die Massenpunkte, die Tr¨agheitskr¨afte genannt werden. Dabei ist f¨ ur die Existenz von Tr¨ agheitskr¨aften allein notwendig, dass das System beschleunigt ist, d.h. die Natur der Tr¨agheitskr¨afte spielt keine Rolle. Die Tr¨ agheitskr¨ afte F Tr werden allein definiert durch das 2. und 3. Newton’sche Axiom F Tr = −m a ,

(2.32)

wobei a die Beschleunigung des Systems ist. Die Tr¨agheitskr¨afte behandeln wir in Kap. 2.2.3 2.2.2 Die abgeleiteten Kr¨ afte Wir kennen die 4 fundamentalen Kr¨ afte, aber diese Kr¨afte scheinen, abgesehen von der Gravitationskraft, nur wenig mit unserem t¨aglichen Leben zu tun zu haben, das bestimmt wird durch Kr¨ afte wie die Muskelkraft, die Motorkraft, die Reibungskraft und andere. Diese Kr¨ afte bezeichnen wir als abgeleitete Kr¨ afte, denn sie sind im Prinzip alle nur verschiedene Erscheinungsformen einer fundamentalen Kraft, der elektrischen Kraft. Es gibt einige F¨alle, wo sich die abgeleiteten Kr¨ afte durch sehr einfache physikalische Beziehungen beschreiben lassen, und mit zwei F¨ allen wollen wir uns jetzt besch¨aftigen. •

Die elastische Kraft

Wir kennen das: Wollen wir eine Feder auseinanderziehen, so m¨ ussen wir dazu eine Kraft aufbringen, und die Kraft muss umso st¨arker sein, je weiter wir die Feder auseinanderziehen. Die Kraft der Feder F wirkt also der Kraft, die die Auslenkung x aus der Ruhelage der Feder bewirkt, entgegen F = −D x .

(2.33)

D wird Federkonstante genannt, sie besitzt die Einheit [D] = N m−1 . Die Gleichung (2.33) heißt Hooke’sches Gesetz. Jede Kraft, die die Eigenschaft F ∝ −x besitzt, wird als elastische oder harmonische Kraft bezeichnet. In Kap. 2.2.4 werden wir uns mit der Bewegung befassen, die ein Massenpunkt ausf¨ uhrt, auf den eine elastische Kraft wirkt.

2.2 Die Dynamik des Massenpunkts



33

Die Reibungskraft

Auch diese Kraft ist uns aus dem t¨ aglichen Leben wohl bekannt: Versuchen wir, einen Koffer u ¨ ber den Boden zu schleifen, ben¨otigen wir zun¨achst eine Kraft, um ihn u ¨berhaupt in Bewegung zu versetzen, und dann eine Kraft, um ihn in Bewegung zu halten. Die Ursache f¨ ur diese Kraft, die Reibungskraft F R , ist offensichtlich, sie besteht in der Kontaktfl¨ache zwischen dem Koffer und dem Erdboden. Und zwar haben wir aus Erfahrung auch gelernt, dass die Reibungskraft umso gr¨ oßer ist, je gr¨ oßer das Gewicht G = m g des Koffers ist. Verallgemeinern wir diese Beobachtungen, so hat die Reibungskraft folgende Eigenschaften: arke der Normalkraft, die zwischen zwei (1) Sie ist proportional zu Fn , der St¨ sich ber¨ uhrenden Oberfl¨ achen wirkt.  parallel (2) Sie wirkt immer entgegengesetzt zu der Bewegung in Richtung x zu den Oberfl¨ achen. Das bedeutet, f¨ ur die Reibungskraft ergibt sich folgende Proportionalit¨at . F R ∝ −Fn x

Dies ist zun¨ achst nur eine Proportionalit¨ at, die Proportionalit¨atskonstante h¨ angt entscheidend von der Oberfl¨ achenbeschaffenheit ab und davon, ob der K¨ orper noch ruht (Haftreibungskoeffizient µh ) oder ob er sich schon bewegt (Gleitreibungskoeffizient µg ). Wir folgern daher: Zwischen der Kontaktfl¨ ache von zwei sich ber¨ uhrenden K¨orpern wirken Kr¨ afte, und zwar die . Haftreibung: F R,h = −µh Fn x . Gleitreibung: F R,g = −µg Fn x

(2.34) (2.35)

Dabei gilt immer µg < µh .

Man muss also mindestens die Kraft F ≥ F R,h aufbringen, um einen K¨orper in Bewegung zu setzen, und die Kraft F = F R,g ist notwendig, um ihn in Bewegung zu halten. Beachten Sie den Unterschied zwischen elastischer Kraft und Reibungkraft bez¨ uglich ihrer x-Abh¨ angigkeiten: Die elastische Kraft ist , die Reibungkraft ist konstant und besitzt proportional zur Auslenkung −x x die Richtung − x. Wir wollen die Wirkung der Reibungskr¨afte an Hand von 3 Beispielen untersuchen. (1) Ein K¨ orper auf der schiefen Ebene Diese Situation ist in Abb. 2.5 dargestellt. Die x-Achse steht senkrecht auf der schiefen Ebene, die y-Achse liegt parallel zu ihr. Neben der Reibungskraft orper die Gravitationskraft F G = G e mit den F R,h = −Fx y wirkt auf den K¨ Komponenten

34

2 Die Physik des Massenpunkts

Fy

Abb. 2.5. Ein Klotz auf einer schiefen Ebene, die einen Neigungswinkel ϕ gegen die Horizontale hat. Die Gewichtsasst sich zerlegen in die norkraft F G l¨ male Komponente Fn = Fx = FG cos ϕ, und in die tangentiale Komponente Ft = Fy = FG sin ϕ

Fx

y

x ϕ

FG Fx = G cos ϕ

und

Fy = G sin ϕ .

(2.36)

Der K¨ orper wird vom Ruhe- in den Gleitzustand u ¨ bergehen, wenn Fy +FR,h = 0, d.h. G sin ϕ = µh G cos ϕ . Daraus ergibt sich der B¨ oschungswinkel zu ϕ = atan µh . Da µh im Prinzip alle Werte zwischen 0 und ∞ annehmen kann, liegt der B¨oschungswinkel zwischen 0◦ und 90◦ . (2) Das Auto in einer Kurve Damit ein Auto eine kreisf¨ ormige Kurve mit Radius r durchfahren kann, muss eine Zentripetalkraft F ZP = m aZP = −m

v2 r r

vorhanden sein. Diese kann nur durch die Haftreibung der Autoreifen mit dem Erdboden F R,h = −µh g m r erzeugt werden. Daher ist die maximale Geschwindigkeit, mit der das Auto die Kurve durchfahren kann, gegeben durch m

v2 = µh g m r



v=

√ µh g r .

Die Kurvengeschwindigkeit ist also unabh¨ angig von der Masse des Autos, wohl aber abh¨ angig von dem Haftreibungskoeffizienten µh : Je kleiner der Kurvenradius r ist, umso gr¨ oßer muss µh sein. (3) Der Bremsweg eines Autos Da der Betrag der Gleitreibung |FR,g | = µg G konstant ist, ist das Problem der Abbremsung eines Autos ¨ aquivalent zu dem des freien Falls, Gleichung (2.15). Wir erhalten f¨ ur die Geschwindigkeit-Zeit-Funktion des Autos v = v0 − µg g t.

2.2 Die Dynamik des Massenpunkts

35

Die Abbremszeit, das ist die Zeit, die das Auto ben¨otigt, um von der Anfangsgeschwindigkeit v0 in den Ruhezustand v = 0 zu gelangen, ergibt sich zu v0 . (2.37) t= µg g F¨ ur die Ort-Zeit-Funktion des Autos mit Anfangsort s0 = 0 gilt s = v0 t −

1 µg g t2 . 2

(2.38)

Setzen wir in diese Gleichung die Abbremszeit (2.37) ein, erhalten wir als Bremsweg s=

v02 v02 v02 − = . µg g 2 µg g 2 µg g

(2.39)

Der Bremsweg steigt also quadratisch mit der Anfangsgeschwindigkeit. Anmerkung 2.2.1: Harmonische Kr¨ afte sind deswegen von so großer Bedeutung, weil sie in sehr guter N¨ aherung das dynamische Verhalten von Massenpunkten beschreiben, die aus ihrer Ruhelage ausgelenkt werden. In einem sehr komplizierten Fall ist das z.B. die Auslenkung eines einzelnen Atoms in der gebundenen Struktur sehr vieler Atome. Im Kap. 4.1 werden wir uns damit befassen. Anmerkung 2.2.2: Die Eigenschaften der Reibungskr¨ afte werden bestimmt durch die Kontaktfl¨ ache, die deswegen auch vorhanden sein muss. Nur starre K¨ orper besitzen feste Oberf¨ achen, nicht aber Fl¨ ussigkeiten oder Gase. Trotzdem treten auch dort Reibungskr¨ afte auf, die allerdings anders beschrieben werden m¨ ussen, da die Kontaktfl¨ ache fehlt. Als Folge werden die Reibungskr¨ afte in Fl¨ ussigkeiten und Gasen abh¨ angig von der Str¨ omungsgeschwindigkeit, siehe Kap. 5.2.2.

2.2.3 Die Tr¨ agheitskr¨ afte Tr¨ agheitskr¨ afte auf einen Massenpunkt wirken immer, wenn das System, in dem der Massenpunkt anf¨ anglich ruhte (ein derartiges Inertialsystem existiert immer), beschleunigt wird. Ist a die Beschleunigung, dann betr¨agt die Tr¨ agheitskraft auf m F Tr = −m a .

(2.40)

Wir wollen zwei F¨ alle betrachten. (1) Lineare Beschleunigung a Dieser Fall tritt auf, wenn das System unter dem Einfluss der Erdbeschleunigung g frei f¨ allt. Die Folge ist, dass frei fallende K¨orper kein Gewicht ber wird kompensiert durch die sitzten, denn die Gravitationskraft F G = −G

36

2 Die Physik des Massenpunkts

Tr¨ agheitskraft F Tr = G r , d.h. f¨ ur die resultierende Kraft in dem beschleunigten System gilt F G + F Tr = 0. Der K¨ orper ruht also in diesem System. Ein anderes Beispiel, dem wir laufend in unserem Alltag begegnen, ist die Beschleunigung a eines Fahrzeugs. W¨ ahrend des Beschleunigungsvorgangs erfahren die Insassen die Tr¨ agheitskraft F Tr = −m a, die sie straucheln l¨asst, falls sie keinen festen Halt haben. (2) Zentripetalbeschleunigung aZP = −ω 2 r r

Ein Massenpunkt in einem System auf einer Kreisbahn erf¨ahrt eine Tr¨agheitskraft F ZF = m

v2 r . r

(2.41)

Diese Kraft wird Zentrifugalkraft genannt, sie wirkt immer in Richtung r des Radiusvektors. Auf der Zentrifugalkraft beruht z.B. die Wirkungsweise einer Zentrifuge, mit deren Hilfe Massen voneinander getrennt werden k¨onnen, da F ZF massenabh¨ angig ist. In einem rotierenden System tritt eine zus¨ atzliche Tr¨agheitskraft auf, wenn der Massenpunkt in diesem System eine Geschwindigkeit v (R) besitzt, und die Coriolis-Kraft F Cor genannt wird. Die Hochstellung (R) weist darauf hin, dass die Geschwindigkeit in dem rotierenden System (R) gemessen wird. Ein ruhender Beobachter (B) außerhalb des rotierenden Systems wird dagegen eine Geschwindigkeit v (B) messen, die sich von v (R) unterscheidet. Wir wollen uns die Ursachen f¨ ur diesen Unterschied u ¨berlegen und nehmen dazu an, dass v (B) = v (B) r radial nach außen gerichtet ist. W¨ahrend sich der Massenpunkt f¨ ur den Beobachter geradlinig bewegt, dreht sich das System unter ihm weg und die Bahnkurve, vom System (R) aus betrachtet, ist gekr¨ ummt, wie in Abb. 2.6 dargestellt. Grund f¨ ur die Abweichung von der Geradlinigkeit muss die Beschleunigung aCor sein. W¨ ahrend eines kleinen Zeitintervalls ∆t betr¨agt die Ver¨ anderung ∆s der Ortsvektoren ∆r(t) im System (R) bei gleichm¨aßiger Beschleunigung aCor : ∆s = ∆(∆r) =

1 aCor ∆t2 = −ω ∆r ∆t , 2

woraus sich ergibt aCor = −2 ω

∆r = −2 ω v (R) . ∆t

Bei dieser Plausibilit¨ atsbetrachtung haben wir angenommen, dass sich der Massenpunkt in der Ebene bewegt, die durch die Rotation des Systems (R)  gebildet wird. Besitzt dagegen v (R) die gleiche um die Achse mit Richtung ω  , d.h. gilt ω  × v(R) = 0, so ist auch aCor = 0. In der Tat lautet Richtung wie ω die korrekte Beziehung f¨ ur die Coriolis-Beschleunigung bzw. Coriolis-Kraft aCor = −2 (ω × v (R) )

, F Cor = −2 m (ω × v (R) ) .

(2.42)

2.2 Die Dynamik des Massenpunkts

(B)

v

(R)

v

r (t) ω

37

r r (t−∆ t)

∆r ∆r

∆s

r(t+∆t)

Abb. 2.6. Links: Die gekr¨ ummte Bahnkurve (gepunktet) eines Massenpunkts in dem System (R), das sich mit Winkelgeschwindigkeit ω dreht, w¨ ahrend sich dieser Massenpunkt im System (B) eines ruhenden Beobachters geradlinig gleichf¨ ormig mit Geschwindigkeit v (B) bewegt. r ist der Ortsvektor des Massenpunkts zur Zeit t in (R). Rechts: Vergr¨ oßerter Ausschnitt der Bahnkurve, in dem die Lagen der Ortsvektoren zu den Zeiten t − ∆t ,t , t + ∆t zu sehen sind und die Ver¨ anderungen, die die Ortsvektoren w¨ ahrend dieser Zeiten erfahren

Da die Erde ein rotierendes System bildet, sind Zentrifugal- und CoriolisKraft f¨ ur uns so bekannte Ph¨ anomene, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen. Zum Beispiel ist die Coriolis-Kraft verantwortlich f¨ ur die Ausbildung der Hochdruck- und Tiefdruckgebiete und damit des Winds im Erdklima. Der franz¨ osische Physiker Foucault (1819 - 1868) war es auch, dem es mit Hilfe der Coriolis-Kraft zum ersten Mal gelang, die Rotation der Erde um die S¨ ud-Nord-Achse experimentell nachzuweisen. Dieses Experiment tr¨agt daher seinen Namen: Foucault-Pendel. 2.2.4 Die Bewegungsgleichung Das 2. Newton’sche Axiom bildet die Grundlage f¨ ur die Behandlung der Dynamik eines Massenpunkts m in der klassischen Physik: Es verkn¨ upft die Kraft F (r, t) auf den Massenpunkt mit seiner Bewegungs¨anderung: F (r, t) d2 r(t) . = 2 dt m

(2.43)

Diese Gleichung wird in der Mathematik als Differentialgleichung 2. Ordnung bezeichnet, ihre L¨ osung ergibt die Trajektorie r(t) des Massenpunkts. Die L¨ osung der Gleichung (2.43) ist ein mathematisches Problem, die Formulierung der f¨ ur ein spezielles Problem relevanten Kraft F (r, t) dagegen das physikalische Problem. Im Anhang 6 werden wir uns kurz mit den Eigenschaften von Differentialgleichungen besch¨ aftigen. Hier wollen wir jetzt anhand von 3 Problemen n¨ aher untersuchen, welche Trajektorien sich durch L¨osung der

38

2 Die Physik des Massenpunkts

Differentialgleichung f¨ ur eine ausgew¨ ahlte Kraft ergeben. (1) Der Massenpunkt unter der Wirkung einer harmonischen Kraft F¨ ur die harmonische Kraft k¨ onnen wir bei geeigneter Wahl des Koordi, d.h. dieses Problem l¨asst sich 1natensystems ansetzen: F (x) = −D x x dimensional behandeln und f¨ uhrt zu der Bewegungsgleichung  d2 x D D 2 . (2.44) = − x = −ω x mit ω = 2 dt m m Die allgemeine L¨ osung dieser harmonischen Differentialgleichung ist eine harmonische Funktion: x(t) = x sin (ωt + δ) ,

(2.45)

wie Sie durch Einsetzen in Gleichung (2.44) leicht verifizieren k¨onnen. Diese L¨ osung enth¨ alt zwei Integrationskonstanten (weil die Differentialgleichung (2.43) von 2. Ordnung ist), n¨ amlich die Anfangsbedingungen: Amplitude x und Phase δ. Die Werte der Anfangsbedingungen werden nicht durch die Differentialgleichung festgelegt, sondern durch das Problem, d.h. sie k¨onnen f¨ ur jedes Problem andere Werte besitzen. Nehmen wir z.B. ein Problem, f¨ ur das zur Zeit t = 0 die Ort-Zeit-Funktion des Massenpunkts den Wert x(0) = 0 besitzt, und die Geschwindigkeit-Zeit-Funktion den Wert v(0) = v. Dann ergibt sich δ=0

, x=

v , ω

und die Trajektorie des Massenpunkts ist x(t) =

v sin ωt . ω

(2.46)

Ganz unabh¨ angig von den tats¨ achlichen Werten der Anfangsbedingungen gilt: Unter dem Einfluss einer harmonischen Kraft F (x) = −D x f¨ uhrt der Massenpunkt m eine harmonische Bewegung aus mit der Trajektorie x(t) = x sin (ωt + δ) , wobei die Werte der Anfangsbedingungen x , δ sich aus Ort und Geschwindigkeit des Massenpunkts zur Zeit t = t0 ergeben. Bei der Behandlung der Schwingungen in Kap. 7.1 werden wir auf die harmonischen Bewegungen zur¨ uckkommen. (2) Der Massenpunkt unter der Wirkung der Gravitationskraft Dieses Problem ist bereits so schwierig, dass wir es allgemein im Rahmen dieses Lehrbuchs nicht l¨ osen k¨ onnen. Auf der anderen Seite zeigt uns die Natur,

2.2 Die Dynamik des Massenpunkts

39

wie die L¨ osungen aussehen m¨ ussen: Die Planeten und Kometen bewegen sich unter dem Einfluss der Gravitationskraft der Sonne, und dabei treten geschlossene Bahnkurven (Planeten) wie auch offene Bahnkurven (viele Kometen) auf. Formal lautet die Bewegungsgleichung f¨ ur beide d2 r(t) m⊙ r(t) , = −Γ dt2 r(t)2

(2.47)

wobei m⊙ = 1,989 · 1030 kg die Masse der Sonne ist. Die L¨osung f¨ ur einen besonders einfachen Fall kennen wir allerdings bereits: Gilt r(t) = konst, dann ergibt sich als L¨ osung der Differentialgleichung (2.47) die gleichf¨ormige Kreisbewegung Gleichung (2.17) r(t) = r e(t) .

Der Kreis geh¨ ort zu der Klasse der Kegelschnitte, und in der Tat sind alle L¨ osungen der Gleichung (2.47) Kegelschnitte, d.h. also entweder Kreise, Ellipsen, Parabeln oder Hyperbeln. Die Bahn der Erde unterscheidet sich nur wenig von einer Kreisbahn, und wir wollen diese Bahn etwas genauer untersuchen. Damit ein Massenpunkt sich auf einer Kreisbahn bewegen kann, muss eiur die Bahn ne Zentripetalbeschleunigung aZP = −ω 2 r r vorhanden sein. F¨ der Erde wird diese erzeugt durch die Gravitationsbeschleunigung aG = −Γ (m⊙ /r2 ) r, d.h. es muss gelten ω2 r = Γ

m⊙ r2



ω 2 r3 = Γ m⊙ = konst.

(2.48)

Wegen Gleichung (2.24) gilt daher auch r3 /T 2 = konst, wenn r der Radius der (kreisf¨ ormigen) Umlaufbahn und T die Umlaufzeit ist. Dieses Ergebnis ist ein Sonderfall aus den allgemeineren 3 Gesetzen, die Kepler (1571 - 1630) auf Grund von Beobachtungen aufgestellt hat: 1. Gesetz: Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. 2. Gesetz: Der Ortsvektor r(t) von der Sonne zum Planeten u ¨berstreicht in gleichen Zeiten gleiche Fl¨ achen. 3. Gesetz: Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten verhalten sich wie die Kuben ihre großen Halbachsen. Wir haben den Sonderfall f¨ ur das 3. Kepler’sche Gesetz gerade behandelt. Das 2. Kepler’sche Gesetz entspricht der Drehimpulserhaltung, die wir in Kap. 3.3 behandeln werden. Das 1. Kepler’sche Gesetz ist eine Konsequenz der Bewegungsgleichung (2.47) f¨ ur die Gravitationskraft. (3) Das mathematische Pendel Es gibt einen Spezialfall f¨ ur die Bewegung eines Massenpunkts unter der Wirkung der Gravitationskraft: Die Bewegung auf einer Kreisbahn senkrecht zur

40

2 Die Physik des Massenpunkts

y ϕ

l m

x

Ft FG

Abb. 2.7. Bewegung eines Massenpunkts auf einer Kreisbahn unter dem Einfluss seiache. ner Gewichtskraft F G auf der Erdoberfl¨ Die Gewichtskraft kann in eine Normalkomponente Fn = FG cos ϕ und eine Tangentialkomponente Ft = FG sin ϕ zerlegt werden, wobei ϕ der momentane Auslenkwinkel des Massenpunkts aus der Vertikalen ist

Fn

 wirkt. Dieser Erdoberfl¨ ache, wobei auf den Massenpunkt die Kraft F G = G x Fall eines “mathematischen Pendels” ist in Abb. 2.7 dargestellt. Die Kraft F G kann in zwei Komponenten zerlegt werden, in die Komponente Fn = G cos ϕ normal zur Bahnkurve und in die Komponente Ft = G sin ϕ tangential zur Bahnkurve. Die Normalkomponente ist f¨ ur die Bewegung auf der Kreisbahn ohne Bedeutung, sie wird immer vollst¨ andig kompensiert durch die elastischen Kr¨ afte des Fadens mit konstanter L¨ ange l, der den Massenpunkt auf die Kreisbahn zwingt (diese Fadenkraft erzeugt auch die notwendige Zentripetalkraft). ur eine beschleuDie Tangentialkomponente Ft ist dagegen verantwortlich f¨ nigte Bewegung (Beschleunigung at = l d2 ϕ/dt2 , siehe Kap. 2.1.2), die durch folgende Bewegungsgleichung beschrieben wird g d2 ϕ G sin ϕ = − sin ϕ . =− dt2 lm l

(2.49)

Die Gleichung (2.49) hat nicht die Form der harmonischen Differentialgleichung (2.44), denn f¨ ur die R¨ uckstellkraft gilt nicht F (ϕ) ∝ −ϕ, sondern F (ϕ) ∝ −sin ϕ. Die L¨ osung kann daher auch nicht eine harmonische Funktion sein. F¨ ur kleine Winkel ϕ kann die Funktion sin ϕ aber in eine Taylor-Reihe um ϕ = 0 (siehe Anhang 5) entwickelt werden sin ϕ = ϕ −

1 1 3 ϕ + ϕ5 − ... . 3! 5!

(2.50)

Bricht man diese Entwicklung nach dem 1. Glied ab, dann ergibt sich eine harmonische Bewegungsgleichung  g d2 ϕ 2 = −ω ϕ mit ω = (2.51) dt2 l und der harmonischen L¨ osung ϕ(t) = ϕ sin (ωt + δ) .

(2.52)

2.3 Energie und Energieerhaltung

41

Zur Diskussion dieser L¨ osung verweisen wir auf das Problem (1). Es ist aber klar, dass bei gr¨oßeren Amplituden ϕ diese harmonische L¨osung mithilfe der n¨ achsten Glieder in der Taylor-Entwicklung (siehe Anhang 5) korrigiert werden muss.

2.3 Energie und Energieerhaltung Auch das kennen wir aus unserem Alltag: Heben wir eine Masse m gegen die ussen wir eine Arbeit W verrichten. Wie Gravitationskraft F G = −G y, so m¨ groß ist diese Arbeit? Unsere Erfahrung sagt uns: • •

Die Arbeit ist umso gr¨ oßer, je gr¨ oßer die Strecke s = s y ist, um die wir die Masse m anheben. Es ist aber keine Arbeit n¨ otig, um die Masse m auf einer reibungsfreien  senkrecht zur Kraft F G zu verschieben. Unterlage um die Strecke s = s x

Es kommt also nicht allein auf die L¨ ange |s| der Strecke s an, sondern darauf, welche Richtung s relativ zur Kraft F besitzt. In der Mathematik lassen sich diese Zusammenh¨ ange mithilfe des Skalar-Produkts (siehe Anhang 2) schreiben: W = F · s. Dies ist allerdings nur dann richtig, wenn sich F l¨angs der Wegstrecke s nicht ver¨ andert. Allgemein lautet die

Definitionsgleichung f¨ ur die Arbeit, die ben¨ otigt wird, um eine Punktmasse m vom Ort s0 nach s gegen die Kraft F zu verschieben: W =

s

s0

F · ds , [W ] = N m = J

“Joule” .

(2.53)

Beachten Sie das Vorzeichen: Da wir die Masse gegen die Kraft verschieben, s und F also entgegengesetze Richtung besitzen, ist W negativ. Das bedeutet: ¨ Wir m¨ ussen die Arbeit verrichten. Uber die Definition der korrekten Vorzeichen m¨ ussen wir uns sp¨ ater noch mehr Gedanken machen. Die Definition (2.53) wirft sofort mehrere Fragen auf. •

Wegabh¨ angigkeit der Arbeit

Die Orte s0 und s definieren nur den Anfang und das Ende des Wegs. Ist die Arbeit unabh¨ angig davon, welchen Weg wir zwischen s0 und s zur¨ ucklegen? Die Antwort h¨ angt von den Eigenschaften der Kraft F ab. Wir ordnen Kr¨afte allgemein in zwei Klassen: Konservative Kr¨ afte sind solche Kr¨ afte, bei denen der Wert von W unabh¨ angig von dem Weg in der Gleichung (2.53) ist. Zu dieser Klasse von Kr¨ aften geh¨ oren z.B. die Gravitationskraft und die elektrische Kraft. Die Bedingung daf¨ ur, dass eine Kraft konservativ ist, verlangt, dass die Verschiebug eines K¨ orpers auf einem geschlossenen Weg insgesamt keine Arbeit erfordert:

42

2 Die Physik des Massenpunkts

Bedingung f¨ ur konservative Kr¨ afte  F · ds = 0 .

(2.54)

Diese besondere Form des Integrals bedeutet, dass die Integration u ¨ ber einen geschlossenen Weg durchzuf¨ uhren ist, z.B. u ¨ ber einen Kreisweg. Nichtkonservative Kr¨ afte sind die Kr¨ afte, welche die Bedingung (2.54) nicht erf¨ ullen. Auch f¨ ur solche Kr¨ afte kennen wir bereits ein Beispiel: Die s. Diese Proportionalit¨ at besagt unmittelbar, dass das Reibungskraft F R ∝ − Integral (2.54) niemals null sein kann, unabh¨ angig davon, wie der Weg von s0 nach s aussieht, insbesondere auch dann nicht, wenn der Weg geschlossen ist. •

Richtung zwischen F und s

Es gibt besondere Kr¨ afte, die stehen immer senkrecht auf dem Weg , und dann gilt f¨ ur jedes Element ds des Wegs F · ds = 0. Eine solche Kraft ist z.B. die Coriolis-Kraft F Cor (Gleichung (2.42)), da v (R) und ds die gleiche Richtung haben. Ein weiteres Beispiel ist die Lorentz-Kraft, die wir in Kap. 8.3.2 behandeln werden. Die Verschiebung eines K¨orpers unter der Wirkung der Coriolis- bzw. Lorentz-Kraft erfordert daher keine Arbeit. Die Arbeit, die durch Gleichung (2.53) definiert wurde, ist nur eine besondere Form einer viel allgemeineren physikalischen Messgr¨oße, der Energie. Aus der Definition ergibt sich, dass unter Verrichtung von Arbeit der K¨orper gegen eine Kraft verschoben wird, sich daher seine Lage a¨ndert. Wir verrichten eine Arbeit, der K¨ orper gewinnt aber an Lageenergie. F¨ ur den Begriff “Lageenergie” verwendet man das Wort potenzielle Energie, und zwar wird durch die Verschiebung die potenzielle Energie des K¨ orpers um ∆Wpot ver¨andert. ¨ Die Anderung der potenziellen Energie eines K¨orpers ist gegeben durch ∆Wpot = −

s

s0

F · ds .

(2.55)

Beachten Sie das Vorzeichen: Diesmal ist Wpot > 0, denn der K¨orper gewinnt potenzielle Energie. Mithilfe von Gleichung (2.55) l¨asst sich die potenzielle Energie eines K¨ orpers Wpot (s) = ∆Wpot + Wpot (s0 ) definieren Wpot (s) = −

s

s0

F · ds + Wpot (s0 ) .

(2.56)

Diese Definition wird erst dann eindeutig, nachdem wir die Normierungskonstante Wpot (s0 ) vorgegeben haben. Wie das geschieht, werden wir anhand einiger Beispiele sp¨ ater sehen.

2.3 Energie und Energieerhaltung

43

Die Gleichung (2.53) l¨ asst aber auch noch eine andere Interpretation zu. Erinnern wir uns, dass das 2. Newton’sche Axiom den Zusammenhang zwischen Kraft F und Beschleunigung a = dv/dt herstellt. Setzen wir diesen Zusammenhang in die Gleichung (2.53) ein, ergibt sich s

s0

F · ds = m

v

v0

dv · ds = m dt

v

v0

ds · dv = m dt

v

v0

v · dv

 1  = m v 2 − v02 = ∆Wkin . 2

Diese Form der Energie ist verkn¨ upft mir der Bewegung (v) eines K¨orpers, und man definiert: Die kinetische Energie eines K¨ orpers mit der Masse m und der Geschwindigkeit v ist Wkin (v) =

1 m v2 . 2

(2.57)

Die Normierungskonstante ist eindeutig: Wkin (0) = 0. Die Summe aus potenzieller und kinetischer Energie wird die mechanische Energie genannt: Wmech = Wpot + Wkin , und die Herleitungen von ∆Wpot und ∆Wkin ergeben unmittelbar ∆Wpot + ∆Wkin = 0. Und daraus folgt schließlich: Die mechanische Energie in einem abgeschlossenem System, in dem nur konservative Kr¨ afte wirken, ist erhalten Wmech = Wpot + Wkin = konst. Dies ist ein Erhaltungsgesetz, aber ist es auch ein strenges Erhaltungsgesetz? Wpot und Wkin sind nur zwei spezielle Formen der Energie. Wir werden noch lernen, dass es weitere Formen der Energie gibt. Streng gilt nur das Erhaltungsgesetz der Energie, wenn wir alle diese Energieformen Wi mit ber¨ ucksichtigen. Erhaltungsgesetz der Energie: In einem abgeschlossenen System bleibt die Gesamtenergie erhalten  Wi = Wtot = konst.

(2.58)

i

Wir wollen den Sonderfall der Erhaltung der mechanischen Energie jetzt auf 2 Probleme anwenden. (1) Die harmonische Kraft

44

2 Die Physik des Massenpunkts

Diese Kraft hat die Form F (x) = −D x, und daher ergibt sich, wenn wir in der Ruhelage x0 = 0 die Normierung auf den Wert Wpot (0) = 0 festlegen: Wpot (x) = −

x 0

(−D x) · dx =

1 D x2 , 2

1 Wkin (v) = m v 2 , 2 1 1 Wmech = m v 2 + D x2 = konst. 2 2

(2.59)

onnen wir berechnen, wenn wir die Welchen Wert besitzt Wmech ? Diesen k¨ Ort-Zeit-Funktion (2.46) f¨ ur die harmonische Bewegung in Gleichung (2.59) einsetzen: v 1 1 v2 sin ωt → Wpot (t) = D 2 sin2 ωt = m v 2 sin2 ωt , (2.60) ω 2 ω 2 1 2 2 v(t) = v cos ωt → Wkin (t) = m v cos ωt . 2

x(t) =

Das heißt, wir erhalten f¨ ur die konstante mechanische Energie Wmech =

  1 1 m v 2 sin2 ωt + cos2 ωt = m v 2 . 2 2

(2.61)

Diese Herleitung lehrt uns, dass bei der harmonischen Bewegung ein periodischer Wechsel zwischen der potenziellen Energie Wpot (t) und der kinetischen Energie Wkin (t) bei konstanter mechanischer Energie Wmech stattfindet. Im zeitlichen Mittel ergibt sich Wpot  = Wkin  =

1 1 m v 2 = Wmech . 4 2

(2.62)

(2) Die Gravitationskraft Diese Kraft hat die Form F G = −Γ (m1 m2 )/r2 r, und diese Kraft ist konser¨ vativ. Das bedeutet, dass wir bei der Berechnung der Anderung der potenziellen Energie von r0 nach r einen Weg l¨ angs r w¨ahlen k¨onnen. Dies ergibt r

1 r · dr + Wpot (r0 ) r2 r0

1 1 = −Γ m1 m2 + Wpot (r0 ) − r r0

Wpot (r) = Γ m1 m2

(2.63)

Wir legen die Normierung Wpot (r0 ) so fest, dass Wpot (r → ∞) = 0 gilt. Das verlangt Wpot (r0 ) = −Γ

m1 m2 r0



Wpot (r) = −Γ

m1 m2 . r

(2.64)

2.3 Energie und Energieerhaltung

45

Verlangen wir von einem K¨ orper auch, dass Wkin (r → ∞) = 0 gilt, dann verlangt die Erhaltung der mechanischen Energie Wmech = Wkin + Wpot =

1 m1 m2 m1 v 2 − Γ =0. 2 r

(2.65)

Dieses Erhaltungsgesetz erlaubt uns z.B. zu berechnen, welche Geschwindigkeit ein K¨ orper besitzen muss, um die Erdoberfl¨ache vollst¨andig zu verlassen (2. kosmische Geschwindigkeit). Es ergibt sich  m⊕ = 11,2 km s−1 . (2.66) vII = 2 Γ r⊕ Auf der anderen Seite darf die Geschwindigkeit kleiner sein, wenn der K¨orper nur auf einer erdnahen Bahn die Erde umkreist. Diese 1. kosmische Geschwindigkeit folgt aus der Gleichheit von Gravitationskraft und Zentripetalkraft  m⊕ = 7,8 km s−1 . (2.67) vI = Γ r⊕ F¨ ur einen K¨orper mit Masse m, der sich in geringer H¨ohe h = r − r⊕ u asst sich die Gleichung (2.63) vereinfachen. ¨ ber dem Erdboden befindet, l¨ F¨ ur diesen K¨ orper gilt unter Ber¨ ucksichtigung von Gleichung (2.12)

1 1 − (2.68) Wpot (h) = Wpot (r) − Wpot (r⊕ ) = −Γ m m⊕ r⊕ + h r⊕ m⊕ ≈ mΓ 2 h = mgh . r⊕ Dieser Ausdruck wird i.A. benutzt, wenn man die potenzielle Energie von Massen angibt, die das Gewicht G = m g besitzen.

2.3.1 Leistung Die Leistung ist die Energie, die pro Zeit von einer Energieform Wi in andere Energieformen umgewandelt wird. Pi =

dWi dt

, [P ] = J s−1 = W

“Watt” .

(2.69)

Das Wesentliche an dieser Aussage ist, dass wegen des Energieerhaltungsgesetzes die Energie nicht verloren gehen kann. Wenn wir den Mount Everest besteigen, leuchtet uns das sofort ein: Wir verwandeln chemische Energie, die im K¨ orper gespeichert ist, in potenzielle Energie (und thermische Energie).

46

2 Die Physik des Massenpunkts

Die Besteigung innerhalb einer kurzen Zeit ist daher eine große Leistung. Aber wie steht es mit einem 100-m-Sprint in unter 10 s? Auch hier wird chemische Energie umgewandelt, und zum Schluss entsteht daraus nur thermische Energie. Ist das eine große Leistung? Anmerkung 2.3.1: Wir haben bisher nur zwei Energieformen, die mechanischen Energieformen Wkin und Wpot kennengelernt. Es gibt aber wesentlich mehr, z.B. die elektrische Energie, die thermische Energie oder die Kernenergie. Das Energieerhaltungsgesetz gestattet, dass Energie zwischen diesen Formen beliebig umgewandelt werden kann. Das ist aber nicht der Fall: Alle Energieformen k¨ onnen in thermische Energie umgewandelt werden, aber thermische Energie kann nur beschr¨ ankt in die anderen Energieformen zur¨ uckgewandelt werden. Mit dieser Sonderstellung der thermischen Energie besch¨ aftigen wir uns in Kap. 6.3. Anmerkung 2.3.2: F¨ ur die harmonische Kraft haben wir in Gleichung (2.62) gefunden Wpot  = Wkin  . Gilt das immer f¨ ur die zeitlich gemittelten Werte der potenziellen und kinetischen Energie? Nein, der Zusammenhang zwischen diesen Mittelwerten ist abh¨ angig von dem Kraftgesetz. F¨ ur Zentralkr¨ afte der Form F ∝ −r k r

l¨ asst sich zeigen, dass Wpot  =

2 Wmech k+3

,

Wkin  =

k+1 Wmech . k+3

Diese Beziehungen nennt man das Virialtheorem. Aus dem Theorem folgt unmittelbar, dass es in der Natur keine Zentralkraft mit k = −3 geben darf, weil f¨ ur diesen Wert von k die Energien divergieren. Aber k = −2 ist erlaubt, und dieser Fall entspricht der Gravitationskraft und der elektrischen Kraft. Anmerkung 2.3.3: Man kann aus der Erhaltung der mechanischen Energie auch das 2. Newton’sche Axiom ableiten. Wir besitzen nicht die mathematischen F¨ ahigkeiten, um dies allgemein tun zu k¨ onnen, aber in einer Dimension ergibt sich aus der Bedingung Wmech =

1 m v2 − 2



F dx = konst

f¨ ur die kinetische Energie bei Ableitung nach der Zeit m dv 2 dv dv m dv 2 = =m v 2 dt 2 dv dt dt und f¨ ur die potenzielle Energie bei Ableitung nach der Zeit d dt



F dx

d = dx



F dx

dx =Fv . dt

2.4 Impuls und Impulserhaltung

47

Insgesamt also



m

dv −F dt



v=0,

und dies ist das 2. Newton’sche Axiom f¨ ur die Bewegung in einer Richtung, wenn v = 0.

2.4 Impuls und Impulserhaltung Die Erhaltung der Gesamtenergie Wtot ist nicht das einzige Erhaltungsgesetz in der Natur. Ein weiteres Erhaltungsgesetz ist implizit bereits in dem 3. Newton’schen Axiom enthalten. Mithilfe des 2. Newton’schen Axioms ergibt sich daraus m1

dv 1 dv 2 = −m2 , dt dt

oder f¨ ur ein endliches Zeitinterval ∆t   (2) (1) F1 + F2 ∆t = m1 ∆v 1 + m2 ∆v 2 = 0 .

(2.70)

(2.71)

Die Geschwindigkeitsintervalle lauten, falls die Massenpunkte m1 und m2 aus dem Ruhezustand v1,0 = 0 und v2,0 = 0 beschleunigt wurden ∆v 1 = v 1

und

∆v 2 = v 2 ,

und daher m1 v 1 + m2 v 2 = 0

1 · v 2 = −1 . mit v

(2.72)

Das bedeutet, w¨ ahrend des Beschleunigungsvorgangs ist die physikalische Messgr¨ oße p = m v erhalten geblieben: p1 + p2 = 0

, [p] = kg m s−1 .

(2.73)

Erhaltungsgesetz des Impulses: Der Impuls p eines Massenpunkts m mit der Geschwindigkeit v ist definiert als p = mv .

(2.74)

F¨ ur ein abgeschlossenes System mit n Massenpunkten gilt das Impulserhaltungsgesetz n  i=1

pi = ptot = konst.

(2.75)

48

2 Die Physik des Massenpunkts

Mithilfe des Relativit¨ atsprinzips (siehe Kap. 2.2.1) k¨onnen wir immer ein abgeschlossenes System finden, in dem • •

der Impuls einer Masse mi den Wert pi = 0 besitzt, oder der Gesamtimpuls den Wert ptot = 0 besitzt wie in Gleichung (2.73). Dieses System bezeichnet man als Schwerpunktsystem.

Wir wollen die erste M¨ oglichkeit w¨ ahlen und den Stoß zwischen 2 Massen m1 und m2 untersuchen, wobei die Masse m1 vor dem Stoß ruht. Die Frage ist, welche Konsequenzen haben Energie- und Impulserhaltung auf die Kinematik der beiden Massen nach dem Stoß. 2.4.1 Elastische und inelastische St¨ oße zwischen zwei Massen Ruht die Masse m1 vor dem Stoß, dann ist der Gesamtimpuls ptot = pi,2 = m2 v i,2 .

(2.76)

Der Index i bezieht sich auf den Anfangszustand (i = “initial”). Nach dem Stoß besitzen i.A. beide Massen einen Impuls, und dann gilt ptot = pf,1 + pf,2 = m1 v f,1 + m2 v f,2

(2.77)

pi,2 = pf,1 + pf,2 .

(2.78)

und daher

Der Index f bezieht sich auf den Endzustand (f = “final”). Legen wir das Koordinatensystem so, dass die x-Achse in Richtung von pi,2 zeigt, dann k¨ onnen wir das Stoßproblem auf ein 2-dimensionales Problem in der x-y-Ebene reduzieren. Die Gleichung (2.78) zerf¨allt daher in 2 Gleichungen f¨ ur die x- und y-Komponenten, mit deren Hilfe wir 4 Unbekannte, pf,1,x , pf,1,y , pf,2,x und pf,2,y bestimmen m¨ ussen. Ohne weitere Annahmen ist dies unm¨ oglich. Annahme 1: Die kinetische Energie bleibt im Stoß erhalten. Dann gilt zus¨ atzlich (pf,1 )2 (pf,2 )2 (pi,2 )2 = + . 2 m2 2 m1 2 m2

(2.79)

Einen derartigen Stoß nennt man einen elastischen Stoß. Wir erhalten mit Gleichung (2.79) eine weitere Bestimmungsgleichung, die allerdings nicht ausreicht, um das Problem des elastischen Stoßes eindeutig zu machen. Eindeutig  bewird das Problem z.B. dadurch, dass alle Impulse die gleiche Richtung x sitzen. Dann handelt es sich um einen elastischen zentralen Stoß. Es ergibt sich

2.4 Impuls und Impulserhaltung

49

pi,2 = pf,1 + pf,2 , (pi,2 )2 (pf,1 )2 (pf,2 )2 = + 2 m2 2 m1 2 m2 mit den eindeutigen L¨ osungen vf,2 =

m2 − m1 vi,2 m1 + m2

, vf,1 =

2 m2 vi,2 . m1 + m2

(2.80)

Es k¨ onnen folgende Situationen auftreten: (1) m2 ≫ m1 (elastischer Stoß schwere Masse gegen leichte Masse) vf,2 ≈ vi,2

, vf,1 ≈ 2 vi,2 .

(2.81)

(2) m2 = m1 (elastischer Stoß zwischen gleichen Massen) vf,2 = 0

, vf,1 = vi,2 .

(2.82)

(3) m2 ≪ m1 (elastischer Stoß leichte Masse gegen schwere Masse) vf,2 ≈ −vi,2

, vf,1 ≈ 0 .

(2.83)

Diese Situation wird sp¨ ater bei der Behandlung der kinetischen Gastheorie von Bedeutung sein. Annahme 2: Die kinetische Energie bleibt im Stoß nicht erhalten. Derartige St¨ oße nennt man inelastische St¨ oße. F¨ ur die Behandlung dieser St¨ oße ben¨ otigen wir weitere Informationen, um das Problem eindeutig zu l¨ osen. Wir wollen nur einen Fall behandeln: Die beiden stoßenden K¨orper vereinigen sich w¨ ahrend des Stoßes zu einem K¨orper. Dann verlangt die Erhaltung des Gesamtimpulses m2 vi,2 = (m1 + m2 ) vf

(2.84)

mit der eindeutigen L¨ osung vf =

m2 vi,2 . m1 + m2

(2.85)

Es l¨ asst sich leicht nachpr¨ ufen, dass in diesem Stoß die kinetische Energie nicht erhalten bleibt: Wf,kin =

m2 m1 + m2 2 vf = Wi,kin < Wi,kin . 2 m1 + m2

(2.86)

Wo ist die kinetische Energie hingegangen? Wir werden sp¨ater lernen, dass sie sich in thermische Energie verwandelt hat.

50

2 Die Physik des Massenpunkts

Anmerkung 2.4.1: St¨ oße zwischen zwei K¨ orpern verlangen nicht, dass sich die K¨ orper w¨ ahrend des Stoßes auch wirklich mit ihren Oberfl¨ achen ber¨ uhren. Es gen¨ ugt, dass zwischen den K¨ orpern eine Kraft wirkt, die den anf¨ anglichen Bewegungszustand der K¨ orper ver¨ andert. In diesem Fall spricht man allgemein von einem Streuprozess, f¨ ur den nat¨ urlich auch das Impulserhaltungsgesetz gelten muss. Bleibt zus¨ atzlich noch die kinetische Energie erhalten, dann handelt es sich um elastische Streuung. Streuprozesse bilden eine oft angewandte Methode zur Untersuchung der Kr¨ afte zwischen K¨ orpern. In Kap. 16.1.1 wird ein derartiges Streuexperiment beschrieben, die Rutherford-Streuung.

3 Die Physik des starren K¨ orpers

Unter einem starren K¨ orper verstehen wir ein System von n Massenpunkten, die sich in festen Abst¨ anden zueinander befinden. In der Natur wird ein solches System realisiert durch den idealen Kristall mit fester Gitterstruktur, wobei die Atome in dem Gitter starr u ¨ber den Abstand d miteinander verbunden sind, siehe Abb. 3.1. Der starre K¨ orper besitzt daher ein endliches Volumen von der Gr¨ oßenordnung V = n d3 , und seine Gesamtmasse m ergibt sich durch Summation u ¨ ber alle Massenpunkte. Wir definieren daher als Massendichte des starren K¨orpers    dm mit V = ρm dV . (3.1) dm = dV und m = ρm = dV V V V Dabei ist dV ein Volumenelement des starren K¨orpers und dm die darin enthaltene Masse. Auf Grund des Modells f¨ ur einen starren K¨orper muss ρm ortsabh¨ angig sein mit einer charakteristischen L¨ange d. F¨ ur den Atomabstand gilt d ≈ 10−10 m, d.h. wenn Experimente nicht diese Ortsaufl¨osung erreichen, ist die Masse des K¨ orpers praktisch homogen u ¨ ber sein Volumen verteilt, und angig: ρm wird ortsunabh¨

d d d

Abb. 3.1. Das Modell eines starren K¨ orpers, in dem Atome mit festen Abst¨ anden d zu ihren Nachbaratomen angeordnet sind

52

3 Die Physik des starren K¨ orpers

m = ρm



dV = ρm V .

(3.2)

V

3.1 Die Kinematik des starren K¨ orpers Wie kann sich ein starrer K¨ orper bewegen? Neben den Bewegungsformen (Ruhe und Translation), die auch ein Massenpunkt besitzt, entsteht wegen seines endlichen Volumens eine neue Bewegungsform, die Rotation um eine Achse durch den K¨ orper. Wir werden diese Bewegungsm¨oglichkeiten eines starren K¨ orpers jetzt untersuchen. Und wir werden mit der Translation beginnen, weil wir mit dieser Bewegungsform schon vertraut sind durch die Behandlung des Massenpunkts. 3.1.1 Translation des starren K¨ orpers Wir wissen, dass a¨ußere Kr¨ afte die Ursache f¨ ur die translatorische Bewegung eines Massenpunkts sind. Wenn wir voraussetzen, dass diese Kr¨afte sich u ¨ ber dem Volumen eines starren K¨ orpers nicht ver¨ andern, dann wirken auf jeden Massenpunkt des K¨ orpers die gleichen Kr¨ afte, und jeder Massenpunkt wird die uhren. Und diese Bewegung ist auch die Bewegung gleiche Bewegung v m ausf¨ v S des starren K¨orpers insgesamt, denn   vm 1 vS = v m dm = dm = v m . (3.3) m V m V Man kann daher die Bewegung des K¨ orpers durch die Bewegung eines ausgezeichneten Punkts des K¨ orpers beschreiben. F¨ ur diesen Punkt w¨ahlen wir den Massenmittelpunkt S mit Ortsvektor r S , der definiert wird durch   1 ρm rS = rm dm = r m dV . (3.4) m V m V Die Translation eines starren K¨ orpers l¨ asst sich so behandeln, als ob alle außeren Kr¨ afte auf nur einen Punkt wirken, den Massenmittelpunkt S des ¨ K¨ orpers mit der Gesamtmasse m. Dieser Punkt wird manchmal auch als Schwerpunkt bezeichnet. Bez¨ uglich der Translation haben wir daher die Bewegung des K¨orpers auf die eines Massenpunkts zur¨ uckgef¨ uhrt, und daher gelten auch die Beziehungen, die wir f¨ ur einen Massenpunkt hergeleitet haben, z.B. • • •

Kinetische Energie: Wtrans = 21 m vS2 . Impuls: p = m v S . Potenzielle Energie: Wpot = Wpot (r S ). Eine hinreichende Bedingung f¨ ur diese Gleichheit ist die oben gemachte Annahme u angigkeit der ¨außeren Kr¨afte. ¨ber die Ortsunabh¨

3.1 Die Kinematik des starren K¨ orpers

53

3.1.2 Rotation des starren K¨ orpers Jeder, der schon einmal einen Rugbyball geworfen oder gefangen hat, weiß von den komplizierten Bewegungen, die dieser Ball ausf¨ uhren kann. Wirft man den Ball geschickt, dann f¨ uhrt er zus¨ atzlich zur Translation nur eine schnelle Rotation um eine Achse aus, die w¨ ahrend des Flugs im Raum eine feste Richtung zu haben scheint. Wir wollen uns in diesem Kapitel mit dem Problem besch¨ aftigen, welche physikalischen Bedingungen erf¨ ullt sein m¨ ussen, damit der Wurf so unkompliziert wird, also die Drehachse, um die sich der K¨ orper dreht, ihre Richtung w¨ ahrend des Flugs im Raum nicht ver¨andert. Bei seiner Rotation dreht sich ein starrer K¨orper um diese Drehachse mit der Winkelgeschwindigkeit ω. Wie bisher wollen wir annehmen, dass ω gleichzeitig auch die Richtung z der z-Achse eines kartesischen Koordinatensystems angibt, d.h. es gilt ω = ω z. Bedingung (1): Wir verlangen, dass die Drehachse durch den Massenmittelpunkt des K¨orpers geht.

W¨ are das nicht der Fall, w¨ urde auf den Massenmittelpunkt S die Zentrifugalkraft F ZF = m ω 2 rS rS wirken, siehe Abb. 3.2(a). Die Wirkung dieser Tr¨ agheitskraft auf den K¨ orper k¨ onnten wir nur dadurch unterdr¨ ucken, dass wir die Drehachse lagern. Dann muss das Lager eine Gegenkraft F L erzeugen, welche die Zentrifugalkraft kompensiert, sodass F ZF + F L = 0 gilt. Unsere Bedingung ist also notwendig, damit keine Kr¨ afte auf das Lager bei der Drehung ausge¨ ubt werden, die Drehachse also auch ohne das Lager ihre Lage im Raum beibeh¨ alt. Wir f¨ uhren jetzt einen neuen Abstandsvektor ein: Der Abstand eines Massenpunkts von der Drehachse z ist r⊥ = r⊥ r⊥ = r sin ϑ r⊥ .

(3.5)

dF ZF = ω 2 r ⊥ dm

(3.6)

Wir haben zwar dadurch, dass die Drehachse z durch S geht, erreicht, dass Zentrifugalkr¨ afte auf S nicht mehr auftreten, das impliziert aber nicht, dass nicht auf jeden Massenpunkt dm noch eine Zentrifugalkraft

wirkt. Diese Zentrifugalkraft ist daf¨ ur verantwortlich, dass auf den Massenpunkt ein Drehmoment dM = r × dF ZF ausge¨ ubt wird, das bei Summation  u ¨ ber alle Massenpunkte zu einem resultierenden Drehmoment M = V dM auf den starren K¨ orper f¨ uhrt, siehe Abb. 3.2(b). Wir werden uns in Kap. 3.2 noch im Detail mit der Frage besch¨ aftigen, wie Drehmomente auf die Bewegung des starren K¨ orpers wirken. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass das Drehmoment M versucht, die Hantel in Abb. 3.2. von der Lage (b) in die Lage (c) zu drehen. Im Augenblick interessiert uns allerdings mehr die Frage, ob es ein Drehachse z gibt, f¨ ur die M = 0 gilt.

54

3 Die Physik des starren K¨ orpers

(a) L

m1

ω

(c)

(b) L

L

ω

m2

m2

S

ω

S

m1

m1

F =0 M=0

S

m2

F=0 M=0

F=0 M=0

Abb. 3.2. Die Drehung einer Hantel um die Drehachse z. Im Fall (a) geht die Drehachse nicht durch den Massenmittelpunkt S der Hantel, die Figurenachse steht aber senkrecht auf der z-Achse. Die Folge ist, dass auf den Massenmittelpunkt die ubt wird, aber kein Drehmoment M = 0. Im Zentrifugalkraft FZF = F = 0 ausge¨ Fall (b) geht die Drehachse durch den Massenmittelpunkt, aber die Figurenachse steht nicht mehr senkrecht auf der z-Achse. Die Folge ist, dass die Zentrifugalkraft auf den Massenmittelpunkt verschwindet, F = 0. Aber jetzt wird infolge der Zenubt, M = 0. Die trifugalkr¨ afte auf m1 und m2 ein Drehmoment auf die Hantel ausge¨ Winkelgeschwindigkeit ω und der Dreimpuls L = m(r × v) zeigen nicht mehr in die gleiche Richtung. Im Fall (c) geht die Drehachse durch den Massenmittelpunkt und steht senkrecht auf der Figurenachse. Dann ist F = M = 0 und die Drehung erfolgt kr¨ aftefrei

Um zu erkennen, wie diese Bedingung erf¨ ullt werden kann, m¨ ussen wir M  ein, der senkrecht auf der berechnen. Wir f¨ uhren dazu den Einheitsvektor n  = r × r⊥ (sin θ)−1 . Das durch die von r und r⊥ gebildeten Ebene steht: n Zentrifugalkraft dF ZF auf den Massenpunkt dm erzeugte Drehmoment dM  . Die Lage der f¨ zeigt ebenfalls in die Richtung n ur dieses Problem wichtigen Vektoren ist in Abb. 3.3 gezeigt. Aus dieser Abbildung ergibt sich f¨ ur das Gesamtdrehmoment   2 2  dm r × r ⊥ dm = ω r r⊥ sin θ n (3.7) M =ω V

V   dm = −ω 2 − = ω2 r⊥ z n y z dm x x z dm y V

V

V

Eine hinreichende Bedingung daf¨ ur, dass bei der Rotation um die z-Achse durch die Zentrifugalkr¨afte kein Drehmoment auf den starren K¨orper ausge¨ ubt wird, ist also, dass die Deviationsmomente   (z) (z) Dx = x z dm , Dy = y z dm (3.8) V

V

verschwinden. Dies ist in der Abb 3.2(b) nicht der Fall, denn

3.1 Die Kinematik des starren K¨ orpers

π z

ϑ r x r

55

r

Θ dm dFZF y n

Abb. 3.3. Die Lage der wichtigsten Vektoren und Winkel, die bei der Behandlung der Hanteldrehung in Abb. 3.2(b) auftreten. r ist der Abstandsvektor der Masse dm vom Koordinatenursprung, r ⊥ ist der Abstandsvektor von der Drehachse z. Der Normalenvektor n  steht senkrecht sowohl auf r wie auch auf r ⊥ . n  legt gleichzeitig die Richtung des Drehmoments dM fest, das durch die Zentrifugalkraft dFZF auf die Masse dm erzeugt wird

Dx(z) = x z m1 + (−x) (−z)m2 = 0

Dy(z)

(3.9)

= y z m1 + (−y) (−z)m2 = 0

In der Abb. 3.2(c) dagegen verschwinden die Deviationsmomente, da f¨ ur diese Stellung der Hantel z = 0 gilt. Jede Drehachse, f¨ ur welche die Deviationsmomente verschwinden, nennt man eine Haupttr¨ agheitsachse. Ein starrer K¨orper besitzt immer mindestens 3 senkrecht aufeinanderstehende Haupttr¨agheitsachsen, die sich dadurch ergeben, dass in den Integralen (3.8) die Koordinaten x , y , z zyklisch vertauscht werden. Sind die Massenpunkte des starren K¨orpers symmetrisch um eine Achse verteilt, wie in Abb. 3.2(c), dann ist diese Symmetrieachse auch Haupttr¨agheitsachse. Bedingung (2): Wir verlangen, dass die Drehachse eine Haupttr¨agheitsachse des K¨orpers ist. Wir haben damit erreicht, dass weder Kr¨afte noch Drehmomente auf das Lager der Drehachse wirken. Wir bezeichnen eine Rotation um diese Drehachse als kr¨aftefreie Rotation.

56

3 Die Physik des starren K¨ orpers

Bei einer kr¨ aftefreien Rotation ist die Drehachse im Raum auch ohne Lager fest ausgerichtet. Das bedeutet, dass bei einer Translation des starren K¨orpers die Drehachse diese Bewegung mitmacht, ohne ihre Orientierung zu ver¨andern. Nur solche Bewegungen, die sich aus einer Translation und einer Rotation um eine fest ausgerichtete Drehachse zusammensetzen, werden wir in den n¨achsten Abschnitten betrachten. Dabei ist es gar nicht so einfach, eine kr¨ aftefreie Rotation auf der Erde zu verwirklichen. Wir haben n¨ amlich bisher nur die Wirkungen auf den rotierenden K¨ orper betrachtet, die durch die bei der Rotation entstehenden Tr¨ agheitskr¨ afte verursacht werden. Auf einen rotierenden K¨orper wirkt aber auch die Gravitationskraft. Um deren Wirkung zu kompensieren, muss ein K¨ orper, der keine Translationsbewegung ausf¨ uhrt, in seinem indifferenten Gleichgewichtspunkt, d.h. in seinem Massenmittelpunkt S, gelagert werden. Mit diesen Gleichgewichtsbedingungen besch¨ aftigen wir uns im n¨achsten Kap. 3.1.3. Auf die Effekte, die bei einer Lagerung in einem anderen Punkt auftreten, werden wir kurz in Kap. 3.3 eingehen. Schließlich m¨ ussen wir uns noch u ¨berlegen, welche kinetische Energie mit der Rotation um z verbunden ist. Die Bahngeschwindigkeit jedes Massenpunkts betr¨ agt z × r⊥ ) , v = ω r⊥ (

und daher ergibt sich die kinetische Energie der Rotation zu  1 v 2 dm Wrot = 2 V  1 1 2 = ω2 r⊥ dm = I (z) ω 2 . 2 2 V

(3.10)

(3.11)

Das Tr¨ agheitsmoment eines starren K¨ orpers bez¨ uglich der Haupttr¨ agheitsachse z ist gegeben durch   2 (z) (x2 + y 2 ) dm (3.12) r⊥ dm = I = V

V

[I] = kg m2 .

Das bedeutet, die Rotationsenergie eines starren K¨orpers, der sich um seine Haupttr¨ agheitsachse z mit der Winkelgeschwindigkeit ω dreht, ist gegeben durch 1 Wrot = I (z) ω 2 . (3.13) 2 ur einige K¨orper berechnet. Wir werden in Kap. 3.2 lernen, wie man I (z) f¨ Mit der Rotation ist auch ein Impuls verbunden, der Drehimpuls L. Diesen

3.1 Die Kinematik des starren K¨ orpers

57

werden wir in Kap. 3.3 behandeln. Anmerkung 3.1.1: Der rotierende K¨ orper auf der Erde sp¨ urt eine zus¨ atzliche Tr¨ agheitskraft, die durch die Rotation der Erde um ihre S¨ ud-Nord-Achse hervorgerufen wird. Die Wirkung dieser Kraft kann nicht kompensiert werden, ohne dass man die Drehachse des K¨ orpers lagert. Auf diesem Ph¨ anomen beruht die Wirkungsweise des Kreiselkompasses, mit dem wir uns aber nicht weiter besch¨ aftigen werden.

3.1.3 Statik des starren K¨ orpers Die Untersuchungen, unter welchen Bedingungen ein starrer K¨orper ruht, werden unter dem Begriff “Statik” zusammengefasst. Im Prinzip kennen wir diese Bedingungen bereits aus den Kap. 3.1.1 und 3.1.2: Ein starrer K¨ orper ruht nur dann, wenn keine ¨außeren Kr¨afte F und Drehmomente M = r × F auf in wirken. Hierbei ist r der Ortsvektor vom Koordinatenursprung zu dem Punkt des K¨orpers, an dem die Kraft F auf ihn wirkt. Bei der Formulierung dieser Bedingungen erscheint es so, als ob sie nicht eindeutig seien. Denn wer legt fest, wo sich der Koordinatenursprung befindet? In der Tat aber sind diese Bedingungen unabh¨ angig davon, wo sich der Koodinatenursprung befindet. Warum? Die Gleichgewichtsbedingungen besagen f¨ ur n Kr¨afte n  i=1

Fi = 0 ,

n  i=1

ri × F i = 0 .

(3.14)

Verschieben wir den Koordinatenursprung um eine Strecke d, dann lauten diese Bedingungen mit dem neuen Koordinatenursprung n  i=1

Fi = 0 ,

n  i=1

(r i + d) × F i =

n  i=1

ri × F i + d ×

n 

Fi = 0 ,

i=1

weil bei dem Gesamtdrehmoment beide Summanden definitionsgem¨aß null sind. Wir k¨ onnen daher das Koordinatensystem so verschieben, dass das Statikproblem m¨ oglichst einfach wird. Das ist auch notwendig, denn statische Probleme sind im allgemeinen Fall nicht eindeutig zu l¨ osen. Das ergibt sich aus den Gleichgewichtsbedingungen (3.14), die nach Komponenten zerlegt 6 homogene Gleichungen f¨ ur 6n Unbekannte ergeben. Also m¨ ussen 6n−6 Gr¨ oßen in diesem System bekannt sein, um 6 Unbekannte zu bestimmen. Allerdings mit der Einschr¨ankung, dass sich 5 Unbekannte nur als Funktion der 6. angeben lassen, da das Gleichungssystem (3.14) homogen ist. Wir wollen dies zun¨ achst an einem einfachen Beispiel demonstrieren und fragen: Welche Richtung und St¨ arke muss die Gleichgewichtskraft F besitzen, damit ein K¨ orper unter dem Einfluss der Gravitationskraft F G = −G y ruht?

58

3 Die Physik des starren K¨ orpers

F

F

A S

FG

S

F

A

S

FG

A

Abb. 3.4. Die drei Gleichgewichtslagen eines starren K¨ orers unter dem Einfluss seiner Gewichtskraft F G . S kennzeichnet den Massenmittelpunkt, A den Angriffspunkt der Unterst¨ utzungskraft F . Links zeigt die stabile Lage, die Mitte die indifferente Lage, und rechts die instabile Lage

FG

Wir legen das Koordinatensystem mit seinem Ursprung in den Massenmittelpunkt S des K¨orpers und bezeichnen den Ortsvektor zum Angriffspunkt A der Kraft F mit rA . Dann sind 6 Gr¨oßen bekannt, n¨ amlich r S = 0 und F G = −G y, und die restlichen 6 Unbekannten gilt es mithilfe der Gleichgewichtsbedingungen FG + F = 0

, rA × F = 0

zu bestimmen. Die L¨osung ist F G = −F = G y und rA = 0 oder rA = rA y .

Das bedeutet, die Gleichgewichtsbedingungen werden f¨ ur beliebige Werte von rA erf¨ ullt, wenn der Unterst¨ utzungspunkt auf der y-Achse liegt. Wir unterscheiden 3 F¨alle des statischen Gleichgewichts, siehe Abb. 3.4: •





Der Angriffspunkt A liegt oberhalb des Massenmittelpunkts S: yA > yS . Dies ist die Bedingung f¨ ur ein stabiles Gleichgewicht des K¨ orpers. Eine kleine Verr¨ uckung des K¨orpers um δx erzeugt ein Drehmoment, das den K¨ orper zur¨ uck in die stabile Gleichgewichtslage treibt. Der Angriffspunkt A liegt im Massenmittelpunkts S: yA = yS . Dies bezeichnet man als indifferentes Gleichgewicht, denn die Verr¨ uckung δx erzeugt kein Drehmoment, der K¨orper ruht in seiner neuen indifferenten Gleichgewichtslage. Der Angriffspunkt A liegt unterhalb des Massenmittelpunkts S: yA < yS . In diesem Fall ist das Gleichgewicht instabil. Jede beliebig kleine Verr¨ ukkung δx erzeugt ein Drehmoment, das den K¨ orper aus seiner instabilen Gleichgewichtslage in seine stabile Gleichgewichtslage yA > yS treibt.

Was zeichnet die stabile Gleichgewichtslage aus? Der Abstand zwischen dem ur Angriffspunkt A und dem Massenmittelpunkt S betr¨ agt h = yS − yA . F¨

3.1 Die Kinematik des starren K¨ orpers

59

Abb. 3.5. Das Leiterproblem: Bei welchem Winkel α rutscht die Leiter weg? Das wird bestimmt durch die Kr¨ afte F und die durch sie erzeugten Drehmomente M , die auf die Leiter wirken

y FW S FB FG

α

x FR

die stabile Gleichgewichtslage ergibt sich daher h < 0. Unter dem Einfluss der Gravitationskraft besitzt der starre K¨ orper dann die minimale potenzielle Energie Wpot (yA ) = −m g h . Der stabile Gleichgewichtszustand ist dadurch ausgezeichnet, dass er der Zustand mit der geringsten potenziellen Energie ist. Wir wollen anschließend noch ein nicht so einfaches Problem betrachten: Die Leiter an der Wand unter der Wirkung von Gravitations- und Reibungskraft; diese Situation ist in Abb. 3.5 dargestellt. Die gezeigten Kraftrichtungen ergeben sich f¨ ur einen Spezialfall, den wir uns jetzt u ¨ berlegen wollen. Auf die Leiter wirken insgesamt 4 Kr¨ afte F G , F R , F B und F W . Wir legen den Ursprung des Koordinatensystems in den Unterst¨ utzungspunkt B auf dem Boden, dann sind die folgenden Gr¨ oßen bekannt (die L¨ange der Leiter ist l, die Ortsvektoren zu den Angriffspunkten der Kr¨afte erhalten denselben Index wie die Kr¨ afte) F G = −G y

rB = rR = 0

, ,

 F R = −µh G x

 + sin α y)  . r W = 2 rG = l (−cos α x

Außerdem setzen wir voraus, dass das Problem nur in der x-y-Ebene behandelt werden muss. Dann ergeben die Gleichgewichtsbedingungen (3.14) FW,y + FB,y = G

,

FW,x + FB,x = µh G

l cos α (2 FW,y + FB,y ) − l sin α (2 FW,x + FB,x ) = 0 . Daraus folgt FB,y = 2 G + tan α (2 µh G − FB,x ) ,

60

3 Die Physik des starren K¨ orpers

d.h. wir erhalten als L¨ osung FW,x , FW,y , FB,y als Funktionen von FB,x . F¨ ur den Spezialfall FB,x = FW,y = 0, der in Abb. 3.5 dargestellt ist, ergibt sich als L¨ osung FW,x = µh G ,

FB,y = G , tan α =

1 . 2 µh

Dies ist die Situation, bei der die Leiter gerade noch nicht wegrutscht. Jeder Winkel α < atan (2 µh )−1 bringt die Leiter ins Rutschen. Je kleiner der Haftreibungskoeffizient µh ist, umso gr¨ oßer muss α sein, d.h. umso steiler muss die Leiter stehen. Es ist u ¨ brigens kein Versehen, dass die Reibung der Leiter mit der Wand nicht ber¨ ucksichgt wurde. W¨ urden wir auch diese Reibungskraft ber¨ ucksichtigen, w¨ are das Problem i.A. mithilfe der bekannten Gr¨oßen nicht ′ zu l¨ osen. Nur f¨ ur den Spezialfall FR,y = −µ′h FW,x = −µ′h µh G ergibt sich tan α =

1 − µ′h µh , 2 µh

¨ d.h. der Grenzwinkel f¨ ur den Ubergang ins Rutschen wird etwas kleiner.

3.2 Die Dynamik des starren K¨ orpers F¨ ur die Translation des starren K¨ orpers m¨ ussen wir die Dynamik nicht neu entwickeln. Sie wurde zur¨ uckgef¨ uhrt auf die Dynamik des Massenmittelpunkts S: m

dv S =F . dt

(3.15)

Die ¨ außere Kraft F bewirkt eine Bewegungs¨anderung dv S /dt des starren K¨ orpers. F¨ ur die Rotation m¨ ussen wir die Dynamik jetzt entwickeln und u ¨ berlegen ¨ uns zun¨ achst, welche Gr¨ oße die Anderung der kr¨aftefreien Rotation ω = ω z bewirkt. Dazu legen wir den Koordinatenursprung in den Massenmittelpunkt S. Eine a ¨ußere Kraft F allein wird nicht ausreichen, entscheidend ist, an welchem Punkt r des K¨ orpers diese Kraft angreift. Greift sie z.B. im Massenmit¨ telpunkt S an, ist also r = rS = 0, dann wird diese Kraft nur eine Anderung ¨ der Translation nach Gleichung (3.15) verursachen, aber keine Anderung der Rotation. F¨ ur letztere muss r = rS gelten. ¨ Die Gr¨ oße, die eine Anderung der Rotation bewirkt, ist das Drehmoment M =r×F .

(3.16)

3.2 Die Dynamik des starren K¨ orpers

61

Damit das Drehmoment nicht auch die Ausrichtung der Drehachse ver¨andert, d.h. damit die Rotation weiterhin kr¨ aftefrei ist, muss das Drehmoment die . Richtung von ω besitzen, d.h. es muss gelten M = M ω Wir betrachten jetzt die Wirkung des Drehmoments dM auf einen Massenpunkt dm und benutzen dazu das 2. Newton’sche Axiom dm r⊥ ×

dv = dM dt

wobei r⊥ ×

dv 2 dω  , = r⊥ ω dt dt

(3.17)

da r⊥ = konst f¨ ur einen ausgew¨ ahlten Massenpunkt. Durch Integration u ¨ ber den gesamten K¨ orper ergibt sich daraus Die Bewegungsgleichung eines um seine Haupttr¨agheitsachse z rotierenden starren K¨ orpers lautet I (z) Dabei ist I (z) =



V

dω =M . dt

(3.18)

2 r⊥ dm das Tr¨ agheitsmoment des starren K¨orpers.

M kann das Drehmoment einer einzelnen Kraft sein, die an einem einzigen Massenpunkt angreift (dann ver¨ andert der starre K¨orper auch seine translatorische Bewegung), oder M ergibt sich aus der Gesamtheit aller Kr¨afte, die an sehr vielen, im Grenzfall an allen Massenpunkten angreifen (dann ver¨andert der starre K¨ orpers u.U. allein seine Rotationsbewegung). Die Gleichung (3.18) beschreibt also die Dynamik der (kr¨aftefreien) Rotation, w¨ ahrend die Gleichung (3.15) die Dynamik der Translation beschreibt. Beide Gleichungen haben ihren Ursprung in dem 2. Newton’schen Axiom. F¨ ur die gleichf¨ ormig beschleunigte Translation haben wir die Ort-Zeit-Funktion (2.15) durch Integration der Gleichung (3.15) gefunden. Durch Integration der Gleichung (3.18) ergibt sich entsprechend die Winkel-Zeit-Funktion f¨ ur die gleichf¨ ormig beschleunigte Rotation: ϕ(t) =

1 dω 2 t + ω0 t + ϕ0 2 dt

mit

M dω = (z) . dt I

(3.19)

Ein wichtiger Parameter f¨ ur das Studium der Rotationen ist das Tr¨agheitsmoment I (z) . Wir wollen seinen Wert f¨ ur einige K¨orper bez¨ uglich einer ausgesuchten Haupttr¨ agheitsachse angeben. •



Die Vollkugel F¨ ur die Vollkugel mit ihrer hohen Symmetrie ist jede Achse durch den Massenmittelpunkt gleichzeitig auch Haupttr¨agheitsachse. Das bedeutet, die Vollkugel mit Radius R besitzt nur ein Tr¨agheitsmoment I = 52 m R2 . Der Vollzylinder Der Vollzylinder hat, wegen seiner besonderen Symmetrie, eine ausgezeichnete Haupttr¨ agheitsachse. Das ist die Achse durch die beiden Kreismittelpunkte der Ober- und Unterfl¨ achen mit Radius R. In Bezug auf diese Achse betr¨ agt das Tr¨ agheitsmoment des Vollzylinders I (z) = 21 m R2 .

62



3 Die Physik des starren K¨ orpers

Der Hohlzylinder Der Hohlzylinder unterscheidet sich vom Vollzylinder dadurch, dass bei ersterem die Gesamtmasse auf den Zylindermantel homogen verteilt ist. Er besitzt, wie der Vollzylinder, eine ausgezeichnete Haupttr¨agheitsachse. In Bezug auf diese Achse betr¨ agt das Tr¨ agheitsmoment des Vollzylinders I (z) = m R2 .

Kennen wir das Tr¨ agheitsmoment I (z) des starren K¨orpers um die Haupttr¨ agheitsachse z, so l¨ asst sich das Tr¨ agheitsmoment I (a) um jede beliebige zu z parallele Achse a angeben. Diese a-Achse muss nicht einmal durch den K¨ orper gehen, das zugeh¨ orige Tr¨ agheitsmoment ergibt sich zu  2 I (a) = (3.20) (r ⊥ + R⊥ )2 dm = I (z) + m R⊥ V  r ⊥ dm = 0 . weil V

Der Ortsvektor R⊥ ist der konstante Abstandsvektor zwischen den parallelen Achsen z und a (Satz von Steiner). Den Einfluss des Tr¨ agheitsmoments auf die Bewegung wollen wir anhand eines Beispiels untersuchen. Vollkugel, Vollzylinder und Hohlzylinder mit gleichen Massen und Radien rollen unter dem Einfluss der Gravitationskraft ohe h eine schiefe Ebene herab. Welche GeschwinF G = −G y von der H¨ digkeit besitzen sie am Ende der Ebene? Wir wollen diese Problem nicht mithilfe der Bewegungsgleichungen (3.15) und (3.18) l¨osen, sondern das Energieerhaltungsgesetz benutzen. Zu Beginn besitzen alle K¨orper nur die potenzielle Energie Wpot = m g h, am Ende besitzen sie nur die kinetische Energie Wkin = Wtrans + Wrot = 12 (m vS2 + I (z) ω 2 ). Daraus folgt

I (z) 1 2 m g h = m vS 1 + 2 m R2

wegen vS2 = ω 2 R2 .

(3.21)

Die Endgeschwindigkeiten betragen also f¨ ur 

10 g h . 7  4gh . Vollzylinder: vS = 3  Hohlzylinder: vS = g h .

Vollkugel:

vS =

Die Vollkugel erreicht die h¨ ochste Geschwindigkeit. Der Grund ist, dass ihre Masse am st¨ arksten um den Massenmittelpunkt konzentriert ist.

3.3 Drehimpuls und Drehimpulserhaltung

63

3.3 Drehimpuls und Drehimpulserhaltung Die Bewegungsgleichungen f¨ ur die Translation und die Rotation lassen sich auch schreiben dp =F dt

,

dL =M . dt

(3.22)

Dabei ist eine neue physikalische Messgr¨ oße eingef¨ uhrt worden. Der Drehimpuls eines rotierenden K¨ orpers mit Tr¨agheitsmoment I (z) ist definiert durch L = I (z) ω

, [L] = kg m2 s−1 = N m s.

(3.23)

Mithilfe des Drehimpulses k¨ onnen wir auch die Rotationsenergie (3.13) anders definieren Wrot =

1 L2 . 2 I (z)

(3.24)

Aber dieser einfache Zusammenhang zwischen ω, L und Wrot ergibt sich nur, weil wir ausschließlich kr¨ aftefreie Rotationen betrachtet haben. F¨ ur einen einzelnen Massenpunkt dm des starren K¨ orpers ergibt die Definitionsgleichung (3.23)  = r × dp . dL = r⊥ dm r⊥ ω = r⊥ dm v ω (3.25)  Die Verallgemeinerung L = V r × dp gilt in allen F¨allen, dagegen gilt L = I (z) ω nur in den F¨ allen, in denen die Rotation um eine der Haupttr¨ agheitsachsen erfolgt. Zur Veranschaulichung betrachten wir noch einmal die Abb. 3.2. In dem Fall (c) erfolgt die Rotation um eine Haupttr¨agheitsachse  = ω  . In dem Fall (b) stimmen Drehachse ω  und Hauptund daher ist L   . Wie aus Abb. 3.3 ersichttr¨ agheitsachse nicht u ¨ berein, und daher ist L = ω lich, liegt das daran, dass r⊥ nicht in der von r und p definierten Ebene liegt. Zur Erf¨ ullung dieser Bedingung ist es keineswegs notwendig, dass wie bei der Rotation r und p senkrecht aufeinanderstehen. In der Abb. 3.6 ist ein Fall gezeigt, bei dem sich ein K¨ orper mit konstantem Impuls p auf einen anderen K¨ orper zubewegt. Auch in diesem Fall liegt r ⊥ in der von r und p definierten Ebene; dieser Bewegung entspricht daher ein Drehimpuls  mit L = r × p = r⊥ p n

r⊥ p = konst,

(3.26)

 = r × p die feste Orientierung der Ebene angibt. Die u wobei n ¨ berraschende Erkenntnis ist, dass auch die geradlinige Bewegung einer Masse m einen Drehimpuls L = m r ×v enth¨ alt, der sich w¨ ahrend der Bewegung nicht ver¨andert.

64

3 Die Physik des starren K¨ orpers

p

Abb. 3.6. Auch wenn sich ein K¨ orper geradlinig gleichf¨ ormig mit Impuls p auf einen anderen K¨ orper zubewegt, steckt in dieser Bewegung ein Drehimpuls L, der zeitlich konstant bleibt

L

r

r

Das Wort “Drehimpuls” impliziert daher nicht in jedem Fall die Rotation als Bewegungsform.  = ω  , wird die DrehKommen wir zur¨ uck zu wirklichen Rotationen. Falls L  nicht mehr eine feste Richtung im Raum besitzen. Auf der anderen achse ω Seite erkennen wir anhand der Gleichung (3.22), dass auch in diesem Fall eine ausgezeichnete Richtung existiert, falls keine ¨ außeren Drehmomente auf den K¨ orper wirken, also M = 0 ist. Erhaltungsgesetz des Drehimpulses: In einem abgeschlossenen System bleibt der Gesamtdrehimpuls erhalten  Li = Ltot = konst. (3.27) i

¨ Unsere bisherigen Uberlegungen zur festen Ausrichtung der Drehachse erwei Denn der Drehimpuls bleibt  = L. sen sich daher als Bedingungen daf¨ ur, dass ω  in jedem Fall fest ausgerichtet, wenn das System abgeschlossen ist. Zeigt ω  um die Drenicht in die Richtung des Drehimpulses, so wird die Drehachse ω  tot mit der Winkelgeschwindigkeit Ω rotieren, und zwar mit himpulsachse L einem Drehimpuls LΩ , sodass zu jeder Zeit gilt L + LΩ = Ltot = konst.

(3.28)

Diese Rotation der Drehachse sollte nicht verwechselt werden mit der Pr¨ azes tot , die auftritt, wenn der rotierende K¨ orper nicht sion der Drehimpulsachse L mehr im Massenmittelpunkt S unterst¨ utzt wird, also die Gravitationskraft F G = −G y auf ihn wirkt. In diesem Fall ist das System nicht mehr abgeschlossen, d.h. das Erhaltungsgesetz (3.27) gilt nicht mehr. Welche Bewegung f¨ uhrt der K¨ orper aus? Wir legen den Koordinatenursprung in den Unterst¨ utzungspunkt des K¨ orpers auf der Drehachse, um die er mit Winkelgeschwindigkeit ω = ω z und Drehimpuls L = I (z) ω rotiert. Die Gravitationskraft F G erzeugt ein Dreh auf den K¨ moment M = zS G x orper, unter dessen Einfluss sich die Drehachse um die y-Achse dreht, da nach Gleichung (3.22) dL parallel zu M steht. Aus

3.3 Drehimpuls und Drehimpulserhaltung

y

Ω M

Abb. 3.7. Die Lage der Vektoren an einem K¨ orper, der um die z-Achse rotiert und nicht in seinem Massenmittelpunkt unterst¨ utzt ist. Durch seine Gewichtskraft F G wird ein Drehmoment M erzeugt, das die z-Achse um die y-Achse mit der Winkelgeschwindigkeit Ω dreht



L z

x

65

dL

FG Abb. 3.7 und Gleichung (3.22) ergeben sich folgende Zusammenh¨ange: dΦ L = dL

,

dL =M dt



dΦ L=M , dt

d.h. die Pr¨azessionsgeschwindigkeit Ω = dΦ/dt ergibt sich zu Ω=

M zS G = (z) . L I ω

(3.29)

Der Gesamtdrehimpuls betr¨ agt dann L + LΩ = Ltot ,

(3.30)

 tot um die y-Achse, die aber in diesem Fall pr¨ azessiert die Drehimpulsachse L

Tabelle 3.1. Vergleich zwischen den Bewegungsgesetzen der Translation und der Rotation um eine Haupttr¨ agheitsachse Translation

Rotation

Ortsvektor r Drehwinkel ϕ Geschwindigkeit v Winkelgeschwindigkeit ω = dϕ/dt (r × v ) Beschleunigung a = dv/dt = d2 r/dt2 Winkelbeschl. dω/dt = d2 ϕ/dt2 Masse

m

Tr¨ agheitsmoment

I (z)

Impuls Kraft

p = mv F = dp/dt

Drehimpuls Drehmoment

L = I (z) ω M = dL/dt

Kin. Energie

Wtrans = m v 2 /2

Kin. Energie

Wrot = I (z) ω 2 /2

Ortstrajektorie r(t) = (dv/dt) t2 /2 + v 0 t + r 0

Kreistrajektorie ϕ(t) = (dω/dt) t2 /2 + ω0 t + ϕ0

66

3 Die Physik des starren K¨ orpers

fest im Raum steht: Sie ist definiert durch die Richtung der Gravitationskraft. Als Kinder waren wir mit dieser Bewegung sehr vertraut. So bewegt sich ein Kreisel, wenn die Kreiselachse nicht mehr senkrecht auf dem Erdboden steht. Die formale Behandlung der Translations- und Rotationsbewegungen wei¨ sen offensichtlich große Ahnlichkeiten auf. Allerdings sollten wir uns auch daran erinnern, dass Bewegungsgesetze der Translation polare Vektoren miteinander verkn¨ upfen, die der Rotation aber axiale Vektoren, siehe Anmerkung 2.1.3. Die wichtigsten Gesetze der Translation und der Rotation um eine Haupttr¨ agheitsachse sind in Tabelle 3.1 zusammengefasst. Ein wichtiger Unterschied ist, dass Translationen mithilfe des Ortsvektors r(t) beschrieben werden, Rotationen durch den Drehwinkel ϕ, der ein Skalar ist. Anmerkung 3.3.1: Die Beziehung L = r × p spielt bei den St¨ oßen zwischen zwei K¨ orpern eine große Rolle. Ist der Stoß zentral, besitzen r und p die gleiche Richtung, d.h. der Drehimpuls L ist null f¨ ur zentrale St¨ oße. F¨ ur nicht zentrale St¨ oße (siehe Abb. 3.6) ist dagegen stets L = 0. In jedem Fall muss der Drehimpuls w¨ ahrend des Stoßes erhalten bleiben. Diese Forderung schr¨ ankt den Wertebereich der kinematischen Gr¨ oßen weiter ein, als wir in Kap. 2.4.1 diskutiert haben, aber f¨ ur zentrale St¨ oße sind die Ergebnisse weiterhin korrekt. Anmerkung 3.3.2: F¨ ur einen Kreis mit Radius r betr¨ agt die Fl¨ ache dA eines Kreisorper auf einer Kreisbahn, so ist die pro segments dA = 21 r 2 dϕ. Bewegt sich ein K¨ Zeiteinheit u ache ¨ berstrichene Fl¨ 1 dA = r 2 ω = konst, dt 2 andern darf. Dies ist die weil der Drehimpuls L = m r 2 ω zeitlich sich nicht ver¨ Aussage des 3. Kepler’schen Gesetzes in Kap. 2.2.4.

4 Die Physik des deformierbaren K¨ orpers

Im letzten Kap. 3 haben wir angenommen, dass die Abst¨ande zwischen den Massenpunkten (Atomen) eines starren K¨ orpers sich nicht ver¨andern. Zum Beispiel auch dann nicht, wenn eine a ußere Kraft F n normal zu seiner Ober¨ fl¨ ache auf den K¨ orper wirkt. Diese Annahme ist in vielen F¨allen gerechtfertigt, aber nicht in allen. Denn der Gleichgewichtsabstand d zwischen zwei Massenpunkten des K¨ orpers wird bestimmt durch die Kraft zwischen den Massenpunkten. Und folglich h¨ angt auch sein Verhalten gegen¨ uber ¨außeren Kr¨aften von den Eigenschaften der inneren Kr¨ afte ab. Die inneren Kr¨afte haben ihren Ursprung in der elektrischen Kraft, sie lassen sich aber nicht einfach durch Gleichung (1.5) beschreiben und werden daher als Van-der-Waals-Kr¨ afte bezeichnet.

4.1 Die harmonische N¨ aherung Weil die Gleichgewichtslage eines Massenpunkts bestimmt wird durch seine potenzielle Energie, wollen wir statt der inneren Kr¨afte die mit ihnen verbundene potenzielle Energie Wpot (r) untersuchen, wobei r der jetzt als variabel angenommene Abstand des Massenpunkts zu seinem n¨achsten Nachbarn ist. Das Verhalten von Wpot (r) als Funktion von r k¨onnen wir uns folgendermaßen u ¨ berlegen: • • •

F¨ ur r > rmax muss Wpot (r) → 0 gelten, denn beide Massenpunkte sind praktisch freie Teilchen, d.h. es wirken keine Kr¨afte mehr auf sie. urden sich F¨ ur r < rmin muss Wpot (r) → ∞ gelten, denn andernfalls w¨ alle Massenpunkte unter der Wirkung einer starken ¨außeren Kraft F n zu einem einzigen Massenpunkt vereinen. F¨ ur rmin < r < rmax muss Wpot (r) < 0 gelten, denn die potenzielle Energie muss f¨ ur r = d ein Minimum besitzen, damit ein stabiler Gleichgewichtszustand existiert.

68

4 Die Physik des deformierbaren K¨ orpers Abb. 4.1. Abh¨ angigkeit der potenziellen Energie eines Atoms vom Abstand r zu seinem n¨ achsten Nachbaratom. Die gestrichelte Parabel stellt die harmonische N¨ aherung um das Minimum der potenziellen Energie dar

Wpot

d r

Experimentell hat man gefunden, dass sich die potenzielle Energie eines Massenpunkts in einem K¨ orper am besten durch die Lennard-Jones-Funktion beschreiben l¨ asst, die in Abb. 4.1 dargestellt ist: Wpot (r) = Cr r−12 − Ca r−6

mit

Cr > 0

und

Ca > 0 .

(4.1)

Diese Funktion hat ein Minimum an der Stelle r = d mit folgenden Werten:  2 Cr C2 d= 6 und Wpot (d) = − a . (4.2) Ca 4 Cr Das bedeutet, die experimentell bestimmbaren Werte von d und Wpot (d) legen die Parameter Cr (repulsiver Anteil) und Ca (attraktiver Anteil) fest. Besonders wichtig ist, dass wir die Lennard-Jones-Funktion um die Stelle r = d in eine Taylor-Reihe (siehe Anhang 5) entwickeln k¨onnen Wpot (d − r) = Wpot (d) +

(4.3) 2

2

3

3

(d − r) d Wpot (d) (d − r) d Wpot (d) + + ... . 2! dr2 3! dr3

Das lineare Glied in der Entwicklung (4.3) muss verschwinden, weil wir die Funktion (4.1) um ihr Minimum herum entwickeln. F¨ ur kleine Auslenkungen x = d−r k¨ onnen wir die Entwicklung nach dem quadratischen Glied abbrechen und erhalten Wpot (x) = −

x2 Ca2 +D 4 Cr 2

mit

D=

d2 Wpot (d) >0. dr2

(4.4)

Diese Abh¨ angigkeit der potenziellen Energie von der Auslenkung x aus der Ruhelage ist charakteristisch f¨ ur eine harmonische bzw. elastische Kraft. Wird ein Massenpunkt des K¨ orpers durch eine ¨ außere Kraft F um die L¨ange x aus seiner Ruhelage ausgelenkt, erzeugen die inneren Kr¨afte eine Gegenkraft, die proportional zur Auslenkung ist.

4.2 Elastische Verformungen

69

Wie u agt sich dieses Verhalten eines Massenpunkts auf das Verhalten ¨ bertr¨ des Gesamtk¨ orpers, der aus n Massenpunkten besteht?

4.2 Elastische Verformungen Bei kleinen Auslenkungen der Massenpunkte aus ihrer Gleichgewichtslage sind die Verformungen des K¨ orpers elastisch und reversibel. Das bedeutet, der K¨ orper kehrt in seinen stabilen Ausgangszustand zur¨ uck, wenn die ¨außeren Kr¨ afte verschwinden. Werden die Kr¨ afte und damit die Auslenkungen zu groß, bleibt der K¨ orper permanent deformiert. Man nennt dies, im Gegensatz zur elastischen Verformung, eine plastische Verformung. Maßgeblich f¨ ur die elastische Verformung ist das Verh¨altnis der auf den K¨ orper wirkenden Kr¨ afte ∆F zu der K¨ orperoberfl¨ache ∆A. Das Verh¨ altnis S = ∆F /∆A wird Spannung genannt mit der Maßeinheit [S] = N m−2 . Wir unterscheiden zwischen folgenden Kr¨ aften: •

Kr¨ afte, die normal auf die K¨ orperoberfl¨ ache wirken, erzeugen die Normalspannung σ=

∆Fn . ∆A

(4.5)

Die Normalspannung ist verantwortlich f¨ ur die Dehnung und die Biegung eines K¨ orpers, siehe Abb. 4.2.

l

Fn

∆s

Fn

l

∆l

Abb. 4.2. Die Wirkung einer Normalkraft auf einen deformierbaren K¨ orper, der einseitig (links) fixiert ist. Links dehnt sich der K¨ orper um die Strecke ∆l aus, rechts biegt er sich um die Strecke ∆s durch

70

4 Die Physik des deformierbaren K¨ orpers

Dehnung: Die relative Dehnung ∆l/l h¨ angt linear von der Normalspannung σ ab: ∆l 1 = σ. l E

(4.6)

Der Parameter E wird Elastizit¨ atsmodul genannt, er ist charakteristisch f¨ ur das Material des K¨ orpers. Dabei wird angenommen, dass der K¨orper immer an einem Ende fixiert ist. Der Elastizit¨atsmodul besitzt die Maßeinheit [E] = N m−2 . Biegung: Die maximale Durchbiegung ∆s/l h¨angt linear von der Normalkraft Fn ab: ∆s Φn = Fn . l E

(4.7)

Der Geometriefaktor Φn beschreibt die Gestalt des K¨orpers und die Art seiner Fixierung. Er besitzt die Maßeinheit [Φn ] = m−2 .



Kr¨ afte, die tangential auf die K¨ orperoberfl¨ ache wirken, erzeugen die Tangentialspannung τ=

∆Ft . ∆A

(4.8)

Die Tangentialspannung ist verantwortlich f¨ ur die Scherung und die Torsion eines K¨ orpers, siehe Abb. 4.3.

Ft γ

Ft α

Abb. 4.3. Die Wirkung einer Tangentialkraft auf einen deformierbaren K¨ orper, der einseitig (unten) fixiert ist. Links f¨ uhrt der K¨ orper eine Scherung um den Winkel γ aus, rechts f¨ uhrt er eine Torsion um den Winkel α aus

4.2 Elastische Verformungen

71

Scherung: Der Scherwinkel γ h¨ angt linear von der Tangentialspannung τ ab: γ=

1 τ . G

(4.9)

Der Parameter G wird Schubmodul genannt, er ist charakteristisch f¨ ur das Material des K¨ orpers. Dabei wird angenommen, dass der K¨orper immer an einer Fl¨ ache fixiert ist. Der Schubmodul besitzt die Maßeinheit [G] = N m−2 . Torsion: Der Torsionswinkel α h¨ angt linear von dem tangentialen Drehmoment Mt ab: α=

Φt Mt . G

(4.10)

Der Geometriefaktor Φt beschreibt die Gestalt des K¨orpers und die Art seiner Fixierung. Er besitzt die Maßeinheit [Φt ] = m−3 . Daraus folgern wir, dass allgemein gelten muss: Im elastischen Bereich besteht ein linearer Zusammenhang zwischen der Verformung ǫ eines K¨ orpers und der a ¨ußeren Spannung S (Hooke’sches Gesetz). Dies ist in Abb. 4.4 dargestellt. F¨ ur kleine Spannungen ist der Zusammenhang ¨ linear. Wird die Spannung zu groß, erfolgt der Ubergang vom elastischen in den plastischen Bereich, der K¨ orper ver¨ andert seine Gestalt irreversibel, bis er zun¨ achst fließt und dann zerreißt. Wir wollen die Dehnung und Biegung noch etwas detaillierter betrachten.

Verformung ε

3 2 1

Spannung σ

Abb. 4.4. Die Abh¨ angigkeit der Verformung von der Spannung. Die lineare Abh¨ angigkeit bis 1 ist charakteristisch f¨ ur die elastische Verformung, zwischen 1 und 2 ist die Verformung plastisch, der Fließbereich liegt zwischen 2 und 3, im Punkt 3 zerreißt der K¨ orper

72

4 Die Physik des deformierbaren K¨ orpers

4.2.1 Die elastische Dehnung Wird ein K¨ orper durch eine Normalkraft geringf¨ ugig gedehnt, so folgt die Dehnung dem Hooke’schen Gesetz ǫl =

1 ∆l = σ. l E

(4.11)

Gleichzeitig ver¨ andert der K¨ orper aber auch seinen Querschnitt, den wir mithilfe der Breite b beschreiben wollen. Die relative Breiten¨anderung ǫb = ∆b/b h¨ angt mit ǫl u ¨ ber die Poisson-Zahl µ zusammen ǫb = −µ ǫl .

(4.12)

Das negative Vorzeichen ber¨ ucksichtigt die Tatsache, dass bei einer Verl¨angerung des K¨ orpers sein Querschnitt kleiner werden muss. F¨ ur die Ver¨anderung des K¨ orpervolumens ergibt sich: ∆V = (l + ∆l) (b + ∆b)2 − l b2 ≈ b2 ∆l + 2 b l ∆b , wobei alle Terme, die quadratisch in den Ver¨ anderungen sind, vernachl¨assigt wurden. Die relative Volumen¨ anderung ist daher ǫV =

∆l ∆b σ ∆V = +2 = (1 − 2 µ) . V l b E

(4.13)

Da f¨ ur die relative Volumen¨ anderung 0 < ǫV < 1 gelten muss, erhalten wir als Wertebereich der Poisson-Zahl 0 Po .

(5.9)

Die Druckdifferenz ∆P = Pu −Po f¨ uhrt zu einer in y gerichteten Auftriebskraft F A = ∆P A y = ρm,fl g (hu − ho ) A y = mfl g y .

(5.10)

Die St¨ arke dieser Auftriebskraft ist also gleich dem Gewicht der verdr¨angten Fl¨ ussigkeit. •

Archimedisches Prinzip

Die Auftriebskraft F A wirkt der Gravitationskraft F G = −G y auf den K¨ orper in der Fl¨ ussigkeit entgegen. Er erh¨ alt dadurch in der Fl¨ ussigkeit ein geringeres Gewicht G′ : G′ = G − FA = (m − mfl ) g = V g (ρm − ρm,fl ) .

(5.11)

Die Differenz ∆G = G − G′ zwischen den Gewichten innerhalb und außerhalb der Fl¨ ussigkeit betr¨ agt ∆G = V g ρm,fl =

G ρm,fl , ρm

(5.12)

und kann zur Bestimmung der Massendichte des K¨orpers verwendet werden, wenn die Massendichte der Fl¨ ussigkeit bekannt ist ρm =

G ρm,fl . ∆G

(5.13)

Diese Methode wurde, der Geschichte nach, zum ersten Mal mit Wasser als Fl¨ ussigkeit von Archimedes (285 - 212 v.Chr.) angewendet. Sie funktioniert allerdings nur dann, wenn sich der K¨ orper vollst¨andig im Wasser befindet, wenn also ρm,fl < ρm bzw. G > FA gilt. Wir unterscheiden: 1. Ist G > FA , dann sinkt ein K¨ orper in einer Fl¨ ussigkeit. 2. Ist G = FA , dann schwebt ein K¨ orper in einer Fl¨ ussigkeit. 3. Ist G < FA , dann schwimmt ein K¨ orper in einer Fl¨ ussigkeit. Dabei ist das von dem K¨ orper verdr¨ angte Fl¨ ussigkeitsvolumen Vfl kleiner als das K¨ orpervolumen V , und zwar ergibt sich Vfl = V ρm /ρm,fl .

5.1 Ruhende Fl¨ ussigkeiten

79

Abb. 5.1. Die inneren Kr¨ afte auf ein Atom kompensieren sich im Inneren einer Fl¨ ussigkeit, da sich auf allen Seiten ein Nachbaratom befindet. Auf der Oberfl¨ ache kompensieren sie sich nicht, da sich außen keine Nachbaratome befinden. Dadurch entsteht auf der Oberfl¨ ache eine resultierende Normalkraft, die in das Innere der Fl¨ ussigkeit gerichtet ist

Auβ en

Innen

Auf der Erdoberfl¨ ache m¨ ussen Fl¨ ussigkeiten immer von W¨anden eingeschlossen sein, um die Wirkung des Schweredrucks zu kompensieren. Wollen wir den Schweredruck ausschalten, haben wir oben einfach eine masselose Fl¨ ussigkeit betrachtet. Dies ist eine hypothetische Fl¨ ussigkeit, d.h. sie existiert nicht wirklich. Man kann aber auch auf der Erdoberfl¨ache Fl¨ ussigkeiten ohne den Einfluss der Gravitationskraft untersuchen, indem man sie frei fallen l¨ asst, siehe Kap. 2.2.3. Auf eine frei fallende Fl¨ ussigkeit wirken keine ¨außeren Kr¨ afte mehr, sondern allein ihre inneren Kr¨ afte. Unter dem Einfluss dieser Kr¨ afte treten neue Ph¨ anomene auf, die wir jetzt betrachten wollen. •

Spezifische Oberfl¨ achenenergie

Die inneren Kr¨ afte entstehen durch die Wechselwirkungen der Atome bzw. Molek¨ ule einer Fl¨ ussigkeit untereinander, sie sind daf¨ ur verantwortlich, dass die Fl¨ ussigkeit einen Gleichgewichtszustand mit festem Volumen besitzt. Im Inneren einer Fl¨ ussigkeit kompensieren sich alle Kr¨afte zwischen einem Atom und seinen Nachbaratomen zu einer resultierenden Kraft F = 0, siehe Abb. 5.1. An der Oberfl¨ achen fehlen aber die Nachbarn auf der Außenseite, und daher entsteht eine resultierende Normalkraft, die nach innen gerichtet ist und den Druck P in der Fl¨ ussigkeit erzeugt. Diese Normalkr¨afte sind auch verantwortlich f¨ ur die stabile Oberfl¨ achenform der Fl¨ ussigkeit, d.h. Abweichungen von der Gleichgewichtsform f¨ uhren zu einer Zunahme der potenziellen Energie (siehe Kap. 3.1.3). Diese Zusammenh¨ ange werden beschrieben durch die Oberfl¨ achenenergie pro Oberfl¨ ache, also die spezifische Oberfl¨achenenergie χ=

∆WA ∆A

, [χ] = N m−1 ,

(5.14)

die man ungl¨ ucklicherweise oft auch als Oberfl¨ achenspannung bezeichnet (Die Spannung S hat die Einheit [S] = N m−2 ). Die Gleichgewichtsform einer frei fallenden Fl¨ ussigkeit ist daher die Form, die bei gegebenem Volumen die kleinste Oberfl¨ache besitzt, und das ist die Kugel. Will man die Kugelgestalt ver¨ andern, d.h. die Gleichgewichtsform verlassen, muss dazu Arbeit verrichtet werden, weil die potenzielle Energie zunimmt. Diese Arbeit ergibt sich zu

80

5 Die Physik der Fl¨ ussigkeiten

dWA = Fn dx = P A dx = P dV = χ dA .

(5.15)

F¨ ur eine Kugel mit Radius r gilt dV = 4π r2 dr

, dA = 8π r dr ,

(5.16)

und daraus ergibt sich f¨ ur den Innendruck in der Kugel, die wir Fl¨ ussigkeitstropfen nennen 2χ . (5.17) r Ein Tropfen besitzt eine Oberfl¨ ache, die Außenfl¨ache. Eine Fl¨ ussigkeitsblase besitzt dagegen 2 Fl¨ achen, die Innen- und die Außenfl¨ache. Und daher betr¨agt der Innendruck in einer Blase 4χ . (5.18) P = r In beiden F¨ allen ist der Druck umso gr¨ oßer, je kleiner der Radius ist. Und im Grenzfall geht P → ∞, wenn r → 0. Eine Blase neu mit r = 0 zu erzeugen, z.B. in kochendem Wasser, ist daher im Prinzip unm¨oglich (Siedeverzug)1 . Es gelingt nur, wenn sich Keime f¨ ur die Blasenbildung mit Kr¨ ummungsradien r > 0 in dem Wasser befinden. P =



Grenzfl¨ achen

Im allgemeinen Fall bildet die Oberfl¨ ache einer Substanz immer eine Grenzfl¨ ache zu einem anderen Medium. Zum Beispiel kann die Fl¨ ussigkeitsoberfl¨ache eine Grenzfl¨ ache zu einem Gas oder zu einem Festk¨orper sein. Dann werden an diesen Grenzfl¨ achen nicht nur die (nach innen gerichteten) inneren Kr¨afte zwischen den Atomen der Fl¨ ussigkeit wirken, sondern auch die Kr¨afte zwischen den Atomen auf beiden Seiten der Grenzfl¨ ache. Die ersteren Kr¨afte nennt man die Koh¨ asionskr¨ afte der Substanz, die letzteren die Adh¨ asionskr¨ afte an einer Grenzfl¨ache zwischen Substanz und Medium. F¨ ur das Verhalten einer Fl¨ ussigkeit an der Grenzfl¨ ache (k, l) ist entscheidend, wie stark die Koh¨ asionskr¨ afte verglichen mit den Adh¨ asionskr¨aften sind. Charakterisieren wir deren relative St¨ arke wiederum durch eine spezifische Energiedichte χ(k,l) an der Grenzfl¨ ache, dann gilt χ(k,l) > 0 wenn Koh¨ asion (k) gr¨ oßer als Adh¨ asion (k, l) , χ(k,l) < 0 wenn Koh¨ asion (k) kleiner als Adh¨ asion (k, l). Diese Vorzeichenregel sagt etwas aus u ¨ ber die Richtung der resultierenden Normalkraft: Diese Kraft zeigt in die Substanz (k), wenn die spezifische Energiedichte χ(k,l) positiv ist, und sie zeigt in das Medium (l), wenn die spezifische Energiedichte χ(k,l) negativ ist. 1

Eigentlich sollte man von einem Gastropfen in einer Fl¨ ussigkeit reden, aber der Namen “Gasblase” ist gel¨ aufiger.

5.1 Ruhende Fl¨ ussigkeiten

1

χ(2,3)0 α

χ(2,1)>0

χ(2,1)>0

3

81

α

1 2

Abb. 5.2. Das Verhalten einer Fl¨ ussigkeit an der Grenzfl¨ ache zu einem festen K¨ orper. Links ist der Fall einer nichtbenetzenden Fl¨ ussigkeit gezeigt, rechts der einer benetzenden Fl¨ ussigkeit

In der Abb. 5.2 sind die Verh¨altnisse an den Grenzfl¨achen gezeigt, die sich zwischen den drei Aggregatzust¨anden gasf¨ormig(1), fl¨ ussig(2) und fest(3) ausbilden. Bildet die Fl¨ ussigkeitsoberfl¨ache mit  der festen Wand einen Winkel α, dann verlangt die Gleichgewichtsbedingung F n,i = 0: χ(2,3) + χ(3,1) + χ(2,1) cos α = 0 .

(5.19)

χ(2,1) entspricht unserer bisherigen spezifischen Oberfl¨achenenergie: χ(2,1) ist immer positiv, denn die Normalkr¨afte zeigen in die Fl¨ ussigkeit und erzeugen den Innendruck. χ(3,1) beschreibt das Verhalten an der Grenzfl¨ache zwischen dem festen und dem gasf¨ormigen Medium. Diese Grenzfl¨ache ver¨andert sich praktisch nicht, und daher gilt χ(3,1) ≈ 0. Die Gleichgewichtsbedingung (5.19) reduziert sich daher auf cos α = −

χ(2,3) |χ(2,1) |

(5.20)

und ergibt eine Bedingung daf¨ ur, welchen Winkel die Fl¨ ussigkeitsoberfl¨ache mit der festen Wand bildet. Wir unterscheiden (siehe Abb. 5.2): (1) Nichtbenetzende Fl¨ ussigkeiten. ussigkeitsoberfl¨ache ist In diesem Fall ist χ(2,3) > 0 und damit α > 90◦ , die Fl¨ also konvex gekr¨ ummt. Diese Verh¨altnisse liegen dann vor, wenn die Koh¨asion zwischen den Atomen der Fl¨ ussigkeit gr¨oßer ist als die Adh¨asion mit den Atomen der Wand. Ein Beispiel f¨ ur dieses Verhalten finden wir in der Grenzfl¨ache zwischen Quecksilber und Glas.

82

5 Die Physik der Fl¨ ussigkeiten

(2) Benetzende Fl¨ ussigkeiten. ussigkeitsoberfl¨ache ist In diesem Fall ist χ(2,3) < 0 und damit α < 90◦ , die Fl¨ also konkav gekr¨ ummt. Diese Verh¨ altnisse liegen dann vor, wenn die Koh¨asion zwischen den Atomen der Fl¨ ussigkeit kleiner ist als die Adh¨asion mit den Atomen der Wand. Ein Beispiel f¨ ur dieses Verhalten finden wir in der Grenzfl¨ache zwischen Methanol und Glas. Ein besonders interessanter Fall tritt auf, wenn |χ(2,3) | > |χ(2,1) | wird. In diesem Fall hat die Gleichung (5.20) keine L¨osung, die Fl¨ ussigkeit kriecht an der Wand empor und aus dem Gef¨aß. •

Kapillarit¨ at

Das unterschiedliche Verhalten von nichtbenetzenden und benetzenden Fl¨ ussigkeiten l¨ asst sich auch so interpretieren, dass es bei letzteren energetisch vorteilhafter ist, wenn die Grenzfl¨ ache fest-fl¨ ussig m¨oglichst groß wird, denn die damit verbundene potenzielle Energie nimmt ab. Auf der anderen Seite muss dabei Arbeit gegen die Gravitationskraft auf die Atome der Fl¨ ussigkeit verrichtet werden. Und daher stellt sich ein neuer Gleichgewichtszustand ein, sodass der Verlust an Grenzfl¨ achenenergie ∆WA = −P ∆V gleich groß ist wie der Gewinn an Gravitationsenergie ∆Wpot = mfl g h: P ∆V = mfl g h .

(5.21)

Praktisch bedeutet dies, dass eine benetzende Fl¨ ussigkeit in einem engen Rohr (Kapillare) gegen die Gravitationskraft nach oben aufsteigt, w¨ahrend eine nichtbenetzende Fl¨ ussigkeit mit der Gravitationskraft nach unten absinkt. Diese Verh¨ altnisse sind in der Abb. 5.3 dargestellt. Wir nehmen an, dass die Fl¨ ussigkeitsoberfl¨ache die Form einer Kugelschale mit dem Kr¨ ummungradius r besitzt, und die Kapillare den Durchmesser 2 rK hat. Dann besteht folgender Zusammenhang zwischen rK und r r=

r

r

α

α d=2rK

rK , cos α

(5.22)

Abb. 5.3. Eine benetzende Fl¨ ussigkeit in einer Kapillaren. Die Fl¨ ussigkeitsoberfl¨ ache ist konkav gew¨ olbt, die Fl¨ ussigkeit steigt in der Kapillaren hoch, weil sich dadurch die potenzielle Energie des Systems verringert (ξ(2, 3) ist negativ)

5.2 Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten

83

und der durch diese Kugelschale erzeugte Druck ergibt sich nach Gleichung (5.17) zu P =

2 |χ(2,1) | 2 |χ(2,1) | cos α . = r rK

(5.23)

Aus den Gleichgewichtsbedingungen (5.20) und (5.21) folgt daher 2 |χ(2,1) | cos α = ρm,fl g h rK



h=−

2 χ(2,3) . ρm,fl g rK

(5.24)

Ist χ(2,3) < 0 (benetzende Fl¨ usgigkeit), so steigt die Fl¨ ussigkeit in der Kapilusgigkeit), so sinkt die Fl¨ ussigkeit in laren, ist χ(2,3) > 0 (nichtbenetzende Fl¨ der Kapillaren. •

Wasserl¨ oslichkeit

Zum Schluss soll noch kurz erw¨ ahnt werden, dass die spezifische Grenzfl¨ achenenergie auch daf¨ ur verantwortlich ist, ob sich eine Fl¨ ussigkeit in Wasser l¨ost oder nicht. L¨ osliche Fl¨ ussigkeiten(k) (z.B. Methanol) unterscheiden sich ¨ dadurch, dass erstere eine Grenzf¨ache von unl¨ osliche Fl¨ ussigkeiten(k) (z.B. Ol) mit Wasser(k,l) bilden, an der χ(k,l) < 0 gilt, w¨ahrend f¨ ur letztere χ(k,l) > 0 ist. Anmerkung 5.1.1: Die spezifische Oberfl¨ achenenergie bzw. Grenzfl¨ achenenergie sind keine Materialkonstanten, sondern sie sind z.B. temperatur- und druckabh¨ angig. Im Falle der Wasserl¨ oslichkeit kann die Grenzfl¨ achenenergie durch Tenside so beeinflusst werden, dass unl¨ osliche Fl¨ ussigkeiten l¨ oslich werden. Tenside sind organische Verbindungen (sog. Hydrotope) mit einem hydrophilen (wasserfreundlichen) und hydrophoben (wasserfeindlichen) Ende. W¨ ahrend der hydrophile Teil in das Wasser hineigezogen wird, k¨ onnen wasserunl¨ osliche Molek¨ ule an den aus dem Wasser ragenden hydrophoben Teil binden und werden dadurch wasserl¨ oslich.

5.2 Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten Fl¨ ussigkeiten k¨ onnen str¨ omen, und auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob diese Zustands¨ anderung wegen der Inkompressibilit¨at der Fl¨ ussigkeiten einer Translation des festen K¨ orpers ¨ ahnelt: Jedes Atom bzw. Molek¨ ul in der Fl¨ ussigkeit bewegt sich lokal mit der gleichen Geschwindigkeit v. Die Bahnkurven, auf denen die Atome sich dabei bewegen, w¨aren dann parallel. Man bezeichnet diese Bahnkurven als Stromf¨ aden. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zu der Bewegung eines Festk¨orpers: Fl¨ ussigkeiten besitzen keine feste Oberfl¨ ache, und daher passen sie sich der Gestalt des Gef¨aßes an, durch das sie hindurchstr¨ omen. Die Stromf¨ aden sind deswegen im Allgemeinen

84

5 Die Physik der Fl¨ ussigkeiten

nicht parallel, wir wollen aber zun¨ achst voraussetzen, dass sie u ¨ berall getrennt voneinander verlaufen, d.h. sich nicht durchmischen. Eine Str¨omung mit voneinander getrennten Stromf¨ aden nennt man eine laminare Str¨ omung. Treten in der Str¨ omung Wirbel auf, bei denen sich die Stromf¨aden durchmischen, ist die Str¨ omung turbulent. In allen F¨ allen muss wegen der Inkompressibilit¨at das Fl¨ ussigkeitsvolumen dVi , das pro Zeitintervall dt durch den Eingangsquerschnitt dAi in das Gef¨aß eintritt, genau so groß sein wie das Volumen dVf , das pro Zeitintervall dt durch den Austrittsquerschnitt dAf aus dem Gef¨aß wieder austritt: dVf dVi = dt dt



Ai

dxi dxf = Af . dt dt

(5.25)

Daraus ergibt sich Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten gehorchen der Kontinuit¨ atsgleichung   v i · dAi = v f · dAf ,

(5.26)

Af

Ai

wobei Ai der Eingangsquerschnitt und v i die Eingangsgeschwindigkeit, bzw. Af der Ausgangsquerschnitt und v f die Ausgangsgeschwindigkeit sind. Sind die Geschwindigkeiten konstant u achen und str¨omt die Fl¨ ussigkeit ¨ ber die Fl¨ senkrecht auf die Fl¨ achen, so ergibt sich aus der allgemein g¨ ultigen Kontinuit¨ atsgleichung (5.26) der Spezialfall (5.25). 5.2.1 Ideale Fl¨ ussigkeiten Wir wollen die Konsequenzen der Kontinuit¨ atsgleichung zun¨achst f¨ ur ideale Fl¨ ussigkeiten betrachten, also solche Fl¨ ussigkeiten, bei denen die inneren Kr¨ afte zwischen den Atomen bzw. Molek¨ ulen nicht zu Reibungsverlusten f¨ uhren. Dann muss die mechanische Energie Wmech = Wkin + Wpot der Fl¨ ussigkeit erhalten bleiben. Aufgrund der Kontinuit¨atsgleichung ver¨andert sich u.U. die Geschwindigkeit der Fl¨ ussigkeit, also ihre kinetische Energie. ¨ ¨ Und diese Anderung muss durch eine entsprechende Anderung der potenziellen Energie ausgeglichen werden, siehe Gleichung (5.15). ∆Wkin =

 ∆m  2 vf − vi2 2

, ∆Wpot = ∆V (Pf − Pi ) .

(5.27)

Und daher wegen der Erhaltung der mechanischen Energie ∆Wkin + ∆Wpot = 0



 ρm  2 vf − vi2 = Pi − Pf . 2

Betrachten wir P als den hydrostatischen Druck, dann ergibt sich

(5.28)

5.2 Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten

85

F¨ ur eine ideal str¨ omende Fl¨ ussigkeit gilt die Erhaltung der mechanischen Energie (Bernoulli’sches Gesetz) ρm 2 v + P + ρm g h = konst. 2

(5.29)

Man bezeichnet den Term • • •

P als den statischen Druck, (ρm /2) v 2 als den Staudruck, ρm g h als den Schweredruck.

Die wichtigste Aussage des Bernoulli’schen Gesetzes ist, dass der hydrostatische Druck in einer Fl¨ ussigkeit abnimmt, wenn die Str¨omungsgeschwindigkeit ansteigt, also der Staudruck zunimmt. Diese Druckabnahme kann man mithilfe von Steigr¨ ohren, die nach dem Bernoulli’schen Gesetz arbeiten, sichtbar machen, wie es in Abb. 5.4b dargestellt ist. In der rechten und linken Steigr¨ohre gilt P+

ρm 2 v + ρm g h1 = konst, 2 1

in der mittleren Steigr¨ ohre gilt P+

ρm 2 v + ρm g h2 = konst. 2 2

In allen Steigr¨ ohren herrscht ein konstanter statischer Druck P , aber zwischen der linken bzw. rechten Steigr¨ ohre und der mittleren gilt

a

b

c

Abb. 5.4. Die Druckverteilung in einer Fl¨ ussigkeit. Der Fall a stellt eine ruhende Fl¨ ussigkeit dar, der Fall b eine str¨ omende ideale Fl¨ ussigkeit und der Fall c eine str¨ omende reale Fl¨ ussigkeit. Die schwarzen Kurven zeigen die Stromf¨ aden, die nicht verwirbelt sind, da es sich in den F¨ allen b und c um eine laminare Str¨ omung handelt

86

5 Die Physik der Fl¨ ussigkeiten

h 1 > h2

weil v1 < v2 .

Eine weitere Folge der h¨ oheren Geschwindigkeit v2 ist, dass auf die W¨ande der Rohrverengung eine nach innen gerichtete, also anziehende Querkraft wirkt. Dieser Effekt wird z.B. bei der Wasserstrahlpumpe zum Evakuieren eines Gasbeh¨ alters genutzt. Das Bernoulli’sche Gesetz gilt f¨ ur alle reibungsfreien und laminaren Str¨ omungen, und das beste Beispiel f¨ ur derartige Str¨omungen sind nicht Fl¨ ussigkeitsstr¨ omungen, sondern Gasstr¨ omungen. Die wichtigsten Anwendungen hier sind die Kr¨ afte auf einen Tragfl¨ ugel, die einem Flugzeug das Fliegen erm¨ oglichen oder dem Rotor einer Windkraftanlage die Drehung im Wind. 5.2.2 Reale Fl¨ ussigkeiten Das Druckverhalten in einer realen, str¨ omenden Fl¨ ussigkeit wird niemals ein Bild wie in Abb. 5.4b liefern, sondern wird so aussehen, wie in Abb. 5.4c dargestellt: Der Druck in der Fl¨ ussigkeit nimmt von der Eintritts- bis zur Austritts¨ offnung linear mit der durchstr¨ omten Rohrl¨ange l ab, wenn das Rohr einen konstanten Querschnitt AQ = (π/4) d2 besitzt. Dabei ist nicht das Kontinuit¨ atsgesetz (5.26) verletzt, denn die mittlere Str¨omungsgeschwindigkeit v ist u ¨ berall im Rohr gleich groß. Aber das Bernoulli’sche Gesetz (5.29) ist verletzt, denn die mechanische Energie der Fl¨ ussigkeit nimmt ab. Der Grund daf¨ ur ist, dass ein Teil der mechanischen Energie benutzt wird, um Arbeit geussigkeit zu verrichten. Diese Arbeit gen die inneren Reibungskr¨ afte F R der Fl¨ f¨ uhrt zur Erw¨ armung der Fl¨ ussigkeit infolge der Str¨omung. Wir wollen die Str¨ omung durch ein Rohr mit konstantem Durchmesser ussigkeit entd = 2R jetzt n¨ aher untersuchen. Die Reibungskr¨afte F R in der Fl¨ stehen durch Koh¨ asion, die Adh¨ asionskr¨ afte zwischen Fl¨ ussigkeit und Rohrwand sollen so stark sein, dass die Fl¨ ussigkeit an der Wand haftet. Die Orte gleicher Geschwindigkeit sind wegen der Rohrsymmetrie um die Mittelachse z nicht Stromf¨ aden, sondern Stromfl¨ achen, und zwar Stromr¨ohren mit der z-Achse als Symmetrieachse, siehe Abb. 5.5. Den Abstand von der z-Achse kennzeichnen wir durch die Gr¨ oße r⊥ , und daher gilt vz (r⊥ = R) = 0. Dann muss in der str¨ omenden Fl¨ ussigkeit offensichtlich ein Geschwindigkeitsgradient dvz /dr⊥ < 0 existieren, damit die mittlere Str¨omungsgeschwindigkeit v = vz  > 0 ist. Das Geschwindigkeitsprofil vz (r⊥ ) in dem Rohr wird bestimmt durch die Reibungskr¨ afte F R . Anders als bei der Reibung zwischen festen K¨ orpern, bei der es allein auf die Normalkraft an der Kontaktfl¨ache ankam (siehe Gleichung (2.34)), h¨ angen die Reibungskr¨afte in einer str¨omenden Fl¨ ussigkeit von der Gr¨ oße der Str¨ omungsfl¨ achen und dem Geschwindigkeitsgradienten zwischen ihnen ab (beachten Sie, dass dvz /dr⊥ negativ ist) F R = η AF

dvz dvz z = 2π η l r⊥ z . dr⊥ dr⊥

(5.30)

Man bezeichnet dies als das Newton’sche Reibungsgesetz, die Proportionalit¨ atskonstante η in diesem Gesetz nennt man Viskosit¨ at, sie besitzt die

5.2 Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten

d=2R

r laminar vz (r )

z

87

Abb. 5.5. Geschwindigkeitsprofil omumg vz (r⊥ ) einer laminaren Str¨ durch ein Rohr. Zum Vergleich ist gestrichelt in der unteren H¨ alfte der Str¨ omung auch das u ¨ ber lange Zeiten gemittelte Geschwindigkeitsprofil gezeigt f¨ ur den Fall, dass die Str¨ omung turbulent wird

turbulent

Einheit [η] = Pa s. Die Str¨ omung wird verursacht durch eine Normalkraft auf die Str¨ omungsr¨ ohre an der Eintritts¨ offnung, f¨ ur die gilt 2 z . F n = P AQ z = P π r⊥

(5.31)

Im Gleichgewicht, d.h. bei konstanter Str¨ omungsgeschwindigkeit, muss gelten Fn + FR = 0



dvz P r⊥ . =− dr⊥ 2ηl

(5.32)

Dies ist eine Differentialgleichung f¨ ur das Geschschwindigkeitsprofil vz (r⊥ ) mit der Randbedingung vz (R) = 0, die L¨ osung lautet vz (r⊥ ) =

 P  2 2 R − r⊥ . 4ηl

(5.33)

Also hat das Geschwindigkeitsprofil die Gestalt einer Parabel (siehe Abb. 5.5) mit der maximalen Geschwindigkeit vz,max = P R2 /(4 η l) auf der Rohrachse z. Aus diesem Ergebnis lassen sich folgende Schl¨ usse ziehen: •

Die mittlere Str¨ omungsgeschwindigkeit betr¨agt 1 v = vz  = π R2



R

vz (r⊥ ) 2π r⊥ dr⊥ =

P R2 . 8ηl

(5.34)

0

Die Volumenstromst¨ arke, also das pro Zeit durch das Rohr transportierte Fl¨ ussigkeitsvolumen, betr¨ agt πR4 dV = π R2 v = P . dt 8ηl

(5.35)

Die Volumenstromst¨ arke ver¨ andert sich also bei sonst gleichen Bedingungen mit der vierten Potenz des Rohrdurchmessers. Man nennt dies das

88

5 Die Physik der Fl¨ ussigkeiten

Poisseuille’sche Gesetz.



Der Str¨ omungswiderstand ist gegeben durch FW = P AQ = 8π η l v .

(5.36)

Der Widerstand bei der Str¨ omung durch ein Rohr ist daher proportional zur mittleren Str¨ omungsgeschwindigkeit v. Reibungskr¨ afte, die zu einem linear mit v zunehmenden Widerstand f¨ uhren, nennt man Stokes’sche Reibungskr¨ afte. Diese Reibungskr¨afte sind auch vorhanden, wenn ein K¨ orper sich mit der Geschwindigkeit v durch eine Fl¨ ussigkeit bewegt. Ist dieser K¨ orper eine Kugel mit Durchmesser d, dann findet man z.B. FW = 3π η d v .

(5.37)

Die Stokes’schen Reibungskr¨ afte beschreiben die Str¨omung aber nur dann korrekt, wenn diese laminar ist, d.h. die Str¨ omungsfl¨achen sich nicht durchmischen. Ob eine Str¨ omung noch laminar oder schon turbulent ist, h¨angt von den Gr¨ oßenverh¨ altnissen der Kr¨ afte ab, die die Str¨omung antreiben. Dies sind zum einen die Normalkr¨ afte, die f¨ ur den Staudruck verantwortlich sind: afte wirken destabilisierend, sie f¨ uhren zur TurbuFn ∝ ρm v 2 d2 . Diese Kr¨ lenz. Stabilisierend wirken dagegen die Widerstandskr¨afte FW ∝ η d v. Das Verh¨ altnis zwischen beiden Kr¨ aften ist gegeben durch die Reynolds-Zahl Re =

ρm d v . η

(5.38)

Dabei ist d eine die Geometrie der Str¨ omung charakterisierende Gr¨oße, also z.B. f¨ ur ein Rohr dessen L¨ ange, f¨ ur eine Kugel deren Durchmesser. Ist der Wert der Reynolds-Zahl kleiner als ein Grenzwert Rekrit , so ist die Str¨ omung laminar. Gilt auf der anderen Seite Re > Rekrit , dann ist die Str¨ omung turbulent. F¨ ur die Str¨ omumg durch ein langes Rohr mit konstantem Querschnitt betr¨agt der Grenzwert Rekrit ≈ 2000 .

(5.39)

F¨ ur Re > Rekrit , also f¨ ur turbulente Str¨ omungen durch ein Rohr, nimmt der Str¨ omungswiderstand sprunghaft zu. Und die Zunahme h¨angt nicht mehr nur linear von der Str¨ omungsgeschwindigkeit ab, sondern dieser Zusammenhang ist f¨ ur turbulente Str¨ omungen quadratisch.

5.2 Str¨ omende Fl¨ ussigkeiten

89

Der Widerstand einer mit v str¨ omenden Fl¨ ussigkeit oder eines sich mit v durch eine Fl¨ ussigkeit bewegenden K¨ orpers betr¨ agt FW = cW AQ

ρm 2 v . 2

(5.40)

Dieser Widerstand wird bestimmt durch 3 Faktoren, den Widerstandsbeiwert cW , die angestr¨ omte Fl¨ ache AQ und den Staudruck (ρm /2) v 2 . Entscheidend ist die Gr¨ oße des Widerstandsbeiwerts cW . Die Gleichung (5.40) in Verbindung mit (5.36) und (5.38) liefert z.B als Widerstandsbeiwert f¨ ur eine laminare Str¨ omung durch ein Rohr mit dem Durchmesser d und der L¨ange l den Wert 64 l . (5.41) Re d Der Widerstandsbeiwert cW nimmt f¨ ur laminare Str¨omungen also mit der Reynolds-Zahl ab, wie in Abb. 5.6 dargestellt. Das gilt auch, wenn sich ein K¨ orper durch eine Fl¨ ussigkeit bewegt, wenn diese Bewegung laminar ist. Zum Beispiel f¨ ur eine Kugel finden wir cW (Rohr, lam) =

cW (Kugel, lam) =

24 . Re

(5.42)

0,08

raue Rohre

turbulent

e

r oh

R

103

..

te

0,01

Ubergangsregion

0,02

laminar

0,04

104

steigende Rauigkeit

0,06

at gl

Reibungskoeffizient c W

0,10

105 106 107 Reynoldzahl

108

Abb. 5.6. Die Abh¨ angigkeit des Widerstandsbeiwerts cW von der Reynolds-Zahl Re. F¨ ur kleine Reynolds-Zahlen ist die Str¨ omung laminar, cW ist umgekehrt proportional zu Re. Bei Vergr¨ oßerung der Reynolds-Zahl erfolgt der Umschlag in die turbulente ur sehr große Reynolds-Zahlen einen konstanten Wert Str¨ omung, und cW erreicht f¨

90

5 Die Physik der Fl¨ ussigkeiten

Dagegen wird der Widerstandsbeiwert f¨ ur turbulente Str¨omungen durch ein Rohr f¨ ur sehr große Reynolds-Zahlen unabh¨angig von der Reynolds-Zahl, h¨angt aber stark von der Oberfl¨ achenbeschaffenheit der Rohrinnenwand, d.h. ihrer Rauigkeit ab. Auch dieses Verhalten ist in Abb. 5.6 dargestellt. Selbst f¨ ur sehr glatte Rohre ergeben sich Werte cW (Rohr, turb) = 0,01

l d

f¨ ur Re = 106 ,

verglichen mit cW (Rohr, lam) = 0,0001

l , d

wenn die Str¨ omung dann noch laminar w¨ are. Die Widerstandsbeiwerte steigen also um zwei Gr¨ oßenordnungen, wenn die laminare Str¨omung in eine turbulente Str¨ omung umschl¨ agt. Mit diesem Umschlag ¨ andert sich nicht nur der Widerstandsbeiwert, sondern auch das Geschwindigkeitsprofil der Str¨omung wird ein anderes. Lokal treten Wirbel auf, dadurch vermischen sich die Stromfl¨achen und die Beschreibung der Geschwindigkeitsverteilung wird lokal unm¨oglich. ¨ Uber l¨ angere Zeiten gemittelt erkennt man aber, dass die Austrittsgeschwinur digkeiten aus dem Rohr wesentlich weniger abh¨angig von r⊥ sind, als es f¨ laminare Str¨ omungen beobachtet wird. Das Geschwindigkeitsprofil ist daher flacher, so wie es in Abb. 5.5 angedeutet ist. Anmerkung 5.2.1: Es wurde bereits erw¨ ahnt, dass auch Gasstr¨ omungen eine wichtige Bedeutung besitzen. Zun¨ achst erscheint es, als ob die Physik der Gasstr¨ omungen sehr unterschiedlich von der der Fl¨ ussigkeitsstr¨ omungen sei, weil erstere eine wesentlich geringere Z¨ ahigkeit η besitzen. Auf der anderen Seite ist aber auch die Gasdichte ρm wesentlich kleiner, sodass die Reynolds-Zahlen bei gegebener Geschwindigkeit v etwa die gleichen Werte besitzen. Es gibt also auch laminare Gasstr¨ omungen f¨ ur Re < Rekrit . Der bedeutende Unterschied ist aber, dass Gase im Gegensatz zu Fl¨ ussigkeiten kompressibel sind und daher die Ergebnisse dieses Kapitels nicht einfach auf Gasstr¨ omungen u onnen. ¨ bertragen werden k¨

6 Thermodynamik

Die Thermodynamik befasst sich u ¨berwiegend mit den Zustands¨anderungen der Gase. Aber wir werden erkennen, dass die Gesetze der Thermodynamik oft so allgemein sind, dass sie sich auch auf die anderen Aggregatzust¨ande der Materie, d.h. Fl¨ ussigkeiten und feste K¨ orper, anwenden lassen. Das ist einer der Gr¨ unde, warum die Thermodynamik eine so außerordentliche Bedeutung in der Physik der Vielteilchensysteme besitzt. Wie wir bereits wissen, besitzen die Gase weder eine feste Oberfl¨ache noch ein festes Volumen. Ein Gas entspricht daher einem Vielteilchensystem, dessen innere Kr¨ afte vernachl¨ assigbar klein sind. Bei Abwesenheit von ¨außeren Kr¨ aften k¨ onnen sich die n Teilchen des Systems daher frei bewegen mit der einzigen Einschr¨ ankung, dass sie ab und zu miteinander kollidieren. Damit diese St¨ oße immer elastisch sind, sollten die Teilchen keine innere Struktur besitzen, d.h. sie sollten sich wie Massenpunkte ohne Eigenvolumen verhalten. Ein Gas, das diese beiden Anforderungen (kein Eigenvolumen der Teilchen und keine Kr¨ afte zwischen ihnen) erf¨ ullt, nennt man ein ideales Gas. Gibt es in der Natur ideale Gase? Unter gewissen Bedingungen sind alle Gase in der Natur fast ideale Gase. Am besten erf¨ ullen allerdings die Edelgase die Anforderungen an das ideale Gas, und von denen besonders das Helium. Sollen die physikalischen Gesetze des idealen Gases experimentell verifiziert werden, sollte in dem Experiment Helium als Substanz verwendet werden. Das ideale Gas ohne ¨ außere Kr¨ afte kann nicht existieren. Es w¨ urde sich in den ganzen Raum, also das Universum, ausbreiten. Auf ein endliches Volumen beschr¨ ankt werden kann es nur durch ¨ außere Kr¨afte, also z.B. durch die Kraft, welche die W¨ ande eines Beh¨ alters auf das Gas aus¨ uben, oder durch die Gravitationskraft. Wie bei den Fl¨ ussigkeiten sind diese Kr¨afte immer Normalkr¨afte, die einen Gasdruck P erzeugen. Aber im Gegensatz zu den Fl¨ ussigkeiten sind Gase kompressibel, sie ver¨ andern unter der Wirkung des Drucks P ihr Voluanderung und die damit einhergemen V . Und zwar sind die relative Druck¨ anderung gleich groß hende relative Volumen¨ ∆V ∆P =− . P V

(6.1)

92

6 Thermodynamik

Das negative Vorzeichen weist darauf hin, dass eine Druckerh¨ohung eine Volumenverminderung bewirkt. Mit der Volumen¨anderung ist eine Ver¨anderung des Massendichte des Gases verbunden, wenn die Teilchenzahl bei der Zustands¨ anderung konstant bleibt. Und zwar folgt aus der Gleichung (6.1) f¨ ur die Massendichten bei zwei verschiedenen Dr¨ ucken P0 und P P ρm (P ) = , ρm (P0 ) P0

(6.2)

d.h. die Massendichte h¨ angt linear vom Gasdruck ab. F¨ ur die Gase der Erdh¨ ulle ist nat¨ urlich der durch die Gravitation erzeugte Schweredruck immer vorhanden. Um den Schweredruck zu berechnen, k¨onnen wir die Gleichung (5.6) nicht direkt u ¨bernehmen, denn die darin auftauchende Massendichte ρm ist jetzt nicht mehr konstant. Aber es gilt weiterhin, dass jede beliebig kleine Gasschicht dy f¨ ur eine Ver¨ anderung des Schweredrucks dP verantwortlich ist. Wir verwenden dasselbe Koordinatensystem wie in Gleichung (5.6) und erhalten dP = ρm (P ) g dy = ρm (P0 )

P g dy . P0

(6.3)

Dies ist eine Differentialgleichung erster Ordnung f¨ ur die Druckabh¨angigkeit P (y) mit der L¨ osung



ρm (P0 ) ρm (P0 ) g (y − y0 ) = P0 exp − g h , (6.4) P (h) = P0 exp P0 P0 wobei wir zur einfacheren Darstellung die Schreibweise exp(x) = ex benutzt haben. Außerdem bezeichnet h = y0 − y jetzt die H¨ohe der Gass¨aule u ¨ ber der Erdoberfl¨ ache, d.h. der Gasdruck nimmt mit zunehmender H¨ohe ab. Die Beziehung (6.4) wird daher auch barometrische H¨ ohenformel genannt. Die beiden Parameter P0 und ρm (P0 ) sind Gasdruck und Massendichte an der Erdoberfl¨ ache. Sie besitzen im zeitlichen Mittel die Werte P0 = 1,01325 bar , ρm (P0 ) = 1,2255kg m−3 .

(6.5)

Das Ergebnis (6.4) demonstriert die große Bedeutung, welche die Kompressibilit¨ at der Gase, bzw. die Inkompressibilit¨ at der Fl¨ ussigkeiten auf das Verhalten des Schweredrucks besitzt. Bei Fl¨ ussigkeiten nimmt der Schweredruck linear mit der Tiefe zu, bei Gasen nimmt der Schweredruck exponentiell mit der H¨ohe ab. Die St¨ arke der Abnahme wird bestimmt durch die Massendichte ρm (P0 ), und diese ist f¨ ur die verschiedenen Gasbestandteile der Erdatmosph¨ are bei gleicher Teilchenzahl sehr verschieden. Die Massendichten von Wasserstoff (H2 ) und Helium (He) sind wesentlich geringer als die von Sauerstoff (O2 ) und

6.1 Die Zustandsgr¨ oßen des idealen Gases

93

Stickstoff (N2 ). Dies hat zur Folge, dass die ¨ außersten Schichten der Gash¨ ulle der Erde mit Wasserstoff bzw. Helium angereichert sind, die bodennahe Luft aber diese Gase praktisch nicht enth¨ alt. Setzt man die Werte (6.5) in die barometrische H¨ohenformel (6.4) ein, findet man, dass innerhalb einer H¨ ohendifferenz von 10 m praktisch keine Ver¨ anderung des Gasdrucks stattfindet. Der Einfluss der H¨ohenabh¨angigkeit des Gasdrucks auf Laborexperimente zum Studium der Gasgesetze kann daher vernachl¨ assigt werden. Anmerkung 6.0.2: Bei der Entmischung der Gase in der Erdatmosph¨ are spielt auch der Auftrieb (siehe Kap. 5.1), den leichte Gase in schwereren Gasen erfahren, eine ganz wesentliche Rolle. Interessant ist, dass der Wasserdampfgehalt(H2 O) in der Luft relativ konstant ist, obwohl H2 O leichter ist als O2 oder N2 . Dies liegt daran, oheren Luftschichten einen Phasen¨ ubergang vom gasf¨ ormigen dass H2 O in den h¨ in den fl¨ ussigen Zustand durchf¨ uhrt und die schwerere Fl¨ ussigkeit wieder auf die Erdoberfl¨ ache abregnet.

6.1 Die Zustandsgr¨ oßen des idealen Gases Im vorhergehenden Kapitel haben wir den Druck P und das Volumen V benutzt, um das Verhalten des idealen Gases zu beschreiben. Man nennt P und V daher makroskopische Zustandsgr¨ oßen, denn sie lassen sich relativ leicht experimentell bestimmen. Auf der anderen Seite haben wir uns ein Modell des idealen Gases gemacht, dass aus n Massenpunkten besteht. Die Teilchenzahl n kann man als mikroskopische Zustandsgr¨ oße betrachten, aber sie ist nicht so leicht experimentell zu bestimmen. Wir wollen dieses mikroskopische Gasmodell noch weiter entwickeln und insbesondere untersuchen, welche Zusammenh¨ ange zwischen den mikroskopischen und den makroskopischen Zustandsgr¨ oßen bestehen. Die n Gasteilchen, von denen jedes die Masse m besitzt, bewegen sich frei, sie besitzen also eine kinetische Energie ε und einen Impuls ℘. Auch ε und ℘ sind mikroskopische Zustandsgr¨ oßen, sie unterliegen aber starken zeitlichen Schwankungen. Denn bei jedem elastischen Stoß zwischen zwei Teilchen ver¨ andern sie sich. Wir k¨ onnen allerdings im Falle von ℘ vorhersagen, welchen zeitlichen Mittelwert ℘ der Impuls eines Teilchens besitzen wird. Da jedes Teilchen mit gleicher Wahrscheinlichkeit alle m¨oglichen Geschwindigkeiu ten v = v v ¨ ber einen großen Zeitraum annehmen wird, muss gelten ℘ = 0 .

(6.6)

Das ideale Gas ist ein System aus sehr vielen derartiger Teilchen, und daher darf sich der Massenmittelpunkt des Gases zeitlich nicht ver¨andern, wenn keine Zustands¨ anderungen an ihm vorgenommen werden. Wir k¨onnen ohne urlich in Einschr¨ ankung r S = 0 annehmen, und obwohl sich jedes Teilchen nat¨

94

6 Thermodynamik

ungeordneter Translationsbewegung befindet, gilt dies auch f¨ ur jedes Teilchen gemittelt u ¨ ber eine sehr lange Zeit.   Die mittlere kinetische Energie eines Teilchens ε = (m/2) v 2 l¨asst sich nicht so leicht vorhersagen, wir wissen aber, dass sie positiv sein muss. Im n¨achsten Kapitel werden wir lernen, dass sie mit einer weiteren makroskopischen Zustandsgr¨ oße des idealen Gases verkn¨ upft ist, der Temperatur T . Die Temperatur l¨ asst sich experimentell relativ leicht bestimmen, die mittlere kinetische Energie eines Teilchens dagegen nicht. Im SI ist die Temperatur eine Basismessgr¨oße, d.h. f¨ ur ihre experimentelle Bestimmung muss ein Messverfahren definiert werden. •

Die Einheit der Temperatur ist [T ] = K

“Kelvin”.

Die Temperatur T = 1 K ist der 273,16te Teil der thermodynamischen Temperatur des Tripelpunkts von Wasser.

Diese Definition der Kelvin-Skala benutzt Begriffe, die uns noch nicht bekannt sind. Deswegen ist es praktisch, dass diese Skala in dem Temperaturbereich unseres Alltags fast identisch ist mit der Celsius-Skala, die folgendermaßen definiert ist: Das Celsius ist der 100ste Teil der Temperaturdifferenz zwischen dem Siedepunkt (TD = 100 ◦ C) und dem Eispunkt (TE = 0 ◦ C) des Wassers bei dem Luftdruck P0 . In der Kelvin-Skala besitzen diese beiden Fixpunkte f¨ ur die Definition der Temperatur die Werte TD = 373,15 K und TE = 273,15 K, d.h. es besteht zwischen der Kelvin-Skala und der Celsius-Skala der Zusammenhang



T T + 273,15 K ≈ + 273 K. (6.7) T = C C Zwischen den makroskopischen Zustandsgr¨ oßen P , V , T bestehen Beziehungen, die uns aus unserem Alltag gel¨ aufig sind. •

Erh¨ oht sich die Temperatur eines Gases, vergr¨oßert sich bei konstantem Gasvolumen der Gasdruck ∆P = γ ∆T P



, [γ] = K−1 .

(6.8)

Erh¨ oht sich die Temperatur eines Gases, vergr¨oßert sich bei konstantem Gasdruck das Gasvolumen ∆V = γ ∆T V

, [γ] = K−1 .

(6.9)

Bis auf das Vorzeichen sind diese beiden Gleichungen konsistent mit der Gleichung (6.1), und f¨ ur ideale Gase hat der Volumenausdehnungskoeffizient den Wert

6.2 Die kinetische Gastheorie

γ=

1 K−1 . 273,15

95

(6.10)

Man beachte aber, dass die Randbedingungen f¨ ur die Zustands¨anderungen sehr verschieden sind, n¨ amlich konstanter Gasdruck, konstantes Gasvolumen, oder f¨ ur Gleichung (6.1) konstante Gastemperatur. Dieses Verhalten eines (idealen) Gases kann man benutzen, um ein Gasthermometer zur Messung von Temperaturen zu bauen. Man misst entweder die Ver¨ anderung des Gasdrucks oder des Gasvolumens mit der Temperatur, wobei Druck oder Volumen an den Temperaturfixpunkten geeicht werden m¨ ussen. Heute sind Thermometer gebr¨ auchlicher, welche die Temperaturabh¨angigkeit anderer physikalischer Messgr¨ oßen ausnutzen: (1) Der elektrische Widerstand R(T ) ist temperaturabh¨angig. (2) Die elektrische Kontaktspannung U (T ) ist temperaturabh¨angig. (3) Der L¨ ange eines Festk¨ orpers l(T ) ist temperaturabh¨angig. Und zwar gilt ahnlich zu Gleichung (6.9) ∆l/l = α ∆T , allerdings ist der lineare Ausdeh¨ nungskoeffizient α sehr viel kleiner als der Volumenausdehnungskoeffizient γ eines Gases. Diese Methode funktioniert auch mit Fl¨ ussigkeiten, wenn die Volumen¨ anderung des Gef¨ aßes bei der Temperatur¨anderung vernachl¨assigt werden kann. Andernfalls m¨ ussen die St¨ oreffekte durch das Gef¨aß in der Eichung ber¨ ucksichtigt werden.

6.2 Die kinetische Gastheorie Im Labor muss ein Gas in einem Beh¨ alter eingeschlossen sein, damit an ihm Experimente durchgef¨ uhrt werden k¨ onnen. Welche Wirkung haben dann die Gasteilchen mit kinetischer Energie ε und Impuls ℘, wenn sie mit der Beh¨ alterwand kollidieren? Bei jeder Kollision wird Impuls auf eine der W¨ande mit Fl¨ache Ax u ¨ bertragen. Da die Teilchenmasse m vernachl¨assigbar klein gegen die Wandmasse ist, betr¨ agt der Impuls¨ ubertrag auf die Wand nach Gleichung (2.83) ∆px = 2 |℘x | ,

(6.11)

x = x  parallel zueinx und die Fl¨ achenrichtung A wenn die Impulsrichtung ℘ ander sind (dies entspricht der Situation eines zentralen, elastischen Stoßes). Die Anzahl der Teilchen ∆n, die pro Zeit ∆t auf die Wand Ax treffen, ergibt sich zu n ρ ∆x |℘ | ∆n = Ax = Ax x ∆t V ∆t 2 m mit der Teilchenzahldichte ρ =

(6.12) n . V

Der Faktor 1/2 ber¨ ucksichtigt die Tatsache, dass nur die Teilchen mit ℘x = x auf die Wand zufliegen und kollidieren, aber gleichviel Teilchen mit |℘x | ℘

96

6 Thermodynamik

x von der Wand wegfliegen und nicht kollidieren. Der totale ℘x = −|℘x | ℘ Impuls¨ ubertrag pro Zeit auf eine Wand betr¨ agt daher ∆n ∆px ℘2 = ρ Ax x . ∆t m

(6.13)

Der Impuls¨ ubertrag pro Zeit entspricht einer auf die Wand ausge¨ ubten Normalkraft Fn und damit einem Gasddruck P =

Fn ℘2 =ρ x Ax m



PV =n

℘2x . m

(6.14)

¨ Mithilfe dieser sehr einfachen Uberlegungen ist es gelungen, die makroskopischen Zustandsgr¨ oßen P und V mit den mikroskopischen Zustandsgr¨oßen n und ℘2x zu verbinden. Aber einige Probleme m¨ ussen noch gel¨ost werden: • •

Wie viele Teilchen n sind in dem Volumen V bei dem Druck P wirklich vorhanden? Der Impuls ℘x eines Teilchens unterliegt statistischen Schwankungen. F¨ ur welchen Wert ℘2x ist Gleichung (6.14) richtig?

Wir wollen uns zun¨ achst mit dem 1. Problem besch¨aftigen und das 2. im n¨ achsten Kapitel behandeln. Die Anzahl der Teilchen n im Volumen V h¨angt von der Gr¨oße des Volumens und der Teilchendichte ρ, bzw. von der Masse m und der Massendichte  eine Basismessgr¨oße, und das bedeutet, ρm ab. Im SI ist die Teilchenmenge n m und ρm m¨ ussen definiert werden, um n  = n/nA festzulegen. Man verwendet f¨ ur diese Definition einen festen K¨ orper mit fester Massendichte: •

Die Einheit der Stoffmenge ist [ n] = mol.

1 mol einer Substanz ist die Menge, die so viele Teilchen enth¨alt, wie sich Atome in 0,012 kg des Kohlenstoffisotops 12 C befinden. In 1 mol 12 C befinden sich nA = 6,0221367 · 1023 Atome.

(6.15)

Die Teilchenzahl nA in 1 mol einer Substanz wird Avogadro-Zahl genannt. Mithilfe der Stoffmenge n  lassen sich einige wichtige Beziehungen zwischen mikroskopischen und makroskopischen Messgr¨oßen aufstellen. Die molare Masse einer Substanz ist die Masse von 1 mol dieser Substanz. Sie ergibt sich zu mMol = nA m ,

(6.16)

wobei m die Masse eines Substanzteilchens ist. F¨ ur 12 C wissen wir aus der 12 Definition mMol ( C) = 0,012 kg, und daraus ergibt sich

6.2 Die kinetische Gastheorie

m(12 C) =

mMol (12 C) = 1,99 · 10−26 kg. nA

97

(6.17)

Das Kohlenstoffisotop 12 C enth¨ alt A= 12 Nukleonen, und daher l¨asst sich die Masse eines Nukleons angeben, die als atomare Masseneinheit u benutzt wird: mN = 1u =

m(12 C) = 1,66 · 10−27 kg. 12

(6.18)

Mit sehr guter N¨ aherung1 lassen sich daraus die Massen aller Elemente X mit A Nukleonen und damit auch ihre molaren Massen berechnen, mMol (X) = nA m(X) = nA A u.

(6.19)

Als Beispiele betrachten wir m(H2 ) ≈ 2 u = 3,32 · 10−27 kg , mMol (H2 ) ≈ 0,002 kg. m(He) ≈ 4 u = 6,64 · 10−27 kg , mMol (He) ≈ 0,004 kg. m(N2 ) ≈ 28 u = 4,65 · 10−26 kg , mMol (N2 ) ≈ 0,028 kg. m(O2 ) ≈ 32 u = 5,31 · 10−26 kg , mMol (O2 ) ≈ 0,032 kg. ¨ Die molare Masse einer Substanz ergibt sich also in Ubereinstimmung mit Gleichung (6.19) zu mMol (X) = A · 10−3 kg

(6.20)

und enth¨ alt nA Teilchen. Die beliebige Masse ist gegeben durch m(X) = n  mMol (X)

(6.21)

und enth¨ alt n = n  nA Teilchen. Wir kennen daher die Teilchenzahl n einer Substanz mit Nukleonenzahl A, wenn wir ihre Stoffmenge n , d.h. ihre Masse m kennen. 6.2.1 Die Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung Als n¨ achstes Problem m¨ ussen wir die statistischen Schwankungen der Teilchenimpulse ℘x analysieren. Diese entstehen durch die elastischen Kollisionen der Teilchen untereinander, die zuf¨ allig und unkontrollierbar erfolgen. Damit gelten die Voraussetzungen, die auch die Grundlage f¨ ur die Ergebnisse des Kap. 1.3.2 bildeten. Wegen ℘x  = 0 besitzen die Gasteilchen daher eine Verteilung (vgl. mit Gleichung (1.12))

℘2x 1 exp − 2 d℘x , (6.22) dn(℘x ) = n √ 2σ 2π σ 1

Dies ist nur eine N¨ aherung, weil das Massendefizit des Atomkerns (siehe Kap. 16.1.2) nicht ber¨ ucksichtigt ist.

98

6 Thermodynamik

die angibt, wie viele Teilchen n dn(℘x ) ihren Impuls im Intervall ℘x bis ℘x + d℘x besitzen. Entscheidend ist, wie groß die Varianz σ 2 dieser Verteilung ist. Da σ 2 die Breite einer Impulsverteilung ist, muss σ 2 ∝ m gelten. Nicht ableiten, sondern nur experimentell verifizieren l¨asst sich, dass auch σ 2 ∝ T ist. Insgesamt gilt σ2 = k m T ,

(6.23)

wobei die Proportionalit¨ atskonstante k als Boltzmann-Konstante bezeichnet wird, die den Wert k = 1,38066 · 10−23 J K−1

(6.24)

besitzt. Die Impulsverteilung aller Teilchen, die in oder entgegengesetzt zur  fliegen, lautet daher Richtung x

℘2x 1 dn(℘x ) = n √ exp − (6.25) d℘x , 2mkT 2π m k T und mithilfe von Gleichung (1.18) ergibt sich daraus unmittelbar der Mittelwert  2 kT ℘x = σ 2 = 2 m . 2

(6.26)

Aus der Schreibweise von Gleichung (6.26) ist erkennbar, dass alle Teilchen, die sich in nur einer Richtung des Raums bewegen, eine mittlere kinetische Energie  2 ℘x 1 = kT (6.27) εx  = 2m 2 x noch die beiden anderen, dazu senkbesitzen. Da neben der Richtung ℘ y und ℘ z existieren und jedes Teilchen sich mit gleicher rechten Richtungen ℘ Wahrscheinlichkeit in jede dieser Richtungen bewegen kann, erhalten wir f¨ ur das totale Impulsquadrat  2  2   2   2   ℘ = ℘x + ℘y + ℘z = 3 ℘2x (6.28)

und f¨ ur den totalen Mittelwert der kinetischen Energie eines Teilchens ε =

3 kT . 2

(6.29)

Wir k¨ onnen mithilfe der Gleichung (6.25) auch angeben, wie die entsprechende Impulsverteilung aussieht. Sie ergibt sich aus dem Superpositionsprinzip der Kinematik in Kap. 2.1 zu dn(℘x , ℘y , ℘z ) = n−2 dn(℘x ) dn(℘y ) dn(℘z ) ,

(6.30)

6.2 Die kinetische Gastheorie

99

oder im Detail   ℘2x + ℘2y + ℘2z n d℘x d℘y d℘z dn(℘) = exp − 2mkT (2π m k T )3/2  ε  4π n = ℘2 d℘ , exp − 3/2 kT (2π m k T )

(6.31)

wobei wir benutzt haben, dass bei einer ungeordneten Translationsbewegung f¨ ur den Phasenraumfaktor gilt (siehe Gleichung (6.126)) d℘x d℘y d℘z = 4π℘2 d℘ .

(6.32)

Es ist u ¨blich, diese Verteilung nicht als Funktion des Teilchenimpulses ℘, sondern der Teilchengeschwindigkeit v = ℘/m auszudr¨ ucken. Nach einigen Umformungen ergibt sich: Die Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung f¨ ur die Teilchen im idealen Gas lautet

4 n  m 3/2 2 m v2 dn(v) = √ v exp − dv . (6.33) π 2kT 2kT Diese Geschwindigkeitsverteilung f¨ ur die Teilchen in einem idealen Gas enth¨alt als einzigen freien Parameter die Temperatur T . Mit wachsender Temperatur wird dn(v)/dv immer breiter, und das Maximum der Verteilung, das sich beim Wert der wahrscheinlichsten Geschwindigkeit vmax befindet, verschiebt sich zu

dn dv T1

T2>T1

vmax

v

Abb. 6.1. Die Maxwell’schen Geschwindigkeitsverteilungen der Teilchen in zwei oher die Temperaidealen Gasen mit unterschiedlichen Temperaturen T2 > T1 . Je h¨ tur, umso h¨ oher ist der Wert vmax der wahrscheinlichsten Geschwindigkeit

100

6 Thermodynamik

immer gr¨ oßeren Werten von vmax , wie in Abb. 6.1 dargestellt. Es ergeben sich folgende Werte f¨ ur die charakteristischen Geschwindigkeitsgr¨oßen  2 3 k T , v = m 8 v 2  , v = 3π  2 2 vmax = v  . 3

(6.34) (6.35) (6.36)

Diese Gr¨ oßen sind alle etwas verschieden voneinander, was darauf zur¨ uckzuf¨ uhren ist, dass die Verteilung (6.33) nicht symmetrisch um vmax ist. Die Gleichung (6.34) ist ¨ aquivalent zur Gleichung (6.29). Und insbesondere sind wir jetzt in der Lage, der Gleichung (6.14) mithilfe der Gleichung (6.27) ihre endg¨ ultige Form zu geben P V = nkT = n RT

mit

R = nA k = 8,314 J K−1 .

(6.37)

Die Zustandsgleichung des idealen Gases lautet PV =n RT .

(6.38)

Die Konstante R wird universelle Gaskonstante genannt. Besteht das ideale Gas aus einem Gemisch mit mehreren Gasen, die sich alle im Volumen V und im thermischen Gleichgewicht mit Temperatur T befinden, so gilt entsprechend f¨ ur jede einzelne Komponente Pi V = n i R T , (6.39)  wobei P = Pi der Gesamtdruck und n = n i die Gesamtstoffmenge des idealen Gases im Volumen V sind. Man nennt Pi den Partialdruck der Komponente i und n i ihre Teilmenge. Im Folgenden werden wir meistens annehmen, dass das ideale Gas einkomponentig mit Druck P und Stoffmenge n  ist, die sich bei Zustands¨ anderungen nicht ver¨ andert. Die Zustandsgleichung idealer Gase verkn¨ upft daher die vier makroskopischen Zustandsgr¨oßen P , V , T ,n  miteinander, aber wir haben sie mithilfe eines mikroskopischen Modells hergeleitet. Da Druck, Temperatur und Volumen u ¨ber die Zustandsgleichung voneinander abh¨ angen, legt man ihre Werte f¨ ur eine definierte Bedingung fest, die Normalbedingung genannt wird. 

Unter der Normalbedingung gilt f¨ ur n  = 1 mol eines idealen Gases P0 = 101325 Pa , T0 = 273,15 K

, V0 = 0,0224 m3 .

(6.40)

6.2 Die kinetische Gastheorie

101

6.2.2 Die W¨ armekapazit¨ aten Im vorigen Kapitel haben wir die mittlere Energie eines Teilchens mit der Gastemperatur verkn¨ upft. Im idealen Gas besitzen die Teilchen nur kinetische Translationsenergie, und zwar erh¨ alt jede der Translationsbewegungen in die drei unabh¨ angigen Raumrichtungen die gleiche Energie ε = 1/2 k T . Jede dieser speziellen Bewegungen stellt einen Freiheitsgrad dar, d.h. eine M¨ oglichkeit, wie das Teilchen Energie aufnehmen kann. Als Verallgemeinerung folgern wir das Gleichverteilungsgesetz Alle m¨ oglichen Freiheitsgrade eines Teilchens zur Energieaufnahme sind gleichberechtigt und besitzen pro Freiheitsgrad eine Energiekapazit¨at ε =

1 kT . 2

(6.41)

Man bezeichnet die Summe der Energien aller Teilchen als die innere Energie U eines Vielteilchensystems, f¨ ur die in nichtrelativistischer N¨aherung und f¨ ur das ideale Gas folglich gilt U = n ε = n

f kT , 2

(6.42)

wobei f die Gesamtzahl der Freiheitsgrade ist. Die kinetische Gastheorie ergibt ¨ allgemein einen Zusammenhang zwischen der Anderung der inneren Energie ¨ ∆U und der Anderung der Temperatur ∆T des Systems ∆U = n  CV ∆T

mit

CV =

f R , [CV ] = J K−1 mol−1 . 2

(6.43)

Die Gr¨ oße CV wird als molare W¨ armekapazit¨ at bezeichnet. In der Literatur finden sich noch andere Definitionen f¨ ur die W¨armekapazit¨at: ∆U = c ∆T → c = n  CV  CV /m ∆U = cm m ∆T → cm = n

(W¨ armekapazit¨at c), (spezifische W¨armekapazit¨at cm ).

Wir werden in diesem Lehrbuch die molare W¨armekapazit¨at CV benutzen, wobei der Index V bedeutet, dass die Zustands¨anderung bei konstantem Volumen V vorgenommen wird. Diese Einschr¨ ankung ist nur von Bedeutung bei Gasen; feste K¨ orper und Fl¨ ussigkeiten sind inkompressibel und ver¨andern ihr Volumen bei Zustands¨ anderungen praktisch nicht, sodass f¨ ur sie gilt CV = C. F¨ ur ein ideales Gas mit einer Gesamtzahl von f = 3 Freiheitsgraden k¨ onnen wir die molare W¨ armekapazit¨ at sofort angeben, sie betr¨agt CV =

3 R = 12,471 J K−1 mol−1 , 2

(6.44)

d.h. sie ist u ¨ ber den gesamten Temperaturbereich konstant. Diese Temperaturunabh¨ angigkeit wird experimentell aber nur dann beobachtet, wenn ein

102

6 Thermodynamik

Gas die Anforderungen des idealen Gases erf¨ ullt. Ist das nicht der Fall, k¨onnen sich die molaren W¨ armekapazit¨ aten mit der Temperatur ver¨andern, weil reale Gase auch eine innere Struktur besitzen und damit die Anzahl der Freiheitsgrade f u.U. mit wachsender Temperatur gr¨ oßer wird als f = 3 des idealen Gases. Was bestimmt die Anzahl der Freiheitsgrade eines Teilchens, und unter welchen Bedingungen tragen sie zur inneren Energie eines Systems bei? Prinzipiell beschreibt jeder Freiheitsgrad eine M¨oglichkeit, wie ein Teilchen Tabelle 6.1. Die Anzahl f der Freiheitsgrade von Festk¨ orpern, Fl¨ ussigkeiten und Gasen bei tiefer und hoher Temperatur. feste K¨ orper

ideales Gas H2

kleines T (min)

großes T (max)

reale Gase und Fl¨ ussigkeiten CO2 H2 O

ftrans = 0 frot = 0 fvib < 3n

ftrans = 3 frot = 0 fvib = 0

ftrans = 3 frot = 2 fvib = 0

ftrans = 3 frot = 2 fvib = 0

ftrans = 3 frot = 3 fvib = 0

f < 6n

f =3

f =5

f =5

f =6

ftrans = 0 frot = 0 fvib = 3n

ftrans = 3 frot = 0 fvib = 0

ftrans = 3 frot = 2 fvib = 1

ftrans = 3 frot = 2 fvib = 4

ftrans = 3 frot = 3 fvib = 6

f = 6n

f =3

f =7

f = 13

f = 18

Energie aufnehmen kann. F¨ ur Molek¨ ule ohne gegenseitige Wechselwirkung sind das zus¨ atzlich zur Translation (Index trans) noch andere Bewegungsformen, die wir bereits kennengelernt haben: Die Rotation (Index rot) und die Schwingung (Index vib). F¨ ur ein Molek¨ ul, das aus n Atomen aufgebaut ist und das keine ausgezeichnete Symmetrie besitzt, ergeben sich folgende Freiheitsgrade ftrans = 3 , frot = 3 , fvib = 3 (n − 1) .

(6.45)

Diese Freiheitsgrade sind bei tiefen Temperaturen nicht immer alle angeregt, dann tragen sie zur Energieaufnahme des Molek¨ uls nicht bei. Außerdem k¨ onnen die Anzahl der Freiheitsgrade auch durch die Symmetrie des Molek¨ uls ¨ reduziert werden. Und schließlich gelten diese Uberlegungen nicht nur f¨ ur die Molek¨ ule in einem Gas, sondern auch f¨ ur die Atome bzw. Molek¨ ule in Fl¨ ussigkeiten und festen K¨ orpern. Insbesondere f¨ ur Fl¨ ussigkeiten wird die Berechnung der molaren W¨ armekapazit¨ at aber noch dadurch kompliziert, dass die gegenseitige Wechselwirkung zwischen den Teilchen der Fl¨ ussigkeit u.U. nicht vernachl¨ assigt werden kann. Wir werden sehen, dass im festen K¨orper dagegen diese Wechselwirkung ein Bestandteil der Energieaufnahme ist. Die

6.2 Die kinetische Gastheorie

103

¨ Tabelle 6.1 gibt einen exemplarischen Uberblick u ¨ ber die Anzahl der angeregten Freiheitsgrade bei zwei verschiedenen Temperaturen. Dazu einige Bemerkungen: • •

Wie bereits erw¨ ahnt, ist die molare W¨ armekapizit¨at eines idealen Gases temperaturunabh¨ angig und immer CV = 3 R/2 ≈ 12,5 K−1 mol−1 . F¨ ur die Schwingungen ergeben sich zwei Beitr¨age zur Energie, einmal von der kinetischen Energie und dann von der potenziellen Energie, siehe Gleichung (2.62). Daher betr¨ agt die Gesamtanzahl der Freiheitsgrade f = ftrans + frot + 2 fvib .



(6.46)

Bei Abnahme der Temperatur werden als erste die Schwingungsfreiheitsgrade nicht mehr angeregt. Im festen K¨ orper kann die Energie nur als Schwingungsenergie der Teilchen im Gitter aufgenommen werden. F¨ ur Festk¨ orper gilt daher f = 6 (n − 1) ≈ 6n, da n ≈ 1023 . Bei hohen Temperaturen hat jeder Festk¨orper also eine molare W¨ armekapazit¨ at C = 3 R ≈ 25 J K−1 mol−1 . Dies bezeichnet man als Dulong-Petit’sches Gesetz. Dagegen erreichen die molaren W¨ armekapazit¨ aten aller Festk¨ orper f¨ ur T → 0 den unteren Wert C = 0, da die Schwingungen nicht mehr angeregt werden.

In der Tabelle 6.2 werden diese Vorhersagen bei großer Temperatur T mit ur verschiedene Aggregatzust¨ande bei experimentellen Daten von CV bzw. C f¨ der Temperatur T = 293 K verglichen. Die ausgew¨ahlten Festk¨orper erf¨ ullen Tabelle 6.2. Ein Vergleich der theoretisch erwarteten mit den bei Zimmertemperatur experimentell bestimmten molaren W¨ armekapazit¨ aten verschiedener Substanzen. Die angegeben Werte f¨ ur C bzw. CV besitzen die Maßeinheit J K−1 mol−1 Festk¨ orper ideale Gase Substanz C(theor.) C(exp.) Substanz CV (theor.) CV (exp.) Mg Fe Ag Pb

24,94 24,94 24,94 24,94

24,3 24,7 24,7 25,5

He Ne Ar

12,47 12,5 12,47 12,5 12,47 12,5 Fl¨ ussigkeiten bzw. Gase

H2 CO2 H2 O

29,10 54,04 74,83

19,87 27,59 75,37

offensichtlich das Dulong-Petit’sche Gesetz relativ gut, wie auch die Edelgase bei Zimmertemperatur sich wie ideale Gase verhalten. Anders sieht es bei den 2- bzw. 3-atomigen Molek¨ ulen aus. Bei Zimmertemperatur sind noch nicht alle m¨ oglichen Freiheitsgrade von H2 und CO2 angeregt. Dagegen ist die gemessene

104

6 Thermodynamik

molare W¨ armekapazit¨ at von Wasser gr¨ oßer als theoretisch erwartet. Dies ist auf die Wechselwirkung der Wassermolek¨ ule untereinander zur¨ uckzuf¨ uhren und hat zur Folge, dass Wasser die Substanz in der Natur ist, welche die h¨ochste Speicherkapazit¨ at f¨ ur thermische Energie besitzt. 6.2.3 Transportprozesse Falls die ungeordnete Bewegung der Teilchen in einem Gas nicht durch die W¨ ande eines Beh¨alters beschr¨ ankt wird, wird sich beim Fehlen der Wand Ax  besitzt. Mit diesem ein Teilchenstrom ausbilden, der im Mittel die Richtung x Strom werden nicht nur die Teilchen, sondern auch ihr Impuls und ihre Energie in diese Richtung transportiert. Man bezeichnet diesen Prozess daher als Transportprozess. Mit den physikalischen Gesetzen derartiger Prozesse wer¨ den wir uns jetzt besch¨ aftigen, wobei unsere Uberlegungen stark von unserer Anschauung geleitet werden.  nicht Im Allgemeinen wird die Bewegung eines Teilchens in Richtung x ungest¨ ort verlaufen, sondern andere Teilchen werden mit diesem ausgesuchten Teilchen immer wieder kollidieren. Um die Kollisionswahrscheinlichkeit PK zu quantifizieren, stellen wir uns vor, dass sich dem Teilchen, das in Rich durch die Fl¨ tung x ache Ax fliegt, andere Teilchen in den Weg stellen, von denen jedes eine Fl¨ ache σ repr¨ asentiert. Die Fl¨ ache σ bezeichnet man als den Kollisionswirkungsquerschnitt. Auf der Wegstrecke dx gibt es ρ Ax dx derartige Teilchen, wenn ρ = n/V die Teilchendichte im Gas  darstellt. Der gesamte Kollisionswirkungsquerschnitt ergibt sich daher zu σ = ρ Ax σ dx,  und das Verh¨ altnis von σ zu Ax ergibt die Kollisionswahrscheinlichkeit auf der Wegstrecke dx  σ = ρ σ dx . (6.47) PK = Ax  beweDie Anzahl der Teilchen n, die sich in die urspr¨ ungliche Richtung x gen, wird aufgrund der Kollisionen stetig abnehmen, und die Abnahme dn ist gegeben durch dn = −n ρ σ dx .

(6.48)

Diese Differentialgleichung zur Bestimmung von n hat die L¨osung n = n0 e−ρ σ x = n0 e−x/λ ,

(6.49)

wobei n0 die Teilchenanzahl an dem Ort x = 0 ist. Die Zahl der Teilchen, die noch keine Kollision erlitten haben, nimmt also exponentiell ab u ¨ ber eine charakteristische L¨ ange λ=

1 , ρσ

(6.50)

6.2 Die kinetische Gastheorie

105

die mittlere freie Wegl¨ ange genannt wird. Die mittlere freie Wegl¨ange λ ist umgekehrt gleich dem Produkt aus Kollisionswirkungsquerschnitt σ und Teilchendichte ρ, sie gibt die Wegl¨ ange an, die ein Teilchen im Mittel ohne St¨orung durch andere Teilchen zur¨ ucklegen kann. Betrachten wir die Bewegung eines Teilchens durch die Fl¨ ache Ax , so lassen sich 2 Grenzf¨alle unterscheiden. √ • Ist λ ≫ Ax , so werden die Teilchen im Wesentlichen ohne St¨orung durch die Fl¨ ache√str¨ omen, d.h. die Bewegung ist geradlinig gleichf¨ormig. • Ist λ ≪ Ax , so werden die Teilchen bereits bei ihrer Bewegung durch die Fl¨ ache so stark gest¨ ort, dass ihre Bewegung nur durch eine mittlere Geschwindigkeit vx  beschrieben werden kann. Wir werden uns im Folgenden nur mit dem zweiten Fall besch¨aftigen, den man den stoßdominierten Transport nennen kann. Die Teilchenstromdichte jx ist definiert als die pro Zeit dt und pro  str¨ Fl¨ ache Ax in Richtung x omende Teilchenzahl jx =

1 dn dx 1 dn = Ax dt 3 dV dt

mit

dV = Ax dx ,

(6.51)

wobei der Faktor 1/3 auftreten muss, da nur 1/3 aller Teilchen im Volumen V  bewegen, die anderen fliegen in die Richtungen sich wirklich in die Richtung x y und z. Bei der Str¨ omung ist die Teilchendichte ρ allerdings nicht konstant,  abnehmen. W¨ sondern muss in Richtung x are dies nicht der Fall, w¨ urde ein gleich großer Teilchenstrom in die Richtung − x existieren und der Gesamtstrom w¨ are null. Die charakteristische Strecke, u ¨ ber die sich die Teilchendichte ver¨ andert, ist gegeben durch die mittlere freie Wegl¨ange λ. Wir m¨ ussen daher die Gleichung (6.51) so modifizieren, dass diese (x/λ) Abh¨angigkeit der Teilchendichte ber¨ ucksichtigt wird, d.h. es muss gelten jx =

1 dn 1 −dρ v λ dρ = v =− . Ax dt 3 d(x/λ) 3 dx

(6.52)

Ein positiver Teilchenstrom bildet sich also aus in die Richtung, in der die Teilchendichte abnimmt, in der also dρ/dx negativ ist. Diesen Vorgang bezeichnet ¨ man als Diffusion, auf Grund unserer Uberlegungen muss gelten:  wird bestimmt durch die Die Diffusionsstromdichte in Richtung x Ver¨ anderung der Teilchendichte in dieser Richtung nach dem 1. Fick’schen Gesetz jx = −D

dρ , dx

(6.53)

wobei die Diffusionskonstante D in der kinetischen Gastheorie gegeben ist durch D = (1/3) λ v , [D] = m2 s−1 . Die Gleichung (6.53) erlaubt es, die Diffusionsstromdichte jx zu berechnen, wenn D und dρ/dx bekannt sind und sich zeitlich nicht ver¨andern. Diese

106

6 Thermodynamik

Verh¨ altnisse liegen ungef¨ ahr vor bei der Diffusion durch Fl¨ ussigkeiten oder feste K¨ orper. Bei der Diffusion durch Gase ver¨andert sich mit der Diffusionsstromdichte aber auch dρ/dx und wegen Gleichung (6.50) auch D. Um f¨ ur diese F¨ alle eine konsistente Beschreibung der Diffusion zu erhalten, muss die Diffusionsstromdichte ersetzt werden durch die zeitliche Ver¨anderung dρ/dt der Teilchendichte. Wir k¨ onnen dies formal ausf¨ uhren, indem wir beide Seiten der Gleichung (6.53) nach x differenzieren und dann Gleichung (6.51) benutzen, sodass sich ergibt dρ djx =− . dx dt

(6.54)

Das negative Vorzeichen ist notwendig, damit die Teilchenzahl erhalten bleibt, siehe Anmerkung 6.2.1. Die Diffusion durch ein Gas wird bestimmt durch das 2. Fick’sche Gesetz d2 ρ dρ =D 2 . dt dx

(6.55)

Diese Differentialgleichung ergibt bei Ber¨ ucksichtigung der Anfangs- und Randbedingungen als L¨ osung die Dichtefunktion ρ(x, t). Wir wollen noch kurz die Eigenschaften der Diffusionskonstanten D untersuchen. Ver¨ andert sich die mittlere freie Wegl¨ange λ w¨ahrend der Diffusion nicht, dann gilt wegen Gleichung (6.35)  T , (6.56) D∝ m d.h. die Diffusionsgeschwindigkeit steigt mit der Temperatur, sinkt dagegen mit der Masse der diffundierenden Teilchen. Dies ergibt, neben der Massenzentrifuge (siehe Kap. 2.2.3) eine weitere M¨ oglichkeit zur Trennung von Massen. Ver¨ andert sich aber bei der Gasdiffusion der Druck, so ver¨andert sich auf Grund der Zustandgleichung (6.37) auch die mittlere freie Wegl¨ange λ=

kT σP

da

ρ=

P . kT

(6.57)

Die Diffusionskonstante D ist nur konstant, wenn die Diffusion bei konstantem Druck und konstanter Temperatur stattfindet. Diese Bedingungen sind i.A. nur zu erf¨ ullen, wenn zwei Komponenten eines Gasgemisches in entgegengesetzte Richtung diffundieren. Sie sind auf jeden Fall immer dann nicht erf¨ ullt, wenn die Diffusion durch eine semipermeable Wand in die eine Richtung unterbunden wird. Wir untersuchen diesen Fall etwas genauer. Im thermischen Gleichgewicht sind Druck und Temperatur im rechten (r) und linken (l) Teil eines durch eine semipermeable Wand getrennten Gef¨aßes gleich. Es gilt

6.2 Die kinetische Gastheorie

P (r) = P (l) mit

107

ρ(l) = ρ1 (l) + ρ2 (l) , ρ(r) = ρ1 (r) .

Durch die Menbran hindurch besteht daher ein Dichteunterschied ∆ρ1 = ρ1 (r) − ρ1 (l) = ρ2 (l) ∆ρ2 = −ρ2 (l) , der die Diffusion der Komponente (1) von rechts nach links veranlasst, aber die Diffusion der Komponente (2) von links nach rechts nicht zul¨asst, weil die Wand f¨ ur diese Komponente undurchl¨ assig ist. Daher erh¨oht sich die Dichte in dem linken Gef¨ aß, was einen Druckanstieg ∆P = ∆ρ1 k T = ρ2 (l) k T zur Folge hat. Bei der Gasdiffusion ist die dadurch erreichte Druckerh¨ohung nicht sehr groß, weil die Gasdichten klein sind. Auf der anderen Seite beobachtet man dieses Ph¨ anomen auch bei der Diffusion von Fl¨ ussigkeiten durch eine semipermeable Wand, man bezeichnet den Vorgang als Osmose und den Druckanstieg als osmotischen Druck. Der osmotische Druck kann große Werte erreichen, weil die Teilchendichten in einer Fl¨ ussigkeit um etwa einen Faktor 1000 gr¨ oßer sind als in Gasen. Ist die Substanz (1) z.B. das L¨ osungsmittel und die Substanz (2) der gel¨ oste Stoff, dann wird in unserem Beispiel das L¨ osungsmittel durch die semipermeable Wand diffundieren und einen osmotischen Druck Posm = ρ2 R T

(6.58)

in dem Gef¨ aß mit der L¨ osung erzeugen, wenn die molare Dichte des gel¨osten 2 /V betr¨ agt. Die Gleichung (6.58) wird van’t-Hoff ’sches GeStoffs ρ2 = n setz genannt, es gilt nur in solchen F¨ allen, in denen ρ2 nicht zu groß ist. Anmerkung 6.2.1: Der Teilchenstrom durch eine geschlossene Fl¨ ache gehorcht einer Kontinuit¨ atsgleichung, die mathematisch formuliert, dass in dem von der Fl¨ ache eingeschlossenem Volumen keine neuen Teilchen produziert werden. Daher muss der Teilchenstrom durch die Fl¨ ache zu einem mit der Zeit immer gr¨ oßeren Verlust an Teilchen in dem Volumen f¨ uhren. Die Kontinuit¨ atsgleichung, die diesen Zusammenhang in unserem einfachen Fall der Gleichung (6.51) beschreibt, lautet dρ djx + =0. dx dt Wir werden uns sp¨ ater noch oft mit der Kontuit¨ atsgleichung besch¨ aftigen, weil auch der Tranport von elektrischen Ladungen wegen des Gesetzes der Ladungserhaltung ebenfalls einer Kontinuit¨ atsgleichung gehorchen muss. Anmerkung 6.2.2: Es wurde schon am Anfang dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass mit dem Transport von Teilchen auch deren Energie und Impuls transportiert wird. Wir werden diese Transportprozesse nicht im Detail untersuchen, sondern nur

108

6 Thermodynamik

anmerken, dass sie zu ¨ ahnlichen Gleichungen wie dem 1. Fick’schen Gesetz (6.53) f¨ uhren. Auch in diesen F¨ allen wird der Transport von einem Koeffizienten bestimmt, der sich ¨ ahnlich wie die Diffusionskonstante D auf die Gr¨ oßen der kinetischen Gastheorie zur¨ uckf¨ uhren l¨ asst. Energietransport: jU,x = −Λ

dT dx

(Fourier’sches Gesetz) W¨ armeleitf¨ ahigkeit: Λ =

Impulstransport: jp,x = η

f 12

ρ λ k v

dvz (Newton’sches Gesetz) dx Viskosit¨ at: η = 31 ρ λ m v

Das bedeutet, dass zwischen der Diffusionskonstanten D, der W¨ armeleitf¨ ahigkeit Λ und der Viskosit¨ at η ein enger Zusammenhang besteht.

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik Jede Ver¨ anderung der inneren Energie eines Systems hat eine Ver¨anderung der Systemtemperatur zur Folge. Wie aber ver¨andern wir die innere Energie um den Betrag ∆U , d.h. wie ver¨ andern wir die Systemtemperatur um den Betrag ∆T ? Unsere Alltagserfahrung weist auf mindestens 2 M¨oglichkeiten hin, wie wir die Temperatur eines K¨ orpers z.B. erh¨ ohen k¨ onnen: • •

Wir f¨ uhren dem K¨ orper thermische Energie Q (in Form von W¨arme) zu. Wir f¨ uhren dem K¨ orper mechanische Energie W (z.B. durch Gaskompression) zu.

Dar¨ uber hinaus gibt es noch weitere M¨ oglichkeiten, wie etwa die Durchf¨ uhrung von Reaktionen zwischen den Komponenten des Systems. Da wir aber nur solche Zustands¨ anderungen betrachten wollen, bei denen sich die Komponenten des Systems nicht ver¨ andern, schließen wir diese M¨oglichkeit aus. Aus diesen Beobachtungen und dem Erhaltungsgesetz der Energie ergibt sich Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik: Die Summe der einem System zugef¨ uhrten thermischen und mechanischen ¨ Energien ergibt die Anderung der inneren Energie des System. ∆U = Q + W

(6.59)

Sind Q = W = 0, nennen wir das System abgeschlossen. Anderfalls ist das System offen, und zwar mechanisch offen, falls Q = 0, und thermisch offen, falls W = 0. Wie groß sind Q und W ? Wir betrachten ein ideales Gas, dann wissen wir bereits

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik

W =−

f

P dV ,

109

(6.60)

i

wobei i den Anfangszustand des Systems und f seinen Endzustand kennzeichnen. Der Druck P ist der Außendruck, d.h. der Druck, gegen den das System bei der Expansion Arbeit verrichten muss. Dies legt auch die Vorzeichen von Q und W fest. Vorzeichenregel: Die dem System zugef¨ uhrten Energien sind positiv Qzu > 0 , Wzu > 0, die vom System abgef¨ uhrten Energien sind negativ Qab < 0 , Wab < 0. Wie aber sieht der zu Gleichung (6.60) ¨ aquivalente Ausdruck f¨ ur die thermische Energie aus? Der Transfer von W¨ arme wird bestimmt durch die Temperatur T , so wie der Transfer von Arbeit bestimmt wird durch den Druck P : T ist a oße ist a uhren ¨quivalent zu P . Welche Gr¨ ¨quivalent zu dV ? Diese Gr¨oße f¨ wir ad hoc ein und nennen sie die Entropie S, d.h. die Entropie¨anderung dS ist a anderung dV , und daher ¨quivalent zur Volumen¨ Q=

f

T dS .

(6.61)

i

Diese Vorgehensweise erscheint zun¨ achst willk¨ urlich, sie ist es aber nicht. Sowohl T wie auch Q (durch Gleichung (6.59)) sind wohl definierte Gr¨oßen, und damit ist auch die Entropie S eindeutig definiert. So wie P , V , T ist auch die Entropie S eine makroskopische Zustandsgr¨oße, und sie besitzt wie T eine mikroskopische Interpretation, auf die wir in Kap. 6.4.1 eingehen werden. Betrachten wir noch einmal die Gleichung (6.59), so f¨allt auf, dass die Energien U , Q , W verschieden dargestellt sind. Das hat seine Gr¨ unde: •



U ist eine Zustandsfunktion, deren Ver¨ anderung ∆U = CV ∆T allein von dem Anfangs- und Endzustand des Systems abh¨angt, in diesem Fall ¨ von der Differenz der Zustandsgr¨ oße ∆T = Tf − Ti . Ahnlich gilt auch f¨ ur die anderen Zustandsgr¨ oßen ∆P = Pf −Pi , ∆V = Vf −Vi und ∆S = Sf −Si . Q und W sind keine Zustandsfunktionen, denn die Werte von W = f f − P dV und Q = T dS h¨ angen nicht nur vom Anfangszustand i und i

i

Endzustand f ab, sondern auch davon, welchen Weg das System zwischen i und f genommen hat.

110

6 Thermodynamik

Die Schreibweise des 1. Hauptsatzes soll diesen Unterschied in den Eigenschaften von U und Q bzw. W verdeutlichen. Entsprechend werden wir den 1. Hauptsatz in differentieller Schreibweise auch so formulieren: dU = δQ + δW ,

(6.62)

wobei δQ und δW erst dann zu angebbaren Ausdr¨ ucken werden, wenn sich der Weg der System¨ anderung angeben l¨ asst. ¨ Diese Uberlegungen sollen an einem Beispiel veranschaulicht werden, der Expansion eines idealen Gases auf das Doppelte seines Volumens. (1) Die Zustands¨ anderung soll bei konstanter Temperatur T , d.h. f¨ ur ∆T = 0, durchgef¨ uhrt werden, wobei Außen- und Innendruck immer im Gleichgewicht miteinander stehen. In diesem Fall wissen wir aus der Zustandsgleichung (6.37) P =n  R T /V , und daher Wrev = − nRT

f

dV = − n R T ln 2 < 0 . V

(6.63)

i

Das Gas verrichtet also die Arbeit Wrev , die an die Umgebung abgef¨ uhrt wird. Der Index “rev” weist darauf hin, dass die Zustands¨anderung einem definierten Weg (Temperatur- und Druckgleichgewicht) gefolgt ist. Wir k¨onnen daher auch die Ver¨ anderung der Entropie berechnen. Wegen ∆U = CV ∆T = 0 gilt nach dem 1. Hauptsatz ∆SSys =

Wrev Qrev =− =n  R ln 2 . T T

(6.64)

Daher hat die Entropie des Systems zugenommen. Da aber gleichzeitig die thermische Energie −Qrev von der Umgebung an das System abgegeben wurde, hat die Entropie der Umgebung um den Betrag ∆SUmg = −

Qrev Wrev = = − n R ln 2 T T

(6.65)

abgenommen. F¨ ur die Gesamt¨ anderung der Entropie gilt also ∆S = ∆SSys + ∆SUmg = 0 .

(6.66)

(2) Das Gas soll in das Vakuum (P = 0) expandieren. Auch in diesem Fall gilt (f¨ ur ein ideales Gas) ∆T = 0 und daher ∆U = 0. Das Gas verrichtet wegen P = 0 keine Arbeit und nimmt daher auch keine thermische Energie aus der Umbegung auf. Wirr = 0 , Qirr = 0 ,

(6.67)

obwohl der Anfangszustand i und der Endzustand f identisch zu den entsprechenden Zust¨ anden im Beispiel (1) sind. Der Index “irr” weist darauf

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik

111

hin, dass wir den Weg der Zustands¨ anderung allerdings jetzt nicht kennen, denn wir wissen nicht, wie sich der Druck P bei der Expansion ins Vakuum ver¨ andert hat. Trotzdem hat auch bei dieser Art der Expansion die Entropie des Systems zugenommen  R ln 2 , ∆SSys = n

denn die Entropie ist eine Zustandsgr¨ oße und daher unabh¨angig vom Weg “rev” oder “irr”. Aber im Unterschied zu Beispiel (1) hat sich die Entropie der Umgebung ∆SUmg = 0 nicht ver¨ andert, und daher gilt f¨ ur die Gesamtentropie¨anderung ∆S = ∆SSys + ∆SUmg > 0 .

(6.68)

Der Vergleich dieser beiden Beispiele erlaubt wichtige Erkenntnisse: •



Bei Zustands¨ anderungen gilt immer Qrev > Qirr

(bei isothermer Expansion negativ),

Wrev < Wirr

(bei isothermer Expansion negativ).

(6.69)

Das System verrichtet die maximale Arbeit, bzw. ben¨otigt die minimale Arbeit, wenn die Zustands¨ anderungen einem wohl definierten Weg folgen. F¨ ur den Austausch der W¨ arme zwischen System und Umgebung ist es gerade umgekehrt. Sind bei verschiedenen Zustands¨ anderungen Anfangs- respektive Endzust¨ ande des Systems identisch, dann ist die Ver¨anderung der Entropie des Systems unabh¨ angig davon, welchen Weg (“rev” oder “irr”) die Zustands¨ anderung genommen hat. Aber die Ver¨anderung der Gesamtentropie (∆SSys +∆SUmg ) ist nur null, wenn der Weg definiert werden kann (“rev”), aber immer gr¨ oßer null, wenn der Weg nicht definiert werden kann (“irr”).

Diese Aussagen werden uns auch weiterhin bei der Behandlung der Thermodynamik besch¨ aftigen. Wir wollen uns zun¨ achst noch mit den Zustandsfunktionen besch¨aftigen. Die innere Energie U ist eine Zustandsfunktion, sie h¨angt allein von den Zustandsgr¨ oßen des Systems ab U =T S−PV .

(6.70)

F¨ ur jedes System lassen sich noch weitere Zustandfunktionen definieren, die bei Zustands¨ anderungen ausgesuchte Eigenschaften des Systems beschreiben. Wir werden nur noch eine weitere Zustandsfunktion im Folgenden ben¨otigen, und zwar die Enthalpie H =U +P V =T S .

(6.71)

112

6 Thermodynamik

Anmerkung 6.3.1: Die Definition der thermischen Energie mithilfe δQ = T dS ist vollst¨ andig ¨ aquivalent zu der Definition anderer Energieformen, z.B. potenzielle Energie dWpot = (h g) dm , kinetische Energie dWkin = v dp , elektrische Energie dWelek = U dq . Im letzten Fall ist q die elektrische Ladung und U die elektrische Spannung. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied, der auch in der Schreibweise zum Ausdruck kommt. Die oben angegeben Energien W sind unabh¨  angig vom Weg der Zustands¨ anderung, d.h. f¨ ur sie gilt wie in Gleichung (2.54) dW = 0, wenn W u ¨ ber einen geschlossenen Weg integriert wird. Diese Eigenschaft besitzt die thermische Energie Q nicht. Anmerkung 6.3.2: Wir wollen noch kurz erw¨ ahnen, dass es weitere n¨ utzliche Zustandsfunktionen gibt, die Helmholtz’sche freie Energie F = U − T S , Gibbs’sche freie Energie G = U + P V − T S . Die letzte Zustandsfunktion hat offensichtlich nur Bedeutung, wenn wir die Reaktionen zwischen den Komponenten eines Systems und die damit verbundene Ver¨ anderung der inneren Energie U zulassen.

6.3.1 Zustands¨ anderungen Wir haben gelernt, dass es i.A. beliebig viele Zustands¨anderungen geben kann, die einen Zustand i in den Zustand f u uhren. Prinzipiell lassen sich diese ¨berf¨ ¨ Anderungen in 2 Kategorien einteilen: ¨ (1) Solche Anderungen, bei denen zu jeder Zeit alle Zustandsgr¨oßen des Systems bekannt sind und die wir mit dem Index “rev” gekennzeichnet haben. ¨ (2) Solche Anderungen, bei denen zu keinem (oder nur wenigen) Zeitpunkt bekannt ist, welche Werte die Zustandsgr¨ oßen auf ihrem Weg von i nach f ¨ besitzen. Diese Anderungen hatten wir mit dem Index “irr” gekennzeichnet. Diese Indizes stehen f¨ ur reversible (“rev”) bzw. irreversible (“irr”) Zustands¨ anderungen. Eine reversible Zustands¨ anderung kann zu jeder Zeit wieder r¨ uckg¨ angig gemacht werden, d.h. in entgegengesetzter Richtung durchlaufen werden. Damit dies m¨ oglich ist, muss das System mit seiner Umgebung zu jedem Zeitpunkt im thermodynamischen Gleichgewicht stehen. Diese Bedingung verbietet im Prinzip jede reversible Zustands¨anderung, da ein Gleichge¨ ¨ wichtszustand jede Anderung gerade ausschließt. Um reversible Anderungen zuzulassen, muss man daher annehmen, dass sie in infinitesimal kleinen Schritten erfolgen mit der Folge, dass reversible Zustands¨anderungen beliebig lange Zeit ben¨ otigen. Dies ist mathematisch kein Problem, aber f¨ ur die praktische Anwendung nutzlos. Zustands¨ anderungen in der Natur sind daher immer irreversibel. Aber um ihre Eigenschaften zu untersuchen, ersetzen wir sie durch

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik

113

entsprechende reversible Zustands¨ anderungen, die gleichfalls aus dem gegebenen Anfangszustand in den gegebenen Endzustand f¨ uhren. F¨ ur die Zustandsgr¨ oßen bzw. Zustandsfunktionen ist diese Ersetzung ohne Bedeutung, da sie nur vom Anfangszustand und Endzustand abh¨angen. F¨ ur Messgr¨oßen, in denen die thermische bzw. mechanische Energien auftauchen, ist diese Ersetzung aber von Bedeutung, wie wir an Gleichung (6.69) erkennen und wie wir in Kap. 6.3.2 weiter diskutieren werden. Jetzt werden wir zun¨ achst eine Auswahl von reversiblen Zustands¨anderungen im Detail besprechen und sehen, welche funktionalen Zusammenh¨ ange zwischen den Zustandsgr¨ oßen bzw. Zustandsfunktionen f¨ ur die aus¨ gew¨ ahlten Anderungen existieren. Wir betrachten immer eine Menge von n  = 1 mol eines idealen Gases. (A) Die isochore Zustands¨ anderung (V = konst , ∆V = 0) Aus der Zustandsgleichung (6.37) ergibt sich R P = = konst, T V

(6.72)

d.h. es besteht ein linearer Zusammenhang zwischen P und T , wie er auch durch Gleichung (6.8) gegeben ist. Weiterhin gilt δWrev = 0, d.h. das System ist gegen seine Umgebung mechanisch abgeschlossen, aber thermisch offen. Aus dem 1. Hauptsatz folgt dann δQrev = (dQ)V = dU = CV dT .

(6.73)

F¨ ur die Ver¨ anderung der Entropie gilt (dSSys )V =

dT (dQ)V = CV , T T

(6.74)



(6.75)

und daher f¨ ur ideale Gase 3 ∆(SSys )V = R ln 2

Tf Ti

,

also ∆(SSys )V > 0 wenn Tf > Ti . (B) Die isobare Zustands¨ anderung (P = konst , ∆P = 0) Aus der Zustandsgleichung (6.37) ergibt sich R V = = konst, T P

(6.76)

d.h. es besteht ein linearer Zusammenhang zwischen V und T , wie er auch durch Gleichung (6.9) gegeben ist. Der Austausch von thermischer und mechanischer Energie zwischen System und Umgebung unterliegt allein der Beschr¨ ankung durch den 1. Hauptsatz, das System ist sowohl thermisch wie mechanisch offen. Mithilfe der Enthalpie ergibt sich

114

6 Thermodynamik

(dH)P = dU + P dV = δQrev = (dQ)P = CP dT ,

(6.77)

wobei wir die molare W¨ armekapazit¨ at CP eingef¨ uhrt haben. Die molare W¨ armekapazit¨ at CP = (dQ/dT )P bei konstantem Druck ist allerdings nicht unabh¨ angig von der molaren W¨ armekapazit¨ at CV = (dQ/dT )V bei konstantem Volumen, vielmehr ergibt die Gleichung (6.77) CV dT + P dV = CP dT .

(6.78)

Ersetzen wir dV mithilfe der Zustandsgleichung durch dT R dT = CP dT , P

CV dT + P

(6.79)

so finden wir CP − CV = R

also CP > CV .

(6.80)

Das Verh¨ altnis CP /CV = κ wird Adiabaten-Koeffizient genannt. F¨ ur ideale Gase hat er den Wert κ = 5/3, f¨ ur reale Gase gilt κ = (f + 2)/f . F¨ ur die Ver¨ anderung der Entropie gilt d(SSys )P =

dT (dQ)P = CP , T T

(6.81)



(6.82)

und daher f¨ ur ideale Gase 5 ∆(SSys )P = R ln 2

Tf Ti

,

also ∆(SSys )P > ∆(SSys )V f¨ ur gleiche Anfangs- und Endtemperaturen. (C) Die isotherme Zustands¨ anderung (T = konst , ∆T = 0) Aus der Zustandsgleichung (6.37) ergibt sich P V = R T = konst,

(6.83)

d.h. P und V sind umgekehrt proportional zueinander und definieren in der P V -Ebene eine Hyperbel, die Isotherme. Bei isothermen Zustands¨anderungen gilt dU = 0. Wie im Fall (B) ist das System daher thermisch und mechanisch offen, der Austausch mit der Umgebung unterliegt aber der Bedingung δQrev = −δWrev . Daraus folgt (dQ)T = −(dW )T = P ∆V .

(6.84)

Die dem System von der Umgebung zugef¨ uhrte thermische Energie wird vollst¨ andig als mechanische Energie von dem System wieder an die Umgebung abgef¨ uhrt. Mithilfe der Zustandsgleichung ergibt sich f¨ ur diese Energie

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik

(∆W )T = −R T ln



Vf Vi

.

115

(6.85)

Aufgrund der Gleichung (6.84) gilt f¨ ur die Ver¨anderung der Entropie (dSSys )T =

P dV dV (dQ)T = =R T T V

(6.86)



(6.87)

und daher f¨ ur ideale Gase ∆(SSys )T = R ln

Vf Vi

,

also ∆(SSys )T > 0 wenn Vf > Vi . Diese Ergebnisse sind identisch mit den Gleichung (6.63) und (6.64), die wir f¨ ur die isotherme Gasexpansion in einem Spezialfall berechnet hatten. (D) Die adiabatische Zustands¨ anderung (Q = konst , δQ = 0) Bei dieser Zustands¨ anderung ist das System von seiner Umgebung thermisch abgeschlossen, aber mechanisch offen. Es gilt daher δQ = 0 und dU = d(W )Q = CV dT . Aus diesen Bedingungen ergibt sich unmittelbar, dass adiabatische Zustands¨ anderungen die Entropie des Systems nicht ver¨andern, ∆(SSys )Q = 0 .

(6.88)

Und f¨ ur die an die Umgebung abgef¨ uhrte mechanische Energie ergibt sich ∆(W )Q = CV (Tf − Ti ) < 0 wenn Tf < Ti .

(6.89)

Das System k¨ uhlt sich also ab, denn die abgef¨ uhrte mechanische Energie wird vollst¨ andig der inneren Energie des Systems entnommen. Die Abk¨ uhlung ver¨ andert auch die anderen Zustandsgr¨ oßen des Systems, die zwar weiterhin der Zustandsgleichung (6.38) gehorchen m¨ ussen, denen aber wegen δQ = 0 eine weitere Bedingung aufgezwungen wird. Und zwar ergibt sich aus dem 1. Hauptsatz und der Zustandsgleichung CV dT = −P dV = R T

dV , V

also CV

dV dT =R . T V

(6.90)

Dies ist eine Differentialgleichung zur Bestimmung des funktionalen Zusammenhangs zwischen T und V mit der L¨ osung T V R/CV = konst. Wegen CP − CV = R und mit κ − 1 = γ lassen sich folgende Zusammenh¨ange zwischen den Zustandsgr¨ oßen herstellen

116

6 Thermodynamik

T V γ = konst,

(6.91)

κ

P V = konst, T P −γ = konst.

(6.92) (6.93)

κ

F¨ ur ein ideales Gas erhalten wir κ = 5/3 und γ = 2/3. Das heißt, in der P -V -Ebene sind die Adiabaten etwas steiler als die Isothermen, f¨ ur die ja nur P V = konst gilt. In der Tabelle 6.3 sind die Zusammenh¨ange zwischen den Tabelle 6.3. Ver¨ anderungen der Zustandsgr¨ oßen und der ausgetauschen Energien bei den 4 ausgew¨ ahlten reversiblen Zustands¨ anderungen von  n = 1 mol eines idealen Gases isochor (A) ∆V

0

∆P

Pf 1 −



Ti Tf



isobar (B)



Vf 1 − 0

Tf − Ti

Ti Tf



isotherm (C)



Vf 1 −

Pf Pi

Pf − Pi

∆T

Tf − Ti

∆SSys

3 R ln TTfi 2

5 R ln TTfi 2

0 R ln

Qrev Wrev

CV ∆T 0

CP ∆T −R ∆T

T ∆SSys −T ∆SSys



adiabatisch (D)



Vf 1 − Pf − Pi Tf

Pi Pf

0



1−

 Pf 1/κ  Pi



Pi Pf

κ/γ

0 CV ∆T

Zustandsgr¨ oßen und den ausgetauschten Energien zusammengefasst und in der Abb. 6.2 in der V -P -Ebene bzw. der S-T -Ebene dargestellt. Jede dieser reversiblen Zustands¨ anderungen f¨ uhrt, ausgehend von dem gleichen Anfangszustand, zu einem anderen Endzustand. Die isochore (A) und isobare (B) Zustands¨ anderungen lassen sich am einfachsten in der V -P -Ebene darstellen, die isotherme (C) und adiabatische (D) in der S-T -Ebene. 6.3.2 Reversible Kreisprozesse und thermodynamische Energiewandler W¨ ahrend wir uns bisher mit Zustands¨ anderungen aus einem Anfangszustand i in einen dazu verschiedenen Endzustand f besch¨aftigt haben, wollen wir jetzt Zustands¨ anderungen untersuchen, die u ¨ ber den Weg i → f → i wieder in den ¨ Anfangszustand zur¨ uckf¨ uhren. Man nennt derartige Anderungen (reversible) Kreisprozesse, wenn der R¨ uckweg f → i nicht identisch entgegengesetzt zum Hinweg i → f ist. Zun¨ achst wollen wir in diesem Kapitel nur die energetischen Aspekte derartiger Kreisprozesse betrachten, im n¨achsten Kapitel werden wir die Entropie¨ anderungen untersuchen. Unabh¨ angig davon, wie die Wege i → f und f → i verlaufen, muss f¨ ur diese Kreisprozesse gelten

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik

P

T

B

(i)

(f) (f)

C A D

(f)

D

(f)

(f)

(f)

117

V

A

(f)

B C

(i)

(f)

S

Abb. 6.2. Die Wege zwischen dem Anfangszustand (i) und dem Endzustand (f) von 4 ausgesuchten reversiblen Zustands¨ anderungen im V -P -Diagramm (links) bzw. ST -Diagramm (rechts). Es bezeichnet A eine isochore Zustands¨ anderung, B eine isobare Zustands¨ anderung, C eine isotherme Zustands¨ anderung und D eine adiabatische Zustands¨ anderung



dU = 0

und



δQrev = −



δWrev = 0 .

(6.94)

Das bedeutet, dass das System sowohl thermisch wie auch mechanisch offen sein muss, wenn schon nicht auf dem gesamten Weg, dann wenigstens auf Teilst¨ ucken des geschlossenen Wegs. Und das macht die Bedeutung der Kreisprozesse aus: Offensichtlich kann dem System Energie Wzu zugef¨ uhrt und in gewandelter Form Wab wieder abgef¨ uhrt werden. In einem Kreisprozess wandelt das System die zugef¨ uhrte Energie Wzu in eine andere Energieform Wnutz um, wobei Wnutz der nutzbare Teil der abgef¨ uhrten Energie Wab ist. Der wichtige Parameter dieses Wandlungsprozesses ist der Wirkungsgrad aß immer positiv ist ηrev , der definitionsgem¨ ηrev =

|Wnutz | . Wzu

(6.95)

Aufgrund des 1. Hauptsatzes k¨ onnten wir vermuten, dass gelten muss ηrev = 1. Das ist jedoch nicht der Fall, denn wir werden sehen, dass sowohl Wnutz < Wzu wie auch Wnutz > Wzu sein kann, und dass dies keineswegs dem 1. Hauptsatz widerspricht. Dies ist nicht eine Eigenschaft allein der thermodynamischen Energiewandler, sondern gilt ganz allgemein. Betrachten wir z.B. eine Masse m, die aus der H¨ohe h um die Strecke ∆h = hi − hf unter dem Einfluss der Gravitationskraft F G f¨allt. Dabei wird potenzielle Energie Wpot = m g h in kinetische Energie Wkin = m g ∆h verwandelt. Der Wirkungsgrad dieser Energiewandlung betr¨agt

118

6 Thermodynamik

η+ =

∆h hf Wkin = =1− 1. Wkin ∆h η+

¨ Diese Uberlegungen lassen sich fast direkt auf die Wandlung von thermischer Energie Q in mechanische Energie W und umgekehrt u ¨ bertragen, wenn wir ansetzen Q = n  C T . Die Temperatur T entspricht der H¨ohe h, und daher erwarten wir ηrev =

Tf |Wab | =1− 1 Wzu 1 − Tf /Ti

(6.97)

f¨ ur die Wandlung Wzu → |Qab |.

Tw

Tw=T0

Tw

Tk=T0

Tk

Tk=T0

A

B

C

Abb. 6.3. Thermodynamische Kreisprozesse zwischen zwei W¨ armespeichern, dem kalten mit Temperatur Tk und dem warmen mit Temperatur Tw . Der Kreisprozess A symbolisiert die W¨ armepumpe, der Kreisprozess B die K¨ altemaschine und der Kreisprozess C die W¨ armekraftmaschine. Die mechanische Arbeit wird jeweils von rechts zu- bzw. abgef¨ uhrt, T0 ist die Umgebungstemperatur

Wir werden jedoch gleich zeigen, dass diese Erwartungen nur in besonderen F¨ allen korrekt sind. Zun¨ achst wollen wir uns die 3 prinzipiellen M¨oglichkeiten einer thermodynamischen Energiewandlung u ¨ berlegen, so wie sie in Abb. 6.3 dargestellt sind. Der Kreisprozess verl¨ auft zwischen zwei W¨armespeichern,

6.3 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik

119

von denen der eine die hohe Temperatur Tw , und der andere die tiefe Temperatur Tk besitzt, wobei i.A. eine der Temperaturen Tw oder Tk gleich der Umgebungstemperatur T0 ist. (1) W¨ armepumpe In dem Kreisprozess wird W¨ arme Qzu = Qk mit Temperatur T0 dem kalten Speicher entnommen und unter Einsatz mechanischer Energie Wzu auf eine h¨ ohere Temperatur Tw transformiert. Die W¨arme Qab = Qw wird an den heißen Speicher abgegeben. Der Wirkungsgrad ist gegeben durch ηrev =

|Qw | Tw |Qab | = = >1. Wzu |Qw | − Qk Tw − T0

(6.98)

(2) K¨ altemaschine Dieser Kreisprozess ist identisch zu dem der W¨armepumpe, allerdings besteht die Aufgabe darin, die Temperatur Tk des kalten Speichers unter die Temperatur T0 der Umgebung abzusenken. Jetzt besitzt daher der heiße Speicher die Umgebungstemperatur T0 , und der Wirkungsgrad betr¨agt ηrev =

Qk Tk Qzu = = >1 Wzu |Qw | − Qk T0 − Tk

f¨ ur

T0 < Tk < T0 . (6.99) 2

In beiden F¨ allen ist der Wirkungsgrad ηrev > 1 und er wird umso gr¨oßer, je geringer die Temperaturdifferenz zwischen dem heißen und kalten W¨armespeicher ist. Das ist ganz anders bei der W¨ armekraftmaschine, die thermische in mechanische Energie wandelt. (3) W¨ armekraftmaschine In der W¨ armekraftmaschine wird aus dem heißen Speicher die W¨arme Qzu = uhrt und in mechanische Energie Wab gewandelt, die Qw dem System zugef¨ zusammen mit der Restw¨ arme Qab = Qk von dem System wieder abgef¨ uhrt wird. Dabei besitzt der kalte Speicher die Temperatur Tk = T0 . Der Wirkungsgrad f¨ ur diesen Kreisprozess betr¨ agt ηrev =

Qw − |Qk | T0 |Wab | = =1− |Qab |. Daher ergibt sich f¨ ur den Wirkungsgrad dieses beliebigen Kreisprozesses ′ =1− ηrev

1 |Q′ab | =1− < ηrev , ′ ′ ′ |Wab | + |Qab | |Wab /Q′ab | + 1

(6.103)

′ /Q′ab | < |Wab /Qab |. Diese Reduktion des Wirkungsgrads tritt bei weil |Wab allen reversiblen Kreisprozessen auf, deren geschlossener Weg ¨aquivalent zu dem in der rechten H¨ alfte der Abb. 6.4 ist. Wegen der Gleichung (6.69) gilt dies aber ganz allgemein auch f¨ ur alle irreversiblen Kreisprozesse, die sich nicht in der S-T -Ebene darstellen lassen, weil die Ver¨ anderungen der Zustandsgr¨oßen nicht eindeutig definiert sind. Wir kommen daher zu folgendem Ergebnis:

Es gibt in der Natur keinen reversiblen Kreisprozess zwischen den W¨ armespeichern mit Temperaturen Tw > Tk , der einen gr¨oßeren Wirkungsgrad besitzt als der Carnot’sche Kreisprozess ηCarnot = 1 −

Tk . Tw

F¨ ur irreversible Kreisprozesse gilt immer η < ηCarnot . In der Praxis m¨ ussen wir die Wirkungsgrade von thermodynamischen Energiewandlern, die immer auf irreversiblen Kreisprozessen beruhen, experimentell bestimmen. Man liegt jedoch nicht v¨ ollig falsch mit der Annahme, dass die praktischen Wirkungsgrade nur etwa halb so groß sind wie die, die man mit dem ¨ aquivalente reversiblen Kreisprozess errechnet. Anmerkung 6.3.3: Wir wollen kurz zwei andere Kreisprozesse besprechen. Der Stirling-Prozess basiert auf einer Folge von 4 reversiblen Teilprozessen: Isotherm (Tw ) , isochor (Tw → Tk ) , isotherm (Tk ) , isochor (Tk → Tw ). Der Wirkungsgrad ist wegen der isothermen Teilprozesse, und weil sich auf den isochoren Wegen die zu- bzw. abgef¨ uhrten W¨ armen nach Tabelle 6.3. kompensieren, identisch mit dem des Carnot-Prozesses ηStirling = ηCarnot = 1 −

Tk . Tw

Der Otto-Prozess basiert auf einer ¨ ahnlichen Folge von 4 reversiblen Teilprozessen: Adiabatisch (Tw → T1 ) , isochor (T1 → Tk ) , adiabatisch (Tk → T2 ) , isochor (T2 → Tw ). Der Wirkungsgrad des Otto-Prozesses ist, da die isothermen Teilprozesse durch adiabatische Teilprozesse ersetzt wurden, geringer als der eines Carnot-Prozesses ηOtto = 1 −

Tk Tk T1 =1− 0 .

(6.106)

Dabei ist ∆SSys so groß, wie es sich bei der entsprechenden reversiblen Prozessf¨ uhrung erg¨ abe, die vom gleichen Anfangszustand in den gleichen Endzustand f¨ uhrt. Die Gleichung (6.106) wird erf¨ ullt durch die Umge¨ bungsentropie, die jede Anderung der Systementropie u ¨berkompensiert, sodass die Gesamtentropie nur zunehmen kann. Wir wollen diese Aussagen an Hand der W¨ armekraftmaschine untersuchen. Bei diesem Kreisprozess wird thermische Energie dem heißen W¨armespeicher entnommen und teilweise an den kalten W¨ armespeicher zur¨ uckgegeben. Bei endlichen W¨ armespeichern kann dieser Prozess nur so lange funktionieren, so lange Tw > Tk . Unsere Erfahrung sagt uns aber, dass nach endlicher Zeit ein Temperaturausgleich zwischen den W¨ armespeichern stattfinden wird und beide W¨ armespeicher die gleiche Temperatur Tm besitzen. Dieser Temperaturausgleich ist immer mit einer Zunahme der Entropie ∆SUmg > 0 verbunden, die nur r¨ uckg¨ angig gemacht werden kann, wenn die in dem Kreisprozess produzierte mechanische Energie vollst¨ andig dazu eingesetzt wird, um mit einer W¨ armepumpe die abgef¨ uhrte W¨ arme wieder in den heißen W¨armespeicher zur¨ uckzuf¨ uhren. Dabei wird der Anfangszustand wieder erreicht, der Prozess ist reversibel und die Gesamtentropie¨ anderung ∆S = 0. Wird die W¨arme nicht vollst¨ andig zur¨ uckgef¨ uhrt, gilt ∆S > 0. Wir wollen jetzt zeigen, dass der Temperaturausgleich mit einer Entropievergr¨ oßerung verbunden ist. Um das Problem zu vereinfachen, nehmen wir

6.4 Entropie und 2. Hauptsatz der Thermodynamik

123

an, dass beide W¨ armespeicher unterschiedliche Temperaturen Tw > Tk besitzen, aber sonst identisch sind. Stellen wir den thermischen Kontakt zwischen ihnen her, wird thermische Energie vom warmen in den kalten Speicher flieur die ausgetauschten ßen, bis beide die gleiche Temperatur Tm besitzen. F¨ Energien gilt n  C (Tw − Tm ) = n  C (Tm − Tk )

also Tm = 0.5 (Tw + Tk ) . (6.107)

F¨ ur die Entropie¨ anderungen erhalten wir ∆Sw = n C

und daher

C ∆Sk = n

m

w m k

dT Tm =n  C ln 0, T Tk

∆S = ∆Sw + ∆Sk = n  C ln

(6.108)

(6.109)

2 Tm Tw + Tk = 2n  C ln √ > 0 , (6.110) Tw Tk 2 Tw Tk

√ ¨ da immer Tw + Tk > 2 Tw Tk f¨ ur Tw = Tk . Diese Uberlegungen zum Temperaturausgleich gelten nat¨ urlich auch f¨ ur abgeschlossene Systeme, denn der Ausgleich ben¨ otigt nicht den Kontakt zur Umgebung. Der stabile Zustand eines abgeschlossenen Systems ist der, bei dem alle Teilsysteme die gleiche Temperatur besitzen. Dieser Gleichgewichtszustand ist gekennzeichnet durch ein Maximum der Entropie SSys = max oder

dSSys = 0 .

(6.111)

Da in diesem Fall zum Erreichen des Gleichgewichtszustands keine Zustandsanderungen in der Umgebung notwendig sind, gelten diese Aussagen auch f¨ ur ¨ die Gesamtentropie. Wir formulieren daher den 2. Hauptsatz der Thermodynamik so: Alle Zustands¨ anderungen in der Natur lassen entweder die Gesamtentropie unver¨ andert, wenn die Zustands¨ anderungen reversibel sind ∆S = 0 ,

(6.112)

oder sie vergr¨ oßern die Gesamtentropie, wenn die Zustands¨anderungen irreversibel sind, ∆S > 0 .

(6.113)

124

6 Thermodynamik

Anmerkung 6.4.1: In der Praxis wird nat¨ urlich vermieden, dass sich die Temperaturen des heißen und des kalten W¨ armespeichers angleichen. Dies geschieht durch st¨ andige Erw¨ armung des heißen Speichers mithilfe chemischer Verbrennungsreaktionen und durch st¨ andige K¨ uhlung des kalten Speichers. Daraus l¨ asst sich folgern, dass exotherme chemische Reaktionen und der K¨ uhlprozess ebenfalls die Entropie der Umgebung vergr¨ oßern.

6.4.1 Die mikroskopische Deutung der Entropie Die Ergebnisse des letzten Kapitels zeigen: Die Entropie ist, im Gegensatz zur Energie, bei Zustands¨anderungen eines abgeschlossenen Systems nicht erhalten. Entropie kann spontan erzeugt, aber nie vernichtet werden. Da ein abgeschlossenes System von seiner Umgebung abgekoppelt ist, weist dies darauf hin, dass die Entropie mit den inneren Eigenschaften des Systems selbst zu tun hat, so wie die innere Energie eines idealen Gases mit der ungeordneten Bewegung der Gasteilchen verkn¨ upft ist. Wie letztere besitzt daher die Entropie eine mikroskopische Interpretation, mit der wir uns jetzt besch¨ aftigen wollen. Dazu greifen wir zur¨ uck auf die isotherme Expansion eines Gases, die wir bereits in Kap. (6.3) mit der Vergr¨ oßerung der Systementropie verbunden hatten. Stellen wir uns wiederum vor, dass in den beiden Volumina V1 = V2 = V /2 jeweils n1 bzw. n2 unterscheidbare Teilchen mit der Gesamtzahl von Teilchen n = n1 +n2 vorhanden sind. Unterscheidbar bedeutet hier, dass jedes Teilchen mit einer Nummer versehen und dadurch von allen anderen Teilchen unterschieden werden kann. Wenn wir die Trennwand zwischen V1 und V2 entfernen, in welche Richtung wird sich der Zustand {n1 ,n2 } entwickeln? Dazu m¨ ussen wir uns u ande ¨ berlegen, wie groß die Anzahl der Mikrozust¨ Ω(n1 , n2 ) ist, die alle zum gleichen Zustand {n1 ,n2 } geh¨oren. Denn es erscheint plausibel, dass sich das abgeschlossene System zu diesem Gleichgewichtszustand hin entwickeln wird, der die gr¨oßtm¨ogliche Anzahl von Mikrozust¨ anden besitzt. Die Anzahl der Mikrozust¨ande Ω(n1 , n2 ) zum Zustand {n1 ,n2 } ist gegeben durch den Binomialkoeffizienten

n n! , (6.114) Ω(n1 , n2 ) = = n1 ! (n − n1 )! n − n1 wobei die herk¨ ommliche Definition der Fakult¨ at n! benutzt wird: n! = 1 · 2 · 3 · ... · n und

0! = 1 .

Die Gesamtanzahl aller Mikrozust¨ ande ergibt sich zu Z(n) =

n 

n1 =0

Ω(n1 , n − n1 ) = 2n .

(6.115)

6.4 Entropie und 2. Hauptsatz der Thermodynamik

125

Nehmen wir als Beispiel n = 5, dann finden wir 5! =1 0! 5! 5! =5 Ω(1, 4) = Ω(4, 1) = 1! 4! 5! = 10 Ω(2, 3) = Ω(3, 2) = 2! 3! und Z(n) = 25 = 32 . Ω(0, 5) = Ω(5, 0) =

Wir erkennen, die gr¨ oßte Anzahl der Mikrozust¨ande besitzen Zust¨ande in der N¨ ahe der Gleichverteilung Ω(n/2, n/2). Daher liegt es nahe, die Anzahl der Mikrozust¨ ande durch die Abweichung δ von der Gleichverteilung n1 = n2 = n/2 zu beschreiben Ω(n1 , n2 ) =

n! = Ω(n, δ) . (n/2 + δ)! (n/2 − δ)!

(6.116)

Diese Funktion von n und δ l¨ asst sich f¨ ur sehr große n darstellen als

δ2 Ω(n, δ) ≈ Ω(n, 0) exp − mit (6.117) 2(n/4) 1 n! 2n . ≈ √  Ω(n, 0) = 2 ((n/2)!) 2π n/4

Wir erhalten daher f¨ ur die Verteilung der Anzahl der Mikrozust¨ande um die Gleichverteilung eine Gauss-Verteilung mit der relativen Standardabweichung 1 σ = √ ≈ 10−11 , n/2 n

(6.118)

d.h. eine um n1 = n2 = n/2 ≈ 1022 außerordentlich enge Verteilung mit der Gesamtanzahl der Mikrozust¨ ande Z(n) = 2n . Wir k¨onnen daraus ersehen, dass nur Zust¨ ande in unmittelbarer Nachbarschaft der Gleichverteilung mit der Gesamtwahrscheinlichkeit P (n = n/2) ≈ 2n /2n = 1 besetzt werden und alle anderen Zust¨ ande weiter entfernt von der Gleichverteilung die Besetzungswahrscheinlichkeit P (n = n/2) ≈ 0 besitzen. Die Zustandsentwicklung erfolgt daher in die Richtung, in der die Systementropie ihren maximalen Wert erreicht, oder gleichwertig ausgedr¨ uckt, die Anzahl der Mikrozust¨ ande maximal wird. Der Zusammenhang zwischen beiden Aussagen ist SSys = k ln Ω ,

(6.119)

wie wir leicht verifizieren k¨ onnen. F¨ ur den Zustand der Gleichverteilung gilt f¨ ur n → ∞

126

6 Thermodynamik

SSys (max) = k ln 2n = n k ln 2 = n  R ln 2 .

(6.120)

Und dies ist identisch mit dem Entropiewert (6.64), den wir mithilfe des 1. Hauptsatzes und der Zustandsgleichung der idealen Gase auf makroskopischem Weg berechnet hatten. Die Abh¨ angigkeit der Entropie von der Zustandsverteilung nach Gleichung (6.119) wird oft in Zusammenhang gesehen mit der Ordnung des Systems. Die Gleichverteilung entspricht sicher der gr¨ oßtm¨oglichen Unordnung aller m¨ oglichen Zust¨ ande. Jede Abweichung von der Gleichverteilung erh¨oht daher die Ordnung des Systems, bzw. verkleinert dessen Unordnung. Insofern ist die Entropie ein Maß f¨ ur die Unordnung eines Systems. Diese Zusammenh¨ange werden quantitativer, wenn wir im n¨ achsten Kapitel die Phasen¨ uberg¨ange eines Systems behandeln, bei dem der Verlust an struktureller Ordnung gekoppelt ist an die Zunahme der Systementropie. Anmerkung 6.4.2: Bei dem Vergleich von Gleichung (6.120) mit Gleichung (6.64) f¨ allt auf, dass SSys (max) mit ∆SSys verglichen wird. Dieser Vergleich ist trotzdem erlaubt, weil der Zustand, bei dem sich alle Teilchen im Volumen V1 befinden, n R ln 1 = 0 Ω(n, 0) = 1 besitzt und daher durch minimale Entropie SSys (min) =  gekennzeichnet ist. Es ist ∆SSys = SSys (max) − SSys (min) = SSys (max). Wir lernen dabei auch, dass die Systementropie immer positiv ist, d.h. SSys ≥ 0 gilt. Anmerkung 6.4.3: Neben der strukturellen Ordnung (Ordnung der Lage) gibt es auch eine dynamische Ordnung (Ordnung der Bewegung). Die kollektive Bewegung aller Teilchen mit gleicher Geschwindigkeit v ist z.B. ein Zustand mit hoher dynamischer Ordnung. Auch mechanische Schwingungen und Wellen in dem System z¨ ahlen dazu.

6.4.2 Der Phasenraum Wollen wir uns die Ordnung eines Vielteilchensystems darstellen, m¨ ussten wir von jedem Teilchen des Systems seinen Ortsvektor r und seinen Impulsvektor p angeben und verfolgen, wie sich diese mit der Zeit ver¨andern. Dies erfordert f¨ ur jedes Teilchen einen 6-dimensionalen Raum, den man den “Phasenraum” nennt. Da in der “Klassischen Physik” die Teilchen unterscheidbar sind, ben¨ otigen wir f¨ ur jedes Teilchen einen eigenen Phasenraum. Der Gesamtraum h¨ atte eine wahrlich hohe Dimension. Eine zentrale Aussage der “Modernen Physik” ist, dass die Teilchen tats¨ achlich ununterscheidbar sind. Wir werden das in Kap. 17 diskutieren. Dann gen¨ ugt der 6-dimensionale Raum, und die Verteilung der Teilchen in diesem Raum sagt etwas aus u ¨ ber den Zustand des Vielteilchensystems. Wir wollen auch klassische Teilchen nach dieser Methode behandeln. Um die Verteilung zu quantifizieren, m¨ ussen wir den Phasenraum in Zellen unterteilen und angeben, wie viele Teilchen sich in jeder Zelle befinden. Wie groß muss eine Zelle sein? In dem Kap. 6.4.1 haben wir z.B. angenommen, dass der Ortsraum nur 2 Zellen enth¨ alt, die Volumina V1 und V2 . Die

6.4 Entropie und 2. Hauptsatz der Thermodynamik

127

Gr¨ oße der Phasenraumzellen wird in der klassischen Physik nicht eindeutig festgelegt. In der modernen Physik allerdings kann die Gr¨oße der Phasenraumzellen einen kleinsten Wert nicht unterschreiten, der festgelegt ist durch die Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen dpx dx = h dpy dy = h

(6.121)

dpz dz = h . Wir bezeichnen das Element des Ortsraums mit dV = dx dy dz und das Element des Impulsraums mit dVp = dpx dpy dpz . Ein Element des Phasenraums ist dann dΠ = dV dVp und hat die Gr¨ oße h3 . Die Verteilungsfunktion der Teilchen im Phasenraum lautet f (r, p) = h3

dn(r, p) , dΠ

(6.122)

sie h¨ angt von der Art der Teilchen und dem Zustand des Systems ab. Ganz allgemein muss aber nat¨ urlich f¨ ur n Teilchen gelten, dass  1 n= 3 f (r, p) dΠ (6.123) h gilt. Die Verteilungsfunktion gibt also an, mit wie vielen Teilchen eine Phasenraumzelle besetzt ist, und wir werden in Kap. 17 lernen, wie die Art der Teilchen die Eigenschaften der Verteilungsfunktion bestimmt. In vielen F¨ allen, z.B. bei freien Teilchen, h¨angt die Verteilungsfunktion nicht vom Orts- und Impulsvektor ab, sondern allein vom Impuls p, oder wegen ε = p2 /2 m von der Energie ε. Teilchen bezeichnet man als freie Teilchen, wenn auf sie keine Kr¨ afte wirken, also auch keine gegenseitigen Kr¨afte. Ein Beispiel f¨ ur freie Teilchen haben wir schon bei der Herleitung der Maxwell’schen Geschwindigkeitsverteilung Gleichung (6.33) kennen gelernt, wobei wir den Impuls eines einzelnen freien Teilchens jetzt mit p anstelle von ℘ bezeichnen, um den Zusammenhang mit Gleichung (6.121) herzustellen. F¨ ur ein freies Teilchen hat die Verteilungsfunktion daher die Form f (p). Alle Teilchen mit konstantem |p| liegen auf einer Kugelschale im Impulsraum, d.h. es gilt dΠ = 4π p2 dp dV .

(6.124)

Diese Beziehung haben wir in Gleichung (6.32) benutzt. Die Gesamtzahl der Teilchen ergibt sich dann zu  V f (p) g(p) dp , (6.125) n= 3 h wobei g(p) die Zustandsdichte im Impulsraum darstellt, g(p) = 4π p2 ,

(6.126)

128

6 Thermodynamik

und die Verteilungsfunktion gegeben ist durch 2

f (p) = C0 e−p

/(2 m k T )

.

(6.127)

2

Den Faktor e−p /(2 m k T ) bezeichnet man als Boltzmann-Faktor, C0 ist die Normierungskonstante (ohne Maßeinheit), die eingef¨ uhrt werden muss, damit Gleichung (6.125) wirklich g¨ ultig ist. Sie ergibt sich in der klassischen Physik zu

−3/2 n 2π m k T , (6.128) C0 = V h2 und ist daher nicht mehr abh¨ angig von p, sondern von der Temperatur T . Man kann, wie bereits erw¨ ahnt, die Verteilungsfunktion auch in Abh¨angigkeit der Energie ε darstellen. Dann gilt  V n= 3 f (ε) g(ε) dε , (6.129) h wobei g(ε) die Zustandsdichte im Energieraum darstellt √ g(ε) = 4π m3/2 2 ε ,

(6.130)

und die Verteilungsfunktion jetzt lautet f (ε) = C0 e−ε/(k T ) .

(6.131)

Sowohl f (p) als auch f (ε) beschreiben die Verteilung der Teilchen im Phasenraum eines klassischen Vielteilchensystems, das sich im thermischen Gleichgewicht befindet, d.h. eines Systems mit maximaler Entropie. Wir werden in dem Kap. 17 beiden Darstellungen wieder begegnen, dann aber erweitert auf ein gequanteltes Vielteilchensystem. Die Anzahl der Teilchen, die alle Phasenraumzellen mit Energien zwischen ε und ε + dε besetzt haben, betr¨ agt n(ε) = f (ε) .

(6.132)

Daraus ergibt sich die Besetzungswahrscheinlichkeit des Zustands zu n(ε) . (6.133) n Die Besetzungswahrscheinlichkeit ist daher eine Funktion der Energie und der Temperatur, wenn sich das System im thermischen Gleichgewicht befindet. Dies wird noch deutlicher, wenn wir die relative Besetzungswahrscheinlichkeit zwischen zwei Zust¨ anden mit Energien ε1 und ε2 betrachten. Diese ergibt sich zu P (ε2 ) = e(ε1 −ε2 )/(k T ) . (6.134) P (ε1 ) P (ε) =

Diese Beziehung gilt ganz allgemein, wenn die Phasenraumzellen vor der Besetzung unbesetzt waren, ein Ergebnis, das uns bei der Behandlung der Quantenstatistik in Kap. 17 wieder begegnen wird.

6.5 Reale Gase

129

6.5 Reale Gase Es gibt in der Natur kein Gas, das sich unter allen Umst¨anden immer wie ein ideales Gas verh¨ alt. Diese Tatsache ist uns bereits in Kap. 6.2.2 bei der Behandlung der molaren W¨ armekapazit¨ aten CV begegnet. Die Gr¨oße von CV wird bestimmt durch die Anzahl f der Freiheitsgrade, die ein Gasteilchen besitzt. F¨ ur das ideale Gas gilt f = 3, wie wir es auch bei den Edelgasen finden. Aber f¨ ur die meisten anderen Gase gilt bereits bei Zimmertemperatur f > 3. Da die Zustandsgleichung der Gase nicht von der Anzahl der Freiheitsgrade abh¨ angt, hat dies i.A. keine Auswirkung auf die Zustands¨anderungen der Gase. Die Zustandsgleichung eines Gases wird erst dann von der des idealen Gases abweichen, wenn die Grundbedingungen an das ideale Gas nicht mehr erf¨ ullt sind. • •

Das Eigenvolumen der Gasteilchen kann vernachl¨assigt werden. Die Wechselwirkung zwischen den Gasteilchen kann vernachl¨assigt werden.

Die G¨ ultigkeit dieser Bedingungen h¨ angt von dem mittleren Abstand zwischen den Gasteilchen ab, d.h. von ihrer molaren Dichte ρ = n /V . Betrachten wir die Zustandsgleichung des idealen Gases PV =n RT ,

(6.135)

so muss f¨ ur große ρ, d.h. f¨ ur kleine Teilchenabst¨ande, das freie Volumen V verringert werden. Diese Korrektur ist proportional zur molaren Dichte ρ der n  nA Teilchen

n  = V −bn . (6.136) V′ =V 1−b V

Gleichfalls muss sich der Gasdruck P ver¨ andern durch die Wechselwirkung zwischen jeweils 2 Teilchen, da sich die Teilchen nicht mehr frei im Volumen V bewegen k¨ onnen. Diese Korrektur ist proportional zum Quadrat der molaren 2 Teilchenpaare Dichten ρ2 der n 2 n  ′ P =P +a . (6.137) V Bei Ber¨ ucksichtigung dieser Korrekturen finden wir:

Die Zustandsgleichung eines realen Gases lautet  2  n  (V − b n ) = n RT . P +a V

(6.138)

Die Konstanten a und b, die f¨ ur jedes Gas verschieden sind, h¨angen nicht von den Zustandsgr¨ oßen P , V und T ab. Die Zustandsgleichung (6.138) eines

130

6 Thermodynamik

P kritischer Punkt

T>Tk PD

T=Tk (s)

(t)

T Tk . Die kritische Temperatur ist dadurch gegeben, dass f¨ ur T > Tk das Gas f¨ ur jeden m¨oglichen Gasdruck immer ein ur Gas ist, und f¨ ur T ≫ Tk sogar das Verhalten des idealen Gases zeigt. F¨ T < Tk dagegen ¨ andert das Gas bei einem bestimmten Druck PD , den man den S¨ attigungsdampfdruck nennt, seinen Aggregatzustand. Das Gas vollzieht bei Volumenverkleinerung ∆V < 0 und bei konstantem Druck ∆PD = 0 einen Phasen¨ ubergang aus dem gasf¨ ormigen in den fl¨ ussigen Zustand. Diese Eigenschaften eines realen Gases werden durch Gleichung (6.138) beschrieben und sind in Abb. 6.5 dargestellt. Der V -P -Bereich, in dem f¨ ur konstante ubergang stattfindet, nennt man den KoexisTemperatur T < Tk der Phasen¨ tenzbereich. Er wird in Abb. 6.5 durch die “Siedekurve” (s) und “Taukurve” (t) begrenzt. In diesem Bereich besitzen die Isothermen eine Form wie ein liegendes “S”, d.h. jede Isotherme in diesem Bereich besitzt einen maximalen Druckwert Pmax und einen minimalen Druckwert Pmin . Im Experiment stellt man aber fest, dass der Druck der Isothermen konstant gleich PD ist. Das bedeutet, im Koexistenzbereich stimmen Van-der-Waals-Gleichung P (V ) und

6.5 Reale Gase

131

Experiment nicht u ¨berein. Die Van-der-Waals-Gleichung gestattet es trotzdem, den Wert von PD zu bestimmen. Und zwar muss die von P (V ) und PD eingeschlossene Fl¨ ache mit maximalem Druck Pmax genau so groß sein, wie die entsprechende Fl¨ ache mit minimalem Druck Pmin . In Abb. 6.5 sind diese Fl¨ achen schraffiert dargestellt. Diese Vorschrift zur Bestimmung von PD heißt Maxwell-Konstruktion. Tabelle 6.4. Werte der Konstanten a und b aus Gleichung (6.138) und die sich daraus ergebenden Werte der kritischen Temperatur Tk Substanz a(N m4 mol2 ) b(m3 mol−1 ) Tk (K) 3,5 · 10−3 1,4 · 10−1 1,4 · 10−1 5,6 · 10−1

He N2 O2 H2 O

24 · 10−6 39 · 10−6 32 · 10−6 31 · 10−6

5 126 155 649

Den Punkt, in dem der Koexistanzbereich die Isotherme T = Tk ber¨ uhrt, nennt man den kritischen Punkt. Er ist, neben der Temperatur Tk , gekennzeichnet durch den kritischen Druck Pk und das kritische Volumen Vk , deren Werte von den Konstanten a und b in der van-der-Waals-Gleichung abh¨angen. F¨ ur n  = 1 mol eines Gases findet man Tk =

8a 27 b R

, Pk =

a 27 b2

,

Vk = 3 b .

(6.139)

In Tabelle 6.4 sind die Werte von a , b und Tk f¨ ur einige Gase angegeben. Daraus wird erkennbar, dass besonders die Wechselwirkung zwischen den Gasteilchen ausschlaggebend daf¨ ur ist, inwieweit ein Gas die Anforderungen an das ideale Gas erf¨ ullt. 6.5.1 Phasen¨ uberg¨ ange Phasen¨ uberg¨ ange sind ein Ph¨ anomen, das in dem idealen Gas nicht vorkommt, sondern nur bei den realen Gasen anzutreffen ist. Neben dem Phasen¨ ubergang gasf¨ ormig ↔ fl¨ ussig, der in der Van-der-Waals-Gleichung ber¨ ucksichtigt ist, existieren auch die Phasen¨ uberg¨ ange gasf¨ ormig ↔ fest und fl¨ ussig ↔ fest. Die Sequenz fest ↔ fl¨ ussig ↔ gasf¨ ormig ist uns aus unseren Erfahrungen vertraut, denn sie wird unter Alltagsbedingungen beim Wasser beobachtet. Bei norma¨ fest ↔ fl¨ ussig, und len Luftdruck P0 findet bei TE = 273,15 K der Ubergang ¨ bei TD = 373,15 K der Ubergang fl¨ ussig ↔ gasf¨ormig statt. Wir k¨onnen daraus folgern, dass der S¨ attigungsdampfdruck von Wasser bei TD = 373,15 K genau PD = 1,01325 bar betr¨ agt. W¨ ahrend dieses Phasen¨ ubergangs bleiben TD und PD konstant, d.h. es handelt sich um eine gleichzeitig isotherme und isobare

132

6 Thermodynamik

T

1

Tw Tk

kritischer Punkt

4

2

3

Abb. 6.6. Darstellung des Koexistenzbereichs in einem S-T -Diagramm. Der schattierte Bereich stellt einen reversiblen Kreisprozess dar, der innerhalb des Koexistenzbereichs verl¨ auft, also Wasser verdampft und den Dampf anschließend wieder verfl¨ ussigt. Dieser Kreisprozess hat wegen des Wegs 4 → 1 auf der Siedekurve einen geringeren Wirkungsgrad als der Carnot’sche Kreisprozess

S

Zustands¨ anderung. Da der Phasen¨ ubergang fl¨ ussig ↔ gasf¨ormig z.B. f¨ ur den W¨ armehaushalt der Organismen oder bei der thermodynamischen Energiewandlung von großer Bedeutung ist, wollen wir uns mit ihm etwas genauer besch¨ aftigen. Die Eigenschaften dieses Phasen¨ ubergangs lassen sich physikalisch am besten mithilfe eines Kreisprozesses untersuchen. Wie beim Carnot’schen Kreisprozess (siehe Abb. 6.4) stellen wir diesen in der S-T -Ebene dar (Abb. 6.6), in der sich ebenfalls der Koexistenzbereich darstellen l¨asst. Auf dem Weg 1 → 2 wird das Wasser mithilfe der Zufuhr von thermischer Energie Q′zu bei konstanter Temperatur Tw vollst¨ andig verdampft. Der Weg 2 → 3 beschreibt die adiabatische Entspannung des Wasserdampfs, der sich dabei von Tw → Tk abk¨ uhlt und gleichzeitig zum Teil wieder in Wasser verwandelt. Auf dem Weg 3 → 4 wird der Restdampf durch Abfuhr der thermischen Energie |Qab | bei konstanter Temperatur Tk vollst¨ andig in Wasser umgewandelt. Danach wird das Wasser auf dem Weg 4 → 1 durch Zufuhr von thermischer Energie Q′′zu wieder auf die Temperatur Tk → Tw erhitzt. Dieser Kreisprozess ist technisch verwirklicht in einer Dampfmaschine bzw. Dampfturbine, er besitzt einen Wirkungsgrad η < ηCarnot ,

(6.140)

weil die Erhitzung des Wassers nicht auf einer Adiabaten, sondern wegen der Inkompressibilit¨ at von Fl¨ ussigkeiten praktisch auf einer Isochoren erfolgt. F¨ ur die Ver¨ anderung der Enthalpie auf dem Weg 1 → 2 gilt (dH)P = dU + pD dV = dΛD .

(6.141)

Das bedeutet, die zugef¨ uhrte molare Verdampfungsw¨ arme Q′zu = ΛD wird ¨ ben¨ otigt zur Uberwindung der inneren Wechselwirkungen zwischen den Fl¨ ussigkeitsteilchen (dU ) und zur Verrichtung mechanischer Energie gegen den oßerung der Entropie statt. Aus außeren Druck PD . Dabei findet eine Vergr¨ ¨ T dS = dH − V dP bei dPD = 0 ergibt sich

6.5 Reale Gase

∆SD =

2 1

1 (dH)P = T TD

2

(dH)P =

1

ΛD . TD

133

(6.142)

Die Entropiezunahme ist aus mikroskopischer Sicht verst¨andlich. Bei der Verdampfung des Wassers wird die noch vorhandene strukturelle Ordnung der Fl¨ ussigkeit vollst¨ andig aufgel¨ ost in die strukturelle Unordnung des Gases. Und wir wissen aus Kap. 6.4.1, dass die Entropievergr¨oßerung immer ver¨ standen werden kann als ein Ubergang in einen Zustand mit gr¨oßerer Unordnung. Diese Abnahme der strukturellen Ordnung tritt auch auf bei dem Phasen¨ ubergang fest → fl¨ ussig. Es ist daher verst¨andlich, dass in diesem Fall der Phasen¨ ubergang die Zufuhr der Schmelzw¨ arme ΛE erfordert und die Entropie sich dabei um ∆SE = ΛE /TE erh¨ oht. Phasen¨ uberg¨ange mit diesen Eigenschaften bezeichnet man als Phasen¨ uberg¨ ange 1. Ordnung. Die Reduzierung des Wirkungsgrads nach Gleichung (6.140) h¨angt von ahlen wir einen infinitesimal kleinen Unterdem Unterschied Tk < Tw ab. W¨ schied Tw = T

, Tk = T − dT ,

dann ist η = ηCarnot = 1 −

dT T − dT = . T T

(6.143)

Dem Temperaturunterschied dT entspricht ein Druckunterschied dPD zwischen den Wegen 1 → 2 und 3 → 4. Auf dem Weg 4 → 1 wird die zugef¨ uhrte assigbar klein, und daher gilt Qzu = ΛD . Die thermische Energie Q′′zu vernachl¨ abgef¨ uhrte mechanische Arbeit betr¨ agt |Wab | = dPD ∆V = dPD (Vg − Vfl ), wobei ∆V die Vergr¨ oßerung des Volumens bei der Wasserverdampfung angibt. Wir erhalten daher mithilfe der Definition (6.102) des Wirkungsgrades f¨ ur einen Carnot-Prozess dPD (Vg − Vfl ) dT . = T ΛD

(6.144)

Diese Gleichung heißt Clausius-Clapeyron-Gleichung, und die l¨asst zwei Interpretationen zu. •

Ist die Dampfdruckkurve PD (T ) des Phasen¨ ubergangs fl¨ ussig ↔ gasf¨ormig bekannt, kann man die Verdampfungsw¨ arme ΛD (T ) =



dPD (T ) (Vg − Vfl ) T dT

(6.145)

f¨ ur beliebige Temperaturen T < Tk berechnen. Ist die Verdampfungsw¨ arme ΛD (T ) bekannt, erh¨alt man eine Differentialgleichung f¨ ur die Dampfdruckkurve

134

6 Thermodynamik

dPD =

ΛD (T ) dT . (Vg − Vfl ) T

(6.146)

Unter der Annahme, dass ΛD (T ) nur wenig von der Temperatur abh¨angt, ergibt sich PD (T ) = P0 e−ΛD /(R T ) .

(6.147)

¨ ur den Phasen¨ ubergang Ahnlich zur Dampfdruckkurve PD (T ) gibt es auch f¨ fest ↔ gasf¨ ormig die Sublimationsdruckkurve PS (T ) und f¨ ur den Phasen¨ ubergang fest ↔ fl¨ ussig die Schmelzdruckkurve PE (T ). In Abb. 6.7 sind diese Kurven f¨ ur CO2 und H2 O gezeigt. F¨ ur jede Substanz treffen sich alle drei Kurven in einem Punkt, dem Tripelpunkt. Am Tripelpunkt mit fester Temperatur T3 und festem Druck P3 sind alle 3 Aggregatzust¨ande einer Substanz im Gleichgewicht. F¨ ur Wasser gilt z.B. T3 = 273,16 K

, P3 = 610,6 Pa.

(6.148)

Dieser Punkt eignet sich daher besonders gut f¨ ur die Definition der Temperaturskala im SI. Wir wollen noch auf die Anomalie des Wassers hinweisen. Darunter versteht man die Tatsache, dass die Schmelzdruckkurve des Wassers eine negative Steigung besitzt, weil f¨ ur Wasser Vfest > Vfl , d.h. Wasser dehnt sich

P(bar)

CO2 kritischer Punkt 217

75

P(bar)

..

kritischer Punkt

..

flussig

flussig

fest

fest 5,1

H 2O

..gas− formig 6,1. 10−3 Tripelpunkt

..gas− formig Tripelpunkt

T(K) 217

304

T(K) 273,16

647

Abb. 6.7. Schematische Darstellungen der Sublimationsdruckkurve (fest/gasf¨ ormig), der Schmelzdruckkurve (fest/fl¨ ussig) und der Dampfdruckkurve (fl¨ ussig/gasf¨ ormig) in einem T -P -Diagramm. Links sind diese Kurven f¨ ur CO2 dargestellt, rechts f¨ ur H2 O. Im Tripelpunkt existieren alle drei Aggregatzust¨ ande in Koexistenz, oberhalb des kritischen Punkts kann nicht mehr zwischen dem fl¨ ussigen und dem gasf¨ ormigen Aggregatzustand unterschieden werden, daher endet die Dampfdruckkurve in diesem Punkt

6.5 Reale Gase

135

beim Gefrieren aus und das Eis schwimmt auf dem Wasser. Das bedeutet, man kann den Phasen¨ ubergang fest → fl¨ ussig sowohl mithilfe einer Temperaturerh¨ ohung wie auch einer Druckvergr¨ oßerung durchf¨ uhren. Bei den meisten ur den Phasen¨ ubergang muss die anderen Substanzen gilt Vfest < Vfl , und f¨ Temperatur erh¨ oht werden. Anmerkung 6.5.1: Eine Fl¨ ussigkeit siedet bei der Temperatur TD , wenn der S¨ attigungsdampfdruck gleich dem Druck der Umgebung ist, PD (TD ) = P0 . Auf der anderen Seite kann eine Fl¨ ussigkeit schon bei kleineren Temperaturen verdunsten, wenn n¨ amlich der Partialdruck des Wasserdampfs in der Umgebung kleiner ist als der S¨ attigungsdampfdruck, PD (T ) > Pi , siehe Gleichung (6.39).

6.5.2 Die adiabatische Expansion eines Gases Als weiteres Beispiel f¨ ur das unterschiedliche Verhalten eines realen Gases, verglichen mit dem des idealen Gases, wollen wir noch einmal die adiabatische Expansion vom Volumen V1 in das Volumen V2 f¨ ur ein abgeschlossenes System untersuchen. Im Kap. 6.3 hatten wir gefunden, dass bei der irreversiblen Expansion des idealen Gases sich dessen Temperatur nicht ver¨andert, ∆T = 0. Da die Temperatur eine Zustandsgr¨ oße ist, k¨ onnen wir schließen, dass dies auch gelten muss, wenn die Expansion reversibel erfolgt. Es ist trotzdem n¨otig, dass wir uns u ¨ berlegen, auf welchem Weg wir die reversible Zustands¨anderung in einem abgeschlossenen System durchf¨ uhren wollen, da wir in Kap. 6.3 dies nur an einem offenen System diskutiert haben. Bei einem abgeschlossenen System nehmen wir an, dass durch ¨ außere Energie W1 das Volumen V1 mit dem Gasdruck P1 langsam verkleinert wird, und daf¨ ur das Volumen V2 mit oßert wird. Dabei wird die Energie W2 = −W1 wieder dem Gasdruck P2 vergr¨ abgef¨ uhrt, das System ist abgeschlossen, denn der Zustand der Umgebung hat sich nicht ver¨ andert. Die Druckentspannung P1 → P2 geschieht u ¨ ber eine Drossel, die daf¨ ur sorgt, dass w¨ ahrend der gesamten Expansion die Dr¨ ucke P1 und P2 konstant bleiben. Dann ist die Zustands¨anderung reversibel. Betrachten wir zun¨ achst das ideale Gas, so gilt bei der Expansion δW1 − δW2 = dU1 − dU2 = 0 also U1 = U2 = konst



(6.149) T1 = T2 = konst.

Dies haben wir erwartet f¨ ur das ideale Gas, f¨ ur ein reales Gas wird diese Argumentation aber ung¨ ultig. Denn jetzt werden die Energien nicht mehr ¨ allein zur Uberwindung des Drucks δW1 = −P1 dV1 = dU1

, δW2 = −P2 dV2 = dU2

¨ ben¨ otigt, sondern auch zur Uberwindung der inneren Wechselwirkungen zwischen den Gasteilchen δW1 = dU1 + P1 dV1

, δW2 = dU2 + P2 dV2 .

136

6 Thermodynamik

Daher gilt δW1 − δW2 = (dH1 )P1 − (dH2 )P2 = 0 also H1 = H2 = konst



(6.150)

T1 = T2 .

Die Gleichung (6.150) ersetzt f¨ ur reale Gase die Gleichung (6.149). Die Zustands¨ anderung erfolgt bei konstanter Enthalpie, und daher ist die Temperatur T1 verschieden von der Temperatur T2 . Die Temperatur¨anderung bei der Expansion durch die Drossel ergibt sich aus



dH dH dH = dT + dV = 0 dT dV zu dH/dV dT =− . dV dH/dT

(6.151)

Um die Temperatur¨ anderung zu berechnen, m¨ ussen wir uns davon u ¨ berzeugen, dass die Enthalpie realer Gase eine Funktion von Temperatur T und Volumen V ist, H = H(T, V ). Wegen H = U + P V ergeben sich f¨ ur n  = 1 mol eines realen Gases zwei Beitr¨ age. •

Der Beitrag von der inneren Energie lautet f U = RT − 2

∞

a a f , dV = R T − V2 2 V

(6.152)

V



¨ wobei das Integral die zur Uberwindung der inneren Wechselwirkungen n¨ otige Energie angibt. ¨ Der Beitrag von der mechanischen Energie zur Uberwindung des a¨ußeren Drucks lautet

RT a − PV =V . (6.153) V −b V2

Benutzen wir diese beiden Beitr¨ age zur Berechnung der Enthalpie und differenzieren wir diese nach dem Volumen V und der Temperatur T

f dH RT b − 2a dH , ≈− ≈ CP mit CP = R + 1 . (6.154) dV V2 dT 2 F¨ ur die Ver¨ anderung der Temperatur bei Ver¨ anderung des Volumens gilt dT RT b−2a ≈ . dV CP V 2

(6.155)

Die Temperatur verringert sich daher bei der Expansion, wenn R T b < 2 a, ansonsten ver¨ andert sie sich nicht oder erh¨ oht sich. Die Bedingung R Tinv b =

6.5 Reale Gase

137

2 a definiert die Inversionstemperatur, die sich auch mithilfe der kritischen Temperatur Tk ausdr¨ ucken l¨ asst, siehe Gleichung (6.139) Tinv =

27 Tk . 4

(6.156)

Dass die Temperatur¨ anderung eines expandierenden realen Gases entweder positiv oder negativ sein kann, wird als Joule-Thomson-Effekt bezeichnet. Wie sich ein reales Gas verh¨ alt, wird festgelegt durch die Regel: Die adiabatische Expansion eines realen Gases erfolgt unter Abk¨ uhlung, wenn seine Temperatur T kleiner ist als die Inversionstemperatur Tinv = 6,75 Tk . Diese Eigenschaft realer Gase wird technisch benutzt zur Verfl¨ ussigung von O2 und N2 , f¨ ur welche die Inversionstemperaturen die Werte Tinv (O2 ) = 1046 K (893 K) , Tinv (N2 ) = 850 K (621 K) besitzen. Die Zahl vor der Klammer gibt den errechneten Wert an, die Zahl in der Klammer den experimentell bestimmten. Auf jeden Fall lassen sich beide Gase bei normaler Temperatur T0 = 273 K verfl¨ ussigen. Dies gelingt nicht mit dem Edelgas Helium, das eine Inversionstemperatur Tinv (He) = 34 K (51 K) besitzt. Zur Verfl¨ ussigung muss Helium daher auf Temperaturen T < 50 K vorgek¨ uhlt werden.

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

Die Einteilchenbewegungen in einem Vielk¨ orpersystem sind ganz unterschiedlich. Im Gas sind diese Bewegungen im Normalfall vollst¨andig ungeordnet. Bei der Translation eines festen K¨ orpers dagegen sind sie vollst¨andig geordnet, wenn wir von den thermischen Schwingungen der Teilchen im Gitter absehen: Alle Teilchen bewegen sich mit gleicher Geschwindigkeit v. Ist der Festk¨ orper in Ruhe, sind auch alle Teilchen in Ruhe. Wie aber erzeugen wir dann makroskopische Schwingungen in einem Festk¨orper? Stellen wir uns vor, dass wir mithilfe einer ¨außeren Kraft ein Teilchen im Gitter aus seiner Gleichgewichtslage auslenken. Dann wird dieses Teilchen anschließend eine harmonische Schwingung ausf¨ uhren, da die inneren Kr¨afte im Gitter bei kleinen Auslenkungen harmonisch sind, siehe Kap. 4.1. Aber wegen dieser Kr¨ afte wird sich die Schwingung des Teilchens auch auf seine Nachbarn u ¨bertragen, von diesen Nachbarn auf die n¨achsten Nachbarn und so fort. Die Schwingungsbewegung breitet sich also durch den Festk¨orper aus, die Ausbreitung wird als Welle bezeichnet. Und zwar entsteht eine harmonische Welle, denn alle Teilchen im Gitter schwingen harmonisch. Diese Welle w¨are allerdings außerordentlich stark ged¨ ampft, denn die Schwingungsernergie einer einzelnen Teilchenschwingung wird verteilt auf die Schwingungsenergien sehr vieler Teilchen. Falls wir die D¨ ampfung verhindern wollen, m¨ ussen wir die Energie, die dem Teilchen verloren geht, immer wieder ersetzen, indem wir die Schwingung periodisch neu anstoßen, also die Schwingung durch eine ¨außere periodische Kraft erzwingen. Die Ausbreitung mechanischer Wellen geschieht nicht nur im Festk¨orper, sondern auch in Fl¨ ussigkeiten und in Gasen. Dies erscheint zun¨achst unverst¨ andlich, weil wir bei unserer bisherigen Diskussion angenommen haben, dass zwischen den Teilchen des Systems, in dem sich die Welle ausbreitet, starke innere Kr¨ afte existieren. In Gasen sind aber derartige Kr¨afte praktisch nicht vorhanden. Was jedoch geschieht, ist, dass an einer Grenzfl¨ache zwischen dem Gas und einer schwingenden Festk¨ orperoberfl¨ ache lokal das Gas sein Volumen ver¨ andert. Dies hat nach der Zustandsgleichung der Gase eine Druck¨anderung zur Folge, die sich im Gas ausbreitet. Und zwar ist die Druckwelle harmonisch,

140

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

wenn die Grenzfl¨ ache harmonisch schwingt. Die harmonische Ver¨anderung des Drucks ist in unserem mikroskopischen Modell Kap. 6.2 gekoppelt an die lokale harmonische Bewegung der Gasteilchen. Die Gasteilchen schwingen in der Richtung, in der sich die Druckwelle ausbreitet. Eine derartige Welle nennt man eine longitudinale Welle. Bei der Ausbreitung mechanischer Wellen in Gasen und Fl¨ ussigkeiten k¨ onnen nur longitudinale Wellen existieren. Das ist wegen der starken inneren Kr¨ afte anders in einem Festk¨orper, in dem sowohl longitudinale Wellen wie auch transversale Wellen existieren k¨onnen. Bei transversalen Wellen schwingen die Teilchen des Festk¨orpers in einer Richtung, die senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung der Welle steht. Dazu m¨ ussen im Festk¨ orper tangentiale Kr¨ afte vorhanden sein, deren Eigenschaften wir in Kap. 4.2 durch den Schubmodul G beschrieben haben. Die Ausbreitung der longitudinalen Wellen wird bestimmt durch die Normalkr¨afte, die mithilfe des Elastizit¨ atsmoduls E beschrieben werden. Wir wollen uns aber mit der Wellenausbreitung in festen K¨ orpern nicht im Detail besch¨aftigen, sondern uns auf die Wellenausbreitung in Gasen konzentrieren. Dies hat zwei Gr¨ unde: •



Mechanische Wellen im Gas werden im Sprachgebrauch als “Schall” bezeichnet. Schallwellen sind f¨ ur die menschliche Komunikation von besonderer Bedeutung und daher auch von Interesse f¨ ur Wissenschaftler, die sich nicht hauptamtlich mit Physik besch¨ aftigen. Gas ist ein isotropes Medium. Das bedeutet, es existieren im Gas keine Strukturen, die eine ausgezeichnete Richtung definieren k¨onnten. Daher ist die physikalische Beschreibung der Schallausbreitung in Gasen am einfachsten.

Wir werden uns im n¨ achsten Kapitel zun¨ achst mit der Physik der harmonischen Schwingungen befassen und uns anschließend der Schallausbreitung zuwenden.

7.1 Mechanische Schwingungen 7.1.1 Unged¨ ampfte harmonische Schwingungen Wir behandeln zun¨ achst die eindimensionale, also lineare Schwingung eines Massenpunkts. Die Schwingung in einer Ebene bietet u ¨ ber diesen Fall hinaus nichts wesentlich Neues, denn nach dem Superpositionsprinzip der Kinematik kann jede Bewegung aus den unabh¨ angigen Bewegungen l¨angs der Achsen eines kartesischen Koordinatensystems zusammengesetzt werden, siehe Kap. 2.1. Die harmonische Bewegung in einer Richtung haben wir bereits in Kap. 2.2.4 behandelt. Unter dem Einfluss der harmonischen Kraft F = −D x bewegt sich die Masse m auf der Trajektorie  D . (7.1) x(t) = x sin (ω0 t + δ) mit ω0 = m

7.1 Mechanische Schwingungen

141

W Wmech Wkin Wpot π/2

t

T0

Abb. 7.1. Harmonische Schwankungen der kinetischen und potenziellen Energie einer Schwingung, die sich zur konstanten mechanischen Energie summieren. T0 ist die Periode der Schwingung, π/2 die Phasendifferenz zwischen Wkin und Wpot

Die Frequenz ω0 wird Eigenfrequenz des schwingenden Systems genannt. Die Amplitude x und die Phase δ werden durch die Anfangsbedingungen festgelegt. Diese k¨ onnen z.B. der Ort x0 und die Geschwindigkeit v0 der Masse zur Zeit t = 0 sein. Aber es existieren nat¨ urlich noch viele andere M¨oglichkeiten, die Anfangsbedingungen festzulegen. Eines der wesentlichen Merkmale der harmonischen Bewegung ist, dass f¨ ur sie die Erhaltung der mechanischen Energie gilt. In Gleichung (2.61) haben wir gesehen, dass die kinetische Energie der Schwingung sich zu Wkin =

1 m v 2 cos 2 (ω0 t + δ) 2

(7.2)

ergibt, w¨ ahrend f¨ ur die potenzielle Energie gilt Wpot =

1 m v 2 sin 2 (ω0 t + δ) . 2

(7.3)

Diese Energien als Funktionen der Zeit sind in der Abb. 7.1 dargestellt. Gleichzeitig zeigt diese Abbildung die Schwingungsperiode T0 = 2π/ω0 und die Phase δ = −π/2, die in Zeit ausgedr¨ uckt den Wert δt = −T0 /4 besitzt. Aus den Gleichungen (7.2) und (7.3) ergibt sich unmittelbar Wmech = Wkin + Wpot =

1 m v 2 = konst. 2

(7.4)

Dabei ist die Geschwindigkeitsamplitude v = ω0 x die maximale Geschwindigkeit, welche die Masse w¨ ahrend einer Schwingungsperiode erreicht. Wir h¨ atten die mechanische Energie auch mithilfe der Schwingungsampliucken k¨ onnen. Dann gilt tude x ausdr¨

142

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

Wmech =

1 D x2 = konst. 2

(7.5)

Die Gleichungen (7.2) und (7.3) zeigen, dass die mechanische Energie Wmech periodisch zwischen den beiden Energieformen Wkin und Wpot pendelt, im zeitlichen Mittel ist Wkin  = Wpot  = 1/2 Wmech. Eine derartige Schwingung, wenn sie einmal angeregt ist, hat ohne ¨ außere Einfl¨ usse kein Ende, man nennt sie unged¨ ampft. ¨ 7.1.2 Uberlagerung von harmonischen Schwingungen ¨ Die Differentialgleichung (2.44) ist linear in x, und daher ist jede Uberlagerung von Schwingungen wieder eine L¨ osung der Differentialgleichung (2.44) und damit eine harmonische Schwingung. Haben wir z.B. zwei Schwingungen mit gleichen Amplituden x1 = x2 x1 (t) = x1 sin (ω0 t + δ1 ) , x2 (t) = x2 sin (ω0 t + δ2 ) ,

(7.6)

¨ so ist die Uberlagerung x(t) = x1 (t) + x2 (t) = x sin (ω0 t + δ) .

(7.7)

¨ Die Amplitude x und die Phase δ der Uberlagerung ergeben sich aus den Additionstheoremen der harmonischen Funktionen (siehe Anhang 4) zu x = 2 x1 cos

δ1 − δ2 2

, δ=

δ1 + δ2 . 2

(7.8)

¨ Das bedeutet, dass die Frequenz der Uberlagerung identisch ist zu der Frequenz der Grundschwingungen. Dies haben wir erwartet, da Gleichung (7.7) auch eine L¨ osung der Differentialgleichung (2.44) ist. Interessant ist auch die Abh¨ angigkeit der resultierenden Schwingungsamplitude x von den Phasen δ1 oßer als 2 x1 werden, auf der anderen Seite ergibt sich und δ2 . x kann nie gr¨ x = 0, wenn δ1 − δ2 = π. Im ersten Fall spricht man von konstruktiver Interferenz, im zweiten von destruktiver Interferenz. Mit den Interferenzph¨ anomenen werden wir uns noch ausf¨ uhrlicher besch¨aftigen bei der Behandlung elektromagnetischer Wellen in Kap. 10.2.3. Wir k¨ onnen auch harmonische Schwingungen mit verschiedenen Frequenzen u ¨ berlagern x(t) =

n 

xl sin (ωl t + δl ) .

(7.9)

l=1

Die resultierende Funktion x(t) ist i.A. kompliziert, sie muss nicht einmal periodisch mit der Periode T sein, d.h. die Bedingung x(t + T ) = x(t)

(7.10)

7.1 Mechanische Schwingungen

143

¨ erf¨ ullen. Periodische Funktionen ergeben sich bei der Uberlagerung nur dann, wenn alle in der Summe (7.9) vorkommenden Frequenzen ωl einen kleinsten gemeinsamen Teiler ω0 besitzen. In diesem Fall ist die Periode T0 = 2π/ω0 , und alle Frequenzen ωl ergeben sich zu ωl = l ω0 . Man nennt ω0 die Grundfrequenz und ωl die Oberfrequenzen. Daraus ergibt sich ein wichtiger Satz aus der Schwingungslehre, den man unter dem Begriff “Fourier-Zerlegung” kennt. Jede periodische Funktion mit der Periode T0 = 2π/ω0 l¨asst sich darstellen als eine Reihe von harmonischen Funktionen mit der Grundfrequenz ω0 x(t) = x0 +

∞ 

(xsl sin (l ω0 t) + xcl cos (l ω0 t)) .

(7.11)

l=1

Die Form dieser Entwicklung l¨ asst bereits einige Folgerungen u ¨ ber die Werte der Entwicklungskoeffizienten xsl und xcl zu. • •

Ist die Funktion x(t) gerade, gilt also x(t) − x0 = x(−t) − x0 , so sind alle Koeffizienten xsl = 0. Ist die Funktion x(t) ungerade, gilt also x(t) − x0 = −x(−t) − x0 , so sind alle Koeffizienten xcl = 0.

Als Beispiel betrachten wir die periodische Funktion mit der Grundperiode (siehe Abb. 7.2)  1 f¨ ur 0 < t ≤ T0 /2 x(t) = (7.12) −1 f¨ ur T0 /2 < t ≤ T0 . Diese Funktion ist sicherlich ungerade um t = 0 und besitzt den konstanten Wert x0 = 0. Als Fourier-Zerlegung dieser Funktion erh¨alt man x(t) =

∞ 4  1 sin ((2l − 1) ω0 t) . π 2l − 1

(7.13)

l=1

x(t)

t

T0

Abb. 7.2. Eine periodische Schwingung in Kastenform mit der Periode T0

144

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

Ohne Beweis geben wir an, wie man f¨ ur jede beliebige periodische Funktion die Entwicklungskoeffizienten berechnen kann. F¨ ur sie gelten die Beziehungen 1 x0 = T0

T0

x(t) dt

2 = T0

T0

x(t) sin (l ω0 t) dt

2 T0

T0

x(t) cos (l ω0 t) dt .

xsl

xcl =

(7.14)

0

0

0

Wir k¨ onnen uns vorstellen, wie man die Fourier-Zerlegung auch auf nicht periodische Funktionen erweitern kann. Dann darf in der Entwicklung (7.11) nicht nur die Grundfrequenz erscheinen, sondern alle m¨oglichen Frequenzen. Und da es davon beliebig viele gibt, muss die Summe ersetzt werden durch ein Integral u ¨ ber alle Frequenzen 0 ≤ ω ≤ ∞. 7.1.3 Kopplung von harmonischen Schwingungen Wir behandeln jetzt die Kopplung von Schwingungen u ¨ ber harmonische Kr¨ afte. Das bekannteste Beispiel f¨ ur ein derartiges System ist der Festk¨orper, wie wir schon in der Einf¨ uhrung zu Kap. 7 beschrieben haben. Die Anzahl der Teilchen, die um ihre Gleichgewichtslage im Gitter schwingen, ist jedoch so groß, dass wir das Problem drastisch vereinfachen m¨ ussen. Wir behandeln nur zwei Teilchen, zwischen denen eine harmonische Kraft existiert (wir vernachl¨ assigen die Gewichtskraft der Massen F G ) und die durch harmonische Kr¨ afte mit festen W¨ anden verbunden sind, siehe Abb. 7.3. Mithilfe dieses linearen Models lassen sich aber bereits die wesentlichen Eigenschaften verstehen, die Systeme mit gekoppelten Schwingungen besitzen, auch wenn sie aus sehr viel mehr Teilchen als nur zwei bestehen.

m

m

Abb. 7.3. Ein System aus zwei gleichen Massen, das durch Federn zwischen den Massen und den festen W¨ anden zu gekoppelten Schwingungen angeregt werden kann

7.1 Mechanische Schwingungen

145

In dem 2-Teilchensystem m¨ ussen die Bewegungsgleichungen (2.44) f¨ ur die harmonischen Schwingungen mit einem harmonischen Kopplungsterm erweitert werden. Dies ergibt d2 x1 + ω02 x1 = −Ω 2 (x2 − x1 ) dt2 d2 x2 + ω02 x2 = −Ω 2 (x1 − x2 ) . dt2

(7.15)

Auf der rechten Seite dieser Differentialgleichungen steht der Kopplungsterm, der f¨ ur das Teilchen i r¨ ucktreibend und proportional zum Relativabstand xj − xi ist. Wegen dieser Kopplung l¨ asst sich das Gleichungssystem (7.15) nicht ohne weiteres l¨ osen. Man kann aber durch eine Transformation in die Normalkoordinaten beide Gleichungen entkoppeln. Es ist ganz wichtig, dass diese Koordinatentransformation auch m¨ oglich ist, wenn das System aus wesentlich mehr Teilchen als zwei besteht, das Gleichungssystem (7.15) also wesentlich gr¨ oßer ist. In unserem einfachen Fall lauten die Normalkoordinaten x+ = x1 + x2

, x− = x1 − x2 ,

(7.16)

und die Transformation in die Normalkoordinaten f¨ uhrt zu 2 entkoppelten Schwingungsgleichungen dx+ 2 + ω+ x+ = 0 dt

,

dx− 2 + ω− x− = 0 dt

2 mit ω+ = ω02

(7.17)

2 ω− = ω02 − 2 Ω 2 .

Die 1. Gleichung, die Summengleichung, beschreibt die Bewegung beider Teilchen mit konstantem Relativabstand, also eine gleichphasige Schwingung. Bei dieser Bewegung schwingt eigentlich der Massenmittelpunkt des 2-Teilchensystems. Diese Schwingungsform wird bei einem n-Teilchensystem nicht ber¨ ucksichtigt, da wir ohne a afte immer f¨ ur den Impuls aller ¨ußere Kr¨ n  pi = 0 fordern m¨ ussen. Der Massenmittelpunkt muss ruhen. Teilchen i=1

Die 2. Gleichung, die Differenzgleichung, beschreibt die Bewegung der Teilchen bei ruhendem Massenmittelpunkt, die Schwingungen sind also gegenphasig. Diese Schwingungsform bezeichnet man als die Normalschwingung oder Eigenschwingung des Systems. Ein 2-Teilchensystem besitzt fvib = 2 − 1 = 1 Normalschwingungen, ein lineares n-Teilchensystem fvib = n − 1 Normalschwingungen. In 3 Dimensionen ist daher fvib = 3 (n − 1), und dies haben wir in Gleichung (6.45) benutzt. Um die Gleichungen (7.17) zu l¨ osen, m¨ ussen wir die Anfangsbedingungen festlegen. Wir nehmen m¨ oglichst einfache Anfangsbedingungen, z.B. die Auslenkung des Teilchens 1, die wir auch in der Einleitung zu diesem Kapitel benutzt haben. x1 = x , x2 = v1 = v2 = 0

f¨ ur t = 0 .

(7.18)

146

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

Dies ergibt f¨ ur die Normalkoordinaten x+ = x− = x , v1 = v2 = 0 f¨ ur t = 0 .

(7.19)

Die L¨ osungen lauten daher x+ = x cos ω+ t , x− = x cos ω− t ,

(7.20)

Und in den eigentlichen Teilchenkoordinaten ergibt sich mithilfe der Additionstheoreme f¨ ur harmonische Funktionen (siehe Anhang 4) x1 = 2 x cos ω t cos ∆ω t

,

x2 = −2 x sin ω t sin ∆ω t (7.21) ω+ − ω− ω+ + ω− , ∆ω = . mit ω = 2 2

Um diese L¨ osungen zu diskutieren, betrachten wir den Fall, dass der Kopplungsterm in Gleichung (7.15) kleiner ist als der Schwingungsterm, also Ω ≪ ω0 gilt. In diesem Fall ergibt sich ω ≈ ω0 und ∆ω ≈ Ω 2 /ω0 , d.h. die L¨ osungen (7.21) bestehen aus einem schnell ver¨anderlichen Term mit Argument ω0 t, und aus einem langsam ver¨ anderlichen Term mit Argument ∆ω t x1 = x1 (t) cos ω0 t

mit

x1 (t) = 2 x cos ∆ω t

x2 = x2 (t) sin ω0 t

mit

x1 (t) = −2 x sin ∆ω t .

(7.22)

Beide Teilchen f¨ uhren also harmonische Schwingungen aus mit einer Amplitude, die sich selbst langsam mit der Zeit harmonisch ver¨andert. Man bezeichnet derartige Schwingungen als Schwebungen. Schwebungen entstehen immer, wenn sich 2 Schwingungen u ¨ berlagern, deren Frequenzen nur um wenig verschieden sind. In dem 2-Teilchensystem ist das Besondere der beiden Schwebungen, dass sie um δ = π/2 phasenverschoben sind. Das bedeutet, dass die mechanische Energie periodisch zwischen Teilchen 1 und 2 pendelt. Sie geht von Teilchen 1 auf Teilchen 2 u uck zum Teilchen ¨ber und muss dann wieder zur¨ 1. W¨ are Teilchen 2 angekoppelt an Teilchen 3 usw., w¨ urde die mechanische Energie durch die lineare Kette wandern, es entst¨ unde eine mechanische Welle. Anmerkung 7.1.1: Warum haben wir in unserem einfachen Beispiel 2 Eigenschwingungen (7.20) erhalten? Dies liegt daran, dass das 2-Teilchensystem nicht abgeschlossen, sondern u ande gekoppelt war. Daher muss ¨ ber die Federn an die W¨ auch die Bedingung

2 

pi = 0 nicht erf¨ ullt sein.

i=1

7.1.4 Ged¨ ampfte Schwingungen Alle Schwingungen, harmonisch oder nur periodisch, besitzen die Eigenschaft, dass die mechanische Energie erhalten ist. Dies ergibt sich einfach daraus, dass sie sich zusammensetzen aus L¨ osungen der harmonischen Differentialgleichung

7.1 Mechanische Schwingungen

147

(2.44). Wir haben aber schon in der Einleitung zu Kap. 7 darauf hingewiesen, dass die mechanische Energie einer Schwingung verloren gehen kann. Einmal, indem sich die Schwingung in Form einer Welle durch den Raum ausbreitet, oder dadurch, dass die mechanische Energie in andere Energieformen umgewandelt wird. Wir betrachten hier zun¨ achst den 2. Prozess, den man im Teilchenbild so erkl¨ aren kann, dass ein Teilchen nicht frei schwingt, sondern Reibung durch seine Umgebung erf¨ ahrt. Der einfachste Ansatz f¨ ur die Reibungskr¨ afte ist die Stokes’sche Reibung (siehe Kap. 5.2.2) F R = −β v .

(7.23)

Die lineare Bewegungsgleichung eines Teilchens muss mit diesem Ansatz erweitert werden dx d2 x =0. + ω0 x + β dt2 dt

(7.24)

Wie bei allen Differentialgleichungen, in denen die Funktion und ihre Ableitungen linear auftreten, ist auch f¨ ur die Differentialgleichung (7.24) ein L¨ osungsansatz mit den Exponentialfunktionen eω t und e−ω t der beste, siehe Anhang 6. Wenn wir diese Ans¨ atze in Gleichung (7.24) einsetzen, f¨ uhrt das zur allgemeinen L¨ osung    β2 ωt −ω t −β/2 t x+ e + x− e − ω02 , (7.25) mit ω = x(t) = e 4 wobei die Amplituden x+ und x− durch die Anfangsbedingungen f¨ ur t = 0 festgelegt werden. Wichtig ist, dass unabh¨ angig von den Anfangsbedingungen die Amplituden wegen des Faktors vor der Klammer immer exponentiell mit der Zeit abnehmen werden. Da nach Gleichung (7.5) die mechanische Energie proportional zum Quadrat der Amplitude ist, bedeutet dies Emech (t) = Emech (0) e−β t .

(7.26)

Die charakteristische Zeit f¨ ur die Abnahme der mechanischen Energie ist die Abklingzeit τ = 1/β. Wo geht die Energie hin? Da die D¨ampfung durch eine Reibungskraft verursacht wird, muss die mechanische Energie in thermische Energie verwandelt worden sein. Und zwar betr¨agt die Gr¨oße der Umwandlung pro Schwingungsperiode T = 2π/ω T

T dEmech (t) = − Emech (0) . dt τ

(7.27)

Man bezeichnet das Verh¨ altnis der Energie zur Energieumwandlung als G¨ ute Q des schwingenden Systems. F¨ ur die G¨ ute gilt    Emech (0)  2π  = τ = ω τ ≈ ω0 τ , Q = 2π  (7.28) T dEmech (t)/dt  T

148

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

wobei die N¨ aherung g¨ ultig ist, wenn β ≪ ω0 gilt. Diese Annahme bereitet zun¨ achst einiges Kopfzerbrechen, denn in diesem Fall wird ω nach Gleichung (7.25) imagin¨ ar. Trotzdem ergibt sich f¨ ur x(t) in jedem Fall eine reelle Funktion. Wir wollen das untersuchen, indem wir zwischen folgenden Situationen unterscheiden: (1) Schwache D¨ ampfung β/2 ≪ ω0 Dann lautet die L¨ osung anstelle von (7.25)    β2 −β/2 t iω t −iω t , (7.29) x(t) = e mit ω = ω02 − x+ e + x− e 4 √ wobei i = −1 die imagin¨ are Einheit ist. Um die Eigenschaften von x(t) zu erkennen, m¨ ussen wir die Anfangsbedingungen festlegen. Wir nehmen dieselben Bedingungen, die wir auch in Kap. 2.2.4 benutzt haben und die auch in allen anderen Situationen gelten sollen x(t = 0) = 0 , v(t = 0) = v .

(7.30)

Dann ergibt sich x+ = −x− = x =

1 v 2i ω

und mithilfe des Anhangs 4

1 iω t v v (e − e−iω t ) = e−β/2 t sin ω t . x(t) = e−β/2 t ω 2i ω

(7.31)

(7.32)

Die Funktion x(t) ist also reell, und sie ist quasi-harmonisch mit exponentiell abnehmender Amplitude. Die Abklingzeit betr¨agt τ ≫ 1/(2 ω0). (2) Kritische D¨ ampfung β/2 = ω0 Diese Situation wird auch “aperiodischer Grenzfall” genannt, formal tritt er f¨ ur ω = 0 auf. Die L¨ osung der Differentialgleichung ergibt sich in dieser Situation zu

β −β/2 t (7.33) α+ t , x(t) = x e 2 mit den Parametern x und α, die mithilfe der Anfangsbedingungen bestimmt werden m¨ ussen. Die Anfangsbedingungen (7.30) ergeben x(t) = v t e−β/2 t ,

(7.34)

Die Trajektorie f¨ allt nach einem Anstieg zu Beginn sehr schnell ab. Der Abfall geschieht exponentiell mit β/2. Man kann also nicht mehr von einer Schwingung als Bewegungsform in dieser Situation sprechen. Die Abklingzeit ist in der Tat die k¨ urzeste, die ein System mit Eigenfrequenz ω0 u ¨ berhaupt besitzen kann, n¨ amlich τ = 1/(2 ω0 ).

7.1 Mechanische Schwingungen

x(t)

149

x(t)

(a)

(c) (b)

t

(d) t

Abb. 7.4. Links ist eine unged¨ ampfte (a) und eine schwach ged¨ ampfte (b) Schwingung gezeigt. Die Amplitude der letzteren nimmt exponentiell ab. Rechts sehen wir f¨ ur ged¨ ampfte Schwingungen den Fall der kritischen D¨ ampfung (c) und den Fall der starken D¨ ampfung (d). Bei kritischer D¨ ampfung nimmt die Auslenkung aus der Ruhelage am schnellsten ab

(3) Starke D¨ ampfung β/2 ≫ ω0 Wir k¨ onnen jetzt die L¨ osung (7.25) verwenden, die bei Ber¨ ucksichtigung der Anfangsbedingungen (7.30) lautet x(t) =

 v −β/2 t  ω t e e − e−ω t . 2ω

(7.35)

F¨ ur t = 0 ergibt sich nat¨ urlich x(0) = 0, aber auch f¨ ur t → ∞ erhalten wir wiederum x(∞) = 0. Die Trajektorie besitzt also bei einer Zeit zwischen diesen beiden Grenzen einen maximalen Wert. Um das Verhalten bei großen Zeiten zu erkennen, betrachten wir die Ausdr¨ ucke in der Klammer von Gleichung (7.35), die mit der Zeit entweder exponentiell ansteigen oder abfallen. Ber¨ ucksichtigen wir nur den Anstiegsterm, so ergibt sich f¨ ur große Zeiten als Trajektorie x(t) =

v (−β/2+ω) t e . 2ω

(7.36)

Den Exponenten k¨ onnen wir entwickeln, da bei starker D¨ampfung 2 ω0 /β ≪ 1 gilt

β β ω2 2 ω2 (7.37) − +ω ≈− 1 − 1 + 20 = − 0 . 2 2 β β Die Funktion x(t) f¨ allt also f¨ ur große Zeiten exponentiell ab x(t) =

v −ω02 /β t e , 2ω

aber die Abklingzeit ist sehr lang, τ ≫ 1/ω0 .

(7.38)

150

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

In der Abb. 7.4 sind die charakteristischen Verhaltensweisen der behandelten Schwingungstypen dargestellt, von der unged¨ampften bis zur stark ged¨ ampften Schwingung. Die kritische und die stark ged¨ampfte Schwingung k¨ onnen nicht einmal als quasi-periodische Bewegung bezeichnet werden. Dass sie trotzdem unter dem Sammelbegriff “Schwingungen” gef¨ uhrt werden liegt daran, dass sie derselben Differentialgleichung gehorchen wie die wirklich periodischen Bewegungen f¨ ur β = 0. 7.1.5 Erzwungene Schwingungen Bei der ged¨ ampften Schwingung findet eine Umwandlung von mechanischer Energie in thermische Energie statt, die durch Zufuhr von mechanischer Energie aus der Umgebung des Systems ausgeglichen werden muss, wenn man ein beliebig lang schwingendes System ben¨ otigt. Dies kann durch eine ¨außere harmonische Kraft Fext (t) = F ext sin ω t

(7.39)

geschehen, die das System immer wieder anst¨ oßt. F ext ist die Amplitude der außeren Kraft, ω ihre Frequenz, beide sind im Prinzip frei w¨ahlbar. Es ist ¨ sogar nicht einmal n¨ otig, dass diese Kraft harmonisch ist. Es gen¨ ugt, dass die Kraft periodisch ist (Fext (t + T ) = Fext (t)) mit der Periode T = 2π/ω. Wir setzen eine harmonische Kraft voraus, weil dann die folgenden Rechnungen einfacher sind. F¨ uhren wir die Amplitude der Erregung A mithilfe der Beziehung A ω02 =

F ext m

(7.40)

ein, so lautet die Bewegungsgleichung f¨ ur die erzwungene Schwingung d2 x dx + ω02 x = A ω02 sin ω t . +β 2 dt dt

(7.41)

Der linke Teil dieser Differentialgleichung beschreibt die ged¨ampfte Schwingung, man nennt dies den homogenen Teil der Differentialgleichung. Der rechte Teil der Gleichung (7.41) definiert die Modifikation der Schwingung durch die Einwirkung der ¨ außeren Kraft. Die Bedeutung der ged¨ampften Schwingung, also die L¨ osung des homogenen Teils, wird mit der Zeit kleiner, denn die Schwingungsamplitude nimmt exponentiell ab. Nach einer l¨angeren Zeit ist nur noch die Reaktion des schwingenden Systems auf die von außen wirkende Kraft von Bedeutung, und es ist genau diese Bewegung x(t), die uns dann noch interessiert. Diese Bewegung wird dieselbe Frequenz ω besitzen wie die außere Kraft, wir machen daher den L¨ osungsansatz ¨ x(t) = x(ω) sin (ω t + δ(ω)) .

(7.42)

7.1 Mechanische Schwingungen

151

x(ω) ist die von der Erregerfrequenz abh¨ angige Amplitude der erzwungenen Schwingung, δ(ω) ihre von ω abh¨ angige Phasenverschiebung relativ zum Erreger. Setzt man den L¨ osungsansatz in die Differentialgleichung (7.41) ein, ergeben sich folgende Funktionen f¨ ur x(ω) und δ(ω) A ω02 x(ω) =  2 (ω0 − ω 2 )2 + (β ω)2 βω δ(ω) = atan 2 . ω0 − ω 2

(7.43)

Amplitude x(ω) und Phase δ(ω) sind als Funktionen von ξ = ω/ω0 in Abb. 7.5 dargestellt. Es ist ganz offensichtlich, dass es f¨ ur δ(ω) eine ausgezeichnete Frequenz ur eine Erregerfrequenz, ω = ω0 gibt, die man Resonanzfrequenz nennt. F¨  die identisch mit der Eigenfrequenz des schwingenden Systems ω0 = D/m ist, besitzt die Phasenverschiebung den Wert δ(ω0 ) = π/2 unabh¨angig von der D¨ ampfungkonstante β. Das bedeutet, die Schwingung ist bei dieser Erregerfrequenz um 90◦ phasenverschoben gegen den Erreger. Die Schwingungsamplitude erreicht dann den Wert x(ω0 ) = A ω0 /β, und es ergibt sich x(ω0 ) → ∞ f¨ ur β ≈ 0, d.h. wenn das System nur sehr wenig ged¨ampft ist. Dieser Fall darf

Phase(Rad)

5

Amplitude

10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

0.5

1 1.5 ξ=ω/ω0

4 3 2 1 0

0.5

1 1.5 ξ=ω/ω0

Abb. 7.5. Abh¨ angigkeit der Amplitude (links) und der Phase (rechts) einer erzwungenen Schwingung von dem Verh¨ altnis zwischen der Erregerfrequenz ω und der Eigenfrequenz ω0 des schwingenden Systems. Die verschiedenen Kurven zeigen die Abh¨ angigkeit von der D¨ ampfungskonstanten β: Je gr¨ oßer die D¨ ampfung, umso kleiner ist die maximale Amplitude und umso langsamer ver¨ andert sich die Phase

152

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

bei erzwungenen Schwingungen nie eintreten, denn er f¨ uhrt zur Zerst¨orung des Systems, es ereignet sich die Resonanzkatastrophe. Ein System, dessen Schwingung durch eine ¨ außere periodische Kraft erzwungen wird, muss so stark ged¨ ampft sein, dass die Resonanzkatastrophe vermieden wird. Ist β ausreichend groß, so ist x(ω0 ) nicht der maximal m¨ogliche Amplitudenwert der erzwungenen Schwingung. Um dies zu erkennen, schreiben wir x(ω) als Funktion von ξ = ω/ω0 und erhalten A . x(ξ) =  2 (1 − ξ )2 + (ξ/Q)2

(7.44)

Die Schwingungsamplitude erreicht ihren maximalen Wert f¨ ur  1 , ξmax = 1 − 2 Q2 also f¨ ur eine Erregerfrequenz, die bei einem schwingenden System mit der G¨ ute Q um ∆ω ≈ −ω0 /(4 Q2 ) zu kleineren Frequenzen relativ zur Resonanzfrequenz verschoben ute wird diese Verschiebung immer ist. Mit abnehmender G¨ gr¨ oßer, ist Q < 1/2 verschwindet das Maximum in der Schwingungsamplitude vollst¨ andig. Was zeichnet dann die Resonanzfrequenz ω = ω0 weiterhin aus? Betrachten wir die pro Zeit von dem Erreger auf das schwingende System u ¨ bertragene Energie, so ergibt sich diese nach Gleichung (7.27) zu 2

dEmech m ω02 ξ 2 A β 1 1 = βEmech = m ω 2 x2 (ω) β = . dt 2 2 (1 − ξ 2 )2 + (ξ/Q)2 Die Leistungs¨ ubertragung erreicht ihren maximalen Wert, wenn

2 1 1 −ξ + 2 ξ Q

(7.45)

(7.46)

minimal wird. Das geschieht f¨ ur ξ = 1, also bei der Resonanzfrequenz ω = ω0 . Obwohl die Amplitude der erzwungenen Schwingung dann nicht maximal ist, erfolgt trotzdem bei der Resonanzfrequenz die maximale Leistungsabgabe von dem Erreger auf die Schwingung. Man sagt, Erreger und schwingendes System sind bei der Resonanzfrequenz optimal angepasst.

7.2 Mechanische Wellen Wir betrachten jetzt die Ausbreitung der mechanischen Schwingung durch den Raum. Aufgrund unserer Untersuchungen im vorigen Kapitel ist der Mechanismus der Schwingungsausbreitung, also das Entstehen mechanischer Wellen, relativ einfach zu verstehen. Zu allererst erfordern mechanische Wellen

7.2 Mechanische Wellen

153

ein Medium, in dem sie sich ausbreiten k¨ onnen. Und dann handelt es sich bei mechanischen Wellen offensichtlich um harmonische Schwingungen von benachbarten Teilchen in dem Medium, deren Bewegungen relativ zueinander phasenverschoben sind. Die Wanderung des Schwingungszustands von einem Teilchen zum Nachbarteilchen hatten wir schon bei der Behandlung gekoppelter Schwingungen in Kap. 7.1.3 beobachtet. Eine Welle muss sich daher so beschreiben lassen x(z, t) = x sin (ω t − δ(z)) .

(7.47)

Die relative Phase δ(z) ist abh¨ angig vom Ort entlang der Ausbreitungsrichtung z der Welle. Wie groß ist δ(z)? Das h¨ angt offenbar von der Geschwindigkeit vph ab, mit der sich die Phase l¨ angs z verschiebt, man bezeichnet vph daher als Phasengeschwindigkeit. Ziehen wir in Gleichung (7.47) die Frequenz ω vor die Klammer, k¨ onnen wir die Phase darstellen als z k δ(z) = = z. ω vph ω

(7.48)

Hierbei haben wir eine neue Gr¨ oße k mit der Einheit [k] = m−1 eingef¨ uhrt, die man Wellenzahl nennt. Die Orte, f¨ ur die das Argument in der Welle (7.47) konstant ist, sind die Orte gleicher Phase, sie sind f¨ ur diese Welle Ebenen senkrecht zur Ausbreitungsrichtung z. Wellen mit dieser Eigenschaft bezeichnet man als ebene Wellen. Die Orte gleicher Phase ergeben sich zu t−

z = konst vph



dz ω = vph = . dt k

(7.49)

Die ebene Welle l¨ asst sich daher in folgender Form darstellen: x(z, t) = x sin ω (t −

z ) = x sin (ω t − k z) . vph

(7.50)

In Abb. 7.6 ist die ebene Welle dargestellt, einmal in Abh¨angigkeit von der Zeit f¨ ur einen festen Ort z = 0, und dann in Abh¨angigkeit von dem Ort f¨ ur eine feste Zeit t = 0. Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, dass die Wellenzahl k im Ort das ist, was die Frequenz ω in der Zeit ist: Sie definieren die Wellenl¨ ange λ bzw. die Periode T der ebenen Welle. Es gelten die Beziehungen k=

2π λ

, ω=

2π , T

(7.51)

wobei die reziproke Periode T oft mit dem Symbol ν abgek¨ urzt wird, ν=

1 T

, [ν] = Hz “Hertz” .

(7.52)

154

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

x(t)

x(z)

t T=2π/ω

z λ=2π/k

Abb. 7.6. Links: Die zeitliche Abh¨ angigkeit einer ebenen Welle an einem bestimmten Ort z = 0. Die Periode T entspricht genau einer Schwingungsdauer. Rechts: Die ¨ ortliche Abh¨ angigkeit einer ebenen Welle zu einer bestimmten Zeit t = 0. Die Wellenl¨ ange λ entspricht genau einer Schwingungsl¨ ange

Eine ebene Welle x(t) = x sin (ω t − k z) ist definiert durch ihre Frequenz ω = 2π ν und ihre Wellenzahl k = 2π/λ. Die Phasengeschwindigkeit der ebenen Welle ergibt sich zu vph = ω/k = λ ν. Wir k¨ onnen sogar erahnen, welcher Differentialgleichung die Welle (7.50) gen¨ ugen muss. In der harmonischen Funktion (7.50) treten die Gr¨oßen t und z/vph linear auf, sie sind als Teil des Arguments dieser Funktion vertauschbar. Daher muss f¨ ur beide die harmonische Differentialgleichung g¨ ultig sein 2 d2 x 2 d x + D x = 0 , v +Dx = 0 ph dt2 dz 2 2 2 d x 2 d x → − vph =0. dt2 dz 2

(7.53)

Die Differentialgleichung (7.53) bezeichnet man als Wellengleichung. Sie ist, auf 3 Dimensionen erweitert, die fundamentale Gleichung f¨ ur die Ausbreitung sehr verschiedener Wellen, d.h. nicht nur f¨ ur die mechanischen Wellen, f¨ ur die wir sie hergeleitet haben. Neben dieser sehr formalen Herleitung wollen wir jetzt f¨ ur den Fall der Schallausbreitung in Gasen diskutieren, welche physikalischen Ph¨anomene zu dieser Wellengleichung f¨ uhren. 7.2.1 Schallwellen im Gas Schallwellen sind longitudinale Wellen, d.h. die Schwingungen der Gasteilchen ζ(z, t) erfolgen in der z-Richtung, in der sich die Schallwelle ausbreitet. In

7.2 Mechanische Wellen

z

dz

F dP ζ

F+dF d(P+dP) dζ

155

Abb. 7.7. Wie ver¨ andert sich das Volumenelement einer Gass¨ aule (oben) unter dem Einfluss des Schalldrucks dP , der eine Kraft F auf die linke Fl¨ ache der S¨ aule erzeugt (unten)? Die Fl¨ ache verschiebt sich um ζ. Aber auf der rechten Seite der S¨ aule ist die Verschiebung anders, weil eine Phasenverchiebung zwischen dem Druck auf der rechten und linken Seite besteht

der Abb. 7.7 ist dargestellt, was in dem Gas durch diese Teilchenbewegung geschieht. Durch die Bewegung wird das Volumen V = A dz, in dem sich die Gasteilchen befinden, um ∆V = A dζ ver¨ andert, und nach Gleichung (6.1) entspricht dieser Volumen¨ anderung eine Druck¨ anderung dP = −P

dV A dζ = −P . V A dz

(7.54)

Diese Beziehung zwischen Druck- und Volumen¨ anderungen ist g¨ ultig, falls die Zustands¨anderungen isotherm erfolgen. Die Druck¨ anderung ist z-abh¨ angig, denn die Teilchen f¨ uhren eine phasenverschobene Schwingung aus. Die Druckdifferenz zwischen der Vorder- und der R¨ uckseite des Volumens betr¨ agt d2 P = −P

d2 ζ dz , dz 2

(7.55)

und dies f¨ uhrt zu einer auf das Volumen wirkenden r¨ ucktreibenden Kraft dF = A P

d2 ζ dz , dz 2

(7.56)

die die Teilchen zur¨ uck in ihre Gleichgewichtslage treibt. Der Zusammenhang zwischen dieser Kraft und der Bewegung ist durch das 2. Newton’sche Axiom gegeben dF = dm

d2 ζ d2 ζ = A ρ dz . m dt2 dt2

(7.57)

Vergleichen wir die Gleichung (7.57) mit der Gleichung (7.56), so muss gelten d2 ζ P d2 ζ − =0. dt2 ρm dz 2

(7.58)

156

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

Dies hat die Form der Wellengleichung (7.53), die Ausbreitung der Schallwelle durch das Gas erfolgt mit der Schallgeschwindigkeit  P vS = . (7.59) ρm Zwei Bemerkungen zu diesem Wert der Schallgeschwindigkeit: •

Die Annahme, dass die Zustands¨ anderungen im Gas isotherm erfolgen, ist i.A. nicht gerechtfertigt. Erfolgen die Schwingungen der Gasteilchen sehr schnell, so findet kein W¨ armeaustausch zwischen dem Gasvolumen und seiner Umgebung statt, die Zustands¨ anderung erfolgt adiabatisch. In diesem Fall ergibt sich aus der adiabatischen Zustandsgleichung (6.92) f¨ ur den Zusammenhang zwischen Druck- und Volumen¨anderung dP = −κ P

dV V

und entsprechend f¨ ur die Schallgeschwindigkeit  P vS = κ . ρm •

(7.60)

Bei der Schallgeschwindigkeit handelt es sich eigentlich um die Phasengeschwindigkeit des Schalls. Wir werden sp¨ ater sehen, dass die Wellenausbreitung durch eine zweite Geschwindigkeit charakterisiert ist, die Gruppengeschwindigkeit vgr . Bei der Ausbreitung der Schallwellen im Gas ist die Gruppengeschwindigkeit gleich der Phasengeschwindigkeit, und wir nennen beide die Schallgeschwindigkeit.

Die Gleichungen (7.59) und (7.60) ergeben beide, dass die Schallgeschwindigkeit mit (ρm )−1/2 von der Massendichte des Gases abh¨angt. Daher ist in Helium die Schallgeschwindigkeit wesentlich gr¨ oßer als in Luft, das errechnete Verh¨ altnis betr¨ agt  32 vS (He) ≈ = 2,83 , vS (Luft) 4 w¨ ahrend das gemessene Verh¨ altnis 2,93 betr¨ agt. Die verbleibende Diskrepanz r¨ uhrt auch daher, dass der Adiabatenkoeffizient κ f¨ ur Helium etwas gr¨oßer ist als f¨ ur Luft. Außerdem k¨ onnen wir mithilfe der Zustandsgleichung (6.38) des idealen Gases den Druck P ersetzen durch die Temperatur T . F¨ ur Gleichung (7.60) ergibt sich dadurch  RT , vS = κ mMol

7.2 Mechanische Wellen

157

d.h. es gilt mMol 2 RT vS = κ . 2 2 Auf der anderen Seite gilt f¨ ur die mittlere kinetische Energie von 1 mol eines Gases mit ruhendem Massenmittelpunkt mMol  2  RT v =3 . 2 2

Wir finden also einen Zusammenhang  zwischen der Schallgeschwindigkeit und der rms-Geschwindigkeit vrms = v 2  aufgrund der thermischen Bewegung in einem Gas  κ 2 v  . (7.61) vS = 3 Bei Zimmertemperatur betr¨ agt die Schallgeschwindigkeit in Luft vS = 344 m s−1 , und daraus ergibt sich bei einem Adiabaten-Koeffizienten κ = 7/5 f¨ ur ihre rms-Geschwindigkeit vrms = 504 m s−1 . Die thermische Geschwindigkeit in einem Gas ist immer gr¨oßer als die Schallgeschwindigkeit in diesem Gas.

7.2.2 Die Kenngr¨ oßen der Schallwelle Mit der Schallwelle wird Energie transportiert, und es ist diese Schallenergie, auf die Schallempf¨ anger wie z.B. unser Ohr reagieren. Die Schallenergie ergibt sich nat¨ urlich aus der Schwingungsenergie Gleichung (7.4) der Teilchen, sie l¨ asst sich berechnen mithilfe der Kenngr¨oßen der Schallwelle. Diese Kenngr¨ oßen sind • • •

Die Schallamplitude ζ, welche die maximale Auslenkung der Gasteilchen bei ihren Schwingungen um die Gleichgewichtslage angibt. Die Geschwindigkeitsamplitude u, welche die maximale Auslenkungsgeschwindigkeit aus der Gleichgewichtslage angibt. Die Druckamplitude P , die den maximalen Druck angibt, der durch die Auslenkung der Gasteilchen im Gas entsteht.

Wir wollen uns die Zusammenh¨ ange zwischen diesen Kenngr¨oßen u ¨berlegen. Die Schwingung eines Gasteilchens an einem festen Ort z wird beschrieben durch ζ(z, t) = ζ sin (ω t − k z) .

(7.62)

Daraus ergibt sich sofort die Auslenkungsgeschwindigkeit, die man als Schallschnelle bezeichnet

158

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

u(z, t) =

dζ = ζ ω cos (ω t − k z) , dt

(7.63)

mit der Geschwindigkeitsamplitude u =ωζ .

(7.64)

Es ist etwas schwieriger, den Schallwechseldruck zu berechnen. Wir benutzen wieder die Tatsache, dass durch die Druckdifferenz dP l¨angs der Ausbreitungsrichtung eine r¨ ucktreibende Kraft aufgebaut wird dF = −A

dP dz . dz

(7.65)

Aus diesem Zusammenhang zwischen Druckgradient und Kraftgradient folgt dP d2 ζ dF dm d2 ζ =− =− = −ρ . m dz A dz dV dt2 dt2

(7.66)

Außerdem wissen wir: d2 ζ = −ζ ω 2 sin (ω t − k z) dt2 und daher P = ρm ζ ω 2



= P0 + ρm ζ

sin (ω t − k z) dz

(7.67)

ω2 cos (ω t − k z) . k

P0 ist der normale Luftdruck, die Druckamplitude des Schallwechseldrucks betr¨ agt P = ρm ζ

ω2 = ρm u vS . k

(7.68)

Außerdem ist bemerkenswert, dass sich Geschwindigkeits- und Druck¨anderungen in Phase befinden, beide sind aber um −π/2 phasenverschoben gegen die Auslenkung der Gasteilchen. F¨  Energiedichte der Schallwelle finden wir nach Gleichung (7.4), und ur die weil u2 = u2 /2, gilt wS = 2

ρm 2 ρm 2 2 Wkin  = ω ζ . u = V 2 2

(7.69)

Dies kann auch als Funktion der Schalldruckamplitude angegeben werden 2

wS =

2

ρm 1 P P = . 2 2 (ρm vS ) 2 ρm vS2

(7.70)

7.2 Mechanische Wellen

159

Wichtig ist nicht die Energiedichte der Schallwelle, sondern die Energie, die pro Zeit und Empf¨ angerfl¨ ache auf den Empf¨ anger trifft. Diese Gr¨oße bezeichnet man als Schallintensit¨ at IS , aus der Definition ergibt sie sich zu IS = 2

Wkin  dz = wS vS . Adz dt

(7.71)

Diese Beziehung gilt ganz allgemein: Die Intensit¨ at einer Welle ist das Produkt aus Energiedichte der Welle und ihrer Ausbreitungsgeschwindigkeit. In dem Fall der Schallwelle folgt daraus 2

IS =

1 P . 2 ρm vS

(7.72)

Die Schallintensit¨ at ist also proportional zum Quadrat der Schalldruckamplitude. Die Frequenzen der Schallwellen u ¨ berstreichen einen Bereich von mehr als 6 Gr¨ oßenordnungen. F¨ ur eine Grobeinteilung hat man die in Tabelle 7.1 angegebenen Bereiche definiert. Das menschliche Ohr kann nur Schall mit Tabelle 7.1. Die Zuordnung der Schallbereiche zu den Schallfrequenzen

2

−1

5

7

ω < 1 · 102 s−1 5

−1

(Infraschall)

1 · 10 s

< ω < 1 · 10 s

(H¨ orbereich)

−1

1 · 10 s

0, da die Relativgeschwindigkeiten in beiden F¨ allen die Richtung der Schallwelle besitzen (positive z-Richtung). Man sollte allerdings erwarten, dass beide F¨ alle a ¨quivalent werden, wenn sich im ersten Fall der Empf¨anger auf den (B) (Q) Schallsender zubewegt, also vQ = −vB > 0 gilt. Dann finden wir (B) ω1

(B) ω2



(Q)



|v | 1+ B vS



(Q)



|vQ |

(Q)

(B)

1−

vS



−1

(7.82)

.

Also in beiden F¨allen ergibt sich eine Vergr¨ oßerung der empfangenen Frequenz. Trotzdem sind die Frequenzerh¨ ohungen in beiden F¨allen verschieden. Der Grund daf¨ ur liegt an dem Verhalten des Mediums, das im ersten Fall relativ zum Sender ruht und im zweiten Fall relativ zum Empf¨anger. Diese F¨ alle sind daher nicht wirklich ¨ aquivalent, sondern unterscheiden sich messbar. Dieser messbare Unterschied wird immer geringer, je kleiner die Relativgeschwindigkeiten verglichen mit der Schallgeschwindigkeit im Medium wer(B) (Q) den. F¨ ur |vB | = |vQ | ≪ vS gilt, wenn man den Ausdruck in der Klammer entwickelt,   (B) |vQ | (B) (B) (Q) (7.83) = ω1 . ω2 ≈ ω 1+ vS Bewegt sich der Empf¨ anger auf den ruhenden Sender zu, betr¨agt die empfangene Schallfrequenz

7.2 Mechanische Wellen

(B) ω1

= ω (Q)



(Q)

|v | 1+ B vS



.

163

(7.84)

Bewegt sich der Sender auf den ruhenden Empf¨anger zu, betr¨agt die empfangene Schallfrequenz (B) ω2

(Q)

= ω (Q)



(B)

1−

|vQ | vS

−1

.

(7.85)

(B)

Nur f¨ ur |vB | = |vQ | ≪ vS gilt (B)

ω2

(B)

≈ ω1

.

(7.86)

Es ist ganz offensichtlich, dass die Unterscheidung zwischen den beiden F¨allen dann nicht mehr m¨ oglich ist, wenn das Medium seine entscheidende Rolle verliert, sich die Welle also auch ohne Medium ausbreiten kann. Dies ist der Fall f¨ ur die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen, die wir in Kap. 12.4 behandeln. Dann gilt unabh¨ angig von der Gr¨ oße der Relativgeschwindigkeiten immer (B)

ω2

(B)

= ω1

.

7.2.4 Stehende Wellen Als Schallsender verwenden wir Schallinstrumente. Diese sind mechanisch schwingende Systeme, auch unsere Stimme stellt ein derartiges System dar. Das Arbeitsprinzip der meisten Schallsender besteht in der Erzeugung stehender Wellen. Wir wollen uns daher kurz mit der physikalischen Beschreibung dieses Wellentyps besch¨ aftigen. ¨ Eine stehende Welle entsteht durch die Uberlagerung einer hinlaufenden mit einer r¨ ucklaufenden Welle, wobei beide Wellen die gleiche Amplitude x ¨ und Frequenz ω besitzen. Die Uberlagerung von Schwingungen haben wir in Kap. 7.1.2 behandelt. Auch Wellen k¨ onnen u ¨berlagert werden, wir werden darauf ausf¨ uhrlich im Kap. 10.2 eingehen. F¨ ur die stehende Welle bedeutet ¨ die Uberlagerung x(z, t) = x (sin (ω t − k z + δ− ) + sin (ω t + k z + δ+ )) .

(7.87)

Mithilfe der Additionstheoreme der harmonischen Funktionen (siehe Anhang 4) ergibt sich daraus x(z, t) = 2 x (sin (ω t + δ) cos (k z + ∆δ)) mit

(7.88)

164

7 Mechanische Schwingungen und Wellen

δ=

δ+ + δ− 2

und ∆δ =

δ+ − δ− . 2

(7.89)

Das bedeutet, die stehende Welle stellt zwei in der Zeit und im Ort unabh¨ angige Schwingungen dar, deren Frequenz ω und Wellenzahl k u ¨ ber die Beziehung vph = ω/k gekoppelt sind. Die Phase δ in Gleichung (7.88) wird durch den Zeitnullpunkt bestimmt, man kann sie ohne Einschr¨ankung δ = 0 setzen. Die r¨ ucklaufende Welle, die gleiche Amplitude und Frequenz wie die hinlaufende Welle besitzt, wird i.A. durch Reflexion erzeugt. Bei der Reflexion kann u.U. ein Phasensprung zwischen hin- und r¨ ucklaufender Welle entstehen. Man findet: ∆δ = 0 bei Reflexion am “freien Ende”. Die stehende Welle hat am Reflexionsende ein Auslenkungsmaximum, aber ein Druckminimum. ∆δ = π bei Reflexion am “festen Ende”. Die stehende Welle hat am Reflexionsende ein Auslenkungsminimum, aber ein Druckmaximum. Die Erzeugung der hinlaufenden Welle an dem Ende, das dem Reflexionsende gegen¨ uberliegt, verlangt dort entweder ein Auslenkungs- oder ein Druckmaximum. Es gibt daher nur bestimmte Wellenl¨angen λn , die beide Endbedingungen u ullen k¨ onnen. Diese Bedingungen nennt man ¨berhaupt erf¨ die Resonanzbedingungen, die zugeh¨ origen Resonanzwellenl¨angen λn leiten sich alle ab von einer Grundwellenl¨ ange λg . In der Abb. 7.9 sind Grundformen der stehenden Welle in einer Gass¨ aule der L¨ange l und mit freien oder festen Enden dargestellt. F¨ ur die m¨ oglichen Resonanzwellenl¨angen λn gilt bei λg = 4 l: • •

Das eine Ende frei, das andere Ende fest: λn = λg /(2n − 1) ; n > 0 Beide Enden frei oder beide Enden fest: λn = λg /(2n) ; n > 0

Bei gleicher L¨ ange der Gass¨ aule besitzt z.B. eine an ihrem Ende geschlossene Pfeife eine doppelt so große Grundwellenl¨ ange wie eine Pfeife, deren Ende offen ist, “gedeckelte Pfeifen erzeugen tiefere T¨one”. Durch Verk¨ urzen der Senderl¨ ange l kann man Schallwellen mit kleinen Wellenl¨angen, d.h. großen

(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 7.9. Die Grundformen einer stehenden Welle in einem Rohr mit L¨ ange l. Gezeigt ist die maximale Amplitude der Auslenkung. In (a) und (b) ist das Rohr einseitig offen, die Grundwellenl¨ ange betr¨ agt λ = 4 l. In (c) und (d) ist das Rohr entweder beidseitig offen oder beidseitig geschlossen. Die Grundwellenl¨ ange betr¨ agt λ = 2 l

7.2 Mechanische Wellen

165

Tonh¨ ohen erzeugen. Dies zusammen mit der Anregung h¨oherer Resonanzwellenl¨ angen mit n > 1 bildet das Prinzip der Schallerzeugung mithilfe der Schallinstrumente, die physikalisch gesehen Schallresonatoren sind. Anmerkung 7.2.1: Mit den stehenden Wellen in einer Gass¨ aule begegnet uns zum ersten Mal eine Situation, in der durch die Randbedingungen aus einer Vielzahl beliebiger Wellenl¨ angen nur solche zugelassen werden, die diese Randbedingungen erf¨ ullen. Sp¨ ater bei der Behandlung atomarer Systeme im Rahmen der Quantenmechanik ist dies der Mechanismus, der zur Quantisierung von Observablen f¨ uhrt, die in der klassischen Physik beliebige Werte annehmen k¨ onnen.

8 Das elektrische und das magnetische Feld

In allen bisherigen Kapiteln haben wir uns fast ausschließlich mit solchen Ph¨ anomenen in der Natur besch¨ aftigt, die mit der Existenz einer Masse m verkn¨ upft sind. Das hatte einen ersichtlichen Grund, denn wir meinen, dass wir uns unter einer Masse etwas vorstellen k¨onnen: Wir k¨onnen sie sehen, wir k¨ onnen sie f¨ uhlen. Dass ein K¨ orper mit Masse unter dem Einfluss der Gravitationskraft f¨ allt, ist f¨ ur uns eine so allt¨agliche Erfahrung, dass wir ohne Verst¨ andnisproblem gewillt sind, dies als Beweis f¨ ur die G¨ ultigkeit des 2. Newton’schen Axioms zu akzeptieren. Unser Verlangen nach Verst¨andnis gem¨ aß unserer Alltagserfahrungen ging soweit, dass wir selbst f¨ ur Ph¨anomene, die normalerweise so unbeobachtbar sind wie die Bewegung der Teilchen in einem Gas, ein mechanistisches Model entworfen haben und die Aussagen dieses Modells mit messbaren Gr¨ oßen wie Druck und Temperatur in Verbindung gebracht haben. Ist das immer m¨ oglich, kann man also die Natur im Rahmen mechanistischer Modelle verstehen? Dies ist sicherlich unm¨ oglich. Mit Beginn dieses Kapitels werden wir physikalische Gesetze zur Beschreibung der Natur entwickeln, in denen Gr¨oßen vorkommen, die unser Alltagserfahrung fremd sind. Wir haben eine Vorstellung davon, was die kinetische Energie und der Impuls einer Masse sind, was aber sollen wir uns unter der Energie und dem Impuls eines elektrischen Felds vorstellen? Dies ist ein Problem, nicht ein Problem der Physik, sondern ihrer Interpretation und Darstellung mithilfe von Bildern, die uns gel¨aufig sind. F¨ ur Leute, die gerne in Bildern denken, machen wir uns zur Veranschaulichung folgendes Bild. Wenn wir durch dichten Nebel wandern, sehen wir nichts von der Natur, um uns an den bekannten Merkmalen zu orientieren und ans Ziel zu gelangen. Das Einzige, was uns hilft, ist ein guter Kompass. Beschreiben wir die Gesetze der Natur mithilfe von Gr¨oßen, unter denen wir uns nichts vorstellen k¨ onnen, so hilft es wenig, f¨ ur diese Gr¨oßen nach einer anschaulichen Bedeutung zu suchen. Unser Kompass sollte die mathematische Korrektheit der physikalischen Gesetze sein, unser Ziel ihre Verifizierbarkeit in wiederholbaren Experimenten.

168

8 Das elektrische und das magnetische Feld

In den folgenden Kapiteln werden sich daher die Anforderungen an das Abstraktionsverm¨ ogen des Lesers stetig steigern. Wir beginnen jetzt mit der Behandlung von Gesetzm¨ aßigkeiten, die mit der Existenz von elektrischen Ladungen q in der Natur verkn¨ upft sind. Dieses Gebiet der Physik ist mit dem Begriff “Elektrodynamik” gekennzeichnet. Damit beginnt auch unser Weg in die moderne Physik. Die Entwicklung der Elektrodynamik stellt den Abschluss der klassischen Physik dar. Im Laufe dieser Entwicklung ergaben sich aber bereits Widerspr¨ uche, zum einen mit experimentellen Ergebnissen, zum anderen mit den Prinzipien der klassischen Physik. Insofern kann man auch den Standpunkt vertreten, dass mit der Entwicklung der Elektrodynamik der Weg in die moderne Physik beginnt.

8.1 Elektrostatik Die Ursache f¨ ur die elektrische Kraft F C ist die elektrische Ladung q, wie wir bereits in Kap. 1.1.2 gelernt haben. Dar¨ uber hinaus existiert in der Natur auch eine magnetische Kraft FL , deren Ursache bis hinein ins 19. Jahrhundert unbekannt war. In Kap. 8.3 werden wir uns mit diesem Problem auseinandersetzen. Zun¨ achst behandeln wir die Frage: Welche Eigenschaften besitzt die elektrische Kraft, wenn im Raum eine beliebige Ladungsverteilung existiert, die sich zeitlich nicht ver¨ andert. Das Gebiet der Physik, das sich mit diesen Fragen besch¨ aftigt, wird “Elektrostatik” genannt. Und f¨ ur die Behandlung dieser Fragen werden neue Begriffe ben¨otigt, die uns bisher nicht begegnet sind. 8.1.1 Die elektrische Ladung Dass K¨ orper mit Masse m auch eine elektrische Ladung q besitzen k¨onnen, ist keineswegs Alltagserfahrung. Denn normalerweise sind alle in der Natur vorkommenden K¨ orper elektrisch neutral, d.h. sie besitzen entweder keine elektrischen Ladungen oder sie besitzen eine gleiche Anzahl von zwei verschiedenen Ladungstypen, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig kompensieren. Die Erkenntnis, dass in der Natur tats¨ achlich zwei verschiedene Ladungstypen auftreten, stammt von B. Franklin (1706 - 1790), der diese Ladungstypen mithilfe eines positiven (+) und eines negativen (-) Vorzeichens unterschied. Wird die Kompensation von positiven und negativen Ladungen gest¨ort, indem die Anzahl des einen Ladungstyps z.B. durch Reiben an der Oberfl¨ache eines K¨ orpers verkleinert wird, dann wird die Wirkung des anderen Ladungstyps beobachtbar. Wir wissen bereits aus Kap. 1.1.2, worin diese Wirkung besteht: Ladungen von ungleichem Typ ziehen sich an, Ladungen von gleichem Typ stoßen sich ab. Im Experiment findet man, dass ein durch Reiben der Oberfl¨ache aufgeladener K¨ orper andere K¨ orper stets anzieht. Warum das so ist, werden wir gleich lernen. Bernstein l¨ asst sich z.B. durch Reiben aufladen, und daher kommt auch der Name des ganzen Gebiets: Griechisch ηλǫκτ ρoν

8.1 Elektrostatik

169

(¯elektron)= Bernstein. F¨ ur uns gegenw¨ artiger ist die Entladung elektrisch aufgeladener Wolken durch den Blitz. Auch hier entsteht die Aufladung der Wolken durch Reibung, n¨ amlich mithilfe starker Aufwinde. Elektrische Ladungen (von jetzt ab oft nur Ladungen genannt) treten in der Natur in Form von positiven (q + ) und negativen (q − ) Ladungen auf, und sie sind immer an eine Masse m gekoppelt, sodass |q|/m endlich ist. Nach unseren heutigen Vorstellungen u ¨ber den Aufbau der Materie sind diese Aussagen unmittelbar einleuchtend. Die Materie ist aufgebaut aus Atomen. Jedes Atom besitzt eine Atomh¨ ulle aus negativ geladenen Elektronen und einen Atomkern im Zentrum der H¨ ulle, der positiv geladene Protonen und ungeladene Neutronen enth¨alt. Interessant sind die mit diesen Elementarbausteinen verbundenen Gr¨oßenordnungen. • •

Atomh¨ ulle: Radius rA ≈ 10−10 m, Atomkern: Radius rK ≈ 10−15 m.

• • •

Elektron: Masse me = 9,11 · 10−31 kg, Ladung q = −e, Proton: Masse mp = 1,67 · 10−27 kg, Ladung q = +e, Neutron: Masse mn = 1,67 · 10−27 kg, Ladung q =0.

Das Kernvolumen ist daher etwa 15 Gr¨ oßenordungen kleiner als das Atomvolumen.

Die Masse des Atoms ist also fast vollst¨ andig im Atomkern konzentriert. Vergleicht man die Massendichte der Atomh¨ ulle ρm (H¨ ulle) mit der Massendichte des Atomkerns ρm (Kern), so findet man ein Verh¨altnis ρm (Kern)/ρm (H¨ ulle) ≈ 5 · 1018 . Da das Atom im Normalfall nach außen hin elektrisch neutral ist, muss die Anzahl Z der Elektronen in der H¨ ulle genauso groß sein wie die Anzahl Z der Protonen im Kern. Z wird die Ordnungszahl des Atoms genannt. Die Anzahl der Neutronen im Kern wird mit der Neutronenzahl N angegeben, bei Atomen mit kleiner Ordnungszahl ist N ≈ Z. Bei hohen Ordnungszahlen ist immer N > Z f¨ ur die in der Natur vorkommenden stabilen Atomkerne. Das Atom mit der gr¨ oßten in der Natur vorkommenden Ordnungszahl, das noch praktisch stabil ist, ist das Uranatom mit Z = 92 und N = 146. Um Atome zu kennzeichnen, f¨ uhrt man eine Nomenklatur ein, die neben Z und N auch die Massenzahl A = Z + N des Atoms angibt, und das chemische Symbol des entsprechenden Elements. Zum Beispiel hat das oben genannte Uranatom die Nomenklatur 238 92 U146

oder allgemein

A Z XN

bzw.

A ZX

.

Entfernt man ein Elektron aus der H¨ ulle des Atoms z.B. durch engen Kontakt mit einem anderen Material (=Reiben), bleibt ein einfach geladenes Atom

170

8 Das elektrische und das magnetische Feld

A + ZX

an der Kontaktfl¨ ache zur¨ uck, das man als positiv geladenes Ion bezeichnet. Aufgrund dieser Tatsachen erkennen wir:

Die kleinste, frei in der Natur vorkommende Ladungseinheit ist die Elementarladung e = 1,6 · 10−19 C mit der SI Einheit [q] = C “Coulomb”. In der Natur gibt es positive (+e) und negative (−e) Elementarladungen. Diese Aussage weist auf ein Problem hin: Was ist die Einheit der Ladung, und wie messen wir Ladungen? Im SI ist die elektrische Ladung keine Basismessgr¨ oße, sondern eine aus dem elektrischen Strom I abgeleitete Messgr¨oße. Der Strom ist die Basismessgr¨ oße, wie seine Basismaßeinheit [I] = A “Ampere” durch eine Messvorschrift definiert wird, behandeln wir in Kap. 8.3.2. Da wir uns aber jetzt schon mit Ladungen besch¨ aftigen, k¨onnen wir als vorl¨aufige Maßeinheit einfach [q] = 6,24 · 1018 e verwenden, denn jede Ladung ist ein Vielfaches von ±e. Auch die Messung einer Ladung geschieht am besten u ¨ ber die Messung des elektrischen Stroms, der entsteht, wenn die Ladung an einen anderen Ort transportiert wird. Im Vorgriff auf Kap. 8.2 definieren wir  (8.1) q = I dt , [q] = C = A s−1 . Der Transport von Ladungen ist allerdings nur bei Verwendung eines elektrischen Leiters m¨oglich. Ist eine Bernsteinoberfl¨ache durch Reiben mit Elektronen aufgeladen, bleiben diese Elektronen an ihren Orten, sie wandern nicht u ache des Bernsteins. Man nennt solche Materialien (elektrische) ¨ ber die Oberfl¨ Nichtleiter. In einem Nichtleiter k¨ onnen sich Ladungen nicht frei bewegen. Es gibt aber auch Materialien, z.B. Kupfer, in denen sich Elektronen frei bewegen k¨ onnen. Derartige Materialien nennt man (elektrische) Leiter. In einem Leiter k¨onnen sich Ladungen frei bewegen. Wie frei diese Bewegung wirklich ist, werden wir in Kap. 8.2.1 besprechen. Im Augenblick interessiert uns ein anderes Ph¨ anomen, durch das sich Nichtleiter und Leiter unterscheiden und das mit dem Begriff des elektrischen Felds eng verkn¨ upft ist. Nehmen wir an, wir bringen eine Oberfl¨ ache, die durch Reiben positiv aufgeladen ist, in die N¨ ahe eines Nichtleiters bzw. eines Leiters, wie in Abb. 8.1 dargestellt. Folgendes wird dann geschehen. Aufgrund der elektrischen Kraft wird die Oberfl¨ achenladung auf die Elektronen in dem Nichtleiter bzw. Leiter wirken. Im Nichtleiter k¨ onnen sich die Elektronen nicht frei bewegen, sie bleiben in der H¨ ulle an die Atomkerne gebunden. Sie k¨onnen sich aber innerhalb der H¨ ulle bewegen und sich an den Orten sammeln, die m¨oglichst nahe an der geladenen Oberfl¨ache sind. Dadurch verschiebt sich der Ladungsmittelpunkt im Atom, man sagt, das Atom wird polarisiert.

8.1 Elektrostatik

+ + + + + + +

+ + + + + + +

+ + + + + + +

+ + + + + + +

+ + + + + + +

+ + + + + + +

(a)

171

(b)

Abb. 8.1. Die Wirkung einer positiven Ladung (jeweils links) auf einen Nichtleiter (a) und auf einen Leiter (b). Im Nichtleiter werden die Ladungen polarisiert, im Leiter werden die Ladungen getrennt

Unter der Wirkung der elektrischen Kraft, die von Oberfl¨achenladungen verursacht wird, lassen sich die Atome in einem Nichtleiter polarisieren. In einem Leiter k¨ onnen die Elektronen, da frei beweglich, an die Orte in dem gesamten Leiter wandern, die den Oberfl¨ achenladungen am n¨achsten sind. Dadurch werden die Elektronen von ihren positiv geladenen, aber unbeweglichen Rumpfionen im Leiter getrennt. Man nennt diesen Vorgang Influenz. Unter der Wirkung der elektrischen Kraft, die von Oberfl¨achenladungen verursacht wird, lassen sich die Ladungen in einem Leiter trennen. ¨ Ahnlich zur Influenz ist der Effekt, dass sich die Elektronen auf der Oberfl¨ache eines Leiters sammeln, wenn man ihn mit Elektronen aufl¨adt. Die Oberfl¨ache ergibt die Gesamtheit der Orte, auf denen sich die Elektronen im Mittel am weitesten von einander entfernen. ¨ Ubersch¨ ussige Elektronen befinden sich immer auf der Oberfl¨ache eines Leiters. Durch Polarisation im Nichtleiter bzw. Influenz im Leiter wird die Existenz von Ladungen beobachtbar. Denn es entstehen geladene Oberfl¨achen, zwischen denen immer eine attraktive elektrische Kraft wirkt, wie wir anhand der Abb. 8.1 erkennen. Werden bei diesen Prozessen neue Ladungen erzeugt, oder gehen Ladungen verloren? Beides nicht, denn es gilt das Erhaltungsgesetz der elektrischen Ladung: In einem abgeschlossenen System bleibt die Gesamtladung erhalten. n  i=1

qi = qtot = konst.

(8.2)

172

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Es ist offensichtlich, dass viele der in diesem Kapitel benutzten Formulierungen wenig pr¨ azise erscheinen. Denn was heißt z.B. “Wirkung der elektrischen Kraft, verursacht durch Oberfl¨ achenladungen”? Dies ist zum Teil darauf zur¨ uckzuf¨ uhren, dass uns die Erfahrung fehlte, wie sich eine Vielzahl von Ladungen qi im Raum verteilen kann. Jetzt wissen wir, dass Ladungen getrennt ¨ werden k¨ onnen. Das heißt, es kann Gebiete geben, in denen ein Uberschuss des einen Ladungstyps vorhanden ist, also qtot = 0 gilt. In diesem Fall k¨onnen wir f¨ ur diese Ladungsverteilung einen Ladungsmittelpunkt mit Ortsvektor RC definieren. Der Ladungsmittelpunkt C einer Verteilung von n Ladungen qi ist gegeben durch RC =

n 1 

qtot

Ri qi

i=1

mit

qtot =

n  i=1

qi = 0 .

(8.3)

Der Lagevektor Ri definiert den Ort der Ladung qi . Die Definition (8.3) ist analog zur Definition des Massenmittelpunkts in Kap. 3.1.1. Wie wir dort weiterhin diskutiert haben, kann es auch bei der Verteilung von Ladungen geschehen, dass die experimentelle Aufl¨ osung es nur erlaubt, eine kontinuierliche Ladungsverteilung zu erkennen, die durch eine elektrische Ladungsdichte beschrieben wird. Wir werden kontinuierliche Ladungsdichten so kennzeichnen: Kontinuierlich im Volumen V Kontinuierlich auf Fl¨ ache A Kontinuierlich l¨ angs Kurve l

→ → →

ρC (R) = dq/dV = q dn/dV . σC (R) = dq/dA = q dn/dA. λC (R) = dq/dl = q dn/dl.

In den folgenden Kapiteln werden wir uns u ¨ berwiegend mit solchen Ladungsdichten besch¨ aftigen, die u ¨ ber einen endlichen Bereich integriert eine von null verschiedene Gesamtladung ergeben. Es kommt aber auch vor, dass in einem endlichen Bereich immer eine gleiche Anzahl von positiven und negativen Ladungen vorhanden ist, also qtot = 0 gilt. Dann existiert ein Theorem in der Elektrostatik, dass man derartige Ladungsverteilungen immer in Multipolverteilungen zerlegen kann. Ein Multipol ist eine Ladungsverteilung aus 2l Einzelladungen, von denen n+ = 2l /2 postiv und n− = 2l /2 negativ sind. Die Einzelladungen befinden sich an speziellen Orten im Raum, sodass jeder Multipol seine eigene Symmetrie besitzt. Zum Beispiel gilt f¨ ur alle Multipole mit geradem l, dass ihre Ladungsmittelpunkte, getrennt nach Ladungsvorzeichen, am gleichen Ort liegen, − − ur die Multipole mit ungeradem l dagegen gilt R+ also R+ C = RC . F¨ C = RC . Die niedrigsten Multipole mit ihren Ladungskoordinaten in einem kartesische Koordinatensystem (x,y,z) sind

8.1 Elektrostatik

• • •

173

l = 1: Elektrischer Dipol Positive Ladung (0, 0, 1) Negative Ladung (0, 0, −1) l = 2: Elektrischer Quadrupol Positive Ladung (1, 1, 0), (−1, −1, 0) Negative Ladung (−1, 1, 0), (1, −1, 0) l = 3: Elektrischer Oktopol Positive Ladung (1, 1, 1), (1, −1, 1), (−1, −1, 1), (1, −1, −1) Negative Ladung (−1, 1, 1), (1, 1, −1), (−1, −1, −1), (−1, 1, −1).

Obwohl f¨ ur alle diese Ladungsverteilungen qtot = 0 gilt, u ¨ben sie doch eine Wirkung auf andere Ladungen in ihrer Umgebung aus. Wir werden uns im Kap. 8.1.4 nur mit der Wirkung des elektrischen Dipols besch¨aftigen. 8.1.2 Das elektrische Feld Wir wissen aus Kap. 1.1.2: Elektrische Ladungen qi sind die Ursache f¨ ur die elektrische Kraft F C . Zwischen 2 Ladungen q und q0 wirkt die Kraft F C , die auch Coulomb-Kraft genannt wird FC =

1 q q0 r , 4π ǫ0 r2

(8.4)

wobei r der Abstandsvektor zwischen den Ladungen ist. Diese Kraft ist anziehend (FC < 0), wenn q und q0 verschiedene Vorzeichen besitzen, sie ist abstoßend (FC > 0), wenn q und q0 das gleiche Vorzeichen besitzen. Der Vorfaktor 1/(4π ǫ0 ) taucht auf, weil wir alle physikalischen Gr¨oßen mit ihren SI-Einheiten angeben. ǫ0 wird elektrische Feldkonstante genannt, sie besitzt im SI den Wert ǫ0 = 8,854 · 10−12 C2 m−2 N−1 .

(8.5)

Der Vorfaktor 1/(4π ǫ0 ) = 8,9875 · 109 N m2 C−2 ist also sehr groß und impliziert, dass die elektrische Kraft |F C | sehr viel st¨arker ist als die Gravitationskraft |F G |, siehe Kap. 1.1.3. Wie wirkt die Kraft F C zwischen den beliebigen Ladungen q und q0 u ¨ ber den Abstand r? Solange sich die Ladung q nicht ver¨andert, weder in ihrer Gr¨ oße noch in ihrer Lage, kann man sich vorstellen, dass q die Ursache f¨ ur ein u ¨ berall im Raum vorhandenes, statisches elektrisches Feld E(r) ist und dass die elektrische Kraft F C auf die Ladung q0 gegeben ist durch F C (r) = q0 E(r) .

(8.6)

Daraus ergibt sich auch die Definitionsgleichung f¨ ur das elektrische Feld:

174

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Das elektrische Feld ist gegeben durch die elektrische Kraft pro Probeladung E(r) =

F C (r) q0

, [E] = N C−1 .

(8.7)

Die Probeladung q0 ist also ein Ladungspunkt, d.h. ein mit Ladung behafteter Massenpunkt, der das durch die Ladung q erzeugte elektrische Feld F C (r) “abtastet”. Wir verlangen, dass die Probeladung keine Ausdehnung besitze, damit der Ort r, an dem das elektrische Feld bestimmt wird, auch eindeutig definiert ist. Von einem elektrischen Ladungspunkt q wird daher u ¨ berall im Raum ein elektrisches Feld E(r) =

1 q r 4πǫ0 r2

(8.8)

erzeugt. Der Feldbegriff ist von fundamentaler Bedeutung in der modernen Physik, denn er erlaubt es, die Wirkung einer ganz allgemein verstandenen “Ladung” zu beschreiben, ohne dass das Objekt, auf das die Ladung wirkt, spezifiziert werden muss. Solange die Verteilung der elektrischen Ladungen statisch ist, ist dieses Konzept ohne Probleme durchf¨ uhrbar. Erst wenn die Ladungen sich ver¨ andern, entsteht die Frage, wie das Feld auf diese Ver¨ anderungen reagiert, insbesondere also die Frage nach der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Felds. Wir werden in Kap. 9.4.3 lernen, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit endlich ist und dies zur Entstehung elektromagnetischer Wellen f¨ uhrt, wenn sich elektrische Ladungen ver¨andern. Das elektrische Feld (8.7) eines einzelnen Ladungspunkts q ist ein Vektorfeld, d.h. wir m¨ ussen bei seiner grafischen Darstellung sowohl seine Gr¨oße wie auch seine Richtung angeben. Gew¨ ohnlich verwendet man f¨ ur die Darstellung eines Vektorfelds die Feldlinien. Die Tangente an die Feldlinien in Richtung der Feldlinien ergibt die Richtung des Vektorfelds, die Anzahl der Feldlinien pro Fl¨ ache senkrecht zu den Feldlinien ergibt die St¨arke des Vektorfelds. In Abb. 8.2 ist dieses Feldlinienkonzept f¨ ur einen positiven bzw. negativen Ladungspunkt dargestellt. In diesen speziellen F¨allen fallen Feldlinien und Richtung des elektrischen Felds zusammen. Aus Symmetriegr¨ unden sind die Fl¨ achen senkrecht zu den Feldlinien die Kugelschalen mit dem Ladungsmittelpunkt als Zentrum. Das elektrische Feld einer Vielzahl von Ladungspunkten qi ergibt sich durch die Summe u ¨ ber die elektrischen Felder, die von jedem einzelnen Ladungspunkt erzeugt werden: E(r) =

n  i=1

E i (r i ) mit E i (r i ) =

1 qi ri . 4πǫ0 ri2

(8.9)

Die Angabe des Abstandsvektors r i von der Ladung qi zu einem beliebigen Punkt r im Raum verlangt, dass wir den Lagevektor Ri f¨ ur jede Ladung

8.1 Elektrostatik

175

+

Abb. 8.2. Elektrische Feldlinien und ihre Richtungen, die das elektrische Feld einer positiven Punktladung (links) bzw. einer negativen Punktladung (rechts) charakterisieren.

qi angeben, d.h. wir ben¨ otigen ein rechtsh¨ andiges kartesisches Koordinatensystem. Als Ursprung dieses Koordinatensystems w¨ahlt man zweckm¨aßig den Ladungsmittelpunkt C. Diese Wahl des Koordinatenursprungs bedeutet daher RC = 0, und mit dieser Wahl gilt f¨ ur die Abstands- und Lagevektoren r i = r − Ri ,

(8.10)

d.h. das elektrische Feld der Ladungspunkte ergibt sich zu E(r) =

n 1  r − Ri . qi 4πǫ0 i=1 |r − Ri |3

(8.11)

Wir beschreiben jetzt die Verteilung der Ladungspunkte mithilfe der kontinuierlichen Ladungsverteilung ρC (R) und finden: Das elektrische Feld einer r¨ aumlichen Ladungsverteilung ρC (R) lautet  1 r−R E(r) = dV . (8.12) ρC (R) 4πǫ0 |r − R|3 V

Dies l¨ asst sich vereinfachen zu E(r) =

ρC 4πǫ0



V

r−R dV , |r − R|3

(8.13)

wenn die Ladungsverteilung homogen ist, d.h. ρC = konst gilt. Integrale vom Typ (8.12) oder (8.13) sind schwierig zu l¨osen. Es ist daher von großem Vorteil, dass noch andere Methoden existieren, um das elektrische Feld einer homogenen Ladungsverteilung zu berechnen. Mit einer Methode wollen wir uns jetzt besch¨ aftigen, die dann anwendbar ist, wenn die Ladungsverteilung durch besondere Symmetrien ausgezeichnet ist. Zum Beispiel ist

176

8 Das elektrische und das magnetische Feld

eine homogene Ladungsverteilung in einer Kugel invariant gegen Rotationen um jede Achse durch den Ladungsmittelpunkt C, sie besitzt Kugelsymmetrie. Die homogene Ladungsverteilung in einem unendlich langen Zylinder mit der z-Achse als Symmentrieachse ist invariant gegen Rotationen um diese Achse und Translationen l¨ angs dieser Achse. Und schließlich ist die homogene Ladungsverteilung in einer unendlich ausgedehnten Platte mit der Normalen als z-Achse invariant gegen jede Translation in der x, y-Ebene. Wir wollen die elektrischen Felder dieser besonderen Ladungsverteilungen berechnen. (A) Die homogen geladene Kugel mit Radius RK Das elektrische Feld besitzt, wie die Ladungsverteilung ρC , Kugelsymmetrie bez¨ uglich des Ladungsmittelpunkts C. Daher muss gelten E(r) = E(r) r , d.h. E(r) = konst f¨ ur r = konst.

(8.14)

Um die Komponente E(r) des elektrischen Felds zu berechnen, m¨ ussen wir das Integral (8.13) l¨ osen, also  1 ρC dV . (8.15) E(r) = 4πǫ0 |r − R|2 V

Dieses Integral ist l¨ osbar, allerdings nur mit Methoden, auf die wir hier nicht eingehen wollen. F¨ ur r ≥ RK ergibt sich E(r) =

3 ρC 4π RK 1 qtot = . 2 4πǫ0 3 r 4πǫ0 r2

(8.16)

Das bedeutet, dass das elektrische Feld einer homogen geladenen Kugel außerhalb der Kugel identisch mit dem Feld ist, das ein Ladungspunkt am Ort RC = 0 mit der Ladung qtot erzeugt. Dieses Ergebnis l¨ asst sich formal auch auf einem einfacheren Weg herleiten, der noch direkter die Symmetrie des Felds benutzt. Wir schließen die geladene Kugel in eine Kugelschale mit Zentrum im Ladungsmittelpunkt C und mit achenelement auf dieser Kugelschale mit r = konst Radius r ≥ RK ein. Ein Fl¨ betr¨ agt dA = r dA, und daher ergibt das Feldintegral u ¨ ber die geschlossene Kugelschalenfl¨ ache   qtot 4πr2 qtot qtot 1 r · r dA = = . (8.17) E(r) · dA = 2 4πǫ0 r 4πǫ0 r2 ǫ0  Diese Integralschreibweise macht darauf aufmerksam, dass die Integration u ache A (oder fr¨ uher in Kap. 2.3 u ¨ ber eine geschlossene Fl¨ ¨ ber einen geschlossenen Weg s) ausgef¨ uhrt werden muss. Wir werden nur solche F¨alle behandeln, bei denen diese Integration problemlos durchzuf¨ uhren ist und einen Wert proportional zur geschlossenen Fl¨ ache A (bzw. zum geschlossene Weg s) ergibt. Das skalare Produkt

8.1 Elektrostatik

ΦE =



E · dA

177

(8.18)

A

bezeichnet man als elektrischen Fluss durch die Fl¨ache A. Ganz allgemein gilt f¨ ur das elektrische Feld einer beliebigen Ladungsverteilung Gauss’sches Gesetz: Der elektrische Fluss, integriert u ¨ ber eine geschlossene Fl¨ ache, ist gleich der Gesamtladung qtot /ǫ0 in dem Volumen, das von der F¨ ache eingeschlossen wird   qtot dΦE = E · dA = . (8.19) ǫ0 Da die Gestalt der geschlossenen Fl¨ ache nicht vorgegeben ist, kann man sie in solchen F¨ allen, in denen wir die Eigenschaften des Felds anhand der Symmetrie der Ladungsverteilung kennen, so w¨ ahlen, dass auf der Fl¨ache E konstant ist und der elektrische Fluss u.U. sogar verschwindet, was immer der Fall ist, wenn E und dA senkrecht aufeinander stehen. Andererseits lassen sich auch solche F¨ alle relativ leicht behandeln, bei denen E und dA immer parallel liegen. Wir haben einen solchen Fall, die homogen geladene Kugel, gerade kennen gelernt. •



F¨ ur r ≥ RK ergibt sich  qtot dΦE = E(r) 4π r2 = ǫ0

E(r) =

1 qtot r . 4πǫ0 r2

(8.20)

F¨ ur r < RK ist die Ladung in dem eingeschlossenen Volumen nur q = qtot und daher  qtot r3 dΦE = E(r) 4π r2 = 3 ǫ0 RK





r3 3 RK



(8.21)

E(r) =

qtot r  3 r . (8.22) 4πǫ0 RK

Befindet sich die Ladung allein auf der Kugeloberfl¨ache r = RK , dann ist die Ladung q = 0 im Inneren der Kugel mit r < RK , und es gilt  (8.23) dΦE = E(r) 4π r2 = 0 → E(r) = 0 .

Der letzte Fall tritt z.B. auf, wenn eine leitende Kugel aufgeladen wird. Aber diese Aussage gilt ganz allgemein:

178

8 Das elektrische und das magnetische Feld

E

E

RK

r

(a)

E

r

R

(b)

z

D

(c)

Abb. 8.3. Die elektrische Feldst¨ arke E einer Kugel mit Radius RK (a), eines unendlich langen Zylinders mit Radius R⊥ (b) , einer unendlich ausgedehnten Platte mit Dicke 2 D (c). Die ausgezogenen Kurven zeigen die Feldst¨ arke f¨ ur einen homogen geladenen K¨ orper, die gestrichelten Kurven gelten f¨ ur einen K¨ orper, der nur auf seiner Oberfl¨ ache geladen ist. Im Außenraum ist bei gleicher Ladung die Feldst¨ arke unabh¨ angig davon, wie die Ladung im K¨ orper verteilt ist. Im Inneren eines K¨ orpers verschwindet die Feldst¨ arke, wenn nur die Oberfl¨ ache des K¨ orpers geladen ist

Im Inneren eines statisch aufgeladenen Leiters verschwindet das elektrische Feld. In Abb. 8.3 ist das elektrische Feld E(r) f¨ ur eine homogen geladene Kugel und f¨ ur einen Kugelleiter dargestellt. Auf die Bedeutung der Tatsache, dass der Raum im Inneren eines Leiters im statischen Fall immer feldfrei ist, werden wir noch gesondert zur¨ uckkommen. (B) Der homogen geladene Zylinder mit Radius R⊥ Der Zylinder besitzt eine Symmetrieachse, die gleichzeitig z-Achse des Koordinatensystems ist. Ist der Zylinder l¨ angs dieser Achse unendlich ausgedehnt, ist die Ladungsverteilung ρC invariant gegen Rotationen und Translationen bez¨ uglich der z-Achse, und f¨ ur das elektrische Feld folgt E(r) = E(r⊥ ) r⊥

, d.h. E(r⊥ ) = konst f¨ ur r⊥ = konst.

(8.24)

Wir werden uns jetzt gar nicht mehr bem¨ uhen, E(r⊥ ) mithilfe des Integrals (8.13) zu berechnen, sondern wir benutzen sofort das Gauss’sche Gesetz. Als geschlossene Fl¨ ache um den Zylinder w¨ ahlen wir wiederum einen Zylinder mit ange l l¨ angs der z-Achse. Auf dem Zylindermantel dem Radius r⊥ und der L¨  auf r⊥ = konst ist das Feld E(r⊥ ) konstant und hat die Richtung r⊥ = dA, der oberen und unteren Zylinderkappe gilt E(r⊥ ) · dA = 0, weil die Vektoren E(r⊥ ) und dA senkrecht aufeinander stehen. Wir unterscheiden folgende F¨ alle: •

F¨ ur r⊥ ≥ R⊥ ergibt sich  qtot dΦE = E(r⊥ ) 2π r⊥ l = ǫ0

8.1 Elektrostatik



E(r⊥ ) =

1 qtot /l r⊥ . 2πǫ0 r⊥

179

(8.25)

F¨ ur eine homogene Ladungsverteilung ist qtot /l = λC , d.h. es gilt E(r⊥ ) = •

1 λC r⊥ . 2πǫ0 r⊥

(8.26)

F¨ ur r⊥ < R⊥ ist die Ladung in dem eingeschlossenen Volumen nur q = qtot

2 r⊥ 2 R⊥

(8.27)

und daher 

→ •

2 qtot r⊥ 2 ǫ0 R⊥ λC r⊥ ⊥ . E(r⊥ ) = 2 r 2πǫ0 R⊥

dΦE = E(r⊥ ) 2π r⊥ l =

(8.28)

Befindet sich die Ladung allein auf dem Zylindermantel r⊥ = R⊥ , dann ist die Ladung q = 0 im Inneren des Zylinders mit r⊥ < R⊥ , und es gilt  dΦE = E(r) 2π r⊥ = 0 → E(r⊥ ) = 0 . (8.29)

Nat¨ urlich finden wir auch jetzt, dass das elektrische Feld im Inneren eines statisch aufgeladenen, leitenden Zylinders verschwindet. Die Feldverteilungen f¨ ur einen Zylinder sind in Abb. 8.3 gezeigt. Man kann diesen Zylinder aber auch als einen leitenden Draht auffassen, durch den z.B. ein elektrischer Strom fließt. Und es sei jetzt schon darauf hingewiesen, dass die Bedingungen f¨ ur eine statische Aufladung dann nicht mehr erf¨ ullt sind. Vielmehr gilt bei Stromfluss qtot = 0, und im Inneren des Zylinders existiert ein elektrisches Feld. (C) Die homogen geladene Platte mit Dicke 2D Wir w¨ ahlen das kartesische Koordinatensystem so, dass seine z-Achse auch die Normale auf die unendlich ausgedehnte Platte ist. Gleichzeitig soll die x-yEbene auch Symmetrieebene der Platte sein. Die homogene Ladungsverteilung ist invariant gegen Translationen in der x-y-Ebene, und daher besitzt das elektrische Feld der Platte die Form E(r) = E(z) z , d.h. E(z) = konst f¨ ur z = konst.

(8.30)

Um das Gauss’sche Gesetz anwenden zu k¨ onnen, w¨ahlen wir als geschlossene Fl¨ ache einen Zylinder, dessen Mantel senkrecht auf der Platte steht und dessen Kappen sich bei den Orten ±z befinden. F¨ ur diesen Zylinder gilt auf seinen Kappen E(z) · dA = E(z) dA und auf dem Mantel E(z) · dA = 0, weil beide Vektoren senkrecht aufeinander stehen. Wir unterscheiden folgende F¨alle:

180



8 Das elektrische und das magnetische Feld

F¨ ur |z| ≥ D ergibt sich  qtot dΦE = E(z) 2A = ǫ0



E(z) =

1 qtot z , 2ǫ0 A

(8.31)

wobei A die Fl¨ achengr¨ oße einer Zylinderkappe ist. F¨ ur eine homogene Ladungsverteilung ist qtot /A = σC , d.h. es gilt E(z) =

σC z . 2ǫ0

(8.32)

F¨ ur positive Werte von z ist E(z) = σC /(2 ǫ0 ), f¨ ur negative Werte von z ist E(z) = −σC /(2 ǫ0 ). •

F¨ ur |z| < D ist die Ladung in dem eingeschlossenen Volumen nur q = qtot und daher 



dΦE = E(z) 2A =

qtot z ǫ0 D

z , D



(8.33)

E(z) =

σC z z . 2 ǫ0 D

(8.34)

Befindet sich die Ladung allein auf der Plattenoberfl¨ache z = ±D, dann ist die Ladung q = 0 im Inneren des Zylinders mit |z| < D, und es gilt  (8.35) dΦE = E(z) 2A = 0 → E(z) = 0 .

In Abb. 8.3 ist das elektrische Feld E(z) einer Platte dargestellt. In diesem Fall gilt es zu ber¨ ucksichtigen, dass z sowohl positive wie auch negative Werte annehmen kann. Besondere Bedeutung besitzt das Feld von 2 Platten, die sich im Abstand 2d gegen¨ uberstehen und mit der gleichen Menge von positiven bzw. negativen Ladungen aufgeladen sind. Eine derartige Anordnung nennt man einen Kondensator. Das Gauss’sche Gesetz ergibt unmittelbar, dass das elektrische Feld wegen qtot = 0 im Außenraum |z| > d + 2D verschwinden muss. Im Raum |z| < d allerdings addieren sich die Beitr¨age der Felder von jeder Platte, und man erh¨ alt f¨ ur den Innenraum eines Kondensators E(z) =

σC z . ǫ0

(8.36)

In den Kondensatorplatten selbst nimmt das elektrische Feld von dem Wert E(|z| = d) = σC /ǫ0 linear auf den Wert Wert E(|z| = d + 2D) = 0 ab, d.h. der mittlere Wert des Felds in den Platten betr¨ agt E = ±|σC |/(2 ǫ0 ). Jede der Platten selbst enth¨ alt eine Ladung qtot = ∓|σC | A. Mit diesen Informationen l¨ asst sich auch die Kraft ausrechnen, mit der die eine Platte auf die andere Platte wirkt. Aus der Definitionsgleichung (8.6) f¨ ur das elektrische Feld ergibt sich f¨ ur die Kraft pro Kondensatorfl¨ ache

8.1 Elektrostatik

FC σ2 = − C z . A 2 ǫ0

181

(8.37)

Die Kraft ist anziehend, und sie ist unabh¨ angig von dem Abstand 2d der Platten, sondern allein gegeben durch das Quadrat der Ladungsdichten auf den Platten. Damit haben wir wenigstens in diesem sehr speziellen Fall verstanden, was mit “der Wirkung von geladenen Oberfl¨achen” gemeint war. Von den Ladungsverteilungen, die wir bis jetzt besprochen haben, besitzen 2 besondere Eigenschaften: • •

Das Feld im Inneren eines Kondensators besitzt an allen Orten die gleiche Richtung und die gleiche St¨ arke. Ein Feld mit diesen Eigenschaften nennt man ein homogenes Feld . Das Feld im Inneren eines Leiters ist im statischen Fall immer null. Man kann daher leitende K¨ orper mit geschlossenen Oberfl¨achen benutzen, um feldfreie R¨ aume zu erzeugen. Einen derartigen K¨orper nennt man einen Faraday-K¨ afig. Weiterhin ist dadurch die M¨oglichkeit gegeben, einen Hohlleiter sehr stark aufzuladen. L¨ adt man diesen n¨amlich u ¨ ber seine Innenfl¨ ache auf, so kann die Ladung von dort nicht zur¨ uckfließen, weil dort die Feldst¨ arke, und damit die Kraft auf die Ladungen, verschwindet.

Anmerkung 8.1.1: Eine elektromagnetische Welle entsteht auch bei Ver¨ anderung der Ladungsst¨ arke. Besteht hier nicht ein Widerspruch zum Gesetz der Ladungserhaltung, nach dem die Gesamtladung in einem abgeschlossenem System erhalten  qi = qtot = 0 impliziert nicht qi = 0, sondern u.U. bleiben muss? Nein, denn z.B. eine gleiche Anzahl von positiven und negativen Ladungen. Vereinigen sich diese, so verschwinden die Ladungen, ohne dass die Ladungserhaltung verletzt wird. Bei der Vereinigung muss eine elektromagnetische Welle entstehen, und dieser Prozess ist in der Natur bei der Vernichtung von geladener Materie mit ihrer Antimaterie beobachtbar, siehe Kap. 13.3.

8.1.3 Das elektrische Potenzial Wie bei der mechanischen Energie (2.53) muss Arbeit verrichtet werden, wenn man eine Ladung q gegen das elektrische Feld E verschiebt: W =q

s

s0

E · ds , [W ] = J.

(8.38)

Und es erhebt sich wie dort die Frage, ob diese Arbeit unabh¨angig davon ist, auf welchem Weg wir vom Anfangsort s0 zum Endort s gelangen. Schon we¨ gen der formalen Ahnlichkeit zwischen Gravitationskraft F G und elektrischer Kraft F C ist die Antwort die gleiche wie in Kap. 2.3:

182

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Die elektrische Kraft F C ist konservativ, d.h. bei der Verschiebung einer Ladung im elektrischen Feld E ist die zu verrichtende Arbeit W unabh¨angig vom Weg. Es gilt  E · ds = 0 . (8.39) Man sagt: Das statische elektrische Feld ist wirbelfrei. Diese Eigenschaft des elektrischen Felds erlaubt es, eine neue physikalische Messgr¨ oße zu definieren, das elektrische Potenzial φ. Das zum elektrischen Feld E geh¨ orende elektrische Potenzial ist definiert als s φ(s) = − E · ds + φ(s0 ) s0 [φ] = N m C−1 = V “Volt”.

(8.40)

Hierzu einige Bemerkungen: •



Das elektrische Potenzial φ(s) ist eine skalare Funktion, w¨ahrend das elektrische Feld E(s) ein Vektorfeld ist und daher immer die Angabe der 3 Feldkomponenten verlangt, um es eindeutig zu spezifizieren. Da man aus dem Potenzial das Feld ableiten kann, ist es in vielen F¨allen einfacher, zun¨ achst das Potenzial einer Ladungsverteilung zu bestimmen und daraus dann das zugeh¨ orige elektrische Feld. Wir werden sofort einige Beispiele diskutieren, um den Zusammenhang zwischen Feld und Potenzial zu untersuchen. Der Vorteil, den das Potenzial bietet, wird allerdings erst in dem Kap. 8.1.4 offensichtlich, wo wir den elektrischen Dipol untersuchen. Die Definition des elektrischen Potenzials φ(s) durch Gleichung (8.40) ist nicht eindeutig, sondern verlangt die Festlegung der Normierungskonstanten φ(s0 ). Dies ist analog zu dem Normierungsproblem der potenziellen Energie (2.56) in der Mechanik.

Eindeutig dagegen ist die Potenzialdifferenz. Die Potenzialdifferenz zwischen zwei Orten s2 und s1 wird elektrische Spannung U genannt: U = φ(s1 ) − φ(s2 ) , [U ] = V.

(8.41)

Die Arbeit, die verrichtet werden muss, um die Ladung q von s1 nach s2 gegen das Feld E zu verschieben, ist daher gegeben zu

8.1 Elektrostatik

183

∆W = q U , wobei U < 0 . Die Ladung gewinnt dabei die elektrische Energie ∆Wel = −q U .

(8.42)

F¨ ur ein Elektron mit der Ladung q = −e ist diese Energie ∆Wel = e U , und diese Beziehung wird benutzt, um eine neue Energieeinheit festzulegen, die atomare Energieeinheit [W ] = eV = 1,6 · 10−19 J.

(8.43)

Die Abk¨ urzung eV wird als Elektronenvolt bezeichnet. Wir wollen jetzt den Zusammenhang zwischen Feld und Potenzial an dem einfachsten uns bekannten System untersuchen, dem Plattenkondensator. (A) der homogen geladenen Plattenkondensator Beim Plattenkondensator mit unendlich ausgedehnten parallelen Platten ist das elektrische Feld im Raum zwischen den Platten homogen und sonst u ¨ berall null. Die positiv geladene Platte befindet sich am Ort z = 0, die negativ geladene Platte am Ort z = d. Dann ist das elektrische Feld f¨ ur 0 ≤ z ≤ d E(z) =

σC z . ǫ0

Daraus ergibt sich f¨ ur das zugeh¨ orige Potenzial φ(z) = −

z 0

E · dz + φ(0) = −

σC z + φ(0) . ǫ0

(8.44)

Die Normierung legen wir so fest, dass φ(0) = 0. Das elektrische Potenzial nimmt also in Richtung der elektrischen Feldst¨arke ab. Die Orte gleicher ¨ Potenzialst¨ arke nennt man die Aquipotenzialfl¨ achen. Sie sind in diesem Beispiel die Fl¨ achen z = konst, d.h. das elektrische Feld steht senkrecht auf ¨ den Aquipotenzialfl¨ achen, wie in Abb. 8.4 gezeigt ist. Dies gilt ganz allgemein.

Abb. 8.4. Die elektrischen Feldlinien mit ihren Richtungen (ausgezogene Geraden) und die auf den Feldlinien senkrecht stehen¨ den Aquipotenzialfl¨ achen (gestrichelte Geraden) in einem unendlich ausgedehnten Plattenkondensator. Das elektrische Potenzial nimmt in Richtung der Feldlinien ab

184

8 Das elektrische und das magnetische Feld

¨ Die Aquipotenzialfl¨ achen sind die Fl¨ achen senkrecht zu dem elektrischen Feld, auf ihnen besitzt das elektrische Potenzial einen konstanten Wert. ¨ Nat¨ urlich sind auch die (leitenden) Platten eines Plattenkondensators Aquipotenzialfl¨ achen, und auch das gilt allgemein. ¨ Die Oberfl¨ ache eines Leiters ist Aquipotenzialfl¨ ache, das elektrische Feld steht immer senktrecht auf der Leiteroberfl¨ ache. Die elektrische Spannung zwischen den beiden Leiterplatten betr¨agt σC d. U = φ(0) − φ(d) = ǫ0

(8.45)

Die Spannung ist also festgelegt durch die Ladung auf den Platten q = σC A. Das Verh¨ altnis A q = ǫ0 = C U d

(8.46)

wird Kapazit¨ at C eines Kondensators genannt. Die Kapazit¨at ist ein Maß daf¨ ur, wieviel Ladung q ein Kondensator bei einer gegebenen Spannung U speichern kann. Die Speicherf¨ ahigkeit eines Kondensators f¨ ur elektrische Ladungen ist gegeben durch seine Kapazit¨ at C. Zwischen Spannung U und Ladung q im Kondensator besteht die Beziehung q =CU

, [C] = C V−1 = F “Farad”.

(8.47)

Der Kondensator ist also ein Ladungsspeicher, eine Eigenschaft, die ihm in elektrischen Schaltkreisen seine besondere Bedeutung verleiht. Laden wir einen Kondensator auf, muss dazu Arbeit verrichtet werden, die Ladungen auf den Kondensatorplatten gewinnen elektrische Energie. Dieser Gewinn betr¨agt ∆Wel =

q

1 U dq = C

q

q dq =

1 1 q2 = C U2 . 2 C 2

(8.48)

0

0

Dass diese Energie nicht gleich ∆Wel = q U ist, liegt nat¨ urlich daran, dass sich die Spannung w¨ ahrend des Ladevorgangs ver¨andert. Ist der Ladevorgang abgeschlossen, existiert zwischen den Platten nach Gleichung (8.36) und (8.45) das elektrische Feld E=

U d



U =Ed .

(8.49)

Man kann ∆Wel daher auch auffassen als Feldenergie Wel , d.h. als die Energie, die durch Aufbau des elektrischen Felds in dem Kondensator gespeichert ist. So interpretiert, ergibt sich die Energie des elektrischen Felds zu

8.1 Elektrostatik

Wel =

1 1 C d2 E 2 = ǫ0 E 2 V , 2 2

185

(8.50)

wobei V das Volumen zwischen den Kondensatorplatten ist. Die Energiedichte des elektrischen Felds betr¨agt wel =

1 Wel = ǫ0 E 2 V 2

, [wel ] = J m−3 .

(8.51)

Wir haben diese Beziehung f¨ ur einen sehr einfachen Fall hergeleitet, aber sie gilt sehr allgemein. Und sie wird uns von jetzt ab immer wieder begegnen, wenn wir uns mit den Eigenschaften elektrischer Felder auseinandersetzen. Den Zusammenhang zwischen elektrischem Feld und elektrischem Potenzial wollen wir noch f¨ ur einen etwas schwierigeren Fall studieren. (B) Die homogen geladene Kugel Wir kennen das Feld einer homogen geladenen Kugel. Es h¨angt davon ab, ob wir den Außenraum (r ≥ RK ) oder den Innenraum (r < RK ) betrachten und ob die Ladung homogen u ¨ ber die Kugel verteilt ist oder sich nur auf ihrer Oberfl¨ ache befindet. Im Außenraum gilt f¨ ur beide M¨ oglichkeiten der Ladungsverteilung E(r) =

1 qtot r , 4π ǫ0 r2

und daraus ergibt sich f¨ ur das zugeh¨ orige Potenzial φ(r) = −

r

E(r) · dr + φ(RK ) =

RK

qtot 4π ǫ0



1 1 − r RK

+ φ(RK ) . (8.52)

Wir nehmen als Normierung φ(RK ) = qtot /(4π ǫ0 RK ), sodass auch φ(∞) = 0 gilt, und erhalten φ(r) =

qtot 1 . 4π ǫ0 r

(8.53)

Dieses Potenzial ist in Abb. 8.5 dargestellt. Im Innenraum betrachten wir zun¨ achst den Fall der homogen geladenen Kugel. Aus E(r) = ergibt sich analog zu (8.52) qtot φ(r) = − 3 4π ǫ0 RK

r

RK

qtot r  3 r 4π ǫ0 RK

r dr + φ(RK ) =

qtot 8π ǫ0



3 r2 − 3 RK RK

.

(8.54)

186

8 Das elektrische und das magnetische Feld Abb. 8.5. Das elektrische Potenzial φ einer positiv geladenen Kugel mit Radius RK . Ist die Kugel homogen geladen, ergibt sich die ausgezogene Kurve. Befindet sich die Ladung nur auf der Kugeloberfl¨ ache, ergibt sich die gestrichelte Kurve

φ

RK

r

Falls die gesamte Ladung qtot dagegen auf der Kugeloberfl¨ache sitzt, gilt im Innenraum E(r) = 0, und f¨ ur das Potenzial folgt φ(r) = φ(RK ) =

qtot 1 . 4π ǫ0 RK

(8.55)

Auch diese Potenziale f¨ ur den Innenraum der Kugel sind in Abb 8.5 gezeigt. Eine leitende Kugel stellt auch einen Kugelkondensator dar, ohne dass f¨ ur diesen Kondensator eine Gegenelektrode vorhanden sein muss. Dies liegt daran, dass das Potenzial f¨ ur r → ∞ verschwindet. Die Spannung der Kugel nach dem Aufladen ergibt sich zu U = φ(RK ) =

qtot 1 , 4π ǫ0 RK

(8.56)

und ihre Kapazit¨at betr¨ agt daher C=

qtot = 4π ǫ0 RK . U

(8.57)

Verbinden wir zwei aufgeladene Kugeln mit einem leitenden Draht, werden daher i.A. wegen der unterschiedlichen Kapazit¨aten Ladungen von der einen Kugel auf die andere fließen, bis die gesamte leitende Oberfl¨ache ei¨ ne Aquipotenzialfl¨ ache bildet. Das Verh¨ altnis der Ladungen auf Kugel 1 und Kugel 2 betr¨ agt dann q2 q1 = = konst. C1 C2 2 Da die Ladungsdichte auf einer Kugelschalenfl¨ ache σC = q/(4πRK ) ist, ergibt sich daraus f¨ ur die Ladungsdichten auf den Kugeln

σC RK = konst.

8.1 Elektrostatik

187

Die Ladungsdichte auf einem Leiter ist dort besonders groß, wo der Kr¨ ummungsradius der Leiteroberfl¨ ache besonders klein ist. Da weiterhin die elektrische Feldst¨ arke auf der Leiteroberfl¨ache proportional zur Ladungsdichte ist, werden an Leiteroberfl¨ achen mit starken Kr¨ ummungen die Feldst¨ arken sehr groß. Dies kann zu Spitzenentladungen an hoch aufgeladenen Leitern f¨ uhren. Und es ist auch der Grund daf¨ ur, dass solche Spitzen als Blitzableiter verwendet werden. 8.1.4 Der elektrische Dipol In diesem Kapitel behandeln wir den elektrischen Dipol, obwohl die mathematische Formulierung seiner Eigenschaften relativ schwierig ist. Der Grund f¨ ur seine Behandlung ist die Tatsache, dass viele f¨ ur die Biologie wichtige Molek¨ ule, wie z.B. das Wassermolek¨ ul H2 O, eine permanentes elektrisches Dipolmoment besitzen. Der elektrische Dipol besteht aus zwei gegens¨atzlichen, aber gleichstarken Ladungen, die sich im Abstand d gegen¨ uberstehen. Wir legen das Koordinatensystem mit seinem Ursprung in die Mitte des Abstands, siehe Abb. 8.6. Die Richtung der z-Achse ist gegeben durch die Richtung von der negativen Ladung q − zur positiven Ladung q + . Die negative Ladung befindet sich daher bei R− = −d/2 z, die positive Ladung bei R+ = d/2 z. Durch diese Anordnung wird das elektrische Dipolmoment pel =

q+ − q− d z = q d z = pel z 2

(8.58)

definiert. W¨ ahrend diese Definition von Ladungspunkten ausgeht, l¨asst sich auch f¨ ur Ladungsverteilungen ein Dipolmoment definieren:

z

d

ϑ

r r r

Abb. 8.6. Ein elektrischer Dipol mit dem Dipolmo. Die Richtung des Dipols zeigt von ment pel = q d z der negativen zur positiven Ladung. Der Abstand eines Raumpunkts vom Dipol ist definiert durch den Ortsvektor r, dagegen sind r ± die Abstandsvektoren von den Ladungen des Dipols

188

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Das Dipolmoment eines ausgedehnten Ladungsverteilung mit qtot = 0 ist gegeben durch    + . (8.59) pel = ρC (R) − ρ− C (R) z dV = pel z V

F¨ ur ein Atom gilt immer   (R) z dV = ρ− ρ+ C (R) z dV , C

(8.60)

V

V

und daher besitzen Atome kein permanentes elektrisches Dipolmoment. Bezeichnen wir wie in Gleichung (8.10) den Ortsvektor zu einem beliebigen Punkt im Raum mit r und die Vektoren von den Ladungen q + bzw. q − zu diesem Punkt mit r + bzw. r − , dann gilt nach Abb. 8.6   d d d2 d2 + − r = r 1 + 2 − cos ϑ , r = r 1 + 2 + cos ϑ , (8.61) 4r r 4r r und f¨ ur r ≫ d ergibt sich r+ ≈ r −

d cos ϑ 2

, r− ≈ r +

d cos ϑ . 2

(8.62)

Daher lautet das Potenzial des elektrischen Dipols in seinem Fernraum

1 q 1 q r− − r+ φ(r) = − (8.63) = 4π ǫ0 r+ r− 4π ǫ0 r+ r− pel z · r q d cos ϑ = . ≈ 4π ǫ0 r2 4π ǫ0 r2

Wie erhalten wir aus dem elektrischen Potenzial das zugeh¨orige elektrische Feld? Bisher sind wir den umgekehrten Weg gegangen und haben durch Integration des Felds u ¨ ber einen Weg das Potenzial berechnet. Die jetzt geforderte Operation bedeutet also die Differentiation des Potenzials nach seinen unabh¨ angigen Koordinaten. Das Potenzial eines elektrischen Dipols ist rotationssymmetrisch um die z-Achse. Daher sind nach allen unseren bisherigen ¨ Uberlegungen in den vorangegangenen Kapiteln die unabh¨angigen Koordinaten des Potenzials z und r⊥ . Die Komponenten des elektrischen Felds ergeben sich durch die Umkehroperation von Gleichung (8.40) zu Ez = −

d φ(r) , dz

E⊥ = −

d φ(r) . dr⊥

(8.64)

Es sei aber darauf hingewiesen, dass diese so ¨ahnlich erscheinenden Beziehungen nur f¨ ur diese speziellen Koordinaten gelten und nicht f¨ ur beliebige Koordinaten allgemein so g¨ ultig sind.

8.1 Elektrostatik

189

Bei der Umrechnung des Potenzials φ(r) in die spezielle Form φ(z, r⊥ ) sind folgende Zusammenh¨ ange zu ber¨ ucksichtigen, die sich aus Abb. 8.6 ergeben:

Daher ist

2 −1/2 2 −1/2 r · r⊥ = r⊥ (z 2 + r⊥ ) , r · z = z (z 2 + r⊥ ) 2 2 2 z · r⊥ = 0 , z · z = 1 , r = z + r⊥ .

φ(z,r⊥ ) =

z pel , 4π ǫ0 (z 2 + r2 )3/2 ⊥

(8.65)

(8.66)

und f¨ ur die Komponenten des Felds ergeben sich nach Gleichung (8.64) Ez =

2 2 z 2 − r⊥ pel 4π ǫ0 (z 2 + r2 )5/2 ⊥

, E⊥ =

3 z r⊥ pel . 4π ǫ0 (z 2 + r2 )5/2 ⊥

(8.67)

Diese Komponenten k¨ onnen zu einem Feldvektor zusammengefasst werden E=

z · r) r − z pel 3 ( . 4π ǫ0 r3

(8.68)

Dies ist nicht unmittelbar zu sehen, l¨ asst sich aber verifizieren, wenn man bedenkt, dass Ez = E · z , E⊥ = E · r⊥

ist, und die Beziehungen (8.65) benutzt.

Das Potenzial eines elektrischen Dipols mit dem Dipolmoment pel = pel z betr¨ agt φ(r) = und sein Feld lautet E(r) =

pel z · r , 4π ǫ0 r2

z · r) r − z pel 3 ( . 4π ǫ0 r3

(8.69)

(8.70)

Nach Kap. 3.1.3 wirkt auf einen elektrischen Dipol in einem homogenen Feld E aus keine resultierende Kraft, sondern nur ein Drehmoment M . Dieses Drehmoment ergibt sich zu M=

 d  + × FC − F− z × E aus ) = pel × E aus . C = d q ( 2

(8.71)

Obwohl auf den Dipol keine resultierende Kraft wirkt, besitzt er im Feld E aus eine potenzielle Energie. Diese ergibt sich nach Abb. 8.7 unter Ber¨ ucksichtigung von Gleichung (8.40) zu

190

8 Das elektrische und das magnetische Feld Abb. 8.7. Ein elektrischer Dipol in dem homogenen elektrischen Feld afte F + Eaus . Die Coulomb-Kr¨ C und F− sind gleich groß, aber entgegenC gesetzt gerichtet und erzeugen daher keine Kraft auf den Dipol, aber ein Drehmoment M = pel Eaus sin ϑ

+

ds

ϑ

Eaus

Eaus

FC

ϑ FC− Wpot

dφ dφ = (q d) = q dφ = q ds cos ϑ ds ds = −pel · E aus .

(8.72)

Dabei ist dφ die Potenzialdifferenz zwischen den Orten von q − und q + , die einem Feld E aus = −(dφ/ds) s entspricht. Besonders wichtig ist Beziehung (8.72) deswegen, weil die potenzielle Energie ihren kleinsten Wert Wpot = −pel Eaus dann erreicht, wenn pel und E aus parallel sind. Im Gleichgewichtszustand sind elektrische Dipole mit Dipolmoment pel in Richtung eines ¨ außeren elektrischen Felds E aus ausgerichtet.

8.1.5 Materie im elektrischen Feld Durch Materie wird das elektrische Feld beeinflusst, und ein elektrisches Feld ver¨andert die Eigenschaften der Materie. Diese gegenseitige Beeinflussung wollen wir mithilfe eines homogenen elektrischen Felds E aus untersuchen, das man in dem Raum eines Plattenkondensators erzeugen kann, siehe Abb. 8.8. Platzieren wir einen Materieblock mit zu den Kondensatorplatten parallelen Oberfl¨ achen in dieses elektrische Feld, sind die Ver¨anderungen von Feld und Materie davon abh¨ angig, ob es sich um einen Leiter oder um einen Nichtleiter handelt. In einem Leiter werden unter dem Einfluss von E aus die Ladungen getrennt. Durch die Influenz entstehen gleichgroße Ladungsdichten P auf den Oberfl¨ achen des Leiters, die aber das entgegengesetzte Vorzeichen zu den Ladungsdichten auf den ihnen gegen¨ uberstehenden Kondensatorplatten besit-

Eaus Eein Eaus

Eaus Eein Eaus

8.1 Elektrostatik

Leiter

Nichtleiter

191

Abb. 8.8. Ein Leiter (links) und ein Nichtleiter (rechts) in einem homogenen elektrischen Feld Eaus . Im Inneren eines Leiters verschwindet wegen Influenz das elektrische Feld Eein = 0, im Nichtleiter wird Eein < Eaus aufgrund der Polarisation nur abgeschw¨ acht

zen, siehe Abb. 8.8. Im Leiter wird daher ein Gegenfeld P/ǫ0 aufgebaut, welches das urspr¨ unglich vorhandene Feld Eaus vollkommen kompensiert, sodass das resultierende Feld im Leiter Eein = Eaus −

P =0 ǫ0

(8.73)

ergibt. In einem Nichtleiter, der in diesem Zusammenhang oft als Dielektrikum bezeichnet wird, werden die Atome unter dem Einfluss des im Dielektrikum herrschenden Felds E ein polarisiert. Auch bei der Polarisation entstehen auf den Oberfl¨ achen des Dielektrikums Ladungsdichten P = χel ǫ0 Eein , die proportional zur polarisierenden Feldst¨ arke Eein sind. Die Proportionalit¨ atskonstante χel wird elekrische Suszeptibilit¨ at genannt. Die Suszeptibilit¨ at ist eine reine Zahl χel ≥ 0, die von den Eigenschaften des Dielektrikums abh¨ angt. In den Dielektrika existieren zwei verschiedene Mechanismen der Polarisation: •



Die Verchiebungspolarisation Dabei verschieben sich die Elektronen in der Atomh¨ ulle, sodass jedes Atom ein induziertes Dipolmoment erh¨ alt. Diesen Mechanismus trifft man bei allen Materialien an, die aus einzelnen Atomen aufgebaut sind, denn Atome besitzen im feldfreien Raum kein elektrisches Dipolmoment. Die Orientierungspolarisation Dieser Mechanismus tritt nur auf bei solchen Materialien, die aus Molek¨ ulen mit einem permanenten Dipolmoment aufgebaut sind. Unter normalen Umst¨ anden sind diese Dipolmomente willk¨ urlich im Raum orientiert. Unter dem Einfluss von Eein werden sie vorzugsweise in die Feld-

192

8 Das elektrische und das magnetische Feld

richtung ausgerichtet und erzeugen so die Oberfl¨achenladungen auf dem Dielektrikum. Diese Ladungsdichte ist i.A. kleiner als die Ladungsdichte auf den Kondensatorplatten, sie reduziert daher nur das urspr¨ unglich vorhandene Feld Eaus zwischen den Kondensatorplatten. Es gilt Eein =

1 Eaus ǫ

(8.74)

mit dem Reduktionsfaktor 1/ǫ. Die Materialkonstante ǫ wird Dielektrizit¨ atszahl des Dielektrikums genannt. Der Zusammenhang zwischen dem Feld Eaus ohne Dielektrikum, dem Feld Eein mit Dielektrikum und dem durch die Oberfl¨ achenladungen erzeugten Gegenfeld lautet wie in Gleichung (8.73) Eein = Eaus −

P . ǫ0

(8.75)

Setzen wir P = χel ǫ0 Eein und Eaus = ǫ Eein in diese Gleichung ein, so ergibt sich ǫ = 1 + χel .

(8.76)

Ist das Dielektrikum nicht polarisierbar (χel = 0), wird das Feld im Inneren nicht ver¨ andert (Eein = Eaus ). Ist das Dielektrikum vollst¨andig polarisierbar (χel = ∞), so verschwindet das Feld im Inneren des Dielektrikums (Eein = 0), wie es f¨ ur einen Leiter immer der Fall ist. Viele Dielektrika besitzen eine Dielektrizit¨atszahl zwischen 5 < ǫ < 10, f¨ ur Wasser ist ǫ = 81, und es gibt spezielle Keramiken (z.B. (SrBi)TiO3 ), die besitzen Dielektrizit¨ atszahlen ǫ ≈ 1000. Die Gr¨ oße der Dielektrizit¨ atszahl ist wichtig f¨ ur die F¨ahigkeit eines Kondensators, elektrische Ladungen zu speichern. Bringen wir in den Raum zwischen den Kondensatorplatten ein Dielektrikum mit Dielektrizit¨atszahl ǫ, so werden das Feld und wegen U = E d auch die Spannung reduziert. F¨ ur die Spannung betr¨ agt die Reduktion U = U0 /ǫ, wenn U0 die Spannung ohne Dielektrikum ist. Entsprechend gilt f¨ ur das Verh¨altnis der Kapazit¨aten U0 C =ǫ, = C0 U

(8.77)

d.h. die Kapazit¨ at erh¨ oht sich um den Faktor ǫ. Sie betr¨agt jetzt A , (8.78) d und man kann bei vorgegebener Spannung eine um ǫ gr¨oßere Ladungsmenge q speichern. Damit ist auch verbunden eine entsprechende Vergr¨oßerung der Feldenergie. Sie betr¨ agt jetzt C = ǫ0 ǫ

wel =

1 ǫ0 ǫ E 2 . 2

(8.79)

8.1 Elektrostatik

193

Befindet sich ein Dielektrikum mit Dielektrizit¨atszahl ǫ in dem Raum zwischen den Platten eines Kondensators, erh¨ ohen sich bei fester Spannung die im Kondensator gespeicherte Ladungsmenge und die Energie des elektrischen Felds um den Faktor ǫ. Anmerkung 8.1.2: Wir haben P als Oberfl¨ achenladungsdichte P = χel ǫ0 Eein definiert. Aber nat¨ urlich ist P /ǫ0 = χel E ein auch ein Feld, und zwar das im Dielektrikum durch die Polarisation erzeugte Gegenfeld E geg = −P /ǫ0 . Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Richtung der Dipolmomente, die immer in die Richtung von negativer zu positiver Ladung eines Dipols zeigen. P ist daher proportional zur Summe aller Dipolmomente pro Volumen, und in diesem Zusammenhang wird f¨ ur P der Name “Polarisation” benutzt.

8.1.6 Das elektrische Feld an einer Grenzfl¨ ache Durch die Polarisation des Dielektrikums entstehen auf einer Grenzfl¨ache zwischen Dielektrikum und Vakuum elektrische Ladungen, deren St¨arke sich aus der Ladungsdichte P mithilfe folgender Beziehung ergeben   · dA = qgeb . − Pn (8.80) A

Das negative Vorzeichen ist notwendig, da durch die Oberfl¨achenladungen immer ein Gegenfeld im Dielektrikum erzeugt wird. Wir nennen die Ladungen qgeb “gebundene” Ladungen, denn diese Ladungen sind nicht wirklich frei, sondern immer an das Atom gebunden, das durch das elektrische Feld ja nur polarisiert wird. Weiterhin gilt f¨ ur das elektrische Feld nat¨ urlich immer noch das Gauss’sche Gesetz (8.19)  ǫ0 E · dA = qtot = qfrei + qgeb , (8.81) A

wobei qfrei jetzt die wirklich “freien” Ladungen sind, also Ladungen, die innerhalb des Atomvolumens nicht durch positive Ladung kompensiert werden. Die Beziehung (8.81) l¨ asst sich auch schreiben   ) · dA = qfrei . (ǫ0 E + P n (8.82) A

Dabei ist zu ber¨ ucksichtigen, dass die Oberfl¨ achenladungdichte bei der Integration u ache nur dort einen Beitrag liefert, wo P = 0 ¨ ber die geschlossene Fl¨ ist. Wir f¨ uhren jetzt zweckm¨ aßig als neue Gr¨ oße die dielektrische Verschiebung

194

8 Das elektrische und das magnetische Feld

ein, dann gilt

 , [D] = C m−2 D = ǫ0 E + P n 

D · dA = qfrei .

(8.83)

(8.84)

A

Befinden sich keine freien Ladungen auf der Grenzfl¨ache, dann ist  D · dA = 0 ,

(8.85)

A

und das ist der Normalfall. Was bedeutet die Gleichung (8.85)? Wir legen eine geschlossene Fl¨ ache gerade um die Grenzfl¨ ache herum, sodass die Fl¨ache A(1) sich auf der Seite im Vakuum, und A(2) sich auf der Seite im Dielektrikum befindet. Es ist |A(1)| = |A(2)|, und aus der Gleichung(8.85) l¨asst sich f¨ ur die  schließen: Normalkomponente der dielektrischen Verschiebung in Richtung n Dn (1) = Dn (2)



ǫ0 En (1) = ǫ0 En (2) + P = ǫ ǫ0 En (2)

(8.86)

und f¨ ur die Tangentialkomponente der dielektrischen Verschiebung in Rich =0 tung t mit t · n Dt (1) = Dt (2)



ǫ0 Et (1) = ǫ0 Et (2) .

(8.87)

An einer Grenzfl¨ache zwischen Vakuum(1) und Dielektrikum(2) mit Dielektrizit¨ atszahl ǫ, auf der sich keine freien Ladungen befinden, gilt f¨ ur die Normalkomponente des elektrischen Felds En (1) = ǫ En (2)

(8.88)

und f¨ ur die Tangentialkomponente des elektrischen Felds Et (1) = Et (2) .

(8.89)

Man fasst diese Beziehungen zusammen zu dem Brechungsgesetz des elektrischen Felds. In dem Kap. 8.1.5 hatten wir die Grenzfl¨ache so ausgerichtet, dass Et = 0, und daher entspricht die Gleichung (8.88) der Gleichung (8.74) Eaus = ǫ Eein .

8.2 Der station¨ are elektrische Strom Unter dem Einfluss eines elektrischen Felds E werden Ladungen q beschleunigt, denn auf sie wirkt die Kraft F C = q E. Die Bewegung der Ladung

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

195

bezeichnet man als elektrischen Strom. Ist dieser Strom konstant, d.h. ver¨ andert er sich nicht mit der Zeit, nennt man ihn station¨ar. Voraussetzung daf¨ ur, dass u ¨ berhaupt ein elektrischer Strom entsteht, ist die Existenz von freien Ladungen, die sich mehr oder minder ungest¨ort bewegen k¨onnen. Es gibt Materialien, die besitzen ohne Einwirken von außen freie Ladungstr¨ager. Zu diesen Materialien geh¨ oren die metallischen Leiter, in denen sich Elektronen frei bewegen k¨ onnen, oder die Elektrolyte, die als freie Ladungstr¨ager positiv und negativ geladenen Ionen besitzen. In Materialien, in denen selbst keine freien Ladungstr¨ ager existieren, wie z.B. in Gasen oder auch im Vakuum, m¨ ussen freie Ladungstr¨ ager von außen erzeugt werden. F¨ ur die Erzeugung gibt es mehrere Verfahren, z.B. die Elektronenemission aus einer gl¨ uhenden Elektrode oder den lichtelektrischen Effekt, den wir in Kap. 13.1 behandeln. Dar¨ uber hinaus sind auch die Transportmechanismen in den verschiedenen Materialien ganz unterschiedlich. Vergleichen wir die Bewegung der Elektronen im metallischen Leiter mit der Bewegung der Elektronen im Vakuum und nehmen wir an, dass in beiden F¨ allen die Bewegung durch ein homogenes Feld E = U/d entsteht. Im metallischen Leiter m¨ ussen die Elektronen durch das Rumpfgitter des Leiters wandern. Sie erfahren durch St¨oße dabei dauernd eine St¨ orung ihrer geradlinigen Bewegung. Im Gleichgewichtszustand wird die elektrische Kraft F C = q E kompensiert durch eine durch die St¨oße verursachte Reibungskraft F R = −κ v, und es gilt qE −κv = 0



v=

q E = uE . κ

(8.90)

F¨ ur ein zeitlich konstantes Feld stellt sich eine konstante Geschwindigkeit der Elektronen ein. Diese Geschwindigkeit heißt Driftgeschwindigkeit, denn sie ist f¨ ur eine Feldst¨ arke in der Gr¨ oßenordnung von E = 100 V m−1 nur von −1 der Gr¨ oße |v| = 0,5 m s . Die Konstante u = q/κ ([u] = m2 V−1 s−1 ) wird Beweglichkeit des Ladungstr¨ agers genannt. F¨ ur negative Ladungstr¨ager ist u < 0, da die Ladung negativ ist, f¨ ur positive Ladungstr¨ager ist u > 0. Im Vakuum dagegen erfahren die Elektronen keine Gegenkraft durch einen Reibungsmechanismus. Daher besitzen sie, nachdem sie die Spannung U durchlaufen haben, eine kinetische Energie  q 1 2 U . (8.91) me v = q U → v = 2 2 me F¨ ur U = 100 V ergibt sich v = 6 · 106 m s−1 , also eine um Gr¨oßenordnungen h¨ ohere Geschwindigkeit als die Driftgeschwindigkeit im metallischen Leiter. Zwar ist in beiden F¨ allen die Endgeschwindigkeit konstant, wenn sich das Feld bzw. die Spannung zeitlich nicht ver¨ andern, Aber die Ver¨anderung der Geschwindigkeit mit der Feldst¨ arke und ihr Verhalten l¨angs des Wegs sind ganz unterschiedlich, wie in Abb. 8.9 dargestellt. Wie erzeugen wir ein homogenes Feld, in dem die Ladungstr¨ager beschleunigt werden? Diese Frage ist nicht so trivial, wie sie klingt. Benutzen wir das

196

8 Das elektrische und das magnetische Feld

v

v

u

E

d

E

Abb. 8.9. Die maximale Geschwindigkeit v eines Elekrons im homogen elektrischen Feld. In einem Leiter (links) nimmt v linear mit der Feldst¨ arke zu, ist aber unabh¨ angig von der L¨ ange der durchlaufenen Strecke d, dagegen abh¨ angig von der Beweglichkeit u der Elektronen im Leiter. Im Vakuum (rechts) nimmt v mit der Wurzel aus der Feldst¨ arke zu und ist abh¨ angig von der L¨ ange der durchlaufenen Strecke d

Gauss’sche Gesetz (8.19) und nehmen wir als geschlossene Fl¨ache einen Zylinder, dessen Kappen senkrecht zu den Feldlinien stehen und dessen Mantel parallel zu den Feldlinien liegt. Dann ist auf dem Mantel E · dA = 0 auf der linken Kappe E · dA = −E dA, auf der rechten Kappe E · dA = E dA, und das Gauss’sche Gesetz ergibt  (8.92) E · dA = E (A − A) = 0 → qtot = 0 . Um ein homogenes elektrisches Feld in einem Volumen V zu erzeugen, muss die Gesamtladung   +  qtot = ρC + ρ− C dV V

in dem Volumen V verschwinden. Und diese Bedingung ist nicht erf¨ ullt, wenn Ladungstr¨ager von außen in das Volumen transportiert und dort beschleunigt werden. Wir k¨onnen daher z.B. nicht erwarten, dass der Ladungstransport im Vakuum sich allgemein als Transport in einem homogenen elektrischen Feld beschreiben l¨asst, wie wir es noch in Gleichung (8.91) angenommen haben. Die Bedingung qtot = 0 kann nur erf¨ ullt werden, wenn sich in dem Feldvolumen eine gleichgroße Anzahl von positiven und negativen Ladungstr¨ agern befindet. Im Fall des metallischen Leiters sind das die Elektronen und die positiven Gitterr¨ umpfe, der Leiter ist also auch bei Stromfluss nach außen hin ungeladen. Diese Bedingung verlangt wiederum, dass die Ladungsmenge, die durch die eine Kappe in das Volumen hineinfliesst, dieses Volumen durch die andere Kappe wieder verl¨ asst. Die Ladungsmenge, die pro Zeit und Fl¨ache durch eine Fl¨ ache hindurchfließt, nennt man die elektrische Ladungsstromdichte j C . In

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

197

Kap. 7.2.2 haben wir den Zusammenhang zwischen Energiestromdichte und Energiedichte im Fall der Schallwelle hergestellt. Dieser Zusammenhang ergibt sich ganz analog, wenn man “Energie” durch “Ladung” ersetzt. Die Ladungsstromdichte ist das Produkt aus Ladungsdichte und Str¨ omungsgeschwindigkeit j C = ρC v .

(8.93)

Die Forderung nach einem homogenen Feld in einem stromf¨ uhrenden Leiter verlangt daher   d j C · dA = ρC dV = 0 . (8.94) dt A

V

Diese Bedingungen sind ein Spezialfall der Kontinuit¨ atsgleichung: Auf einer geschlossenen Fl¨ ache A mit eingeschlossenem Volumen V muss wegen des Erhaltungsgesetzes der elektrischen Ladung gelten   d j C · dA + ρC dV = 0 . (8.95) dt A

V

Ver¨ andert sich die Gesamtladung qtot in dem Volumen nicht, folgt daraus Gleichung (8.94). Die Menge der Ladung, die pro Zeit in das Volumen hineintritt (und auch wieder hinaustritt), wird elektrischer Strom genannt. Der elektrische Strom ist definiert als  I = j C · dA , [I] = A, “Ampere”.

(8.96)

A

Oft wird daf¨ ur auch I = dq/dt geschrieben. Bei dieser Schreibweise muss man darauf achten, dass dq/dt die pro Zeit durch die Fl¨ache tretende Ladung ist und nicht die zeitliche Ver¨ anderung der Ladung in einem Volumen angibt. Wie bereits gesagt, ist der Strom I eine Basismessgr¨oße im SI. Die Messvorschrift, welche die Basismaßeinheit [I] = A definiert, werden wir allerdings erst in Kap. 8.3.2 diskutieren, da diese Vorschrift von der Existenz des magnetischen Felds und seinen Eigenschaften abh¨ angt.

198

8 Das elektrische und das magnetische Feld

8.2.1 Der elektrische Strom im metallischen Leiter In einem metallischen Leiter existiert ein homogenes Feld E = U/l, das den Strom I antreibt. Die L¨ ange des Leiters ist l, die Potenzialdifferenz zwischen den beiden Enden des Leiters betr¨ agt U . F¨ ur die Stromdichte in dem Leiter ergibt sich − j C = ρ− C v = ρC u E .

(8.97)

Das bedeutet, die Richtung der Stromdichte j C ist gleich der Richtung des elektrischen Felds E, aber die Geschwindigkeitsrichtung v ist entgegengesetzt, da ρ− C < 0. Im Normalfall nehmen wir an, dass die Anfangs- und Endfl¨achen des Leiters senkrecht zur Stromrichtung stehen, d.h. sie bilden die Querschnittsfl¨ache des Leiters, die u ur den Strom ¨ ber den ganzen Leiter konstant ist. Dann gilt f¨ in dem Leiter I = ρ− Cu

1 A U= U . l R

(8.98)

Das Verh¨ altnis zwischen der Spannung U an einem Leiter und dem durch ihn fließenden Strom I ergibt den Ohm’schen Widerstand RΩ des Leiters. RΩ =

U I

, [RΩ ] = V A−1 = Ω “Ohm”.

(8.99)

Dieses Ohm’sche Gestetz verlangt also eine lineare Abh¨angigkeit zwischen Spannung und Strom. Voraussetzung daf¨ ur ist, dass das elektrische Feld in dem Leiter homogen ist. Zeigt sich bei einem Leiter ein linearer Zusammenhang zwischen Spannung und Strom, so sagen wir von diesem Leiter, “er zeige ein Ohm’sches Verhalten”. Die Methoden, um die Strom-SpannungsKennlinie eines Leiters zu messen, also wie man Strom und Spannung mithilfe eines Drehspulinstruments misst, werden wir in Kap. 8.3.3 besprechen. F¨ ur einen Leiter mit Ohm’schen Verhalten l¨ asst sich sehr einfach die Energie angeben, welche die Ladungstr¨ ager q beim Durchlaufen der Spannung U verlieren. Es gilt nach Gleichung (8.42), wenn wir ber¨ ucksichtigen, dass Elektronen negativ geladen sind, ∆Wel = |q| U = I U ∆t .

(8.100)

Der Energieverlust ∆Wel pro Zeitintervall ∆t ergibt die elektrische Leistung Pel des Stroms, f¨ ur die in einem Ohm’schen Leiter gilt ∆Wel U2 = I U = R I2 = , ∆t R [P ] = A V = W “Watt”. Pel =

(8.101)

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

199

Dies ist ein Leistungsverlust, denn er entspricht der Leistung, die von dem Strom gegen die Reibungskr¨ afte in dem Leiter verrichtet werden muss. Die zugeh¨ orige Energie geht nat¨ urlich nicht verloren, sondern sie wird durch den Reibungsmechanismus umgewandelt in thermische Energie: Der Leiter erw¨armt sich. Der Ohm’sche Widerstand in einem Leiter ist gegeben durch RΩ =

ρ− C

l l . = rΩ A uA

(8.102)

−1 Man bezeichnet rΩ = (ρ− als den spezifischen Widerstand. Er ist C u) eine von dem Material abh¨ angige Gr¨ oße, allerdings auch abh¨angig von der Temperatur T , da sich die Beweglichkeit der Elektronen im Gitter mit der Temperatur a ¨ndert. Mit sinkender Temperatur wird die Beweglichkeit besser, und daher verringert sich der spezifische Widerstand. Dieses Verhalten ist nur verst¨ andlich, wenn man weiß, dass nicht die Existenz der Gitterr¨ umpfe allein schon ausreicht, um die Beweglichkeit der Elektronen einzuschr¨anken, sondern dass daf¨ ur einen ganz wesentlichen Beitrag die Schwingungen der Gitterr¨ umpfe um ihre Gleichgewichtslage bei der Temperatur T liefern. Mit sinkender Temperatur wird die Anzahl der Normalschwingungen in einem Gitter geringer, die Schwingungen “frieren aus”. Das Temperaturverhalten des spezifischen Widerstands wird parametrisch dargestellt durch

rΩ = rΩ,0 (1 + α T ) ,

(8.103)

wobei α > 0 f¨ ur die meisten metallischen Leiter gilt. Es gibt spezielle Legierungen (z.B. Konstantan: Ni54 Cu45 Mn1 ), die besitzen α ≈ 0, und in QuasiLeitern wie z.B. Kohlenstoff findet man α < 0, weil die Anzahl der freien Ladungstr¨ ager mit der Temperatur zunimmt. Wir wollen uns mit den metallischen Leitern als Beispiel jetzt u ¨ berlegen, was geschieht, wenn mehrere Leiter miteinander zu einem Netzwerk verkoppelt werden. Ein Beispiel f¨ ur ein derartiges Netzwerk ist in Abb. 8.10 gezeigt. Die Leiterabschnitte sind durch ihre Ohm’schen Widerst¨ande RΩ gekennzeichnet. Das gesamte Netzwerk l¨ asst sich zerlegen in 2 Basiseinheiten, in den Leiterknoten mit Kennzeichen “K” und in die Leitermasche mit Kennzeichen “M”. In unserem Beispiel Abb. 8.10 besteht das Netzwerk daher aus 5 Knoten und 4 Maschen. F¨ ur jede Basiseinheit gelten die Gesetze der Elektrostatik, n¨amlich die •



Ladungserhaltung, ausgedr¨ uckt durch die Kontinuit¨atsgleichung (8.95)  j C · dA = 0 ,

Wirbelfreiheit des elektrischen Felds, ausgedr¨ uckt durch die Gleichung (8.39)  E · ds = 0 .

200

8 Das elektrische und das magnetische Feld

RΩ K RΩ RΩ

M

RΩ

M

RΩ

M

K RΩ

K

K M

RΩ K

M

RΩ

RΩ K RΩ

(a)

(b)

Abb. 8.10. Links: Die Zerlegung eines Leiternetzwerks in die Basiselemente Knoten K und Masche M. Rechts: In (a) ist ein Knoten dargestellt, der 4 Leiterzuf¨ uhrungen mit Ohm’schen Widerst¨ anden besitzt. In (b) ist eine Masche dargestellt, in der sich 2 passive Bauteile (Ohm’scher Widerstand) und zwei aktive Bauteile (Spannungsquelle) befinden

Die Anwendungen dieser Gesetze auf den Leiterknoten bzw. die Leitermasche ergeben die Kirchhoff ’schen Regeln, die wir jetzt einzeln diskutieren. Die Kontinuit¨atsgleichung fordert die geschlossene Fl¨ache, in die Ladungen hinein- und aus der sie herausfließen. Sie ergibt, angewendet auf die Leiterzuf¨ uhrungen in einen Knoten in Abb. 8.10a n 

Ii = 0 .

(8.104)

i=1

Vorzeichenkonvention: I < 0 f¨ ur Str¨ome in den Knoten, I > 0 f¨ ur Str¨ome aus den Knoten. Wir wollen die Knotenregel sofort anwenden auf die Parallelschaltung Abb. 8.11a von Ohm’schen Widerst¨anden bzw. Kondensatoren. (a) Es gilt f¨ ur die Widerst¨ande −I +

n 

n

Ii = 0

i=1



 Ui U = . R Ri i=1

Da alle Spannungen zwischen den Knoten gleich sind, folgt n

U = U1 = U2 = ...



 1 1 = . R Ri i=1

(8.105)

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

201

Bei Parallelschaltung von Ohm’schen Widerst¨ anden addieren sich deren Kehrwerte zum Kehrwert des Gesamtwiderstands n

 1 1 . = R Ri i=1

(8.106)

(b) Es gilt f¨ ur die Kondensatoren −q +

n 

qi = 0

i=1



CU =

n 

Ci Ui .

(8.107)

i=1

Da alle Spannungen zwischen den Knoten gleich sind, folgt U = U1 = U2 = ...



C=

n 

Ci .

i=1

Bei Parallelschaltung von Kondensatoren addieren sich deren Kapazit¨aten zu der Gesamtkapazit¨ at C=

n 

Ci .

(8.108)

i=1

Die Leitermasche Abb. 8.10b entspricht einem geschlossenen Weg aus Ohm’schen Widerst¨ anden bzw. Kondensatoren. Spannungen in einer Leitermasche treten aber nicht nur an den Ohm’schen Widerst¨anden bzw. Kondensatoren auf, sondern es k¨ onnen sich auch aktive Spannungsquellen in der Masche befinden. In dem Kapitel 8.2.3 werden wir verschiedene Mechanismen besprechen, wie derartige Spannungsquellen in einem Netzwerk aus Leitern entstehen k¨ onnen. Prinzipiell handelt es sich dabei immer um Systeme mit einem inneren elektrischen Feld, dessen Richtung von dem positiven Pol der

RΩ RΩ RΩ RΩ RΩ

(a)

RΩ RΩ RΩ RΩ RΩ RΩ RΩ RΩ

RΩ

(b)

Abb. 8.11. Die Parallelschaltung (a) und die Reihenschaltung (b) von Ohm’schen Widerst¨ anden

202

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Quelle zu ihrem negativen Pol zeigt. Das Symbol f¨ ur eine derartige Spannungsquelle ist aus der Abb. 8.10b ersichtlich. Die Existenz von aktiven Spannungsquellen ist insbesondere wichtig f¨ ur die Spannungsvorzeichen in einer Masche. F¨ ur diese gilt aufgrund der Wirbelfreiheit n 

Ui = 0 .

(8.109)

i=1

Vorzeichenkonvention: Bei vorgegebener Richtung der Stromdichte j C in der Masche gilt U > 0 f¨ ur alle passiven Elemente in der Masche, U > 0 f¨ ur alle aktiven Elemente, wenn die Richtung von j C mit der Richtung vom + Pol zum − Pol des Elements u ¨bereinstimmt, U < 0 f¨ ur alle aktiven Elemente, wenn die Richtung von j C mit der Richtung vom − Pol zum + Pol des Elements u ¨bereinstimmt. Wir wollen die Maschenregel sofort anwenden auf die Reihenschaltung Abb. 8.11b von Ohm’schen Widerst¨ anden bzw. Kondensatoren. (a) Es gilt f¨ ur die Widerst¨ ande −U +

n 

Ui = 0

i=1



RI =

n 

Ri Ii .

(8.110)

i=1

Wegen der Ladungserhaltung gilt f¨ ur den Strom durch die Masche I = I1 = I2 = ...



R=

n 

Ri .

i=1

Bei Reihenschaltung von Ohm’schen Widerst¨ anden addieren sich diese zu dem Gesamtwiderstand R=

n 

Ri .

(8.111)

i=1

(b) Es gilt f¨ ur die Kondensatoren ebenfalls −U +

n 

n

Ui = 0

i=1



 qi q . = C Ci i=1

Auch hier erfordert die Ladungserhaltung n

q = q1 = q2 = ...



 1 1 = . C Ci i=1

(8.112)

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

203

Bei Reihenschaltung von Kondensatoren addieren sich die Kehrwerte ihrer Kapazit¨ aten zu dem Kehrwert der Gesamtkapazit¨at n

 1 1 = . C Ci i=1

(8.113)

Die Kirchhoff’schen Regeln werden uns wieder begegnen bei der Behandlung von nicht-station¨ aren Str¨ omen in Kap. 9.2. An dieser Stelle wollen wir als weitere Anwendung der Kirchhoff’schen Regeln u ¨ berlegen, wie man elektrische Leistung von einem Kraftwerk m¨ oglichst ohne Verluste zu einem Verbraucher ¨ ¨ Vu agt. Die Ubertragung geschieht mithilfe einer Uberlandleitung L, die ¨bertr¨ auch f¨ ur den Verlust an Leistung verantwortlich ist. Das Kirchhoff’sche Regel f¨ ur eine Masche ergibt U = UL + UV = RL I + RV I . Die dem Verbraucher zur Verf¨ ugung stehende Leistung betr¨agt daher RV I 2 = U I − RL I 2 , und die wird optimal, wenn die Verlustleistung RL I 2 minimal ist. Diese nimmt quadratisch mit dem Strom zum Verbraucher ab, und daher sollte der Strom durch die Masche m¨ oglichst klein, dagegen die Spannung U des Kraft¨ werks m¨ oglichst groß sein. Heute gibt es bereits Uberland-Gleichspannungs6 Leitungen, die mit einer Spannung von U = 10 V operieren. 8.2.2 Der elektrische Strom in leitenden Fl¨ ussigkeiten Die f¨ ur uns wichtigste Fl¨ ussigkeit, das Wasser, ist ein fast perfekter Nichtleiter. “Wasser” wird allerdings leitend, wenn man es verunreinigt durch Molek¨ ule mit heteropolarer Bindung. Durch die L¨ osung der Molek¨ ule im Wasser entsteht ein leitender Elektrolyt. Heteropolar nennt man eine Bindung, wenn sich Atome zu einem stabilen Molek¨ ul dadurch vereinigen, dass sich die Elektronen aus der H¨ ulle eines oder mehrerer Atome in die H¨ ulle der anderen Atome verschieben. Die Bindung wird damit im Wesentlichen durch die elektrostatischen Kr¨afte F C der Atome untereinander verursacht, siehe Kap. 18.1. Diese Bindung bricht im Wasser auf, sodass im Wasser i.A. zwei verschieden geladene Ionenkomplexe existieren. Man nennt dies die Dissoziation heteropolar gebundener Molek¨ ule im Wasser. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Dissoziation von Kochsalz NaCl → Na+ + Cl− .

204

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Dass dies u ¨berhaupt geschieht, liegt an dem permanenten elektrischen Dipolmoment des Wassermolek¨ uls. Dadurch k¨ onnen sich Wassermolek¨ ule an die Ionen anlagern (Hydratisierung). Die Verringerung der elektrischen Energie ist bei der Hydratisierung gr¨ oßer als die Anhebung dieser Energie durch den Verlust der Bindung. Im Wasser ist der hydratisierte Zustand der Gleichgewichtszustand mit dem Minimum an potenzieller Energie. Die Anzahl der Ladungen, die ein Ion tr¨ agt, bezeichnet man als die Ionenladungszahl z. In dem obigen Beispiel ist z(Na+ ) = 1 , z(Cl− ) = −1. Betrachten wir die Dissoziation CuSO4 → Cu++ + (SO4 )−− ,

so ist z(Cu++ ) = 2 , z(SO4 −− ) = −2. Die Gesamtladung in einem Elektrolyten ist null, die Menge der positiven bzw. negativen Ladung h¨angt von der Menge des gel¨ osten Stoffs ab, von dem wir annehmen, dass er vollst¨andig dissoziiert. F¨ ur n  = 1 mol eines gel¨ osten Stoffs mit der Ionenladungszahl z = 1 erh¨ alt man eine Ladungsmenge F = e nA = 96486 C mol−1 .

(8.114)

Diese Ladungsmenge wird Faraday-Konstante genannt. Die Faraday-Konstante gibt die Ladungsmenge an, die bei vollst¨andiger Dissoziation von 1 mol eines Stoffs mit Ionenladungszahl z = 1 in der w¨assrigen L¨osung entsteht. Taucht man 2 Plattenelektroden in den Elektrolyten, an denen eine Spannung U liegt, werden die Ionen beiderlei Vorzeichens durch das elektrische Feld zu den Elektroden hin beschleunigt. Und zwar: • •

Die positiven Ionen zu der negativen Elektrode, die Kathode genannt wird. Positive Ionen heißen daher Kationen. Die negativen Ionen zu der positiven Elektrode, die Anode genannt wird. Negative Ionen heißen daher Anionen.

Mit der Bewegung der Ladung ist ein Massentransport verbunden. Das Verh¨ altnis von transportierter Ladung zu transportierter Masse betr¨agt zF ∆q = . ∆m mMol

(8.115)

Der Transport von Ladung bedeutet, es fließt ein elektrischer Strom. Die Ladungstr¨ ager in einem Elektrolyten sind allerdings positiv und negativ geladene Ionen, w¨ ahrend sie in einem metallischen Leiter allein aus negativen Elektronen bestehen. Identisch zu den Eigenschaften eines metallischen Leiters ist allerdings, dass auch der Elektrolyt nach außen hin ungeladen ist, denn die positiven Ladungen werden durch die negativen Ladungen kompensiert.

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

205

Ein Elektrolyt zeigt Ohm’sches Verhalten, d.h. er besitzt eine lineare StromSpannungs-Kennlinie U = UG + R I .

(8.116)

Die Zusatzspannung UG ist die Galvani-Spannung, die in der Kennlinie eines metallischen Leiters normalerweise nicht auftaucht. Ihre Ursache ergibt sich aus den Eigenschaften der Grenzfl¨ achen zwischen Elektroden und Elektrolyt, auf die wir im n¨ achsten Kap. 8.2.3 ausf¨ uhrlich zur¨ uckkommen werden. Bestehen beide Elektroden aus dem gleichen metallischen Leiter, dann ist UG = 0. Dies wollen wir im Folgenden annehmen. Analog zur Gleichungg (8.98) l¨ asst sich der Strom angeben, der bei der Spannung U durch den Elektrolyten fließt.   − − A + U . I = ρ+ C u + ρC u l

(8.117)

Da der Elektrolyt nach außen ungeladen ist, gilt − ρ+ C = −ρC



und daher

z + ρ+ = −z − ρ− = z ρ

 A  I = z ρ u+ − u− F U l

(8.118)

(8.119)

mit dem spezifischen Widerstand des Elektrolyten rΩ =

1 . z ρ (u+ − u− ) F

(8.120)

Der spezifische Widerstand nimmt also mit dem Produkt aus der molaren Dichte ρ = n /V (diese wird oft einfach “Konzentration” genannt) und der Ionenladungszahl z ab. Bei großen molaren Dichten des gel¨osten Stoffs gilt diese Abh¨ angigkeit allerdings nicht mehr, weil sich die Ionen dann so nahe kommen k¨ onnen, dass sie nicht mehr als frei angesehen werden k¨onnen. Frei in dem Sinne, dass sie allein der Reibungskraft mit dem L¨osungsmittel unterliegen und nicht gegenseitigen Kr¨ aften. Der spezifische Widerstand steigt bei großen Werten von z ρ wieder an. Die Beweglichkeiten von positiven und negativen Ionen im Elektrolyten sind von etwa gleicher Gr¨ oßenordnung, u+ ≈ |u− | ≈ 5 · 10−8 m2 V−1 −1 s bei Zimmertemperatur. Die Ionen in einem Elektrolyten sind damit um einen Faktor ≈ 100 langsamer als die Elektronen in einem metallischen Leiter. Es gibt einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen metallischen und elektrolytischen Leitern. Durch die Leitung ver¨andert der elektrolytische Leiter seine Eigenschaften, weil sich an den leitenden Elektroden chemische Reaktionen abspielen. Entweder ver¨ andert sich dabei der Elektrolyt oder es

206

8 Das elektrische und das magnetische Feld

ver¨andern sich mit dem Elektrolyten auch die Elektroden. Betrachten wir als Beispiel die elektrische Leitung durch mit Schwefels¨aure (H2 SO4 ) anges¨auertem Wasser. Schwefels¨ aure dissoziiert in 2 H+ Ionen (z = 1) und 1 −− SO4 Ionenkomplex (z = −2). Fließt ein Strom durch den Elektrolyten, finden an der Kathode bzw. Anode aus Platin folgende Reaktionen statt: Kathode: 2 H+ + 2 e− → H2

Anode: SO−− − 2 e− → SO4 + H2 O 4 1 → H2 SO4 + O2 . 2 H2 und O2 verlassen als Gas an den Elektroden den Elektrolyten, insgesamt erscheint es so, als ob Wasser in seine gasf¨ ormigen Bestandteile durch den Strom zerlegt wurde (Elektrolyse). Dadurch wird die molare Dichte der Schwefels¨ aure erh¨ oht, und es ver¨ andert sich der spezifische Widerstand des Elektrolyten. Beachten wir aber, dass die oben genannten Reaktionen nur so ablaufen, wenn die Elektroden aus Platin sind. Ersetzen wir die Anode durch eine Kupferelektrode, w¨ urden sich an der Anode folgende Reaktionen abspielen: − 2 e− → SO4 + Cu Anode: SO−− 4

→ Cu++ + SO−− . 4

Das heißt, die Schwefels¨ aure im Elektrolyten wird durch disoziiertes Kupfersulfat ersetzt, wobei die Anode ihr Kupfer verliert und immer d¨ unner wird. Gleichzeitig tritt in dem Elektrolyten zwischen der Cu-Elektrode und der PtElektrode eine zus¨ atzliche Galvani-Spannung UG auf, die negativ ist. Daher fließt auch bei ¨ außerer Spannung U = 0 nach Gleichung (8.116) ein Strom I = |UG |/R. Mit den Ph¨ anomenen an den Grenzfl¨achen zwischen Leitern werden wir uns jetzt besch¨ aftigen. 8.2.3 Elektrische Grenzfl¨ achen Elektrische Grenzfl¨ achen entstehen, wenn zwei Leiter mit ihren Oberfl¨achen aneinanderstoßen. Dabei muss unterschieden werden, ob es sich um die Grenzfl¨ ache zwischen festen K¨ orpern, zwischen festem K¨orper und Elektrolyt oder zwischen Elektrolyten handelt. Im Festk¨ orper sind die Ladungstr¨ager immer Elektronen, die entweder an die Gitterr¨ umpfe gebunden sind (Nichtleiter) oder die sich zum Teil im Gitter frei bewegen k¨ onnen (metallischer Leiter). Aber auch bei den metallischen Leitern sind die beweglichen Elektronen immer noch im Leiter als Ganzes gebunden, sie k¨ onnen diesen Leiter nicht ohne außere Zufuhr von Energie verlassen. Diese Energie bezeichnet man als die ¨ arung des lichtelektrischen Effekts Abl¨ oseenergie Wa . Sie spielt bei der Erkl¨ eine wichtige Rolle, wir werden ihr bei der Einf¨ uhrung in die moderne Physik in Kap. 13.1 wieder begegnen. Dort werden wir auch lernen, dass in einem

207

eU

Wa (2)

Wa (1)

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

eU = Wa (2)−Wa (1) Abb. 8.12. Die Grenzfl¨ ache zwischen zwei metallischen Leitern mit verschiedenen ache d¨ unn genug, wandern Elektronen vom Leiter Abl¨ oseenergien Wa . Ist die Grenzfl¨ 1 in den Leiter 2 und es entsteht an der geladenen Grenzfl¨ ache eine Kontaktspannung UKont

einzelnen Atom die Abl¨ osearbeit der Ionisierungsenergie entspricht, die das am schw¨ achsten gebundenen H¨ ullenelektron besitzt. Ionisierungsenergie und Abl¨ oseenergie sind sich nur ¨ ahnlich, aber nicht gleich, denn im metallischen Leiter sind diese Elektronen nicht mehr an das Atom gebunden. In der Abb. 8.12 ist dargestellt, welches Modell man sich von der Energieverteilung dieser Elektronen im Festk¨ orper macht. Wenn zwei verschiedene metallische Leiter mit ihren Oberfl¨achen aneinanderstoßen, sind die Abl¨ osearbeiten an der Grenzfl¨ache i.A. verschieden, z.B. Wa (1) < Wa (2) .

(8.121)

Dies hat zur Folge, dass Elektronen u ¨ber die Grenzfl¨ache von dem Leiter 1 in den Leiter 2 wandern werden, es bildet sich ein Kontaktstrom aus. Die Oberfl¨ ache des Leiters 2 wird dadurch negativ geladen, die des Leiters 1 erh¨alt eine positive Ladung durch die Gitterr¨ umpfe, es entsteht eine elektrisch geladene Doppelschicht. Die Ladungen sind die Ursache f¨ ur eine Kontaktspannung u ache (siehe Abb. 8.12), die einen maximalen Wert ¨ ber der Grenzfl¨ UKont =

Wa (2) − Wa (1) e

(8.122)

erreicht. Ist dieser Wert erreicht, wird ein weiterer Stromfluss u ¨ ber die Kontaktfl¨ ache unterbunden, es bildet sich ein stabiler Gleichgewichtszustand aus. Dieses Ph¨ anomen wird nicht nur bei metallischen Leitern beobachtet, sondern auch bei Nichtleitern. Es ist der eigentliche Grund f¨ ur die Existenz der Reibungselektrizit¨ at, siehe Kap. 8.1.1. Bildet man eine geschlossene Masche aus zwei metallischen Leitern, entstehen zwei Grenzfl¨ achen (a) und (b), deren Spannungen nach der Kirchhoff’schen Maschenregel die Werte UKont und −UKont besitzen. Die Effekte

208

8 Das elektrische und das magnetische Feld

beider Grenzfl¨ achen kompensieren sich daher im statischen Gleichgewicht, die Existenz der Kontaktspannungen bleibt unbeobachtet. Dieses Gleichgewicht wird gest¨ ort, wenn die eine Grenzfl¨ ache eine h¨ ohere Temperatur T besitzt als die andere. Der dynamische Aufbau der elektrischen Doppelschicht geschieht schneller an dem Kontakt mit der h¨ oheren Temperatur, und daher ergibt sich eine resultierende Spannung Utherm = UKont (Ta ) − UKont (Tb ) ,

(8.123)

die man Thermospannung nennt. Diese Spannung treibt einen Strom durch die Masche; wir erhalten damit eine der aktiven Spannungsquellen, die wir in Kap. 8.2.1 bei der Formulierung der Kirchhoff’schen Maschenregel untersucht haben. Eine weitere M¨ oglichkeit bilden die Grenzfl¨achen zwischen Elektrolyten oder zwischen Elektrolyt und metallischem Leiter. Betrachten wir den ersten Fall zuerst. Eine Grenzschicht zwischen Elektrolyten mit unterschiedlichen molaren Dichten ρ1 (z) < ρ2 (z) kann man sich mithilfe einer semipermeablen Wand herstellen, die nur f¨ ur eine bestimmte Ionensorte durchl¨assig ist. Als Beispiel osungen, die durch eine nur f¨ ur den SO−− betrachten wir w¨ assrige CuSO4 L¨ 4 Ionenkomplex durchl¨ assige Wand in zwei H¨ alften getrennt ist. Aufgrund der Dichteunterschiede werden die SO−− osung 4 -Ionen durch die Wand von der L¨ ¨ 2 in die L¨ osung 1 wandern. Uber der Wand wird sich dadurch eine elektrische Spannung ausbilden, die man Membranspannung UMemb nennt. Im Gleichgewichtszustand verhindert UMemb das weitere Wandern von SO−− 4 Ionen durch die Wand. Wie groß ist die Membranspannung? Sie wird offensichtlich hervorgerufen durch die Dichteunterschiede der Elektrolyte, d.h. die Ionen besetzen in L¨ osung 1 und L¨osung 2 verschiedene Zust¨ ande des Phasenraums, siehe Kap. 6.4.2. Sind die Temperaturen in den beiden H¨ alften der Zelle mit L¨ osung 1 bzw. 2 gleich, so gilt nach Gleichung (6.132) f¨ ur das Verh¨ altnis ihrer molaren Dichten

ǫ1 − ǫ2 ρ1 (z) = exp − , (8.124) ρ2 (z) kT wobei ǫ die Gesamtenergie eines Ions ist. Bei gleicher Temperatur unterscheiden sich ǫ1 und ǫ2 nur durch die Potenzialdifferenz ǫ1 − ǫ2 = z e (φ1 − φ2 ) = z e UMemb ,

(8.125)

und es ergibt sich UMemb = −

ρ1 (z) RT ρ2 (z) kT ln = ln . ze ρ2 (z) zF ρ1 (z)

Diese Gleichung wird Nernst-Gleichung genannt.

(8.126)

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

209

Werden gleiche Elektrolyte mit verschiedenen molaren Dichten ρ(z) durch eine semipermeable Wand getrennt, baut sich u ¨ber der Wand eine Membranspannung UMemb = φ1 − φ2 = auf.

ρ2 (z) RT ln . zF ρ1 (z)

(8.127)

Tauchen wir in die beiden CuSO4 -L¨ osungen je eine Cu-Elektrode, die leitend miteinander verbunden sind, wird durch den Leiter so lange ein Strom fließen, bis sich die Dichteunterschiede ausgeglichen haben. Dabei geht an der Kathode das Cu aus der Elektrode in die L¨ osung Cu → Cu++ + 2 e− . An der Anode schl¨ agt sich das Cu aus der L¨ osung an der Elektrode nieder Cu++ + 2 e− → Cu . Die Elektronen wandern u ¨ ber den Leiter von der Kathode zur Anode, die Kathode wird d¨ unner, die Anode wird dicker. Ein ¨ ahnlicher Elektronenfluss u ¨ber den Leiter zwischen 2 Elektroden wird auch beobachtet, wenn man in der einen H¨alfte der Zelle den CuSO4 Elektrolyten und die Cu-Elektrode durch einen anderen Elektrolyten mit der zugeh¨ origen Elektrode ersetzt. Das bekannteste Beispiel ist das DaniellElement, bei dem die eine H¨ alfte durch eine ZnSO4 -L¨osung mit Zn-Elektrode ausgetauscht wird. F¨ ur das Entstehen des Elektronenflusses ist nicht notwendig, dass sich die molaren Dichten von Zn++ und Cu++ unterscheiden, d.h. die Membranspannung u ¨ber der semipermeablen Wand kann u.U. verschwinden. Der Grund daf¨ ur, dass trotzdem eine Zellspannung zwischen Anode und Kathode beobachtet wird, sind die unterschiedlichen Eigenschaften der Grenzfl¨ achen zwischen Elektrode und Elektrolyt. An diesen Grenzfl¨achen finden Redox-Reaktionen statt, d.h. die eine Elektrode wird reduziert, die andere Elektrode wird oxidiert. Mit Redox-Reaktionen bezeichnet man den Austausch von Elektronen zwischen zwei Metallen 1 und 2. Nehmen wir an, das Metall 1 gibt an der Kathode Elektronen ab. − M1 → Mz+ 1 +ze .

(8.128)

Das Metall M1 ist ein Reduktionsmittel, bei der Elektronenabgabe wird es selbst oxidiert. Das Metallion Mz+ 2 wird dann an der Anode Elektronen aufnehmen.

210

8 Das elektrische und das magnetische Feld

− Mz+ 2 + z e → M2 .

(8.129)

Das Metallion Mz+ 2 ist ein Oxidationsmittel, bei der Elektronenaufnahme wird es selbst reduziert. Bei der formalen Darstellung einer Redox-Reaktion werden die Elektronen i.A. nicht dargestellt, d.h. eine Redox-Reaktion l¨asst sich schreiben z+ M1 + Mz+ 2 → M1 + M2 .

(8.130)

F¨ ur das Beispiel des Daniell-Elements w¨ urde dies lauten Zn + Cu++ → Zn++ + Cu . Prinzipiell k¨ onnte die Gleichung (8.130) nat¨ urlich auch lauten z+ M2 + Mz+ 1 → M2 + M1 .

(8.131)

In welcher Richtung eine Redox-Reaktion abl¨ auft, h¨angt davon ab, welches der Metalle M1 oder M2 das st¨ arkere Reduktionsmittel ist. Auf jeden Fall ergibt sich die Zellspannung f¨ ur die Reaktion (8.130) nach der Nernst-Gleichung zu UZell =

RT ρ1 (0) ρ2 (z) RT ρ1 (0) R T ρ1 (z) ln = ln − ln . (8.132) zF ρ2 (0) ρ1 (z) zF ρ2 (0) zF ρ2 (z)

Der erste Term beschreibt die Eigenschaft des Elektrodenmaterials, entweder als Reduktionsmittel zu wirken oder durch Reduktion zu entstehen. Diese Eigenschaft aller metallischer Leiter wird festgelegt durch ihre Stellung in der elektrochemischen Spannungsreihe, die die Zellspannung = Normalspannung einer Metallelektrode in einer 1 molaren Elektrolytl¨osung bei einer Temperatur T = 293 K gegen eine Wasserstoffelektrode angibt (H)

Ui

=

ρi (0) RT ln . zF ρH (0)

(8.133)

In der Tabelle 8.1 sind einige Beipiele f¨ ur die Normalspannungen zwischen Metall und Wasserstoff zusammengestellt. Vergleicht man zwei Metalle, so ist das (H) mit der kleineren Normalspannung Ui ein Reduktionsmittel und das mit der (H) ein Oxidationsmittel, es entsteht durch Regr¨ oßeren Normalspannung Uj duktion. F¨ ur die Zellspannung in einer Zelle mit beliebigen Metallelektroden ergibt sich daher  RT  ρ1 (z) (H) (H) UZell = U1 − U2 − ln . (8.134) zF ρ2 (z) Der letzte Term auf der rechten Seite von Gleichung (8.134) ber¨ ucksichtigt den Einfluss, den unterschiedliche molare Dichten der Elektrolyte auf die Zellspannung haben. Sind die Dichten gleich, ρ1 (z) = ρ2 (z), so ergibt dieser Term keinen Beitrag, und die Zellspannung ist gleich der Galvani-Spannung

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

211

Tabelle 8.1. Die Normalspannungen zwischen Metall und Wasserstoff Metall NormalMetall Normalspannung (V) spannung (V)

Metall Normalspannung (V)

Li K Ca Na Mg Al

Cu Ag Hg Au Pt

-3,02 -2,92 -2,76 -2,71 -2,40 -1,69

Mn Zn Cr Fe Pb

-1,18 -0,76 -0,74 -0,44 -0,13

(H)

UZell = UG = U1

(H)

− U2

.

0,35 0,81 0,86 1,36 1,60

(8.135)

Sie l¨ asst sich also bei Zimmertemperatur direkt aus der elektrochemischen Spannungsreihe ablesen. F¨ ur das Daniell-Element erh¨alt man auf diese Weise (H)

(H)

UG = UCu − UZn = 1.1 V. Wir haben in diesem Kapitel daher drei Mechanismen kennen gelernt, mit deren Hilfe sich Spannungselemente konstruieren lassen, die in einer elektrischen Masche ber¨ ucksichtigt werden m¨ ussen, wie es durch Gleichung (8.109) geschehen ist. Anmerkung 8.2.1: Ist es wichtig, dass die Metallionen im Elektrolyten durch Ionisation des gleichen Metalls entstehen, aus dem die Elektrode besteht? Im Prinzip nicht, denn man kann immer einen beliebigen Elektrolyten ersetzen durch eine Elektrolytkette mit semipermeablen W¨ anden, deren Membranspannungen null sind. Dadurch ließe sich erreichen, dass Elektrode und Elektrolyt aus dem gleichen Metall sind und die Zellspannung unabh¨ angig vom Elektrolyten wird. Allerdings wird sich bei der Redox-Reaktion mit einem beliebigen Elektrolyten auf der Anode das Metall aus dem Elektrolyten niederschlagen, w¨ ahrend aus der Kathode das Metall in den Elektrolyten wandert und dort die urspr¨ unglichen Metallionen ersetzt. Anode und Elektrolyt ver¨ andern sich, sie werden “vergiftet”, und damit ver¨ andert sich auch die Zellspannung.

8.2.4 Der elektrische Strom in Gasen Gase besitzen normalerweise keine freien Ladungstr¨ager, diese m¨ ussen durch Ionisation der Gasatome erst erzeugt werden. Die Ionisation der Gasatome geschieht durch eine gen¨ ugend große Energiezufuhr von außen, i.A. mithilfe der radioaktiven Untergrundstrahlung oder der H¨ohenstrahlung, die beide auf der Erdoberfl¨ ache immer vorhanden sind, siehe Kap. 16.5. Gen¨ ugt diese Energiezufuhr nicht, dann muss man sie k¨ unstlich verst¨arken, z.B. durch

212

• •

8 Das elektrische und das magnetische Feld

R¨ ontgenstrahlung → Photoionisation im Gas, Elektronenstrahlen → Elektronenstoßionisation im Gas.

Bei diesen Ionisationsprozessen werden im Gas die gleichen Ladungsdichten − agern erzeugt. Positive Lavon positiven (ρ+ C ) und negativen (ρC ) Ladungstr¨ dungstr¨ ager sind immer positive Ionen Xz+ , negative Ladungstr¨ager sind entweder Elektronen e− oder negative Ionen Yz− , die durch Anlagerung von Elektronen an die ungeladenen Gasatome entstehen. Es gilt − ρ+ C + ρC = 0

− , ρ+ C − ρC = 2 ρC .

(8.136)

Diese Ladungstr¨ ager werden rekombinieren, wenn sie nicht mithilfe eines elektrischen Felds voneinander getrennt werden. Die Rekombinationsrate ist proportional zu ρ2C , da immer nur Paare von Ladungstr¨agern rekombinieren k¨ onnen. Wir haben daher einen konstanten Bildungsprozess von Ladungen durch Zufuhr von Energie dρC = c↑ dt

(8.137)

und einen von ρ2C abh¨ angigen Vernichtungsprozess von Ladungen durch Rekombination dρC = −c↓ ρ2C . dt

(8.138)

Insgesamt ver¨ andert sich die Ladungsdichte im Gas gem¨aß dρC = c↑ − c↓ ρ2C , dt und dies ergibt eine station¨ are Ladungsdichte  c↑ dρC f¨ ur =0. ρC = ↓ c dt

(8.139)

(8.140)

Diese Bedingung ist wegen der Kontinuit¨ atsgleichung (8.95) a¨quivalent zu  j C · dA = 0 . (8.141) Das Gas ist also nach außen hin ungeladen, es zeigt daher f¨ ur kleine Spannungen U Ohm’sches Verhalten: U = RΩ I. Der Ohm’sche Widerstand ergibt sich wie bei einem metallischen Leiter zu  1 l c↓ /c↑ RΩ = rΩ mit rΩ = = + . (8.142) + − A ρC (u − u ) u − u− Die Beweglichkeit u+ der positiven Ionen im Gas ist um etwa 4 Gr¨oßenordnungen h¨ oher als die in einem Elektrolyten, weil die Gasdichte ρ sehr viel

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

213

kleiner ist. Sie betr¨ agt etwa u+ ≈ 5 · 10−4 m2 V−1 s−1 . F¨ ur negativ geladene − Ionen ist |u | etwa doppelt so groß. Die Beweglichkeit der Elektronen im Gas ist dagegen abh¨ angig von der elektrischen Feldst¨arke; sie l¨asst sich schreiben u− e =−

e τ (E) , 2 me

(8.143)

wobei die Zeit τ (E) zwischen 2 Kollisionen zwischen Elektron und den Gasatomen mit der Feldst¨ arke E und der Gasart variiert. Ein repr¨asentativer Wert −1 2 −1 −1 ist |u− e | ≈ 5·10 m V s , d.h. die Elektronen bewegen sich etwa 1000-mal schneller durch das Gas als die Ionen. Die Gr¨ unde f¨ ur die G¨ ultigkeit von Gleichung (8.141) sind f¨ ur die Gasleitung verschieden von denen f¨ ur die metallische Leitung. Im letzten Fall fließt eine gleiche und im Prinzip unbeschr¨ ankte Menge von Elektronen durch die Eingangs- und Ausgangsfl¨ ache des metallischen Leiters. Im Fall der Gasleitung sind zwar auch die Ladungsstromdichten von positiven bzw. negativen Ladungstr¨ agern durch die Eingangs- und Ausgangsfl¨ache gleich, aber sie sind durch die Gleichung (8.140) beschr¨ ankt. Dies hat zur Folge, dass ab einer gewissen Spannung der Strom nicht mehr mit der Spannung ansteigen kann, er erreicht ein “Plateau”. Die elektrische Leitung durch ein Gas weicht dann von einem rein Ohm’schen Verhalten ab. Bei noch h¨oheren Spannungen tritt schließlich ein neues Ph¨ anomen auf, die Sekund¨ arionisation. W¨ ahrend der Zeit τ (E), w¨ ahrend der sich ein Elektron im elektrischen Feld u ange λ (Gleichung (6.50)) ungest¨ort bewegt, gewinnt ¨ ber die mittlere Wegl¨ es an kinetischer Energie Wkin = e E λ .

(8.144)

In einem Gas ist die mittlere Wegl¨ ange nach Gleichung (6.50) abh¨angig von dem Gasdruck P λ = λ0

P0 , P

(8.145)

wobei λ0 und P0 die Wegl¨ ange und der Gasdruck unter Normalbedingungen sind. Dies bedeutet, dass abh¨ angig von der reduzierten Feldst¨ arke E/P die kinetische Energie der Elektronen Werte erreichen kann Wkin > Wion ,

(8.146)

die gr¨ oßer sind als die zur Ionisation eines Gasatoms notwendige Energie Wion . Dann tritt Sekund¨ arionisation auf e− + A → 2 e− + A+ ,

(8.147)

und die Anzahl der Ladungstr¨ ager wird schlagartig gr¨oßer. Die Vergr¨oßerung kann wie folgt abgesch¨ atzt werden.

214

8 Das elektrische und das magnetische Feld

L¨ angs der Wegstrecke dx erh¨ oht sich die Anzahl der Elektronen um dn = γ n dx ,

(8.148)

mit dem Ionisierungsverm¨ ogen γ = γ(E/P ), das eine Funktion der reduzierten Feldst¨ arke ist. Durch Integration u ur ¨ ber die gesamte Wegl¨ange l ergibt sich f¨ die am Ende des Wegs vorhandene Elektronenahl n n = n 0 eγ l .

(8.149)

Die Anzahl der Elektronen w¨ achst exponentiell von der urspr¨ unglich vorhandenen Zahl n0 auf die Zahl n an. Die Anzahl der neu gebildeten positiven Ionen betr¨ agt n0 (eγ l − 1), d.h. sie ist gleich dem Zuwachs der Elektronen n − n0 . Positive Ionen werden zur Kathode wandern, bei dem Aufprall auf die Kathode erzeugen sie u.U. mit der Wahrscheinlichkeit δ ein neues Elektron (Stoßionisation). Diese neuen Elektronen vergr¨oßern nach dem gleichen Mechanismus der Sekund¨ arionisation den Elektronenstrom, f¨ ur die Gesamtzahl an Elektronen nach der Wegl¨ ange l ergibt sich   i . (8.150) δ eγ l − 1 n = n 0 eγ l i

  F¨ ur δ eγ l − 1 < 1 besitzt diese Summe einen Grenzwert n = n0

eγ l . 1 − δ (eγ l − 1)

(8.151)

Das bedeutet, die Anzahl der Elektronen aus Sekund¨arionisation wird durch den Prozess der Stoßionisation in der Kathode noch einmal um den Faktor  −1 1 − δ(eγ l − 1) vergr¨ oßert. Dieser Faktor wird f¨ ur   δ eγ l − 1 = 1



γ=

δ+1 1 ln l δ

(8.152)

unendlich, die Gesamtzahl der Elektronen w¨ achst u ¨ ber alle Grenzen unabh¨ angig von der urspr¨ unglich vorhandenen Elektronenzahl n0 . Diese Bedingung definiert den Einsatz der “selbst¨ andigen Entladung” beim Strom durch ein Gas. Die daf¨ ur ben¨ otigte “Z¨ undspannung” Uz ergibt sich aus Gleichung (8.152), sie h¨ angt von dem Gasdruck, der Gasart, dem Elektrodenmaterial und der Elektrodengeometrie in dem Gasgef¨aß ab. Da der elektrische Widerstand mit der Ladungstr¨agerdichte abnimmt, ergibt sich im Bereich der selbst¨ andigen Entladung das merkw¨ urdige Ph¨anomen, dass der Strom mit sinkender Spannung trotzdem steigt, der Leitungswiderstand wird negativ. Die gesamte Strom-Spannungs-Kennlinie f¨ ur den elektrischen Strom durch ein Gas ist in Abb. 8.13 gezeigt. Wir unterscheiden: •

(1) Ohm’scher Bereich: Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Vernichtung der Ladungstr¨ ager.

8.2 Der station¨ are elektrische Strom

I (4) (3) (2) (1)

• • •

U

215

Abb. 8.13. Der elektrische Strom I einer Gasentladung als Funktion der angelegten Spannung U . Bei kleinen Spannungen (1) beteht der Strom aus dem immer im Gas vorhandenen freien Ladungstr¨ agern und zeigt Ohm’sches Verhalten. Im Bereich (2) ist der Strom konstant, weil keine neuen Ladungstr¨ ager gebildet werden. Dagegen entstehen im Bereich (3) durch Sekund¨ arionisation neue Ladungstr¨ ager und der Strom steigt wieder mit der Spannung. Im Bereich (4) hat die Gasentladung gez¨ undet, d.h. es entstehen auch ohne Spannungserh¨ ohung immer mehr freie Ladungstr¨ ager

(2) S¨ attigungsbereich: Begrenzung des Stroms durch endliche Ladungstr¨ agerdichten. (3) Sekund¨ arionisationsbereich: Vergr¨ oßerung der Ladungstr¨agerdichten durch Sekund¨ arionisation. (4) Bereich der selbst¨ andigen Entladung.

Der Bereich der selbst¨ andigen Entladung sollte vermieden werden, da in diesem Bereich der Strom unkontrolliert w¨ achst und u.U. das Ger¨at zerst¨ort. Man erreicht dies, indem die Gasstrecke in Reihe mit einem Ohm’schen Widerstand geschaltet wird, der die an der Gasstrecke liegende Spannung beim Erreichen der selbst¨ andigen Entladung so stark reduziert, dass die Sekund¨arionisation zusammenbricht, weil die Feldst¨ arke nicht mehr ausreicht (γ = 0). Die Mechanismen, die bei dem Stromfluss durch ein Gas beobachtet werden, haben auch wichtige technische Anwendung gefunden: • • •

Die Sekund¨ arionisation ist mit der Emission von Licht verbunden und damit die Basis f¨ ur viele Lichtquellen (Leuchtstoffr¨ohre, He-Ne-Laser). Die Vervielfachung der Elektronen im Sekund¨arionisationsbereich kann zur Verst¨ arkung von Signalen genutzt werden (Bildverst¨arker). Einen Spezialfall stellt die elektrische Leitung bei verschwindender Gasdichte dar. Dieser Fall erfordert die Injektion von Ladungstr¨agern in das elektrische Feld, das mithilfe einer Beschleunigungsspannung U erzeugt wird. Dies ist das Prinzip eines Teilchenbeschleunigers, ist aber auch in der R¨ ontgenr¨ohre verwirklicht oder im Fernsehger¨at. F¨ ur die Biologie ist besonders wichtig, dass die Beschleunigung von Ladungstr¨agern (z.B. ihr Abbremsen in der Anode einer R¨ ontgenr¨ ohre oder die Zentripetalbeschleunigung in einem Hochenergie-Kreisbeschleuniger) die Ursache f¨ ur die Emission von kurzwelligem R¨ontgenlicht ist, der sog. Bremsstrahlung. Auf den Entstehungsprozess der Bremsstrahlung werden wir in Kap. 15.3.1 eingehen.

216

8 Das elektrische und das magnetische Feld

8.3 Magnetostatik Es gibt in der Natur eine weitere Kraft, die magnetische Kraft F L , die mithilfe eines magnetischen Felds B beschrieben werden kann. Dass diese Kraft auch ihre Ursache in den elektrischen Ladungen besitzt, wurde im 19. Jahrhundert zum ersten Mal von Ørsted (1777 - 1851) bewiesen. Dabei handelt es sich um die Beobachtung, dass ein elektrischer Strom durch einen metallischen Leiter eine Wirkung auf ein magnetisiertes Eisenst¨ uck aus¨ ubt. Die Existenz von Metallen, die sich magnetisieren lassen, war um ca. 1000 v.Chr. bereits den Chinesen bekannt. Dabei handelt es sich um die Metalle Fe, Ni und Cr, die als magnetisierte St¨ abe sich bevorzugt in eine Richtung auf der Erdoberfl¨ache ausrichten, und diese Ausrichtung l¨asst sich durch die Anwesenheit eines weiteren magnetisierten Stabs ver¨andern. Daraus ergeben sich die Folgerungen: • •

Zwischen zwei Magnetst¨ aben wirkt eine Kraft, die entweder anziehend oder abstoßend ist, je nachdem welche Orientierung die Magnetst¨abe relativ zueinander besitzen. Die Erde ist selbst ein “Magnetstab”, unter dessen Wirkung sich ein anderer Magnetstab bevorzugt orientiert.

Die letzte Folgerung hat ungeheure Bedeutung f¨ ur die Entwicklung der Seefahrt besessen, denn sie erlaubt die Festlegung einer Richtung auf der See ohne Bezug zu Fixpunkten auf dem Land. Die Tatsache, dass die magnetische Kraft F L anziehend und abstoßend sein kann, f¨ uhrt sofort zu der Frage, ob es in der Natur auch zwei Typen von magnetischen Ladungen gibt. Die Existenz einer magnetischen Ladung k¨ onnte bewiesen werden, wenn es gel¨ ange, einen Magnetstab so zu teilen, dass seine beiden H¨ alften je eine der magnetischen Ladungen tr¨agt, auf die dann entweder anziehende oder abstoßende Kr¨ afte wirken. Dieses Experiment wird in jeder Vorlesung zur Experimentalphysik durchgef¨ uhrt, es ist nie gelungen, es konnte nie die Existenz getrennter magnetischer Ladungen nachgewiesen werden. In der Natur gibt es keine magnetischen Ladungen, welche die Ursache der magnetischen Kraft F L sind. Ein Magnetstab ist daher immer ein magnetischer Dipol mit einem Nordpol an dem einen Ende und einem S¨ udpol an dem anderen Ende. Dabei ist die Kraft zwischen zwei parallel nebeneinander positionierten Dipolen dann anziehend, wenn sich Nordpol und S¨ udpol gegen¨ uber liegen. Sie ist dagegen abstoßend, wenn Nordpol auf Nordpol und S¨ udpol auf S¨ udpol stoßen. Daraus ergibt sich die Definition von Nordpol und S¨ udpol eines Magnetstabs. Der Magnetstab hat seinen Nordpol an dem Ende, das auf der Erdoberfl¨ache zum geografischen Nordpol der Erde zeigt, w¨ ahrend der S¨ udpol des Magnetstabs zum geografischen S¨ udpol der Erde zeigt.

8.3 Magnetostatik

217

Daraus folgt wegen des Zusammenhangs zwischen der Orientierung von zwei magnetischen Dipolen und ihren Pollagen: Der magnetische S¨ udpol der Erde liegt in der N¨ahe ihres geografischen Nordpols, der magnetische Nordpol der Erde liegt in der N¨ahe ihres geografischen S¨ udpols.

8.3.1 Das magnetische Feld Analog zur Gleichung (8.73) werden die Eigenschaften eines magnetischen Dipols bestimmt durch sein magnetisches Dipolmoment pmag , dessen Richtung pmag festgelegt ist durch die Richtung vom S¨ udpol zum Nordpol. Sp¨ater werden wir lernen, dass im atomaren Bild die magnetischen Dipole durch atomare Kreisstr¨ ome entstehen und daher der Betrag des magnetischen Diarke des Kreisstroms I und der polmoments |pmag | gegeben ist durch die St¨ von ihm eingeschlossenen Fl¨ ache A, siehe Gleichung (8.186). Ein magnetischer Dipol besitzt ein magnetisches Dipolmoment pmag = I A ,

[pmag ] = A m2 .

(8.153)

Das magnetische Feld, das von einem magnetischen Dipol erzeugt wird, hat Eigenschaften analog zu dem elektrischen Feld Gleichung (8.63), das von einem elektrischen Dipol erzeugt wird. Im elektrischen Fall tritt als Gr¨oßenkonstante die elektrische Feldkonstante ǫ0 auf, falls alle Gr¨oßen die vom SI vorgeschriebenen Einheiten besitzen. Im magnetischen Fall nimmt diese Stelle die magnetische Feldkonstante µ0 ein. Zwischen elektrischer und magnetischer Feldkonstante besteht in SI folgender Zusammenhang: Im SI gilt f¨ ur die magnetische Feldkonstante µ0 die Beziehung µ0 ǫ0 =

1 , c2

(8.154)

wobei c = 3 · 108 m s−1 die Vakuumlichtgeschwindigkeit ist. Daraus ergibt sich µ0 = 1,257 · 10−6 = 4π · 10−7 V s A−1 m−1 .

(8.155)

F¨ ur das von einem magnetischen Dipol im Fernraum erzeugte Dipolfeld erhalten wir in Analogie zu dem elektrischen Feld (8.63) B=

3 ( z · r) r − z µ0 p 4π mag r3

, [B] = V s m−2 = T “Tesla” . (8.156)

218

8 Das elektrische und das magnetische Feld

N

S

Abb. 8.14. Das elektrische Feld eines elektrischen Dipols (links), und das magnetische Feld eines magnetischen Dipols (rechts). Beachten Sie die unterschiedlichen Felder im Inneren der Dipole, die durch die Existenz elektrischer Ladungen, aber Nichtexistenz magnetischer Ladungen verursacht werden

Wir m¨ ussen aber ¨ außerst vorsichtigt sein, um die Analogien zwischen elektrischen und magnetischen Feldern nicht zu weit zu treiben. Die Beziehung (8.156) ist korrekt im Fernraum, d.h. in gen¨ ugend großem Abstand vom Dipol. Die Analogie gilt dagegen nicht mehr im Inneren der Dipole, und der fundamentale Grund ergibt sich aus der Tatsache, dass es zwar elektrische, aber keine magnetischen Ladungen gibt. Daher k¨ onnen die magnetischen Feldlinien nicht an den Polen eines Dipols enden, so wie die elektrischen Feldlinien an den Ladungen eines elektrischen Dipols enden. Diese Unterschiede zwischen magnetischem und elektrischem Dipol sind in Abb. 8.14 dargestellt. Magnetische Feldlinien sind immer in sich geschlossen, sie besitzen keinen Anfang und kein Ende. Man sagt: Das magnetische Feld ist quellenfrei. Dies l¨ asst sich mithilfe des Gauss’schen Gesetzes mathematisch folgendermaßen formulieren: F¨ ur das magnetische Feld B gilt  A

B · dA = 0 ,

(8.157)

8.3 Magnetostatik

219

da es in der Natur keine magnetischen Ladungen gibt. Im Rahmen der Analogie zwischen elektrischem und magnetischem Dipol sind auch die folgenden Aussagen noch korrekt: •

In einem ¨ außeren magnetischen Feld B aus besitzt ein magnetischer Dipol pmag die potenzielle Energie Wpot = −pmag · B aus .



(8.158)

Im statischen Gleichgewicht wird sich der Dipol immer in Richtung der Feldlinien einstellen. Das Drehmoment, das ein magnetischer Dipol pmag im ¨außeren Magnetfeld B aus erf¨ ahrt, ergibt sich zu M = pmag × B aus .

(8.159)

Die Bedeutung des magnetischen Felds w¨ are allerdings gering geblieben, wenn sich nicht in den Versuchen von Ørsted gezeigt h¨atte, dass Magnetfelder auch durch station¨ are elektrische Str¨ ome entstehen. Fließt ein konstanter Strom I durch einen geraden metallischen Leiter, also einen Draht mit Radius R⊥ , so entsteht ein Magnetfeld B, dessen Feldlinien kreisf¨ormig um den Draht herumlaufen. Auf der Kreislinie ist die magnetische Feldst¨arke konstant. Dies kann experimentell leicht mithilfe eines magnetischen Dipols nachgepr¨ uft werden, indem man das Drehmoment misst, das auf den Dipol in diesem Feld wirkt. Ist das Magnetfeld auf den Kreislinien konstant und proportional zu dem Strom I, dann ergibt sich durch die geschlossene Integration u ¨ ber die Kreislinie r⊥ > R⊥  B · ds = B 2π r⊥ ∝ I , (8.160) Kreis

wobei die Proportionalit¨ atskonstante die magnetische Feldkonstante ist. Ein geradliniger, station¨ arer Strom I erzeugt ein kreisf¨ormig geschlossenes Magnetfeld B um den Strom B=

µ0 I . ϕ 2π r⊥

(8.161)

 = −sin ϕ x  + cos ϕ y ein Einheitsvektor, der die Richtung des Dabei ist ϕ Magnetfelds um den stromf¨ uhrenden Leiter in z-Richtung angibt, siehe Gleichung (2.22). Dieses Feld ist inhomogen. Zwar ist seine St¨arke auf dem Kreis mit Radius r⊥ konstant, aber das Feld ¨ andert auf diesem Kreis mit ϕ seine Richtung. Wie man ein homogenes Magnetfeld erzeugen kann, werden wir im n¨ achsten Kapitel lernen.

220

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Die Gleichung (8.161) ist nur der Spezialfall des Amp`ere’schen Gesetzes f¨ ur einen station¨ aren Strom. Allgemein gilt f¨ ur beliebige Str¨ome Itot : Amp` ere’sches Gesetz: Das Magnetfeld B, integriert u ¨ ber einen beliebigen geschlossenen Weg, ergibt den Gesamtstrom Itot , der durch die von dem Weg eingeschlossene Fl¨ache fließt   B · ds = µ0 j C · dA = µ0 Itot . (8.162) s

A

¨ Dieses Amp`ere’sche Gesetz f¨ ur das Magnetfeld ist das Aquivalent zu dem Gauss’schen Gesetz (8.19) f¨ ur das elektrische Feld: Es verkn¨ upft den elektrischen Strom mit dem zugeh¨ origen magnetischen Feld. Der station¨are Strom ist daher die Ursache f¨ ur das statische magnetische Feld, so wie die station¨are elektrische Ladung die Ursache f¨ ur das statische elektrische Feld ist. Aus der Gleichung (8.162) folgt auch, dass das Magnetfeld u.U. in dem Leiter selbst existiert. Das h¨ angt davon ab, wie sich der Strom im Leiter verteilt. Betrachten wir einen normalen metallischen Leiter, so ist die Stromdichte ur einen geschlossenen Weg s mit jC u ¨ ber den Leiterquerschnitt konstant. F¨ 2 r⊥ < R⊥ und der eingeschlossenen Fl¨ ache A = π r⊥ innerhalb des Leiters gilt  2 r (8.163) I = j C · dA = ⊥2 Itot , R⊥ A

wenn der Gesamtstrom durch den Leiter Itot ist. Daher ergibt das Amp`ere’sche Gesetz B 2π r⊥ = µ0

2 r⊥ 2 Itot R⊥



B=

µ0 r⊥ . 2 Itot ϕ 2π R⊥

(8.164)

Das heißt, die Feldst¨ arke steigt innerhalb des Leiters linear mit r⊥ an. Auf der anderen Seite existieren auch Leiter, z.B. die Supraleiter vom Typ 1, bei denen der Stromfluss auf eine d¨ unne Oberfl¨achenschicht des Leiters beschr¨ ankt ist. In diesem Fall ergibt das Amp`ere’sche Gesetz B=0

f¨ ur

r⊥ < R⊥ .

(8.165)

Supraleiter vom Typ 1 besitzen kein inneres Magnetfeld. Anmerkung 8.3.1: In der Gleichung (8.153) wird das magnetische Moment eines Stabmagneten mit Querschnittsfl¨ ache A zur¨ uckgef¨ uhrt auf einen Kreisstrom I, ohne dass wir von diesem Kreisstrom makroskopisch etwas beobachten. In der Tat ¨ ergibt sich I erst durch Uberlagerung der mikroskopischen Elektronenstr¨ ome in der Atomh¨ ulle. Insofern sollte Gleichung (8.153) besser als Definititionsgleichung f¨ ur einen (nicht messbaren) makroskopischen Kreisstrom interpretiert werden denn als Bestimmungsgleichung f¨ ur das Dipolmoment.

8.3 Magnetostatik

221

8.3.2 Die Lorentz-Kraft auf eine bewegte Ladung Wir haben das magnetische Feld B im letzten Kapitel untersucht. Mit dem Feld verkn¨ upft ist eine magnetische Kraft F L , deren Wirkung wir bisher nur auf magnetische Dipole kennen. Die Frage ist: Wirkt diese Kraft auch auf elektrische Ladungen? Auf eine ruhende Ladung sicherlich nicht. Ein metallischer Leiter besitzt z.B. viele frei bewegliche Elektronen. Trotzdem fließt im magnetischen Feld der Erde durch ihn kein Strom, wenn der Leiter ruht. Ein Magnetfeld u ¨ bt auf ruhende elektrische Ladungen keine Kraft aus. Der Strom fließt aber in dem Augenblick, wenn sich der Leiter durch das Magnetfeld bewegt. Hierbei ist die Bewegungsrichtung relativ zur Richtung des Magnetfelds von entscheidender Bedeutung. Ist die Geschwindigkeit v des Leiters, und damit auch die der Leitungselektronen, parallel zur Richtung des Magnetfelds, fließt kein Strom, d.h. es existiert keine Kraft auf die Elektronen. Die gr¨ oßte Kraft wird beobachtet, wenn Geschwindigkeit und Magnetfeld senkrecht zueinander stehen. Daraus ergibt sich f¨ ur die Kraft, die wir Lorentz-Kraft nennen: Ein Magnetfeld B u ¨ bt auf eine sich mit der Geschwindigkeit v bewegende elektrische Ladungen q die Lorentz-Kraft F L = q (v × B)

(8.166)

aus. In Abb. 8.15 ist die Richtungsabh¨ angigkeit dieser Kraft schematisch dargestellt, wenn durch einen metallischen Leiter ein Strom aus Elektronen mit

e

e FL v (a)

v (b)

Abb. 8.15. Die Lorentz-Kraft F L auf ein Elektron, das sich mit Geschwindigkeit v durch einen geraden Leiter bewegt. In (a) zeigt das magnetische Feld B aus der Zeichenebene, in (b) in die Zeichenebene. Beachten Sie, dass das Elektron negative Ladung besitzt

222

8 Das elektrische und das magnetische Feld

q = −n e in Richtung v fließt. Die Richtung des Magnetfelds steht in diesem Bild senkrecht auf der Bildebene. Es sind gezeigt die Pfeilspitzen ⊙, wenn B aus der Bildebene herauszeigt, und die Pfeilenden ⊗, wenn das Magnetfeld in die Bildebene hineinzeigt. Nat¨ urlich lassen sich diese Bilder auch so lesen, dass sie die Elektronengeschwindigkeiten v angeben, wenn der Leiter insgesamt in Richtung von F L bewegt wird. Beachten Sie, dass im Fall der Elektronen ihre Geschwindigkeit v und die zugeh¨ orige Stromdichte j C entgegengesetzt gerichtet sind. Einen elektrischen Strom durch einen Leiter beschreiben wir normalerweise  durch I = j C · dA und nicht durch den Term q v, der in Gleichung (8.166) auftaucht. Beide lassen sich jedoch ineinander umrechnen, und zwar gilt   q = ρC dV = ρC dA · l , (8.167) wobei A die Querschnittsfl¨ ache des Leiters ist und l seine L¨ange. Die Richtung von l soll dieselbe sein wie die von v, und daher ergibt sich f¨ ur den Term q v unter Ber¨ ucksichtigung, dass alle Elektronen die gleiche Driftgeschwindigkeit v besitzen 

qv = ρC dA · l v (8.168)



 j C · dA l = I l . = ρC v · dA l = F¨ ur die Lorentz-Kraft auf einen mit dem Strom I durchflossenen Leiter, der sich mit der Leiterl¨ ange l in einem homogenen Magnetfeld B befindet, folgt daraus F L = I (l × B) .

(8.169)

Werden die Elektronen in Abb. 8.15 nicht in dem Leiter gef¨ uhrt, sondern k¨ onnen sie sich frei in der Ebene senkrecht zu B bewegen, werden sie durch die Lorentz-Kraft aus ihrer Bewegungsrichtung abgelenkt. Da die LorentzKraft immer senkrecht auf v steht, ergibt sich als resultierende Trajektorie der Elektronen eine Kreisbahn, d.h. die Lorentz-Kraft u ¨ bernimmt die Aufgabe der Zentripetalkraft, um die Elektronen auf die Kreisbahn zu zwingen. F¨ ur die Zentripetalbeschleunigung ergibt sich nach Gleichung (2.28) und mithilfe des 2. Newton’schen Axioms aZP = −

e v2 = − vB . r m

(8.170)

Daraus ergibt sich f¨ ur den Bahnradius der Elektronen r=

p , eB

(8.171)

8.3 Magnetostatik

223

wobei p = m v der Impuls der Elektronen ist. Umgekehrt kann man durch Messung von r und B bei bekannter Teilchenladung q den Impuls dieses Teilchens bestimmen p = qrB ,

(8.172)

Wir wollen jetzt noch zwei weitere wichtige Anwendungen der Lorentz-Kraft besprechen. Der Hall-Effekt Der Hall-Effekt wird benutzt zur Messung der Magnetfeldst¨arke B, f¨ ur die wir bisher kein Messverfahren angegeben haben. Bewegen sich Ladungstr¨ager, und wir wollen Elektronen betrachten, durch einen fixierten, d.h. unbeweglichen Leiter im Magnetfeld, dann tritt an den Leiterseiten eine Querspannung auf, die Hall-Spannung UH genannt wird. Zur Erkl¨ arung k¨ onnen wir auf Abb. 8.15 zur¨ uckgreifen. Auf die sich mit v bewegenden Elektronen wirkt die Kraft F L . Bei einem ausgedehnten Leiter mit der L¨ ange l, der Breite b und der Dicke d werden die Elektronen unter dem Einfluss dieser Kraft in Abb 8.15a auf die rechte Seite abgelenkt, es entsteht − . Auf der linken Seite bleiben die nichtbedort eine negative Ladungsdichte σC weglichen Gitterr¨ umpfe zur¨ uck, es entsteht dort eine positive Ladungsdichte + . Daher entsteht u σC ¨ ber dem Leiter von links nach rechts ein elektrisches Feld E = ǫ0 σC =

UH , b

das eine weitere, diesmal elektrische Kraft auf ein Elektron bewirkt FC = −e E = −e

UH . b

Diese Kraft ist entgegengesetzt gerichtet zur magnetischen Kraft auf die n Elektronen, die wir mithilfe der Gleichung (8.169), d.h. des durch den Leiter fließenden Stroms I ausdr¨ ucken FL = I l B . Im Gleichgewicht gilt FC + FL = 0



ne

UH = I lB , b

und die Hall-Spannung ergibt sich zu UH = −

1 B , I d ρ− C

(8.173)

wenn ρ− C = −n e/V = −n e/(b l d) die Ladungsdichte des Leiters ist. d ist die Dicke des Leiters, d.h. seine Ausdehnung in Richtung des Magnetfelds B. Das

224

8 Das elektrische und das magnetische Feld

bedeutet, dass die Hall-Sonde richtig orientiert in das Magnetfeld gehalten werden muss. Und die Hall-Spannung ist positiv, wenn die Ladungstr¨ager negativ geladen sind. Sie ist aber negativ bei positiv geladenen Ladungstr¨agern, und daher kann man mithilfe einer Hall-Sonde das Ladungsvorzeichen der Ladungstr¨ ager in einem Leiter bestimmen. Bei einem normalen Leiter ist die Dichte ρ− C der freien Elektronen so groß, dass die Hall-Spannung i.A. nicht messbar ist. Verwendet man aber einen Halbleiter mit einer wesentlich geringeren Dichte an freien Ladungstr¨agern, dann wird die Hall-Spannung messbar, und man kann mit einer Hall-Sonde die St¨ arke des Magnetfelds B bestimmen. Die Definition der Stromeinheit [I] = A Diese Anwendung der Lorentz-Kraft erlaubt es, die Messvorschrift festzulegen, mit der die Gr¨ oße des elektrischen Stroms I = 1 A gemessen wird. Betrachten wir zwei parallele Leiter, durch die zwei gleiche Str¨ome I1 = I2 = I fließen. Auf diese Leiter wirkt die Lorentz-Kraft F L = I (l × B) mit B = Mit dem Einheitsvektor  l = l/|l| ergibt dies FL =

µ0 I . ϕ 2π r⊥

µ0 l 2   , I (l × ϕ) 2π r⊥

(8.174)

(8.175)

 anziehend zwischen den Leitern wobei die Richtung der Kraft F L =  l×ϕ wirkt. Der Abstand der Leiter ist r⊥ = d, die L¨ange der Leiter ist l. Wir erhalten damit folgende Definition der Basismaßeinheit A im SI: •

Die Einheit der elektrischen Stromst¨ arke ist [I] = A.

Die Stromst¨ arke I hat den Wert 1 A, wenn zwei im Abstand d = 1 m angeordnete parallele Leiter vom gleichen Strom I durchflossen werden und pro uben. Leiterl¨ ange l = 1 m eine Kraft von F = 2 · 10−7 N aufeinander aus¨ Mit dieser Definition der elektrischen Stromeinheit besitzen wir jetzt auch die endg¨ ultige Einheit f¨ ur die elektrische Ladung [q] = A s = C, die unsere vorl¨ aufige Einheit [q] = 6,24 · 1018 e abl¨ ost. 8.3.3 Messung von Strom und Spannung Ger¨ ate zur Messung von elektrischem Strom und elektrischer Spannung heißen Amperemeter bzw. Voltmeter. Das heute noch am h¨augfigsten verwendete Messger¨ at ist das Drehspulinstrument, dessen wesentlichsten Teile eine Spule und das homogene Magnetfeld zwischen den Polen eines Hufeisenmagneten sind. F¨ ur die Messung eines Stroms I mit dem Drehspulinstrument wird benutzt, dass

8.3 Magnetostatik

• •

225

der Strom I in einer Spule ein magnetisches Moment pmag = n I A erzeugt, wobei n die Anzahl der Spulenwindungen ist, in einem homogenen Magnetfeld B der magnetische Dipol ein Drehmoahrt. ment M = pmag × B erf¨

Die Messung des Drehmoments M entspricht daher einer Messung des Stroms I. Das Drehmoment wird gemessen durch Vergleich mit einem mechanischen Drehmoment, das nach Gleichung (4.10) entsteht, wenn man einen K¨orper um den Winkel α verdreht. Als K¨ orper wird in einem Drehspulinstrument eine Spiralfeder verwendet. Und diese Feder wird verdreht, bis mechanisches Drehmoment und Drehmoment auf die Spule gleich sind. Dann gilt

Φt AnB I = aI , (8.176) α= G d.h. nach der Eichung des Instruments zur Festlegung der Ger¨atekonstante a gen¨ ugt eine Winkelmessung, um den elektrischen Strom zu bestimmen. Dasselbe Verfahren wird auch verwendet, um die Spannung zu bestimmen, d.h. man kann ein Amperemeter auch als Voltmeter verwenden, nachdem seine Eichung neu eingestellt wurde. Das bringt uns zur Frage, wie ein Drehspulinstrument in einer elektrischen Schaltung verwendet werden muss, um die Messung von Strom und Spannung mit hoher Genauigkeit durchzuf¨ uhren. Hauptbedingung daf¨ ur ist, dass durch die Messung die Stromverh¨altnisse in einer Schaltung m¨ oglichst wenig gest¨ ort werden. •



Wird das Instrument als Amperemeter verwendet, fließt durch das Instrument der zu messende Strom I, und dabei f¨allt an dem Innenwiderstand (A) (A) des Amperemeters eine Spannung UA = Ri I ab, die m¨oglichst Ri klein sein sollte. Also besitzt das Amperemeter einen sehr kleinen Innenwiderstand und es wird “im Hauptschluss” geschaltet, also direkt in den Stromkreis. Wird das Instrument als Voltmeter verwendet, muss es dagegen parallel geschaltet sein. Man sagt “im Nebenschluss” zu der Leiterstrecke, u ¨ber der die Spannung U bestimmt werden soll. Dadurch fließt durch das Voltmeter (V ) oglichst klein sein sollte. Also muss der ein Strom IV = U/Ri , der m¨ (V ) oglichst groß sein. Innenwiderstand Ri eines Voltmeters m¨

Ein modernes Amperemeter misst sehr geringe Str¨ome, durch einen zu hohen Strom kann es zerst¨ ort werden. Deswegen muss der Strom begrenzt werden, man erreicht dies durch entsprechende Vor- bzw. Parallelwiderst¨ande. •

Amperemeter: Parallelwiderstand RA zum Spulenwiderstand RS ergibt Innenwiderstand des Amperemeters (A) Ri

RA RS = RA = RA + RS ≈ RA



−1 RA 1+ RS f¨ ur RA ≪ RS .

(8.177)

226

8 Das elektrische und das magnetische Feld

U I

UV IV

UA IA

UV IV

U I UA IA

(1)

(2)

Abb. 8.16. Die zwei prinzipiell m¨ oglichen Schaltungen zur Messung des Stroms I und der Spannung U an einem Widerstand. Bei der Schaltung (1) ist die Spannungsmessung fehlerhaft, bei der Schaltung (2) ist die Strommessung fehlerhaft

Das Amperemeter besitzt einen sehr kleinen Innenwiderstand. •

Voltmeter: Vorwiderstand RV zum Spulenwiderstand RS ergibt Innenwiderstand des Voltmeters (V )

Ri

= RV + RS ≈ RV

f¨ ur

RV ≫ RS .

(8.178)

Das Voltmeter besitzt einen sehr großen Innenwiderstand. Durch einen Schalter am Drehspulinstrument kann von RA ≪ RS (Strommessung) auf RA ≫ RS (Spannungsmessung) umgeschaltet werden. Bei der Messung des Stroms I durch einen Widerstand und der an ihm abfallenden Spannung U gibt es zwei M¨ oglichkeiten, die in Abb. 8.16 dargestellt sind. 1. M¨ oglichkeit: Der vom Amperemeter gemessene Strom ist IA = I. Die vom Voltmeter gemessene Spannung ist (A)

UV = U + I RI



(A)

U = UV − I RI

.

Die gemessene Spannung muss korrigiert werden. 2. M¨ oglichkeit: Die vom Voltmeter gemessene Spannung ist UV = U . Der vom Amperemeter gemessene Strom ist IA = I +

U (V ) RI



I = IA −

U (V )

RI

.

Der gemessene Strom muss korrigiert werden. Erst nach diesen Korrekturen l¨ asst sich die Strom-Spannungs-Kennlinie eines Widerstands korrekt bestimmen.

8.3 Magnetostatik

227

8.3.4 Elektrischer Strom und Magnetfeld Wir wissen jetzt, dass ein elektrischer Strom I ein Magnetfeld B erzeugt. F¨ ur den Strom in einem unendlich langen, geradlinigen Leiter k¨onnen wir sogar den Zusammenhang zwischen I und B mithilfe des Amp`ere’schen Gesetzes sehr einfach berechnen. Es ergibt sich f¨ ur jeden Punkt außerhalb des Leiters mit Abstand r⊥ vom Leiter B=

µ0 I . ϕ 2π r⊥

(8.179)

Dass wir B so einfach berechnen konnten, liegt an der besonderen Symmetrie, die ein gerader Leiter besitzt. Der Leiter definiert die z-Achse des Koordinatensystems, und bei einem unendlich langen Leiter muss das B-Feld daher rotationssymmetrisch und translationsinvariant in Bezug auf die z-Achse sein. Diese Symmetrie hat uns auch geholfen, um mithilfe des Gauss’schen Gesetzes (8.19) das elektrische Feld außerhalb eines geradlinigen und geladenen Leiters zu berechnen: E=

1 λC r⊥ . 2π ǫ0 r⊥

(8.180)

Auch dieses Feld ist rotationssymmetrisch und translationsinvariant in Bezug auf die z-Achse. In der Abb. 8.17 sind beide Felder skizziert. Wie aber lassen sich die Felder berechnen, wenn der Leiter nicht mehr eine derartig ausgezeichnete Symmetrie besitzt? F¨ ur das elektrische Feld kennen wir bereits die Antwort, sie ergibt sich aus Gleichung (8.13) f¨ ur den Fall einer homogenen Ladungsverteilung:  r 1 ρC dV , (8.181) E= 4π ǫ0 r3 V

I B

E

E E

Abb. 8.17. Magnetisches Feld B um einen stromf¨ uhrenden Leiter (links) und elektrisches Feld E um einen positiv geladenen Leiter (rechts). In beiden F¨ allen erf¨ ullen die Felder die geforderte Rotationssymmetrie um den zylindrischen Leiter

228

8 Das elektrische und das magnetische Feld

wobei r der Vektor von einem Punkt außerhalb der Ladungsverteilung zu einem beliebigen Volumenelement dV innerhalb des Volumens V ist. Auch f¨ ur das magnetische Feld existiert eine ¨ aquivalente Beziehung, sie lautet  dl × r µ0 I , (8.182) B= 4π r3 l

wobei r der Vektor von einem Punkt außerhalb des Leiters zu einem beliebigen L¨ angenelement dl l¨ angs der Leiterl¨ ange l ist. Diese Beziehung nennt man das Biot-Savart’sche Gesetz, es gilt f¨ ur alle eindimensionalen Leiter, also leitende Dr¨ ahte, durch die der Strom I fließt. Wie das Integral (8.181) ist auch das Integral (8.182) f¨ ur F¨alle ohne Symmetrie schwierig zu l¨ osen. F¨ ur den Fall des geradlinigen Leiters ist es mit einigem Aufwand m¨ oglich, und das Ergebnis ist dasselbe wie jenes, das wir mit weniger Aufwand mithilfe des Amp`ere’schen Gesetzes erhalten haben. Wir wollen noch einen weiteren Fall betrachten, der ebenfalls ein Problem mit Roatationssymmetrie darstellt, n¨ amlich den Kreisstrom. Der Kreis mit Radius R definiert eine Ebene, die x-y-Ebene, und er besitzt einen Mittelpunkt, der gleichzeitig auch der Ursprung unseres Koordinatensystems ist. Das von dem Kreistrom I erzeugte Magnetfeld B muss daher rotationssymmetrisch um die z-Achse sein; dieses Feld zu berechnen ist trotzdem nicht einfach. Relativ unkompliziert ist diese Rechnung nur, wenn uns das B-Feld allein auf der z-Achse interessiert. In diesem Fall besitzt das Feld wegen der geforderten Symmetrie nur eine Komponente in Richtung z, d.h. es gilt B = B z .

Ist θ der Winkel zwischen dem Abstandsvektor r (von einem Kreiselement dl zu einem Punkt auf der z-Achse) und der x-y-Ebene, so vereinfacht sich das Biot-Savart’sche Gesetz (8.182) zu  cos θ dl R µ0 I . (8.183) mit cos θ = B= 2 4π r r l

Da sich bei der Integration u ¨ber den Kreis sowohl R wie auch r nicht ver¨ andern, ergibt sich  µ0 R2 µ0 2π R2 µ0 R I 3 I I 3 . = (8.184) dl = B= 3 4π r 4π r 2 r l

Wir k¨ onnen dieses Feld vergleichen mit dem Feld eines magnetischen Dipols im Fernraum, das durch die Gleichung (8.156) gegeben wird. Ist der Dipol l¨ angs der z-Achse ausgerichtet, so erf¨ ullen die Variablen in Gleichung (8.156) die Bedingung r = z auf der z-Achse, und wir erhalten B=

2 µ0 pmag 3 z . 4π r

(8.185)

8.3 Magnetostatik

229

Der Vergleich von Gleichung (8.184) mit Gleichung (8.185) ergibt pmag = I π R2



pmag = I A ,

(8.186)

 ebenfalls in die Richtung z zeigt. da A Die Beziehung (8.186) ist sehr wichtig, denn sie zeigt, dass jeder Kreisstrom in gen¨ ugend weitem Abstand ein Magnetfeld besitzt, das identisch zu dem Magnetfeld eines magnetischen Dipols ist, der senkrecht zum Kreisstrom ausgerichtet ist. Jeder Kreisstrom stellt einen magnetischen Dipol mit dem Dipolmoment pmag = I A dar. Im Fernraum sehen die Magnetfeldlinien eines Kreisstroms so aus, wie in Abb. 8.14 dargestellt. Kreisstr¨ ome kann man hintereinander schalten, dann entsteht eine gerade Spule mit n Windungen, durch die der Strom I fließt. Geht n → ∞, dann wird die Spule unendlich lang und wir erhalten ein Problem, das sich wiederum durch eine ausgezeichnete Symmetrie auszeichnet. Das Magnetfeld dieser Spule muss rotationssymmetrisch und translationsinvariant in Bezug auf die z-Achse sein. Da die Feldlinien nirgendwo beginnen noch enden d¨ urfen, muss u berall im Inneren der Spule gelten ¨ B = B z mit B = konst.

Dagegen ist f¨ ur eine unendlich lange Spule B = 0 außerhalb der Spule, die Magnetfeldlinien schließen sich im Unendlichen. Um die Feldst¨arke im Inneren zu berechen, benutzen wir das Amp`ere’sche Gesetz. F¨ ur die Integration w¨ahlen wir einen geschlossenen Weg aus vier Teilst¨ ucken. Im Inneren und ¨ Außeren verlaufen die Wege mit der Wegl¨ ange l parallel zur z-Achse, sie werden verbunden mit zwei gleichlangen Wegst¨ ucken senkrecht zur z-Achse, die auch die Spule durchstoßen. Bei der Integration u ¨ ber diesen geschlossenen Weg ergibt nur das Teilst¨ uck l¨ angs der z-Achse im Inneren der Spule einen Beitrag, wir erhalten   B · ds = B ds = B l = µ0 (n I) , l

l

wenn auf der L¨ ange l die Spule n Windungen besitzt, durch die jeweils der Strom I fließt. Dieses Feld im Inneren einer (unendlich) langen Spule ist homogen. Dabei sind die Abweichungen von der Homogenit¨at bei einer endlich langen Spule umso kleiner, je l¨ anger die Spule ist. Das Magnetfeld im Inneren einer sehr langen Spule mit der Windungsdichte n/l ist homogen und ergibt sich f¨ ur einen Spulenstrom I zu n B = µ0 I z . (8.187) l

230

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Die Vorstellung, dass sich die Magnetfeldlinien einer unendlich langen Spule erst im Unendlichen schließen, ist nicht nachpr¨ ufbar. Man kann diese Magnetfeldlinien aber auch im Endlichen schließen, indem man die Spule zu einem Kreis zusammenbiegt. Man erh¨ alt dadurch eine Kreisspule, einen Torus, mit einem mittleren Radius RTor , der vom Mittelpunkt des Torus aus gemessen wird. Die Spule selbst hat weiterhin einen Kreisquerschnitt mit Radius rSpu , der vom Kreis mit mittlerem Radius RTor aus gemessen wird. Das Magnetfeld eines Torus ist nur in seinem Inneren von null verschieden, u ¨ berall im seinem ¨ Außeren gilt B = 0, wie dies auch f¨ ur einen unendlich lange Spule gilt. Der geschlossene Weg im Inneren eines Torus mit rSpu ≪ RTor hat die L¨ange l = 2π r⊥ , und daraus ergibt sich unmittelbar f¨ ur das innere Magnetfeld B=

µ0 n I  f¨ ϕ ur 2π r⊥

RTor − rSpu < r⊥ < RTor + rSpu .

(8.188)

Dieses Magnetfeld ist, bis auf seine Verst¨ arkung durch n Windungen, identisch mit dem Magnetfeld (8.179) eines unendlich langen Drahts, durch den der Strom I fließt. Aber es ist, im Gegensatz zum Draht, auf ein endliches Raumgebiet (das Innere des Torus) beschr¨ ankt. Toroidale Magnetfelder besitzen wegen dieser Eigenschaft, und wegen des Verst¨arkungsfaktors n, eine große technische Bedeutung. Das Magnetfeld ist allerdings inhomogen, und das ist f¨ ur einige Anwendungen von Nachteil. 8.3.5 Die magnetischen Eigenschaften der Materie Wir kommen jetzt zu der wichtigen Aufgabe, die in einem Experiment beobachteten magnetischen Eigenschaften eines Materials mit seiner atomaren Struktur zu verkn¨ upfen. Die Materie ist aus Atomen aufgebaut, und in der Atomh¨ ulle bewegen sich die Elektronen nach der klassischen Vorstellung auf geschlossenen Bahnen. Sie stellen also einen Kreisstrom dar, und damit kann jedes Atom ein magnetisches Dipolmoment ℘mag besitzen. Die Gr¨ oße des atomaren Kreisstroms ist I = −e

v , 2π r

(8.189)

wobei v die Bahngeschwindigkeit und r der Bahnradius eines Elektrons sind. Daraus ergibt sich ein atomares Dipolmoment von ℘mag = I A = −e

v v  = −e r n  . π r2 n 2π r 2

(8.190)

 ist die Richtung senkrecht zur Bewegungsebene gekennzeichnet. Mit n Das Elektron besitzt bei seiner Kreisbewegung ebenfalls einen Bahndrehimpuls, der sich nach Gleichung (3.25) ergibt zu  . L = me r v n

(8.191)

8.3 Magnetostatik

231

Das heißt, das magnetische Moment ist verkn¨ upft mit dem Bahndrehimpuls des Elektrons durch ℘mag = −

e  . Ln 2 me

(8.192)

Die Schreibweise mithilfe von L ist angebracht, weil der Bahndrehimpuls L eine messbare Gr¨ oße des Atoms darstellt, nicht aber der Bahnradius oder  die Bahngeschwindigkeit. Dabei stellt sich heraus, dass L in Bezug auf n gequantelt ist, die zugelassenen Werte sind diskret und ergeben sich zu1 (siehe Gleichung (15.16)) Lz = m ¯ h.

(8.193)

Die Abk¨ urzung h ¯ bedeutet h ¯ = h/(2π) mit dem Planck’schen Wirkungsquantum h, das wir bereits in Gleichung (1.2) kennen gelernt haben. Daher ergibt sich ℘mag = − Die Naturkonstante ℘Bohr =

e¯ h  = −gl ℘Bohr m e . mn 2 me

e¯ h = 5.788 · 10−5 eV T−1 2 me

(8.194)

(8.195)

wird Bohr’sches Magneton genannt, der Vorfaktor gl heißt Land´ e-Faktor. F¨ ur die Bahnbewegung des Elektrons gilt gl = 1. Die Einstellung des Bahn ist, wie schon gesagt, gequantelt, die m¨oglichen drehimpulses L in Bezug auf n Werte von m sind −l ≤ m ≤ +l

mit

l ≥ 0 und ganzzahlig.

(8.196)

Auf die Quantisierung der Elektronenzust¨ ande in der Atomh¨ ulle und die m¨ oglichen Quantenzahlen werden wir ausf¨ uhrlich in Kap. 15.1.2 zur¨ uckkommen. Im Normalfall treten in einem Material alle m¨oglichen Werte von m statistisch verteilt auf, sodass m = 0 gilt. Das Material besitzt damit nach außen kein permanentes magnetisches Dipolmoment, denn die atomaren Dipolmomente addieren sich insgesamt zu null. Erst in einem ¨außeren Magnetfeld B aus richten sich die atomaren Dipole aus, und zwar nach Gleichung (8.158) in Richarken also durch ihre Ausrichtung das Magnetfeld. tung von B aus . Sie verst¨ Solche Materialien nennt man paramagnetisch. 1

m ist eine Quantenzahl, sie sollte nicht verwechselt werden mit dem Symbol f¨ ur die Masse m. In diesem Kapitel tritt die Masse nur als Elektronenmasse me auf.

232

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Paramagnetische Materialien bestehen aus Atomen mit einem permanenten magnetischen Dipolmoment ℘mag , das sich erst in einem ¨außeren Magnetfeld in Richtung des Magnetfelds ausrichtet und zu einem Gesamtdipolmoment uhrt. pmag in Richtung des Magnetfelds f¨ Es gibt allerdings auch Materialien wie Fe, Ni oder Cr; dort geschieht die Ausrichtung der atomaren Dipole spontan und ohne ein ¨außeres Feld, wenn die Temperatur des Materials eine Grenztemperatur TC nicht u ¨ berschreitet, die Curie-Temperatur heißt. Diese kollektive Ausrichtung tritt nur auf in beschr¨ ankten Bereichen, den sog. Weiß’schen Bezirken. Ein Weiß’scher Bezirk ist daher durch ein resultierendes Gesamtdipolmoment pmag ausgezeichnet, dessen Richtung i.A. aber nicht festliegt. Damit die Dipolmomente aller Weiß’schen Bezirke in etwa die gleiche Richtung weisen, m¨ ussen sie einmal mithilfe eines ¨ außeren Magnetfelds ausgerichtet werden. Man sagt, das Material wird magnetisiert. Mit derart magnetisierten St¨aben haben wir uns am Anfang des Kap. 8 besch¨ aftigt. Materialien mit Weiß’schen Bezirken, deren Dipolmomente pmagsich durch ein a ¨ußeres Magnetfeld permanent zu einem Gesamtdipolmoment pmag = 0 ausrichten lassen, nennt man ferromagnetisch. Einen magnetisierten Ferromagneten kann man auch wieder demagnetisieren, indem man seine Temperatur auf T > TC erh¨oht oder indem man ein magnetisches Wechselfeld auf ihn wirken l¨ asst, dessen Wechselfrequenz nicht alle atomaren Dipole gleichzeitig folgen k¨ onnen. Und es gibt schließlich noch Materialien, die man als diamagnetisch bezeichnet, bei denen ist f¨ ur alle Atome l = 0 und damit auch m = 0, d.h. diese Atome besitzen kein permanentes magnetisches Dipolmoment: ℘mag = 0. Es kann allerdings in diesen Atomen durch die zeitliche Ver¨anderung eines ¨außeren Magnetfelds ein magnetisches Dipolmoment induziert werden, das sich immer entgegengesetzt zu dem ¨ außeren Feld ausrichtet und dieses daher schw¨ acht. Den Vorgang der Strominduktion durch ein zeitlich ver¨anderliches Magnetfeld werden wir in Kap. 9.1 behandeln. In einem diamagnetischen Material besitzen die Atome kein permanentes magnetisches Dipolmoment ℘mag . Ein Dipolmoment l¨asst sich aber durch die zeitliche Ver¨ anderung eines ¨ außeren Magnetfelds induzieren; die resultieren-

Tabelle 8.2. Die Curie-Temperaturen einiger ferromagnetischer Elemente. Jedes dieser Elemente außer Gd kann bei Zimmertemperatur magnetisiert werden Element Co TC (K)

Fe

Ni

Gd

1393 1043 631 293

8.3 Magnetostatik

233

den magnetischen Dipole sind immer entgegengesetzt gerichtet zum ¨außeren Magnetfeld. Diese zeitliche Ver¨ anderung eines ¨ außeren Magnetfelds tritt immer auf, wenn ein Magnetfeld erzeugt wird oder wenn man das Material in ein ¨außeres Magnetfeld hineinbringt. Daher tritt der Induktionsvorgang bei allen Materialien auf, er wird aber nur beobachtet in solchen Materialien mit permanentem ℘mag = 0, weil die induzierten Dipolmomente viel schw¨acher sind als die permanenten, falls solche im Atom u ¨ berhaupt vorhanden sind. Anmerkung 8.3.2: Das Erdmagnetfeld besitzt auf der Erdoberfl¨ ache eine mittlere St¨ arke von ca 5 · 10−5 T. Da die Erdinnentemperatur weit oberhalb der Curie Temperatur TC aller bekannter Ferromagnete liegt, kann dieses Feld nicht durch die Ausrichtung atomarer magnetischer Dipole entstehen. Vielmehr wird es wahrscheinlich erzeugt durch die Konvektionsstr¨ ome von fl¨ ussigem Magma, das wegen der hohen Erdinnentemperatur ionisiert ist. Das Magnetfeld der Erde ist einem Dipolfeld (8.170) sehr ¨ ahnlich, der Dipol ist mit einer Abweichung von ca 11◦ ausgerichtet vom geografischen Nordpol zum geografischen S¨ udpol der Erde. Bemerkenswert ist, dass sich die Ausrichtung im Laufe des Erdalters mehrfach ge¨ andert hat, ja sich sogar um 180◦ gedreht hat.

8.3.6 Materie im magnetische Feld In einem ¨ außeren Magnetfeld B aus richten sich die atomaren Dipole aus, unabh¨ angig davon, ob sie permanent oder induziert sind. Es entsteht dadurch eine Magnetisierung M des Materials, die folgendermaßen definiert ist: M=

   1  n  ℘mag = ρ ℘mag . ℘mag = V V

(8.197)

Die Magnetisierung  M ist also das durch die Ausrichtung erzeugte mittlere Dipolmoment ℘mag , multipliziert mit der atomaren Dichte ρ. Die Magnetisierungsst¨ arke h¨ angt vom Grad der erreichten Ausrichtung ab, ist also proportional zur St¨ arke des ¨ außeren Magnetfelds M = χmag

B aus . µ0

(8.198)

Die Proportionalit¨ atskonstante χmag wird magnetische Suszeptibilit¨ at genannt, sie charakterisiert die magnetischen Eigenschaften des Materials. Und zwar gilt: −1 < χmag ≤ 0 : Material ist diamagnetisch. Material ist paramagnetisch. 0 < χmag : Material ist ferromagnetisch. 0 ≪ χmag :

234

8 Das elektrische und das magnetische Feld

Befindet sich das Material in dem Magnetfeld B aus , so wird durch das Material gem¨ aß seiner magnetischen Suszeptibilit¨at das Magnetfeld ge¨andert, es entsteht ein resultierendes Magnetfeld B. Der wesentliche Unterschied zu dem Verhalten von Materialien im elektrischen Feld, das wir in Kap. 8.1.5 diskutiert haben, ist jedoch, dass an der Grenzfl¨ache zwischen Material und Umgebung das Magnetfeld B sich stetig ver¨ andern muss. Es k¨onnen n¨amlich, im Gegensatz zum elektrischen Feld, an der Materialoberfl¨ache keine magnetischen Ladungen existieren, weil es in der Natur keine magnetischen Ladungen gibt. Daher gilt f¨ ur eine Grenzfl¨ ache wie die, die wir in Kap 8.1.5 betrachtet haben, die zu Gleichung(8.75) ¨ aquivalente Gleichung f¨ ur das magnetische Feld B = Baus + µ0 M .

(8.199)

Dazu zwei Bemerkungen: ¨ (1) Wir m¨ ussen nicht mehr zwischen dem Feld B im Inneren und Außeren des Materials unterscheiden, beide Felder gehen an der Grenzfl¨ache stetig ineinander u ¨ ber. (2) Das Magnetfeld B ist bei den para- und ferromagnetischen Materialien immer st¨ arker als das Originalfeld Baus , daher werden in Gleichung (8.199) die Beitr¨ age zum resultierenden Magnetfeld B addiert. Die Verst¨ arkung des Felds wird ausgedr¨ uckt durch die Permeabilit¨ atszahl µ des Materials B = µ Baus .

(8.200)

Setzt man Gleichungen (8.198) und (8.200) in Gleichung (8.199) ein, so ergibt sich µ = 1 + χmag ,

(8.201)

d.h. µ ist immer positiv. Falls µ = 0, dann ist auch B = 0, das resultierende Feld verschwindet in diesem Fall. Ein derartiges Verhalten ist uns bisher nur einmal begegnet, n¨ amlich beim Supraleiter vom Typ 1 in Gleichung (8.165). Dort ist das Magnetfeld im Inneren null, man bezeichnet diesen Supraleitertyp daher auch als idealen Diamagneten. Dies ist aber nicht korrekt, denn außerhalb des Supraleiters gilt weiterhin B = 0. Das Magnetfeld besitzt daher an der Oberfl¨ ache des Supraleiters eine Unstetigkeit. Diese hat ihre Ursache in den makroskopischen Oberfl¨ achenstr¨ omen, die man bei einem normal magnetisierten Material nicht findet. In der Tabelle 8.3 sind die magnetischen Suszeptibilit¨aten einiger Materialien zusammengefasst. F¨ ur die dia- und paramagnetischen Materialien gilt ¨ von Baus → B ist nur gering. Dagegen besitzen |χmag | ≈ 0, d.h. die Anderung ferromagnetische Materialien χmag ≈ 104 , d.h. man kann durch den Einsatz dieser Stoffe die Magnetfeldst¨ arken enorm vergr¨oßern. Dies wird durch die Weiß’schen Bezirke erm¨ oglicht, in denen die Ausrichtung der atomaren Dipole nicht durch das ¨ außere Feld Baus vollzogen wird, sondern durch eine innere

8.3 Magnetostatik

235

ur einige Materialien Tabelle 8.3. Magnetische Suszeptibilit¨ aten χmag f¨

Cu −0,8 Sn 0,19

Diamagnetische Materialien (χmag · 106 ) Ag −2,0

Au −2,3

Bi −13

H2 O −0,7

Paramagnetische Materialien (χmag · 106 ) Al 1,7

Pt 21

Pd 60

O2 (fl¨ us) 300

Ferromagnetische Materialien (χmag ) Fe

Ni

Co

Mumetall Permalloy Ni77 Fe16 Cu5 Cr2 Ni78 Fe22 ≈ 5000 ≈ 2000 ≈ 100 ≈ 105 ≈ 5 · 104

Wechselwirkung zwischen den Atomen. Diese Wechselwirkung ist ein quantenmechanisches Ph¨ anomen und durch die fundamentalen Kr¨afte in der Natur nicht zu erkl¨ aren. Anmerkung 8.3.3: In einem ¨ außeren Magnetfeld werden die Weiß’schen Bezirke, die eine zuf¨ allige Magnetisierungsrichtung besitzen, in Richtung des ¨ außeren Felds ausgerichtet. Diese Ausrichtung aller Dipolmomente eines Bezirks geschieht nicht auf einmal, sondern die Bezirke mit der richtigen Ausrichtung wachsen auf Kosten der Bezirke, die noch nicht richtig ausgerichtet sind. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Bezirken verschieben sich also w¨ ahrend der Ausrichtung. Diese Verschiebung geschieht nicht kontinuierlich, sondern in diskreten Schritten, wie man experimentell beobachten kann (sog. Barkhausen-Spr¨ unge).

8.3.7 Das magnetische Feld an einer Grenzfl¨ ache Wir beschreiben die Magnetisierung M durch atomare Str¨ome Igeb M=

pmag A = Igeb . V V

(8.202)

Der Strom Igeb ist ein “gebundener” Strom, denn er kann weder ab- noch angeschaltet werden, sondern er ist im Atom immer vorhanden. Das Volumen V bezieht sich auf das Gesamtvolumen des magnetisierten Materials mit Querschnittsfl¨ ache |A|. Integrieren wir also die Magnetisierung u ¨ber die gesamte L¨ ange l des Materials, so ergibt sich   Al A · ds = Igeb = Igeb , (8.203) M · ds = Igeb V V l

l

236

8 Das elektrische und das magnetische Feld

da ds parallel zu A ist. Weiterhin gilt nat¨ urlich f¨ ur das magnetische Feld B das Amp`ere’sche Gesetz (8.162)  (8.204) B · ds = µ0 Itot = µ0 (Ifrei + Igeb ) . Der Strom Ifrei kennzeichnet die “freien” Str¨ ome, also Str¨ome, die ab- und angeschaltet werden k¨ onnen, wie z.B. die Oberfl¨achenstr¨ome auf einem Supraleiter vom Typ 1. Die Gleichung (8.204) l¨ asst sich auch so schreiben:

 B − M · ds = Ifrei , (8.205) µ0 s

und das legt nahe, die magnetische Erregung H=

B B −M = µ0 µ µ0

, [H] = A m−1

als neue Gr¨ oße einzuf¨ uhren. F¨ ur diese Gr¨ oße gilt dann  H · ds = Ifrei .

(8.206)

(8.207)

s

Normalerweise befinden sich auf der Grenzfl¨ ache zwischen dem Vakuum(1) und dem magnetisierten Material(2) keine freien Str¨ome, und daher gelten folgende Beziehungen f¨ ur diese Grenzfl¨ ache   H · ds = 0 , B · dA = 0 . (8.208) s

A

F¨ ur einen geschlossenen Weg um die Grenzfl¨ ache mit Hin- und R¨ uckweg tangential zur Grenzfl¨ ache ergibt die linke Beziehung Ht (1) = Ht (2)



Bt (1) =

1 Bt (2) . µ

(8.209)

F¨ ur eine geschlossene Fl¨ ache um die Grenzfl¨ ache mit A(1) = −A(2) normal zur Grenzfl¨ ache ergibt die rechte Beziehung Bn (1) = Bn (2) .

(8.210)

An der Grenzfl¨ ache zwischen Vakuum(1) und einem magnetisierten Material(2) mit Permeabilit¨ atszahl µ gilt f¨ ur die Tangentialkomponente des magnetischen Felds 1 (8.211) Bt (1) = Bt (2) , µ und f¨ ur die Normalkomponente des magnetischen Felds Bn (1) = Bn (2) .

(8.212)

8.3 Magnetostatik

237

Wir bezeichnen dies als das Brechungsgesetz des magnetischen Felds. Es beschreibt das Verhalten des magnetischen Felds an einer Grenzfl¨ache, so wie die Gleichungen (8.88) und (8.89) das Verhalten des elektrischen Felds an einer Grenzfl¨ ache beschrieben haben. In Kap. 8.3.6 haben wir die Grenzfl¨ ache so ausgerichtet, dass Bt = 0 galt, d.h. in diesem Fall ist die Gleichung (8.212) ¨ aquivalent zu der Gleichung (8.200), die keinen Unterschied zwischen dem Magnetfeld im Material und im Vakuum macht, sondern f¨ ur beide eine Verst¨ arkung ergibt B = µ Baus .

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

In Kap. 8 haben wir uns mit dem elektrischen Feld E und dem magnetischen Feld B besch¨ aftigt, die sich beide nicht mit der Zeit ver¨andert haben; sie waren statisch: dE =0 dt

,

dB =0. dt

(9.1)

Mit den statischen Feldern verkn¨ upft u ¨ber das Gauss’sche Gesetz bzw. das Amp`ere’sche Gesetz sind ihre Ursachen, die Ladungsdichte ρC und die Stromdichte j C , die beide station¨ ar sein m¨ ussen, dρC = 0 f¨ ur das statische elektrische Feld, dt dj C = 0 f¨ ur das statische magnetische Feld. dt

(9.2) (9.3)

In diesem Kapitel werden wir untersuchen, welche Ver¨anderungen in der Verkn¨ upfung zwischen Ursache und Feld auftreten, wenn die Felder nicht mehr statisch sind, sondern sich mit der Zeit ver¨ andern, wenn also gilt dE = 0 dt

,

dB = 0 . dt

(9.4)

9.1 Die magnetische Induktion Nachdem sich durch die Versuche von Ørsted die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass der elektrische Strom I die Ursache f¨ ur ein Magnetfeld B ist, ergab sich sofort die Frage, ob sich nicht Ursache mit Wirkung vertauschen l¨asst, also B nicht auch Ursache f¨ ur den Strom I sein kann. Diese Frage zu stellen, ist durchaus sinnvoll, da durch die Entstehung eines elektrischen Stroms keines der bekannten Erhaltungsgesetze verletzt werden muss, insbesondere nicht das Gesetz von der Ladungserhaltung (8.2).

240

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Dieses Problem wurde von Faraday (1791 - 1867) in einer Reihe von wichtigen Experimenten untersucht, von denen wir drei mit ihren Ergebnissen schildern wollen. In allen Experimenten hat Faraday eine geschlossene Leiterschleife mit Fl¨ ache A verwendet und gemessen, ob in dieser Schleife ein Strom I fließt, wenn sie sich in der N¨ ahe eines Magnetfelds B befindet. Faraday hat dieses Magnetfeld durch einen elektrischen Strom in einer zweiten Leiterschleife erzeugt, heute wird zur Demonstration in einer Vorlesung das Magnetfeld eines magnetisierten Ferromagneten verwendet. 1. Faraday’sches Experiment Ein statisches Magnetfeld bewirkt keinen elektrischen Strom in einer station¨aren Leiterschleife. I =0

wenn

dA dB =0, =0. dt dt

2. Faraday’sches Experiment Ver¨ andert sich das Magnetfeld mit der Zeit, fließt ein Strom durch die station¨ are Leiterschleife. dB dA wenn =0. dt dt 3. Faraday’sches Experiment Ver¨ andert sich die Fl¨ ache A der Leiterschleife mit der Zeit, fließt bei statischem Magnetfeld ein Strom durch die Leiterschleife. I∝

dA dB wenn =0. dt dt Die Folgerung aus diesen Experimenten ist, dass zur Erzeugung eines elektrischen Stroms in einer geschlossenen Leiterschleife sich der magnetische Fluss  ΦB = B · dA , [ΦB ] = T m2 (9.5) I∝

A

durch die Leiterschleife ver¨ andern muss. Die Definition des magnetischen Flusses ist ¨ aquivalent zur Definition des elektrischen Flusses in Gleichung (8.18). Beide Definitionen ergeben ein Maß f¨ ur die Anzahl der Feldlinien, die durch eine gegebene Fl¨ ache hindurchgehen. Diese Anzahl muss sich ¨andern, entwe¨ ¨ der durch eine Anderung des Felds B oder durch eine Anderung der Fl¨ache A, damit in dem Leiter um die Fl¨ ache ein elektrisches Feld E induziert wird. Dieses elektrische Feld treibt den Strom I durch den Leiter. Das elektrische Feld l¨ asst sich beschreiben durch eine Spannung, die Induktionspannung  (9.6) Uind = E · ds . s

¨ Aus diesen Uberlegungen ergibt sich als

9.1 Die magnetische Induktion

241

Faraday’sches Induktionsgesetz: Die induzierte Spannung in einer geschlossenen Leiterschleife ist bei Ver¨ anderung des magnetischen Flusses durch die Leiterschleife gegeben durch dΦB dt  d B · dA . E · ds = − dt Uind = −

s

oder

(9.7)

A

In diesem Gesetz ist von besonderer Bedeutung das Auftreten des negativen Vorzeichens, das oft mit der Bezeichnung “Lenz’sche Regel” verbunden wird. Dieses Vorzeichen erweist sich als notwendig, um das Gesetz von der Erhaltung der Energie nicht zu verletzen. Durch die Induktionsspannung Uind als Verursacher des Stroms I vergr¨oßert sich die elektrische Energie Wel = Uind I dt, und diese Energie muss verrichtet werden bei der Ver¨ anderung des magnetischen Flusses, z.B. durch die Bewegung des Ferromagneten. Anders ausgedr¨ uckt: Der induzierte Strom in der Leiterschleife besitzt eine solche Richtung, dass sein Magnetfeld der Ursache f¨ ur die Induktion entgegenwirkt. In der Abb. 9.1 ist dies schematisch dargestellt. Wird der B¨ ugel der Leiterschleife nach rechts mit der a ußeren Kraft F bewegt, vergr¨ o ßert sich ¨ A und es fließt ein Strom I im Uhrzeigersinn durch die Leiterschleife. Dieugel, die entgegengesetzt ser Strom bewirkt eine Lorentz-Kraft F L auf den B¨ gerichtet ist zu der a ußeren Kraft F , ¨

B I FL

F I B

Abb. 9.1. Ein Drahtb¨ ugel, der durch die Kraft F im Magnetfeld B nach rechts verschoben wird. Dadurch wird in dem B¨ ugel der Strom I induziert, der in dem Magnetfeld die Lorentz-Kraft F L hervorruft, die der Kraft F entgegengerichtet ist und die Bewegung des B¨ ugels zu hemmen versucht

242

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

F L = −F .

(9.8)

Das negative Vorzeichen in Gleichung (9.8) ist die Konsequenz der Lenz’schen Regel und ein Ausdruck daf¨ ur, dass wir bei der Bewegung des B¨ ugels einen Widerstand gegen die Bewegung, d.h. gegen die Vergr¨oßerung der Fl¨ache sp¨ uren. W¨ are dieses Vorzeichen nicht vorhanden, k¨ onnte in der Leiterschleife elektrische Energie erzeugt werden, ohne dass daf¨ ur von außen mechanische Energie verrichtet werden muss, in klarem Widerspruch zum Gesetz der Energieerhaltung. Eine weitere Konsequenz des Faraday’schen Induktionsgesetzes ist, dass bei zeitlicher Ver¨ anderung des Stroms durch einen geschlossenen Leiter in diesem Leiter eine Gegenspannung induziert wird. Wir wollen dies f¨ ur eine unendlich lange Spule mit Querschnittsfl¨ ache A untersuchen. Dass wir als Leiter eine unendlich lange Spule w¨ ahlen, hat mehrere Gr¨ unde: Das Magnetfeld B existiert nur im Inneren der Spule, das Magnetfeld ist homogen, wir kennen den Zusammenhang zwischen dem durch die Spule fließenden Strom und dem Magnetfeld in der Spule, wenn sich in der Spule ein Material mit Permeabilit¨ atszahl µ befindet, B = µµ0

n I z . l

(9.9)

Ver¨ andert sich der Strom, dI/dt = 0, so wird sich auch das Magnetfeld ver¨ andern n dI dB = µµ0 z , dt l dt

(9.10)

und damit der magnetische Fluss durch den Spulenquerschnitt dΦB dB = ·A . dt dt

(9.11)

¨ Die Anderung des Flusses induziert aber in jeder Windung der Spule auch eine Gegenspannung, die sich bei n Windungen aufaddiert zu Uind = −n

dΦB n2 dI = −µµ0 A . dt l dt

Der Faktor vor der zeitlichen Ableitung des Stroms wird als die Selbstinduktivit¨ at einer unendlich langen Spule bezeichnet. Ein zeitlich ver¨ anderlicher Strom induziert in einem geschlossenen Leiter eine Gegenspannung Uind = −L

dI dt

, [L] = V s A−1 = H “Henry” ,

(9.12)

wobei L die Selbstinduktivit¨ at des Leiters genannt wird. F¨ ur eine unendlich lange Spule betr¨ agt die Selbstinduktivit¨ at pro L¨ange l

9.1 Die magnetische Induktion

L = µµ0

n2 A. l

243

(9.13)

Man verwendet diese Beziehung oft auch f¨ ur eine endliche Spule der L¨ange l. Wir wollen 2 Folgerungen aus der Selbstinduktion untersuchen. Folgerung 1 Befindet sich in einer Leitermasche eine Spule zusammen mit einem Ohm’schen Widerstand und einer Spannungsquelle, so wird beim Anlegen der Spannung U0 zur Zeit t = 0 der Strom durch die Masche nicht sofort seinen vollen Wert I erreichen, sondern nur langsam auf diesen Wert ansteigen, wie in Abb. 9.2 dargestellt. Wir k¨ onnen diesen Anstieg berechnen mithilfe der Kirchhoff ’schen Regeln f¨ ur die Leitermasche: dI = RΩ I . dt Dies ist eine inhomogene Differentialgleichung 1. Ordnung

(9.14)

U −L

dI RΩ U + I= , dt L L die die allgemeine L¨ osung besitzt

U RΩ I = I0 exp − t + . L RΩ

(9.15)

(9.16)

Die Integrationskonstante I0 ergibt sich aus den Anfangsbedingungen des Problems.

I

RΩ

t t ein

t aus

L t UL Abb. 9.2. Links der Ein- und Ausschaltkreis von in Reihe geschaltetem Ohm’schen aufe von Strom und Spannung Widerstand RΩ und Spule L. Rechts die zeitlichen Verl¨ an der Spule w¨ ahrend des Einschaltens und des Ausschaltens

244



9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Spannung einschalten zur Zeit t = 0. Zur Zeit t = 0 fließt kein Strom durch die Masche, die Spannung steigt aber schlagartig von U = 0 auf U = U0 . Daraus ergibt sich I0 +

U0 =0, RΩ

und der Strom ver¨ andert sich in sp¨ ateren Zeiten gem¨aß

U0 RΩ I= t . 1 − exp − RΩ L

(9.17)

Die Spannungen u ¨ ber der ¨ ber dem Ohm’schen Widerstand (UR ) und u Spule (UL ) betragen

RΩ UR = RΩ I = U0 1 − exp − t (9.18) L

RΩ dI UL = L = U0 exp − t , dt L sodass UR + UL = U0 , wie es die Maschenregel verlangt. •

Spannung ausschalten zur Zeit t = 0. Zur Zeit t = 0 fließt zu einer Zeit lange nach dem Einschalten der Strom I = U0 /RΩ durch die Masche, die Spannung sinkt aber schlagartig von U = U0 auf U = 0. Daraus ergibt sich I0 =

U0 , RΩ

und der Strom ver¨ andert sich nach dem Ausschalten der Spannung gem¨aß

U0 RΩ t . (9.19) exp − I= RΩ L Die Spannungen u ¨ ber dem Ohm’schen Widerstand (UR ) und u ¨ ber der Spule (UL ) betragen

RΩ UR = RΩ I = U0 exp − t (9.20) L

dI RΩ UL = L = −U0 exp − t , dt L sodass UR + UL = 0, wie es die Maschenregel verlangt. In Abb. 9.2 ist der zeitliche Verlauf von Strom I und Spannung UL an der Spule gezeigt. Die Zeitkonstante τ beschreibt den Anstieg bzw. den Abfall von Strom und Spannung, sie ergibt sich f¨ ur diese Leitermasche zu

9.1 Die magnetische Induktion

τ=

L . RΩ

245

(9.21)

Folgerung 2 Durch das Einschalten der Spannung und dem exponentiell ansteigenden Strom wird in der Spule ein Magnetfeld aufgebaut. Dieser Aufbau erfordert Energie, die der Energie des elektrischen Stroms entnommen wird. Sie ergibt sich nach Gleichung (8.100) zu Wmag = −

t

Uind I dt = L

t

dI I dt dt

=L

I

I dI =

(9.22)

0

0

1 L I2 . 2

0

F¨ ur eine unendlich lange Spule kennen wir ihre Selbstinduktivit¨at L, siehe Gleichung (9.13). Setzen wir diese in Gleichung (9.22) ein und ber¨ ucksichtigen, dass das Magnetfeld in dieser Spule durch Gleichung (9.9) gegeben ist, dann ergibt sich Wmag =

1 1 n2 1 µ0 µ 2 I 2 A l = B2 V , 2 l 2 µ0 µ

(9.23)

wobei V = A l das Volumen im Inneren der Spule ist. Die Energiedichte des magnetischen Felds betr¨agt wmag =

Wmag 1 1 = B2 V 2 µ0 µ

,

[wmag ] = J m−3 .

(9.24)

Wir haben diese Beziehung f¨ ur einen sehr einfachen Fall hergeleitet, aber sie gilt sehr allgemein. Sie ist ¨ aquivalent zu der entsprechenden Beziehung (8.79) f¨ ur die Energiedichte des elektrischen Felds. Und beide zusammen werden wir ben¨ otigen, um die Energiedichte des elektromagnetischen Felds zu bestimmen, das entsteht, wenn wir elektrisches und magnetisches Feld miteinander koppeln. Wir wollen jetzt noch zwei wichtige technische Anwendungen des Induktionsprinzips besprechen. 1. Der Spannungsgenerator Bisher besaßen wir nur die Gleichspannungsquellen aus Kap. 8.2.3, um einen Strom in einer Leitermasche zu erzeugen. Mit dem Induktionsprinzip er¨offnet sich ein neuer und technisch viel wichtigerer Weg, um durch Ver¨anderung des

246

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Magnetflusses dΦmag /dt = 0 in einer geschlossenen Leiterschleife eine Spannung U zu induzieren. Die Ger¨ ate, die elektrische Spannungen nach diesem Prinzip produzieren, nennt man Spannungsgeneratoren oder Dynamos. Im Normalfall ver¨ andert sich mit dem magnetischen Fluss auch die induzierte Spannung; man spricht von einem Wechselspannungsgenerator, der eine Wechselspannung produziert. Durch geeignete Konstruktion des Generators kann man aber auch erreichen, dass die produzierte Spannung sich nur noch wenig mit der Zeit ver¨ andert; man spricht dann von einem Gleichspannungsgenerator. In beiden F¨ allen besteht das Arbeitsprinzip eines Spannungsgenerators darin, dass eine (fast) geschlossene Leiterschleife in einem homogenen Magnetfeld mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω gedreht wird. Dabei ver¨andert sich trotz |B| = konst und |A| = konst der magnetische Fluss ΦB = B · A, weil sich die Richtung zwischen B und A gem¨aß ϕ(t) = ω t ver¨andert. Wir erhalten dΦB = −|B| |A| ω sin ωt , (9.25) ΦB = |B| |A| cos ωt → dt und in der Leiterschleife ergibt sich die induzierte Spannung zu U = |B| |A| ω sin ωt = U sin ωt .

(9.26)

In der technischen Ausf¨ uhrung besteht die Leiterschleife aus einer Spule mit n Windungen auf einem ferromagnetischen Anker, und die Schleife wird durch den Verbraucher mifhilfe von Kontakten an dem Anker geschlossen. Die Auslegung dieser Kontakte unterscheidet den Wechselspannungsgenerator vom Geichspannungsgenerator. • Der Wechelspannungsgenerator Das Prinzip des Wechselspannungsgenerators ist in Abb. 9.3a gezeigt. Die Schleife endet auf zwei verschiedenen Kontakten 1 und 2, die Spannungen an diesen Kontakten sind um π phasenverschoben, wie sich aus den Bewegungsrichtungen der Elektronen in der Schleife ergibt. U U cos ωt , U2 = − cos ωt . 2 2 Daher betr¨ agt die Spannungsdifferenz zwischen beiden Kontakten U1 =

U = U1 − U2 = U cos ωt .

(9.27)

Man erh¨ alt also eine harmonisch sich ver¨ andernde Wechselspannung mit der Frequenz ν = ω/(2π), die man technische Wechselspannungsfrequenz nennt. In Europa betr¨ agt diese Frequenz und die Spannungsamplitude ν = 50 Hz

, U = 325 V,

(9.28)

, U = 155 V.

(9.29)

Nordamerika benutzt andere Werte ν = 60 Hz

9.1 Die magnetische Induktion

B

247

B I

U1 U2

ω

I ω

I

I

B (a)

B (b)

U1 U2

Abb. 9.3. Links (a) das Prinzip eines Wechselstromgenerators, rechts (b) dasselbe f¨ ur einen Gleichstromgenerator. Der Wechselstromgenerator besitzt zwei getrennte Kontakte, der Gleichstromgenerator einen, in der Mitte getrennten Kontakt

• Der Gleichspannungsgenerator Das Prinzip des Gleichspannungsgenerators ist in Abb. 9.3b gezeigt. Der Unterschied zum Wechselspannungsgenerator besteht darin, dass die Leiterschleife an nur einem Kontakt endet, der allerdings in genau zwei gleiche H¨alften unterteilt ist. Dadurch erreicht den Abnehmer 1 immer nur die positive Halbwelle der harmonisch schwankenden Spannung, der Abnehmer 2 erh¨alt nur die negative Halbwelle. U1 =

U U |cos ωt| , U2 = − |cos ωt| . 2 2

Daher betr¨ agt die Spannungsdifferenz zwischen beiden Abnehmern U = U1 − U2 = U |cos ωt| .

(9.30)

Dies ist zwar noch keine Gleichspannung, aber eine Spannung U > 0. Die Restwelligkeit der Spannung kann weiter verringert werden, indem man weitere, gleichm¨ aßig gegeneinander versetzte Leiterschleifen in das Magnetfeld bringt und den Kontakt in entsprechend mehr Segmente unterteilt. Oder die Gl¨ attung kann auch durch die entsprechenden Elemente (Spulen und Kondensatoren) in dem Anschluss zum Verbraucher erfolgen. 2. Der Transformator Eine Wechselspannung besitzt den großen technischen Vorteil, dass ihre Amplitude U mithilfe eines Wechselspannungstransformators auf andere Werte transformiert werden kann. Dazu verwendet man einen geschlossenen Eisenkern mit einer hohen Permeabilit¨ atszahl, sodass ein magnetischer Fluss

248

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder



ΦB = B · dA im Wesentlichen nur in diesem Kern existiert und die B Feldlinien selbst auch nur geschlossene Linie in diesem Kern sind. Zwei Spulen mit Windungszahlen n1 und n2 werden um diesen Kern gewickelt, die Spule 1 erzeugt den sich zeitlich ver¨ andernden Fluss U1 dΦmag,1 = , dt n1 in der Spule 2 wird durch den sich ver¨ andernden Fluss Φmag,2 eine Spannung U2 induziert U2 = −n2

dΦmag,2 . dt

Ist der magnetische Fluss nur im Eisenkern ungleich null, gilt Φmag,1 Φmag,2 = dt dt und daher U1 U2 =− . n2 n1

(9.31)

Also verhalten sich die Spannungen im Prim¨arkreis (1) und Sekund¨arkreis (2) wie die Windungszahlen der Transformatorspulen in diesen Kreisen. Man kann eine Sekund¨ arspannung hochtransformieren, wenn n2 > n1 , oder heruntertransformieren,  wenn n2 <  n1 . Da die elektrische Energie aber erhalten bleiben muss, gilt U1 I1 dt = U2 I2 dt und damit n2 I2 = −n1 I1 .

(9.32)

Die Beziehungen (9.31) und (9.32) gelten f¨ ur den idealen Transformator ohne Magnetflussverluste und sie verlangen, dass der Transformator sekund¨arseitig nicht belastet wird. Insbesondere die Phasenverschiebung um π zwischen Sekund¨ ar- und Prim¨ arseite kann sich ver¨ andern bei Belastung. Mit der Phasenverschiebung zwischen Wechselstrom und Wechselspannung wollen wir uns jetzt besch¨ aftigen.

9.2 Wechselstrom und Wechselspannung Die Steckdose im Haus ist f¨ ur uns die wichtigste Spannungsquelle, sie treibt einen Wechselstrom I = I sin ωt durch die angeschlossene Leitermasche mit den Wechselspannungen

(9.33)

9.2 Wechselstrom und Wechselspannung

U = U sin (ωt + δ)

249

(9.34)

u ¨ ber den Elementen in der Leitermasche. Im Allgemeinen sind Strom und Spannung nicht in Phase, δ = 0. Dies hat zur Folge, dass der Widerstand eines Leiterelements nicht mehr einfach durch das Verh¨altnis zwischen Spannung und Strom angegeben werden kann, denn R=

U sin (ωt + δ) U U = = . I I sin ωt I

Man f¨ uhrt daher den Wechselstromwiderstand oder die Impedanz Z ein. Z l¨ asst sich als Zeiger in einer Ebene darstellen, dessen L¨ange durch das Verh¨ altnis U /I bestimmt wird und dessen Orientierung in der Ebene durch die Phasenverschiebung δ gegeben ist. Formal kann diese Darstellungsweise so durchgef¨ uhrt werden, dass man als Ebene die Ebene der komplexen Zahlen w¨ ahlt, d.h. die Impedanz als komplexe Zahl darstellt. Wir wollen hier aber den anschaulicheren Weg w¨ ahlen (der Widerstand eines Leiterelements ist ja messbar und kann daher nicht komplex sein) und nur relle Zahlen verwenden. Das bedeutet, wir m¨ ussen untersuchen, welche L¨ange und welche Orientierung der Impedanzzeiger besitzt f¨ ur die Leiterelemente, die wir bisher kennen gelernt haben. Der Ohm’sche Widerstand F¨ ur einen Ohm’schen Widerstand gilt immer U = RΩ I mit reellem ZR = RΩ . Durch einen Ohm’schen Widerstand wird die Phase zwischen Strom und Spannung nicht verschoben, die Impedanz des Ohm’schen Widerstands betr¨agt ZR = RΩ .

(9.35)

In einem Zeigerdiagramm Abb. 9.4 zeigen alle Gr¨oßen U , I und ZR in die gleiche Richtung, die wir als die x-Richtung definieren. Der Kondensator F¨ ur einen Kondensator gilt die Gleichung (8.47) q=CU . Durch Differentiation nach der Zeit erhalten wir dU 1 = I , dt C

250

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

ZR

ZL UL

I

I

UR

(a)

I

UC ZC

(b)

(c)

Abb. 9.4. Zeiger des Stroms I, der Spannung U und der Impedanz Z f¨ ur einen Ohm’schen Widerstand (a), einen kapazitiven Widerstand (b) und einen induktiven Widerstand (c)

und f¨ ur den Wechselstrom I = I sin ωt ergibt sich die Wechselspannung am Kondensator zu U =−

I I cos ωt = sin (ωt − π/2) . ωC ωC

Die Spannung am Kondensator l¨auft dem Strom durch den Kondensator um eine Phasenverschiebung δ = −π/2 hinterher, die Impedanz des Kondensators betr¨agt ZC =

1 . ωC

(9.36)

In der Zeigerdarstellung Abb. 9.4 definiert I die x-Achse. Dann zeigt U in die negative y-Richtung, und diese Richtung besitzt auch der Zeiger der Impedanz ZC . Die Spule F¨ ur eine ideale Spule besteht zwischen Strom und Spannung nach Gleichung (9.14) folgender Zusammenhang: U =L

dI . dt

F¨ ur den Wechselstrom I = I sin ωt ergibt sich daher eine Spulenspannung U = ω L I cos ωt = ω L I sin (ωt + π/2) . In einer Spule eilt die Spannung dem Strom durch die Spule mit einer Phasenverschiebung δ = π/2 voraus, die Impedanz der Spule betr¨agt ZL = ω L .

(9.37)

9.2 Wechselstrom und Wechselspannung

251

In der Zeigerdarstellung Abb. 9.4 definiert I die x-Achse. Dann zeigt U in die positive y-Richtung, und auch der Zeiger der Impedanz ZC zeigt in diese Richtung. In einem Leiterkreis besteht zwischen Wechselspannung U und Wechselstrom I daher die Beziehung U (t) = Ztot I(t, δ) ,

(9.38)

wobei Ztot die Gesamtimpedanz des Leiterkreises ist und δ die Phasenverschiebung zwischen Spannung und Strom; beide Gr¨oßen ergeben sich aus dem Zeigerdiagramm f¨ ur die Impedanz. Befinden sich in einem Netzwerk mehrere Impedanzen, so gilt: Die Gesamtimpedanz eines Netzwerks ergibt sich aus den Kirchhoff’schen Regeln (8.106) und (8.111) unter Ber¨ ucksichtigung der Phasenverschiebungen, die jede Impedanz verursacht. Wir wollen diese Vorschrift anhand von zwei beispielhaften Leiterkreisen demonstrieren. Reihenschaltung von ZR , ZC und ZL . Diese Schaltung entspricht einer Kirchhoff’schen Masche mit den Impeur danzen ZR , ZC und ZL , wie in Abb. 9.5 gezeigt. Das Zeigerdiagramm f¨ diese Impedanzen ist ebenfalls in Abb. 9.5 gezeigt, ZR definiert die x-Achse, ZC zeigt in die negative y-Richtung und ZL in die positive y-Richtung. Daraus ergibt sich nach der Kirchhoff’schen Regel (8.111) f¨ ur die Reihenschaltung von Widerst¨ anden die Summenimpedanz von ZL und ZC zu ZLC = ZL − ZC ,

ZR

(9.39)

ZL ZLC

Ztot δ

ZL ZC

ZR

ZC Abb. 9.5. Die Reihenschaltung von Ohm’schen Widerstand, Spule und Kondensator (links) mit dem dazugeh¨ orenden Zeigerdiagramm f¨ ur die Impedanzen (rechts)

252

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

die in die positive y-Richtung zeigt, wenn ZL > ZC , und in die negative y-Richtung zeigt, wenn ZL < ZC . Welche Bedingung erf¨ ullt ist, ist offensichtlich frequenzabh¨angig. Zu ZLC muss die Ohm’sche Impedanz ZR addiert werden, allerdings muss diese Addition quadratisch durchgef¨ uhrt werden, weil der Zeiger von ZLC und ZR senkrecht aufeinander stehen. Die Gesamtimpedanz der Masche betr¨agt daher  2 2 2 2 + (Z − Z )2 . = ZR + ZLC → Ztot = ZR Ztot (9.40) L C

Weiterhin ergibt das Zeigerdiagramm die Phasenverschiebung zwischen Spannung U und Strom I tan δ =

ZL − ZC . ZR

F¨ ur ZL > ZC ist δ positiv, die Spannung eilt dem Strom voraus, f¨ ur ZL < ZC ist δ negativ, die Spannung l¨ auft dem Strom hinterher. Setzen wir die Impedanzwerte ein, erhalten wir die Werte 

2 ω L − ω1C 1 2 , tan δ = , Ztot = RΩ + ω L − ωC RΩ

(9.41)

(9.42)

die ben¨ otigt werden zur Bestimmung der Spannung nach Gleichung (9.38) U (t) = Ztot I(t, δ) . Die Beziehungen (9.42) lassen erkennen, dass es eine bestimmte Frequenz, die Eigenfrequenz 1 ω0 = √ LC

(9.43)

gibt, bei der die Gesamtimpedanz einen minimalen Wert Ztot = ZR erreicht. Die Reihenschaltung aus ZR , ZL und ZC wirkt daher wie ein Frequenzfilter, er besitzt f¨ ur ω = ω0 minimale Impedanz. Dar¨ uber hinaus stellt diese Schaltung auch einen elektrischen Schwingkreis dar, dessen Schwingungsverhalten ahnlich ist dem der mechanischen Schwingkreise, die wir bereits in Kap. 7.1.4 ¨ besprochen haben. Auf die Eigenschaften eines elektrischen Schwingkreises werden wir in Kap. 9.2.2 n¨ aher eingehen, insbesondere werden wir uns mit der Frage besch¨ aftigen, wie sich die Stromamplitude I mit der Wechselspannungsfrequenz ω ver¨ andert. Das Verhalten der Phasenverschiebungen δ zwischen den Spannungen Ui u ¨ber den Impedanzen und dem Strom I l¨asst sich direkt aus dem Zeigerdiagramm Abb. 9.5 entnehmen. Es f¨ uhrt zu folgenden Aussagen im Falle einer Leitermasche mit den in Reihe geschalteten ZR , ZL und ZC : (1) Die Spannungen UL an der Spule und UC an dem Kondensator sind immer um δ = π phasenverschoben, gegen¨ uber der Spannung UR an der

9.2 Wechselstrom und Wechselspannung

253

Ohm’schen Impedanz bestehen Phasenverschiebungen von δ = +π/2 bzw. δ = −π/2. Der Strom I ist immer in Phase mit der Spannung UR . (2) F¨ ur ω = ω0 betr¨ agt die Gesamtimpedanz der Masche Ztot = ZR , und U ist mit UR in Phase, d.h. U ist auch in Phase mit I. (3) F¨ ur ω ≪ ω0 betr¨ agt die Gesamtimpedanz der Masche Ztot ≈ 1/(ω C) ≫ ZR , und U ist mit UC in Phase, d.h. um δ = −π/2 phasenverschoben gegen¨ uber I. (4) F¨ ur ω ≫ ω0 betr¨ agt die Gesamtimpedanz der Masche Ztot ≈ ω L ≫ ZR , und U ist mit UL in Phase, d.h. um δ = +π/2 phasenverschoben gegen¨ uber I. Parallelschaltung von ZR , ZC und ZL Diese Schaltung entspricht einem Kirchhoff’schen Knoten mit den drei Imur diese Schaltung wissen pedanzen ZR , ZC und ZL , wie in Abb. 9.6 gezeigt. F¨ wir aus Gleichung (8.106), dass sich die Kehrwerte der Impedanzen zu dem Kehrwert der Gesamtimpedanz addieren. Es ist daher angebracht, in dem Zeigerdiagramm Abb. 9.6 nicht die Impedanzen selbst, sondern ihre Kehrwerte darzustellen. Anschließend verl¨ auft die Berechnung der Gesamtimpedanz nach dem gleichen Verfahren, das wir eben f¨ ur die Reihenschaltung angewendet haben und das wir daher nicht im Detail zu wiederholen brauchen. Wir erhalten f¨ ur die Gesamtimpedanz und f¨ ur die Phasenverschiebung zwischen Spannung U und Strom I im Fall der Parallelschaltung

1 1 − ω C . (9.44) , tan δ = RΩ Ztot =   2 ωL  2 1 + ω1L − ω C RΩ

Und daraus l¨ asst sich die Beziehung zwischen U und I aufstellen U (t) = Ztot I(t, δ) .

ZR ZL ZC

ZL−1

ZR−1

δ −1 ZLC

ZC−1

−1 Ztot

Abb. 9.6. Die Parallelschaltung von Ohm’schen Widerstand, Spule und Kondensator (links) mit dem dazugeh¨ orenden Zeigerdiagramm f¨ ur die Impedanzen (rechts)

254

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Auch f¨ ur diese Schaltung gibt es eine ausgezeichnete Frequenz 1 , ω0 = √ LC

(9.45)

f¨ ur diese erreicht die Gesamtimpedanz einen maximalen Wert Ztot = ZR . Die Parallelschaltung von ZR , ZC und ZL wirkt daher wie eine Frequenzsperre mit der Eigenschaft, Ztot → 0 f¨ ur ω ≪ ω0 und ω ≫ ω0 . Das Phasenverhalten an diesen Grenzen l¨ asst sich ¨ ahnlich untersuchen, wie wir es f¨ ur die Reihenschaltung vorher demonstriert haben. Das Ergebnis lautet: (1) F¨ ur ω = ω0 sind Spannung U und Strom I in Phase. (2) F¨ ur ω ≪ ω0 eilt die Spannung U dem Strom I um δ = +π/2 voraus. auft die Spannung U dem Strom I um δ = −π/2 hinterher. (3) F¨ ur ω ≫ ω0 l¨ Dieses Phasenverhalten eines Parallelkreises ist damit gerade entgegengesetzt zu dem eines Reihenkreises. 9.2.1 Die elektrische Leistung eines Wechselstromkreises Die elektrische Leistung eines Stroms ist ganz allgemein definiert durch Pel (t) = U (t) I(t, δ) .

(9.46)

Sind U (t) und I(t, δ) Wechselspannung und Wechselstrom, schwankt auch die elektrische Leistung periodisch mit der Zeit Pel (t) = U I sin ωt sin (ωt + δ) .

(9.47)

In Abb. 9.7 sind U (t), I(t, δ) und Pel (t) f¨ ur δ = π/8 dargestellt. Die elektri-

Pel(t)

t

Abb. 9.7. Die zeitlichen Verl¨ aufe von Wechselstrom und Wechselspannung (d¨ unne Kurven), und der daraus resultierende Verlauf der elektrischen Leistung Pel (dicke Kurve)

9.2 Wechselstrom und Wechselspannung

255

sche Leistung besitzt sowohl positive wie negative Werte, aber die Leistung, gemittelt u ¨ ber eine Periode T = 2π/ω, ist nicht negativ. Diese Aussage gilt allgemein f¨ ur alle m¨ oglichen Werte der Phasenverschiebung δ 1 Pel  = T

T 0

Pel (t) dt ≥ 0 .

(9.48)

Der von ω abh¨ angige Teil der Gleichung (9.47) l¨asst sich mithilfe der Winkelbeziehungen im Anhang 4 umschreiben. Wir erhalten sin ωt sin (ωt + δ) = sin ωt (sin ωt cos δ + cos ωt sin δ) 1 = sin2 ωt cos δ + sin 2ωt sin δ , 2 und der Mittelwert der elektrischen Leistung ergibt sich zu ⎛ ⎞ T T UI ⎝ sin δ sin2 ωt dt + Pel  = cos δ sin 2ωt dt⎠ . T 2 0

(9.49)

0

Das 1. Integral in der Klammer auf der rechten Seite von Gleichung (9.49) ergibt einen Beitrag T /2, das 2. Integral in dieser Klammer ergibt den Beitrag 0. Also folgt f¨ ur den Mittelwert Pel  =

UI cos δ . 2

(9.50)

Da der Wertebereich der Phasenverschiebung |δ| ≤ π/2 betr¨agt, ist Pel = 0 f¨ ur |δ| = π/2 und sonst immer Pel > 0. Die Gleichung (9.50) legt folgende Definitionen nahe: Der Effektivwert der Wechselspannung ist U Ueff = √ , 2

(9.51)

der Effektivwert des Wechselstroms ist I Ieff = √ . 2

(9.52)

Dann ergibt sich die Wirkleistung eines Wechselstroms zu P = Ueff Ieff cos δ , seine Blindleistung betr¨ agt

(9.53)

256

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Q = Ueff Ieff sin δ , und daraus berechnet sich seine Scheinleistung zu  S = P 2 + Q2 = Ueff Ieff .

(9.54)

(9.55)

Nutzbar, und damit umwandelbar in andere Energieformen, ist immer nur die Wirkleistung eines Wechselstroms. F¨ ur eine Ohm’sche Impedanz ist S=P

, Q=0,

d.h. in einem Leiterkreis mit einer rein Ohm’schen Impedanz erreicht der Wechselstrom seine gr¨ oßte Wirkleistung. Dagegen gilt in einer Spule bzw. einem Kondensator S=Q ,

P =0,

d.h. der Wechselstrom besitzt in diesen Impedanzen keine Wirkleistung. 9.2.2 Der elektrische Schwingkreis Die Reihenschaltung von ZR , ZC und ZL stellt einen elektrischen Schwingkreis dar. Die Spannungen u ¨ ber den einzelnen Impedanzen folgen der Kirchhoff’schen Maschenregel U −L

1 dI = q + RΩ I . dt C

(9.56)

Ist U eine Gleichspannung, ergibt sich durch nochmalige Differentiation nach der Zeit RΩ dI 1 d2 I + I=0. + dt2 L dt LC

(9.57)

Dies ist die Differentialgleichung f¨ ur eine ged¨ ampfte Schwingung, wie wir sie ¨ bereits in Kap. 7.1.4 untersucht haben. Ubertragen auf den elektrischen Fall ist √ die Eigenfrequenz der Schwingung ω0 = 1/ L C und die D¨ampfungskonstante ergibt sich zu β = RΩ /L. Wir k¨ onnen somit alle Resultate aus dem Kap. 7.1.4 auf den jetzigen Fall u ¨bertragen, insbesondere ergibt sich als zeitliches Verhalten des elektrischen Stroms I(t) = I0 exp−(RΩ /2L) t sin (ωt + δ) .

(9.58)

Die Abklingzeit dieser Schwingung betr¨ agt τ = L/RΩ , die Frequenz der Schwingung ist ω = (ω02 + (RΩ /2L)2 )1/2 . Die Integrationskonstante I0 muss mithilfe der Anfangsbedingungen f¨ ur t = 0 bestimmt werden, ebenso die Phasenverschiebung δ. Die Schwingungsamplitude I = I0 exp−(RΩ /2L) t f¨allt exponentiell mit der Zeit ab, wenn die Schwingung nur schwach ged¨ampft ist. Nat¨ urlich treten auch bei den elektrischen Schwingungen, wie bei den mechanischen Schwingungen, folgende Sonderf¨ alle auf:

9.2 Wechselstrom und Wechselspannung



Die kritische D¨ ampfung f¨ ur RΩ 1 = √ 2L LC



257



RΩ = 2



L . C

Die starke D¨ ampfung f¨ ur RΩ ≫ 2



L . C

Ist aber U in Gleichung (9.56) eine Wechselspannung U = U0 sin ωt, so ergibt sich f¨ ur den Strom durch den Schwingkreis die Differentialgleichung RΩ dI d2 I 1 U0 ω + + I= cos ωt . 2 dt L dt LC L

(9.59)

Dies ist die Differentialgleichung einer erzwungenen Schwingung analog zur Gleichung (7.41). Wir kennen die L¨ osung dieser Differentialgleichung bereits aus der allgemeinen Beziehung (9.38) zwischen Spannung und Strom in einem Wechselstromkreis, ohne dass wir die Differentialgleichung (9.59) l¨osen m¨ ussen. Die L¨ osung lautet U (t) = Ztot I(t, δ)



I(t) =

1 U (t, −δ) , Ztot

(9.60)

d.h. I(t) besitzt die Darstellung I(t) =

U0 sin (ωt − δ) Ztot

(9.61)

mit der Stromamplitude und der Stromphase U0 I=  2 + ωL− RΩ

,

 1 2 ωC

tan δ =

ω L − ω1C . RΩ

(9.62)

Dies l¨ asst sich auch als Funktion der Eigenfrequenz ω0 darstellen, U0 /L I=  2 (ω 2 − ω0 ) + β 2

, tan δ =

ω 2 − ω02 . βω

(9.63)

Diese Ergebnisse sind in der Tat etwas verschieden von den ¨aquivalenten Ergebnissen (7.43) f¨ ur die erzwungene mechanische Schwingung, weil die erzwingende Kraft eine andere Frequenzabh¨ angigkeit besitzt als der erzwingende Strom. Und zwar finden wir: •

Die Amplitude des Stroms erreicht unabh¨ angig von der D¨ampfung β immer bei der Resonanzfrequenz ω = ω0 ihren maximalen Wert I max =

U0 . RΩ

(9.64)

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

2

Amplitude

10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

Phase(Rad)

258

1 0

-1 -2

0.5

0.5

1 1.5 ξ=ω/ω0

1 1.5 ξ=ω/ω0

Abb. 9.8. Links die Stromamplitude I einer erzwungenen Schwingung in einem elektrischen Schwingkreis in Abh¨ angigkeit von der Erregerfrequenz ω. Haben Erregerfrequenz und Eigenfrequenz ω0 des Schwingkreises denselben Wert, erreicht die Amplitude ihren maximalen Wert, der von der D¨ ampfung des Schwingkreises abh¨ angt. Rechts die Frequenzabh¨ angigkeit der Phasenverschiebung zwischen Erregerspannung und Strom im Schwingkreis. F¨ ur ω = ω0 erreicht die Phasenverschiebung den Wert 0



Die Phase schwankt zwischen −π/2 < δ < +π/2 und erreicht bei der Resonanzfrequenz ω = ω0 den Wert δ=0.

(9.65)

Diese Gr¨ oßen sind in der Abb. 9.8 dargestellt, die mit Abb. 7.5 verglichen werden sollte.

9.3 Der Verschiebungsstrom In der Abb. 9.9 betrachten wir zwei Leitermaschen, die linke Masche enth¨alt allein eine Ohm’sche Impedanz ZR , die rechte Masche allein eine kapazitive Impedanz ZC . Fließt der gleiche Wechselstrom I = I sin ωt durch diese Maschen, so bildet sich um die Leiterst¨ ucke ein geschlossenes Magnetfeld aus, B=

µ0 I . ϕ 2π r⊥

(9.66)

Auch um die Ohm’sche Impedanz herum existiert dieses Magnetfeld, weil durch ZR auch der Strom I fließt. Dagegen scheint um die kapazitive Impedanz herum kein Magnetfeld zu existieren, denn durch den Kondensator

9.3 Der Verschiebungsstrom

dB/dt

259

dE/dt

Abb. 9.9. Derselbe Wechselstromkreis, einmal mit Ohm’schen Widerstand (links), ¨ und dann mit kapazitivem Widerstand (rechts). Die Aquivalenz zwischen beiden Kreisen verlangt, dass sich auch um das zeitlich ver¨ anderliche elektrische Feld des Kondensators geschlossene Magnetfeldlinien ausbilden

fließt kein Strom. Vielmehr wird der Kondensator periodisch aufgeladen und wieder entladen; dabei wird jedesmal ein elektrisches Feld E zwischen den Kondensatorplatten auf- und abgebaut. Der Zusammenhang zwischen Strom und Magnetfeld ist im linken Teil der Abb. 9.9 ein anderer als in dem rechten Teil, obwohl durch beide Maschen der gleiche Strom fließt. Und das kann nicht richtig sein. Der Grund f¨ ur diese Asymmetrie liegt in unserer Annahme, dass kein Magnetfeld dort existiert, wo kein Strom fließt. Es ist aber leicht einzusehen, dass auch die zeitliche Ver¨ anderung eines elektrischen Felds ¨aquivalent zu einem Strom ist, den man Verschiebungsstrom nennt. Erinnern wir uns an den Zusammenhang zwischen der Ladung q auf den Kondensatorplatten mit Fl¨ achengr¨ oße A und der zwischen den Platten existierenden elektrischen Feldst¨ arke E, q = C U = ǫǫ0

A d E = ǫǫ0 A E . d

(9.67)

¨ Andert sich die Ladung auf den Platten periodisch, so gilt I=

dE dq = ǫǫ0 A dt dt



jC = ǫǫ0

dE . dt

(9.68)

¨ Die zeitliche Anderung des elektrischen Felds ist also proportional zu der Stromdichte jC . ¨ Diese Uberlegungen wurden zu allererst von Maxwell (1831 - 1879) durch¨ gef¨ uhrt, er hat mit der zeitlichen Anderung des elektrischen Felds ein Magnetfeld verkn¨ upft, und zwar analog zum Amp`ere’schen Gesetz (8.162)   d E · dA , (9.69) B · ds = µµ0 I = µµ0 ǫǫ0 dt s

A

wobei A die von dem geschlossenen Weg s eingeschlossene Fl¨ache ist.

260

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Die Beziehung (9.68) sorgt daf¨ ur, dass der rechte und linke Teil der Abb. 9.9 bez¨ uglich ihres magnetischen Verhaltens vollst¨andig ¨aquivalent werden, um die gesamte Masche bildet sich beim Fließen eines Wechselstroms ein geschlossenes Magnetfeld aus. Daher muss das Amp`ere’sche Gesetz erweitert werden mit dem Maxwell’schen Zusatzterm, sodass als Ursache f¨ ur ein Magnetfeld nicht nur der elektrische Strom, sondern auch ein zeitlich ver¨anderliches elektrisches Feld auftritt ⎛ ⎞   d B · ds = µµ0 ⎝Ifrei + ǫǫ0 E · dA⎠ . (9.70) dt s

A

Wir sollten uns klar dar¨ uber sein, dass die durch Verschiebungsstr¨ome erzeugten Magnetfelder i.A. recht schwach sind. In einem typischen Beispiel betrage der durch Gleichung (9.68) definierte Verschiebungsstrom I = 1 A und der Plattenkondensator besitze kreisf¨ ormige Platten mit einer Oberfl¨ache A = 1 · 10−3 m3 . Dann ergibt sich nach Gleichung (9.69) ein Magnetfeld am Plattenrand von der Gr¨ oße  π −7 I 10 ≈ 1 · 10−5 T, =2 B = µ0 √ A 2 πA

das noch etwa 5-mal kleiner ist als das Erdmagnetfeld.

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze Wir haben jetzt in der Diskussion der Eigenschaften von elektrischem und magnetischem Feld einen Punkt erreicht, der es erlaubt, alle bekannten Tatsachen mithilfe von vier Gleichungen zu beschreiben. Die Formulierung dieser Gleichungen ist ein l¨ angerer Prozess gewesen, an dem viele Physiker beteiligt waren. Er wurde abgeschlossen mit der Einf¨ uhrung des Verschiebungsstroms durch Maxwell. Diese vier Gleichungen werden daher Maxwell’sche Gesetze genannt. Sie sind die mathematische Beschreibung der F¨ahigkeit des elektrischen Felds E und des magnetischen Felds  B, einerseits Wirbel zu bilden (ausgedr¨ uckt durch ein Integral der Form ... · ds),andererseits Quellen zu besitzen (ausgedr¨ uckt durch ein Integral der Form ... · dA). Besitzt das Feld Quellen, so beginnt und endet es an den Quellen, d.h. die Feldlinien sind in diesem Fall offen. Besitzt das Feld keine Quellen, so m¨ ussen die Feldlinien geschlossen sein, d.h. sie bilden Wirbel. Dabei schließt die Existenz von Quellen f¨ ur das Feld nicht aus, dass dieses Feld unter anderen Umst¨anden nicht auch Wirbel bilden kann. Unter allen Umst¨anden gibt es aber f¨ ur die Existenz eines Felds immer eine Ursache, unabh¨angig davon, ob die Feldlinien geschlossen oder offen sind. Wir werden die Maxwell’schen Gesetze so formulieren, dass sie auch in Materie gelten, deren Eigenschaften durch die Dielektrizit¨atszahl ǫ und die

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

261

Permeabilit¨ atszahl µ gekennzeichnet sind. Wir werden weiterhin zur Beschreibung der Felder die Feldgr¨ oßen E und B verwenden und nicht die ihnen zugeordneten Gr¨ oßen “dielektrische Verschiebung” D (Gleichung (8.83)) und “magnetische Erregung” H (Gleichung (8.206)). Das bedeutet, dass wir die Materie als isotrop, also frei von Vorzugsrichtungen, annehmen. Die Quellen des Felds (1) Das elektrische Feld besitzt als Quellen die elektrischen Ladungen qfrei .  qfrei . (9.71) E · dA = ǫǫ0 A

(2) Das magnetische Feld besitzt keine Quellen.  B · dA = 0 .

(9.72)

A

Die Wirbel des Felds (3) Durch die zeitliche Ver¨ anderung eines magnetischen Felds entsteht ein elektrisches Feld, dessen Feldlinien geschlossen sind, das also einen Wirbel bildet.   d B · dA . (9.73) E · ds = − dt s

A

Der geschlossene Weg s definiert die eingeschlossene Fl¨ache A. (4) Durch einen elektrischen Strom entsteht ein magnetisches Feld, dessen Feldlinien geschlossen sind, das also einen Wirbel bildet. Der elektrische Strom enth¨ alt zwei Beitr¨ age, die gegeben sind durch •

den Transport von elektrischen Ladungen durch die Fl¨ache A,  Ifrei = j C · dA , A



¨ die zeitliche Anderung eines elektrischen Felds innerhalb der Fl¨ache A,  d I = ǫǫ0 E · dA . dt A

Beide Beitr¨ age bestimmen das Magnetfeld ⎛ ⎞   d B · ds = µµ0 ⎝Ifrei + ǫǫ0 E · dA⎠ . dt s

A

(9.74)

262

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Der geschlossene Weg s definiert die eingeschlossene Fl¨ache A. Unter den freien Ladungen qfrei und den freien Str¨omen Ifrei verstehen wir die Ladungen und Str¨ ome, die von uns ver¨ andert werden k¨onnen und nicht durch die atomare Struktur der Materie vorgegeben und unver¨anderbar sind. Die Gleichungen (9.71) bis (9.74) bilden die Maxwell’schen Gesetze. Sie bilden die Grundlage aller elektromagnetischer Erscheinungen, die wir bisher in diesem Lehrbuch kennen gelernt haben. Insbesondere enthalten sie nat¨ urlich das Gauss’sche Gesetz der Elektrostatik, das Amp`ere’sche Gesetz der Magnetostatik und das Induktionsgesetz. Die Maxwell’schen Gesetze beschreiben dar¨ uber hinaus Ph¨ anomene, die wir bisher nicht untersucht haben. Dazu geh¨ ort besonders die Kopplung zwischen elektrischem und magnetischem Feld, die durch die Gleichungen (9.73) und (9.74) vorhergesagt wird. Anschaulich ¨ dargestellt verlangen diese Gleichungen, dass eine zeitliche Anderung des Ma¨ gnetfelds ein elektrisches Feld erzeugt, dessen zeitliche Anderung wiederum ein magnetisches Feld erzeugt etc., etc., ohne dass f¨ ur diesen periodischen Prozess die Anwesenheit von elektrischen Ladungen oder elektrischen Str¨omen erforderlich ist. Mit der mathematischen Analyse dieses Ph¨anomens mit den Gleichungen (9.73) und (9.74) als Basis besch¨aftigen wir uns im n¨achsten Kapitel. 9.4.1 Die Existenz elektromagnetischer Wellen Wir wollen einen Raum betrachten, in dem keine freien Ladungen und Str¨ome existieren, d.h. in dem gilt qfrei = 0 , Ifrei = 0 . In diesem Raum nehmen die Maxwell’schen Gesetze eine bez¨ uglich der Felder sehr symmetrische Form an  (1) E · dA = 0 , (9.75) A

(2)



B · dA = 0 ,

A

(3)

 s

(4)

 s

E · ds = −

d dt



B · dA ,

A

d B · ds = µµ0 ǫǫ0 dt



E · dA .

A

Hier taucht in der letzten Gleichung (4) der Vorfaktor µµ0 ǫǫ0 auf, dessen Gr¨ oße davon abh¨ angt, ob der Raum mit Materie gef¨ ullt ist oder nicht. Im letzteren Fall bildet der Raum ein Vakuum, f¨ ur das gilt µ = ǫ = 1. F¨ ur das Vakuum benutzen wir die Abk¨ urzung

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

263

c−2 = µ0 ǫ0 ,

(9.76)

wobei wir jetzt schon das sp¨ atere Ergebnis vorausnehmen, dass c ≈ 3 · 108 m −1 s die Phasengeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen im Vakuum ist, deren exakter Wert in Gleichung (2.1) angegeben wurde. Demnach betr¨agt die Phasengeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen in Materie c cǫ = √ , µǫ

(9.77)

und diese Zusammenh¨ ange werden in Kap. 10 noch eine bedeutende Rolle spielen. Wie erkennen wir, dass die 3. und 4. Gleichung in (9.75) tats¨achlich das Ausbreitungsverhalten einer elektromagnetischen Welle beschreiben? Um das zu erkennen, sind einige mathematische Umformungen erforderlich. Wir wollen diese Mathematik so einfach wie m¨ oglich gestalten, indem wir das Ausbreitungsproblem auf den einfachsten Fall beschr¨anken, in dem das elektrische Feld nur eine Komponente besitzt . E = Ex x

(9.78)

Wir betrachten die x-z-Ebene eines kartesischen Koordinatensystems, wie in Abb. 9.10 dargestellt. F¨ ur einen geschlossenen Weg mit den 4 Wegst¨ ucken dx2 = −dx1 und dz 2 = −dz 1 parallel zur der x- bzw. z-Achse finden wir    · dx (9.79) E · ds = (Ex (z + dz) − Ex (z)) x   · dz . + (Ex (x + dx) − Ex (x)) x

z

z y +dx +dz −dx

−dy

z+dz −dz z

x

−dz +dy

z+dz +dz z

y

x Abb. 9.10. Illustration des geschlossenen Integrationswegs in Gleichung (9.79) (links), und dasselbe f¨ ur die Integration in Gleichung (9.84) (rechts). Beachten Sie die Richtungs¨ anderung der Integration bei konsequenter Verwendung eines rechtsh¨ andigen Koordinatensystems

264

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Davon ergibt das 2. Integral auf der rechten Seite keinen Beitrag, f¨ ur das ¨ Argument im 1. Integral k¨ onnen wir bei einer infinitesimal kleinen Anderung dz → 0 schreiben Ex (z + dz) − Ex (z) =

dEx dz . dz

(9.80)

Wir erhalten daher 

E · ds =



dEx dz

dxdz .

(9.81)

Die von dem gechlossenen Weg ds eingeschlossene Fl¨ache dA entnehmen wir  Und daher finden wir ebenfalls der Abb. 9.10, sie ergibt sich zu dA = dxdz y. f¨ ur das Fl¨ achenintegral in der 3. Gleichung von (9.75)   B · dA = By dxdz weil B · y = By . (9.82)

Insgesamt gilt daher f¨ ur den von uns betrachteten einfachen Fall

 dEx dBy + dxdz = 0 , dz dt

was f¨ ur beliebige Fl¨ achenelemente dxdz nur g¨ ultig sein kann, wenn dBy dEx + =0. dz dt

(9.83)

Die ¨ aquivalenten mathematischen Umformungen m¨ ussen mit der 4. Gleichung von (9.75) durchgef¨ uhrt werden. Es ist jedoch nicht unn¨ utz, dies noch einmal explizit zu wiederholen, weil dabei die Bedeutung des rechtsh¨andigen Koordinatensystems sichtbar wird, das wir ausschließlich verwenden. Da in der Gleichung (9.83) die y-Komponente des magnetischen Felds mit der xKomponente des elektrischen Felds vern¨ upft ist, betrachten wir jetzt in Abb. 9.10 einen geschlossenen Weg in der y-z-Ebene. F¨ ur diesen Weg erhalten wir analog zu Gleichung (9.79)   (9.84) B · ds = (By (z) − By (z + dz)) y · dy  + (By (y) − By (y + dy)) y · dz .

Auch hier tr¨ agt das 2. Integral nichts bei, f¨ ur das Argument des 1. Integrals k¨ onnen wir schreiben By (z) − By (z + dz) = −

dBy dz , dz

(9.85)

wobei jetzt der Differentialquotient dBy /dz mit einem negativen Vorzeichen zu versehen ist, weil sich die Richtung des Wegs in der y-z-Ebene wegen der

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

265

Rechtsh¨ andigkeit des Koordinatensystems umgedreht hat. Die Berechnung des Fl¨ achenintegrals in der 4. Gleichung von (9.75) verl¨auft genau so, wie wir es bei der Behandlung der 3. Gleichung demonstriert haben. Es ergibt sich schließlich f¨ ur die y-Komponente des magnetischen Felds 1 dEx dBy + 2 =0. dz cǫ dt

(9.86)

Die Untersuchung der 3. und 4. Gleichung von (9.75) f¨ uhren zu dem gleichen Ergebnis, n¨ amlich dass die x-Komponente des elektrischen Felds mit der yKomponente des magnetischen Felds verkn¨ upft ist. Diese Zuordnung ergibt sich aus unserer anf¨ anglichen Annahme, dass das elektrische Feld nur eine x-Komponente besitzt. H¨ atten wir analog die y-Komponente des elektrischen Felds behandelt, w¨ are diese mit der x-Komponente des magnetischen Felds verkn¨ upft. Das bedeutet: Das elektrische Feld E und magnetische Feld B stehen bei der Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle in einem isotropen Medium immer senkrecht aufeinander. Da wir die Orientierung des kartesischen Koordinatensystem beliebig im Raum festlegen k¨ onnen, wird von jetzt ab die x-Achse diese Systems immer in die Richtung des elektrischen Felds zeigen. Die 3. und 4. Gleichung von (9.75) f¨ uhrten daher zu den Beziehungen dEx dBy + =0 dz dt

,

dBy 1 dEx + 2 =0, dz cǫ dt

(9.87)

die wir zu einer Gleichung vereinigen k¨ onnen, indem wir die 1. Beziehung nach z differenzieren und die 2. Beziehung nach t differenzieren. Dies ergibt d2 Ex d2 By =0 + dz 2 dzdt

,

d2 By 1 d2 Ex + 2 =0, dtdz cǫ dt2

Die Gleichungen (9.87) lassen sich daher umformen in zwei neue Gleichungen, von denen jede nur noch das elektrische bzw. magnetische Feld als Funktion enth¨ alt. Die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle durch ein isotropes Medium wird beschrieben durch die Wellengleichungen 1 d2 Ex d2 Ex − 2 =0 , 2 dz cǫ dt2

d2 By 1 d2 By − 2 =0. 2 dz cǫ dt2

(9.88)

Die Gleichung (9.88) ist uns a ¨hnlich schon in Kap. 7.2 begegnet. In Kap. 7.2 wurde so die Ausbreitung der Schallwellen durch ein Medium beschrieben,

266

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

jetzt beschreiben wir die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle, die nicht an ein Medium gebunden ist. Denn die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle, die gleichzeitig deren Phasengeschwindigkeit ist, ist im medienfreien Raum 1 , c= √ µ0 ǫ0

(9.89)

also gegeben durch die zwei Feldkonstanten und damit selbst eine Konstante. Diese Tatsachen wird einer der Anl¨ asse f¨ ur die Entwicklung der speziellen Relativit¨ atstheorie sein, die wir in Kap. 12 behandeln. Die Form der Wellengleichung (9.88) sagt uns, dass Ex bzw. By Funktionen des Orts z und der Zeit t sein m¨ ussen. Durch die ausgezeichnete Orientierung der x-Achse unseres Koordinatensystems sind wir uns auch sicher, dass das elektrische Feld E keine y-Komponente besitzt und das magnetische Feld keine x-Komponente. Aber k¨ onnen E bzw. B u.U. eine z-Komponente besitzen? Die Antwort auf diese Frage f¨ ur E kann allein die 1. Gleichung von (9.75) bieten. Sie macht eine Aussage u ¨ ber die Eigenschaften des elektrischen Felds, und sie ist nicht benutzt worden bei der Aufstellung der Wellengleichung. Unsere ¨ folgenden Uberlegungen gelten analog auch f¨ ur das magnetische Feld B, wenn wir die 2. Gleichung von (9.75) analysieren. Zur Interpretation der 1. Gleichung von (9.75) verwenden wir das gleiche Verfahren, das wir auch zur Analyse der 3. und 4. Gleichung verwendet haben. Wir zerlegen das Integral u ¨ ber die geschlossene Fl¨ache in eine Summe  dydz x  und ervon drei Einzelintegralen u achen dxdy z, dxdz y, ¨ ber die Fl¨ ¨ setzen die Anderungen des Felds zwischen zwei parallelen Fl¨achen durch die ¨ entsprechende Anderungen des Differentialquotienten, wie in Gleichung (9.80) vorgef¨ uhrt. Dies ergibt

 dEx dEy dEz + + E · dA = dxdydz = 0 . dx dy dz A

F¨ ur ein beliebiges Volumenelement dxdydz kann das nur g¨ ultig sein, wenn dEx dEy dEz + + =0. dx dy dz

(9.90)

Die ersten beiden Terme verschwinden, weil Ey ≡ 0 und Ex nur eine Funktion von z und t ist. Also gilt dEz =0. dz

(9.91)

Dies impliziert zwar nicht Ez = 0, sondern nur Ez = konst, aber dieses konstante Feld in z-Richtung beeinflusst nicht die Ausbreitung der elektromagnetischen Welle in z-Richtung und muss daher nicht ber¨ ucksichtigt werden.

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

267

Das elektrische Feld E und das magnetische Feld B stehen bei der Ausbreitung der elektromagnetischen Welle in einem isotropen Medium immer senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung z. Die L¨osungen der Wellengleichungen (9.88) erf¨ ullen daher die folgenden Bedingungen  ·B =0 , E ×B  = z . E

(9.92)

Die Spezifizierung dieser einen Komponente f¨ ur die Felder wird dadurch unn¨ otig, wir kennzeichnen im Folgenden das elektrische und magnetische Feld mit E(z, t) und B(z, t). Eine Welle mit den Eigenschaften (9.92) bezeichnet man als transversale Welle. Transversal deswegen, weil die sich zeitlich und r¨aumliche ver¨ andernden Gr¨ oßen (das elektrische und magnetische Feld) immer transversal auf der Ausbreitungsrichtung stehen. Die Schallwelle dagegen ist eine longitudinale Welle, weil die Schwingungen der Luftmolek¨ ule entlang der Ausbreitungsrichtung der Schallwelle erfolgen. Die elektromagnetische Welle ist eine transversale Welle, die sich auch im Vakuum ausbreitet. Die Schallwelle breitet sich nur in einem Medium aus, z.B. im Gas, und ist dort eine longitudinale Welle. ¨ Aufgrund der Ahnlichkeiten der Wellengleichungen (7.53) und (9.88) besitzen die elektromagnetische Welle und die Schallwelle trotzdem sehr ¨ahnliche mathematische Darstellungen. F¨ ur die Schallwelle ist dies die Gleichung (7.62), f¨ ur die elektromagnetische Welle lautet die entsprechende Darstellung E(z, t) = E sin (ωt − kz) ,

(9.93)

mit der Phasengeschwindigkeit analog zu Gleichung (7.49) cǫ =

ω . k

(9.94)

Wir wollen ab jetzt annehmen, dass sich die elektromagnetische Welle im Vakuum ausbreitet. Dann betr¨ agt die Phasengeschwindigkeit ω 1 =c= √ . k µ0 ǫ0

(9.95)

Wir haben mit der Gleichung (9.88) die Ausbreitung des elektrischen und magnetischen Felds beschrieben. Beide Felder ver¨andern sich jedoch nicht unabh¨ angig voneinander, sondern sind durch die Beziehung (9.87) aneinander gekoppelt. Diese Kopplung ergibt, wenn das elektrische Feld eingesetzt wird, B(z, t) =

E sin (ωt − kz) . c

(9.96)

268

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Beide Felder sind also in Phase, und zwischen den Amplituden des elektrischen und magnetischen Felds besteht die Beziehung B=

E . c

(9.97)

9.4.2 Phasen- und Gruppengeschwindigkeit Die ebene Welle ist die einfachste L¨ osung der Wellengleichung (9.88), sie stellt aber nur eine der m¨ oglichen elektromagnetischen Wellenformen dar, die sich aus den Maxwell’schen Gesetzen ableiten lassen. Die ebene Welle ist außerdem eine idealisierte Form der Welle, in der Natur werden wir ihr nicht begegnen. Der Grund ist, dass die ebene Welle r¨ aumlich und zeitlich unbegrenzt ist. Das bedeutet, sie beginnt zur Zeit t = −∞ und endet zur Zeit t = +∞. Ebenso existiert sie u ¨berall im Raum. In der Natur dagegen sind elektromagnetische Wellen immer auf ein endliches Zeitintervall und einen endlichen Raumbe¨ reich beschr¨ ankt. Derart begrenzte Wellen k¨ onnen durch Uberlagerung von ebenen Wellen mithilfe eines Fourier-Integrals dargestellt werden, so wie wir es in Kap. 7.1.2 f¨ ur die Schwingungen geschildert haben. Jede Komponente ¨ der Uberlagerung ist als ebene Welle eine L¨ osung der Wellengleichung (9.88), ¨ daher ist auch das Resultat der Uberlagerung , also die begrenzte Welle, eine L¨ osung. Wenden wir diese Methode zur Darstellung periodischer Wellen an, reduziert sich das Fourier-Integral auf eine Fourier-Summe. Der einfachste Fall ¨ ist die Uberlagerung von zwei ebenen Wellen, deren Resultat eine Schwebung ist, siehe Kap. 7.1.3. E(z, t) = E(z, t) sin (ωt − kz) mit E(z, t) = E sin (∆ωt − ∆kz) .

(9.98)

Die Amplitude E(z, t) ist also selbst eine Funktion von z und t, und stellt eine Wellengruppe mit ihrer eigenen Ausbreitungsgeschwindigkeit, der Gruppengeschwindigkeit dar. F¨ ur diese gilt vgr =

∆ω , ∆k

(9.99)

im Gegensatz zur Phasengeschwindigkeit von elektromagnetische Wellen vph =

ω =c. k

(9.100)

Eine Schwebung ist immer noch unbegrenzt, da die Amplitudenfunktion selbst unbegrenzt ist. Begrenzte Wellenz¨ uge ergeben sich, wenn die Amplitudenfunktion begrenzt wird. Beispiele sind in Abb. 9.11 gezeigt. •

Das Gauss’sche Wellenpaket mit der Amplitudenfunktion

(z − vgr t)2 E(z, t) = E exp − f¨ ur t ≥ 0 . 2σz2

(9.101)

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

E(z,0)

269

E(z,0)

z

z

Abb. 9.11. Zwei Beispiele f¨ ur r¨ aumlich und zeitlich begrenzte Wellenpakete. Links das Gauss’sche Wellenpaket, rechts das exponentiell abfallende Wellenpaket, die sich zeitlich in positiver z-Richtung mit der Geschwindigkeit vgr ausbreiten



Das exponentiell abfallende Wellenpaket mit der Amplitudenfunktion

z − vgr t E(z, t) = E exp f¨ ur t ≥ 0 , z ≤ vgr t . (9.102) σz

Die begrenzten Wellenz¨ uge lassen sich nur mithilfe von Fourier-Integralen darstellen, in denen die Frequenz ω und die Wellenzahl k als kontinuierliche Funktionen auftreten. Entsprechend ergibt sich die Gruppengeschwindigkeit der Wellenpakete zu vgr =

dω . dk

(9.103)

Solange die Frequenz ω eine lineare Funktion der Wellenzahl k ist, also ω = vph k gilt, finden wir vgr =

dω = vph , dk

(9.104)

d.h. die Gruppengeschwindigkeit ist gleich der Phasengeschwindigkeit. Dieser Fall ist gegeben bei der Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen im Vakuum oder bei der Ausbreitung der Schallwellen in einem Gas. Man sagt: Sind Gruppen- und Phasengeschwindigkeit eines Wellenpakets gleich, so geschieht die Ausbreitung des Wellenpakets ohne Dispersion.

270

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Ist dagegen die Phasengeschwindigkeit selbst eine Funktion der Wellenzahl k, so gilt vgr =

d dω dvph = (vph (k) k) = vph + k . dk dk dk

(9.105)

Gruppen- und Phasengeschwindigkeit unterscheiden sich dann um den Dispersionsterm k (dvph (k)/dk). Auf diesen Fall stoßen wir bei der Ausbreitung elektromagnetischer Welle in einem Medium, und die Ausbreitung von Teilchen in der Quantenmechanik erfolgt immer mit Dispersion, siehe Kap. 14.2. 9.4.3 Die Entstehung elektromagnetischer Wellen Wie erzeugen wir elektromagnetische Wellen? Durch die Maxwell’schen Gesetze koppeln elektrisches und magnetisches Feld an die Ladung und den Strom. Beide d¨ urfen nicht station¨ ar sein, soll durch die Kopplung eine elektromagnetische Welle entstehen. F¨ ur eine Welle der Form (9.93) muss sich z.B. die Ladung periodisch ver¨ andern. Anschaulich kann man sich das so vorstellen, dass das elektrische Feld an einem Ort weit entfernt von der Ladung deren zeitlicher Ver¨ anderung nicht instantan folgen kann, weil die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Felds nur endlich ist. Dadurch ver¨andert sich mit dem ¨ Abstand vom Sender die Phasenbeziehung zwischen der zeitlichen Anderung ¨ der Ladung und der zeitlichen Anderung des elektrischen Felds, was eine charakteristische Eigenschaft elektromagnetischer Wellen ist. Der Grund f¨ ur die Entstehung elektromagnetischer Wellen ist also die endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit von elektrischem und magnetischem Feld. Wie ver¨ andern wir zeitlich eine Ladung? Wir kennen bereits eine Methode, n¨ amlich den unged¨ ampften elektrischen Schwingkreis in Kap. 9.2.2, bestehend aus einer Spule und einem Kondensator. Die Ladung pendelt periodisch zwischen der Spule und dem Kondensator, die Eigenfrequenz der Schwingung ist 1 . ω0 = √ LC

(9.106)

Wollen wir hochfrequente Schwingungen erzeugen, m¨ ussen die Selbstinduktivit¨ at L der Spule und die Kapazit¨ at des Kondensators C sehr klein sein. Zum Beispiel stellt ein gerades Leiterst¨ uck mit der L¨ange l einen Resonator dar, der derartig kleine Werte von L und C besitzt. In diesem Resonator pendeln eine positive Ladung q + und eine negative Ladung q − periodisch hin und her mit der Grundfrequenz ω0 = c

π . l

(9.107)

Die zugeh¨ orige Ladungsverteilung in dem Resonator zu den Zeiten T = 1/2 (π/ω0) , 3/2 (π/ω0 ) , ... ist in der Abb. 7.9c gezeigt, sie ¨ahnelt der

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

271

Grundschwingung einer beidseitig offenen Pfeife. Die Grundschwingung einer beidseitig geschlossenen Pfeife in Abb. 7.9d gibt die Stromverteilung in dem Resonator zu den Zeiten T = 1 (π/ω0 ) , 2 (π/ω0 ) , ... wieder. Der Resonator verh¨ alt sich daher wie ein schwingender Dipol mit dem sich zeitlich andernden Dipolmoment ¨ pel (t) = q d(t) = q d sin ω0 t .

(9.108)

Die Amplitude der Ladungsauslenkung d in dem Leiter ist viel kleiner als die L¨ ange des Leiters l, und zwar gilt d = (l/2) (u/c), wenn u ≪ c die Geschwindigkeit der Ladung in dem Leiter ist, die wir im Falle der Schallwellen als “Schallschnelle” bezeichnet hatten. Einen schwingenden Dipol nennt man einen Hertz’schen Dipol. Der Hertz’sche Dipol strahlt eine elektromagnetische Welle mit der Frequenz ω0 und der Wellenzahl k0 =

π ω0 = c l

(9.109)

ab. Sein Strahlungsfeld ist schematisch in Abb. 9.12 dargestellt, es zeigt die elektrischen und magnetischen Feldlinien zu einer festgehaltenen Zeit t. Die Wellenl¨ ange λ0 dieser elektromagnetischen Welle wird u ¨ ber die Gleichung (9.109) festgelegt durch die L¨ ange l des Resonators. F¨ ur eine kleinstm¨ogliche L¨ ange von l = 1 mm ergibt sich λ0 = 2 mm. Diese Wellenl¨ange ist wesentlich gr¨ oßer als die Wellenl¨ ange des sichtbaren Lichts λ0 ≈ 5 · 10−4 mm.

Abb. 9.12. R¨ aumliche Verteilungen des elektrischen Felds (ausgezogene Kurven) und des magnetischen Felds (gestrichelte Kurven) eines schwingenden Hertz’schen Dipols zu einer gegebenen Zeit

272

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Um elektromagnetische Wellen in diesem oder einem noch kleinerem Wellenl¨ angenbereich zu erzeugen, ben¨ otigt man Hertz’sche Dipole, also Resonatoren, mit entsprechend kleinen geometrischen Abmessungen. Und daf¨ ur kommen nur die Atome bzw. Molek¨ ule in Frage, in deren H¨ ullen sich die Elektronen periodisch bewegen, oder die Atomkerne, in denen die Nukleonen f¨ ur die ver¨ anderliche Ladungs- und Stromverteilungen sorgen. In Entfernungen r ≫ l weit weg von einem Hertz’schen Dipol sieht dieser Sender f¨ ur elektromagnetische Wellen punktf¨ ormig aus. Das elektromagnetische Feld einer Punktquelle ist nicht eine ebene Welle mit konstanter Amplitude, sondern die Amplitude nimmt mit dem Abstand r von der Punktquelle ab. Weiterhin sind die Orte konstanter Phase ωt − kr = konst nicht die Ebenen senkrecht zur Ausbreitungsrichtung, sondern es sind die Kugelfl¨achen mit r = konst. Daher gilt: Eine Punktquelle erzeugt eine elektromagnetische Kugelwelle mit dem elektrischen Feld E(r, t) =

E sin (ωt − kr) . r

(9.110)

 eine Ist der Sender nicht punktf¨ ormig, sondern besitzt er in der Richtung x unendliche Ausdehnung, so nennen wir diesen Sender eine Linienquelle. Bei einer Linienquelle sind die Orte konstanter Phase die Zylinderm¨antel r⊥ = konst symmetrisch um die Linienquelle, und es gilt in diesem Fall: Eine Linienquelle erzeugt eine elektromagnetische Zylinderwelle mit dem elektrischen Feld E E(r⊥ , t) = √ sin (ωt − kr⊥ ) . r⊥

(9.111)

- und ySchließlich l¨ asst sich auch eine Fl¨ achenquelle definieren, die in x Richtung unendlich ausgedehnt ist. Die Phasenfl¨achen der elektromagnetischen Strahlung von diesem Sender sind die Ebenen parallel zur x-y-Ebene. Eine Fl¨ achenquelle erzeugt eine ebene, elektromagnetische Welle mit dem elektrischen Feld E(z, t) = E sin (ωt − kz) .

(9.112)

W¨ ahrend Punktquellen technisch einfach zu realisieren sind, k¨onnen Zylinderwellen und ebene Wellen i.A. technisch nur mithilfe von optischen Instrumenten, d.h. Linsen oder Spiegel, aus Kugelwellen erzeugt werden. Es wird

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze

273

wiederum deutlich, dass wir die ebene Welle zur Beschreibung einer elektromagnetischen Welle nur deshalb benutzen, weil sich dieser Wellentyp besonders leicht mathematisch behandeln l¨ asst. Dieses Problem wird uns wieder begegnen, wenn wir die Koh¨ arenzeigenschaften der elektromagnetischen Wellen untersuchen. 9.4.4 Die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen Von dem Resonator breitet sich die elektromagnetische Welle in alle Raumrichtungen aus. Dabei transportiert die Welle Energie, die der Energie des Resonators entnommen wird. Die Schwingung im Resonator ist also immer ged¨ ampft, die abgestrahlte Welle besitzt die Form (9.102). Soll der Resonator unged¨ ampft schwingen, muss die abgestrahlte Energie wieder ersetzt werden, d.h. die Schwingung in dem Resonator muss erzwungen werden. Die Einkopplung der Energie von einem Sender in den Resonator kann z.B. induktiv erfolgen, wie in Abb. 9.13 dargestellt. Durch Ver¨anderung der Induktivit¨ aten kann auch die Eigenfrequenz ω0 des Resonators ver¨andert werden. Die Schwingungsfrequenz des Senders ω sollte immer in Resonanz ω = ω0 zu ¨ der Eigenfrequenz des Resonators stehen, damit die Ubertragung der Energie optimal erfolgt, siehe Kap. 7.1.5. Die Energie der elektromagnetischen Welle wird in die Richtung ihrer Ausbreitung transportiert, f¨ ur eine ebene Welle ist das definitionsgem¨aß die z Richtung. Wir haben die Energiedichte des elektrischen und magnetischen Felds bereits in den Kap. 8.1.3 und 9.1 kennen gelernt, sie betragen im Vakuum 1 1 2 1 B . (9.113) wel = ǫ0 E 2 , wmag = 2 2 µ0 Die Energiedichte des elektromagnetischen Felds setzt sich aus beiden Anteilen zusammen

1 1 2 2 B (9.114) wem = wel + wmag = ǫ0 E + 2 µ0 ǫ0  1  = ǫ 0 E 2 + c2 B 2 = ǫ 0 E 2 . 2

Abb. 9.13. Induktive Einkopplung einer erzwungenen Schwingung in einen Hertz’schen Dipol

274

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Da E(z, t) = E sin (ωt − kz) eine harmonische Funktion ist, schwankt auch die Energiedichte wem periodisch. Zur Kennzeichnung der Energiedichte verwendet man daher ihren Mittelwert wem  =

1 2 ǫ0 E . 2

(9.115)

wem  ist eine Energiedichte, wir interessieren uns aber f¨ ur die Energie, die pro Zeit und Fl¨ ache von der elektromagnetischen Welle transportiert wird, also f¨ ur die Energieflussdichte. Zwischen Energiedichte wem und Energieflussdichte, die bei einer elektromagnetischen Welle die Bezeichnung S erh¨alt, gilt die schon im Kap. 7.2.2 benutzte Beziehung S = c wem .

(9.116)

Der Mittelwert S der Energieflussdichte wird, wie bei der Schallwelle, als Intensit¨ at Iem der elektromagnetischen Welle bezeichnet. Daher 1 2 ǫ0 c E 2

S = Iem =

,

[Iem ] = W m−2 .

(9.117)

Bei ebenen Wellen ver¨ andert sich die Feldamplitude E nicht mit dem Abstand vom Sender, d.h. die Intensit¨ at ist nicht abstandsabh¨angig. Anders dagegen bei Zylinder- und Kugelwellen. Wenn diese bei einem Sollabstand r⊥,0 bzw. at I0 besitzen, dann ergibt sich die Intensit¨at bei allen anderen r0 die Intensit¨ Abst¨ anden zu r⊥,0 Zylinderwelle: Iem = I0 , (9.118) r⊥ r2 Kugelwelle: Iem = I0 02 . (9.119) r Im ersten Fall nimmt die Intensit¨ at linear mit dem Abstand ab, im letzten Fall quadratisch. Die Energieflussdichte ist eigentlich eine vektorielle Messgr¨oße, ihre Richtung ist gegeben durch die Ausbreitungsrichtung der ebenen Welle z, die in Gleichung (9.52) mithilfe des elektrischen Felds E und des magnetischen Felds B definiert wurde. Auch die Beziehung (9.117) kann symmetrisch in den Feldamplituden E und B geschrieben werden, S =

1 1 1 ǫ 0 c2 E B = EB 2 2 µ0

(9.120)

und wir erhalten somit f¨ ur den Vektor der Energieflussdichte S=

1 (E × B) . µ0

(9.121)

Dieser Vektor wird Poynting-Vektor genannt. F¨ ur ihn gilt eine ¨ahnliche Kontinuit¨ atsgleichung, wie wir sie f¨ ur eine andere Erhaltungsgr¨oße, n¨amlich die elektrische Ladung, bereits in Gleichung (8.95) formuliert haben,

9.4 Die Maxwell’schen Gesetze



S · dA +

d dt



275

wem dV = 0 .

(9.122)

V

A

Diese Gleichung besagt anschaulich, dass die durch die geschlossene Fl¨ache A nach außen fließende Energie zu einer Abnahme der Energie f¨ uhrt, die sich in dem von der Fl¨ ache eingschlossenem Volumen V befindet. 9.4.5 Das elektromagnetische Frequenzspektrum Unter dem Frequenzspektrum versteht man die Frequenz ν und die Wellenl¨ ange λ, die elektromagnetische Wellen besitzen k¨onnen. Dieses Frequenzspektrum ist außerordentlich breit, es umfasst etwa 24 Gr¨oßenordnungen. Der Grund ist, dass die Wellenl¨ ange λ festgelegt wird durch die geometrischen Abmessungen des Resonators, in dem die Ladungen periodisch schwingen. Dabei ist es keineswegs notwendig f¨ ur die Erzeugung von elektromagnetischer Strahlung, dass die Ladungen eine periodische Bewegung ausf¨ uhren. Wichtig an dieser Bewegung ist die starke Beschleunigung der Ladungen w¨ahrend der Schwingung, und derartige Beschleunigungen treten auch in anderen Systemen auf. Zum Beispiel werden schnelle Elektronen sehr abrupt in einem Material abgebremst, und dies f¨ uhrt zur Emission von R¨ontgenstrahlen. Oder schnelle Elektronen werden in einem Magnetfeld abgelenkt, dies f¨ uhrt zur Emission von Synchrotonstrahlung. Die Beschleunigung von Ladungen ist im Kosmos ein h¨ aufiges Ph¨ anomen, daher existieren eine Vielzahl von astronomischen Quellen f¨ ur elektromagnetische Wellen in ihrem gesamten Frequenzspektrum. Von diesen Quellen sind f¨ ur uns die Sterne die bekanntesten, denn sie emittieren elektromagnetische Wellen in einem Frequenzbereich, f¨ ur den unser Auge empfindlich ist. Dieser Frequenzbereich des sichtbaren Lichts umfasst nur etwa eine Gr¨ oßenordnung, er ist also relativ schmal. F¨ ur die anderen Frequenzen m¨ ussen Messger¨ ate zum Nachweis der elektromagnetischen

Frequenz (Hz)

108

104

100

10−4

10−8

1024

Gamma− strahlung

1020

Rontgen− strahlung

ultraviolett

1016

sichtbar

Mikrowellen

1012

Infrarot

108

Radiowellen

104

Ultra− langwellen

100

10−12

10−16

Wellenlange (m) Abb. 9.14. Die Frequenzen und Wellenl¨ angen des uns zug¨ anglichen Spektrums elektromagnetischer Wellen

276

9 Zeitlich ver¨ anderliche Felder

Strahlung entwickelt werden. Unsere Radios oder Fernseher sind z.B. solche Nachweisger¨ ate. Zur Erzeugung von Radiowellen m¨ ussen technisch herstellbare Resonatoren existieren, ihre Herstellung ist m¨oglich in dem Gr¨oßenbereich 10−3 m < l < 103 m, der etwa auch die technisch zug¨anglichen Wellenl¨angen angibt. Andere Wellenl¨ angen ben¨ otigen nat¨ urliche Sender, die sich allerdings so manipulieren lassen, dass sie fast schon die Eigenschaften von technischen Sendern erreichen. Die Entwicklung des Lasers ist daf¨ ur das beste Beispiel. ¨ Eine Ubersicht u ¨ ber die uns bekannten Frequenzen und Wellenl¨angen der elektromagnetischen Strahlung zeigt die Abb. 9.14. Bei den Radiowellen und den Mikrowellen sind noch folgende Unterteilungen gebr¨auchlich: Tabelle 9.1. Wellenl¨ angenbereiche bei den Radio- und Mikrowellen Bezeichnung

Abk. Wellenl¨ ange Radiowellen

Frequenz

Langwellen

LW

10 - 1 km

30 - 300 kHz

Mittelwellen

MW

1 - 0,1 km

0,3 - 3 MHz

Kurzwellen

KW

100 - 10 m

3 - 30 MHz

Ultrakurzwellen

UKW

10 - 1 m

30 - 300 MHz

Mikrowellen Dezimeterwellen

dmW

10 - 1 dm

0,3 - 3 GHz

Centimeterwellen

cmW

10 - 1 cm

3 - 30 GHz

Millimeterwellen

mmW

10 - 1 mm

30 - 300 GHz

10 Optik

Unter Optik verstehen wir das Gebiet der Physik, das sich mit der Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen durch den Raum besch¨aftigt. Normalerweise sind damit Wellen in dem Wellenl¨ angenbereich des sichtbaren Lichts gemeint, und auch wir wollen uns auf diese Wellenl¨ angen und ihre unmittelbaren Nachbarbereiche beschr¨ anken. Die gefundenen Gesetzm¨aßigkeiten gelten aber i.A. u ¨ ber das gesamte Frequenzspektrum. Bei der Wellenausbreitung ist ein Ph¨ anomen von besonderer Bedeutung, ¨ n¨ amlich der Ubergang von einem Medium in ein anderes Medium. Wir wollen ¨ ¨ diesen Ubergang definieren als einen Ubergang vom Vakuum in ein Medium mit ǫ = 1 und µ = 1. Dabei verstehen wir unter “Vakuum” unsere Luft, denn Luft verh¨ alt sich bez¨ uglich der Lichtausbreitung sehr ¨ahnlich wie das ¨ Vakuum, sie repr¨ asentiert das Vakuum. Der Ubergang wird definiert durch eine Grenzfl¨ ache, und wir wissen bereits, dass sich innerhalb der Grenzfl¨ache die Phasengeschwindigkeit des Lichts abrupt ¨ andern muss, 1 1 cǫ = √ = . c µǫ n

(10.1)

Die Brechzahl n ist im Normalfall gr¨ oßer als eins, sie gibt an, um wieviel sich die Phasengeschwindigkeit des Lichts innerhalb des Mediums verringert, wenn man sie mit der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum vergleicht. Die schlagartige Ver¨ anderung der Brechzahl in der Grenzfl¨ache hat zur Folge, dass ein Teil des Lichts nicht in das Medium eintritt, sondern von der Grenzfl¨ ache reflektiert wird. Wir kennzeichnen diesen Anteil mithilfe des Reflexionsverm¨ ogens R, das sich ergibt aus dem Verh¨altnis der reflektierten Intensit¨ at zur eingestrahlten Intensit¨ at R=

Ir . I0

(10.2)

Die Lichtintensit¨at, die in das Medium eindringt, kann u.U. wenigstens teilweise von dem Medium absorbiert werden. Wir kennzeichnen diesen Anteil

278

10 Optik

mithilfe des Absorptionsverm¨ ogens A, das sich ergibt aus dem Verh¨altnis der absorbierten Intensit¨ at zur eingestrahlten Intensit¨at A=

Ia . I0

(10.3)

Und schließlich wird die nicht absorbierte Intensit¨at durch das Medium hindurchlaufen. Dieser Anteil wird gekennzeichnet durch das Transmissionsverm¨ ogen T , das sich ergibt aus dem Verh¨ altnis der durchlaufenden Intensit¨ at zur eingestrahlten Intensit¨ at T =

It . I0

(10.4)

Wegen des Gesetzes von der Erhaltung der Gesamtenergie muss gelten R+A+T =1 .

(10.5)

Wie groß der Anteil jedes einzelnen Summanden an der Gesamtsumme (10.5) ist, h¨ angt von dem Medium ab, d.h. von dessen Brechzahl n. Weiterhin ist aber auch die Beschaffenheit der Grenzfl¨ ache von großer Bedeutung. Zum Beispiel sind glatte Metallfl¨ achen fast ideale Reflektoren, sie besitzen ein Reflexionsverm¨ ogen R ≈ 1. Der Grund ist, dass sie Licht fast vollst¨andig absorbieren1 . Auf der anderen Seite ist auch amorpher Kohlenstoff ein idealer Absorber mit A ≈ 1, ohne dass an seiner Oberfl¨ ache (einer Rußschicht) das Licht reflektiert wird. Der Unterschied zwischen dem Metall und dem Kohlenstoff wird bestimmt durch die Beschaffenheit der Grenzfl¨achen. Im ersten Fall besteht sie aus einer idealen Oberfl¨ ache, im zweiten Fall ist die Oberfl¨ache granular. Wir wollen uns nur mit idealen Grenzfl¨ achen besch¨aftigen, deren Eigenschaften durch die Ver¨ anderung der Brechzahl gegeben sind. Sehen wir von den Metallen ab, sind im Normalfall alle drei Summanden in Gleichung (10.5) ungleich null. Wie groß ihr Anteil an der Gesamtsumme ist, h¨angt von der Gr¨ oße der Brechzahl ab, die sich mit der Frequenz ω des Lichts ver¨andert, und von der Orientierung der Grenzfl¨ ache relativ zur Ausbreitungsrichtung des Lichts. Wir wollen zun¨ achst die Frequenzabh¨angigkeit untersuchen, die Orientierungsabh¨angigkeit werden wir in Kap. 10.2.1 behandeln. Durch die Ausbreitung des Lichts durch das Medium werden dessen Elektronen in der Atomh¨ ulle jedes Atoms im Medium zu erzungenen Schwingungen veranlasst. Die Kraft auf die Elektronen wird nat¨ urlich erzeugt durch das elektrische Feld der Lichtwelle Eein (z, t) = E ein sin (ωt − kz) . 1

(10.6)

Dieser nur scheinbare Widerspruch entsteht, wenn nicht zwischen der Absorption (charakterisiert durch einen Absorptionskoeffizienten β, siehe Abb. 10.1) und dem Absorptionsverm¨ ogen A unterschieden wird. In Metallen werden, wegen der hohen Leitf¨ ahigkeit eines Metalls, elektromagnetische Wellen fast vollst¨ andig absorbiert (β → ∞), und das hat R ≈ 1, A ≈ T ≈ 0 zur Folge.

10 Optik

279

Die Eigenschaften des elektrischen Felds E ein im Medium haben wir in Kap. 8.1.5 besprochen, die elektrische Kraft FC (z, t) = q Eein (z, t)

(10.7)

verschiebt die Ladungen in den Atomen. Betrachten wir ein einzelnes Atom an der Stelle z = 0, so wird in diesem Atom ein elektrisches Dipolmoment induziert ℘el (t) = q d(t) ,

(10.8)

und die Amplitude der erzwungenen Schwingung d(t) ergibt sich aus Gleichung (7.43) zu d(ω) =

1 q E ein . m ω02 − ω 2

Und der gleichen Frequenzabh¨ angigkeit gehorcht auch das elektrische Dipolmoment des Atoms ℘el (ω) =

1 q 2 E ein . m ω02 − ω 2

(10.9)

Bei dieser Beziehung haben wir zur Vereinfachung angenommen, dass die erzwungene Schwingung unged¨ ampft ist, d.h. β = 0 gilt. Diese Annahme ist i.A. falsch, sie ist aber gerechtfertigt bei Frequenzen, f¨ ur die |ω02 − ω 2 | ≫ β ω ¨ ist. Die Korrekturen, die unsere Uberlegungen f¨ ur den Fall ω ≈ ω0 erfahren, werden wir nur beschreiben, aber nicht im Detail berechnen.

β(ω)

n(ω) 1 0

ω ω0

0

ω ω0

Abb. 10.1. Die Abh¨ angkeit der Brechzahl n (links) und des Absortionskoeffizienten β (rechts) von der Frequenz ω des Lichts in einem fast vollst¨ andig lichtdurchl¨ assigen Material. Bei der Eigenfrequenz ω0 der Atome in dem Material wird das Licht dagegen maximal absorbiert. Die gestrichelten Kurven entsprechen der Gleichung (10.12) ohne Ber¨ ucksichtigung der Absorption, die durchgezogenen Kurven dem tats¨ achlich beobachtbaren Verlauf mit Ber¨ ucksichtigung der Absorption

280

10 Optik

Die Gesamtpolarisation des Mediums mit einer Anzahldichte ρ der Atome ergibt sich unter dem Einfluss der Lichtwelle, vergleichen Sie mit Gleichung (8.197), zu P (ω) = ρ ℘el (ω) =

1 ρ q 2 E ein . 2 m ω0 − ω 2

(10.10)

Diese Polarisation l¨ asst sich auch durch die allgemeine Beziehung (8.75) zwischen elektrischem Feld und Polarisation beschreiben: P = (ǫ − 1) ǫ0 E ein



ǫ(ω) = 1 +

1 ρ q2 . ǫ0 m ω02 − ω 2

(10.11)

F¨ ur alle Materialien, die nicht ferromagnetisch sind, ist µ ≈ 1 und damit angig von der Frequenz des Lichts, ihr n2 ≈ ǫ. Die Brechzahl ist also abh¨ Quadrat ergibt sich zu n2 (ω) = 1 + C

ω02

1 − ω2

mit C =

ρ q2 . ǫ0 m

(10.12)

Diese Funktion divergiert f¨ ur ω = ω0 , und sie ist komplex in dem Bereich ω02 < ω 2 < ω02 +C. Dies ist gerade der Frequenzbereich um die Eigenfrequenz der Atome, f¨ ur die unsere Annahme der d¨ ampfungsfreien Schwingung nicht gerechtfertigt ist. Der Frequenzverlauf von n(ω) nach Gleichung (10.11) und der tats¨ achliche Verlauf sind in Abb. 10.1 dargestellt. Die D¨ampfung hat zur Folge, dass das Medium in der N¨ ahe ω ≈ ω0 das Licht absorbiert, der Verlauf des Absorptionskoeffizienten β(ω) ist ebenfalls in Abb. 10.1 dargestellt. Die Brechzahl n(ω) ist also frequenz- und damit wellenl¨angenabh¨angig. Mit kleiner werdender Wellenl¨ ange nimmt die Brechzahl zun¨achst zu, dn/dλ < 0; man nennt diesen Bereich den Bereich der normalen Dispersion. F¨ ur

n(λ )

1

0

λ

Abb. 10.2. Schematische Abh¨ angigkeit der Brechzahl n von der Wellenl¨ ange λ des Lichts, wenn die Atome in dem Material mehrere Eigenschwingungen besitzen. Die Bereiche mit dn/dλ < 0 sind die der normalen Dispersion, die engen Bereiche mit dn/dλ > 0 sind die der anomalen Dispersion

10 Optik

281

Wellenl¨ angen in der N¨ ahe einer Atomeigenschwingung sinkt die Brechzahl schlagartig, dn/dλ > 0; dies ist der Bereich der anomalen Dispersion, in dem das Medium auch stark absorbiert. Bei noch kleineren Wellenl¨angen gilt wieder dn/dλ < 0, d.h. wir befinden uns wieder im Bereich normaler Dispersion. Der schematische Verlauf von n(λ) ist in Abb. 10.2 gezeigt. F¨ ur atszahl ǫ eines Materials f¨ ur ein statisches λ → ∞ erreicht n2 die Dielektrizit¨ elektrisches Feld. Jede Resonanz in dem Material f¨ uhrt zu einer Ver¨anderung der Brechzahl. Nur f¨ ur λ → 0 besitzen alle Materialien die Brechzahl n ≈ 1. Durch die Grenzfl¨ ache entsteht ein weiteres, mehr formales Problem. Wir haben bisher den Raum mithilfe eines Koordinatensystems beschrieben, dessen z-Achse mit der Ausbreitungsrichtung der elektromagnetischen Welle  des elektrischen u ¨ bereinstimmt und dessen x-Achse durch die Richtung E Feldvektors gegeben ist. Jetzt wird durch die Grenzfl¨ache eine neue Richtung im Raum definiert, die Normale auf die Grenzfl¨ache definiert die neue z Richtung. Bez¨ uglich dieser Richtung wird die Ausbreitungsrichtung der elek und z tromagnetischen Welle festgelegt durch den Wellenvektor k. Sind k nicht parallel, so definieren sie zusammen eine Ebene, die man die Einfallsebene der elektromagnetischen Welle nennt. Die Schnittgerade zwischen der Grenzfl¨ ache und der Einfallsebene definiert die x-Achse des neuen Koordina. In diesem tensystems, die Richtung der y-Achse ergibt sich aus y = z × x Koordinatensystem lautet die allgemeine Darstellung einer ebenen Welle    + E y y + E z z sin (ωt − k · r) , (10.13) E(r, t) = E x x was sich f¨ ur die einfallende ebene Welle reduziert auf    + E y y + E z z sin (ωt − kx x − kz z) , E(r, t) = E x x

(10.14)

weil der Wellenvektor k definitionsgem¨ aß keine y-Komponente besitzt, denn  den Winkel α die einfallende Welle liegt immer in der Einfallsebene. Bildet k gegen die Grenzfl¨ achennormale z, so ist kx = k sin α , kz = k cos α .

(10.15)

Die 3 Komponenten des elektrischen Feldvektors sind nicht unabh¨angig voneinander, da E · k = 0 erf¨ ullt sein muss. Sie lassen sich ausdr¨ ucken durch 2 Komponenten, von denen die Komponente E in der Einfallsebene liegt, und die Komponente E⊥ senkrecht auf der Einfallsebene steht. Dann gilt E x = E cos α , E y = E ⊥

, E z = −E sin α .

(10.16)

Das heißt, das elektrische Feld wird eindeutig durch E , E⊥ und den Einfallswinkel α beschrieben. Die elektromagnetische Welle (10.6) entspricht dem speziellen Fall α = 0◦ , E⊥ = 0 und E = 0. Wir verf¨ ugen damit im Prinzip u ¨ber alle Informationen, um das Verhalten der elektromagnetischen Welle auf der Grenzfl¨ache zu beschreiben.

282

10 Optik

Anmerkung 10.0.1: F¨ ur sehr hohe Frequenzen, d.h. oberhalb der h¨ ochsten Eigenoglich, dass die frequenz ω0 , ist in allen Materialien n < 1, d.h. cǫ > c. Ist es also m¨ Lichtgeschwindigkeit im Medium gr¨ oßer wird als die Vakuumlichtgeschwindigkeit? Die Geschwindigkeit cǫ ist die Phasengeschwindigkeit vph des Lichts, messbar ist aber nur die Gruppengeschwindigkeit vgr . In einem dispersiven Medium besteht zwischen vgr und vph die Beziehung (9.105) vgr = vph + k

dvph . dk

Stellen wir diesen Zusammenhang als Funktion von ω dar, so ergibt sich wegen vph = c/n k

dvph dn c dω dn ω = −k 2 = − vgr dk n dk dω n dω

und daher mithilfe der dar¨ uber liegenden Gleichung vgr =

vph c = . 1 + (ω/n) (dn/dω) n + ω (dn/dω)

F¨ ur ω ≫ ω0 k¨ onnen wir f¨ ur die Brechzahl ansetzen n ≈1−

C ω2

,

dn C =2 3 , dω ω

und dieser Ansatz ergibt f¨ ur die Gruppengeschwindigkeit vgr = c



1−

C C +2 2 ω2 ω

−1

=c



1+

C ω2

−1

.

Die Gruppengeschwindigkeit ist in dem Bereich sehr hoher Frequenzen in einem dispersiven Medium also immer kleiner als die Vakuumlichtgeschwindigkeit, und es gilt außerdem in diesem Bereich vgr vph = c2 . Diese Beziehung wird uns bei den Materiewellen wieder begegnen, siehe Kap. 14.2.

10.1 Strahlenoptik Welchen Einfluss hat die Brechzahl auf das Verhalten des Lichts an einer Grenzfl¨ ache? Diese Frage kann nat¨ urlich beantwortet werden, wenn wir benutzen, dass Licht eine elektromagnetische Welle ist und an einer Grenzfl¨ache das elektrische und magnetische Feld die Randbedingungen (8.88), (8.89), (8.211) und (8.212) erf¨ ullen m¨ ussen. Eine ¨ aquivalente, aber nicht so detaillierte und auf weniger Probleme beschr¨ ankte Antwort erh¨alt man auch im Rahmen der Strahlenoptik. F¨ ur die Strahlenoptik ist es nicht wichtig, dass Licht eine elektromagnetische Welle ist, sondern wichtig ist, dass sich das Licht in einem isotropen Medium geradlinig mit der Phasengeschwindigkeit cǫ ausbreitet. Wann also breitet sich Licht geradlinig aus?

10.1 Strahlenoptik

283

Diese Bedingung an das Licht verlangt, dass wir uns einen Lichtstrahl herstellen k¨ onnen und dass dieser Lichtstrahl den Raum in zwei vollst¨andig getrennte Bereiche unterteilt: In den Bereich mit der Lichtintensit¨at Iem und in den Bereich ohne Lichtintensit¨ at, den man auch als den geometrischen Schattenraum bezeichnet. Dieser Name ist darauf zur¨ uckzuf¨ uhren, dass ein Lichtstrahl normalerweise dadurch hergestellt wird, dass man ein geometrisches Hindernis, etwa eine Lochblende oder eine Spaltblende, in eine ebene Lichtwelle stellt. Damit durch dieses geometrische Hindernis ein gut definierter Lichtstrahl entsteht, muss eine Bedingung erf¨ ullt sein: Ein Lichtstrahl mit gut definiertem Schattenraum entsteht mithilfe einer geometrischen Blende nur, wenn die Blenden¨ offnung b groß ist im Vergleich zur Wellenl¨ ange λ des Lichts, b≫λ.

(10.17)

Ist diese Bedingung nicht erf¨ ullt, k¨ onnen wir das Verhalten der Lichtwelle nicht mit den Gesetzen der Strahlenoptik beschreiben, sondern m¨ ussen die mathematisch viel schwieriger zu handhabende Wellenoptik benutzen. Ist die Bedingung (10.17) aber erf¨ ullt, l¨ asst sich die Ausbreitung des Lichts durch gerade Linien darstellen, wie es in Abb. 10.3 gezeigt ist. Damit wollen wir die Frage beantworten, wie sich die Richtung der Linien ver¨andert, wenn sie auf ein optisches System treffen, das aus anderen Medien aufgebaut ist. Bei der Untersuchung dieser Frage ist es ganz wichtig, dass in jedem optischen System die Richtung des Lichstrahls auch umgedreht werden kann. L¨auft z.B. in Abb. 10.3 der Lichtstrahl von links nach rechts, so ist der eingezeichnete Weg nur dann richtig, wenn der Lichstrahl mit dem gleichen optischen System den Weg auch in umgekehrter Richtung durchlaufen kann. Bezeichnen wir den Ort, wo der Lichtstrahl herkommt, als Gegenstand und den Ort, wo wir den Lichtstrahl beobachten, als Bild, so k¨onnen wir Gegenstand und Bild vertauschen und m¨ ussen wieder einen erlaubten Weg f¨ ur den Lichtstrahl erhalten. Wo sich der Gegenstand, und wo sich das Bild befinden, ist daher nur eine Frage der Definition, auf die wir in Kap. 10.1.3 eingehen werden.

B G

optisches System

Abb. 10.3. Schematische Darstellung eines Lichtstrahls mit der Breite G, der durch ein optisches System aus seiner urspr¨ unglichen Richtung abgelenkt wird und die Breite B erh¨ alt

284

10 Optik

10.1.1 Brechung und Reflexion an einer Grenzfl¨ ache Wir wissen bereits, dass an einer Grenzfl¨ ache das Licht reflektiert wird oder in das Medium eindringt. Studieren wir diese Ph¨anomene mit den Mitteln der Strahlenoptik. 1. Reflexion In Abb. 10.4a fallen zwei parallele Lichtstrahlen unter dem Winkel αe gegen die Fl¨ achennormale auf eine Grenzfl¨ ache. Die reflektierten Lichtstrahlen achennormale. Da die Phasengeschwindigbesitzen den Winkel αr gegen die Fl¨ keit der einfallenden Lichtstrahlen genau so groß ist wie die der reflektierten Strahlen, muss gelten: • •

In der Zeit ∆t legt der einfallende Strahl 2 die Strecke ∆s2 = c ∆t zur¨ uck. In der Zeit ∆t legt der reflektierte Strahl 1’ die Strecke ∆s′1 = c ∆t zur¨ uck.

Es gilt ∆s2 = l sin αe , ∆s′1 = l sin αr , wobei l der Abstand der Lichtstrahlen auf der Grenzfl¨ ache ist. Daraus folgt wegen ∆s2 = ∆s′1 l sin αe = l sin αr



αe = αr = α .

Reflexionsgesetz: An einer Grenzfl¨ ache wird Licht so reflektiert, dass der Einfallswinkel αe gleich dem Reflexionswinkel αr ist, αe = αr = α .

1

2 ∆s ∆s 1’ 2’ 1 2 1’ αe αr

l

Reflexion

(10.18)

2 ∆s 2 α ∆s1’ β 1’ 2’ Brechung

Abb. 10.4. Links: Die Wege ∆s2 und ∆s′1 , die der einfallende Lichtstrahl 2 und der reflektierte Lichstrahl 1’ in gleicher Zeit ∆t zur¨ ucklegen. Es ist ∆s2 = ∆s′1 . ′ Rechts: Die Wege ∆s2 und ∆s1 , die der einfallende Lichtstrahl 2 und der gebrochene Lichtstrahl 1’ in gleicher Zeit ∆t zur¨ ucklegen. Es ist ∆s2 = n ∆s′1

10.1 Strahlenoptik

285

2. Brechung In Abb. 10.4b ist auch der Weg der Lichtstrahlen gezeigt, die in das Medium eindringen. Von diesen Lichtstrahlen sagt man, sie werden in das Medium gebrochen. In dem Medium bilden sie gegen die Fl¨achennormale den Brechungswinkel β, ihre Phasengeschwindigkeit ist in dem Medium reduziert und betr¨ agt cǫ = c/n. Daher muss gelten • •

In der Zeit ∆t legt der gebrochene Strahl 1’ die Strecke ∆s′1 = cǫ ∆t zur¨ uck. In der Zeit ∆t legt der einfallende Strahl 2 die Strecke ∆s2 = c ∆t zur¨ uck.

Es gilt ∆s2 = l sin α , ∆s′1 = l sin β. Daraus folgt l sin β l sin α = c cǫ



c sin α . = sin β cǫ

Brechungsgesetz: An einer Grenzfl¨ ache wird Licht so in das Medium gebrochen, dass der Sinus des Einfallswinkels zu dem Sinus des Brechungswinkels gerade die Brechzahl des Mediums ergibt sin α =n. sin β

(10.19)

Im Rahmen der Strahlenoptik ist es nicht m¨ oglich zu sagen, wie groß die Intensit¨ at des reflektierten, und wie groß die Intensit¨at des gebrochenen Lichts ist. Wir werden daher auf die Lichtbrechung und Reflexion wieder im Rahmen der Wellenoptik zur¨ uckkommen. Auf der anderen Seite macht das Brechungsgesetz (10.19) eine klare Aussage, um welchen Winkel ein Lichtstrahl ¨ beim Ubergang in ein Medium aus seiner urspr¨ unglichen Richtung abgelenkt wird. Die St¨ arke dieser Ablenkung h¨ angt ab von der Brechzahl und ist damit wellenl¨ angenabh¨ angig. Man kann also mithilfe der Brechung die verschiedeangenkomponenten in einem Lichtstrahl voneinander trennen, und nen Wellenl¨ zwar entweder durch eine Strahlversetzung an einer planparallelen Platte oder durch eine Strahldrehung in einem Prisma, siehe Abb. 10.5. Die Strahlversetzung in einer planparallelen Platte Ein Lichtstrahl, der in eine planparallele Platte unter dem Winkel α = 0◦ eintritt, verl¨ asst diese Platte wieder in der gleichen Richtung, aber versetzt um die Strecke s gegen¨ uber dem eintretenden Strahl. Hat die Platte die Dicke d, so ergibt sich die Versetzung zu s=d

sin (α − β) . cos β

(10.20)

Diese Beziehung kann mithilfe des Brechungsgesetzes (10.19) und des Anhangs 4 umgeformt werden in

286

10 Optik

s = d sin α



cos α 1− √ . n2 − sin2 α

(10.21)

Die Empfindlichkeit der Versetzung auf die unterschiedlichen Wellenl¨angen des Lichts l¨ asst sich ausdr¨ ucken durch ds dn ds = dλ dn dλ und ergibt ds sin α cos α dn = nd 2 . dλ (n − sin2 α)3/2 dλ

(10.22)

F¨ ur ein Material mit großen Brechzahlen n(λ) ≫ 1 ≥ sin α ist die Empfindlichkeit proportional zu n−3 , und deswegen ist dieses Verfahren keinesfalls zu empfehlen f¨ ur die spektrale Analyse des Lichts. Die Strahldrehung in einem Prisma Das Prisma ist ein lichtbrechender K¨ orper, dessen Querschnittsfl¨ache ein gleichschenkliges Dreieck mit der Basisl¨ ange d und dem gegen¨ uberliegenden Scheitelwinkel γ ist. Der Strahldurchgang durch ein Prisma ist im allgemeinen Fall recht kompliziert, deswegen wollen wir uns auf den Fall beschr¨anken, dass der Lichtstrahl im Prisma parallel zu der Basis des Prismas verl¨auft. Dann betr¨ agt der Brechungswinkel des Strahls β = γ/2, und der dazugeh¨orende Einfallswinkel α ergibt sich aus dem Brechungsgesetz (10.19). Durch die Brechung an der Eintrittsfl¨ ache wird der Strahl um den Winkel γ δ =α−β =α− 2 2

(10.23)

gedreht. Wegen der Forderung an die Umkehrbarkeit des Lichtwegs kommt der gleiche Drehwinkel noch einmal bei der Brechung an der Austrittsfl¨ache

α

γ

β

β

α

α

β

δ α

s d

Abb. 10.5. Links: Strahlendurchgang durch eine planparallel Platte. Es erfolgt eine Versetzung des Lichtstrahls um die Strecke s. Rechts: Strahlendurchgang durch ein Prisma. Es erfolgt eine Drehung des Lichtstrahls um den Winkel δ

10.1 Strahlenoptik

287

hinzu, sodass der Strahl insgesamt um δ gegen¨ uber seiner Einfallsrichtung gedreht wurde. Aus dem Brechungsgesetz ergibt sich sin (δ/2 + γ/2) sin α = =n sin β sin (γ/2)

δ+γ γ → sin = n sin . 2 2

(10.24)

Die Empfindlichkeit der Strahldrehung auf ver¨anderliche Wellenl¨angen betr¨ agt analog zum Beispiel davor dn 2 sin (γ/2) dδ = . 1/2 dλ 2 2 dλ (1 − n sin (γ/2))

(10.25)

F¨ ur den Scheitelwinkel γ besteht eine obere Grenze sin (γ/2) < 1/n, die gerade dem streifenden Einfall auf die Prismafl¨ache entspricht (α = π/2). Der Vorfaktor in Gleichung (10.25) verst¨ arkt also die Strahldrehung durch die Dispersion dn/dλ. Dieses Verfahren ist viel besser geeignet f¨ ur eine spektrale Analyse des Lichts als das vorher beschriebene Verfahren der Strahlversetzung. Die entsprechenden optischen Ger¨ ate werden Prismenspektrometer genannt. 10.1.2 Die Totalreflexion Drehen wir den Weg des Lichtstrahls, den wir zur Herleitung des Brechungsgesetzes (10.19) benutzt haben, in seiner Richtung um, so tritt er an der Grenzfl¨ ache vom Medium in das Vakuum. F¨ allt ein Lichtstrahl auf ein Medium mit einer gr¨oßeren Brechzahl, so findet die Brechung und Reflexion am optisch dichteren Medium statt. Verringert sich aber die Brechzahl an der Grenzfl¨ ache, so findet die Brechung und Reflexion am optisch d¨ unneren Medium statt. Durch die Umkehr des Strahlengangs ver¨ andert sich nicht das Brechungsgesetz, aber es vertauschen sich die Rollen von Einfalls- und Brechungswinkel. Das Brechungsgesetz lautet jetzt: sin α 1 = . sin β n

(10.26)

Da β ≤ 90◦ erreicht der Einfallswinkel α eine obere Grenze αTR , wenn gilt: sin αTR =

1 . n

(10.27)

F¨ ur Einfallswinkel α > αTR kann der Lichtstrahl nicht in das Vakuum gebrochen werden, statt dessen wird er an der Grenzfl¨ache total in das Medium

288

10 Optik

1 2 3 321 b 12 3

a

1 23 3 2 1

c

1 2 3

Abb. 10.6. Manipulationen von Lichtstrahlen mithilfe der Totalreflexion an einem Prisma: Die Richtungs¨ anderung (a), die Richtungsumdrehung (b) und die Strahlvertauschung ohne Richtungs¨ anderung (c)

zur¨ uck reflektiert. Man nennt diesen Vorgang Totalreflexion, f¨ ur die Totalreflexion gilt R=1,

(10.28)

d.h. es treten bei der Reflexion an der Grenzfl¨ache keine Intensit¨atsverluste auf. Das bedeutet aber nicht, dass das elektromagnetische Feld auf der Vakuumseite der Grenzfl¨ ache total verschwindet. Vielmehr kann man berechnen und auch experimentell verifizieren, dass dort das elektrische Feld in der Richtung der Fl¨ achennormalen exponentiell ged¨ ampft ist E z = E e−k

√ 1−n2 sin2 α z

.

(10.29)

¨ Uber der Grenzfl¨ache bildet sich eine Oberfl¨ achenwelle aus. Die Gleichung (10.29) zeigt, dass die Eindringtiefe der Oberfl¨achenwelle in das Vakuum mit wachsendem k abnimmt, also auch mit kleiner werdender Wellenl¨ange λ abnimmt. Die Eindringtiefe ist etwa gleich der Wellenl¨ange, f¨ ur sichtbares Licht daher etwa 5 · 10−7 m und praktisch unbeobachtbar. Die Totalreflexion benutzen wegen des idealen Reflexionsverm¨ogens (10.28) viele technische Anwendungen, wir wollen nur einige erw¨ahnen. Allerdings gilt (10.28) nur dann, wenn die Grenzfl¨ ache auch wirklich ideal, d.h. ideal glatt ist. Diese Bedingung ist u achen nur schwer zu erf¨ ullen. ¨ber große Fl¨ •

Lichtleiter Licht kann kann mithilfe eines Glasfaserkabels in beliebige Richtungen und u ¨ ber Entfernungen von mehreren 100 m geleitet werden. Werden mehrere Glasfasern geordnet zu einem B¨ undel zusammengefasst, k¨onnen auf diese Art auch Bilder u ¨ bertragen werden, ohne dass diese vorher digitalisiert werden m¨ ussen. Diese Anwendung ist dann von Bedeutung, wenn Bildinformationen aus einem engen und schwer zug¨anglichen Raum ben¨otigt werden, wie z.B. in der Medizin.

10.1 Strahlenoptik



289

Lichtstrahlver¨ anderungen Hierunter verstehen wir Ver¨ anderungen, bei denen entweder die Richtung oder die geometrische Ordnung mehrerer Lichtstrahlen ver¨andert werden. Dazu wird oft ein Prisma√benutzt aus einem lichtdurchl¨assigen Material mit großer Brechzahl n > 2. In der Abb. 10.6 sind einige Ver¨anderungen dargestellt, n¨ amlich die Richtungs¨ anderung (a), die Richtungsumdrehung (b) und die Seitenvertauschung (c). Man beachte, dass zwar die Reflexionen an den Primenfl¨ achen ideal sind, aber der Eintritt und der Austritt in das Prisma geschieht nicht verlustfrei, ein Teil der Intensit¨at wird trotz senkrechten Einfalls und senkrechten Austritts an diesen Grenzfl¨achen reflektiert.

10.1.3 Optische Abbildungen durch d¨ unne Linsen Die bekannteste und wohl auch bedeutendste Anwendung findet die Strahlenoptik bei der Untersuchung der Bildentstehung. Ein derartiges Bild entsteht bei der Abbildung eines Gegenstands mithilfe eines optischen Systems, wobei dieses System aus Spiegeln und/oder Linsen aufgebaut sein kann. Wir wollen uns in diesem Kapitel allein mit den Abbildungseigenschaften von Linsen besch¨ aftigen. Unter einer Linse versteht man einen lichtbrechenden, aber nicht lichtabsorbierenden K¨ orper mit zwei sph¨ arischen Oberfl¨achen, d.h. Oberfl¨achen in Form von Kugelschalen mit den Kr¨ ummungsradien R1 und R2 . Das Vorzeichen von R1 bzw. R2 kann positiv oder negativ sein. Die Wahl des Vorzeichens h¨ angt davon ab, auf welcher Seite der Linse sich der Gegenstand und auf welcher Seite sich das Bild befindet. Und das ist, wie wir bereits am Beginn von Kap. 10.1 bemerkt haben, eine Frage der Definition. In Abb. 10.7 ist eine typische Linse gezeigt. Die Kr¨ ummungsmittelpunkte ihrer beiden sph¨arischen Oberfl¨ achen liegen auf der optischen Achse. Die Linse ist rotationssymmetrisch bez¨ uglich dieser Achse. Die Ebene durch die Linse senkrecht zur optischen Achse bezeichnet man als Mittelebene der Linse, der Durchstoßpunkt der optischen Achse durch diese Ebene ist der Mittelpunkt. Die Seite (G) links von der Linse heißt Gegenstandsseite, die Seite (B) rechts von der Linse heißt Bildseite. Wir definieren: (1) Befindet sich der Gegenstand G auf der Gegenstandsseite der Linse, dann ist sein Abstand von der Mittelebene die Gegenstandsweite g > 0, anderenfalls ist g < 0. (2) Befindet sich das Bild B auf der Bildseite der Linse, dann ist sein Abstand von der Mittelebene die Bildweite b > 0, anderenfalls ist b < 0. (3) Der Kr¨ ummungsradius der Linsenoberfl¨ache ist R > 0, wenn sich der Kr¨ ummungsmittelpunkt auf der Bildseite befindet, anderenfalls ist R < 0. In Abb. 10.7 sind einige Linsentypen mit ihren Kr¨ ummungsradien und ihren Bezeichnungen zusammengestellt. In dieser Abbildung ist auch angegeben das Vorzeichen der Brennweite f , die eine charakteristische Gr¨oße

290

10 Optik

R1>0 R20 f0 R2=oo R1=oo R2>0 f>0 f 0 auf die sph¨arische Grenzfl¨ache

10.1 Strahlenoptik

α R1 β s

β α θe s θn

αβ

g1

f (a)

291

θb b1 (b)

Abb. 10.8. Brechung eines zur optischen Achse parallelen Lichtstrahls an der Oberfl¨ ache 1 eines Glaslinse (a): Dieser Lichtstrahl wird in den Brennpunkt f gebrochen. Dieselbe Brechung, wenn der Lichstrahl von einem Punkt auf der optischen Achse ache 1 befindet (b): Dieser ausgeht, der sich in Gegenstandsweite g1 von der Oberfl¨ Lichtstrahl wird in die Bildweite b1 gebrochen

f¨allt. Er wird an der Grenzfl¨ ache gebrochen und trifft die optische Achse wieder in einem Punkt mit der Bildweite b1 . Der Winkel des einfallenden Strahls mit der optischen Achse auf der Gegenstandsseite ist θe , der Winkel des gebrochenen Strahls mit der optischen Achse auf der Bildseite ist θb . Außerdem bildet die Grenzfl¨ achennormale in dem Punkt der Brechung mit der optischen ur den Einfalls- und den Brechungswinkel Achse den Winkel θn . Dann gilt f¨ α = θn + θe

,

β = θn − θb ,

und daher folgt f¨ ur kleine Winkel α und β nach dem Brechungsgesetz (10.19) nG (θn + θe ) = nB (θn − θb ) . Wir betrachten wiederum den Kreisbogen auf der Grenzfl¨ache bis zu dem Punkt der Brechung, f¨ ur dessen L¨ ange s finden wir n¨aherungsweise s = R1 θn ≈ g1 θe ≈ b1 θb , und daher mithilfe von Gleichung (10.30) nG nB nB − nG nB . + = = g1 b1 R1 f

(10.31)

Dies ist das Abbildungsgesetz f¨ ur eine sph¨ arische Grenzfl¨ache, es verkn¨ upft die Bildweite b mit der Gegenstandsweite g u ¨ ber die Gr¨oße f , die man als die Brennweite der Grenzfl¨ ache bezeichnet. Den Punkt auf der optischen Achse, der den Abstand f von der Mittelebene hat, bezeichnet man als den Brennpunkt. Nach Gleichung (10.30) ist die Brennweite gegeben durch den

292

10 Optik

Kr¨ ummungsradius R der Fl¨ ache und die Brechzahlen auf der Gegenstandsund Bildseite. Den Kehrwert der Brennweite bezeichnet man als die Brechkraft D∗ = 1/f , ihre Einheit ist [D∗ ] = m−1 = dp, “Dioptrie”. Eine Linse besitzt zwei sph¨ arische Grenzfl¨ achen, also m¨ ussen wir die gleichen Betrachtungen noch einmal anstellen, in der alle Lichtstrahlen den umgekehrten Weg nehmen und die bildseitigen Brechzahlen durch gegenstandsseitige Brechzahlen ersetzt werden m¨ ussen und umgekehrt. Wichtig ist, dass f¨ ur die zweite Grenzfl¨ ache gilt g2 = −b1 , weil sich der Gegenstand jetzt auf der Bildseite in Bildweite von der sph¨ arischen Grenzfl¨ache befindet. Ansonsten erhalten wir analog zu Gl. (10.31) nG nB nG nG − nB nB + =− + = . g2 b2 b1 b2 R2

(10.32)

Addiert man die Gleichung (10.31) und (10.32) so ergibt sich das Abbildungsgesetz f¨ ur eine d¨ unne Linse. Wir setzen g1 = g und b2 = b, d.h. dies sind die Gegenstandsweite bzw. die Bildweite f¨ ur eine d¨ unne Linse. Weiterhin ist nB = nL die Brechzahl der Linse und nG = nM die Brechzahl des sie umgebenden Mediums. Das Abbildungsgesetz einer d¨ unnen Linse mit der Brechzahl nL und sph¨ arischen Oberfl¨ achen mit Kr¨ ummungsradien R1 und R2 , die sich in einem Medium mit der Brechzahl nM befindet, lautet nM nM 1 + = , g b f wobei die Brechkraft der Linse gegeben ist durch

1 1 1 = (nL − nM ) . − f R1 R2

(10.33)

(10.34)

In den meisten F¨ allen ist das Medium, in dem sich die Linse befindet, die Luft mit einer Brechzahl nM = 1, und das Abbildungsgesetz vereinfacht sich zu

1 1 1 1 1 1 + = , = (nL − 1) − . (10.35) g b f f R1 R2 Eine Linse besitzt also eine gegenstandsseitige (fG ) und eine bildseitige (fB ) Brennweite, die beide gleich groß sind (fG = fB = f ), wenn sich auf der Gegenstandsseite und der Bildseite das gleiche Medium befindet. Die Brennweite einer Linse kann positiv sein, dann ist die Linse fokussierend, oder sie kann negativ sein, dann ist die Linse defokussierend. Bei der Herleitung der Abbildungsgesetze (10.31) und (10.33) haben wir bereits benutzt, dass ausgezeichnete Strahlen bei der Brechung an einer sph¨ arischen Fl¨ ache immer dem gleichen Weg folgen. Diese ausgezeichneten Strahlen, die man Hauptstrahlen nennt, sind

10.1 Strahlenoptik

• • •

293

die Parallelstrahlen, die parallel zur optischen Achse verlaufen, die Brennstrahlen, welche die optische Achse im Brennpunkt schneiden, die Mittelpunktstrahlen, welche die optische Achse im Mittelpunkt schneiden.

F¨ ur diese Strahlen gilt: (1) Parallelstrahlen werden durch die Brechung zu Brennstrahlen, (2) Brennstrahlen werden durch die Brechung zu Parallelstrahlen, (3) Mittelpunktstrahlen werden durch die Brechung nicht ver¨andert. Aus diesen Verhaltensweisen lassen sich folgende Schl¨ usse ziehen: Phasenfl¨ achen Die Phasenfl¨ achen einer elektromagnetischen Welle, siehe Kap. 9.4.3, liegen immer senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Welle. F¨ ur Parallelstrahlen sind die Phasenfl¨ achen daher Ebenen, f¨ ur die Brennstrahlen Kugelfl¨achen mit ihrem Zentrum im Brennpunkt, und f¨ ur die Mittelpunktstrahlen sind es ebenfalls Kugelfl¨ achen mit ihrem Zentrum im Mittelpunkt. Eine Punktquelle im Brennpunkt einer fokussierenden Linse erzeugt eine Kugelwelle, die durch die Linse in eine ebene Welle verwandelt wird. Dies ist der einfachste Weg zur Erzeugung einer, allerdings im ihrem Querschnitt begrenzten, ebenen Welle. Bildrekonstruktion Die ausgesuchten Strahlen erm¨ oglichen ein einfaches Verfahren zur Rekonstruktion des Bilds B, das von einem Gegenstand G mithilfe einer Linse entworfen wird. In der Abb. 10.9 wird dies f¨ ur eine fokussierende und eine defokussierende Linse beispielhaft vorgef¨ uhrt. Wir lernen so, dass folgende Zusammenh¨ ange zwischen der Gegenstandsweite g und der Bildweite b bestehen, die sich auch aus dem Abbildungsgesetz (10.35) herleiten lassen.

G

G

f

−f −fB

f B

Abb. 10.9. Die Ablenkung von Parallelstrahl, Mittelpunktstrahl und Brennstrahl durch eine fokussierende Linse (links) und eine defokussierende Linse (rechts). Durch die Abbildung mit einer fokussierenden Linse entsteht aus dem reellen Gegenstand G unter bestimmten Bedingungen ein reelles Bild B, durch die Abbildung mit einer defokussierenden Linse immer ein virtuelles Bild B

294

10 Optik

Abbildung durch fokussierende Linse. • • •

g ≥ 2f → f < b ≤ 2f Reelles Bild ist auf Bildseite, umgekehrt und verkleinert B/G ≤ 1. 2f > g > f → 2f < b Reelles Bild ist auf Bildseite, umgekehrt und vergr¨oßert B/G > 1. f ≥ g > 0 → b < −g Virtuelles Bild ist auf Gegenstandsseite, aufrecht und vergr¨oßert B/G > 1.

Abbildung durch defokussierende Linse. •

g > 0 → −g < b < 0 Virtuelles Bild ist auf Gegenstandsseite, aufrecht und verkleinert B/G < 1.

Bei der Abbildung kann das Bild daher gr¨ oßer oder kleiner als der Gegenstand sein. Das Verh¨ altnis von Bildgr¨ oße zur Gegenstandsgr¨oße nennt man den Abbildungsmaßstab V =

|b| B = . G |g|

(10.36)

Eine andere M¨ oglichkeit, die Vergr¨ oßerung zu definieren, besteht in dem Vergleich der Sehwinkel. Diese Definition spielt besonders bei den optischen Instrumenten eine Rolle. Ohne optisches Instrument sieht das Auge den Gegenstand unter einem Sehwinkel θ0 , der von der Gegenstandsweite relativ zum ur eine Gegenstandsweite gDS an, bei der Auge abh¨ angt. Man gibt daher θ0 f¨ das Auge den Gegenstand gerade noch scharf abbilden kann. F¨ ur ein normales Auge betr¨ agt die deutliche Sehweite gDS = 25 cm. Mit einem optischen Instrument betrachtet wird sich der Sehwinkel ver¨andern auf den Wert θ. Die Winkelvergr¨ oßerung ist definiert als V =

θ θ0

mit θ0 =

G . gDS

(10.37)

10.1.4 Das menschliche Auge Das menschliche Auge ist physikalisch vereinfacht gesehen eine Linse, die auf der Gegenstandsseite an das Medium “Luft” mit nG = 1 grenzt, auf der Bildseite aber an das Medium “Glask¨ orper”. Den Glask¨orper und die Linse fasst man zusammen zu einem brechenden Medium mit der Brechzahl nB = 1,34, die Abbildung des Gegenstands auf die Retina des Auges entsteht also durch die Brechung an einer sph¨ arisch gekr¨ ummten Fl¨ache. F¨ ur die bildseitige Brennweite fB gilt daher Gleichung (10.30). Eine zus¨ atzliche Komplikation entsteht dadurch, dass das Auge durch Akache und damit die Brennweite komodation den Kr¨ ummungsradius R1 der Fl¨ andern kann. Bei nichtakkomodiertem Auge werden Gegenst¨ande mit fB ver¨ sehr großer Gegenstandsweite auf die Retina abgebildet, in diesem Zustand

10.1 Strahlenoptik

295

betr¨ agt die bildseitige Brennweite bzw. die gegenstandsseitige Brennweite des Auges fB = 23 cm , fG =

fB = 17 cm . nB

(10.38)

F¨ ur die Abbildung durch das menschliche Auge gilt das Abbildungsgesetz (10.31) nB 1 1 nB + = = . g b fB fG

(10.39)

Wie bei den Abbildungen mithilfe von Linsen l¨asst sich diese Abbildungsgleichung auch grafisch darstellen. Dabei ist folgendes zu beachten: •



Die Eintrittsfl¨ ache in das Auge wie auch die Bildfl¨ache im Auge (Retina) sind gekr¨ ummt. Um die dadurch entstehenden Komplikationen bei der Bildrekonstruktion zu vermeiden, ersetzen wir die brechende Fl¨ache durch die Mittelebene und die Retina durch die Bildebene. Wegen fG = fB schneiden die Strahlen, die unver¨andert durch die brechende Augenfl¨ ache hindurchtreten, die optische Achse nicht im Mittelpunkt, sondern in dem Knotenpunkt, der von der Mittelebene einen bildseitigen Abstand k = (nB − 1) fG =

nB − 1 fB nB

(10.40)

besitzt. Dieses Abbildungsverhalten des menschlichen Auges ist in Abb. 10.10 gezeigt. Das Verfahren der grafischen Rekonstruktion erlaubt es, die Eigenschaften optischer Instrumente unter Ber¨ ucksichtigung der Abbildung durch das Auge zu untersuchen.

G fB fG

k B

Abb. 10.10. Die Ablenkung von Parallelstrahl, Knotenpunktstrahl und Brennstrahl durch das menschliche Auge

296

10 Optik

10.1.5 Optische Instrumente Wir werden in diesem Kapitel nur die optischen Instrumente grafisch behandeln, die f¨ ur Biologen besonders wichtig sind. Das sind die Lupe und das Mikroskop. Ziel dieser Untersuchungen ist das Verst¨andnis, welcher Zusammenhang zwischen den charakteristischen Parametern dieser optischen Systeme und der mit ihnen erreichbaren Vergr¨ oßerungen besteht. Dar¨ uber hinaus ist das Aufl¨ osungsverm¨ ogen des Systems die zweite wichtige Kenngr¨oße; mit ihm werden uns aber erst im Rahmen der Wellenoptik besch¨aftigen. Die Lupe Die Lupe besteht aus einer fokussierenden Lupenlinse mit der Brennweite fL , die einen Gegenstand so auf die Kr¨ ummungsfl¨ache des Auges abbildet, dass auf der Retina ein scharfes Bild entsteht. Damit bei der Aufnahme des Bilds das Auge m¨ oglichst entspannt ist, befindet sich das Auge im nichtakkomodierten Zustand, d.h. es ist auf die Abbildung unendlich entfernter Objekte eingestellt. Damit sich das Objektbild im Unendlichen befindet, muss sich der Gegenstand bei der Abbildung durch die Lupe im Brennpunkt der Lupenlinse befinden. Diese Abbildungsverh¨ altnisse sind dargestellt auf der linken Seite der Abb. 10.11 mithilfe einiger ausgesuchter Lichtstrahlen. Man beachte, dass ein scharfes Bild auf der Retina mit einem nichtakkomodierten Auge nur dann entsteht, wenn alle Lichtstrahlen auf der Gegenstandsseite des Auges parallel mit einem Winkel θ gegen die optische Achse verlaufen. Diese Forderung an die Strahlen erm¨ oglicht die Bildrekonstruktion mithilfe der Brennstrahlen und der Knotenpunktstrahlen, obwohl der Weg dieser Strahlen durch die Lupenlinse nicht direkt rekonstruierbar ist. Ohne die Lupe erscheint der Gegenstand unter dem Sehwinkel θ0 , die Vergr¨ oßerung einer Lupe ergibt sich daher aus Gleichung (10.37) und der

G

Lupe

fG fL

fL θ

fB k

θ0

G fO

Lupe

t

fL fO

B ZB

Abb. 10.11. Abbildung eines reellen Gegenstands in ein reelles Bild auf der Retina des nichtakkomodierten Auges mithilfe einer Lupe (links). Abbildung eines reellen Gegenstands in ein reelles Zwischenbild mithilfe eines Mikroskops (rechts)

10.2 Wellenoptik

297

Abb. 10.11 zu VLupe =

θ gDS = . θ0 fL

(10.41)

Das Mikroskop In einem normalen Lichtmikroskop ist der Lupenlinse, die auch als Okularlinse bezeichnet wird, eine weitere fokussierende Linse vorgeschaltet, die von dem Gegenstand zun¨ achst ein Zwischenbild entwirft, das dann mit der Lupe betrachtet wird. Die vorgeschaltete Linse wird Objektivlinse genannt, sie besitzt eine Brennweite fO . Aus der Zusammenstellung der Abbildungsm¨ oglichkeiten in Kap. 10.1.3 ergibt sich, dass das Zwischenbild dann gr¨ oßer als der Gegenstand ist, wenn sich der Gegenstand in der Gegenstandsweite 2 fO > g1 > fO befindet. Damit das Zwischenbild durch die Lupe mit nichtakkomodiertem Auge betrachtet werden kann, muss es sich bez¨ uglich der Okularlinse in der Gegenstandsweite g2 = fL befinden. Den Abstand zwischen bildseitigem Brennpunkt der Objektivlinse und dem gegenstandsseitigen Brennpunkt der Okularlinse bezeichnet man als die Tubusl¨ ange t des Mikroskops. Auf der rechten Seite der Abb. 10.11 sind die Lichtstrahlwege bei der Abbildung durch die Objektivlinse dargestellt, diese Wege verlaufen ganz ¨ ahnlich zu denen in der Abb. 10.9. Die Abbildung des Zwischenbilds mit der Okularlinse wird nicht noch einmal gezeigt, sie ist identisch zu der linken Seite der Abb. 10.11, die den Strahlengang in der Lupe zeigt. Die Gesamtvergr¨ oßerung des Mikroskops ergibt sich aus dem Produkt der Vergr¨ oßerungen durch die Objektivlinse und die Okularlinse VMikroskop = VObjektiv VLupe .

(10.42)

F¨ ur die Objektivvergr¨ oßerung k¨ onnen wir den Abbildungsmaßstab verwenden. Nach Abb. 10.11 rechts gilt VObjektiv =

t B = , G fO

(10.43)

t gDS . fO fL

(10.44)

und daher VMikroskop =

Um starke Vergr¨ oßerungen mit einem Mikroskop zu erreichen, sollten die Brennweiten von Objektiv- und Okularlinse m¨oglichst klein sein. Diese Linsen sollten also stark gekr¨ ummte Oberfl¨ achen besitzen, eine Forderung, die wegen der damit einhergehenden Linsenfehler bald an ihre Aufl¨osungsgrenze st¨ oßt. In der Tat ist das Aufl¨ osungsverm¨ ogen eines Mikroskops das wichtigere Problem, mit dem wir uns in Kap. 10.2.4 auseinandersetzen.

10.2 Wellenoptik Mithilfe der Strahlenoptik haben wir einen beachtlichen Teil optischer Probleme analysieren k¨onnen, aber eben nicht alle. Der Grund f¨ ur die Beschr¨ankung

298

10 Optik

ist die Tatsache, dass sich die Strahlenoptik nur mit Intensit¨aten besch¨aftigt, das Licht seiner Natur nach aber eine elektromagnetische Welle ist. Die Lichtintensit¨ at Iem ist nach Gleichung (9.117) proportional zum Quadrat der 2 elektrischen Feldst¨ arke, Iem ∝ E , und das elektrische Feld ist ein Vektorfeld mit einer definierten Richtung im Raum. Die Vektoreigenschaften (nicht aber die Eigenschaft, dass die Intensit¨ at eine gemittelte Energieflussdichte mit einer Ausbreitungsrichtung darstellt) gehen verloren, wenn wir allein Intensit¨aten behandeln, nicht aber die elektrischen Felder. Fassen wir die wichtigsten Eigenschaften des elektrischen Lichtfelds noch einmal zusammen. (1) Das elektrische Feld steht immer senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung der elektromagnetischen Welle. Diese Eigenschaft bedeutet in der Sprache der Wellenoptik, dass das Licht polarisiert ist. Die Polarisation wird festgelegt durch die Richtung von E(r, t). (2) Elektrische Felder k¨ onnen sich u ¨ berlagern. Das bedeutet, dass die In¨ von zwei tensit¨ at Iem der elektromagnetischen Welle nach der Uberlagerung Wellen mit den Intensit¨ aten Iem,1 und Iem,2 gegeben ist zu  (10.45) Iem = Iem,1 + Iem,2 + 2 Iem,1 Iem,2 cos δ , wobei δ die Phasendifferenz zwischen den beiden elektrischen Feldern E 1 (r, t) ¨ und E 2 (r, t) ist. In der Strahlenoptik w¨ urde die Uberlagerung, die z.B. bei der Fokussierung von Parallelstrahlen durch eine fokussierende Linse entsteht, beschrieben werden durch Iem = Iem,1 + Iem,2 .

(10.46)

Der Unterschied zwischen den Gleichungen (10.45) und (10.46) wird in der Sprache der Wellenoptik als Interferenz bezeichnet. Die Tatsache, dass Gleichung (10.46) u.U. richtig ist, bedeutet, dass in diesem Fall die elektrischen Felder nicht interferieren k¨ onnen oder dass die Intensit¨aten durch Addition sehr vieler Einzelintensit¨ aten entstehen, sodass sich gemittelt u ¨ ber alle Einzelintensit¨ aten cos δ = 0 ergibt. Wesentliche Aspekte der Wellennatur des Lichts sind seine Polarisationsm¨ oglichkeit und seine Interferenzf¨ ahigkeit. Diese Aspekte spielen auch eine Rolle, wenn Licht an einer Grenzfl¨ache in ein anderes Medium mit der Brechzahl n gebrochen wird. Wir wollen daher die Brechung des Lichts noch einmal kurz im Rahmen der Wellenoptik betrachten. 10.2.1 Brechung und Reflexion an einer Grenzfl¨ ache Wir haben schon in Kap. 10.1 erw¨ ahnt, dass an der Grenzfl¨ache das elektrische und magnetische Feld die Randbedingungen (8.99), (8.100), (8.210) und (8.211) erf¨ ullen m¨ ussen. Diese Bedingungen blieben im Rahmen der Strahlenoptik ohne Bedeutung, f¨ ur die Wellenoptik sind sie die Gleichungen, mit

10.2 Wellenoptik

299

deren Hilfe das Verhalten des elektrischen und magnetischen Felds an der Grenzfl¨ ache berechnet wird. Wir werden aber mithilfe dieser aufwendigen Rechnungen nicht erneut die G¨ ultigkeit des Reflexionsgesetzes (10.18) und des Brechungsgesetzes (10.19) nachweisen. Diese Gesetze behalten ihre G¨ ultigkeit, aber die Wellenoptik macht noch weitere Aussagen u ¨ ber die Reflexion bzw. Brechung, die wir jetzt nur zusammenstellen. (1) Einfallende, reflektierte und gebrochene Wellen besitzen Ausbreitungsrichtungen, die alle in einer Ebene liegen, der Einfallsebene. Bez¨ uglich der Einfallsebene besitzt das elektrische Feld zwei Komponenten, die Komponente E in der Einfallsebene und die Komponente E ⊥ senkrecht zur Einfallsebene, siehe Gleichung (10.16). (2) Die Frequenzen der einfallenden, der reflektierten und der gebrochenen Welle sind gleich. Dagegen unterscheidet sich die Wellenl¨ange λg der gebrochenen Welle von der der einfallenden Welle λe und der der reflektierten Welle λr . Es gilt f¨ ur eine Grenzfl¨ ache, an der die Welle vom Vakuum in ein Medium mit Brechzahl n u ¨ bertritt c λg = n λg = λe = λr . cǫ

(10.47)

(3) Am wichtigsten sind die Aussagen u ¨ ber das Reflexionsverm¨ogen an der Grenzfl¨ ache. Diese Aussagen sind verschieden f¨ ur die Parallelkomponente des elektrischen Felds E und die Senkrechtkomponente des elektrischen Felds E ⊥ . Sie lauten f¨ ur die Parallelkomponente R =



tan (α − β) tan (α + β)

2

=



n cos α − cos β n cos α + cos β

2

(10.48)

und f¨ ur die Senkrechtkomponente R⊥ =



sin (α − β) sin (α + β)

2

=



cos α − n cos β cos α + n cos β

2

.

(10.49)

R(α ) 1

R

R 0 0

30

60

α(o ) 90

Abb. 10.12. Die Abh¨ angigkeit des Reflexionsverm¨ ogens R f¨ ur parallel (R ) und senkrecht (R⊥ ) polarisierte Lichtwellen vom Einfallswinkel α

300

10 Optik

Diese Gleichungen werden die Fresnel-Gleichungen genannt. Die Ver¨anderung von R und R⊥ mit dem Einfallswinkel α sind in der Abb. 10.12 dargestellt. Mithilfe dieser Abbildung und der Gleichungen (10.48) und (10.49) diskutieren wir 3 besondere F¨ alle: •

Senkrechter Einfall f¨ ur α = β = 0 F¨ ur diesen Fall reduzieren sich die Gleichungen (10.48) und (10.49) zu R = R⊥ =





1−n 1+n

2

.

Beide Reflexionsverm¨ ogen sind gleich, aber gr¨oßer als null f¨ ur n > 1. Einfall unter dem Brewster-Winkel αBr Die Welle f¨ allt unter dem Brewster-Winkel α = αBr auf die Grenzfl¨ache, wenn α + β = π/2. In diesem Fall gilt tan (α + β) = ∞, und die Gleichung (10.48) reduziert sich auf R = 0 .



(10.50)

(10.51)

Unter dem Brewster-Winkel wird die Parallelkomponente nicht reflektiert, die reflektierte Komponente ist daher senkrecht zur Einfallsebene polarisiert. Streifender Einfall f¨ ur α = π/2 In diesem Fall ergeben die Gleichungen (10.48) und (10.49) R = R⊥ = 1 .

(10.52)

Dies ist der Grenzfall, in dem die Welle die Grenzfl¨ache nicht wirklich trifft und “Reflexion” ungehinderte Ausbreitung bedeutet. Die Intensit¨ at Ig , die in das Medium eintritt, ergibt sich aus den FresnelGleichungen und den Gleichungen (10.2) bis (10.5) zu Ig = I0 − (R I0, + R⊥ I0,⊥ )

mit I0 = I0, + I0,⊥ .

(10.53)

(4) Die Phase der in das Medium gebrochenen Welle ver¨andert sich nicht gegen¨ uber der Phase der einfallenden Welle. Dagegen ver¨andert sich die ¨ Phase der reflektierten Welle abh¨ angig davon, ob der Ubergang in das optisch dichtere oder optisch d¨ unnere Medium erfolgt. Außerdem sind die Phasen¨ anderungen f¨ ur die Parallelkomponente i.A. verschieden von der f¨ ur die Senkrechtkomponente. F¨ ur uns wichtig ist, dass beim senkrechten Einfall auf ein optisch dichteres Medium sowohl die Parallel- wie auch die Senkrecht¨ komponente einen Phasensprung von ∆δ = π erleiden, beim Ubergang in das optisch d¨ unnere Medium tritt dagegen nie ein Phasensprung auf. Diese Aussagen der Wellenoptik erg¨ anzen das Reflexionsgesetz und das Brechungsgesetz. Wir wollen als n¨ achstes die Ph¨anomene behandeln, u ¨ ber welche die Strahlenoptik gar keine Aussagen gemacht hat.

10.2 Wellenoptik

301

Anmerkung 10.2.1: Die Reflexionen mit und ohne Phasensprung von ∆δ = π sind uns schon bei den mechanischen Wellen in Kap. 7.2.4 begegnet. Der Phasensprung trat nicht auf bei der Reflexion am “losen Ende”, und das entspricht jetzt der Reflexion am “optisch d¨ unneren” Medium. Dagegen ist ∆δ = π bei der Reflexion am “festen Ende”, und das ist ¨ aquivalent zur Reflexion einer elektromagnetischen Welle unter bestimmten Bedingungen am “optisch dichteren” Medium. Ein weiteres Ph¨ anomen, das sowohl bei mechanischen wie elektromagnetischen Wellen beobachtbar ist, betrifft die Erzeugung stehender Wellen durch Reflexion, wenn eine der Resonanzbedingungen in Abb. 7.9 erf¨ ullt ist. Auf stehende elektromagnetische Wellen treffen wir z.B. in einem Laser, den wir in Kap. 15.5 behandeln.

10.2.2 Die Polarisation des Lichts Der elektrische Feldvektor steht immer senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung der elektromagnetischen Welle. Da wir jetzt wieder die freie Ausbreitung im Raum betrachten, kehren wir zur¨ uck zu unserer alten Schreibweise, in der die Ausbreitungsrichtung auch die z-Richtung des Koordinatensystems festlegte. Dann gilt, wenn wir auch Phasen¨ anderungen zwischen den beiden zu z senkrechten Komponenten zulassen  sin (ωt − kz) + E y y sin (ωt − kz + δ) . E(z, t) = E x x

(10.54)

Diese Darstellung mag zun¨ achst verwundern, wenn man sie mit Gleichung (9.93) vergleicht. Aber wir haben ja bei der Diskussion u ¨ ber das Verhalten der elektromagnetischen Welle an einer Grenzfl¨ache gefunden, dass sich die Parallelkomponente E und die Senkrechtkomponente E ⊥ an einer Grenzfl¨ ache verschieden verhalten, und dieser Verschiedenheit tr¨agt die Darstellung (10.54) Rechnung, wenn wir den senkrechten Einfall auf eine Grenzfl¨ache behandeln. Anhand der Gleichung (10.54) lassen sich folgende Polarisationen voneinander unterscheiden: Lineare Polarisation Die Welle ist linear polarisiert, wenn die Phasenverschiebung δ = 0 ist. Die Polarisationsrichtung ist gegeben durch den Winkel φ, f¨ ur den gilt tan φ =

Ey . Ex

Zirkulare Polarisation Die Welle ist zirkular polarisiert, wenn δ = π/2 ist und gleichzeitig E x = E y gilt. Elliptische Polarisation F¨ ur alle anderen Werte von δ und E y /E x ist die Welle elliptisch polarisiert.

302

10 Optik

Das Licht, das wir von nat¨ urlichen Lichtquellen wie der Sonne empfangen, ist unpolarisiert. Das liegt daran, dass die Lichtwelle aufgebaut ist aus vielen einzelnen Wellenz¨ ugen, die wir in Kap. 9.4.2 kennen gelernt haben. Jeder Wellenzug allein ist polarisiert, aber die Polarisation ¨andert sich von Wellenzug zu Wellenzug. Gemittelt u uge verschwindet ¨ ber sehr viele Wellenz¨ die Polarisation. Will man mit polarisiertem Licht experimentieren, muss man es aus dem unpolarisiertem Licht erzeugen, also alle Wellenz¨ uge außer denen mit der gew¨ unschten Polarisation aus der Gesamtwelle entfernen. Die daf¨ ur gebr¨ aulichen Verfahren wollen wir jetzt schildern. Erzeugung linear polarisierten Lichts (1) Reflexion unter dem Brewster-Winkel Dieses Verfahren kennen wir aus der Behandlung der Brechung an einer Grenzfl¨ache. Trifft das Licht aus dem Vakuum auf eine Grenzfl¨ache unter dem Brewster-Winkel αBr , so ist das reflektierte Licht senkrecht zur Einfallsebene polarisiert. Da das Reflektionsverm¨ ogen am Brewster-Winkel i.A. sehr klein ist, kann man das Verfahren mehrmals an hintereinander liegenden parallelen Platten wiederholen, siehe Kap. 10.1.1. Im Grenzfall besitzt die reflektierte Gesamtwelle die Intensit¨ at Ir = 0,5 I0 und ist senkrecht zur Einfallsebene polarisiert, die transmittierte Welle hat die Intensit¨at It = 0,5 I0 und ist in der Einfallsebene polarisiert. (2) Selektive Absorption Es gibt Kristalle, die absorbieren selektiv Licht mit einer Polarisationsrichtung. Solche Kristalle heißen Dichroite. Werden Dichroite in der gleichen Richtung auf einer Folie aufgetragen, erh¨ alt man eine Schicht, die nur f¨ ur Licht in der dazu senkrechten Richtung durchl¨assig ist. Dies ist die einfachste M¨ oglichkeit, polarisiertes Licht in einem Polarisator zu erzeugen und die Polarisationsrichtung des transmittierten Lichts in einem Analysator zu bestimmen. Bilden die Vorzugsrichtungen der Kristalle auf dem Polarisator und dem Analysator den Winkel φ miteinander, dann betr¨agt die transmittierte Intensit¨ at nach dem Analysator IA = IP cos2 φ, wenn IP die Lichtintensit¨at nach dem Polarisator war. Stehen Polarisator und Analysator senkrecht zueinander, ist IA = 0. Man beachte aber, dass das Licht nach dem Polarisator wegen des Faktors cos2 φ nicht vollst¨ andig polarisiert ist. (3) Doppelbrechende Kristalle Es gibt auch Kristalle, die besitzen f¨ ur zueinander senkrechte Polarisationsrichtungen verschiedene Brechzahlen, also verschiedene Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Lichts. An der Grenzfl¨ ache eines derartigen Kristalls wird Licht unter zwei verschiedenen Brechungswinkeln β gebrochen, daher der Begriff Doppelbrechung. Man kann diese unterschiedlichen Ausbreitungsrichtungen von senkrecht zueinander polarisiertem Licht im Medium benutzen, um die Polarisationen voneinander zu trennen. Nach diesem Prinzip arbeitet z.B. das Nicol’sche Prisma.

10.2 Wellenoptik

303

Erzeugung zirkular polarisierten Lichts Die Erzeugung zirkular polarisierten Lichts setzt die Existenz linear polarisierten Lichts voraus. F¨ allt linear polarisiertes Licht senkrecht so auf einen doppelbrechenden Kristall, dass E x = E y ist, dann entwickelt sich zwischen der x-Komponente und der y-Komponente der Welle mit zunehmendem Ausbreitungsweg eine Phasenverschiebung, weil die Ausbreitungsgeschwindigkeiten f¨ ur diese beiden Komponenten in dem Medium verschieden sind. Wir beschreiben diese Entwicklung folgendermaßen: An der Grenzfl¨ ache z = 0 hat die Welle die Darstellung x sin ωt + y sin ωt) . E(0, t) = E (

(10.55)

E(∆, t) = E ( x sin (ωt − kx ∆) + y sin (ωt − ky ∆)) .

(10.56)

Nach einem Ausbreitungsweg ∆ ist die Welle gegeben durch

Dies ergibt zirkular polarisiertes Licht, wenn kx ∆ = ky ∆ +

π . 2

(10.57)

Wegen kx = ω/cǫ,x und ky = ω/cǫ,y kann man die Bedingung (10.57) umschreiben in

ω ω ω π − ∆ = ∆ (nx − ny ) = , cǫ,x cǫ,y c 2 und wegen ω/c = 2π/λ ergibt sich ∆=

λ 1 . 4 nx − ny

(10.58)

Der doppelbrechende Kristall muss daher eine Dicke proportional zu λ/4 besitzen, daher nennt man ihn Lambda-Viertel-Pl¨ attchen. 10.2.3 Koh¨ arenz und Interferenz Wellen k¨ onnen interferieren, aber offensichtlich tun sie es nicht unter allen ¨ Umst¨ anden. Wir erkennen das daran, dass bei der Uberlagerung von zwei Wellen die Gleichung (10.46) gilt und nichtdie Gleichung (10.45). Nur letztere enth¨ alt den Interferenzterm ∆Iem = 2 Iem,1 Iem,2 cos δ, der je nach der Gr¨ oße der Phasendifferenz δ zwischen den Werten   −2 Iem,1 Iem,2 ≤ ∆Iem ≤ +2 Iem,1 Iem,2 schwankt und damit zu einer Schw¨ achung oder Verst¨arkung der mittleren Intensit¨ at Iem = Iem,1 +Iem,2 f¨ uhrt. Was ist der Grund f¨ ur dieses unterschiedliche Verhalten von zwei Wellen?

304

10 Optik

Damit Wellen interferieren k¨ onnen, m¨ ussen sie koh¨ arent sein. Die Bedingungen f¨ ur die Koh¨ arenz von mehreren Wellen sind: (1) Die Wellen m¨ ussen dasselbe Frequenzspektrum besitzen. Im Falle von ebenen Wellen bedeutet dies: Alle Wellen besitzen dieselbe Frequenz und Wellenzahl ωi = ω

, ki = k

mit

1≤i≤n.

(2) Die Wellen m¨ ussen dieselbe Polarisation besitzen. F¨ ur linear polarisierte Wellen bedeutet dies: Die elektrischen Feldst¨arken besitzen dieselbe Richtung i = n  mit E

1≤i≤n.

(3) Die Wellen m¨ ussen zueinander in festen Phasenbeziehungen stehen δi − δj = konst mit

1≤in. 2 d

(10.83)

F¨ ur eine Platte mit Brechzahl n = 1,5 und einer Dicke d = 5·10−3 m bedeutet dies f¨ ur sichtbares Licht mit λ = 5 · 10−7 m ℓ>

15 · 10−3 = 3 · 104 , 5 · 10−7

(10.84)

d.h. die Interferenzordnung ist von der Gr¨ oße ℓ = 10000. Damit treten wir in Konflikt zu der Intererenzbedingung (10.60). Interferenzen werden daher i.A. nicht beobachtbar sein, weil die Koh¨ arenzl¨ ange nat¨ urlichen Lichts nicht groß genug f¨ ur derartige Plattendicken ist. In der Tat, der Durchgang des Sonnenlichts durch eine Fensterglasscheibe geschieht ohne Interferenz. Dagegen ist ¨ die Interferenz an d¨ unnen Olschichten zu beobachten. In diesem Fall treten die Interferenzen f¨ ur jede Wellenl¨ ange λ unter einem anderen Beobachtungsange ver¨ andert sich die Farbe des Lichts, wir winkel αmax auf. Mit der Wellenl¨ ¨ beobachten daher auf der Olschicht das gesamte Farbspektrum des Sonnenlichts als Interferenzfarben. Dabei h¨ angt die Farbe von unserem Blickwinkel ab, die Oberfl¨ ache “irisiert”. Ein derartiges Ph¨anomen ist auch verantwortlich f¨ ur die Farben eines Schmetterlingsfl¨ ugels, wo die d¨ unne Schicht durch Schuppen auf den Fl¨ ugeln gebildet wird. (2) Interferenzen an einer Schicht konstanter Kr¨ ummung Eine konstante Kr¨ ummung besitzt die Oberfl¨ ache einer optischen Linse, und daher werden derartige Interferenzen oft an Linsen beobachtet. In der Abb. 10.16 ist der Weg des Lichts gezeigt, das senkrecht auf die ebene Fl¨ache einer plankonvexen Linse f¨ allt, die auf einem ebenen Spiegel liegt. In diesem Bild ist die Kr¨ ummung der Linse extrem vergr¨ oßert dargestellt, im Experiment betr¨ agt der Abstand zwischen Spiegel und Linsenrand weniger als 1 mm. Dies ist auch der Grund, warum wir die Brechung des Lichts an den Oberfl¨achen vernachl¨ assigen. Alle Lichtstrahlen sind parallel zueinander, wir behandeln die Interferenz nach Fraunhofer, obwohl es sich streng genommen um ein Problem der Fresnel-Interferenz handelt. Das Licht trifft auf 3 Grenzfl¨ achen. Interferieren werden aber wegen der Gleichung (10.60) nur die Wellen, die an dem Spiegel und der gekr¨ ummten Linsenfl¨ ache reflektiert werden. Die Linse besitzt den Kr¨ ummungsradius R, den Abstand von ihrer optischen Achse bezeichnen wir mit r⊥ . Der Gangunterschied zwischen den interferierenden Wellen betr¨agt ∆ = 2 sAB und ergibt sich aus der Kreisgleichung zu

2 ∆2 r2 r2 ∆ 2 ≈ ⊥ . + r⊥ = R2 → ∆ = ⊥ − R− 2 R 4R R

(10.85)

(10.86)

10.2 Wellenoptik

313

Den Term proportional ∆2 kann f¨ ur sehr kleine ∆ vernachl¨assigt werden. Destruktive Interferenzen ergeben sich, wenn ∆=

2ℓ + 1 λ λ− 2 2

, ℓ > 0 ist ganze Zahl

(10.87)

ist. Dabei ist wieder ein Phasensprung δ = π ber¨ ucksichtigt, der bei der Reflexion am optisch dichteren Medium auftritt. Aus Gleichungen (10.86) und (10.87) ergibt sich f¨ ur die Radien der destruktiven Interferenzen, die man Newton’sche Ringe nennt √ r⊥,min = ℓ λ R . (10.88) Dies ergibt gut getrennte Ringe, wenn r⊥,min ≈ 10−2 m. F¨ ur sichtbares Licht bedeutet dies R≈

10−4 = 200 m. 5 · 10−7

(10.89)

Die Linsenbrennweite muss f¨ ur n = 1,5 also von der Gr¨oßenordnung f = R/(n − 1) ≈ 400 m sein. Die Interferenz von geteilten Strahlen spielt auch bei dem Versuch von Michelson und Morley eine entscheidende Rolle, der ein Schl¨ usselversuch f¨ ur die Entwicklung der speziellen Relativit¨ atstheorie gewesen ist. Wir werden auf diese Vielstrahlinterferenz in Kap. 12.1 erneut eingehen.

Teil II

Moderne Physik

11 Einf¨ uhrung

Mit Kap. 11 beginnt formal die Behandlung der modernen Physik. Das bedeutet nicht, dass damit die bisher behandelte klassische Physik nutzlos und durch etwas Neues und vielleicht sogar Besseres ersetzt wird. Die Notwendigkeit, eine andere mathematische Formulierung der physikalischen Gesetze zu entwickeln, ergibt sich allein aus der Beobachtung der Natur, die im Laufe der Zeit immer genauer und detaillierter wurde. Die Fortschritte in der experimentellen Technik erm¨ oglichen Experimente, deren Ergebnisse unverst¨andlich im Rahmen der klassischen Physik sind, ja deren Vorhersagen sogar widersprechen. Dadurch werden die Gesetze der klassischen Physik nicht falsch, sondern sie gelten nat¨ urlich weiterhin unter den experimentellen Pr¨amissen, unter denen sie aufgestellt wurden. Insofern ist die klassische Physik anzusehen als Grenzfall der modernen Physik, der sich ergibt, wenn die experimentellen Anforderungen f¨ ur die Beobachtung charakteristischer Ph¨anomene der modernen Physik nicht erreicht werden k¨ onnen. Wenn also z.B. die Geschwindigkeiten von Massen klein sind gegen die Vakuumlichtgeschwindigkeit. Dabei sollten wir erkennen, dass viele der Probleme. die erst mit den Methoden der modernen Physik behandelt und gel¨ost werden k¨onnen, schon in den Gesetzen der klassischen Physik zu erkennen sind. Dies beginnt bereits mit den drei Newton’schen Axiomen, die wir in Kap. 2.2.1 besprochen haben. Das zweite Axiom verkn¨ upft die Kraft mit der Bewegungs¨anderung eines K¨orpers F =

dp . dt

(11.1)

Bewegung stellt eine Zustands¨ anderung im Raum und in der Zeit dar, und um den Raum zu beschreiben, ben¨ otigen wir ein Koordinatensystem. Newton hat angenommen, dass es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit gibt und dass das Koordinatensystem (S) des absoluten Raums durch die Lage der Fixsterne definiert wird. Es gibt jedoch keine M¨oglichkeit, diese Annahme experimentell zu verifizieren. Denn nach dem ersten Newton’schen Axiom bewegen sich alle K¨ orper, und damit alle Koordinatensysteme (S’), auf die keine Kraft wirkt, geradlinig gleichf¨ ormig. Es gibt also keine experimentelle

318

11 Einf¨ uhrung

M¨oglichkeit, (S) und (S’) zu unterscheiden, sie sind vollkommen gleichwertig. Auf dieses Problem kommen wir im n¨ achsten Kapitel wieder zur¨ uck. Gleichwertige Koordinatensysteme nennt man Inertialsysteme. Sie sind in der klassischen Physik dadurch ausgezeichnet, dass die Gesetze der klassischen Mechanik in ihnen uneingeschr¨ ankt g¨ ultig sind. Dies ist ein Postulat, an dessen G¨ ultigkeit wir bisher niemals gezweifelt haben. Da es nur ein Postulat ist, ist es im Einklang mit unseren Erfahrungen, aber im Prinzip nicht beweisbar. Von Einstein (1879 - 1955) wurde dieses Postulat noch erweitert dahingehend, dass es sich auf alle physikalischen Gesetze bezieht, die in allen Intertialsystemen uneingeschr¨ ankte G¨ ultigkeit besitzen.

11.1 Die Inertialsysteme Inertialsysteme sind Koordinatensysteme, die sich relativ zueinander geradlinig gleichf¨ ormig bewegen. Die Koordinaten im System (B) lassen sich daher in (B) die Koordinaten des Systems (A) mithilfe der Relativgeschwindigkeit v A des Systems (A) in Bezug auf das System (B) transformieren. Unter Einbeziehung der absoluten Zeit lauten die Transformationsgleichungen t(A) = t(B) = t x(A) = x(B) −

(11.2)

(B) vA

t.

Man nennt dieses Gleichungssystem die Galilei-Transformationen, sie ergeben f¨ ur die Geschwindigkeit eines K¨ orpers, die sowohl im System (A) wie im System (B) gemessen wird, (B)

v (A) = v (B) − v A .

(11.3)

Weiterhin folgt aus den Transformationsgleichungen, dass es in jedem Inertialsystem Gr¨ oßen gibt, deren Werte durch die Transformationen nicht ver¨andert werden, die also in allen Inertialsystemen denselben Wert besitzen. Die Gr¨oßen nennt man die Galilei-Invarianten, zu ihnen geh¨oren die • • •

Beschleunigung a(A) = a(B) , (B) (B) (A) (A) L¨ angenintervalle ∆x(A) = x2 − x1 = x2 − x1 = ∆x(B) , (B) (B) (A) (A) Zeitintervalle ∆t(A) = t2 − t1 = t2 − t1 = ∆t(B) .

Mithilfe der Galilei-Invarianten k¨ onnen wir entscheiden, unter welchen Bedingungen die Gesetze der klassischen Mechanik, also die Newton’schen Axiome, in allen Inertialsystemen g¨ ultig sind. Im System (A) lautet z.B. das zweite Newton’sche Axiom F (A) (r (A) ) = m(A) a(A) . Entsprechend muss dann im System (B) dieses Axiom g¨ ultig sein

(11.4)

11.1 Die Inertialsysteme

F (B) (r (B) ) = m(B) a(B) ,

319

(11.5)

und das ist insofern der Fall, als f¨ ur die Beschleunigungen a(A) = a(B) und (A) (B) f¨ ur die L¨ angenintervalle r =r gilt. Dar¨ uber hinaus m¨ ussen allerdings auch die Ursachen der Kr¨ afte Galilei-invariant sein, d.h. es muss f¨ ur die Gravitation und die elektrische Kraft gelten m(A) = m(B) und q (A) = q (B) . Auch diese Forderungen haben wir bisher stillschweigend als erf¨ ullt angesehen, weil sie unseren Alltagserfahrungen entsprechen. Seit Einstein wissen wir aber, dass die Invarianz der Masse nicht mehr gilt, wenn die Relativgeschwindigkeit (B) zwischen (A) und (B) sehr groß wird, vA ≈ c, siehe Kap. 12.6.2. ¨ Auch bei der Uberpr¨ ufung des zweiten fundamentalen Gleichungssystems der klassischen Physik, der Maxwell’schen Gesetze, stoßen wir auf ein offensichtliches Problem. Fassen wir die Maxwell’schen Gesetze zu der Wellengleichung (9.88) zusammen, so lautet diese Ausbreitungsgleichung f¨ ur eine elektromagnetische Welle im Vakuum des Systems (A) (A)

(A)

d2 Ex 1 d2 Ex 2 −  2  2 = 0 mit  dz (A) c(A) dt(A)

c(A) = √

1 . µ0 ǫ0

(11.6)

Daraus folgt aber nicht, falls die Galilei-Transformationen (11.2) korrekt sind, dass im System (B) gilt (B)

(B)

d2 Ex 1 d2 Ex 2 −  2  2 = 0 ,  dz (B) c(B) dt(B)

(11.7)

weil nach Gleichung (11.3)

1 c(B) = √ µ0 ǫ0

=

1 c(A) = √ . µ0 ǫ0

(11.8)

Dies ist, falls µ0 und ǫ0 Naturkonstanten sind, ein eklatanter Widerspruch, der sich allerdings experimentell leicht aufkl¨ aren l¨asst durch Verifikation der in den Gleichungen (11.6) und (11.7) implizit enthaltenen Voraussage: Die Vakuumlichtgeschwindigkeit hat in allen Inertialsystemen denselben Wert c(A) = c(B) = c = 3 · 108 m s−1 .

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

Der experimentelle Beweis, dass die Lichtgeschwindigkeit c eine Naturkonstante ist, ist gleichzeitig der Beweis, dass die Galilei-Transformationen nicht (B) allgemein g¨ ultig sein k¨ onnen, sondern sich allein f¨ ur den Grenzfall vA ≪ c ergeben.

12.1 Das Michelson-Morley-Experiment Die Gr¨ oße der Vakuumlichtgeschwindigkeit l¨ asst sich mit verschiedenen Methoden messen. Es ist jedoch hier nicht die Aufgabe, ihren Wert mit hoher Pr¨ azision zu bestimmen, sondern zu zeigen, dass sich dieser Wert nicht ver¨ andert, wenn er in verschiedenen Inertialsystemen gemessen wird. Um kleine Geschwindigkeitsunterschiede ∆c experimentell sichtbar zu machen, bietet sich die Methode der Vielstrahlinterferenzen an, siehe Kap. 10.2.5. Denn eine Geschwindigkeits¨ anderung zwischen zwei Lichtstrahlen verursacht eine Ver¨ anderung ihres Gangunterschieds ∆c t und damit eine Ver¨anderung ihres Interferenzverhaltens. Dabei wird nach Gleichung (11.3) die Geschwindigkeits¨ anderung verursacht durch eine Ver¨ anderung der Relativgeschwindigkeit (B) vA , mit der sich die Lichtstrahlen relativ zum absoluten Raum ausbreiten. ¨ Auf diesen Uberlegungen baut das Experiment auf, mit dem Michelson und Morley in den Jahren 1881 - 1887 nachgewiesen haben, dass c(A) = c(B) = c (B) unabh¨ angig von vA . Das Prinzip dieses Experiments ist in Abb. 12.1 dargestellt. Es basiert, wie schon gesagt, auf der Fraunhofer-Interferenz von zwei Lichtstrahlen. Die ebene Lichtwelle wird heute mithilfe eines Lasers erzeugt, weil wegen der großen Koh¨ arenzl¨ ange des Laserlichts die Interferenzbedingung (10.60) immer erf¨ ullt ist. In dem halbdurchl¨ assigen Spiegel HS wird die ebene Welle in zwei sich zueinander senkrecht ausbreitende und koh¨ arente Wellen zerlegt, die nach einer zweiten Reflexion an den Spiegeln S1 und S2 wieder parallel u ¨ berlagert werden. Die Ausbreitungsrichtungen der ebenen Wellen definieren die x-yEbene in dem Koordinatensystem, in dem das Experiment ruht. Durch die

322

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

S1

Laser

HS

S2

Abb. 12.1. Schematischer Aufbau des Michelson-Morley Experiments, das Unterschiede der Lichtgeschwindigkeit in verschiedenen Richtungen mithilfe der Zweistrahlinterferenz nachweist. Die zwei Lichtstrahlen werden durch den halbdurchl¨ assigen Spiegel HS erzeugt, sie interferieren auf der Strecke zwischen HS und dem Schirm. Das ganze Experiment kann um eine vertikale Achse durch die Mitte von HS gedreht werden

Schirm unterschiedlichen Wegl¨ angen s zwischen HS - S2 und HS - S1 tritt ein Gangunterschied ∆ = s2 − s1 zwischen den beiden Wellen auf, der zur Interferenz f¨ uhrt E0 (sin (ωt − ky) + sin (ωt − ky + δ)) 2

s2 s1 mit δ = k ∆ = 2 π ν − , c2 c1

E = E1 + E2 =

(12.1)

ur dieses Expewobei c2 = c1 ist, falls die Galilei-Transformationen (11.3) f¨ riment G¨ ultigkeit besitzen. Betrachten wir z.B. den Fall, dass der 2. Licht(B) strahl sich parallel zu der Relativgeschwindigkeit vA zwischen dem Ruhesystem des Experiments und dem absoluten Raum ausbreitet. Dann ergibt sich f¨ ur den Hin- und R¨ ucklauf dieses Lichtstrahls bei G¨ ultigkeit der GalileiTransformation (11.3) 2c s2 s2 s2 = + = s2  2 . (B) (B) c2 (B) c − vA c + vA c2 − vA

(12.2)

F¨ ur den dazu senkrecht laufenden 1. Lichtstrahl ergibt sich wiederum nach Gleichung (11.3), wenn die Geschwindigkeitskomponenten quadratisch addiert werden, s1 2 = s1  2 .  c1 (B) 2 c − vA

(12.3)

Dreht man jetzt die gesamte Apparatur mit 90◦ um die z-Achse durch den Spiegel HS, so ver¨ andert sich die Phase und man erh¨alt

s2 s1 ′ − ′ δ = 2πν , (12.4) c′2 c1

12.2 Die Lorentz-Transformationen

323

wobei z.B. f¨ ur den oben besprochenen Fall sich ergeben w¨ urde c′1 = c2 , c′2 = ′ c1 . Auf jeden Fall ist ∆δ = δ − δ = 0, und daher m¨ usste sich das Interferenzmuster ver¨ andern, falls die Galilei-Transformation die korrekte Transformation zwischem dem Ruhesystem des Experiments und dem absoluten Raum ¨ ist. Diese Anderung wurde jedoch nie beobachtet, sondern es gilt unter allen Umst¨ anden, also auch unabh¨ angig von der Erdrotation um die Erdachse und um die Sonne, immer ∆δ = 0. Nach Gleichung (12.1) erfordert dies c2 = c1 = c in allen Inertialsystemen, denn s2 −s1 = konst, da die Wegl¨angendifferenz eine Galilei-Invariante ist. Wenn also die Galilei-Transformationen nicht allgemein g¨ ultig sind, durch welche Transformationen m¨ ussen sie dann ersetzt werden?

12.2 Die Lorentz-Transformationen Einstein war auf das Problem des absoluten Raums und der absoluten Zeit bei der Untersuchung der Maxwell’schen Gesetze im Jahr 1905 gestoßen, ohne dass ihm offensichtlich die Experimente von Michelson und Morley genauer bekannt waren. Aufgrund dieser Unterschungen hat er die spezielle Relativit¨ atstheorie aus zwei Postulaten axiomatisch entwickelt. •

Das Relativit¨ atspostulat besagt, dass alle physikalischen Gesetze in allen Inertialsystemen in gleicher Form g¨ ultig sind.

Man kann daher zwischen den Inertialsystemen grunds¨atzlich nicht unterscheiden, denn die M¨ oglichkeit einer Unterscheidung besteht nur, wenn sich die physikalischen Gesetze unterscheiden. Dass sich die experimentellen Ergebnisse in ihren Werten unterscheiden, wenn dasselbe Experiment in verschiedenen Inertialsystemen durchgef¨ uhrt wird, bedingt nicht eine Unterscheidungsm¨ oglichkeit. Denn wir k¨ onnten nicht sagen, welcher Wert “richtig” und welcher Wert “falsch” ist. Alle Werte sind gleichermaßen richtig, wenn sie auf den gleichen physikalischen Gesetzen basieren. •

Das Postulat u ¨ ber die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit besagt, dass sich elektromagnetische Wellen im Vakuum in allen Inertialsystemen mit derselben Geschwindigkeit c ausbreiten.

Daraus muss man schließen, dass die Vakuumlichtgeschwindigkeit eine Geschwindigkeit darstellt, deren Wert von keinem Inertialsystem, d.h. von keiner Masse u ¨ berschritten werden kann. Das zweite Postulat ist ausreichend, um die korrekten Transformationsgleichungen zwischen den Inertialsystemen (A) und (B) herzuleiten, wenn wir (B) zus¨ atzlich benutzen, dass sich im Grenzfall vA ≪ c die Galilei-Transformationen ergeben m¨ ussen. Wir ber¨ ucksichtigen dies so, dass wir von den Gleichung (11.2) ausgehen und diese minimal erweitern, sodass c(A) = c(B) = c gilt. Daher machen wir den Ansatz

324

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

t(A) = f (t(B) )   (B) x(A) = γ x(B) − vA t(B) ,

(12.5)

(B)

wobei die einheitenfreie Funktion γ so zu w¨ ahlen ist, dass sie f¨ ur vA ≪ c den Wert γ = 1 erh¨ alt. Dar¨ uber hinaus m¨ ussen die Gleichung (12.5) den Einstein’schen Postulaten gen¨ ugen. Wir betrachten einen Lichtstrahl von zwei Intertialsystemen (A) und (B) (B) aus, die sich relativ zueinander mit der Geschwindigkeit β = vA /c bewegen. In Bezug auf die Systeme (A) und (B) folgt der Lichtstrahl den Trajektorien x(A) = c t(A) → x(B) = γ x(A) (1 + β) (A)

x(B) = c t(B) → x(A) = γ x(B) (1 − β) .

(12.6)

(B)

Hierbei ist ber¨ ucksichtigt, dass vB = −vA ist. Nach Multiplikation der linken und rechten Gleichungen der unteren H¨ alfte von Gleichung (12.6) ergibt sich x(A) x(B) = x(A) x(B) γ 2 (1 − β 2 ) ,

(12.7)

was f¨ ur beliebige x(A) und x(B) nur gilt, wenn 1 . γ= 1 − β2

(12.8)

Auch die Transformationsgleichung f¨ ur die Zeit erhalten wir mit den ¨ahnlichen ¨ Uberlegungen. Aus c(A) = c(B) folgt x(B) t(A) x(A) x(A) = → = = γ (1 − β) . t(A) t(B) t(B) x(B) Dies l¨ asst sich umschreiben und ergibt f¨ ur die Lichttrajektorie   c t(A) = γ c t(B) (1 − β) = γ c t(B) − β x(B) .

(12.9)

(12.10)

Wir erhalten damit ein System von Transformationsgleichungen sowohl f¨ ur die Raumkoordinate wie auch f¨ ur die Zeitkoordinate, das man als LorentzTransformation bezeichnet. Sind die Achsen der Koordinatensysteme in (A) und (B) so orientiert, dass die (B) A liegen, dann x-Achsen parallel zur Richtung der Relativgeschwindigkeit v lauten die Lorentz-Tranformationen   (12.11) ct(A) = γ ct(B) − β x(B)   x(A) = γ x(B) − β ct(B) y (A) = y (B)

z (A) = z (B) .

12.2 Die Lorentz-Transformationen

325

Wir wollen uns die Form dieser Gleichungen genauer anschauen. (1) Die Lorentz-Transformationen sind bez¨ uglich der Raumkoordinate und der Zeitkoordinate vollst¨ andig symmetrisch, wenn die Zeit t durch die Koordinate ct ersetzt wird. Man fasst die Raum- und Zeitkoordinaten daher zu einem vierdimensionalen Vektor zusammen, den man Vierervektor nennt. Wir kennzeichnen die Vierervektoren durch einen Unterstrich. Zum Beispiel lautet der Zeit-Ort-Vierervektor (A)

(A)

(A)

(A)

r(A) = (ct(A) ,r (A) ) = (r0 ,r1 ,r2 ,r3 ) (A) r0

(A)

= ct

,

(A) r1

(A)

=x

,

(A) r2

=y

mit (A)

,

(A) r3

(12.12) =z

(A)

.

Die Zeitkoordinate stellt also die 0. Komponente dieses Vierervektors dar. Uns ¨ werden noch andere Vierervektoren begegnen, die sich alle bei dem Ubergang von einem in ein anderes Inertialsystem gem¨aß der Lorentz-Transformation (12.11) transformieren. (2) W¨ ahrend die Gleichung (12.11) die Transformation von (B) nach (A) darstellen, ergeben dieselben Gleichungen die Transformation von (A) nach (B), wenn die hochgestellten Indices (A) und (B) vertauscht werden. Dies (A) (B) schließt ein, dass β durch −β ersetzt werden muss, weil vB = −vA ist. (3) Damit der Faktor γ eine reelle Zahl bleibt, muss |β| < 1 sein. F¨ ur |β| = 1 divergiert der γ Faktor. Die Vakuumlichtgeschwindigkeit ist also tats¨ achlich eine Grenzgeschwindigkeit, die K¨ orper mit einer endlichen Masse niemals erreichen. (4) Die Lorentz-Transformationen reduzieren sich im anderen Grenzfall β → 0 , γ → 1 auf die Galilei-Transformationen ct(A) = ct(B) = ct (B) x(A) = x(B) − vA t y (A) = y (B) z (A) = z (B) .

Damit ist eine der Forderungen an die Lorentz-Transformationen erf¨ ullt, die klassische Physik beh¨ alt f¨ ur diesen Grenzfall ihre G¨ ultigkeit. Bei der ungeheuren Bedeutung, die die Lorentz-Transformationen f¨ ur die moderne Physik besitzen, ist es notwendig, neben dem Michelson-MorleyExperiment nach weiteren experimentellen Best¨atigungen f¨ ur ihre G¨ ultigkeit Ausschau zu halten. Dies ist nicht ganz einfach, weil wir zur Best¨atigung Eperimente mit Massen durchf¨ uhren m¨ ussen, deren Geschwindigkeit fast den Wert der Lichtgeschwindigkeit erreicht. Mit makroskopischen Massen lassen sich derartige Experimente nicht durchf¨ uhren, aber mit den fundamentalen

326

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

Bausteinen der Natur, die nur sehr kleine Massen besitzen, sind die Experimente durchf¨ uhrbar. Wir werden im n¨ achsten Kapitel nur zwei der vielen m¨ oglichen Experimente besprechen.

12.3 Die Zeitdilatation und L¨ angenkontraktion Die Konsequenzen der Lorentz-Transformationen auf Messungen derselben Gr¨ oße in verschiedenen Inertialsystemen sind bemerkenswert und mit unseren Alltagserfahrungen nicht in Einklang zu bringen. Insbesondere die Invarianzeigenschaften von L¨ angenintervall und Zeitintervall, auf die wir in Kap. 11.1 gestoßen waren, gelten nicht mehr unter den Bedingungen der Lorentz-Transformation. Vielmehr verl¨ angert sich ein Zeitintervall ∆t(A) in jedem System (A), das sich relativ zum System (B) bewegt, und ein L¨angenintervall ∆x(A) verk¨ urzt sich unter den gleichen Bedingungen. Man nennt diese Ph¨ anomene Zeitdilatation und L¨ angenkontraktion, sie ergeben sich zwangsl¨ aufig aus den Lorentz-Transformationen, wenn man die experimentellen Umst¨ ande richtig analysiert. Zeitdilatation Wir messen das Zeitintervall ∆t(A) in einem System (A), das sich relativ zum (B) System (B) mit der Geschwindigkeit vA = β c bewegt. Die Uhr ruht im System (B), ihre Zeitintervalle betragen dort ∆t(B) . Da die Uhr im System (B) ruht, ver¨ andert sich ihr Ort nicht w¨ ahrend des Zeitintervalls ∆t(B) , d.h. (B) es gilt f¨ ur die Uhr ∆x = 0. Aus den Lorentz-Transformationen (12.11) folgt daher   c ∆t(A) = γ c ∆t(B) − β ∆x(B) = γ c ∆t(B) . Und wenn wir durch die Lichtgeschwindigkeit c k¨ urzen ∆t(A) = γ ∆t(B) .

(12.13)

F¨ ur |β| > 0 ist immer γ > 1, ist also das Zeitintervall der Uhr in (A) gr¨oßer als dasselbe Zeitintervall gemessen in (B). Das Zeitintervall ∆t(A) erscheint in einem zur Uhr bewegten Inertialsystem verl¨ angert: “Bewegte Uhren gehen langsamer”. Die Aussage in den Anf¨ uhrungsstrichen ergibt sich aus der Relativit¨at der Geschwindigkeit. Vom System (A) aus betrachtet bewegt sich die in (B) ruhende Uhr, und in (A) messen wir die verl¨ angerten Zeitintervalle. L¨ angenkontraktion (B) (B) Der Abstand zwischen zwei Marken ∆x(B) = x2 −x1 eines in (B) ruhenden

12.3 Die Zeitdilatation und L¨ angenkontraktion

327

Maßstabs erscheint verk¨ urzt, wenn dieser Abstand im System (A) gemessen (B) wird. Das System (A) bewegt sich mit der Geschwindigkeit vA relativ zu (B), die Messung der Marken erfolgt aber zur gleichen Zeit, d.h. w¨ahrend der Messung gilt ∆t(A) = 0. Daher ergibt sich aus den Lorentz-Transformationen   ∆x(B) = γ ∆x(A) + β c ∆t(A) = γ ∆x(A) . ur diesen Abstand Da ∆x(A) gemessen wird, gilt f¨ ∆x(A) =

1 ∆x(B) . γ

(12.14)

Der Vorfaktor 1/γ ist immer kleiner als eins, daher ist der Abstand in (A) k¨ urzer als derselbe Abstand in (B), wo der Maßstab ruht. Das L¨ angenintervall ∆x(A) erscheint in einem zum Maßstab bewegten Inertialsystem verkleinert: “Bewegte Maßst¨ abe sind verk¨ urzt”. Die Aussage in den Anf¨ uhrungsstrichen entspricht dem, was wir im System (A) beobachten, zu dem sich das Sytem (B) relativ bewegt, in dem der Maßstab ruht. Diese beiden Folgerungen aus den Lorentz-Transformationen lassen sich in der Tat experimentell best¨ atigen. Dazu benutzt man die Myonen (µ), die durch die H¨ ohenstrahlung in etwa h = 20 km H¨ohe in der Erdatmosph¨are entstehen. Myonen sind den Elektronen (e) sehr ¨ahnlich, sie unterscheiden sich von diesen nur durch ihre etwas gr¨ oßere Masse: m(µ) = 207 m(e). Die gr¨oßere Masse ist der Grund, dass Myonen instabil sind. Sie zerfallen in ein Elektron und zwei Neutrinos. Die Lebensdauer eines Myons betr¨agt, wenn es ruht, nur τ0 = 2,2·10−6 s. Trotz ihrer im Vergleich zum Elektron großen Masse besitzen Myonen nach ihrer Entstehung eine sehr hohe Geschwindigkeit, die fast so groß ist wie die Vakuumlichtgeschwindigkeit, v ≈ 0,9999c. Berechnen wir mit den Mitteln der klassischen Physik den Weg, den die Myonen w¨ ahrend ihrer Lebensdauer zur¨ ucklegen k¨onnen. Dieser ergibt sich zu ∆x ≈ c τ0 = (3 · 108 ) (2,2 · 10−6 ) = 660 m.

(12.15)

Die Myonen sollten daher alle zerfallen sein, bevor sie die Strecke von ihrem Entstehungsort bis zur Erdoberfl¨ ache zur¨ ucklegen konnten. Trotzdem beobachten wir auf der Erdoberfl¨ ache, dass die aus der H¨ohe kommende Strahlung zum großen Teil aus Myonen besteht. Wie k¨onnen sie die Erdoberfl¨ache bei ihrer kurzen Lebensdauer je erreichen? Der Grund ist die hohe Geschwindigkeit, die die Myonen besitzen und die es verbietet, dass wir ihr Schicksal mit den Mitteln der klassischen Physik behandeln. Die Reise der Myonen durch die Atmosph¨are kann entweder im System der Erde (B) oder im System der Myonen (A) analysiert werden, die

328

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie (B)

sich relativ zueinander mit der Geschwindigkeit vA = β c = 0,9999c bewegen. (A) System des Myons In dem System des Myons ist zwar seine Lebensdauer τ (A) = τ0 , aber die Strecke, die es w¨ahrend dieser Zeit zur¨ ucklegen  muss, um die Erdoberfl¨ache urzt und zu erreichen, hat sich um den Faktor 1/γ = 1 − β 2 = 0,01 verk¨ betr¨ agt daher nur noch ∆x(A) = h/γ = 200 m. Diese Strecke ist wesentlich kleiner als die m¨ ogliche Strecke von ∆x = 660 m, die Mehrzahl der Myonen werden ohne zu zerfallen die Erdoberfl¨ ache erreichen. (B) System der Erde In dem System der Erde besitzt das Myon nicht die Lebensdauer τ0 , sondern eine um γ = 100 verl¨ angerte Lebensdauer τ (B) = γ τ0 = 2,2 · 10−4 s. W¨ahrend dieser Zeit legt das Myon im System der Erde eine Strecke ∆x(B) = c τ (B) = 66 km zur¨ uck, die wesentlich gr¨ oßer ist als die H¨ ohe seiner Entstehung u ¨ ber der Erdoberfl¨ ache. In beiden Systemen ist es daher evident, dass wir die Myonen auf der Erdoberfl¨ ache beobachten m¨ ussen. Aber diese Aussage wird erst dadurch evident, weil wir die Galilei-Transformationen durch die Lorentz-Transformationen ersetzt haben, d.h. wirklich benutzt haben, dass bei der Transformation von einem Inertialsystem in ein anderes L¨ angen kontrahiert und Zeiten dilatiert werden.

12.4 Der relativistische Doppler-Effekt In Kap. 7.2.3 haben wir den klassischen Doppler-Effekt behandelt, d.h. die Frage untersucht, wie sich die Frequenzen einer Schallwelle ver¨andern, wenn sich der Schallsender (Q) bzw. der Schallempf¨anger (B) relativ zueinander bewegen. Dabei stellte sich heraus, dass es keineswegs gleichg¨ ultig ist, ob sich der Sender, oder ob sich der Empf¨ anger bewegt, die Frequenz¨anderungen sind in diesen F¨ allen unterschiedlich. Der Grund f¨ ur das unterschiedliche Verhalten liegt in der unterschiedlichen Bewegung des Mediums relativ zu dem Empf¨ anger, und der Schall ben¨ otigt f¨ ur seine Ausbreitung ein Medium. Dagegen wird f¨ ur die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle kein Medium ben¨ otigt, und außerdem erfordert die Relativit¨at der Bewegung, dass es unerheblich sein muss, ob sich der Empf¨ anger oder ob sich der Sender mit der (B) (Q) Geschwindigkeit vQ = −vB = β auf den jeweils anderen zu bewegen. Die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle im Vakuum der Systeme (B) und (Q) gehorcht den Gleichungen λ(Q) ν (Q) = λ(B) ν (B) = c .

(12.16)

Dabei entspricht die Wellenl¨ ange λ einem L¨ angenintervall ∆z und die Frequenz dem Reziproken eines Zeitintervalls ∆t. Das heißt, die Gleichung (12.16)

12.4 Der relativistische Doppler-Effekt

329

kann auch geschrieben werden ∆z (Q) ∆z (B) = =c, (Q) ∆t ∆t(B)

(12.17)

wobei nat¨ urlich ∆z = 0 und ∆t = 0 in beiden Systemen gilt. Die Transformation des L¨ angenintervalls vom System (B) in das System (Q) ist gegeben durch die Lorentz-Transformation   ∆z (Q) = γ ∆z (B) − β c ∆t(B) = γ ∆z (B) (1 − β) , (12.18) wenn wir voraussetzen, dass sich (B) und (Q) relativ zueinander in gleicher Richtung z bewegen wie die elektromagnetische Welle. Dies entspricht dem longitudinalen Doppler-Effekt. Aus der Gleichung (12.18) folgt unmittelbar f¨ ur die Wellenl¨ angen λ(Q) = γ λ(B) (1 − β) ,

(12.19)

und dies ersetzt die Beziehung (7.76), die nur im nichtrelativistischen Grenzfall β → 0 , γ → 1 gilt. Weiterhin erhalten wir f¨ ur die Frequenzen ω (B) = ω (Q) γ (1 − β) ,

 und wegen γ = 1/ 1 − β 2 folgt daraus  ω (B) = ω (Q)

1−β . 1+β

Die Relativgeschwindigkeit β ist positiv. Das heißt, es bewegen sich Empf¨anger und Sender voneinander weg, und die vom Empf¨anger empfangene Frequenz ω (B) ist kleiner als die vom Sender emittierte Frequenz ω (Q) . Bewegen sich Sender und Empf¨ anger aufeinander zu, ist β < 0 und ω (B) ist gr¨oßer als ω (Q) . Emittiert eine Quelle Licht mit der Frequenz ω (Q) , so empf¨angt ein Beobachter dieses Licht mit der Frequenz  1−β , (12.20) ω (B) = ω (Q) 1+β wenn sich der Beobachter und die Quelle voneinander wegbewegen,  1+β ω (B) = ω (Q) , 1−β wenn sich der Beobachter und die Quelle aufeinander zu bewegen.

330

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

Auf jeden Fall sind diese Gleichungen unabh¨ angig davon, ob sich der Sender oder der Empf¨ anger bewegt. Im nichtrelativistischen Grenzfall folgt aus Gleichung (12.20) ω (B) ≈ ω (Q) (1 − 0, 5 β) (1 − 0, 5 β) ≈ ω (Q) (1 − β) , bzw. ω (B) ≈ ω (Q) (1 + β) , ¨ wenn sich Sender und Empf¨ anger aufeinander zu bewegen. Dies ist in Ubereinstimmung mit Gleichung (7.84). Die Doppler-Verschiebung der gemessenen Lichtfrequenzen, die von sich bewegenden Atomen oder Atomkernen emittiert werden, ist in der Spektroskopie ein h¨ aufig zu beobachtendes Ph¨ anomen. Ja es stellt sogar den Normalfall dar, weil sich z.B. bei endlicher Temperatur die Atome in einem Gas relativ zum Beobachter immer bewegen. Dabei ist in jedem Einzelfall die G¨ ultigkeit der Gleichung (12.20) verifiziert worden. Auch in der Astronomie spielt die Doppler-Verschiebung eine große Rolle, da sich die Galaxien von uns mit umso h¨ oherer Geschwindigkeit fortbewegen, je weiter sie von uns entfernt sind. Das Licht, das von diesen Galaxien emittiert wird, erreicht uns mit einer Frequenz, die deutlich zu kleineren Frequenzen verschoben ist, verglichen mit denen einer ruhenden Galaxie. Man spricht von der Rotverschiebung der Frequenzen, die Gr¨ oße der Rotverschiebung ergibt die Fluchtgeschwindigkeit der Galaxie und damit ihre Entfernung von unserer Galaxie. Anmerkung 12.4.1: Ganz allgemein betr¨ agt die gemessene Frequenz ω (B) , wenn (Q) zwischen der Ausbreitungsrichtung des Lichts z und der Relativgeschwindigkeit (Q) (Q) v B der Winkel θ liegt ω (B) = ω (Q) γ (1 − β cos θ(Q) ) ,

oder vom System (B) aus gesehen ω (Q) = ω (B) γ (1 + β cos θ(B) ) . Bewegt sich der Sender gerade senkrecht zur Ausbreitungsrichtung des Lichts im System des Empf¨ angers, so ist cos θ(B) = 0, und es ergibt sich der transversale Doppler-Effekt ω (Q) = ω (B) γ

oder

ω (B) = ω (Q)



1 − β2 .

Die beobachtete Frequenz wird also rotverschoben sein. Jedoch ist es sehr schwierig, diesen Effekt nachzuweisen, weil jede noch so kleine Abweichung von der Bedingung θ(B) = 90◦ nach den obigen Gleichungen eine Korrektur proportional zu β verursacht, w¨ ahrend der transversale Doppler-Effekt nur ein Effekt proportional zu β 2 ist.

12.5 Die Addition der Geschwindigkeiten

331

12.5 Die Addition der Geschwindigkeiten Wir haben die Lorentz-Transformationen hergeleitet aus der Bedingung, dass c(A) = c(B) = c ist. Es ist jedoch sicherlich sinnvoll, aus den Gleichung (12.11) die entsprechenden Geschwindigkeitstransformationen v (B) → v (A) herzuleiten und die Invarianz der Vakuumlichtgeschwindigkeit noch einmal anhand dieser Transformationen nachzupr¨ ufen. Es gilt (und wir nehmen zur Vereinfachung an, dass sich v (A) und v (B) zeitlich nicht ver¨ andern) βx(A) =

x(B) − β ct(B) x(A) = (B) (A) ct ct − β x(B) (B)

=

βx

−β

(B)

1 − β βx

(12.21)

mit βx(B) =

x(B) , ct(B)

und f¨ ur die Transformationen der beiden dazu senkrechten Geschwindigkeitskomponenten ergibt sich mithilfe einer ganz ¨ ahnlichen Rechnung aus der Gleichung (12.12) (B)

βy(A) =

y (A) βy = (B) ct(A) γ (1 − β βx )

(12.22)

(B)

βz(A) =

z (A) βz = . (B) (A) ct γ (1 − β βx )

Die Gleichung (12.21) ist die Transformationsgleichung f¨ ur die Geschwindigkeiten in x-Richtung, wenn sich auch die Inertialsysteme (A) und (B) rela(B) (B) tiv zueinander in x-Richtung bewegen. Setzen wir vx = c und damit βx = 1 (B) (B) (dies impliziert vy = 0 und vz = 0), so ergibt sich aus der Gleichung (12.21) βx(A) =

1−β =1, 1−β

(12.23) (A)

also auch die Geschwindigkeit im System (A) betr¨agt vx

= c.

Die Vakuumlichtgeschwindigkeit c ist eine Lorentz-Invariante. Wir haben die Transformationen der Geschwindigkeit aber auch deswegen noch einmal untersucht, weil v (A) Teil der raumartigen Komponente des Geschwindigkeit-Vierervektors ist, so wie r(A) die raumartige Komponente des Zeit-Ort-Vierervektors r (A) = (ct(A) ,r(A) ) ist. Wie sieht der GeschwindigkeitVierervektor vollst¨ andig aus, insbesondere wie sieht seine zeitartige Komponente aus? Da die Vakuumlichtgeschwindigkeit eine Ausnahmestellung in der speziellen Relativit¨ atstheorie besitzt, kann man vermuten, dass c die zeitartige

332

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

Komponente des Geschwindigkeit-Vierervektors bestimmt. In der Tat kann gezeigt werden, dass v (A) = γ (A) (c,v (A) )

(12.24)

der gesuchte Vierervektor ist. Dabei ist γ (A) ¨ aquivalent zu Gleichung (12.8) definiert 1 . γ (A) =  1 − (β (A) )2

(12.25)

Alle Vierervektoren zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus. (1) Vierervektoren transformieren sich gem¨ aß der Lorentz-Transformation (12.11). Wir haben diese Eigenschaft der Vierervektoren in Gleichung (12.11) f¨ ur den Zeit-Ort-Vierervektor hergeleitet. Entsprechend gilt dann auch f¨ ur den Geschwindigkeit-Vierervektor   (12.26) γ (A) c = γ γ (B) c − β vx(B)   γ (A) vx(A) = γ γ (B) vx(B) − β c γ (A) vy(A) = γ (B) vy(B)

γ (A) vz(A) = γ (B) vz(B) . Die erste Gleichung dieses Gleichungssystems beschreibt die Invarianz der Vakuumlichtgeschwindigkeit, die offensichtlich nur dann gilt, wenn γ

1 γ (B) = . (A) (B) γ 1 − β βx

(12.27)

Dies f¨ uhrt f¨ ur die raumartigen Komponenten des Geschwindigkeit-Vierervektors zu folgenden Transformationsgleichungen: (B)

βx(A) =

βx

−β

(B)

1 − β βx

(12.28)

(B)

βy(A) =

β   y (B) γ 1 − β βx (B)

βz(A) =

β  .  z (B) γ 1 − β βx

Diese Transformationsgleichungen haben wir gerade kurz vorher schon einmal auf einem anderen Weg hergeleitet, siehe Gleichungen (12.21) und (12.22).

12.6 Die relativistische Dynamik

333

(2) Das Quadrat eines Vierervektors ist eine Lorentz-Invariante. Bei der Quadratur eines Vierervektors muss man aufpassen, denn die Rechenregeln f¨ ur Vierervektoren unterscheiden sich von denen der normalen dreidimensionalen Vektoren, die wir in den Anh¨ angen 1, 2 und 3 zusammengestellt haben. F¨ ur das Quadrat eines Vierervektors gilt 2 2  2  2  2   (A) (A) (A) (A) (A) v1 − + v3 = v0 + v2 . (12.29) v Wenden wir diese Regel auf den Geschwindigkeit-Vierervektor an, so finden wir 2 2 2    (12.30) = c2 . c2 − v (A) v (A) = γ (A) Das heißt, das Quadrat des Geschwindigkeit-Vierervektors ergibt das Quadrat der Vakuumlichtgeschwindigkeit und ist damit wirklich eine LorentzInvariante. F¨ ur den Zeit-Ort-Vierervektor gilt entsprechend  2  2 2  r(A) = c2 t(A) − r(A) = c2 t20 . (12.31)

Die Zeit t0 wird als Eigenzeit des Intertialsystems bezeichnet. Die Eigenzeit t0 ist eine Lorentz-Invariante.

Jedes andere Intertialsystem besitzt relativ dazu die Zeit t = γ t0 , ist also zeitlich dilatiert. Zur Erl¨ auterung: Die Lebensdauer eines Myons betr¨agt in jedem Inertialsystem, in dem das Myon ruht, τ0 = 2,2 · 10−6 s. In jedem anderen Inertialsystem, in dem sich das Myon bewegt, ist seine Lebensdauer vergr¨ oßert, τ = γ τ0 .

12.6 Die relativistische Dynamik Die Formulierung der physikalischen Gesetze zwischen beobachtbaren Gr¨oßen in einer derartigen Form, dass sie in jedem Inertialsystem gelten und gleichzeitig die Gr¨ oßen den Lorentz-Transformationen gen¨ ugen, stellt eine Aufgabe dar, die den Anspruch dieses Lehrbuchs bei weitem u ¨ bersteigt. Vierervektoren spielen dabei eine wichtige Rolle, aber sie sind nicht die einzige mathematische Form, zu der beobachtbare Gr¨ oßen zusammengefasst werden m¨ ussen, damit relativistisch invariante Gesetze entstehen. Untersuchen wir z.B. die LorentzKraft Gleichung (8.166), die erst dann wirkt, wenn sich eine Ladung q in dem System (A) relativ zu ihrem Ruhesystem (R) bewegt. Unter der Annahme, onnen wir die Gleichung (8.166) auch so formulieren dass q (A) = q (R) ist, k¨ (A)

E (R) = v R × B (A) .

334

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass ein System von Transformationsgleichungen zwischen magnetischem und elektrischem Feld existieren muss, das nicht identisch, sondern nur ¨ ahnlich zu den Lorentz-Transformationen ist. In der Tat m¨ ussen elektrisches und magnetisches Feld zu einem Tensor zusammengefasst und die entsprechenden Transformationsgleichungen f¨ ur einen Tensor hergeleitet werden. Wir tun das nicht, sondern notieren nur die Folgerungen f¨ ur die Maxwell’schen Gesetze (9.71) bis (9.74): Die Maxwell’schen Gesetze besitzen in allen Inertialsystemen die gleiche Form. Wir brauchen an ihnen daher keine Modifikationen vorzunehmen. Anders ist es mit den Gesetzen der klassischen Mechanik. Physikalische Gr¨oßen m¨ ussen anders definiert, physikalische Gesetze anders formuliert werden, damit sie relativistisch invariant werden. Dies ist f¨ ur uns allerdings nur dann von Bedeutung, wenn K¨orper Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit erreichen. Elektronen, die in der Atomh¨ ulle gebunden sind, k¨onnen bei einer hohen Ordnungszahl des Atoms derart große Geschwindigkeiten besitzen. Aber gerade in diesem Fall werden wir den Weg zu einer relativistisch korrekten Beschreibung nicht gehen, sondern uns auf die klassische N¨aherung beschr¨anken, wie in Kap. 14.3 erl¨ autert. Insofern ist unser Anspruch sehr moderat, wir werden jetzt den Einfluss der speziellen Relativit¨ atstheorie nur auf die wichtigsten physikalischen Gesetze untersuchen, und das sind die Erhaltungsgesetze. 12.6.1 Die Erhaltung des Impulses Wir wissen, dass bei einem Stoßprozess zwischen zwei Massen m(A) und m(B) der Impuls erhalten bleiben muss. Die Masse m(A) bewegt sich im System (A) (A) (A) (A) mit der Geschwindigkeit vx = 0 , vy , vz = 0, die Masse m(B) bewegt sich (B) (B) (A) (B) im System (B) mit der Geschwindigkeit vx = 0 , vy = −vy , vz = 0. In einem ersten Versuch wollen wir annehmen, dass sich die Systeme (A) und (B) (B) relativ zueinander in Ruhe befinden, dass also vA /c = 0 ist. Wir beobachten (A) (B) (A) den Stoß zwischen m und m =m vom System (B) (Beobachter) aus und finden f¨ ur den Gesamtimpuls ptot   ptot = m(A) vy(A) + m(B) vy(B) = vy(B) −m(B) + m(B) = 0 . (12.32)

In einem zweiten Vesuch bewegt sich das System (A) relativ zu (B) l¨angs (B) der x-Achse mit der Geschwindigkeit vA /c = β. Vom System (B) aus gese(A) hen besitzt die Masse m nach Gleichung (12.28) jetzt die Geschwindigkeit (B) (A) (A) (A) (A) vy = vy /γ (1 + β βx ) = vy /γ, weil βx = 0 nach unseren Annahmen ur den (die Masse m(A) bewegt sich im System (A) nur in y-Richtung). F¨ Gesamtimpuls l¨ angs der y-Achse gilt jetzt im System (B) (A)

ptot = m

(A)

vy + m(B) vy(B) = vy(B) γ



m(A) (B) +m − , γ

(12.33)

12.6 Die relativistische Dynamik

335

und das ist mit dem relativistischen Gesetz der Impulserhaltung ptot = 0 nur ¨ in Ubereinstimmumg, wenn f¨ ur die Masse m(B) beobachtet vom System (A) aus gilt m(B) m(A) = γ m(B) =  . 1 − β2

(12.34)

Dabei ist es unwesentlich, dass sich bei dem Stoß die Massen l¨angs der y-Achse bewegt haben, denn die Bewegung der Systeme (A) und (B) findet relativ (A) (B) zueinander l¨ angs der x-Achse statt. Also selbst wenn vy = vy = 0 gilt und die Massen in ihrem jeweiligen System ruhen und daher m(A) = m(B) = m0 ihre Ruhemasse ist, vergr¨ oßert sich die Masse m(B) von (A) aus beobachtet, wenn sich (A) relativ zu (B) bewegt. Bewegt sich ein K¨ orper mit der Geschwindigkeit v = β c , vergr¨oßert sich seine Masse m relativ zu seiner Ruhemasse m0 nach der Beziehung m0 . m = γ m0 =  1 − β2

(12.35)

Nur durch die Massenvergr¨ oßerung ist gesichert, dass in allen Inertialsystemen die Impulserhaltung gilt. Mit der Massenvergr¨ oßerung vergr¨oßert sich auch der Impuls eines K¨ orpers. Der relativistische Impuls eines K¨ orpers mit der Geschwindigkeit v ist p = m v = γ m0 v .

(12.36)

Im nichtrelativistischen Grenzfall β → 0 ergibt sich aus dieser Definition wieder die uns bekannte klassische Beziehungen p = m0 v. Wird durch eine Kraft F der Bewegungszustand eines K¨orpers ge¨andert, ver¨ andert sich nicht nur seine Geschwindigkeit, sondern auch seine Masse. Das bedeutet, das zweite Newton’sche Axiom in der Formulierung F = m0 dv/dt ist relativistisch nicht korrekt, sondern muss in der relativistisch korrekten Form lauten F =

d dp = (m v) . dt dt

(12.37)

In dieser Form garantiert auch das dritte Newton’sche Axiom die Impulserhaltung in allen Inertialsystemen. Wirkt zwischen 2 K¨orpern eine Kraft, so gilt (B)

(A)

F A = −F B und daher nach Gleichung (12.37)

,

336

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

 d  (A) p + p(B) = 0 dt



p(A) + p(B) = ptot = konst,

(12.38)

unabh¨ angig davon, ob die Impulse vom System (A) oder (B) aus beobachtet werden. 12.6.2 Die Erhaltung der Energie Die Energie eines K¨ orpers ver¨ andert sich, wenn auf ihn eine Kraft F wirkt (siehe Kap. 2.3) dW = F · ds .

(12.39)

Die Beziehung gilt in allen Inertialsystemen, wenn f¨ ur F die relativistisch korrekte Form F = d(m v)/dt benutzt wird. dW =

d(m v) · ds = v · v dm + m (v · dv) , dt

(12.40)

wobei der erste Term auf der rechten Seite der Gleichung (12.40) in der klassischen Physik fehlt. Um diese Abweichung von der klassischen Physik auch im Text sichtbar zu machen, bezeichnen wir von jetzt ab die relativistisch korrekte Form der Energie mit dem Buchstaben E, d.h. es gilt nach Gleichung (12.40) dE = β 2 d(mc2 ) +  Wegen mc2 = m0 c2 / 1 − β 2 ist d(mc2 ) =

1 mc2 d(β 2 ) . 2

m 0 c2 1 d(β 2 ) , 2 (1 − β 2 )3/2

und daher ergibt sich aus Gleichung (12.41)   2 2 β 1 1 − β dE = m0 c2 d(β 2 ) + 3/2 3/2 2 (1 − β 2 ) (1 − β 2 ) =

(12.41)

(12.42)

m 0 c2 1 d(β 2 ) . 2 (1 − β 2 )3/2

Die Integration von Gleichung (12.42) kann leicht ausgef¨ uhrt werden, und man findet m 0 c2 + konst. E=  (1 − β 2 )

(12.43)

Der erste Term auf der rechten Seite der Gleichung (12.43) ist die Energie einer Masse m, die sich mit der Geschwindigkeit v = β c bewegt.

12.6 Die relativistische Dynamik

337

Die relativistisch korrekte Form der Energie eines K¨orpers mit Masse m und Geschwindigkeit v = β c lautet E = m c 2 = γ m0 c 2 .

(12.44)

Diese Beziehung wurde im Jahr 1905 von Einstein ver¨offentlicht und ist eines der bekanntesten physikalischen Gesetze geworden. Sie definiert die ¨ Aquivalenz von Masse und Energie, d.h. Masse kann in Energie verwandelt werden und umgekehrt, wenn bei diesem Umwandlungsprozess alle anderen physikalischen Gesetze, also insbesondere die Erhaltungsgesetze, nicht verletzt werden. In der Natur werden diese Prozesse sehr h¨aufig beobachtet, insbesondere die Energie unserer Sonne entsteht durch Umwandlung von Atomkernmasse in thermische Energie. Wir werden darauf in Kap. 16.1.2 eingehen. Zun¨ achst einige weitere Bemerkungen zu Gleichung (12.44): (1) Ruht ein K¨ orper im einem Inertialsystem, besitzt er in diesem System die Ruheenergie E0 = m0 c2 .

(12.45)

Von besonderer Bedeutung in den folgenden Kapiteln ist die Ruheenergie des Elektrons. Die Ruheenergie des Elektrons betr¨ agt me c2 = 0,511 · 106 eV ≈ 0,5 MeV in atomaren Energieeinheiten, siehe Gleichung (8.43). Die Differenz Wkin = E − E0 = m0 c2 (γ − 1)

(12.46)

ist die relativistisch korrekte Form der kinetischen Energie. F¨ ur β → 0 ergibt sich γ − 1 = 1 + β 2 /2 − 1 = β 2 /2 und daher die f¨ ur kleine Geschwindiglkeiten g¨ ultige Form der klassischen kinetischen Energie Wkin =

1 m 0 c2 β 2 . 2

(12.47)

(2) Der zweite Term auf der rechten Seite der Gleichung (12.43) muss nicht null sein, sondern er entspricht dem Beitrag der potenziellen Energie zur Gesamtenergie, den wir in der klassischen Physik mithilfe der Gleichung (2.56) ber¨ ucksichtigt haben Etot = E + Wpot = m c2 + Wpot .

(12.48)

338

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

2 2 E W = c p kin

2m 0 c2

E=γm0 c2

E0

Wkin = m 0 c 2 (γ −1)

cp Abb. 12.2. Vergleich der relativistischen Energien E und Wkin (rel) = E − E0 (durchgezogene Kurven) mit der klassischen N¨ aherung Wkin (kl) (gestrichelte Kurve) in Abh¨ angigkeit vom Impuls cp. Die gepunktete Gerade ist die Tangente an E f¨ ur große Werte von cp

Dieser Beitrag muss ber¨ ucksichtigt werden, wenn auf den K¨orper konservative Kr¨afte wirken. Bewegt sich der K¨ orper in einem kr¨aftefreien Raum, kann die Normierung der Energie so gew¨ ahlt werden, dass Wpot = 0, und man sagt, der K¨ orper ist ein “freier K¨ orper”. F¨ ur einen freien K¨orper stellt die Abb. 12.2 das Verhalten der Energie E und der kinetische Energie Wkin in der relativistisch korrekten Form wie auch in der nichtrelativistischen N¨aherung als Funktion von cp dar. F¨ ur große Werte von cp gilt E = cp und Wkin = cp − m0 c2 , d.h. beide Energien steigen nur linear mit cp, w¨ahrend Wkin in der nichtrelativistischen N¨ aherung immer proportional zu (cp)2 ist. Wir haben die relativistisch korrekten Formen der Energie E und des Impulses p gefunden, wissen aber noch nicht, wie sich Energie und Impuls ¨ bei einem Ubergang von einem in ein anderes Inertialsystem transformieren. Hier hilft, dass sich aus E und p eine Lorentz-Invariante bilden l¨asst. Es gilt n¨amlich E 2 = m2 c4 und c2 p2 = m2 v 2 c2 → E 2 − c2 p2 = m2 c4 (1 − β 2 ) = m20 c4 .

(12.49)

Die Ruheenergie E0 = m0 c2 ist eine Lorentz-Invariante. Außerdem entspricht E 2 − c2 p2 dem Quadrat eines Vierervektors. Dieser Vierervektor ist der Energie-Impuls-Vierervektor p(A) = (E (A) ,cp(A) ), und f¨ ur ihn gelten die Lorentz-Transformationen wie f¨ ur alle anderen Vierervektoren ¨ auch. Beim Ubergang von System (B) nach System (A) gilt   (12.50) E (A) = γ E (B) − β cp(B) x

12.6 Die relativistische Dynamik

cp(A) x

339

  (B) = γ cp(B) x −βE

cp(A) = cp(B) y y

cp(A) = cp(B) . z z Auch diese Transformationsgleichungen reduzieren sich im nichtrelativistischen Grenzfall β → 0 und γ → 1 in die klassischen Gleichungen (A)

m0

(B)

= m0

(B)

p(A) = p(B) x x − β m0 c = p(B) p(A) y y

= p(B) . p(A) z z ¨ Nach diesen mehr formalen Uberlegungen wollen wir diskutieren, unter welchen Bedingungen wir wirklich den relativistischen Energiesatz (12.48) benutzen m¨ ussen. Der Abb. 12.2 entnehmen wir, dass der Unterschied zwischen der relativistisch korrekten Form der kinetischen Energie Wkin (rel) und der in der klassischen Physik gebrauchten Form Wkin (kl) schnell sehr groß wird. Bis zu welcher Energie k¨ onnen wir dann die klassische Form noch verwenden? Dr¨ ucken wir Wkin (rel) als Bruchteil der Ruheenergie E0 eines Teilchens aus, Wkin (rel) = α m0 c2 ,

(12.51)

so l¨ asst sich mithilfe der Gleichung (12.49) schreiben Wkin (kl) =

(α + 1)2 − 1 m0 c2 , 2

(12.52)

und die relative Differenz zwischen Wkin (kl) und Wkin (rel) ergibt sich zu Wkin (kl) − Wkin (rel) α = . Wkin (rel) 2

(12.53)

Linear mit der kinetischen Energie steigt daher auch die relative Differenz zwischen ihrer klassischen und relativistischen Form. Verlangen wir z.B., dass die Differenz nicht mehr als 10% betragen soll, dann muss Wkin < 0,2 m0 c2 bleiben. 12.6.3 Die Erhaltung des Drehimpulses Der Drehimpuls ist klassisch definiert nach Gleichung (3.26) L=r×p .

(12.54)

In der speziellen Relativit¨ atstheorie sind r und cp die raumartigen Komponenten des Zeit-Ort-Vierervektors r bzw. des Energie-Impuls-Vierervektors p,

340

12 Die spezielle Relativit¨ atstheorie

aber L kann nicht die raumartige Komponente eines Drehimpuls-Vierervektors L sein. Dies ist leicht einzusehen, wenn wir komponentenweise gem¨aß Anhang 3 schreiben L2,3 = r2 p3 − r3 p2 = −L3,2

L3,1 = r3 p1 − r1 p3 = −L1,3 L1,2 = r1 p2 − r2 p1 = −L2,1 .

Es fehlen 3 weitere Komponenten L0,i = r0 pi − ri p0 = −Li,0

(i = 1,2,3) ,

und daher ist die relativistische Erweiterung des klassischen Drehimpulses ein Tensor Li,j , dessen Diagonalelemente Li,i = 0 sind. Wie schon o¨fters erw¨ ahnt, werden wir uns in diesem Lehrbuch nicht mit tensoriellen Messgr¨ oßen besch¨ aftigen. Daher wird der Drehimpuls in den folgenden Kapiteln ¨ keine große Rolle spielen, er wird erst wieder in unseren Uberlegungen auf¨ treten, wenn wir den Ubergang zu den nichtrelativistischen N¨aherungen der modernen Physik durchgef¨ uhrt haben. 12.6.4 Die Erhaltung der elektrischen Ladung Die Quellen des elektrischen und magnetischen Felds bilden einen Vierervektor, den Ladung-Strom-Vierervektor   (A) (A) j (A) . (12.55) ,j = c ρ C C C Hierbei bezieht sich der untere Index C auf die elektrische Ladung und nicht auf ein Inertialsystem. Da die Ladungsdichte den zeitartigen Teil eines Vierervektors bildet, ist die Ladungsdichte ρC,0 einer Ladungsverteilung, die in jedem beliebigen Inertialsystem ruht, eine Lorentz-Invariante. Eine in diesem System sich bewegende Ladungsverteilung besitzt die Ladungsdichte (wir lassen zur Vereinfachung den hochgestellten Index (A) weg) ρC = γ ρC,0 .

(12.56)

Diese Transformation ist ¨ aquivalent zu der Transformation zwischen Masse und Ruhemasse m = γ m0 , siehe Gleichung (12.35). Daraus ergibt sich wiederum, dass die elektrische Ladung q selbst invariant ist, d.h. immer denselben Wert besitzt, unabh¨ angig davon, ob sie sich bewegt oder nicht. Um dies zu erkennen, definieren wir ein ruhendes Volumen ∆V0 = A ∆x0 , das sich bei Bewegung in das Volumen ∆V = A ∆x = A

∆V0 ∆x0 = γ γ

(12.57)

12.6 Die relativistische Dynamik

341

transformiert. Denn die senkrecht zur Bewegungsrichtung stehende Fl¨ache A wird nicht transformiert, das parallel zur Bewegungsrichtung liegende L¨ angenintervall wird Lorentz-kontrahiert. F¨ ur jede in dem Volumen eingeschlossene Ladungsverteilung gilt daher q = ρC ∆V = γ ρC,0

∆V0 = q0 . γ

(12.58)

Das heißt, die Ladung q ver¨ andert sich nicht, wenn sie sich bewegt. Die elektrische Ladung q ist eine Lorentz-Invariante. Dieses Ergebnis impliziert, dass die Elementarladung e in allen Inertialsystemen den gleichen Wert besitzt. Bisher haben wir das immer stillschweigend als richtig vorausgesetzt, jetzt wissen wir, dass diese Invarianz streng g¨ ultig ist. Anmerkung 12.6.1: Das zweite Newton’sche Axiom F = dp/dt gilt zwar in allen Inertialsystemen, aber es ist nicht relativistisch korrekt formuliert. Daf¨ ur gibt es zwei Gr¨ unde: 1. p(A) ist nicht die raumartige Komponente des Energie-Impuls-Vierervektors. 2. dt(A) erh¨ alt bei Lorentz-Transformationen eine raumartige Komponente nach Gleichung (12.11). Damit die Differentiation zeitartig in allen Inertialsystemen ist, benutzen wir die Eigenzeit t0 = t(A) /γ (A) nach Gleichung (12.31) und formulieren F (A) =

dt0 d(cp(A) ) 1 d(cp(A) ) = (A) . (A) d(ct0 ) d(ct0 ) dt γ

Dies l¨ asst sich schreiben F (A) =

d p(A) d(ct0 ) (A)

mit dem Kraft-Vierervektor F (A) = (F0 ,γ (A) F (A) ), wobei der raumartige Anteil gerade das zweite Newton’sche Axiom ergibt. Der Kraft-Vierervektor ist aber erst (A) vollst¨ andig definiert, wenn wir auch seine zeitartige Komponente F0 kennen, aber damit werden wir uns nicht weiter besch¨ aftigen.

13 Die Quantelung des Lichts

Die spezielle Relativit¨ atstheorie ist nur eines der neuen Konzepte, die charakteristisch f¨ ur die moderne Physik sind. Wir haben die Aussagen der speziellen Relativit¨ atstheorie im letzten Kapitel auf die Aussagen beschr¨ankt, die auch in den folgenden Kapiteln von wesentlicher Bedeutung sein werden. Das Hauptthema der n¨ achsten Kapitel ist jedoch eine experimentelle Beobachtung, die im klaren Widerspruch zu den Aussagen der klassischen Physik steht und welche die Entwicklung eines weiteren und neuen Konzepts in der modernen Physik erzwungen hat. Dabei handelt es sich um die Beobachtung, dass die Eigenschaften der elektromagnetischen Wellen, die wir kurzerhand als Licht bezeichnen werden, nur dann verstanden werden k¨onnen, wenn die Energie des elektromagnetischen Felds nicht beliebig und kontinuierlich ver¨anderlich ist, sondern nur diskret und als Vielfaches einer Energieeinheit, oder eines Energiequants, ver¨ andert werden kann. Das Konzept der Energiequantelung wurde wohl von Planck (1858 - 1947) zun¨ achst vorgeschlagen, um die gemessene Lichtemission eines schwarzen Strahlers theoretisch beschreiben zu k¨onnen. Ein schwarzer Strahler ist ein K¨ orper, der ein Absorptionsverm¨ogen A = 1 besitzt, siehe Gleichung (10.3). Das bedeutet, er ist vollkommen schwarz, weil das auf ihn fallende Licht weder reflektiert noch transmittiert wird, sondern nur vollst¨ andig absorbiert wird. Wird ein derartiger K¨orper auf eine Temperatur T erhitzt, beginnt er selbst¨ andig Licht abzustrahlen, dessen spektrale Verteilung Iem (T ) eine charakteristische Funktion von T ist. Die spektrale Verteilung l¨ asst sich nicht mit den Mitteln der klassischen Physik erkl¨aren, sondern erfordert das Konzept der Energiequantelung, worauf Planck zum ersten Mal im Jahr 1900 hingewiesen hat. Dieses Konzept ist einfach erkl¨art. Die Energiedichte des elektromagnetischen Felds ist nach Gleichung (9.115) gegeben durch wem  =

1 2 ǫ0 E , 2

(13.1)

wobei E die Amplitude des elektrischen Felds ist, deren Wert im Rahmen der klassischen Physik keinen Beschr¨ ankungen unterliegt. Nach Planck ist aber

344

13 Die Quantelung des Lichts

die Energiedichte gegeben durch wem  =

dn dV

!

ε,

(13.2)

wobei dn/dV  die mittlere Anzahl der Energiequanten pro Volumen ist und ε=h ¯ω

(13.3)

die Gr¨ oße des Energiequants. Die Frequenz des Lichts betr¨agt ω, die Proportionalit¨ atskonstante ¯h = h/2π ist gegeben durch das Planck’sche Wirkungsquantum h, siehe Gleichung (1.2). Ein Energiequant erh¨alt den Namen Photon, die mittlere Photonendichte l¨ asst sich aus dem Vergleich von Gleichung (13.1) mit Gleichung (13.2) bestimmen ! ǫ0 dn 2 E . (13.4) = dV 2h ¯ω Wie sich Iem (T ) mithilfe dieses neuen Konzepts wirklich berechnen l¨asst, werden wir erst in Kap. 17.3.1 besprechen. Denn es gibt weitere Experimente, die einen klaren Beweis f¨ ur die Richtigkeit dieses Konzepts in der modernen Physik liefern, die aber in ihrer Interpretation nicht so schwierig sind wie die spektrale Lichtverteilung des schwarzen Strahlers. Diese wollen wir daher zun¨ achst besprechen.

13.1 Der lichtelektrische Effekt Das erste Experiment zum lichtelektrischen Effekt wurde 1902 von Lenard (1862 - 1947) durchgef¨ uhrt und ergab ein vollst¨andig unerwartetes Ergebnis. Wir wollen dieses Experiment im Detail untersuchen. Das Experiment ist schematisch in Abb. 13.1 dargestellt. Monochromatisches Licht, d.h. Licht in einem sehr engen Frequenzbereich, f¨allt auf eine Metallplatte, die sich in einem Vakuumgef¨ aß befindet. Es wird beobachtet, dass durch die Lichtabsorption in der Platte eine Anzahl dn von Elektronen pro Zeiteinheit dt aus dieser Platte abgel¨ ost werden, wenn die Lichtfrequenz ω eine untere Schwelle ωmin u ¨berschreitet. Durch die Elektronenabl¨osung wird die Platte zur Anode einer Spannungsquelle. Die kinetische Energie εkin der Elektronen kann man messen, indem man sie gegen eine Gegenspannung U zwischen Anode und Kathode anlaufen l¨ asst. Solange U < Umax , fließt zwischen Anode und Kathode weiterhin der Quellstrom I, ist U = Umax , verschwindet der Strom. Wir k¨ onnen die kinetische Energie eines Elektrons mithilfe der Energieerhaltung bestimmen, es gilt εkin = e Umax , und f¨ ur die Gesamtenergie eines Elektrons folgt

13.1 Der lichtelektrische Effekt



345

Abb. 13.1. Schematischer Aufbau des Experiments zur Untersuchung des lichtelektrischen Effekts. Elektronen werden durch das Licht von der Anode abgel¨ ost, ihre Energie wird mithilfe der ver¨ anderlichen Gegenspannung zwischen Anode und Kathode gemessen

e

U

I ε = εkin + εa ,

(13.5)

wobei εa die Energie ist, die das Elektron auf jeden Fall besitzen muss, um von der Platte abgel¨ ost zu werden, in der es normalerweise gebunden ist. Man bezeichnet diese Energie daher als Abl¨ oseenergie. Die gesamte Lichteinstrahlung auf die Platte betr¨agt bei senkrechtem Einache der Platte ist. Dies ist eine fall Pem = Iem A, wenn A die bestrahlte Fl¨ Leistung, und sie ist konstant, wenn die Lichtintensit¨at Iem nicht ver¨andert wird. Es folgt daher aus der Erhaltung der Energie f¨ ur die pro Zeit dt abgel¨oste Anzahl dn von Elektronen Pem =

dn (εkin + εa ) dt



Pem dn = , dt εkin + εa

(13.6)

und dn/dt ist proportional zum gemessenen Strom I. Die Elektronenanzahl dn/dt ist als Funktion der Elektronenenergie εkin in Abb. 13.2 dargestellt.

dn/dt qanten mechanisch klassisch ε0

εkin

Abb. 13.2. Die Anzahl der pro Zeit aus der Anode abgel¨ osten Elektronen in Abh¨ angigkeit von ihrer kinetischen Energie. W¨ ahrend die klassische Physik eine kontinuierliche Verteilung ergibt, misst man, dass alle Elektronen dieselbe Energie besitzen. Der Grund ist die Quantelung der Photonenenergie

346

13 Die Quantelung des Lichts

Diese Abbildung zeigt, dass der Strom ansteigen sollte, wenn die kinetische Energie der Elektronen abnimmt. Tats¨ achlich beobachtet man jedoch, dass alle Elektronen etwa die gleiche kinetische Energie ε0 besitzen, d.h. der Strom ist nur ungleich null f¨ ur die Werte εkin = ε0 . Welcher Parameter des Lichts bestimmt den Wert von ε0 ? Bereits Lenard hatte gemessen, dass ε0 allein von der Frequenz des Lichts ¨ abh¨ angt, d.h. es gilt ε0 ∝ ω. Diese Proportionalit¨at ist in Ubereinstimmung mit Gleichung (13.3). Aber erst Einstein erkannte im Jahr 1905, dass auch der lichtelektrische Effekt ein Indiz f¨ ur die Energiequantelung des Lichts ist und daher gelten muss ε=h ¯ω .

(13.7)

F¨ ur die kinetische Energie eines Elektrons ergibt sich daraus εkin + εa = h ¯ω ,

(13.8)

und diese lineare Abh¨ angigkeit εkin (ω) ist in Abb. 13.3 dargestellt. Die Funkur ω = ωmin und sie schneidet die Achse ω = 0 an der tion εkin (ω) wird null f¨ Stelle εkin (0) = −εa . Die Steigung der Funktion gestattet die Bestimmung des Planck’schen Wirkungsquantums, denn h= ¯

εkin − εkin (0) . ω

(13.9)

Setzt man die Gleichung (13.8) in die Gleichung (13.6) ein, ergibt sich dn Pem = , dt ¯ω h

(13.10)

d.h. die eingestrahlte Lichtst¨ arke bestimmt nicht die kinetische Energie der Elektronen, wie man es klassisch erwarten sollte, sondern die pro Zeiteinheit abgel¨ oste Elektronenanzahl. Dabei sollten wir, wenn wir mit Gleichung (13.4)

εkin

ωmin ω εa

Abb. 13.3. Abh¨ angigkeit der kinetischen Energie der abgel¨ osten Elektronen von der Frequenz des auf die Anode eingestrahlten Lichts

13.1 Der lichtelektrische Effekt

347

vergleichen, auch jetzt diese Beziehung besser auf die u ¨ber einen langen Zeitraum gemittelte Anzahl der Elektronen anwenden: ! dn Pem , (13.11) = dt hω ¯ denn f¨ ur kleine Lichtst¨ arken ist der Elektronenfluss dn/dt keineswegs konstant, sondern schwankt mit der Zeit. Die Schwankungen des Elektronenflusses sind ein direktes Maß f¨ ur die Schwankungen des Photonenflusses, wenn jedes Photon auch ein Elektron aus der Platte abl¨ost, wie wir es bereits in Gleichung (13.6) vorausgesetzt haben. Wie groß ist die mittlere Anzahl der Photonen bzw. Elektronen? Nehmen wir eine uns bekannte Lichtquelle (eine Gl¨ uhbirne) mit einer Leistung von Pem = 100 W, die Licht mit einer Wellenl¨ ange von λ = 5 · 10−7 m emittiert, dann ergibt sich dn λ = Pem = 2,5 · 1020 s−1 . dt hc Diese Anzahl von pro Sekunde emittierten Photonen ist so groß, dass die zeitlichen Schwankungen unmessbar klein werden. Selbst innerhalb der Koh¨arenzzeit τ = 3 · 10−12 s (siehe Gleichung (10.59)) werden von dieser Lichtquelle immer noch ca. 109 Photonen emittiert. Soll die Photonenzahl innerhalb der Koh¨ arenzzeit nur von der Gr¨ oßenordnung n ≈ 100 sein, dann darf die Leistung der Lichtquelle nur ca. 10−5 W betragen. Unter diesen Bedingungen w¨ urde eine Messung ergeben, dass die Anzahl n der Photonen, die pro Koh¨ arenzzeit auf die Platte auftreffen, nicht konstant ist, sondern einer Wahrscheinlichkeitsverteilung P (n) folgt, die f¨ ur nicht zu kleine n von der Form P (n) =

1 n/n e n

(13.12)

ist und daher nicht die klassische Wahrscheinlichkeitsverteilung (1.15) ist. In der Abb. 13.4 sind die gemessene Photonenverteilung und die klassisch erwartete Verteilung f¨ ur n = 100 gegen¨ ubergestellt, f¨ ur die Varianz der klassischen

P(n)

klassisch

qanten−

50

mechanisch

100

150

n

Abb. 13.4. Die Wahrscheinlichkeit P (n), innerhalb der Koh¨ arenzzeit der Lichtquelle eine Anzahl n von abgestrahlten Photonen zu finden. Klassisch erwartet man f¨ ur diese Wahrscheinlichkeit eine Gauss-Verteilung, gemessen wird eine wesentlich breitere Verteilung, die durch Gleichung (13.12) beschrieben wird

348

13 Die Quantelung des Lichts

Verteilung ist der erwartete Wert σ 2 = n benutzt worden. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb einer Koh¨ arenzzeit gar kein Photon oder sehr viele Photonen zu messen, ist wesentlich gr¨ oßer, als man klassisch erwarten w¨ urde. Die Photonen sind sehr ungleichm¨ aßig u ¨ ber die einzelnen Koh¨arenzintervalle verteilt, sie erreichen die Platte in dem Experiment zum lichtelektrischen Effekt in “Klumpen”. Dieser Zwang zur Klumpenbildung ist eine Folge der Energiequantelung f¨ ur eine bestimmte Art von Quantenteilchen, zu denen die Photonen geh¨ oren und auf die wir in Kap. 17.3 zur¨ uckkommen werden. Bevor wir uns weiteren Experimenten zur Quantennatur des Lichts zuwenden, wollen wir uns u ¨ berlegen, welche Folgerungen wir aus den experimentellen Ergebnissen zum lichtelektrischen Effket zu ziehen haben. (1) In der Quantenphysik besteht das Licht aus einem Strom von Photonen, von denen jedes die Energie ε=h ¯ω

(13.13)

besitzt. Durch eine Vergr¨ oßerung der Lichtintensit¨at Iem wird die Anzahl der Photonen vergr¨ oßert, nicht aber die mittlere Energie jedes einzelnen Photons. (2) Die Photonen bewegen sich durch das Vakuum mit der Lichtgeschwindigkeit c, sie m¨ ussen daher nach Gleichung (12.35) die Ruhemasse m0 = 0 besitzen, damit ihre Energie nicht divergiert. Obwohl sie keine Ruhemasse besitzen, besitzen sie trotzdem einen Impuls, und dieser Impuls ergibt sich nach Gleichung (12.49) zu ℘=

hω ¯ ε = =h ¯k , c c

(13.14)

wobei k die Wellenzahl des Lichts ist. Die Beziehungen (13.13) und (13.14) sind Lorentz-invariant, sie gelten in allen Inertialsystemen. Insbesondere bilden die Frequenz ω und der Wellenvektor k einen Vierervektor k = (ω,c k). (3) Die Beziehungen  ǫ0 n= E 2 dt an einem gegebenen Ort z = z0 , cA hω ¯  ∆t ǫ0 E 2 dV zu einer gegebenen Zeit t = t0 n= hω ¯

(13.15)

∆V

gelten nur im zeitlichen bzw. r¨ aumlichen Mittel. Die Wellenfunktion Ψ (t, z) = E(t, z) (wir ersetzen von jetzt ab die Komponente des elektrischen Feldvektors durch das Symbol Ψ , auch um Verwechselungen mit der relativistischen Energie E zu vermeiden) erlaubt es nur, die Wahrscheinlichkeiten P (n) auszurechnen, dass innerhalb eines gewissen zeitlichen und r¨aumlichen Bereichs n Photonen vorhanden sind. Die Wahrscheinlichkeiten sind gegeben durch

13.1 Der lichtelektrische Effekt



P (n) = ⎝



∆t



P (n) = ⎝



⎞⎛

Ψ 2 dt⎠ ⎝

∆V





⎞⎛

Ψ 2 dV ⎠ ⎝

wobei die Normierungsintegrale



⎞−1

Ψ 2 dt⎠





⎞−1

Ψ 2 dV ⎠

Ψ 2 dt bzw.





bzw.

349

(13.16)

,

Ψ 2 dV daf¨ ur sorgen, dass



P (n) = 1 in der gesamten Zeit ∆t → ∞ bzw. dem gesamten Raum ∆V → ∞, in denen Ψ 2 = 0 ist. ¨ Die Gesamtwellenfunktion Ψ entsteht durch die Uberlagerung der Wellenfunktionen aller n Photonen1 Ψ=

n 

Ψi .

i=1

¨ Bei dieser Uberlagerung kann es u.U. geschehen, dass die Interferenzbedingung ullt ist. In (10.60) f¨ ur zwei Photonen mit den Wellenfunktionen Ψ1 und Ψ2 erf¨ diesem Fall ergibt sich die Wahrscheinlichkeit f¨ ur den Aufenthalt im Volumen ∆V z.B. zu  2 P (2) ∝ (Ψ1 + Ψ2 ) dV (13.17) ∆V

=



∆V

Ψ12

dV +



Ψ22 dV = P (1) + P (1) ,

∆V

d.h. auch bei den Wahrscheinlichkeiten werden Interferenzen beobachtet. Diese Interpretationen der experimentellen Ergebnisse zum lichtelektrischen Effekt haben bei der Einf¨ uhrung der modernen Physik starke Widerspr¨ uche hervorgerufen. Insbesondere die Interpretation der Wellenfunktion, deren Quadrat nur eine Aussage u ¨ ber die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Photons erlaubt, nicht aber eine Aussage dar¨ uber macht, wo sich genau das Photon aufh¨ alt, ist anf¨ anglich stark bezweifelt worden. Aus unserer Diskussion des lichtelektrischen Effekts ist deutlich geworden, dass diese Interpretation erst dann wirklich experimentell verifizierbar wird, wenn Experimente mit sehr wenigen Photonen, im Extremfall mit nur einem Photon durchgef¨ uhrt werden. In diesen Experimenten hat sich gezeigt, dass der Experimentator in der Tat nicht in der Lage ist, zu jedem Zeitpunk zu sagen, wo sich das Photon befindet. 1

Wir werden sp¨ ater (Kap. 17) lernen, dass dieser Ansatz die Ununterscheidbarkeit der Photonen unber¨ ucksichtigt l¨ asst. F¨ ur unsere prinzipielle Diskussion ist diese Einschr¨ ankung aber ohne Bedeutung

13 Die Quantelung des Lichts

S1

L

(x,y)

350

Abb. 13.5. Das Doppelspaltexperiment zur Bestimmung des Wegs, den ein Photon auf seiner Bahn von der Lichtquelle L zum Schirm P nimmt. Der Weg durch Spalt 1 wird durch ψ1 beschrieben, der durch Spalt 2 durch ψ2 . Man misst auf dem Schirm immer (ψ1 + ψ2 )2 und nicht ψ12 + ψ22 . Das bedeutet, dass der Weg des Photons nicht gemessen werden kann

S2

P 13.1.1 Das Doppelspaltexperiment Will man den Weg eines Photons experimentell ermitteln, ist es naheliegend, das Experiment so aufzubauen, dass dem Photon zwei alternative Wege offen stehen und wir dann durch die Messung festlegen k¨ onnen, welchen der beiden Wege das Photon genommen hat. Dies ist das Prinzip der ber¨ uhmten Doppelspaltexperimente, die f¨ ur die Interpretation der Quantenphysik von großer Bedeutung gewesen sind und deren Ergebnis ist, dass das klassische Konzept des Wegs nicht in die moderne Physik u ¨ bernommen werden kann. In Abb. 13.5 ist der prinzipielle Versuchsaufbau gezeigt. Das Photon, das von der Lichtquelle L emittiert wird, kann entweder den Weg durch den Spalt S1 zu dem Nachweisschirm P w¨ahlen oder den Weg durch den Spalt S2 zu dem Nachweisschirm P. W¨ahlt es den Weg 1, wird das Photon beschrieben durch die Wellenfunktion Ψ1 , w¨ahlt es den Weg 2, wird es beschrieben durch die Wellenfunktion Ψ2 . Wie geschieht der Nachweis, und was beobachten wir auf dem Nachweisschirm? Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass der Nachweisprozess auf den Quanteneigenschaften des Lichts basiert, also wirklich das Photon nachweist. Benutzen wir als Nachweisschirm z.B. eine fotografische Platte, so muss die Energie des Photons ε = h ¯ ω gen¨ ugend groß sein, um das AgBr-Molek¨ ul in ein Ag- und Br-Atom zu zerlegen. Das Ag-Atom markiert den Eintreffort des Photons auf der Platte. Auch mit einem Szintillationsdetektor werden wir anhand der Lichtblitze den Ort bestimmen, an dem das Photon den Detektor getroffen hat. K¨ onnen wir anhand dieses Orts sagen, welchen Weg das Photon genommen hat? Wir f¨ uhren das Expriment so durch, dass innerhalb der Koh¨ arenzzeit τ genau ein Photon den Schirm P im Ort x1 , y1 trifft. Wiederholen wir das Experiment, so ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der 2. Auftreffort x2 = x1 , y2 = y1 , d.h. bei jeder Wiederholung des Experiments trifft das Pho-

13.1 Der lichtelektrische Effekt

351

ton einen anderen Ort des Schirms. Das Einzige, was uns die Kenntnis der Wellenfunktionen Ψ1 und Ψ2 erlaubt zu bestimmen, ist die Wahrscheinlichkeit P (1), mit der ein Photon einen ausgew¨ ahlten Ortsbereich ∆A = ∆x ∆y auf dem Schirm treffen wird, und diese Wahrscheinlichkeit ergibt sich zu  ǫ0 c τ 2 P (1) = (Ψ1 + Ψ2 ) dA . (13.18) hω ¯ ∆A

¨ Das Integral enth¨ alt die Uberlagerung von Ψ1 und Ψ2 und erlaubt daher nicht eine Aussage dar¨ uber, ob das Photon den Weg 1 oder den Weg 2 gew¨ahlt hat. Zur Verifikation dieser Aussage kann man den Spalt 1 abdecken; dann ist das Photon gezwungen, den Weg 2 zu w¨ ahlen. In diesem Fall ergibt sich die Auftreffwahrscheinlichkeit auf der Platte zu  ǫ0 c τ 2 (Ψ2 ) dA , (13.19) P (1) = hω ¯ ∆A

und die unterscheidet sich auch experimentell von der Wahrscheinlichkeit (13.18) f¨ ur den Doppelspalt. Zur Pr¨ ufung muss man diese Experimente sehr oft, n-mal, wiederholen, der experimentelle Unterschied ist gegeben durch P (1) ∝

1 Iem (θ) , n

wobei f¨ ur Iem (θ) die Gleichung (10.75) mit s = 2 im Falle des Doppelspalts, dagegen die Gleichung (10.70) im Falle des Einfachspalts zu verwenden ist. Nat¨ urlich erlaubt die Messung der Wahrscheinlichkeit (13.19) die Aussage, dass das Photon den Weg 2 gew¨ ahlt hat. Aber das ist trivial, da der Spalt 1 abgedeckt war. Sind beide Spalte offen, misst man immer eine Wahrscheinlichkeit (13.18), und die erlaubt die Festlegung des Photonwegs eben nicht. Diese Interpretation der Wellenfunktion Ψ im Rahmen der Quantenphysik hat sich nach anf¨ anglichem Bedenken durchgesetzt. Es ist m¨ ußig, dar¨ uber zu diskutieren, ob der Weg eines Photons prinzipiell nicht festgelegt werden kann, oder ob die Wege zwar existieren, wir aber nicht festlegen k¨onnen, welchen von diesen Wegen das Photon gew¨ ahlt hat. Die Wellenfunktion ist das verbindende Glied zwischen dem Wellenbild des Lichts (in dem Ψ das elektrische Feld beschreibt) und dem Photonenbild des Lichts (in dem Ψ 2 die Aufenthaltswahrscheinlichkeit beschreibt). Licht besitzt daher eine Doppelnatur, man spricht vom Welle-Teilchen-Dualismus, weil das Photon mit Energie und Impuls typische Teilcheneigenschaften besitzt. Diese Dualit¨at und die Bedeutung der Wellenfunktion begegnen uns wieder, wenn wir im Rahmen der Quantenphysik Gr¨ oßen beschreiben werden, die man im Rahmen der klassischen Physik zu den Teilchen z¨ ahlt. Wir wollen jetzt zwei weitere Experimente besprechen, bei denen auch die Eigenschaft des Photons, einen Impuls zu besitzen, eine große Rolle spielt.

352

13 Die Quantelung des Lichts

I em (ωf )

ω f,min

ωi

ωf

Abb. 13.6. Die spektale Verteilung des Streulichts beim Compton-Effekt. Anstelle der einzigen Frequenz ωf = ωi , die der Rayleigh-Streuung entspricht (schattierte Gerade), beobachtet man ein Frequenzspektrum (ausgezogene Kurve), weil das Photon einen Teil seiner Energie und seines Impulses auf das Elektron u ¨ bertragen hat

13.2 Der Compton-Effekt Bei dem Compton-Effekt handelt es sich um die Streuung von Licht an einem einzelnen Elektron mit der Ruhemasse me . Betrachten wir Licht als eine elektromagnetische Welle, so f¨ uhrt das Elektron in der klassischen Physik unter dem Einfluss des elektrischen Felds eine erzwungene Schwingung aus, und dabei strahlt es wiederum Licht ab, dessen Frequenz ωf genau so groß ist wie die Frequenz ωi des Lichts, welches das Elektron zur Schwingung gezwungen hat. Die Absorption und Emission von Licht gleicher Frequenz durch ein freies Elektron bezeichnet man als Rayleigh-Streuung. Das experimentelle Ergebnis ist f¨ ur Licht mit einer hohen Frequenz ωi aber ganz anders; statt einer Frequenz beobachtet man ein Frequenzspektrum, siehe Abb. 13.6. Die spektrale Verteilung des Streulichts reicht u ¨ ber einen großen Frequenzbereich ur diesen und widerspricht der klassischen Erwartung ωf = ωi . Die Erkl¨arung f¨ Widerspruch wurde von Compton (1892 - 1962) gegeben. Demnach handelt es sich bei der Streuung des Lichts um den elastischen Stoß eines Photons mit dem Elektron. F¨ ur diesen Stoß gelten die in Kap. 2.4.1 angegebenen Regeln, es m¨ ussen (auch im relativistischen Fall) der Impuls und die mechanische Energie w¨ ahrend des Stoßes erhalten bleiben. Anhand von Abb. 13.7 lassen sich diese Erhaltungsgesetzes wie folgt formulieren: •

Impulserhaltung ¯ ωf h h ωi ¯ = cos ϑ + p cos θ c c h ωf ¯ sin ϑ − p sin θ , 0= c



(13.20)

Energieerhaltung h ωi = h ¯ ¯ ωf + (γ − 1) me c2 .

(13.21)

Dies sind 3 Gleichungen f¨ ur 4 Unbekannte, ωf , p, θ und ϑ, und daher kann man nur 3 von diesen Unbekannten als Funktion einer 4., z.B. des Streuwinkels

13.2 Der Compton-Effekt

hωf c hωi c

353

Abb. 13.7. Die Impulse von Photon und Elektron vor und nach der Compton-Streuung. Der Streuwinkel des Photons ist ϑ, der R¨ uckstoßwinkel des Elektrons θ

ϑ θ p

ϑ des Photons, bestimmen. Wir wollen diese Rechnung nicht durchf¨ uhren, sie bereitet keinerlei Schwierigkeiten. Man erh¨alt z.B. f¨ ur die Frequenz des gestreuten Photons 1 h ¯ 1 − = (1 − cos ϑ) , ωf ωi m e c2

(13.22)

wobei me c2 = 0,5 · 106 eV die Ruheenergie des Elektrons ist. Dies ist eine Lorentz-Invariante, wodurch der gesamte Vorfaktor h ¯ /(me c2 ) = 1,32 · 10−21 s auf der rechten Seite der Gleichung (13.22) Lorentz-invariant wird. H¨aufiger wird anstelle dieses Faktors in der Literatur die Compton-Wellenl¨ ange angegeben, die definiert ist zu λCompton =

h = 2,43 · 10−12 m. me c

(13.23)

¨ Uberlegen wir uns die Folgerungen, die wir aus der Gleichung (13.22) f¨ ur das Streulicht ziehen m¨ ussen. (1) Die obere Frequenzgrenze des Streulichts ergibt sich f¨ ur ϑ = 0◦ , d.h. f¨ ur Vorw¨ artsstreuung. In diesem Fall ergeben die Gleichungen (13.20) und (13.22) ωf,max = ωi

(13.24)

2

(γ − 1) me c = 0 , pmin = 0 . Das Elektron erh¨ alt weder Energie noch Impuls. (2) Die untere Frequenzgrenze des Streulichts ergibt sich f¨ ur ϑ = 180◦ , d.h. f¨ ur R¨ uckw¨ artsstreuung. In diesem Fall ergeben die Gleichungen (13.20) und (13.22)

−1 2 ¯h ωi (13.25) ωf,min = r ωi mit r = 1 + m e c2 ¯h ωi (1 − r) . ¯ ωi (1 − r) , pmax = (γ − 1) me c2 = h c

354

13 Die Quantelung des Lichts

Ein betr¨ achtlicher Teil der Photonenenergie und des Photonenimpulses wird auf das Elektron u ur h ¯ ωi ≪ me c2 dagegen ist ¨ bertragen, wenn ωi → ∞. F¨ r ≈ 1, d.h. wir erhalten u ¨ ber den gesamten Bereich des Streuwinkels ϑ das klassische Ergebnis der Rayleigh-Streuung ωf = ωi (γ − 1) me c2 = 0 , p = 0 . Daraus folgt auch, dass der Compton-Effekt erst dann beobachtbar wird, wenn h ωi ≈ me c2 = 0,5 · 106 eV. ¯

13.3 Die Paarerzeugung Auch bei der Paarerzeugung ist die Quantennatur des Lichts f¨ ur das Verst¨andnis von entscheidender Bedeutung. Dar¨ uber hinaus aber begegnen wir hier einem ¨ Ph¨anomen in der Natur, das uns zum ersten Mal die Aquivalenz von Energie und Masse direkt best¨ atigt. Wie der Name sagt, wird die Energie des Photons, das keine Ruhemasse besitzt, in Teilchen mit einer endlichen Ruhemasse verwandelt. Dass bei diesem Prozess mindestens zwei Teilchen entstehen m¨ ussen, wollen wir uns jetzt u ¨berlegen. Photonen entstehen, wie wir aus Kap. 9.4.3 wissen, durch die Beschleunigung elektrischer Ladungen z.B. in einem Hertz’schen Dipol. Der Umkehrprozess, die Vernichtung von Photonen, kann deswegen auch nur geschehen, wenn dabei Ladungen erzeugt werden. Man sagt, das Photon koppelt bei seiner Erzeugung wie auch bei seiner Vernichtung an die elektrische Ladung. Allerdings m¨ ussen bei diesen Prozessen alle Erhaltungsgesetze erf¨ ullt sein. Insbesondere nat¨ urlich das Gesetz u ¨ber die Ladungserhaltung, aber auch die Gesetze u ¨ ber die Energieerhaltung und die Impulserhaltung. Erhaltung der elektrischen Ladung Da die Gesamtladung vor der Paarerzeugung der Teilchen qtot = 0 ist, muss die Gesamtladung nach der Teilchenerzeugung ebenfalls verschwinden. Da nur geladene Teilchen erzeugt werden k¨ onnen, muss immer ein Teilchenpaar entstehen, sodass q1 + q2 = 0



q1 = −q2 .

(13.26)

Die kleinste frei in der Natur vorkommende Ladung ist die Elementarladung e, daher q1 = e

,

q2 = −e .

(13.27)

Erhaltung der Energie Das Photon besitzt vor der Paarerzeugung die Energie ε = h ¯ ω. Diese Energie

13.3 Die Paarerzeugung

355

wird vollst¨ andig umgesetzt in die Energie des erzeugten Teilchenpaars, das Photon wird vernichtet. Daher ε = m + c2 + m − c2 ,

(13.28)

wobei m+ bzw. m− die Massen des positiv bzw. negativ geladenen Teilchens sind. Das Teilchen mit der kleinsten Ruhemasse m0 in der Natur, das gleichzeitig negativ geladen und stabil ist, ist das Elektron, zusammen mit seinem Antiteilchen, dem Positron, das positiv geladen ist. Daher − m+ e = me = me

bzw. m+ = m− = m ,

(13.29)

und es ergibt sich f¨ ur Gleichung (13.28) h ω = 2 m c2 . ¯

(13.30)

Erhaltung des Impulses Vor der Paarerzeugung besitzt das Photon den Impuls p = h ¯ k z. Nach der Paarerzeung muss daher gelten p+ + p− = h ¯ k z .

(13.31)

Zur Erf¨ ullung dieser Bedingung wird dann der geringste Energieaufwand ben¨ otigt, wenn die Gleichung (13.29) erf¨ ullt ist und beide Teilchen kollinear produziert werden, d.h. wenn gilt p+ = p− = m v z



2mv = h ¯k .

(13.32)

Vergleichen wir diese Gleichung mit der Gleichung (13.30), so ist leicht zu erkennen, dass Energie und Impuls nicht gleichzeitig erhalten sein k¨onnen, wenn ein Teilchenpaar mit Ruhemasse m0 > 0 erzeugt wird. Denn dann m¨ ussten wir folgern hk = ¯

¯ω h c



2mv = 2mc ,

aber v = c ist unm¨ oglich, weil m = γ m0 → ∞ geht. Daher kann die Paarerzeugung nur in einer Umgebung stattfinden, in der ein Teil des Photonenimpulses auf ein bei diesem Prozess anwesendes Teilchen u ¨ bertragen werden kann. Dieses Teilchen ist ein schwerer Atomkern mit der Ruhemasse mK , er u ¨ bernimmt in der nichtrelativistischen N¨aherung (vK ≪ c) einen Bruchteil R℘ =

mK vK c mK vK = hk ¯ ¯ω h

des Photonenimpulses. Der Bruchteil der Photonenenergie, die auf den Atomkern u ¨ bertragen wird, ergibt sich zu

356

13 Die Quantelung des Lichts

Rε =

2 1 vK 1 mK vK = R℘ . 2 ¯ hω 2 c

Dieser Bruchteil ist wegen vK /c ≪ 1 sehr gering, d.h. die Photonenenergie wird im Wesentlichen nur auf das Elektron-Positron-Paar u ¨bertragen. Wir finden also h ω = 2 γ me c2 ≥ 2 me c2 = 1 MeV, ¯

(13.33)

d.h. der Prozess der Paarerzeugung kann erst dann stattfinden, wenn die Photonenenergie die untere Grenze von h ¯ ωmin = 1 MeV u ¨ berschritten hat.

13.4 Die Unsch¨ arfe des Photons Wie bestimmen wir die Frequenz des Lichts, wie bestimmen wir seine Wellenl¨ ange? In der Abb. 13.8a ist die zeitliche Ver¨ anderung eines Wellenzugs, d.h. der Wellenfunktion Ψ (t), gezeigt, der zur Zeit t = 0 auf eine Fl¨ache am Ort z = 0 trifft. Die Wellenfunktion hat eine endliche Dauer ∆t, welche die Koh¨arenzzeit des Wellenzugs ist. Wollen wir die Frequenz ν = ω/2π dieses Wellenzugs bestimmen, z¨ ahlen wir die Anzahl der Schwingungen nν innerhalb des Zeitintervalls ∆t ab. Daraus ergibt sich die Frequenz zu ν=

nν . ∆t

(13.34)

Die Schwingungszahl kann aber nur mit einer prinzipiell vorhandenen Ungenauigkeit ∆nν = 1 bestimmt werden, da der Wellenzug nicht notwendigerweise immer mit einem periodisch sich wiederholenden Nulldurchgang beginnt und endet. Der Ungenauigkeit in der Anzahl der Schwingungen entspricht eine Frequenzunsch¨ arfe ∆ω =

2π , ∆t

(13.35)

d.h. wir erhalten f¨ ur das Photon eine Korrelation zwischen Energieunsch¨arfe und zeitlicher Dauer des Wellenzugs ∆ε ∆t = 2π ¯ h=h.

(13.36)

Das Photon besitzt eine Energieunsch¨ arfe ∆ε = h/∆t, wenn die Wellenfunktion eine Koh¨ arenzzeit ∆t besitzt. Die Gleichung (13.36) ist ganz ¨ ahnlich zu der ersten Heisenberg’schen Unsch¨ arferelation ∆E ∆t =

¯ h , 2

(13.37)

13.4 Die Unsch¨ arfe des Photons

Ψ( t ) nν

1

Abb. 13.8. Die elektrische Feldst¨ arke ψ eines lokalisierten Wellenpakets in Abh¨ angikeit von (a) der Zeit t mit Koh¨ arenzzeit ∆t, und von (b) dem Ort z mit Koh¨ arenzl¨ ange ∆z. nν ist die Anzahl der Schwingungen w¨ ahrend der Koh¨ arenzzeit; daraus l¨ asst sich die Frequenz des Wellenpakets berechnen. nλ ist die Anzahl der Wellenl¨ angen w¨ ahrend der Koh¨ arenzl¨ ange; daraus l¨ asst sich die Wellenl¨ ange des Wellenpakets berechnen

(a) 2

3 t

Ψ( z) nλ

1

2

357

3 z

(b) welche die Grenze in der Korrelation zwischen Energie- und Zeitunsch¨ arfe allerdings kleiner ansetzt (h/4π anstatt h). Diese Differenz in den Aussagen zur Unsch¨ arfe des Photons hat ihre Ursache darin, dass der Wellenzug, den wir in Abb. 13.8a gew¨ahlt haben, das Photon zeitlich nur wenig lokalisiert und dass wir nicht die formal korrekten Definitionen (1.18) f¨ ur die Ungenauigkeit benutzt haben. Ein Wellenpaket nach Gleichung (9.101) lokalisiert das Photon viel besser, f¨ ur diese Wellenfunktion w¨ urden wir bei korrekter Berechnung der Ungenauigkeiten die Heisenberg’sche Unsch¨arferelation (13.37) reproduzieren. ¨ Eine ganz ¨ aquivalente Uberlegung m¨ ussen wir durchf¨ uhren, wenn wir die Wellenl¨ ange eines Wellenzugs bestimmen wollen, siehe Abb. 13.8b. Die Wellenl¨ ange ergibt sich aus der Anzahl der Schwingungen nλ innerhalb der Koh¨ arenzl¨ ange ∆z des Wellenzugs λ=

∆z , nλ

(13.38)

und daraus folgt f¨ ur den Impuls des Photons ℘=h ¯k =h

nλ . ∆z

(13.39)

Auch in diesem Fall l¨asst sich nλ nur mit der prinzipiellen Ungenauigkeit ∆nλ = 1 bestimmen. Daraus resultiert eine Korrelation zwischen der Impulsunsch¨ arfe und der r¨aumlichen L¨ange eines Wellenzugs ∆℘ ∆z = h .

(13.40)

358

13 Die Quantelung des Lichts

Das Photon besitzt eine Impulsunsch¨ arfe ∆℘ = h/∆z, wenn die Wellenfunktion eine Koh¨ arenzl¨ ange ∆z besitzt. Die Gleichung (13.40) ist ¨ ahnlich zur zweiten Heisenberg’schen Unsch¨ arferelation ∆pz ∆z =

¯ h . 2

(13.41)

Von diesen Beziehungen gibt es genau drei, n¨amlich f¨ ur jede Richtung des kartesischen Koordinatensystems eine. Die Gr¨ unde f¨ ur die kleinere Unsch¨arfegrenze sind die gleichen, die wir gerade bei der Energieunsch¨arfe diskutiert haben. Allgemein h¨ angt diese Grenze von der Wellenfunktion ab, die zur Beschreibung des Photons benutzt wird. Und sie vergr¨oßert sich sogar mit der Zeit, wenn die Wellenfunktion ein Teilchen beschreibt, das eine endliche Ruhemasse besitzt, siehe Kap. 14.3. Es ist daher durchaus gerechtfertigt, dass wir in Gleichung (6.121) eine besonders einfache Darstellung der Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen verwendet haben. Die Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen beschreiben eine fundamentale Eigenschaft aller Quantensyteme, die durch eine Wellenfunktion Ψ beschrieben werden. Sie gelten im Prinzip auch f¨ ur makroskopische Systeme, d.h. in der klassischen Physik. Ihr Einfluss versteckt sich in diesem Fall aber hinter den viel gr¨ oßeren experimentellen, d.h. statistischen Fehlern, siehe Kap. 1.3.2. Nehmen wir z.B. den am Ende dieses Kapitels diskutierten Fall, dass ein Auto mit einer Anfangsgeschwindigkeit v0 = (28 ± 1,4) m s−1 abgebremst wird. Besitzt das Auto eine Ruhemasse m0 = 1500 kg (wir vernachl¨ assigen, dass auch diese Angabe einen experimentellen Fehler besitzt!), dann betr¨ agt seine Impulsunsch¨ arfe ∆p = 2100 kg m s−1 . Nach den Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen ist mit dieser Impulsunsch¨arfe eine Ortsurlich nicht messbar. unsch¨ arfe ∆s = 2,5 · 10−38 m verbunden. Dies ist nat¨ W¨ urden wir aber ein Elektron mit dieser Anfangsgeschwindigkeit abbremsen, sieht der Fall ganz anders aus. Die Impulsunsch¨arfe des Elektrons betr¨ agt ∆p = 1,3 · 10−30 kg m s−1 und die dazu korrelierte Ortsunsch¨arfe ∆s = 4,1 · 10−5 m. Und das ist messbar, d.h. diese Ortsunsch¨arfe macht sich in Experimenten bemerkbar.

14 Materiewellen

Licht verh¨ alt sich wie eine Welle, wenn man in einem Experiment seine Welleneigenschaften testet, z.B. im Experiment zur Beugung am Gitter. Licht verh¨ alt sich dagegen wie ein Teilchen, wenn man in einem Experiment seine Teilcheneigenschaften testet, z.B. im Experiment zum lichtelektrischen Effekt. Dass sich diese, nach unserem Gef¨ uhl kontr¨aren Verhaltensweisen nicht widersprechen, zeigen die Untersuchungen an einem Doppelspalt. Allerdings m¨ ussen wir unsere Vorstellungen u ¨ber das Verhalten von Teilchen revidieren. Quantenteilchen folgen keinem vorgeschriebenen Weg, so dass zu jeder Zeit gesagt werden kann, wo sich das Teilchen auf diesem Weg gerade befindet. Wenn dies die Eigenschaften eines Photons sind, besitzen dann auch andere Teilchen diese Eigenschaften, besonders solche Teilchen, deren Ruhemasse nicht verschwindet? Um die Welleneigenschaften eines Teilchens experimentell zu verifizieren, wird man ein Beugungsexperiment an einem Gitter durchf¨ uhren wollen. Nat¨ urlich bezweifelt kein Biologe, der mit einem Elektronenmikroskop arbeitet, dass Elektronen auch Welleneigenschaften besitzen. Der prinzipielle Nachweis sollte aber mit einem typischen Interferenzexperiment durchgef¨ uhrt werden. Und das erfordert die Einhaltung bestimmter experimenteller Bedingungen, die wir uns jetzt u ¨ berlegen wollen.

14.1 Die Bragg-Reflexion an einem Kristallgitter Bei der Planung eines Beugungsexperiments m¨ ussen als erstes folgende Fragen gekl¨ art werden: 1. Wie groß ist die Wellenl¨ ange λ der Welle? 2. Gibt es ein Gitter, dessen Gitterkonstante d die Bedingung d ≈ λ erf¨ ullt? 3. Ist die Koh¨ arenzl¨ ange der Welle Λ ≫ d? Die dritte Frage ist relativ leicht zu beantworten, denn wir legen die Koh¨ arenzl¨ ange durch die Impulsunsch¨ arfe fest: Je genauer der Impuls eines

360

14 Materiewellen

Teilchens definiert ist, umso gr¨ oßer ist die Koh¨arenzl¨ange. Schwieriger sind die beiden ersten Fragen. Wir kennen die Wellenl¨ ange eines Teilchens mit Ruhemasse m0 nicht. Wenn wir aber annehmen, dass die gleiche Beziehung zwischen Wellenl¨ange λ und Impuls p des Teilchens besteht, wie sie f¨ ur das Photon besteht, dann gilt p=h ¯k=

h λ



λ=

h hc = . p cp

(14.1)

Wir wollen den Teilchenimpuls m¨ oglichst klein machen, damit die Bedingung (2) erf¨ ullt wird. Daher nehmen wir ein Teilchen mit kleiner Ruhemasse, also ein Elektron. Ist die kinetische Energie des Elektrons Wkin = 2 · 10−4 me c2 (dies entspricht einer Elektronbeschleunigungsspannung von nur U = 100 V), dann k¨ onnen wir den Impuls klassisch berechnen  (14.2) c p = me v c = 2 me c2 Wkin = 0,02 me c2 = 0,01 MeV.

Mit h c = 1,24 · 10−12 MeV m ergibt sich eine Wellenl¨ange λ = 1,24 · 10−10 m.

(14.3)

Die Wellenl¨ ange des Elektrons ist unter diesen experimentellen Bedingungen von der gleichen Gr¨ oßenordung wie der Atomradius rA , siehe Kap. 8.1.1. Daher k¨ onnen wir ein Beugungsexperiment f¨ ur Elektronen nicht an einem technisch hergestellten Strichgitter durchf¨ uhren, sondern m¨ ussen ein Gitter verwenden, in dem Atome in regelm¨ aßigen aber kleinstm¨oglichen Abst¨anden zueinander angeordnet sind. Gl¨ ucklicherweise existieren derartige Gitter in der Natur, es sind dies die Kristallgitter, siehe Kap. 3. Bei der Beugung der Elektronen an einem Kristallgitter handelt es sich eigentlich um die koh¨ arente Streuung von Elektronen an den regelm¨aßig angeordneten Atomen. Das Ergebnis der Streuung ist allerdings ¨aquivalent zur Reflexion der Elektronenwellen an den Gitterebenen des Kristalls, wie es in Abb. 14.1 dargestellt ist. Man bezeichnet diese Reflexion als Bragg-Reflexion. Damit wir die Streuung wie eine Reflexion an aufeinander folgenden Ebenen darstellen k¨ onnen, m¨ ussen wir annehmen, dass der Kristall wenigstens u ¨ ber einige Gitterebenen hinweg transparent f¨ ur die Elektronenwelle ist. Außerdem soll sich die Wellenl¨ ange beim Eintritt in den Kristall nicht ver¨andern. Diese Annahme ist i.A. nicht richtig, auch die Ausbreitung der Elektronenwelle im Kristall l¨asst sich formal mithilfe einer Brechzahl n = 1 beschreiben. Wir werden diese Komplikation aber vernachl¨ assigen, denn f¨ ur die Frage, unter welchen Bedingungen die Elektronenwellen bei der Reflexion konstruktiv interferieren, ist sie im Prinzip ohne Bedeutung. Wir wollen die bei der Bragg-Reflexion auftretenden Interferenzen zun¨ achst unter den experimentellen Bedingungen des Drehkristallverfahrens untersuchen. Bei diesem Verfahren werden die Wellen an den Ebenen reflektiert, die parallel zur Kristalloberfl¨ ache liegen. Dazu muss bei Ver¨anderung

14.1 Die Bragg-Reflexion an einem Kristallgitter

361

z α

α

α

d d

d’

Abb. 14.1. Die Bragg-Reflexion eines Elektrons an einer Schar von parallelen Gitterebenen, die durch ausgew¨ ahlte Atome in dem Kristallgitter mit Gitterabstand d gehen. α ist der Einfalls- und Reflexionswinkel des Elektrons, das wegen der beobachteten Interferenzen durch eine Welle beschrieben werden muss. d′ ist der Abstand benachbarter Gitterebenen

des Einfallswinkels αe und des Reflexionswinkels αr = αe = α der Kristall so gedreht werden, dass die Normale auf die Kristalloberfl¨ache immer auch gleichzeitig die z-Achse des Koordinatensystems bildet, siehe Abb. 10.16a. Die Bedingung f¨ ur konstruktive Interferenz k¨onnen wir direkt den Gleichung (10.80) und (10.81) entnehmen, wenn wir f¨ ur die Elektronenwelle annehmen, dass n = 1 gilt und bei der Reflexion an den Ebenen kein Phasensprung auftritt, ∆δ = 0. Dann ergeben sich konstruktive Interferenzen f¨ ur ℓ λ = 2 d cos α ,

(14.4)

wobei ℓ = 1, 2, 3, ... die Interferenzordnung angibt. Man erh¨alt also f¨ ur den Winkel zwischen Einfalls- und Reflexionsrichtung θ = αe + αr = 2 α genau dann eine Verst¨ arkung der Elektronenintensit¨ at, wenn cos

ℓ λ θ = . 2 2 d

(14.5)

Bei einer zweiten Methode f¨ allt die Elektronenwelle immer senkrecht auf die Kristalloberfl¨ ache und die Bragg-Reflexion geschieht an verschiedenen, aber parallelen Kristallebenen, deren Normalen den Winkel α mit der Normalen auf die Kristalloberfl¨ ache bilden, siehe Abb. 14.1. Unter diesen experimentellen Bedingungen betr¨ agt der Abstand zwischen aufeinander folgenden Ebenen d′ = d sin α, und die Interferenzbedingung (14.4) lautet jetzt ℓ λ = 2 d′ cos α = d (2 sin α cos α) = d sin 2α .

(14.6)

Ausgedr¨ uckt mithilfe θ = 2 α liegen die Maxima der Elektronenintensit¨at bei

362

14 Materiewellen

sin θ = ℓ

λ . d

(14.7)

Wir haben diese beiden Verfahren zum Nachweis der Welleneigenschaften von Elektronen auch gegen¨ ubergestellt, um zu demonstrieren, dass die Formulierung der Bragg-Bedingungen (14.5) oder (14.7) davon abh¨angen, wie die experimentellen Bedingungen beschaffen sind und wie die in diesen Bedingungen auftretenden Gr¨ oßen definiert sind. Die Formulierung der Bragg-Bedingungen wird dadurch weiter kompliziert, dass die Orientierung der parallelen Gitterebenen relativ zur Einfallsrichtung der Elektronen durch die Angabe von zwei Winkeln erfolgen muss und beide Winkel die Bragg-Bedingungen erf¨ ullen m¨ ussen. Die Maxima der Elektronenintensit¨ at lassen sich daher in einer Ebene darstellen, deren Normale die Einfallsrichtung der Elektronen ist. Beim Laue-Verfahren werden Teilchen mit einem breiten Impulsspektrum, d.h. mit sehr verschiedenen Wellenl¨ angen, an einem einzigen Kristall gestreut. Die Interferenzmaxima treten nur an bestimmten Punkten in der Ebene auf, die symmetrisch um die Einfallsrichtung der Teilchen verteilt sind. Beim Debey-Scherrer-Verfahren werden Teilchen mit einem sehr engen Impulsspektrum, d.h. mit einer Wellenl¨ ange, an sehr vielen und zuf¨allig orientierten Kristallen gestreut. Die Interferenzmaxima sind Kreise in der Ebene, die symmetrisch um die Einfallsrichtung der Teilchen angeordnet sind. Die Beobachtung der Interferenzstrukturen, die bei der Streuung von Elektronen und anderen Teilchen, z.B. Neutronen, an Kristallgittern beobachtet werden, ist der Beweis, dass Teilchen Welleneigenschaften besitzen, so wie Wellen Teilcheneigenschaften besitzen. Heute werden Streuexperimente nicht mehr durchgef¨ uhrt, um diesen Dualismus nachzuweisen. Die Streuverfahren und die Interpretation der Interferenzmuster sind so verbessert, dass sie zur Strukturuntersuchung von Kristallgittern verwendet werden. Solche Strukturuntersuchungen befassen sich sowohl mit der Anordnung der Atome in einem Kristallgitter wie auch mit der Dynamik der Atome im Gitter, d.h. ihren Bewegungen bei ver¨ anderlichen Außenbedingungen wie der Temperatur.

14.2 Materie und Antimaterie Die Eigenschaften einer Welle sind gegeben durch die Frequenz ω und die Wellenzahl k. Aus diesen beiden Gr¨ oßen ergeben sich die Phasengeschwindigkeit vph und die Gruppengeschwindigkeit vgr der Welle vph =

ω k

, vgr =

dω . dk

(14.8)

Die Eigenschaften eines Teilchens sind gegeben durch die Energie Etot und den Impuls p des Teilchens. Wir werden von jetzt ab, um den in der Literatur u ¨ blichen Bezeichnungen zu folgen, Etot in Gleichung (12.48) durch E ersetzen. Dann gilt

14.2 Materie und Antimaterie

E = m c2 + Wpot

, p = mv .

Zwischen E und p besteht nach Gleichung (12.49) die Beziehung  E = ± c2 p2 + m20 c4 + Wpot .

363

(14.9)

(14.10)

Wir werden zun¨ achst den Zusammenhang zwischen Wellen- und Teilcheneigenschaften herstellen und uns dann der Bedeutung der Gleichung (14.10) zuwenden. Die Entwicklung der Quantentheorie im Rahmen der modernen Physik begann mit zwei Hypothesen von de Broglie (1892 - 1981):

Die Frequenz ω und Wellenzahl k einer Teilchenwelle werden bestimmt durch die Energie E und den Impuls p des Teilchens E=h ¯ω

, p=h ¯k .

(14.11)

Wir wollen die Konsequenzen dieser Hypothesen zun¨achst f¨ ur ein freies Teilchen untersuchen, d.h. f¨ ur ein Teilchen mit konstanter potenzieller Energie, die immer zu Wpot = 0 normiert werden kann, siehe Gleichung (2.56). Dann ergibt die Gleichung (14.10) E 2 − c2 p2 = m20 c4 = konst,

(14.12)

da m20 c4 eine Lorentz-Invariante ist. Setzen wir die de-Broglie-Hypothesen in diese Gleichung ein, ergibt sich ¯ 2 ω2 − ¯ h h2 c2 k 2 = konst.

(14.13)

Wir k¨ onnen diese Gleichung nach der Wellenzahl k differenzieren und erhalten 2 ¯h2 ω

dω − 2 ¯h2 c2 k = 0 dk



ω dω = c2 . k dk

(14.14)

Zwischen der Phasengeschwindigkeit und der Gruppengeschwindigkeit der Materiewellen von freien Teilchen besteht daher die Beziehung vph vgr = c2 .

(14.15)

Diese Beziehung gilt auch f¨ ur die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle im Vakuum, f¨ ur die vph = vgr = c ist, und sie gilt allgemein f¨ ur R¨ontgenlicht, f¨ ur das ω ≫ ω0 ist, siehe Anmerkung 10.2.1. Die Gleichung (14.15) sagt aus, dass, falls vph = c, entweder vph > c oder vgr > c sein muss. Die Entscheidung, welche dieser beiden M¨ oglichkeiten die richtige ist, legt auch fest, ob die Gruppengeschwindigkeit oder die Phasengeschwindigkeit der Teilchenwelle identisch zur Teilchengeschwindigkeit ist, die v < c erf¨ ullen muss. Die Gleichung (14.12) l¨ asst sich umschreiben zu

364

14 Materiewellen

ω E = =c k p



1+

m20 c2 >c, p2

(14.16)

und daher gilt: Die Teilchengeschwindigkeit v ist identisch zur Gruppengeschwindigkeit vgr der zugeordneten Teilchenwelle. Also ist vph > c und vgr < c und damit vph = vgr . Daher erfolgt die Ausbreitung der Teilchenwelle immer dispersiv. Das bedeutet, dass ein Wellenpaket im Laufe der Zeit immer breiter und damit auch die Ortsunsch¨arfe bzw. die Zeitunsch¨ arfe eines Teilchens immer gr¨ oßer wird. Die Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen (13.37) und (13.41) stellen nur die untere Grenze dar. ¨ Uber einen langen Zeitraum betrachtet gilt ∆E ∆t >

¯ h 2

, ∆pz ∆z >

¯ h , 2

(14.17)

mit den entsprechenden Relationen f¨ ur die zwei anderen Ortskoordinaten. Wir kommen jetzt zur Interpretation der Gleichung (14.10) und betrachten ein Elektron mit Ruhemasse me . Hier f¨ allt nat¨ urlich sofort auf, dass formal das Vorzeichen der Wurzel nicht festliegt und f¨ ur ein freies Elektron mit Wpot = 0 die Gesamtenergie sowohl positiv wie auch negativ sein kann. Wegen ur ein γ me c2 ≥ me c2 gibt es einen Energiebereich me c2 > E > −me c2 , der f¨ freies Elektron verboten ist. Die Einschr¨ ankung der erlaubten Energien ist in Abb. 14.2 dargestellt. Die Frage ist, wie die erlaubten Zust¨ande mit negativer Energie E < −me c2 zu interpretieren sind. Dirac (1902 - 1984) hat als erster vorgeschlagen, dass die Zust¨ande negativer Energie von Elektronen mit negativer Masse besetzt werden. Da wir Teilchen mit negativer Masse in der Natur nicht begegnen, werden wir zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass alle diese Zust¨ande mit Elektronen besetzt sind und alle unsere Experimente auf diesen Zustand vollst¨andiger Besetzung

E (MeV) 0,5

0

−0,5

Z 50

100

150 200

Abb. 14.2. Die schattierten Gebiete stellen die erlaubten Energiebereiche von freien Elektronen mit positiver und negativer Masse dar. Die ausgezogene Kurve zeigt die Energie eines im Atom gebundenen Elektrons mit positiver Masse in Abh¨ angigkeit von der Ordnungszahl Z. F¨ ur Z ≈ 173 erreicht die Bindungsenergie den Energiebereich der Elektronen mit negativer Masse

14.2 Materie und Antimaterie

365

unempfindlich sind. Wir leben in einem Dirac-See negativer Energien, ohne uns dessen bewusst zu sein. Die Existenz des Dirac-Sees bemerken wir erst dann, wenn sich an dem Zustand vollst¨ andiger Besetzung etwas ¨andert. Wenn also ein Elektron mit negativer Masse durch gen¨ ugend Energie E > 2 me c2 in einen Zustand positiver Energie gehoben wird und damit auch positive Masse erh¨ alt. Zur¨ uck bleibt ein Loch in dem Dirac-See, und dieses Loch weisen wir als Antiteilchen, also als Antielektron oder Positron experimentell nach. Diesem Prozess sind wir bereits begegnet, n¨amlich im Kap. 13.3 bei der Paarbildung. Durch die Vernichtung eines Photons mit ε > 2 me c2 wird ein Elektron-Positron-Paar erzeugt. Das Elektron ist das aus dem Dirac-See geholte Elektron mit negativer Masse, das durch den Transfer in den Bereich positiver Energie auch eine positive Masse erh¨alt. Das Positron ist das im Dirac-See zur¨ uckbleibende Loch, also das Antiteilchen. Ein Loch in einem See mit negativer Masse und negativer Ladung besitzt eine positive Masse und eine positive Ladung. Was ¨ andert sich an diesem Bild, wenn ein Elektron zus¨atzlich eine potenzielle Energie besitzt? Wir wollen nur die potenzielle Energie betrachten, die ein Elektron aufgrund seiner Ladung q = −e erh¨alt. Und wir wollen nur gebundene Zust¨ ande des Elektrons betrachten, die durch die anziehende Wechselwirkung des Elektrons mit einer zentralen Ladung q = Z e gebildet werden. F¨ ur diese Zust¨ ande betr¨ agt die potenzielle Energie Wpot = −

1 Z e2 rA . Das bedeutet: Ein Ger¨ at zu bauen, dass den Tunneleffekt technisch ausn¨ utzt, ist sehr schwierig. Trotzdem ist es gelungen, mit sehr feinen Spitzen eine Tunnelbarriere der Dicke l ≈ rA zu erzeugen. Diese Barriere bildet die Grundlage f¨ ur das Rastertunnelmikroskop, mit dem sich atomare Strukturen auf einer Oberfl¨ ache sichtbar machen lassen. Erst f¨ ur Wpot → ∞ verschwindet die Tunnelwahrscheinlichkeit, die Wellenfunktion ist dann in diesem Bereich ψ(z) ≡ 0. 14.4.2 Das Elektron in einem Potenzialkasten Als n¨ achstes Beispiel betrachten wir ein Teilchen in einem Potenzialkasten. Darunter verstehen wir, dass sich die potenzielle Energie des Teilchens l¨angs der z-Koordinate in zwei Stufen ver¨ andert, und zwar an den Stellen z = 0 und z = a. Also ist a die Breite des Potenzialkastens. Die Ver¨anderung der potenziellen Energie an diesen Orten erfolgt unstetig, und zwar soll gelten:

372

14 Materiewellen

Wpot = 0 f¨ ur

0≤z≤a

(14.37)

Wpot = ∞ sonst.

F¨ ur den Bereich 0 ≤ z ≤ a lautet die station¨ are Schr¨odinger-Gleichung −

¯ 2 d2 ψ(z) h = E ψ(z) . 2 me dz 2

(14.38)

Außerhalb dieses Bereichs sind die Wellenfunktionen ψ(z) ≡ 0. An den Orten z = 0 und z = a m¨ ussen die Wellenfunktionen f¨ ur die Bereiche innerhalb und außerhalb des Kastens stetig aneinander schließen, d.h. sie m¨ ussen die Bedingungen ψ(0) = 0

und ψ(a) = 0

(14.39)

erf¨ ullen. Diese Anschlussbedingungen werden die Randbedingungen des Problems genannt. Die Folge der Randbedingungen ist, dass die Energie E des Teilchens im Kasten gequantelt ist. Die Gleichung (14.38) ist eine Schwingungsgleichung von der Form (2.44) f¨ ur die Funktion ψ(z). Die L¨ osung f¨ ur diese Gleichung kennen wir seit Kap. 2; sie lautet allgemein ψ(0) = ψ sin (kz + δ)

mit k =

1 2 me E . ¯h

(14.40)

Es sind aber wegen der Randbedingungen (14.39) nicht alle L¨osungen zugelassen, sondern nur solche, f¨ ur die sin (δ) = 0

und sin (ka + δ) = 0 .

(14.41)

Aus der linken Bedingung folgt δ = 0, aus der rechten Bedingung folgt ka = n π

mit

n = 1, 2, 3, ... .

(14.42)

Die ganzen Zahlen definieren den Wertebereich der Quantenzahl n, die dieses eindimensionale Problem besitzt. Durch die Existenz der Quantenzahlen werden auch die Energieeigenwerte der Eigenzust¨ ande des Teilchens in dem Kasten gequantelt. Die Energieeigenwerte ergeben sich zu En =

¯ 2 k2 h = n2 E1 , 2 me

(14.43)

¯ 2 π2 h . 2 m e a2

(14.44)

mit der Grundzustandsenergie E1 =

Die Grundzustandsenergie ist die Energie des Zustands mit der geringsten Energie. In Abb. 14.4 ist die Lage der Energieeigenwerte gezeigt. Dies ist eine

14.4 Station¨ are Zust¨ ande

373

in der Literatur h¨ aufig verwendete Darstellung. Als Abzisse ist die Ortskoordinate z gew¨ ahlt, sodass in dieser Abbildung gleichzeitig auch der Verlauf der potenziellen Energie des Teilchens dargestellt werden kann. Ferner ist zu jedem Energieeigenwert auch die zugeh¨ orige Eigenfunktion skizziert, also die harmonischen Funktionen ψn (z) ∝ sin (n π z/a). Die Randbedingungen (14.39) ergeben keinen Hinweis darauf, wie groß die Amplitude ψ der Eigenfunktion ψn (z) ist. Diese Amplitude ist beschr¨ankt, und die Beschr¨ ankung ergibt sich aus der Forderung, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens in dem gesamten Kasten genau 1 ergeben muss. Da alle Zust¨ ande station¨ ar sind, gilt diese Forderung f¨ ur jeden Eigenzustand 1=ψ

2

a  0

z 2 sin (n π ) dz a



2

ψ =

2 . a

(14.45)

Die Eigenfunktionen f¨ ur die Eigenzust¨ ande mit Quantenzahl n lauten daher  z 2 ψn (z) = sin (n π ) . (14.46) a a Dies ist eine reelle Funktion. Besteht daher ein Widerspruch zu der Behauptung, dass die L¨ osungen der Schr¨ odinger-Gleichung immer komplex sind? Nein, denn wir d¨ urfen nicht vergessen, dass die vollst¨andige Wellenfunktion eines Teilchens im Kasten lautet Ψn (z, t) = e−i(En /¯h) t ψn (z) ,

(14.47)

E

E3

E2 E1 0

a

z

Abb. 14.4. Der unendliche hohe Potenzialkasten. Dieses Bild zeigt die Ortsabh¨ angigkeit der potenziellen Energie (schattierte Bereiche), die quantiesierten Energieeigenwerte En , die ein Teilchen mit dieser potenziellen Energie besitzt, und die zugeh¨ origen Wellenfunktionen ψn (z) (ausgezogene Kurven)

374

14 Materiewellen

und dies ist eine komplexe Funktion. Die Wellenfunktion Ψn (z, t) hat außerdem, wenn wir einmal von ihrer Komplexit¨ at absehen, die Form einer stehenden Welle, deren Eigenschaften wir in Kap. 7.2.4 behandelt haben. Daher wird das Teilchen im Kasten durch eine Materiewelle beschrieben, die an beiden W¨ anden des Kastens reflektiert wird, also zwischen diesen W¨anden hin¨ und herl¨ auft. Damit bei der Uberlagerung dieser Wellen wirklich eine stehende Welle entsteht, m¨ ussen die Randbedingungen (14.39) erf¨ ullt sein. Die physikalische Situation ist ganz ¨ ahnlich zu der einer stehenden Schallwelle in einer doppelt gedeckelten Pfeife, siehe Abb. 7.9. ¨ Uberlegen wir uns, welche Folgerungen wir f¨ ur die Orts- und Impulsunsch¨ arfe des Teilchens im Kasten ziehen m¨ ussen. F¨ ur die Ortsunsch¨arfe gilt ∆z = a, weil dies der Aufenthaltsbereich des Teilchens im Kasten ist. Zur Bestimmung der Impulsunsch¨ arfe m¨ ussen wir bedenken, dass die Bewegung des Teilchens im Kasten eine Pendelbewegung zwischen z = 0 und z = a ist. Darauf wird auch durch die Eigenfunktion f¨ ur den Grundzustand n = 1 hingedeutet, die sich gem¨ aß Anhang 4 schreiben l¨asst ψ1 (z) ∝ sin k1 z ∝ ei k1 z − e−i k1 z . Der Impuls schwankt also zwischen den Extremwerten h k1 −¯ h k1 ≤ pz ≤ ¯



−¯ h

π π ≤ pz ≤ ¯h , a a

(14.48)

und insgesamt betr¨ agt die Impulsunsch¨ arfe ∆pz = 2 h ¯

π . a

(14.49)

Daraus ergibt sich ∆z ∆pz = 2 h ¯π =h ,

(14.50)

wie wir es f¨ ur eine ebene Welle bereits in Gleichung (13.40) hergeleitet hatten. Außerdem zeigt die Gleichung (14.48), dass f¨ ur den Mittelwert von pz gilt pz  = 0 . In der Quantenphysik wird der Mittelwert als Erwartungswert bezeichnet. Unser Beispiel l¨ asst deutlich den Unterschied zwischen einem Eigenwert und einem Erwartungswert erkennen. Der Eigenwert der Energie E = p2z /2me besitzt einen festen Wert ohne Schwankung, also ∆E = ∆p2z = 0 . Der Erwartungswert des Impulses pz  hat dagegen die Schankungsbreite (14.49), also ∆pz > 0 .

14.4 Station¨ are Zust¨ ande

375

In Kap. 18.1.1 werden wir uns vor die Aufgabe gestellt sehen, nicht nur Eigenwerte, sondern auch Erwartungswerte berechnen zu m¨ ussen. Der Fall, dass ein Elektron in einem Kasten eingeschlossen ist, ist nicht nur von prinzipiellem Interesse, sondern findet sich auch in der Natur verwirklicht. Es gibt Kettenmolek¨ ule, z.B. das Farbstoffmolek¨ ul Melanin, dort pendelt ein Elektron auf der Kette, welche die L¨ange a besitzt. Nach unseren ¨ Uberlegungen muss diese Pendelbewegung gequantelt sein, die Energieeigenwerte ergeben sich aus der Gleichung (14.43). Die Behandlung der Eigenzust¨ ande eines Elektrons nach dem gerade geschilderten Formalismus wirft allerdings eine grunds¨ atzliche Frage auf. Das elektromagnetische Feld koppelt an das Elektron, siehe Kap. 13.3, und das bedeutet, dass nur der Grundzustand n = 1 des Elektrons wirklich station¨ ar ist. Befindet sich das Elektron in einem angeregten Zustand n > 1, so kann es durch Emission eines Photons zur¨ uck in einen tiefer liegenden Zustand springen, bis es sich schließlich wieder im Grundzustand befindet. Angeregte Zust¨ande sind daher im Prinzip nicht station¨ ar, sie leben nur f¨ ur eine bestimmte Zeit, die Lebensdauer τ . Nach der Heisenberg’schen Unsch¨ arferelation folgt daraus eine Energieunsch¨arfe des Energieeigenwerts ∆E =

h ¯ , 2τ

(14.51)

die allerdings in einem gew¨ ohnlichen, nicht hochaufl¨osenden Experiment gar nicht zu beobachten ist. Wir werden daher auch die angeregten Zust¨ande weiterhin wie station¨ are Zust¨ ande behandeln. Die Energiedifferenz zwischen zwei angeregten Zust¨anden der Pendelbewegung in einem Kettenmolek¨ ul entspricht daher der Energie des Photons, das ¨ emittiert wird, wenn ein Elektron einen Ubergang zwischen diesen Zust¨anden ausf¨ uhrt, h ω = E1 (n2i − n2f ) mit ¯

n i > nf .

(14.52)

Als Beispiel nehmen wir ein Kettenmolek¨ ul mit einer L¨ange a = 7 · 10−10 m. Daraus ergibt sich f¨ ur die Grundzustandsenergie E1 =

(h c)2 = 0,78 eV, 8 m e c2 a 2

und f¨ ur die Wellenl¨ ange des emittierten Lichts λ=

1580 · 10−9 m. n2f − n2i

Betrachten wir z.B. den Elektronen¨ ubergang vom Zustand ni = 2 in den Grundzustand nf = 1, ergibt sich λ2→1 = 527 nm, und diese Wellenl¨ange ist im Bereich des sichtbaren Lichts.

376

14 Materiewellen

Anmerkung 14.4.1: Die meisten Probleme, die wir bisher in diesem Lehrbuch behandelt haben, sind eindimensionale Probleme, d.h. die Kraft oder die Energie ist allein abh¨ angig von einer der drei m¨ oglichen Raumkoordinaten x, y, z. Fast alle Probleme in der Natur sind aber dreidimensional, h¨ angen also von allen drei Raumkoordinaten ab. Zum Beispiel l¨ asst sich ein Teilchen nur dann in einem endlichen Raumgebiet einschließen, wenn der Kasten dreidimensional ist. Die zugeh¨ orige station¨ are Schr¨ odinger-Gleichung muss auf drei Dimensionen erweitert werden ¯2 h − 2 me



d2 d2 d2 + + dx2 dy 2 dz 2

ψ(x, y, z) = E ψ(x, y, z) .

Diese Differentialgleichung l¨ asst sich durch den Produktansatz ψ(x, y, z) = ψnx (x) ψny (y) ψnz (z) l¨ osen und liefert f¨ ur die Randbedingung (14.39), die jetzt f¨ ur jede der drei voneinander unabh¨ angigen Wellenfunktionen ψni gilt, die Energieeigenwerte Enx ,ny ,nz

¯ 2 π2 h = 2 me



n2y n2x n2 + + 2z a2x a2y az

,

falls der Kasten die Ausdehnungen ax , ay , az in die drei Richtungen des Raums besitzt. Ein r¨ aumliches Eigenwertproblem ist daher i.A. durch die Existenz von drei Quantenzahlen charakterisiert.

15 Atomphysik

Wie ein Atom aufgebaut ist und wie man es mithilfe seiner Nomenklatur kennzeichnet, haben wir bereits in Kap. 8.1.1 besprochen. In diesem Kapitel werden wir uns mit der Frage besch¨ aftigen, welche Zust¨ande die Elektronen in der Atomh¨ ulle besetzen. Denn dass die Zustandsenergien der Elektronen im Atom gequantelt sein m¨ ussen, ist offensichtlich. Diese Schlussfolgerung basiert auf der Tatsache, dass Elektronen in einem Kasten und Elektronen in der Atomh¨ ulle eine gemeinsame Eigenschaft verbindet: Sie sind gebunden, d.h. sie sind lokalisiert auf einen beschr¨ ankten Raumbereich. Im Falle des Kastens wurde die Beschr¨ ankung verursacht durch die Kastenw¨ande, in denen die Elektronen eine unendlich große potenzielle Energie besitzen. Im Falle eines Atoms wird die Bindung der Elektronen bewirkt durch die anziehende elektrische Kraft zwischen dem Elektron und dem Atomkern mit der Ladung q = Ze. Durch diese Kraft besitzen die Elektronen in Kernn¨ahe eine vom Abstand r zum Kern abh¨ angige potenzielle Energie Wpot = −

1 Z e2 , 4π ǫ0 r

(15.1)

die sie an den Kern bindet, solange ihre Gesamtenergie E < 0, d.h. Wkin  < | Wpot  |. Um die Gesamtenergie zu berechnen, m¨ ussen wir die station¨are Schr¨odinger-Gleichung l¨ osen. Dazu wird sicherlich die r¨aumliche Version dieser Gleichung ben¨ otigt, denn ausgedr¨ uckt durch die kartesischen Koordinaten x, y, z betr¨ agt der Abstand zwischen Elektron und Atomkern  (15.2) r = x2 + y 2 + z 2 , wenn der Ursprung des Koordinatensystems im Kernzentrum liegt. Daher erhalten wir  

2 d Z e2 h2 ¯ d2 d2 1  + 2+ 2 − − ψ(x, y, z) (15.3) 2 me dx2 dy dz 4π ǫ0 x2 + y 2 + z 2 = E ψ(x, y, z) .

378

15 Atomphysik

Diese Gleichung l¨ asst sich sicherlich nicht durch einen Produktansatz ψ(x, y, z) = ψ(x) ψ(y) ψ(z) l¨ osen, weil sich die potenzielle Energie nicht in drei nur von x und y und z abh¨ angige Beitr¨ age zerlegen l¨asst. Die Schwierigkeit, eine L¨ osung f¨ ur Gleichung (15.3) zu finden, ist nicht prinzipieller Natur, sondern liegt daran, dass wir die Symmetrien des Atoms bei der Aufstellung der Gleichung (15.3) nicht ber¨ ucksichtigt haben. Ein Atom besitzt Kugelsymmetrie, d.h. eine Rotation um eine beliebige, durch das Kernzentrum gehende z-Achse ver¨ andert die Eigenschaften des Atoms nicht. Die Wahl der x-, y, z-Koordinaten zur Beschreibung des Atoms wird dieser Symmetrie nicht gerecht. Diese Wahl ist vielmehr dann angebracht, wenn das System Translationssymmetrie besitzt, seine Eigenschaften also invariant gegen eine Verschiebung in Richtung der drei kartesischen Koordinaten sind. Solch ein System ist z.B. das Atomgitter eines unendlich ausgedehnten Kristalls, wie wir ihn f¨ ur die Bragg-Reflexion benutzt haben. Die f¨ ur die Kugelsymmetrie geeigneten Koordinaten werden wir in Kap. 15.2 einf¨ uhren. Die Gleichung (15.3) l¨asst sich dann mit erheblichen mathematischen Aufwand l¨osen. Und deshalb wollen wir zun¨ achst einen L¨ osungsweg vorstellen, der auch historisch als erster benutzt wurde, um die Energieeigenwerte des Elektrons in der Atomh¨ ulle zu berechnen.

15.1 Das Einelektronatom Ein Atom, in dem sich nur ein Elektron in der Atomh¨ ulle befindet, ist sicherlich das einfachste System, dass wir uns denken k¨onnen. Das bekannteste Atom von diesem Typ ist das Wasserstoffatom mit Z = 1, also 11 H. Dar¨ uber hinaus lassen sich aber mit Hochenergiebeschleunigern, z.B. bei der Gesellschaft f¨ ur Schwerionenforschung in Darmstadt, Atome mit beliebigem Z so stark ionisieren, dass sich nur noch ein Elektron in ihrer H¨ ulle befindet. Ein derartiges 81+ Pb , also das 81fach ionisierte Bleiatom. Einelektronatom ist z.B. 208 82 Im Rahmen der klassischen Physik ist die Existenz eines station¨aren atomaren Grundzustands nicht verst¨ andlich. Aufgrund der anziehenden Kraft zwischen Atomkern und Elektron sollten sich beide vereinigen, wenn sie sich relativ zueinander in Ruhe befinden. Bewegt sich das Elektron auf einer Kreisbahn um den Kern, wird die anziehende Kraft kompensiert durch die Zentrifugalkraft. Aber jetzt ist die Kreisbewegung eine beschleunigte Bewegung, und eine beschleunigte Ladung m¨ usste, wie ein Hertz’scher Dipol, elektromagnetische Wellen abstrahlen. Das Elektron w¨ urde wegen des dabei auftretenden Verlusts an Bewegungsenergie auf einer Spiralbahn in den Atomkern hineinfallen. In beiden F¨ allen k¨ onnten also Atomkern und Elektron nicht als gebundene Teilchen existieren, sondern nur in Vereinigung. Dabei haben wir noch gar nicht ber¨ ucksichtigt, dass bei dem Abstrahlungsprozess nicht nur die Energie erhalten sein muss, sondern auch der Drehimpuls, der in der anf¨anglichen Kreisbewegung des Elektons um den Atomkern steckt.

15.1 Das Einelektronatom

379

Der erste Vorschlag, wie die klassischen Widerspr¨ uche im Rahmen der Quantenphysik umgangen werden k¨ onnen, wurde von Bohr (1885 - 1962) gemacht. 15.1.1 Das Bohr’sche Atommodell Wir wollen die Hypothesen von Bohr, die die Grundlagen des Bohr’schen Atommodells bilden, nicht im Detail diskutieren. Das Bohr’sche Atommodell ist f¨ ur uns deswegen interessant, weil es einen konzeptionellen Zusammenhang zwischen der Wellenfunktion des Elektrons im Kasten und im Atom herstellt. Im Kasten mit der Kastenl¨ ange a ist diese Wellenfunktion eine stehende Welle. Und eine der Bohr’schen Hypothesen fordert, dass die Wellenfunktion des Elektrons im Atom ebenfalls eine stehende Welle ist, wobei die Kastenl¨ ange ersetzt werden muss durch den Umfang des Kreises, auf dem sich das Elektron um den Kern bewegt. Dies ergibt die Quantisierungsvorschrift mit der Quantenzahl n 2π r = n λ = n

h p



r=n

¯ h . p

(15.4)

Ansonsten bewegt sich im Bohr’schen Atommodell das Elektron um den Kern auf einer klassischen Kreisbahn, f¨ ur die gilt (vergleichen Sie mit Gleichung (2.65)): ¯h p 1 Z e2 p2 = = n. 2 4π ǫ0 r me r me r 2 Mit p =

√ 2 me Wkin ergibt sich daraus  2 Wkin 1 2 Ze =n → 4π ǫ0 ¯ h me

2 1 me 1 Wkin = (Z e)2 . 4π ǫ0 ¯ h 2 n2

(15.5)

(15.6)

Wir benutzen jetzt wieder den f¨ ur die Wechselwirkung zwischen Atomkern und Elektron g¨ ultigen Zusammenhang E = − Wkin  und finden: Die Energieeigenwerte des Elektrons in der Atomh¨ ulle sind gekennzeichnet durch die Hauptquantenzahl n und ergeben sich zu En = −Ry (hc)

Z2 Z2 = −13,6 eV. n2 n2

(15.7)

In der Gleichung (15.7) haben wir die in der Spektroskopie h¨aufig verwendete Rydberg-Konstante benutzt

380

15 Atomphysik

E

r

r E3 E4

E5 E6

E2

E1 Abb. 15.1. Das Coulomb-Potenzial eines Atomkerns (vergleiche mit Abb. 14.4). Dieses Bild zeigt die Ortsabh¨ angigkeit der potenziellen Energie (schattierte Bereiche) und die quantisierten Energieeigenwerte En , die ein Elektron mit dieser potenziellen Energie besitzt (gerade Linien)

Ry =

1 me c 2 h



e2 4π ǫ0 ¯h c

2

=

α2 1 ≈ 1 · 107 m−1 . 2 λCompton

(15.8)

Die Rydberg-Konstante selbst ist wieder ausgedr¨ uckt durch zwei andere wichtige Konstanten, die Compton-Wellenl¨ ange λCompton , der wir schon in Kap. 13.2 begegnet sind, und die einheitenlose Feinstrukturkonstante α=

1 e2 = . 4π ǫ0 ¯h c 137,036

(15.9)

Die Energieeigenwerte (15.7) sind in der Tat dieselben, die sich auch ergeben, wenn wir das Einelektronatom mit erheblich mehr Aufwand durch L¨osung der station¨ aren Schr¨ odinger-Gleichung behandeln. In Abb. 15.1 sind diese Energien dargestellt in der Form, die wir auch in Abb. 14.4 gew¨ahlt haben. Das heißt, die Abb. 15.1 zeigt auch die radiale Abh¨angigkeit der potenziellen Energie Wpot des Elektrons. Neben dem Energieeigenwert gestattet das Bohr’sche Atommodell auch, den Radius der Elektronenbahn um den Atomkern anzugeben und damit einen Hinweis auf die Gr¨oße eines Atoms zu erhalten. Der Atomradius ergibt sich aus Gleichung (15.4) zu ¯h 4π ǫ0 ¯h2 n2 rn = n  = n2 = r Bohr Z e 2 me Z 2 me |E|

(15.10)

15.1 Das Einelektronatom

381

mit dem Bohr’schen Radius rBohr =

ǫ0 (hc)2 ≈ 0,5 · 10−10 m. π e 2 m e c2

(15.11)

In unseren bisherigen Absch¨ atzungen haben wir daher f¨ ur den Atomradius rA = 2 rBohr benutzt. Es ist u ¨ berraschend, dass dieses im Prinzip einfache und heuristische Modell in der Lage ist, die wesentlichen Aspekte des Einelektronatoms, n¨amlich die Energieeigenwerte und die Atomgr¨ oße, mit derartiger Genauigkeit vorherzusagen. Die experimentelle Verifikation hat diese Vorhersagen weitgehend best¨ atigt, wenn an die experimentelle Genauigkeit keine zu strengen Maßst¨abe gelegt werden. Die Verifikation besteht in der Bestimmung der Atomgr¨oßen mithilfe der Bragg-Reflexion, und in der Messung der relativen Energien der Eigenzust¨ ande des Elektrons, die man durch die Analyse der Spektrallinien erh¨ alt, die f¨ ur jedes Atom charakteristisch sind. Wir werden auf diese Technik im n¨ achsten Kapitel weiter eingehen. Trotzdem gibt es auch Punkte in dem Bohr’schen Atommodell, wo man sich fragen kann, ob die Beschreibung wirklich korrekt ist. Dies betrifft insbesondere die Wellenfunktion des Elektrons, die in diesem Modell eine stehende Welle auf einem Kreis um den Atomkern ist. Die Frage, wie dieser Kreis im Raum orientiert ist, wird nicht untersucht. Und wir wissen bereits durch unsere Behandlung des Potenzialkastens, dass r¨ aumliche Probleme durch drei Quantenzahlen beschrieben werden m¨ ussen, von denen wir erst eine, n¨amlich die Hauptquantenzahl n, kennengelernt haben. Wir werden im Folgenden sehen, dass die beiden anderen Quantenzahlen tats¨achlich etwas mit der Orientierung der Elektronenzust¨ ande im Raum zu tun haben. 15.1.2 Die quantenmechanische Behandlung Die quantenmechanische Behandlung des Einelektronatoms im Rahmen der nichtrelativistischen N¨ aherung verlangt die L¨ osung der station¨aren Schr¨odinger-Gleichung. Dazu muss die Schr¨ odinger-Gleichung in den Koordinaten formuliert werden, die der Symmetrie des Atoms angemessen sind, wie wir in Kap. 15 diskutiert haben. Diese Koordinaten sind nicht die kartesischen Koordinaten x, y, z, sondern die sph¨ arischen Polarkoordinaten r, ϑ, ϕ, die wir in Abb. 1.2 eingef¨ uhrt haben. Zwischen r, ϑ, ϕ und x, y, z existiert ein System von Koordinatentransformationen  (15.12) r = x2 + y 2 + z 2   z ϑ = acos  x2 + y 2 + z 2 y  . ϕ = atan x

Macht man in den sph¨ arischen Koordinaten den Produktansatz

382

15 Atomphysik

ψ(r, ϑ, ϕ) = ψn (r) ψl (ϑ) ψm (ϕ) ,

(15.13)

dann l¨ asst sich die Schr¨ odinger-Gleichung (15.3) in drei Gleichungen zur Bestimmung von ψn (r), ψl (ϑ) und ψm (ϕ) zerlegen, weil die potenzielle Energie Wpot jetzt allein eine Funktion von r ist. Die Quantenzahlen n, l, m werden durch die L¨ osung jeder der drei Gleichungen unter Ber¨ ucksichtigung der erforderlichen Randbedingungen festgelegt. Das eigentliche mathematische und nicht physikalische Problem ist, den in der station¨ aren Schr¨ odinger-Gleichung auftretenden Operator der kinetischen arischen Polarkoordinaten auszudr¨ ucken. Da es Energie 1/2m0 (p)2Op in sph¨ sich um ein mathematisches Problem handelt, wollen wir auf Details nicht eingehen. Wir werden allein die Gleichungen untersuchen, deren L¨osungen die Wellenfunktionen und die Quantenzahlen ergeben. (1) Die Bestimmung von ψm (ϕ) Die Wellenfunktion ψm (ϕ) ergibt sich aus der L¨osung der Gleichung d2 ψm (ϕ) = −Vm ψm (ϕ) dϕ2

(15.14)

unter der Randbedingung, dass ψm (ϕ) eindeutig ist, also ψm (ϕ) = ψm (ϕ+2π) gilt. Die Randbedingung kann nur erf¨ ullt werden, wenn Vm = m2 ist und m = 0, ±1, ±2, ±3, ... eine positive oder negative ganze Zahl. Die Differentialgleichung (15.14) steht gleichzeitig in engem Verh¨altnis zu dem Drehimpuls des Elektrons, den es besitzt, wenn es sich um den Atomkern in einer geschlossenen Kreisbahn bewegt. Man nennt diesen Drehimpuls den Bahndrehimpuls L, und f¨ ur die z-Komponente des Bahndrehimpulses gibt es in der Quantenphysik einen Operator (Lz )Op , so wie wir auch die kinetische Energie mithilfe des Operators (p)2Op beschrieben haben. Die Gleichung (15.14) ist identisch mit der Gleichung (Lz )2Op ψm (ϕ) = m2 ¯ h2 ψm (ϕ) ,

(15.15)

d.h. die Projektion des Bahndrehimpulses auf die z-Achse besitzt einen Eigenwert Lz = m ¯ h.

(15.16)

(2) Die Bestimmung von ψl (ϑ) Die Wellenfunktion ψl (ϑ) ergibt sich aus der L¨osung der Gleichung

1 d m2 d2 + + dϑ2 tan ϑ dϑ sin2 ϑ

ψl (ϑ) = −Vl ψl (ϑ) ,

(15.17)

unter der Randbedingung, dass ψl (ϑ) f¨ ur alle Winkel 0 ≤ ϑ ≤ π und alle erlaubten Werte von m beschr¨ ankt bleibt. F¨ ur m = 0 erfordert dies, dass

15.1 Das Einelektronatom

383

Abb. 15.2. Die Bahnebene (schattierte Fl¨ ache)  eines Elektrons mit Bahndrehimpuls l(l + 1) h ¯ und Projektion Lz = m ¯ h. L = Der Bahndrehimpuls L pr¨ azediert um die zAchse, der Konuswinkel der Pr¨ azession ist θ

z

l(l+1) θ z

Vl = l (l + 1) ist, wobei l = 0, 1, 2, ... irgendeine positive ganze Zahl sein kann. Ist m > 0, ist die Beschr¨ankheit von ψl (ϑ) nur gegeben, wenn |m| ≤ l ist. Auch in diesem Fall besteht eine enge Beziehung zwischen der Differentialgleichung (15.17) und dem Bahndrehimpuls des Elektrons. F¨ ur m = 0 gilt ¨ahnlich wie unter (1) diskutiert (L)2Op ψl (ϑ) = l (l + 1) h ¯ 2 ψl (ϑ) , d.h. das Quadrat des Bahndrehimpulses besitzt einen Eigenwert  L2 = l (l + 1) h ¯ . ¯ 2 , L = l (l + 1) h

(15.18)

(15.19)

Mit den Eigenwerten L2 und Lz ist der Bahndrehimpuls des Elektrons im Rahmen der Quantenphysik so genau wie m¨ oglich definiert. Die anderen beiden Komponenten (Lx )Op und (Ly )Op besitzen keine Eigenwerte, sondern nur je einen Erwartungswert Lx  = 0

,

Ly  = 0 .

(15.20)

Dies sollte uns nicht u ¨berraschen. Da das Elektron im Atom in einem engen Raumbereich gebunden ist, muss aufgrund der Heisenberg’schen Unsch¨ arfe der Drehimpuls eine Schwankungsbreite besitzen. Analog zum linearen Impuls des Elektrons in einem eindimensionalen Kasten besitzt L2 einen Eigenwert, aber L nur einen Erwartungswert. Die Unsch¨ arfe von L ist auf die beiden Komponenten Lx und Ly konzentriert, Lz dagegen besitzt einen Eigenwert, d.h. ∆Lz = 0. Die beiden Eigenwerte L2 = l (l + 1) h ¯ 2 und Lz = m ¯ h, sowie die beiden Erwartungswerte Lx  = Ly  = 0 lassen aber eine anschauliche Darstellung der Bewegung des Elektrons in der Atomh¨ ulle zu. Da die Normale auf die Bahnebene auch die Richtung des Drehimpulses angibt, dreht sich diese Normale

384

15 Atomphysik

¨ gleichf¨ ormig auf einem Konus um die z-Achse des Atoms. Der Offnungswinkel θ des Konus ist durch die Beziehung cos θ =

m Lz =  L l (l + 1)

(15.21)

gegeben. Dieses Verhalten ist in Abb. 15.2 dargestellt. (3) Die Bestimmung von ψn (r) Die Wellenfunktion ψn (r) ergibt sich aus der L¨osung der Gleichung 2

d 2 d ¯2 h + ψn (r) 2 me dr2 r dr 2

h l (l + 1) ¯ 1 Z e2 + − ψn (r) = En ψn (r) , 2 me r 2 4π ǫ0 r −

(15.22)

unter der Randbedingung, dass ψn (r) = 0 f¨ ur r → ∞. Unabh¨angig von der Drehimpulsquantenzahl l ist der Energieeigenwert En gegeben durch Glei¨ chung (15.7), betr¨ agt also in Ubereinstimmung mit dem Bohr’schen Atommodell En = −Ry (hc)

Z2 . n2

(15.23)

Weiterhin sind die erlaubten Werte von l beschr¨ankt auf den Bereich 0 ≤ l ≤ n − 1, damit die Randbedingung erf¨ ullt werden kann. Wir wollen die wichtigen Ergebnisse, die sich aus der L¨osung der station¨ aren Schr¨ odinger-Gleichung ergeben, zusammenfassen. (1) Die Elektronenzust¨ ande sind gekennzeichnet durch 3 Quantenzahlen1 n, l, m, die innerhalb eines bestimmten Wertebereichs liegen: • • •

Die Hauptquantenzahl n mit ganzzahligen Werten n > 0. Die Bahndrehimpulsquantenzahl l mit ganzzahligen Werten 0 ≤ l ≤ n − 1. Die Projektionsquantenzahl m mit ganzzahligen Werten |m| ≤ l. Es gibt daher 2l + 1 M¨ oglichkeiten, wie sich der Drehimpuls bez¨ uglich der z-Achse ausrichten kann.

(2) Die Energieeigenwerte der Elektronenzust¨ande in einem Einelektronatom h¨ angen nur von der Hauptquantenzahl n, nicht aber von der Bahndrehimpulsquantenzahl l und der Projektionsquantenzahl m ab. Man sagt, die Elektronenzust¨ ande sind l-entartet und m-entartet. Die Gr¨ unde f¨ ur diese Entartungen sind folgende: 1

Es sollte keine Verwechslung zwischen der Quantenzahl m und der relativistischen Masse m entstehen, da letztere in diesem Kapitel keine Rolle spielt.

15.1 Das Einelektronatom

385

¨ Tabelle 15.1. Die Offnungswinkel θ des Konus der Bahnnormalen f¨ ur verschiedene Elektronenzust¨ ande l

m

cos θ

0

0

0/0 (unbestimmt)

unbestimmt

n−1

±l

(n − 1)/

≈ 0◦

n−1

n=1

l=n−1 m=l l=n−1 m=0





0

n=2



0/

θ



n(n − 1) ≈ 1

n(n − 1) = 0

n=3

≈ 90◦

Abb. 15.3. Die Wahrscheinlichkeitsdichten |ψn,l,m |2 f¨ ur einige ausgesuchte Zust¨ ande mit Quantenzahlen n, l, m. Die Dichten sind rotationssymmetrisch um die nach oben gerichtete z-Achse, und daher kugelsymmetrisch f¨ ur l = 0 Zust¨ ande (obere Reihe), um die z-Achse konzentriert f¨ ur die l = n − 1, m = 0 Zust¨ ande (untere Reihe), und in die Fl¨ ache senkrecht zur z-Achse konzentriert f¨ ur die l = n − 1, |m| = l Zust¨ ande (mittlere Reihe). Diese Dichteverteilungen ergeben sich ganz ¨ ahnlich, wenn man sich vorstellt, dass die Bahnebene des Elektrons aus Abb. 15.2 auf einem Konus (gestrichelte Linien) um die zAchse rotiert

Die l-Entartung ergibt sich aus der Form der potenziellen Energie Wpot ∝ 1/r. In den Mehrelektronenatomen, in denen die 1/r Abh¨ angigkeit nicht mehr gilt, ist die l-Entartung aufgehoben. Das bedeutet, die Energieeigenwerte h¨angen dann von n und l ab. Die m-Entartung entsteht dadurch, dass die z-Achse eines Atoms willk¨ urlich im Raum steht, also f¨ ur jedes Atom in eine andere Richtung zeigt. Erst wenn die Ausrichtung der z-Achse f¨ ur alle Atome in dieselbe Richtung erzwungen wird, wird gleichzeitig die m-Entartung aufgehoben. Die Energieeigenwerte h¨angen dann auch von m ab. Die gemeinsame Ausrichtung kann durch eine ¨außere Kraft erzwungen werden, etwa durch ein elektrisches oder magnetisches Feld.

(3) Wir haben die mathematische Darstellung der Wellenfunktionen ψn,l,m (r, ϑ, ϕ) nicht angegeben, denn wir werden sie im Folgenden nicht ben¨otigen. Trotzdem ist es interessant zu pr¨ ufen, inwieweit die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten |ψn,l,m |2 dV des Elektrons mit der anschaulichen Interpretation der Elektronenbewegung durch Gleichung (15.21) u ¨ bereinstimmen. Dazu sind in Abb. 15.3 die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten f¨ ur die Zust¨ ande n = 1, 2, 3 mit (l = 0,m = 0) , (l = n − 1,|m| = l) und (l = n − 1,m = 0) schematisch gezeigt. Diese Verteilungen sollten wir vergleichen mit der Dich-

386

15 Atomphysik

teverteilung, die entsteht, wenn sich die Bahnfl¨ ache in Abb. 15.2 auf dem Ko¨ nus mit Offnungswinkel θ um die z-Achse dreht. Die Winkel θ sind ebenfalls in Abb. 15.3 angegeben. Um den Zusammenhang zu den Aufenthaltswahrscheinlichkeiten zu erkennen, muss man sich vorstellen, dass die Bahnnormale in Richtung der gestrichelten Linie zeigt und zusammen mit der Bahn um die z-Achse rotiert. Ein Elektron, das sich in einem angeregten Zustand mit ni befindet, befindet sich im Prinzip in einem nichtstation¨ aren Zustand, kann also mit der Lebensdauer τ in einen tiefer liegenden Zustand nf < ni springen und dabei ein Photon emittieren. Die Elektronen¨ uberg¨ ange sind zwischen allen Zust¨anden ¨ ni → nf m¨ oglich. Die Uberg¨ ange, die in einem bestimmten Zustand nf enden, bezeichnet man als Serie mit den dazu geh¨orenden Photonenenergien. Ausgedr¨ uckt in Wellenl¨ angen λ existieren im Wasserstoffatom folgende Serien: (1) Die Lyman-Serie mit nf = 1. 1 = Ry λL

1 1− 2 . ni

Ihre Emissionslinien liegen im ultravioletten Spektralbereich. (2) Die Balmer-Serie mit nf = 2. 1 = Ry λB



1 1 − 4 n2i

.

Ihre Emissionslinien liegen im sichtbaren Spektralbereich. (3) Die Paschen-Serie mit nf = 3. 1 = Ry λP



1 1 − 9 n2i

.

Ihre Emissionslinien liegen im infraroten Spektralbereich. Anhand dieser typischen Emissionslinien, insbesondere denen der BalmerSerie, wurden die Widerspr¨ uche zu einer klassischen Beschreibung der Atomh¨ ulle offensichtlich, und die korrekte Beschreibug durch die Quantenphysik wurde experimentell verifiziert. Wir wollen zum Schluss dieses Kapitels noch die Gleichung (15.22) untersuchen. In dieser Gleichung tritt neben der potenziellen Energie Wpot noch eine weitere Energie Wrot auf, die sich klassisch schreiben l¨asst, siehe Gleichung (3.24) Wrot =

L2 2 I (z)

(15.24)

15.1 Das Einelektronatom

W

387

W

Wrot

r Wpot(1)

rRyd

Wpot(Z) r

W’ pot

Wpot

Wpot

(a)

(b)

Abb. 15.4. Links: Die radiale Abh¨ angigkeit der effektiven potenziellen Energie ′ ′ ein Minimum, das den (r) = Wrot (r) + Wpot (r). F¨ ur r = rRyd besitzt Wpot Wpot Bahnradius der Rydberg-Zust¨ ande definiert. Rechts: Die radiale Abh¨ angigkeit der potenziellen Energie Wpot eines einzelnen Elektrons in einem Mehrelektronenatom. ur kleine Radien ∝ Ze2 , f¨ ur große Radien ∝ 1e2 Wpot ist f¨

und daher der kinetischen Energie des Elekrons auf der Kreisbahn entspricht. In radialer Richtung besitzt das Elektron daher eine effektive potenzielle Energie ′ Wpot (r) = Wrot (r) + Wpot (r) .

(15.25)

Der 1. Term auf der rechten Seite dieser Gleichung ist positiv Wrot ∝ 1/r2 , der 2. Term ist negativ Wpot ∝ −1/r, bei kleinen Abst¨anden dominiert der 1. Therm, bei großen Abst¨anden der 2. Therm. In Abb. 15.4a ist die radiale ′ (r) f¨ ur einen Zustand n ≫ 1 und l = n − 1 dargeAbh¨ angigkeit von Wpot ′ stellt. Die Bedingung Wpot (r) < 0 f¨ ur gebundene Elektronenzust¨ande wird ullt, d.h. diese Zust¨ande sind sehr nur bei sehr großen Atomradien rRyd erf¨ gut lokalisiert auf einen engen Bereich in großem Abstand vom Atomkern. ¨ In der Tat ist in Ubereinstimmung mit Abb. 15.4a die Elektronenbewegung ′ (rRyd ). Derartige Elektroneneine Kreisbahn in der Energiemulde bei Wpot zust¨ ande nennt man Rydberg-Zust¨ ande. Sie besitzen nur eine geringe Ionisierungsenergie Eion = −En ≈ 13,6/n2 eV, aber einen großen Radius ur n = 100 betr¨agt der Radius eines rRyd ≈ n2 rBohr = n2 (0,5 · 10−10 ) m. F¨ Rydberg-Atoms ca. 1 µm. Das Atom sollte in einem optischen Mikroskop zu erkennen sein, wenn man es beleuchten k¨onnte, ohne es durch Ionisation zu zerst¨ oren.

388

15 Atomphysik

15.2 Der Elektronenspin Das Elektron besitzt eine Eigenschaft, die man als Spin S bezeichnet und die auch das Photon besitzt, wo der Spin die Polarisation des Lichts bestimmt. In einem klassischen Bild stellt man sich den Spin als Eigendrehimpuls eines K¨ orpers vor, der um eine Achse durch seinen Massenmittelpunkt rotiert. Das ist jedoch ein schlechtes Bild f¨ ur das Elektron, dessen Radius so klein ist, dass er bisher nicht gemessen werden konnte, und nat¨ urlich erst recht f¨ ur das Photon, das keine Ruhemasse und keine Ausdehnung besitzt. F¨ ur den Spin gibt es kein klassisches Analogon, diese Eigenschaft erh¨alt ein Teilchen erst in der relativistischen Quantenphysik. Daher ist der Spin als Teilcheneigenschaft in der nichtrelativistischen Quantenphysik bisher auch nicht vorgekommen. Er muss jetzt zus¨ atzlich in diese N¨ aherung eingef¨ uhrt werden, wenn die in dem Stern-Gerlach-Versuch zu beobachtenden Ph¨ anomene erkl¨art werden sollen. 15.2.1 Der Stern-Gerlach-Versuch Stern (1888 - 1969) und Gerlach (1889 - 1979) haben im Jahr 1921 in einem Versuch gezeigt, dass ein geradliniger Strahl von Silber(Ag)-Atomen in einem inhomogenen Magnetfeld B in zwei Teilstrahlen getrennt wird. Die Ver¨ anderung der Bahnbewegung, d.h. die Trennung, kann nur durch eine Kraft verursacht sein, die das inhomogene Magnetfeld auf das magnetische Moment ¨ ubt. Uberlegen wir uns, wie diese Kraft entsteht. Die ℘mag des Ag-Atoms aus¨ potenzielle Energie eines magnetischen Dipols in einem magnetischen Feld ist nach Gleichung (8.158) gegeben zu Wpot = −℘mag Bz ,

(15.26)

wenn ℘mag in die z-Richtung zeigt. Daraus ergibt sich die Kraft auf den Dipol zu Fz = −

d dWpot dBz = ℘mag Bz = ℘mag . dz dz dz

(15.27)

Das bedeutet, die Kraft existiert nur, wenn dBz /dz = 0, das Magnetfeld also in z-Richtung inhomogen ist. Wie entsteht das magnetische Moment im Ag-Atom? Nach Gleichung (8.186) wird das magnetische Moment erzeugt durch einen Kreisstrom I und ergibt sich zu ℘mag = I A ,

(15.28)

wobei A die vom Kreisstrom eingeschlossene Fl¨ache ist. Die Elektronen in der H¨ ulle des Ag-Atoms bilden derartige Kreisstr¨ome. Das Ag-Atom geh¨ort zu den Mehrelektronenatomen, deren Eigenschaften wir in Kap. 15.3 behandeln werden. Im Augenblick ist nur wichtig, dass sich die Elektronenzust¨ande im 108 ¨ berlagern, dass sich ein resultierender Strom I = 0 ergibt 47 Ag gerade so u

15.2 Der Elektronenspin

389

und daher das Ag-Atom kein magnetisches Moment besitzen d¨ urfte. Trotzdem wird dessen Existenz in dem Stern-Gerlach-Versuch experimentell nachgewiesen. Wie entsteht also das magnetische Moment? Wenn wir annehmen, dass Gleichung (8.194) den Zusammenhang zwischen magnetischem Moment und Drehimpuls beschreibt, dann ergibt sich ℘mag = −gs ℘Bohr ms ,

(15.29)

mit der Orientierungsquantenzahl ms , die die Orientierung des Drehimpulses bez¨ uglich der durch Bz definierten z-Achse angibt. Da das Experiment die Anzahl der Einstellm¨ oglichkeiten auf 2 begrenzt, muss gelten 2s + 1 = 2



s=

1 1 , ms = ± . 2 2

(15.30)

Daher kann die Ursache f¨ ur das magnetische Moment des Ag-Atoms nicht der Bahndrehimpuls sein, zu dem immer eine ungerade Anzahl (2l + 1) von Einstellm¨ oglichkeiten geh¨ ort. Sondern die Ursache ist der Elektronenspin S mit den Eigenwerten S 2 = s (s + 1) h ¯2

, Sz = ms ¯h .

(15.31)

Obwohl es sich bei dem Spin nicht um eine klassische Gr¨oße handelt, sind seine Eigenschaften doch sehr ¨ ahnlich zu denen des Bahndrehimpulses L, der klassisch eine Vektorgr¨ oße ist. Man kann daher den Spin so behandeln, als sei auch er ein Vektor. Allerdings sollte man mit dieser Analogie sehr vorsichtig umgehen, denn sie l¨ asst sich nicht in einem klassischen Bild verdeutlichen. Und sie ist auch in anderen Situationen nicht korrekt. Zum Beispiel betr¨agt der Land´ e-Faktor in Gleichung (15.29) gs = 2 und unterscheidet sich damit um das Doppelte von dem Wert gl = 1, den man im klassischen Bild erwartet. Wir wollen den Spin S nur wie einen Vektor behandeln, wenn wir seine Einstellm¨ oglichkeiten relativ zum Bahndrehimpuls L untersuchen. 15.2.2 Die atomare Feinstruktur Die Erkenntnis, dass das Elektron einen Spin besitzt, hat wichtige Auswirkungen auf das Verhalten des Elektrons und anderer Quantenteilchen, die uns im Folgenden noch sehr besch¨ aftigen werden. Zun¨achst wollen wir die Auswirkungen auf die Energieeigenwerte der station¨ aren Zust¨ande im Einelektronatom betrachten. Erstens m¨ ussen wir die Anzahl der Quantenzahlen f¨ ur jeden Zustand von drei auf vier vergr¨ oßern. Es ist jedoch nicht angebracht, n, l, m, s als unabh¨ angige Quatenzahlen einzuf¨ uhren, weil sich der Bahndrehimpuls L mit dem Spin S verbindet zu einem Gesamtdrehimpuls J = L + S, der die Quantenzahl j = l + ms besitzt. Zweitens ist der Grund f¨ ur diese Kopplung von S an L, dass sowohl der Spin wie auch der Bahndrehimpuls ein magnetisches Moment im Atom erzeugen und die Wechselwirkung zwischen diesen Momenten die potenzielle

390

15 Atomphysik

Energie des Elektrons in der Atomh¨ ulle ver¨ andert, je nachdem wie sich die Momente relativ zueinander orientieren. Nach Gleichungen (8.197) und (8.199) ist mit ℘mag (l) ein Magnetfeld B ∝ ℘mag (l) z ∝ −l z verbunden, in dem das vom Spin erzeugte magnetische Moment die potenzielle Energie Wpot = −℘mag (s) Bz ∝ l ms

(15.32)

besitzt. Ist l > 0, vergr¨ oßert sich die potenzielle Energie f¨ ur ms = +1/2, und sie verkleinert sich f¨ ur ms = −1/2. Diese beiden Einstellm¨oglichkeiten unterscheiden sich neben der potenziellen Energie auch durch den Wert f¨ ur die Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses, die im ersten Fall j = l + 1/2 und im zweiten Fall j = l − 1/2 betr¨ agt. Es ist daher zwingend, als Quantenzahlen n, l, j, m zu w¨ ahlen, um die station¨ aren Elektronzust¨ande in der H¨ ulle zu kennzeichnen. Dabei ist die Projektionsquantenzahl m jetzt bezogen auf den Gesamtdrehimpuls J, d.h. sie kennzeichnet alle m¨oglichen Werte vom Jz = m ¯h mit −j ≤ m ≤ +j. Die Projektionsquantenzahl m ist also halbzahlig, wenn j halbzahlig ist. Die Quantenzahlen n, l, j werden zur Nomenklatur der station¨aren Zust¨ ande nach folgender Konvention benutzt: Wellenfunktion ψn,l,j,m



n2s+1 lj ,

(15.33)

wobei die Werte von l durch Buchstaben ersetzt werden: l = 0 → s, l = 1 → p, l = 2 → d, l = 3 → f, l = 4 → g. Zum Beispiel ist der Zustand 32 p1/2 ein Einelektronzustand mit der Hauptquantenzahl n = 3 und der Bahndrehimpulsquantenzahl l = 1, die mit der Spinquantenzahl des Elektrons zu einer Gesamtdrehimpulsquantenzahl j = 1/2 koppelt. In Abb. 15.5 sind die Energieeigenwerte eines Einelektronatoms schematisch dargestellt. Wir erkennen

E(eV)

−13,6

12s1/2

22p3/2

22p1/2

22s1/2

32d5/2

32d3/2

32p3/2

32p1/2

32s1/2

0 Abb. 15.5. Nomenklatur und Energieniveaus der Einelektronzust¨ ande im Wasserstoffatom. Wegen der Feinstruktur besitzen Zust¨ ande mit j = l − 1/2 und j = l + 1/2 f¨ ur l > 0 verschiedene Energien, die Energiedifferenz (schattiert) ist in diesem Bild jedoch maßlos u ¨bertrieben

15.2 Der Elektronenspin

• • •

391

Alle Zust¨ ande sind weiterhin m-entartet. Alle Zust¨ ande mit gleichen Quantenzahlen n und j sind entartet. Die Zust¨ ande mit Quantenzahl l = 0 spalten nicht in zwei Zust¨ande mit j = l − 1/2 und j = l + 1/2 auf.

Die Energiedifferenz zwischen den n2 ll−1/2 und n2 ll+1/2 Zust¨anden nennt man die Feinstruktur des Termschemas. Diese Differenz ist in der Gr¨oßenordnung ∆En,l ≈ 5 · 10−5 En

4 Z2 −4 Z ≈ 6,8 · 10 eV, n l2 n3 l 2

(15.34)

sie ist also viel kleiner als es in der schematischen Abb. 15.5 dargestellt ist. Es waren sehr pr¨ azise Messungen n¨ otig, um die Feinstrukturaufspaltung in den Emissionslinien des Wasserstoffs nachzuweisen. 15.2.3 Das Pauli-Prinzip Jedes Quantenteilchen besitzt einen Spin, wenn diese Aussage die M¨oglichkeit s = 0 mit einschließt. F¨ ur das Elektron hat der Stern-Gerlach-Versuch den Wert s = 1/2 ergeben. Bestimmt man den Spin des Photons, findet man einen Wert s = 1. Es gibt also in der Natur Teilchen, die besitzen eine halbzahlige Spinquantenzahl s. Zu diesen Teilchen geh¨ ort das Elektron und sein Antiteilchen, das Positron, aber auch das Proton und das Neutron. Die Teilchen mit halbzahliger Spinquantenzahl bezeichnet man als Fermionen. Und es gibt Teilchen, die besitzen eine ganzzahlige Spinquantenzahl, wie das Photon. Diese Teilchen bezeichnet man als Bosonen. Fermionen besitzen eine halbzahlige Spinquantenzahl, Bosonen besitzen eine ganzzahlige Spinquantenzahl. Der entscheidende Unterschied zwischem dem Verhalten der Fermionen und Bosonen ist gegeben durch die Anzahl der Teilchen, die einen Zustand mit den Quantenzahlen n, l, j, m besetzen k¨ onnen. F¨ ur die Fermionen gilt, dass immer entweder ein Teilchen oder kein Teilchen diesen Zustand besetzen kann. Angewendet auf die Elektronen in der Atomh¨ ulle ergibt sich das Pauli-Prinzip: Jeder Elektronenzustand eines Atoms darf nur einfach besetzt sein. Das bedeutet z.B. dass alle s-Zust¨ ande in der Atomh¨ ulle nur von maximal zwei Elektronen besetzt sein d¨ urfen, die sich in den Werten der Projektionsquantenzahl m = ±1/2 unterscheiden. Dagegen k¨ onnen beliebig viele Bosonen denselben Zustand besetzen. Ja wir werden in Kap. 17.3 sogar lernen, dass bei freier Wahl ein Boson mit h¨ oherer Wahrscheinlichkeit den Zustand w¨ ahlt, der bereits mit der gr¨oßten Anzahl anderer Bosonen besetzt ist. Bosonen besitzen daher die Tendenz,

392

15 Atomphysik

dass m¨ oglichst viele von ihnen m¨ oglichst wenige Zust¨ande besetzen. Sie neigen zu der Klumpenbildung, auf die wir bereits in Kap. 13.1 hingewiesen haben. Dagegen werden von Fermionen die vorhandenen Zust¨ande m¨oglichst gleichm¨ aßig besetzt mit h¨ ochstens einem Fermion pro Zustand. Anmerkung 15.2.1: Warum kann der Stern-Gerlach-Versuch nicht an einem Elektronenstrahl durchgef¨ uhrt werden, um damit direkt die Existenz des Elektronenspins experimentell nachzuweisen? Das liegt daran, dass das Elektron einen Radius re < 10−16 m besitzt und man nicht ein inhomogenes Magnetfeld erzeugen kann, dessen r¨ aumliche Ver¨ anderung dBz /dz u ¨ ber eine derart kleine Strecke groß genug ist, um die Elektronen mit verschiedener Spineinstellung in dem Strahl zu trennen. Anmerkung 15.2.2: Wie bestimmt man den Spin des Photons? Dazu untersucht ¨ man die Uberg¨ ange i → f des Elektrons zwischen dem Anfangszustand i und dem Endzustand f in der Atomh¨ ulle, die mit der Emission eines Photons verbunden sind. Damit dieser Emissionsprozess m¨ oglich ist, m¨ ussen alle Erhaltungsgesetze erf¨ ullt sein, also Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung. Die Drehimpulserhaltung erfordert f¨ ur die Drehimpulse von Anfangs- und Endzustand und f¨ ur den Spin des Photons J i = J f + S. Da ji und jf halbzahlig sind, muss s ganzahlig und s ≥ 1 sein. Bei einer genaueren Untersuchung der erlaubten Elektronen¨ uberg¨ ange findet man ¨ s = 1, aber die ¨ ahnlichen Uberg¨ ange der Nukleonen im Atomkern erfolgen auch f¨ ur s = 2 und manchmal sogar f¨ ur s = 3.

15.3 Das Mehrelektronenatom Das Pauli-Prinzip macht eine eindeutige Aussage dar¨ uber, wie mehr Elektronen als eines an einen Atomkern mit der Ladung q = Z e gebunden werden. In einem Mehrelektronenatom wird jeder Zustand n, l, j, m mit genau einem Elektron besetzt, wobei immer die energetisch tiefsten Zust¨ande als erste besetzt werden. Die sukzessive Besetzung der Zust¨ ande nach ihrer Lage im Termschema l¨asst aber die Lage der Zustandsenergien selbst nicht unber¨ uhrt. Denn durch die abstoßende Kraft der Elektronen untereinander verlieren sie an potenzieller Energie, d.h. sie werden weniger stark gebunden. Die L¨osung der station¨aren Schr¨ odinger-Gleichung (15.3) unter diesen Bedingungen stellt ein außerordentlich schwieriges Vielteilchenproblem dar, die L¨ osung kann nur numerisch auf einem großen Rechner durchgef¨ uhrt werden. Man kann aber das Problem etwas vereinfachen, indem man die Wechselwirkungen der Elektronen durch zwei effektive Wechselwirkungen ersetzt. Wir betrachten im Folgenden ein neutrales Atom mit Ordnungszahl Z. (1) Durch die Anwesenheit von Z Elektronen in der H¨ ulle wird die elektrische Ladung des Kerns nach außen abgeschirmt. Die St¨arke der Abschirmung f¨ ur ein einzelnes Elektron in der H¨ ulle ist abh¨angig davon, wie nah das

15.3 Das Mehrelektronenatom

393

Elektron dem Atomkern kommt. Befindet sich das Elektron in unmittelbarer N¨ ahe des Atomkerns, wirkt die Ladung q = Z e. Ist es dagegen sehr weit vom Atomkern entfernt, wirkt nur die Ladung q = e, weil Z − 1 Elektronen die Kernladung abschirmen. Die potenzielle Energie des Elektrons weicht damit von der bisher angenommenen Form Wpot (r) = −

1 Z e2 4π ǫ0 r

(15.35)

ab. Sie ver¨ andert sich von diesem Wert f¨ ur kleine Abst¨ande r zu dem Wert Wpot (r) = −

1 e2 4π ǫ0 r

(15.36)

f¨ ur sehr große Abst¨ ande. Dieses Verhalten ist in Abb. 15.4b skizziert. (2) Jedes der 1 ≤ i ≤ Z Elektronen in der H¨ ulle besitzt einen Bahndrehimpuls Li und einen Spin S i . Aufgrund der zahlreichen Wechselwirkungen der Elektronen koppeln Li und S i zu einem Gesamtdrehimpuls J. Dabei k¨onnen zwei Kopplungm¨ oglichkeiten auftreten: •

L-S-Kopplung: Ist die Wechselwirkung unter den Elektronen st¨arker als die Wechselwirkung zwischen den magnetischen Momenten aufgrund des Bahndrehimpulses und des Spins eines einzelnen Elektrons, werden zun¨ achst alle Bahndrehimpulse zu einem Gesamtbahndrehimpuls koppeln und alle Spins zu einem Gesamtspin L=

Z 

Li

, S=

Z 

Si .

(15.37)

i=1

i=1

Gesamtbahndrehimpuls und Gesamtspin koppeln dann zu dem Gesamtdrehimpuls J =L+S .



(15.38)

Diese M¨ oglichkeit ist in Atomen mit kleiner Ordnungszahl realisiert, weil die Feinstruktur (15.34) mit Z 4 ansteigt, also f¨ ur kleine Z sehr schwach ist. J-J-Kopplung: Ist dagegen f¨ ur große Werte von Z die Feinstruktur dominant, werden zun¨ achst der Bahndrehimpuls und der Spin jedes Elektrons zu einem Drehimpuls koppeln und alle Drehimpuls dann zu einem Gesamtdrehimpuls J i = Li + S i

, J=

Z 

Ji .

(15.39)

i=1

Wir haben in den Gleichungen (15.37) und (15.39) die Summation u ¨ ber alle Elektronen in der H¨ ulle ausgef¨ uhrt. Man kann aber, wenn man beide Effekte (1) und (2) ber¨ ucksichtigt, die Summation auf einige der am wenigsten

394

15 Atomphysik

gebundenen Elektronen beschr¨ anken. Man bezeichnet diese Elektronen als Leuchtelektronen. Wir werden uns bei der Darstellung der Mehrelektronenatome auf die Atome beschr¨ anken, die nur ein Leuchtelektron besitzen, bei denen wir also die Drehimpulskopplungen zwischen mehreren Elektronen nicht ber¨ ucksichtigen m¨ ussen. Dabei handelt es sich um die Wasserstoff-¨ahnlichen Alkaliatome, also um Li, Na, K, Rb und Cs. Der wesentliche Einfluss aller anderen Elektronen auf das Leuchtelektron besteht darin, die Kernladung f¨ ur dieses abzuschirmen und der potenziellen Energie des Leuchtelektrons eine radiale Abh¨angigkeit zu geben, wie sie in Abb. 15.4b gezeigt wurde. Die Abweichung vom 1/rVerhalten f¨ uhrt zur Aufhebung der l-Entartung. Der Grund ergibt sich aus oßer wird der Beitrag von Wrot zur Gleichung (15.25). Je gr¨ oßer L2 , umso gr¨ ′ . Und damit wird der mittlere Abstand effektiven potenziellen Energie Wpot des Leuchtelektrons vom Atomkern gr¨ oßer. Der gr¨oßere Abstand f¨ uhrt zu einer h¨ oheren Abschirmung der Kernladung und damit zu einer Erh¨ohung ande sind also umso schw¨acher gebunden, der Zustandsenergie En,l . Die Zust¨ je gr¨ oßer l bei gegebenem n ist. Man kann dieses Verhalten, und damit die Energieeigenwerte der Alkaliatome, beschreiben durch ein Gesetz, das der Gleichung (15.23) f¨ ur Z = 1 nachgebildet ist: En,l = −Ry (hc)

1 . (n − δn,l )2

(15.40)

Der Korrekturterm δn,l wird als Quantendefekt bezeichnet. Seine Gr¨oße ist abh¨ angig von der Ordnungszahl Z des Atoms, er ist positiv und besitzt f¨ ur große l-Werte den Wert δn,l ≈ 0. In Abb. 15.6 ist das Termschema von Na schematisch gezeigt. Der Grundzustand des Leuchtelektrons besitzt die Nomenklatur 3 2 s1/2 , die ersten angeucksichtigung der Feinregten Zust¨ ande lauten 3 2 p1/2 und 3 2 p3/2 . Ohne Ber¨ struktur sind diese beiden Zust¨ ande entartet. Durch die Kopplung von S an

0 5

5 4

5 4

3

3

4

−5,12

3

5 4 3

5 4 3

5 4

f7/2

2

f5/2

2

d5/2

2

d3/2

2

p3/2

2

p1/2

2

2

s1/2

E(eV)

5 4

Abb. 15.6. Das typische Termschema eines Mehrelektronenatoms mit einem Leuchtelektron, hier handelt es sich um Na. Die Zahlen an den Energieniveaus sind die Werte der Hauptquantenzahl n. Die j-Entartung ist aufgehoben (vergl. mit Abb. 15.5), die Feinstruktur ist nicht gezeigt,weil sie zu klein ist

15.3 Das Mehrelektronenatom

395

L wird die Entartung aufgehoben und der 3 2 p3/2 Zustand erh¨alt eine etwas ¨ ange aus diesen Zust¨anden gr¨ oßere Energie als der 3 2 p1/2 Zustand. Die Uberg¨ in den Grundzustand liegen im sichtbaren Spektralbereich, sie verursachen das intensiv gelbliche Licht des Na-Spektrums. Wegen der Feinstruktur ist die gelbe Na-Linie in der Tat eine Doppellinie, deren Komponenten in der Spektroskopie mit D1 und D2 bezeichnet werden. Wir wollen uns in den n¨ achsten beiden Kapiteln mit der experimentellen Verifikation der beiden wichtigen Aussagen u ¨ ber die Mehrelektronenatome besch¨ aftigen. Diese sind: •

Das am st¨ arksten gebundene Elektron besitzt eine Zustandsenergie E1,0 ≈ −13,6 Z 2 eV,



(15.41)

denn auf dieses Elektron wirkt die gesamte Kernladung Ze. Das Leuchtelektron besitzt eine Zustandsenergie En,l ≈ −13,6 eV,

(15.42)

denn Z − 1 Elektronen schirmen die Kernladung gegen dieses Elektron ab. 15.3.1 Die Emission und Absorption von R¨ ontgenstrahlen F¨ ur ein Atom mit der Ordnungszahl Z = 50 betr¨agt nach Gleichung (15.41) die Zustandsenergie des n = 1 Elektrons ca 3,4 · 104 eV. Um es aus diesem Zustand in einen Zustand mit n = ∞ anzuregen, ben¨otigt man daher z.B. ein Photon mit einer Energie h ¯ ω = 3,4 · 104 eV, d.h. Licht mit der Wellenl¨ange −11 λ = 3,65 · 10 m. Die Grenze n = ∞ trennt die gebundenen Zust¨ande von den ungebundenen Zust¨ anden, die von freien Elektronen besetzt werden. Man nennt diese Grenze die Kontinuumsgrenze, den Bereich der ungebundenen Zust¨ ande das Kontinuum. Nach Abb. 9.14 liegt Licht mit einer Wellenl¨ange λ = 3,65 · 10−11 m im fernen R¨ ontgenbereich, also im Bereich der R¨ontgenstrahlen. Zur Charakterisierung des Lichts in diesem Bereich benutzt man eine andere Nomenklatur als die, die wir bisher zur Kennzeichnung der Eigenzust¨ande in der Atomh¨ ulle benutzt haben. Dieser Wechsel in der Nomenklatur ist durchaus sinnvoll, denn bisher haben wir Zust¨ ande behandelt, die unbesetzt sind und in die Elektronen angeregt werden k¨ onnen. Jetzt behandeln wir Zust¨ande, die normalerweise mit Elektronen besetzt sind und aus denen wir ein Elektron entfernen und damit ein Loch zur¨ ucklassen. Zur Charakterisierung der R¨ontgenstrahlen fasst man die Zust¨ ande mit n = 1,2,3,4,5 zusammen in der K-Schale, der L-Schale, der M-Schale, der N-Schale und der O-Schale. Um ein Elektron aus der K-Schale des Atoms mit Ordnungszahl Z = 50 in das Kontinuum zu bef¨ ordern, ist also eine Mindestenergie ε = 3,4 ·104 eV notwendig, die auf das K-Elektron u ¨ bertragen werden muss. Photonen mit dieser Energie lasssen sich nicht in ausreichender Zahl mit einer nat¨ urlichen Lichtquelle, z.B. einer Gl¨ uhlampe, erzeugen. Also verwendet man zur Anregung der

396

15 Atomphysik

K

A

Abb. 15.7. Schematischer Aufbau einer R¨ ontgenr¨ ohre. Elektronen, die zwischen Gl¨ uhkathode K und Anode A mit ca. 100 kV beschleunigt werden, erzeugen in der Anode R¨ ontgenstrahlen, die auf der Seite beobachtet werden k¨ onnen, auf der sie nicht von der Anode wieder absorbiert werden

100 kV K-Elektronen selbst Elektronen, die in einem elektrischen Feld mit der Potenzialdifferenz (Spannung) U = 34 kV beschleunigt werden. Das Ger¨at, das die freien Elektronen bereitstellt und dann beschleunigt, ist die R¨ ontgenr¨ ohre. In Abb. 15.7 ist der prinzipielle Aufbau einer R¨ontgenr¨ohre gezeigt. Die freien Elektronen werden von der Gl¨ uhkathode emittiert, wenn man durch einen Heizstrom diese auf eine Temperatur T > 1000 K erhitzt. Wir werden in Kap. 17.4.1 lernen, dass dieser Emissionsprozess ¨ ahnlich zu einer Verdampfung der in der Kathode frei beweglichen Leitungselektronen ist. Die freien Elektronen werden dann in der evakuierten R¨ ontgenr¨ ohre auf die Anode hin beschleunigt; zwischen Kathode und Anode befindet sich eine Spannung von typisch U = 100 kV. Der eigentliche Prozess zur Entstehung der R¨ontgenstrahlen findet in der Anode statt, die schr¨ ag angeschliffen ist, damit m¨oglichst wenige der R¨ ontgenstrahlen gleich wieder in der Anode absorbiert werden. Misst man die spektrale Verteilung der R¨ontgenstrahlen mithilfe der Bragg-Reflexion (siehe Kap. 14.1), stellt man fest, dass dieses Spektrum aus zwei Komponenten besteht, einer kontinuierlichen Komponente, die Bremsstrahlung heißt, und einer diskreten Komponente, die man charakteristische Strahlung nennt. In Abb 15.8 ist das Spektrum der R¨ontgenstrahlen aus einer R¨ ontgenr¨ ohre dargestellt. Die Bremsstrahlung entsteht durch die Ablenkung der negativ geladenen Elektronen aus der Kathode in der N¨ ahe der positiv geladenen Atomkerne in der Anode. Ablenkung bedeutet Beschleunigung, und eine beschleunigte Ladung strahlt elektromagnetische Wellen ab wie ein Hertz’scher Dipol. Wegen der hohen Energie der abgelenkten Elektronen liegt diese elektromagnetische Strahlung im R¨ ontgenbereich. Damit ist auch sofort festgelegt, wie groß die obere Frequenzgrenze dieser R¨ ontgenstrahlen ist. Da die Elektronen nicht mehr als ihre gesamte Energie in einem Ablenkungsprozess verlieren k¨onnen, uckt, betr¨ agt die obere Grenze h ¯ ωmax = eU oder, in Wellenl¨angen ausgedr¨ λmin = hc/eU .

15.3 Das Mehrelektronenatom

L γ Lβ Lα

I em

Mγ Mβ Mα

Kβ Kα

log λ

397

Abb. 15.8. Spektrale Verteilung der R¨ ontgenstrahlung. Diese besteht aus einer kontinuierlichen Komponente, der Bremsstrahlung, die von diskreten Linien, der charakteristischen Strahlung, u ¨ berlagert wird. Die Kα -Linie entspricht ¨ dem Ubergang L → K, die ¨ M→ Kβ -Linie dem Ubergang ¨ K, die Lα -Linie dem Ubergang M → L usw. Beachten Sie den logarithmischen Maßstab der Ordinate

Zur Entstehung der charakteristischen Strahlung muss zun¨ achst durch die hochenergetischen Elektronen von der Kathode ein Loch in der K-Schale oder der L-Schale der Atome in der Anode erzeugt werden. Das Loch in der K-Schale wird durch ein Elektron aus der L-Schale oder der M-Schale gef¨ ullt, wobei ein charakteristisches R¨ontgenphoton emittiert wird. Diese Photonen ocher in der L- und Mtragen die Bezeichnung Kα - bzw. Kβ -Strahlung. Die L¨ Schale werden durch Elektronen¨ uberg¨ange aus noch h¨ oheren Schalen wieder gef¨ ullt, bei der F¨ ullung der L-Schale entsteht die Lα - bzw. Lβ -Strahlung, bei der F¨ ullung der M-Schale entsteht die Mα - bzw. Mβ -Strahlung. Insgesamt entsteht also eine R¨ontgenkaskade aus vielen Photonen, deren Gesamtheit die charakteristische Strahlung ergeben. Die Strahlung heißt charakteristisch, weil die auftretenden Frequenzen charakteristisch sind f¨ ur die Ordnungszahl Z der Atome in der Anode. Treffen die R¨ontgenstrahlen auf ein Material, k¨ onnen sie in diesem Material zum Teil absorbiert werden abh¨angig davon, welche Dicke das Material in der Ausbreitungsrichtung der R¨ontgenstrahlen besitzt. Mit anderen Worten, ontgenphotonen auf das Material, werden nur n Photonen in der treffen n0 R¨ gleichen Richtung das Material wieder verlassen. Die relative Abnahme der Photonenzahl dn/n h¨angt allein von dem Absorptionsprozess und der Dicke dz des Materials ab. Es gilt dn = −µ dz n

oder dn = −n µ dz .

(15.43)

Dies ist eine Differentialgleichung erster Ordnung mit der L¨ osung n = n0 e−µ z ,

(15.44)

die Photonenzahl nimmt also exponentiell mit der Materialdicke ab. Das Verhalten des Absorptionskoeffizienten µ wird bestimmt durch die Prozesse, die zur Absorption beitragen. F¨ ur R¨ontgenstrahlen in dem Energiebereich ¯h ω < 100 keV, den wir hier betrachten, ist der dominante Prozess der Photoeffekt. Dieser Effekt ist fast identisch zum lichtelektrischen Effekt, siehe Kap.

398

15 Atomphysik

13.1, der Unterschied besteht nur in den Elektronen, die durch die Absorption des Photons in das Kontinuum bef¨ ordert werden. Beim Photoeffekt sind dies die K- und L-Elektronen, beim lichtelektrischen Effekt die wenig gebundenen und z.B. frei beweglichen Elektronen in einem metallischen Leiter. Damit ein K-Elektron in das Kontinuum angeregt werden kann, muss die Photonenenergie ¯h ω ≥ ¯ h ωK = |EK | sein, wobei EK die Zustandsenergie des K-Elektrons ist. Freie Elektronen aus der L-Schale entstehen dann, wenn h ¯ ω ≥ ¯h ωL = |EL | ist. Der Absorptionskoeffizient zeigt also eine ausgepr¨agte Abh¨angigkeit von der Energie h ¯ ω des Photons und der Ordnungszahl Z des Absorbermaterials, weil die Werte von |EK | und |EL | quadratisch mit Z zunehmen. Aus den Absorptionsexperimenten ergibt sich, dass f¨ ur den Absorptionskoeffizienten gilt µ∝

Z4 . ω3

(15.45)

Dieser Koeffizient nimmt also stark mit der Ordnungszahl zu und stark mit der Photonenenergie ab. Die kontinuierliche Abnahme, die durch dieses Gesetz beschrieben wird und die in Abb. 15.9 gezeigt ist, ist immer dann unterbrochen und µ nimmt wieder zu, wenn die Photonenenergie gerade die Werte ¯h ωK und h ωL erreicht. Die sprunghaften Zunahmen werden als K-Kante und L-Kante ¯ bezeichnet, wobei man bei letzterer mit einem hochaufl¨osenden Spektrometer auch die Aufhebung der j-Entartung und die Feinstruktur beobachten kann. Die L-Kante gliedert sich dann in drei benachbarte Kanten, die die Bezeichnungen LI , LII und LIII tragen. Die Kantenenergie ergibt also genau den Betrag der Zustandsenergie f¨ ur die entsprechende Schale in der mit Elektronen besetzten Atomh¨ ulle. Dies ist eine wichtige Information, denn sie erlaubt, die G¨ ultigkeit von Gleichung (15.41) experimentell nachzupr¨ ufen, indem die Kantenenergien f¨ ur m¨oglichst viele verschiedene Ordnungszahlen Z bestimmt werden. Diese Pr¨ ufung wurde

µ LIII LII L I

K ω

Abb. 15.9. Frequenzabh¨ angigkeit des Absorptionskoeffizienten µ der R¨ ontgenstrahlung bei Absorption infolge des Photoeffekts. Die Absorptionskanten treten bei den Frequenzen (Energien) auf, die ben¨ otigt werden, um das Elektron aus dieser Schale gerade in das Kontinuum zu bef¨ ordern

15.3 Das Mehrelektronenatom

399

von Moseley (1887 - 1915) vorgenommen mit dem Ergebnis, dass die Kantenenergien dem Moseley’schen Gesetz folgen:  (Z − Sn )2 |En,0 | 1 = (Z − Sn ) .(15.46) → f (Z) = |En,0 | = 13,6 2 n 13,6 n Die Steigung der Funktion f (Z) betr¨ agt df (Z)/dZ = 1/n, der Nulldurchgang f (Z) = 0 erfolgt f¨ ur Z = Sn . Die Konstante Sn wird Abschirmzahl genannt, ihr Wert h¨ angt von der Hauptquantenzahl n ab. F¨ ur n = 1, also Elektronen ur Elektronen in der K-Schale, ergeben die experimentellen Daten SK ≈ 1. F¨ in der L-schale ergibt sich SL ≈ 7,4. Die Kernladung f¨ ur die K-Elektronen wird daher im Mittel von einem Elektron abgeschirmt, f¨ ur die Elektronen in der L-Schale sind im Mittel 7 bis 8 Elektronen f¨ ur die Abschirmung verant¨ wortlich. Diese Resultate sind in Ubereinstimmung mit unseren Erwartungen aufgrund des Pauli-Prinzips und den sich daraus ergebenden Besetzungszahlen der tiefliegenden Zust¨ ande in der Atomh¨ ulle. In Kap. 15.4 werden wir uns noch einmal mit der Besetzungszahlen besch¨aftigen, denn sie bilden die Grundlage f¨ ur das periodische System der Elemente. 15.3.2 Die Ionisierungsenergien Im vorhergehenden Kapitel haben wir uns u ¨berlegt, was geschieht, wenn ein Elektron aus der K- oder L-Schale eines Atoms entfernt wird. Man kann ein Atom nat¨ urlich auch ionisieren, indem man das am schw¨achsten gebundene Elektron entfernt. Die dazu ben¨ otigte Energie wird Ionisierungsenergie Eion genannt. Wir erwarten, dass Eion ≈ 13,6 eV, und damit ist die Ionisierungsenergie viel geringer als die Energie, die f¨ ur die Ionisation aus der K-Schale ben¨ otigt wird. Dies ist der Grund, warum bei der experimentellen ussen frei Bestimmung von Eion besondere Vorsicht geboten ist. Die Atome m¨ sein, d.h. sie d¨ urfen nicht in Wechselwirkung mit Nachbaratomen stehen. Diese Bedingung spielte bei der Untersuchung der R¨ontgenspektren keine Rolle, da die Eigenschaften der tiefliegenden K- und L-Schalen nicht durch die Nachbaratome beeinflusst werden. Bei der Bestimmung der Ionisierungsenergie ist das Vorhandensein von freien Atomen aber eine wichtige Bedingung. W¨aren sie z.B. zu einem festen K¨ orper gebunden, w¨ urden wir die Abl¨ oseenergie εa messen (z.B. εa (Cu) = 4,39 eV), nicht aber die Ionisierungsenergie Eion (z.B. Eion (Cu) = 7,72 eV). Die Ionisierungsenergie wird daher immer in einer Gasatmosph¨are gemessen. Das wohl bekannteste Experiment diesen Typs ist das von Franck und Hertz, mit dessen Hilfe sie im Jahr 1914 zwar nicht gleich die Ionisierungsenergie gemessen haben, aber das Leuchtelektron im Quecksilber (Hg) in einen h¨ oheren Zustand angeregt haben. Der prinzipielle Aufbau des Franck-HertzExperiments ist sehr ¨ ahnlich zu einer R¨ ontgenr¨ohre Abb. 15.7, die allerdings mit Hg-Dampf gef¨ ullt war. Die Beschleunigungsspannug f¨ ur die Elektronen, die aus der Gl¨ uhkathode austreten, ist variabel und betr¨agt U < 15 V. Wird

400

15 Atomphysik Abb. 15.10. Diese schematische Darstellung zeigt die Abh¨ angigkeit der Ionisierungsenergie eines Atoms von dessen Ordnungszahl Z

Eion (eV) 25 20 13,6 eV

15 10 5 0

20

40

60

80

Z

die Spannung vom Anfangswert U = 0 V langsam erh¨oht, steigt zun¨achst der Strom zwischen Gl¨ uhkathode und Anode, bis er bei einer Spannung U = 4,9 V schlagartig abnimmt. Bei dieser Spannung haben die Elektronen aufgrund der Beschleunigung gerade gen¨ ugend Energie ε = eU gewonnen, um das Leuchtelektron im Hg-Atom anzuregen. Sie selbst besitzen aber nach der Anregung nicht mehr gen¨ ugend kinetische Energie, um die Anode zu erreichen. Der eindeutige Beweis, dass die Anregung des Elektrons gleichzeitig auch zur Ionisation des Hg-Atoms gef¨ uhrt hat, ist der Nachweis von Hg+ -Ionen in dem Gas. Die Ionisierungsenergie von Hg ist gemessen zu Eion (Hg) = 10,3 eV.

(15.47)

Mit dieser Methode kann man die Ionisierungsenergien von sehr vielen Atomen bestimmen. Das Ergebnis dieser Messungen ist in Abb. 15.10 sehr schematisch dargestellt. Die Ionisierungsenergien schwanken mit der Ordnungszahl Z des Atoms, der Mittelwert liegt f¨ ur kleine Werte von Z in der N¨ahe von Eion  = 13,6 eV, f¨ ur große Werte von Z aber deutlich darunter. Besonders interessant ist, dass bestimmte Werte von Z existieren, f¨ ur die Eion besonders groß ist, w¨ ahrend f¨ ur den benachbarten Wert Z + 1 die Ionisierungsenergie ein lokales Minimum besitzt. Dieser abrupte Wechsel von einem lokalen Maximum zu einem Minimum von Eion wird beobachtet bei den Z-Werten Z 2 10 18 36 54 ( 80 86

Element Helium (He) Neon (Ne) Argon (Ar) Krypton (Kr) Xenon (Xe) Quecksilber (Hg) ) Radon (Ra)

15.4 Das periodische System der Elemente

401

Diese Z-Werte bezeichnet man als magische Zahlen. Bis auf das Quecksilber handelt es sich bei den Elementen mit magischen Zahlen um die Edelgase. Die Edelgase besitzen daher eine besonders stabile Elektronenkonfiguration, denn ihre Ionisierungsenergien Eion sind sehr groß. Die sich anschließenden Alkaliatome sind dagegen sehr leicht zu ionisieren. Durch dieses Verhalten werden die Elektronenkonfigurationen sichtbar, f¨ ur die eine Schale mit bestimmter Hauptquantenzahl n vollst¨andig (oder auch nur teilweise, wie wir im n¨ achsten Kapitel sehen werden) mit Elektronen besetzt ist. Das n¨ achste Leuchtelektron besetzt den Zustand (n + 1) 2 s1/2 , der nur sehr schwach gebunden ist. Man kann die systematische Ver¨anderung der Ionisierungsenergie wiederum in Anlehnung an Gleichung (15.23) parametrisieren und eine effektive Kernladung Zeff definieren, die sich ergibt aus  2 Eion Zeff Eion = Ry (hc) 2 . (15.48) → Zeff = n n Ry (hc) Die Differenz Z − Zeff bestimmt die Abschirmzahl Sn f¨ ur die ¨außere Schale des Atoms    n (15.49) |En | − Eion . Sn =  Ry (hc)

Anmerkung 15.3.1: Das Quecksilber (Hg) ist ein Zweielektronenatom, dessen Termschema wir nicht diskutieren werden. Die inelastischen St¨ oße zwischen Elektronen und dem Hg-Dampf, die im Franck-Hertz-Experiment bei einer Elektronenenergie von 4,9 eV beobachtet werden, entsprechen einer Lichtwellenl¨ ange von λ = 253,7 nm. Licht mit dieser Wellenl¨ ange liegt im ultravioletten Spektralbereich (siehe Abb. 9.14), man beobachtet dieses Licht auch im Emissionsspektrum des Hg-Atoms. Die entsprechende Linie wird Interkombinationslinie genannt. Quecksilberlampen sind deswegen eine h¨ aufig benutzte Quelle f¨ ur ultraviolettes Licht.

15.4 Das periodische System der Elemente In dem periodischen System werden alle Elemente nach steigender Ordnungszahl so angeordnet, dass in einer Gruppe immer alle Elemente mit ahnlichem chemischen Verhalten stehen. In der Physik ist diese Anordnung ¨ aquivalent mit der Reihenfolge, in der m¨ ogliche Zust¨ande der Atomh¨ ulle in ¨ ¨ Ubereinstimmung mit dem Pauli-Prinzip gef¨ ullt werden. Dabei ist von besonderer Bedeutung zu verstehen, warum sich bei den magischen Zahlen gerade die Edelgasatome formieren, also Elektronenkonfigurationen mit vollbesetzten ¨ Schalen bilden. Uberlegen wir uns, wieviele Elektronen in jeder Schale gem¨aß dem Pauli-Prinzip Platz haben.2 2

Wir bezeichnen die Elektronenzahl ausnahmsweise mit N , um sie nicht mit der Hauptquantenzahl n zu verwechseln.

402

15 Atomphysik

Tabelle 15.2. Die Besetzungszahlen der 4 ersten Schalen und Unterschalen in der Atomh¨ ulle, wie sie sich aus dem Pauli-Prinzip und den Energieeigenwerten des Einelektronatoms ergeben n

Nomenklatur 2

Nn

Z=

1

1 s1/2

2

2

2

2 2 s1/2 2 2 p1/2

2 2

4 6

2 2 p3/2

4

10

3 2 s1/2 3 2 p1/2

2 2

12 14

3 2 p3/2

4

18

3 2 d3/2 3 2 d5/2

4 6

22 28

4 2 s1/2 4 2 p1/2

2 2

30 32

4 2 p3/2

4

36

4 2 d3/2 4 2 d5/2 4 2 f5/2 4 2 f7/2

4 6 6 8

40 46 52 60

3

4



Nn → 2 2 s1/2

→ 3 2 s1/2

→ 4 2 s1/2

→ 5 2 s1/2

Die Besetzungszahlen, wie sie sich aus den Energieeigenwerten des Einelektronatoms ergeben, sind in der Tabelle 15.2 angegeben. Die Doppellinien geben die Stellen an, wo nach vollst¨ andiger Auff¨ ullung einer Schale die Besetzung der n¨ achsten Schale beginnen sollte. Nur f¨ ur n = 1 und n = 2 stimmen  ur die Besetzungszahlen Nn mit den magischen Zahlen u ¨ berein. Schon f¨ n = 3 wird die Schale nicht mehr vollst¨ andig gef¨ ullt, sondern nur bis zur Unterschale 3 p. Danach beginnt bereits die Besetzung der n = 4-Schale, bevor die n = 3-Schale vollst¨ andig gef¨ ullt ist. Dasselbe geschieht in der n = 4-Schale. Diese Abweichungen von dem theoretisch erwarteten Schema werden durch die Energieeigenwerte der Unterschalen verursacht, die eben nicht der Ordnung eines Einelektronatoms folgen, sondern durch die Anwesenheit der anderen Elektronen verschoben werden. Das Schema, wie tats¨achlich die Schalen und Unterschalen in einem Mehrelektronenatom besetzt werden, ergibt sich aus der Abb. 15.11. So sind die Unterschalen mit einer hohen Bahndrehimpulsquantenzahl, wie nach Gleichung (15.25) erwartet, offensichtlich besonders schwach gebunden. Das hat zur Folge, dass nach der F¨ ullung der Unterschale 4 d nicht mit der Besetzung der Unterschale 4 f fortgefahren wird, sondern

15.4 Das periodische System der Elemente

403

Schale K 1s

L M N O P

2s

2p 3s

3p

3d

4s

4p

4d

4f

5s

5p

5d

5f

6s

6p

6d

7s Abb. 15.11. Das Schema, nach dem die Zust¨ ande im Atom mit Elektronen besetzt achstes mit der F¨ ullung der werden. Nach F¨ ullung einer n2 p-Unterschale wird als n¨ (n + 1)2 s-Unterschale begonnen, bevor die restliche n-Schale aufgef¨ ullt wird. Die asten) ist daher besonders stabil, sie entspricht n2 s + n2 p-Konfiguration (schwarze K¨ den 8 Elementen der 8 Hauptgruppen, von denen jede mit einem Edelgasatom abgeschlossen wird

mit der Besetzung der st¨arker gebundenen Unterschale 5 p begonnen wird. Die Ordnung des periodischen Systems l¨ asst sich aus Abb. 15.11 aber gut erkennen: • •

Die Elektronen in den n2 s- und n2 p-Unterschalen entsprechen den 8 Elementen in den 8 Hauptgruppen. Die Elektronen in der (n-1)2 d-Unterschale entsprechen den 10 Elementen in den 8 Nebengruppen.

Mit der F¨ ullung der n2 s- und n2 p-Unterschalen ist eine Edelgaskonfigurati2 on 2(n s) + 6(n2 p) erreicht, die besonders stark gebunden ist. Ein Elektron weniger, d.h. die 2(n2 s) + 5(n2 p)-Konfiguration, ergibt die Holagenatome, ein Elektron mehr, d.h. die 2(n2 s) + 6(n2 p) + 1((n+1)2 s)-Konfiguration entspricht den Alkaliatomen. Die gr¨oßten Abweichungen treten nach der F¨ ullung der Unterschalen 62 s und 72 s auf, nach denen mit der Besetzung von 42 f bzw. 52 f fortgefahren wird, bis diese vollst¨andig gef¨ ullt sind. Dies sind Unterschalen, die nicht das chemische Verhalten der betreffenden Elemente bestimmen. Daher verhalten sich alle Lantaniden, die w¨ ahrend der F¨ ullung der Unterahrend der F¨ ullung der schale 42 f gebildet werden, und alle Aktiniden, die w¨ Unterschale 52 f gebildet werden, untereinander chemisch sehr ¨ ahnlich.

404

15 Atomphysik

15.5 Der Laser Der Laser ist die Abk¨ urzung der englischen Bezeichnung “light amplification by stimulated emission of radiation”. Bei dem Laser handelt es sich daher um eine Lichtquelle, die Licht verst¨ arkt durch stimulierte Emission. Um zu verstehen, welcher Prozess damit gemeint ist, m¨ ussen wir genauer betrachten, auf welche Art ein Atom dazu gezwungen werden kann, Licht zu emittieren. Normalerweise befindet sich ein Atom in seinem Grundzustand g, d.h. alle Elektronen besetzen die am st¨ arksten gebundenen Zust¨ande, wie wir es im vorhergehenden Kapitel gerade diskutiert haben. Dieser Zustand ist station¨ar, er wird sich mit der Zeit nicht ver¨ andern. Damit ein Atom Licht emittieren kann, muss es in einen nichtstation¨ aren Zustand a u uhrt werden. Dies ¨berf¨ geschieht durch Anregung eines Elektrons in einen weniger stark gebundenen und daher unbesetzten Zustand. Der neue Zustand besitzt eine endliche Lebensdauer τ , nach einer gewissen Zeit t wird das Elektron mit der Wahrscheinlichkeit P (t) = 1/τ exp(−t/τ ) wieder in den station¨aren Grundzustand uckkehren. Eg ist unter Emission eines Photons mit Energie h ¯ ω = Ea − Eg zur¨ die Energie des Grundzustands und Ea die Energie des angeregten Zustands. Die Pr¨ aparation des angeregten Zustands erreicht man z.B. durch den Umkehrprozess. Ein Photon mit Energie h ¯ ω = Ea − Eg wird von dem Atom absorbiert. Dies ist ein Resonanzprozess, d.h. das Photon muss genau diese Energie besitzen, damit es von dem Atom absorbiert werden kann. Weiterhin ist die Wahrscheinlichkeit der Absorption um so gr¨oßer, je gr¨oßer auch die Wahrscheinlichkeit f¨ ur die sich anschließende Lichtemission ist, je kleiner also die Lebensdauer τ des angeregten Zustands ist. Diese beiden Prozesse, Photonabsorption und Photonemission, sind schematisch in Abb. 15.12 dargestellt. Es gibt noch eine weitere M¨ oglichkeit, ein Atom zur Lichtemission zu zwingen. Diese ensteht, wenn das Atom sich in einem quasistation¨aren Zustand befindet, also in einem Zustand mit extrem langer Lebensdauer. Die ¨ Wahrscheinlichkeit eines spontanen Ubergangs aus diesem in den station¨aren

a

a

a

g

g

g

Absorption Emission

induzierte Emission

Abb. 15.12. Der Grundzustand g und der angeregte Zustand a eines Elektrons im Atom. Durch Photonabsorption wird das Elektron von g nach a bef¨ ordert, bei spontaner Photonemission von a ¨ nach g. Kann der Ubergang von a nach g nicht stattfinden, kann man ihn mithilfe eines weiteren Photons induzieren. Dadurch verdoppelt sich die Anzahl der emittierten Photonen

15.5 Der Laser

Laser− Spiegel Material Spiegel n a > ng l

405

Abb. 15.13. Prinzipieller Aufbau eines Lasers. Er besteht aus dem Lasermaterial und zwei parallelen planaren Spiegeln, die alle zusammen einen optischen Resonator mit stehender Lichtwelle bilden. Der rechte Spiegel besitzt ein geringes Transmissionsverm¨ ogen, damit das Laserlicht nach außen gelangen kann. In dem Lasermaterial muss eine Besetzungsinversion na > ng erreicht werden

¨ Grundzustand ist sehr klein. Aber man kann den Ubergang erzwingen, indem man das Atom mit einem Photon h ¯ ω = Ea − Eg stimuliert. Dabei wird das Photon selbst nicht absorbiert, sondern es zwingt das Atom nur zu dem sonst ¨ unwahrscheinlichen Ubergang. Die dabei auftretende Lichtemission heißt stimulierte oder induzierte Emission, die Anzahl der Photonen wird durch diesen Emissionsprozess verdoppelt. Auch dieser Prozess ist schematisch in Abb. 15.12 dargestellt, er bildet die Grundlage f¨ ur den Laser. Der prinzipielle Aufbau eines Lasers ist in Abb. 15.13 gezeigt. Der Laser besteht aus einem lichtdurchl¨ assigen Material in Stabform. Die Eigenschaften dieses Materials m¨ ussen die stimulierte Lichtemission zulassen. Das bedeutet, dass sich ein großer Teil na der Atome dieses Materials in einem quasistation¨ aren Zustand befindet, und nur ein geringer Teil ng der Atome befindet sich im Grundzustand. Die beiden Stabenden des Materials sind mit planaren Spiegeln versehen, die das durch die stimulierte Emission erzeugte Licht hin- und zur¨ uckreflektieren und damit die elektromagnetische Wellen auf den Bereich des Materials selbst begrenzen. Damit trotzdem ein gewisser Bruchteil der Lichtintensit¨ at aus dem Laser austreten kann, ist der eine der planaren Spiegel teildurchl¨ assig. Er besitzt ein Reflexionsverm¨ ogen R ≈ 0,995, w¨ahrend der andere Spiegel praktisch vollst¨ andig reflektierend ist. Diese Anordnung stellt einen optischen Resonator dar, in dem sich stehende Lichtwellen ausbilden werden, wenn die Resonanzbedingung f¨ ur die Lichtwellenl¨ ange λ = 2 l/ℓ (mit ℓ = gerade Zahl) erf¨ ullt ist. Die L¨ange des Materialstabs ist l, die Resonanzbedingung ist dieselbe, die wir im Kap. 7.2.4 f¨ ur die stehenden Schallwellen in einer Lufts¨ aule kennen gelernt haben. Es l¨ asst sich zeigen, dass im Volumen V die Anzahl ∆ζ der stehenden Wellen pro Frequenzintervall dν gegeben ist durch Gleichung (6.124), d.h. es gilt, wenn wir den Impuls des Photons durch die Wellenl¨ange ausdr¨ ucken, f¨ ur diese Anzahl ∆ζ =

8π V ∆ν . λ2 c

(15.50)

406

15 Atomphysik

Die Frequenzunsch¨ arfe ∆ν = dε/h h¨ angt u ¨ber die Heisenberg’sche Unsch¨arferelation ∆ε = h/τa mit der Lebensdauer des angeregten Zustands zusammen, von dem aus der Laser¨ ubergang induziert wird. Der Faktor 8π anstelle von 4π entsteht durch die zwei Polarisationsm¨ oglichkeiten des Lichts. F¨ ur ein Resonatorvolumen V = 10 cm3 und eine Energieunsch¨arfe ∆ε = 10−6 eV ergibt sich f¨ ur sichtbares Licht mit λ = 500 · 10−9 m eine Anzahl von stehenden Wellen ∆ζ ≈ 109 . Das eigentliche Problem bei der Konstruktion eines Lasers besteht darin, m¨ oglichst viele Atome in den quasistation¨ aren Zustand a anzuregen, sodass na ≫ ng .

(15.51)

Diese Laserbedingung, die eine Besetzungsinversion der Zust¨ande verlangt, kann in einem System, das nur die Anregung zwischen dem Grundzustand g und dem angeregten Zustand a zul¨ asst, prinzipiell nicht erf¨ ullt werden, unabh¨ angig davon, wie groß die Lebensdauer des angeregten Zustands ist. Der Grund ist in Kap. 6.4.2 beschrieben. Zwischen den Besetzungszahlen stellt sich ein thermisches Gleichgewicht ein, f¨ ur das nach Gleichung (6.142) gilt: na = e−(Ea −Eg )/k T ≪ 1 ng

weil Ea > Eg ,

(15.52)

und es werden gleichviel Photonen absorbiert wie emittiert. Im Mittel ist deswegen die Photonenzahl im Resonator konstant und so gering, dass die Anzahl der stehenden Wellen wesentlich geringer ist als durch Gleichung (15.50) vorgegeben. In diesem Fall dominiert die spontane Emsission aus dem Zustand a vollst¨ andig die induzierte Emission. Wir m¨ ussen daher in dem Resonator den Zustand thermischen Ungleichgewichts (15.51) schaffen, was nur mithilfe eines Systems gelingt, in dem mehr als zwei Zust¨ ande an dem Laserprozess teilnehmen. Außerdem m¨ ussen wir, damit der Zustand thermischen Ungleichgewichts aufrecht erhalten werden andig Energie zuf¨ uhren. Wir behandeln kann, diesem System von außen st¨ hier ein System mit vier Zust¨ anden, wie es in Abb. 15.14 gezeigt ist. Die Anregung aus dem Grundzustand g in den angeregten Zustand a bezeichnet ¨ man als Pump¨ ubergang. Der Ubergang vom Zustand a zur¨ uck in den Grundzustand muss verboten sein, damit dieser Zustand nur in den quasistation¨aren Zustand i zerfallen kann. Der Zustand i bildet den Anfangszustand f¨ ur den ¨ Laser¨ ubergang i → f. Der Endzustand f entleert sich durch einen Ubergang zur¨ uck in den Grundzustand m¨ oglichst schnell, sodass nf ≈ 0. Mit diesem System erreicht man die Lasereigenschaften, wenn f¨ ur die Besetzungszahlen der Zust¨ ande i und f gilt:

8π V ∆ν τi . (15.53) ni − nf > λ2 c ∆t Der Faktor in der Klammer gibt die Anzahl der Moden des Lasers - so nennt man die stehenden Wellen im Resonator - an, außerdem wird die erforderliche

15.5 Der Laser

i f i’

a a

a’ i

f’ g’

f g

407

g

g He

Ne

Abb. 15.14. Links ist das prinzipielle Schema eines Vier-Niveau-Lasers gezeigt. Die Anregung geschieht zwischen den Zust¨ anden g → a, der Laser¨ ubergang geschieht zwischen den Zust¨ anden i → f. Rechts ist die technische Realisation dieses Schemas im He-Ne-Laser gezeigt. Die Anregung geschieht im He, der Laser¨ ubergang vollzieht sich im Ne

Besetzungsinversion bestimmt durch das Verh¨altnis zwischen der Lebensdauer des Zustands i und der Verweilzeit ∆t der Photonen in dem Laser, die durch die G¨ ute der Spiegel bestimmt wird. Die Bedingung (15.53) verlangt, dass τi /∆t klein sein sollte, was eine Forderung an die Qualit¨at der Spiegel bedeutet. Bevor wir uns im n¨ achsten Kapitel anhand des He-Ne-Lasers informieren, wie ein derartiges System praktisch realisiert wird, wollen wir uns klarmachen, worin die besonderen Eigenschaften des Laserlichts bestehen. Die Lichtwellen legen im Resonator bei einer Verweildauer ∆t = 1µs eine Wegstrecke s = c ∆t = 300 m zur¨ uck. Bei einer Resonatorl¨ange l = 5 cm bedeutet dies, dass das Licht 6000 mal an den Spiegeln reflektiert wird. Damit es bei dieser großen Anzahl von Reflexionen nicht seitw¨ arts aus dem Resonatorvolumen austritt, m¨ ussen die Spiegel mit hoher Pr¨ azision parallel justiert sein, und die Ausbreitungsrichtung der elektromagnetischen Welle ist sehr gut definiert. •

Das Laserlicht hat nur eine geringe Strahldivergenz, d.h. der Strahlquerschnitt vergr¨ oßert sich auch u ¨ ber große Entfernungen nur wenig.

Die Koh¨ arenzl¨ ange des Laserlichts betr¨ agt Λ = c ∆t = 300 m, sie ist damit wesentlich gr¨ oßer als die Koh¨ arenzl¨ ange von wenigen mm, die nat¨ urliches Licht besitzt.

408



15 Atomphysik

Das Laserlicht besitzt eine viel gr¨ oßere Koh¨arenzl¨ange als nat¨ urliches Licht.

Die Verweildauer des Lichts im Resonator betr¨agt ∆t = 1µs und ist damit ca. 105 -mal gr¨ oßer als die Lebensdauer eines angeregten Zustands im Atom. Aufgrund der Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen folgt daraus, dass die Frequenzunsicherheit des Laserlichts ca. 105 -mal geringer ist als die des nat¨ urlichen Lichts, das eine relative Energieunsch¨arfe ∆ε/ε ≈ 10−5 besitzt. •

Das Laserlicht besitzt nur eine sehr geringe Frequenzunsch¨arfe, es besteht praktisch nur aus einer Farbe.

Die Laserbedingung (15.53) macht deutlich, dass der Bau eines Lasers umso schwieriger wird, je kleiner die Wellenl¨ ange λ des Laserlichts und je gr¨oßer das Resonatorvolumen V bzw. je kleiner die Verweildauer ∆t des Laserlichts im Resonator ist. Ein großes Volumen und eine kleine Verweildauer sind die Bedingungen an einen Laser mit großer Leistung. Ein Hochleistungslaser l¨asst sich oft nur f¨ ur den Pulsbetrieb realisieren, d.h. die hohen Leistungen werden nur innerhalb sehr kurzer Zeitintervalle erzeugt, die restliche Zeit wird zum Aufbau der Besetzungsinversion benutzt. Die Begrenzung auf große Wellenl¨ angen hat zur Folge, dass auch heute noch kein Laser existiert, der Licht im ultravioletten Bereich emittiert. Um Laserlicht mit den entsprechend hohen Frequenzen zu erzeugen, muss man die Laserfrequenz verdoppeln oder vervierfachen, wozu Materialien mit nichtlinearen optischen Eigenschaften ben¨otigt werden. 15.5.1 Der He-Ne-Laser Der He-Ne-Laser ist ein Gaslaser, in dem die Edelgase Helium und Neon im Verh¨ altnis von etwa 7:1 gemischt sind. Die He-Atome werden f¨ ur den Pump¨ ubergang ben¨ otigt, um die Besetzungsinversion zu erreichen. Der eigentliche Laser¨ ubergang findet im Ne-Atom statt. Der Pump- und Lasermechanismus ist in Abb. 15.14 dargestellt. In dem He-Ne-Gemisch brennt eine Gasentladung, die durch das Gas driftenden Elektronen regen die He-Atome aus ihrem Grundzustand in die quasistation¨ aren Zust¨ ande a und a’ an. Diese Anregung muss durch Elektronenstoß erfolgen, sie kann nicht durch Photonenabsorption erreicht werden. Die Absorptionswahrscheinlichkeit ist f¨ ur diese Zust¨ ande n¨amlich praktisch null, da die Zust¨ ande quasistation¨ ar sind, also weder optisch angeregt noch zerfallen k¨ onnen. Das Ne-Atom besitzt bei etwa den gleichen Energien ebenfalls angeregte Zust¨ ande, auch diese Zust¨ ande sind quasistation¨ar. Beim Zusammenstoß mit den angeregten He-Atomen u ¨ bertragen diese ihre Energie auf das Ne-Atom, das dadurch selbst angeregt wird, w¨ahrend sich die He-Atome wieder im Grundzustand befinden. Die quasistation¨aren Zust¨ande im Ne biluberg¨ange in verschiedene Endden die Anfangszust¨ ande i f¨ ur mehrere Laser¨ ande f. Die Endzust¨ ande sind allerdings sehr kurzlebig, sie zerfallen sehr zust¨

15.5 Der Laser

409

schnell wieder in einen quasistation¨ aren Zwischenzustand g’ oberhalb des Ne¨ Grundzustands g. Der Ubergang g’ → g kann nur durch inelastische St¨oße mit der Wand des Beh¨ alters erfolgen, in dem das He-Ne-Gemisch eingeschlossen ist. Diese Wand bildet auch die seitliche Begrenzung des Resonatorvolumens. Daher muss die Oberfl¨ ache der Gef¨ aßwand groß sein gegen das Gef¨aßvolumen, der Resonator eines He-Ne Lasers ist eine langgestreckte Kan¨ ule mit sehr kleinem Querschnitt. Im Laserbetrieb heizt sich diese Kan¨ ule sehr stark auf wegen der inelastischen St¨ oße mit den angeregen Ne-Atomen. Die Wellenl¨ angen des Laserlichts von einem He-Ne-Laser betragen λ1 = 0,633 µm, λ2 = 1,15 µm und λ3 = 3,39 µm. Die erste Wellenl¨ange liegt im sichtbaren Bereich, sie verleiht dem Licht des He-Ne-Lasers die typisch r¨ otliche Farbe. Die beiden anderen Wellenl¨ angen liegen im infraroten Bereich, man kann ihre Intensit¨ at durch geeignete Wahl der Laserspiegel unterdr¨ ucken.

16 Kernphysik

Das Atom ist aufgebaut aus der Atomh¨ ulle und dem Atomkern. Im letzten Kapitel haben wir die Physik der Atomh¨ ulle besprochen, dieses Kapitel behandelt die Physik des Atomkerns. Dabei werden uns die Eigenschaften der Atomh¨ ulle auch den Weg zum Verst¨ andnis des Kerns weisen. Zum Beispiel besteht die Atomh¨ ulle aus negativ geladenen Elektronen. Da das Atom nach außen hin neutral ist, und um die Elektronen trotz ihrer abstoßenden elektrischen Kraft untereinander zu einem station¨ aren Zustand zu binden, muss der Kern positiv geladen sein. Und entsprechend des H¨ ullenaufbaus aus Z Elektronen wird der Kern aus mindestens Z Teilchen aufgebaut sein, die wir unter dem Oberbegriff Nukleonen zusammenfassen. Eine Anzahl Z der Nukleonen muss positiv geladen sein, wir nennen diese Art der Nukleonen Protonen. Ob es nur positiv geladene Nukleonen oder auch negativ geladene Nukleonen oder ungeladene Nukleonen gibt, l¨ asst sich aus unseren bisherigen Kenntnissen nicht herleiten. In der Tat hat erst der experimentelle Nachweis durch Chadwick (1891 - 1974) im Jahr 1932 bewiesen, dass auch ein ungeladenes Nukleon, das Neutron, in der Natur existiert. Erst sehr viel sp¨ ater, im Jahr 1955, ist auch das negativ geladene Nukleon, das Antiproton, im Experiment beobachtet worden. Wie der Name sagt, ist das Antiproton das Antiteilchen des Protons, so wie das Positron das Antiteilchen des Elektrons ist. Diese Antiteilchen k¨onnen nicht als stabile Teilchen in der Natur existieren, sie werden durch die Vereinigung mit dem entsprechenden Teilchen vernichtet. Bei diesem Prozess entstehen Photonen im Falle der Elektron-Positron-Vernichtung, oder es entstehen bei der Vereinigung von Proton und Antiproton neue Teilchen mit Ruhemasse, ¨ die Mesonen. Seit Kap. 14.2 verstehen wir, dass dies ein Ubergang aus dem Bereich der Zust¨ ande mit positiver Masse in ein Loch im Dirac-See ist, d.h. in den Bereich der Zust¨ ande mit negativer Masse. Es ist nicht a priori evident, wie viele Nukleonen A in einem Atomkern mit Z Protonen wirklich enthalten sein m¨ ussen, um diesen Atomkern stabil zu machen, d.h. ihn in einen station¨ aren Zustand zu versetzen. Dies wird von den Eigenschaften der anziehenden Kraft zwischen den Nukleonen untereinander abh¨ angen. Diese neue Kraft muss existieren, denn andernfalls w¨ urden

412

16 Kernphysik

die abstoßenden elektrischen Kr¨ afte zwischen den Protonen den Atomkern zerreißen. Wir nennen diese neue Kraft die Kernkraft, ihre Ursache wurde erst am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung des Quarks verstanden. Aber auch ohne ein tieferes Verst¨ andnis der Ursache k¨onnen wir einige wichtige Aussagen u ¨ ber die Eigenschaften der Kernkraft machen. Eine wichtige Aussage betrifft die St¨ arke der Kernkraft. Wir k¨onnen diese mithilfe der Heisenberg’schen Unsch¨ arferelation rK p = h

(16.1)

absch¨ atzen. Diese Relation bildet die eigentliche Grundlage auch f¨ ur die Bestimmung des Bohr’schen Radius rBohr durch Gleichung (15.4). In diesem Fall stellte sie die Beziehung her zwischen der Ausdehnung der Atomh¨ ulle und dem Impuls des Elektrons. Jetzt benutzen wir sie, um aus unserer vorl¨aufigen Kenntnis u ¨ber die Ausdehnung des Atomkerns rK ≈ 10−15 m den ungef¨ahren Wert f¨ ur den Impuls des Nukleons herzuleiten. Es gilt hc ≈ 200 MeV. rK

pc =

(16.2)

Benutzen wir auch unsere Kenntnis (siehe Gleichung (6.38)) u ¨ ber die Ruhemasse des Nukleons in atomaren Masseneinheiten mN = 1 u = 931 MeV/c2 , so k¨ onnen wir die kinetische Energie des Nukleons im Atomkern in der nichtrelativistischen N¨aherung absch¨ atzen Wkin =

(p c)2 ≈ 20 MeV. 2 m N c2

(16.3)

Aus diesem Ergebnis ziehen wir folgende Schlussfolgerungen: (1) Die Behandlung des Atomkerns kann in der nichtrelativistischen N¨aherung, d.h. mithilfe der station¨ aren Schr¨ odinger-Gleichung (14.32) erfolgen, denn die Bedingung Wkin < 0,2 mN c2 ist erf¨ ullt (siehe Kap. 12.6.2). (2) Die kinetische Energie des Nukleons ist nicht identisch mit seiner Gearen Zustand eines Atomkerns. Falls wir die Kernsamtenergie EK im station¨ kraft f¨ ur r ≤ rK darstellen k¨ onnen als eine Zentralkraft von der Form F (r) ∝ −



r rK

k

r mit

k≥1,

(16.4)

so ergibt sich nach der Anmerkung 2.3.1 f¨ ur die Gesamtenergie Wkin  ≤ EK ≤ 2 Wkin . Die obere Absch¨ atzung f¨ ur die Zustandsenergie eines Nukleons lautet daher EK ≈ 40 MeV

(16.5)

oberhalb des Energienullpunkts E0 . Definitionsgem¨aß wird f¨ ur die Grenzenergie zum Kontinuum, wie bei der Atomh¨ ulle, so auch f¨ ur den Atomkern ein

16 Kernphysik

413

Wert E = 0 festgelegt. Und wie bei der H¨ ulle ist f¨ ur den Kern das Kontinuum der Energiebereich, f¨ ur den die Nukleonen im Kern nicht mehr gebunden werden k¨ onnen. Der Energienullpunkt muss daher liegen bei E0 = − (EK + Ebin ) ,

(16.6)

wobei die Bindungsenergie Ebin der Ionisierungsenergie Eion in der H¨ ulle entspricht und die Energie ist, die auf ein Nukleon mindestens u ¨ bertragen werden muss, um es aus dem gebundenen Zustand in das Kontinuum zu bef¨ordern. Diese Energie werden wir in Kap. 16.1.2 bestimmen, ihr Wert betr¨agt im Mittel f¨ ur alle Atomkerne Ebin  ≈ 8 MeV. Daher liegt der Energienullpunkt der gebundenen Zust¨ ande in einem Kern bei etwa E0 ≈ −50 MeV.

(16.7)

Die Energien, die bei der Behandlung des Kerns auftreten, sind daher etwa 106 mal gr¨ oßer (das ist der Unterschied zwischen MeV und eV) als die Energien, die f¨ ur die H¨ ulle charakteristisch waren. Die Kernkr¨afte, die zur Bindung der Nukleonen f¨ uhren, sind wesentlich st¨arker als die elektrischen Kr¨ afte in der Atomh¨ ulle, die zur Bindung der Elektronen f¨ uhren. Auch noch in anderen Aspekten, auf die wir in Kap. 16.2 eingehen werden, unterscheiden sich Kernkraft und elektrische Kraft. Der wesentliche Unterschied ist aber wohl der, dass es bis heute nicht gelungen ist, f¨ ur die Kernkraft eine aus ihrer Ursache abgeleitete und geschlossene mathematische Form F K (r) zu entwickeln, so wie wir das f¨ ur die elektrische Kraft F C (r) in der H¨ ulle tun k¨ onnen. Die Kernkraft, oder besser die potentielle Energie des Nukleons Wpot in der station¨ aren Schr¨ odinger-Gleichung (14.32) kann daher nur in parametrisierter Form angegeben werden, wobei die Parameter so eingestellt werden, dass die auf ihnen basierenden Ergebnisse mit den experimentellen Beobachtungen u ¨bereinstimmen. Wir werden auf dieses Problem in Kap. 16.2.2 zur¨ uckkommen. Anmerkung 16.0.1: Bei der Elektron-Positron-Vernichtung entstehen Photonen mit der Ruhemasse m0 = 0. Bei der Proton-Antiproton-Vernichtung entstehen Mesonen mit der Ruhemasse m0 > 0. Warum sind diese Vernichtungsprozesse so unterschiedlich? Die Unterschiede werden verursacht durch die unterschiedlichen fundamentalen Wechselwirkungen, welche die Hauptrolle bei der Paarvernichtung spielen. Im Falle des Elektron-Positron-Paars wird die Vernichtung dominiert von der elektrischen Wechselwirkung, im Falle des Proton-Antiproton-Paars von der starken Wechselwirkung, siehe Kap. 1.1. Photon und Mesonen haben aber auch gemeinsame Eigenschaften: Sie besitzen einen geradzahligen Spin, sind also Bosonen. Die Bedeutung der Bosonen f¨ ur die fundamentalen Wechselwirkungen ist Thema der Elementarteilchenphysik, die in diesem Lehrbuch allerdings nicht behandelt wird.

414

16 Kernphysik

16.1 Der Atomkern Der Atomkern ist ein gebundener Zustand aus Nukleonen, von denen Z positiv geladen, also Protonen sind, und N ungeladen, also Neutronen sind. Die Gesamtzahl der gebundenen Nukleonen ist die Massenzahl A A=Z +N .

(16.8)

Das Proton sowie das Neutron ist ein Fermion, d.h. es besitzt einen halbzahligen Spin mit der Spinquantenzahl s = 1/2. Nach dem Pauli-Prinzip muss daher gelten, dass jeder Zustand im Kern nur einmal von einem Proton und einem Neutron besetzt werden kann. Proton und Neutron k¨onnen sich also bei der Besetzung der Zust¨ ande in der Reihenfolge der Zustandsenergien nicht gegenseitig behindern, da sie sich durch ihre Ladung unterscheiden. Im Allgemeinen ist aber die Anzahl der Protonen im station¨aren Grundzustand eines Atomkerns verschieden von der Anzahl der Neutronen, wobei es zu einer gegebenen Protonenzahl Z eine Reihe von Neutronenzahlen N geben kann, die alle zu einem stabilen Kern f¨ uhren. Ein Kern ist daher nicht eindeutig durch die Angabe seiner Massenzahl A charakterisiert, man verwendet vielmehr f¨ ur seine Nomenklatur dieselbe Konvention, die wir schon bei der Charakterisierung der Atome in Kap. 8.1.1 verwendet haben. Nehmen wir als Beispiel den Sauerstoffkern, der Z = 8 Protonen enth¨ alt. •

Alle Kerne mit der gleichen Anzahl von Protonen werden als Isotope bezeichnet. Stabile Kerne in der Natur bilden die Isotope 16 8O



, 178 O , 188 O .

Alle Kerne mit der gleichen Anzahl von Neutronen werden als Isotone bezeichnet. Stabile Kerne in der Natur bilden die Isotone 15 7N



, 168 O .

Alle Kerne mit der gleichen Anzahl von Nukleonen werden als Isobare bezeichnet. Es gibt außer 168 O keine weiteren stabilen Kerne mit A = 16 in der Natur. Die isobaren Kerne 16 6C

, 167 N

sind bekannt, sie sind aber instabil und zerfallen nacheinander in der Reihenfolge 166 C → 167 N → 168 O mit den Lebensdauern τ = 0,747 s bzw. τ = 7,13 s in das stabile Isobar 168 O. Mit den radioaktiven Zerf¨allen besch¨aftigen wir uns in Kap. 16.4. Wir haben in dieser Einf¨ uhrung zu Kap. 16 nur Absch¨atzungen f¨ ur die Gr¨ oße des Atomkerns und seine Ruhemasse benutzt. Wir werden jetzt die experimentellen Methoden besprechen, die es gestatten, diese Kerneigenschaften viel genauer zu messen.

16.1 Der Atomkern

415

Abb. 16.1. Der prinzipielle Unterchied zwischen Elektronenstreuung (oben) und α-Streung (unten). Die Wellenl¨ ange der Elektronen ist ungef¨ ahr gleich dem Abstand der Streuzentren d, daher ist die Streuung koh¨ arent. Die Wellenl¨ ange der α-Teilchen ist viel kleiner als d, daher ist die Streuung inkoh¨ arent

..

Atomhullen

d

Atomkerne 16.1.1 Die Gr¨ oße des Atomkerns

Die Gr¨ oße eines Atomkerns zu messen, ist keine leichte experimentelle Aufgabe. Erst im Jahr 1910 ist unter Leitung von Rutherford (1871 - 1937) die entscheidende Technik entwickelt worden, die auch heute noch zur Untersuchung der Elementarteilchen benutzt wird. Bei dieser Technik handelt es sich um die Streuung von Teilchen an Teilchen, und diese Methode bildet im Prinzip auch die Grundlage f¨ ur die Bragg-Reflexion. Es gibt aber zwischen der Bragg-Reflexion und der Rutherford-Streuung wichtige Unterschiede, die wir zun¨ achst diskutieren wollen. Bei der Bragg-Reflexion werden Elektronen oder R¨ontgen-Photonen an Atomen gestreut. Die Wellenl¨ange λ ≈ 10−9 m der gestreuten Teilchen ist von gleicher Gr¨ oßenordnung wie der Abstand d ≈ 10−9 m zwischen den Atomen, wie in Abb. 16.1 skizziert. Es handelt sich daher um eine koh¨ arente Streuung, die wir in Kap. 14.1 besprochen haben, d.h. die gestreuten Materiewellen u ¨ berlagern sich und zeigen Interferenzen. Bei der Rutherford-Streuung werden 42 He-Kerne (die man als α-Teilchen bezeichnet) an einem anderen schweren Kern, z.B. Gold (197 79 Au), gestreut. Die kinetische Energie der α-Teilchen betr¨agt Wkin = 5,5 MeV. Berechnen wir nach Gleichung (14.11) die Wellenl¨ange der zugeh¨origen Materiewelle in der nichtrelativistischen N¨aherung: λ=

hc h = ≈ 6 · 10−15 m. p 2 (mα c2 ) Wkin

(16.9)

In diesem Fall ist λ ≪ d, wie ebenfalls in Abb. 16.1 skizziert. Es handelt sich daher um eine inkoh¨ arente Streuung an einem einzelnen Kern, d.h. ¨ die Uberlagerung von verschiedenen Streuwellen findet nicht statt. Dabei ist vorausgesetzt, dass der Atomkern selbst keine Struktur besitzt, also als punktf¨ ormig angesehen werden kann. Dies ist in der Tat der Fall, weil die kinetische Energie der α-Teilchen so gering ist, dass sie den Atomkern nicht erreichen k¨ onnen. Der Kern wirkt allein als Ursprung der abstoßenden Kraft FC =

1 2 Z e2 r 4π ǫ0 r2

(16.10)

416

16 Kernphysik

Detektor

θ

Abb. 16.2. Prinzipieller Aufbau eines Streuexperiments. Die einlaufenden Teilchen (α) werden an den Atomkernen im Target gestreut und unter einem Streuwinkel θ nachgewiesen. Die Anzahl der gestreuten Teilchen unter diesem Winkel enth¨ alt Informationen u ¨ ber die Wechselwirkung, die f¨ ur die Streuung verantwortlich ist

α−Teilchen Target zwischen ihm und dem α-Teilchen. Der prinzipielle Aufbau eines Streuexperiments ist in Abb. 16.2 am Beispiel der Rutherford-Streuung gezeigt. Die α-Teilchen mit n0 Teilchen pro Sekunde treffen auf die Kerne, an denen sie gestreut werden. Die Kerne befinden sich in einer d¨ unnen Folie, die man das Target (“Ziel”) nennt. Unter dem Winkel θ gegen die Einfallsrichtung beobachtet man die Anzahl n der pro Sekunde gestreuten Teilchen. Diese Anzahl h¨angt ab von: • •

Der Anzahl n0 der auf das Target einfallenden Teilchen. Der Anzahl nT der Kerne, an denen gestreut wird. Diese Anzahl ergibt sich aus der Dichte ρ der Targetfolie und ihrer Dicke d zu nT = ρ d , [nT ] = m−2 .



(16.11)

Der Wahrscheinlichkeit, dass eine Streuung in den Winkelbereich um θ wirklich stattfindet. Diese Wahrscheinlichkeit wird beschrieben durch den Wirkungsquerschnitt σ(θ) , [σ] = m2 .

Wir finden daher f¨ ur die Anzahl der gestreuten Teilchen nθ = n0 σ(θ) ρ d .

(16.12)

Daraus l¨asst sich der experimentelle Wirkungsquerschnitt σ(θ) =

nθ n0 ρ d

(16.13)

ermitteln, der mit dem berechneten Wirkungsquerschnitt verglichen wird, um die G¨ ultigkeit eines Modells zu pr¨ ufen. Im Falle der Rutherford-Streuung besteht das Modell darin, dass zwischen α-Teilchen und dem Atomkern die Kraft (16.10) wirkt, solange der Abstand zwischen α-Teilchen und Kern r > rK ist (wir vernach¨assigen die Ausdehnung des α-Teilchens), dass aber die viel st¨arkere Kernkraft wirkt, wenn r ≤ rK .

16.1 Der Atomkern

417

Bei G¨ ultigkeit von r > rK l¨ asst sich der Wirkungsquerschnitt σ(θ) mithilfe der Kraft (16.10) berechnen. Es ergibt sich der Rutherford-Streuquerschnitt σRuth (θ) =



1 Z e2 4π ǫ0 2 Wkin

2

1 . sin4 θ/2

(16.14)

In dem Experiment ist dieser Wirkungsquerschnitt bei allen Winkeln θ gemessen worden. Daraus folgt, dass f¨ ur eine kinetische Energie Wkin = 5,5 MeV der α-Teilchen immer r > rK gilt. Daraus l¨ asst sich eine obere Grenze f¨ ur den Kernradius von 197 79 Au berechnen. Das α-Teilchen gewinnt auf Kosten seiner kinetischen Energie in der N¨ ahe des Kerns zus¨atzliche potentielle Energie; im Punkt der gr¨ oßten Ann¨ aherung gilt Wpot (r) = Wkin



1 2 Z e2 > Wkin (16.15) 4π ǫ0 rK 1 2 Z e2 ≈ 4 · 10−14 m. also rK < 4π ǫ0 Wkin

−14 Der Kernradius von 197 m; wie groß er wirklich ist 79 Au ist also kleiner als 4·10 kann man erst messen, wenn man α-Teilchen mit variabler kinetischer Energie in Streuexperimenten verwendet. Beobachtet man die gestreuten α-Teilchen uckw¨ artsstreuung), so erwartet man f¨ ur das Verh¨altnis von unter θ ≈ 180◦ (R¨ gemessenem zu berechnetem Wirkungsquerschnitt

R(Wkin ) =

σ(180◦ ) =1, σRuth (180◦ )

(16.16)

solange Wkin < Wpot (rK ), aber sofort eine Abweichung von R = 1, wenn Wkin = Wpot (rK ). Das Ergebnis einer derartigen Messung ist in Abb. 16.3 gezeigt, man findet R ≈ 0, wenn Wkin ≥ Wpot (rK ). Das bedeutet, die α-Teilchen werden von dem Kern vollst¨ andig absorbiert, sobald ihre kinetische Energie ausreicht, um die abstoßende elektrische Kraft des Kerns zu u ¨ berwinden und die Kernoberfl¨ ache zu ber¨ uhren. Man bezeichnet die dazu ben¨otigte Energie ECB = Wpot (rK ) als die Coulomb-Barriere des Kerns.

R(Wkin )

1

0

E CB W kin

Abb. 16.3. Das Verh¨ altnis R zwischen gemessenem Wirkungsquerschnitt und dem RutherfordWirkungsquerschnitt als Funktion der kinetischen Energie der einfallenden, positiv geladenen Teilchen. Sobald diese Teilchen den Kern erreichen und damit die Coulomb-Barriere ECB u ¨ berwunden haben, weicht R von dem erwarteten Wert R = 1 ab

418

16 Kernphysik

In einer Vielzahl von Streuexperimenten hat man die Kernradien vermessen und gefunden, dass sie einem sehr einfachen Gesetz gehorchen. Der Radius eines Atomkerns mit Massenzahl A betr¨agt rK = r0 A1/3 ,

(16.17)

wobei r0 = 1,15 · 10−15 m = 1,15 fm der Radius des Nukleons ist. Diese Gesetzm¨ aßigkeit ist bemerkenswert, denn sie besagt, dass die Nukleonendichte im Kern ρK =

3A A 3 −3 = 3 = 4π r3 = 0,16 fm V 4π rK 0

(16.18)

konstant ist und in jedem Kern den gleichen Wert besitzt. Die Kernmaterie ist inkompressibel und besitzt eine Dichte von ρK = 0,16 fm−3 .

(16.19)

Die Eigenschaft der Inkompressibilit¨ at teilt die Kernmaterie mit den Fl¨ ussigkeiten, sie bildet die Grundlage f¨ ur das in Kap. 16.2.1 zu besprechende Tr¨opfchenmodell. 16.1.2 Die Masse des Atomkerns Das Atom besteht aus Kern und H¨ ulle, die Masse des Atoms ist zusammengesetzt aus den Ruhemassen von Kern und H¨ ulle mAtom = mKern + mH¨ ulle .

(16.20)

Wir kennen die Ruhemasse des Elektons, des H¨ ullenteilchens (siehe Kap. 8.1.1): me = 9,1093897 · 10−31 kg

(16.21)

2

= 0,511 MeV/c .

Und wir kennen eine Absch¨ atzung f¨ ur die Ruhemasse des Nukleons, des Kernteilchens (siehe Kap. 6.2): mN = 1,66 · 10−27 kg

(16.22)

2

= 931 MeV/c .

Daraus k¨ onnte man folgern, dass f¨ ur die Masse der H¨ ulle mit Z Elektronen gilt

16.1 Der Atomkern

419

mH¨ ulle = Z me . Dies ist jedoch nicht ganz richtig, da die Elektronen in der H¨ ulle gebunden sind und die H¨ ulle dadurch etwas an Masse verliert. Tats¨achlich betr¨agt die Ruhemasse der H¨ ulle

Eion  mH¨ = Z m − , e ulle c2 ur jedes der Z Elektronen in wobei Eion  die mittlere Ionisierungsenergie f¨ der H¨ ulle ist. Die Bindungskorrektur ist klein gegen die Ruhemasse des freien Elektrons, und die Masse der H¨ ulle insgesamt ist klein gegen die die Masse des Atomkerns. Wir k¨ onnen daher im Folgenden die H¨ ullenmasse vernachl¨assigen und annehmen mAtom = mKern = mK ,

(16.23)

unabh¨ angig davon, wieviele Elektronen sich in der H¨ ulle befinden, d.h. welchen Ionisationsgrad das Atom besitzt. F¨ ur eine sehr genaue Massenbestimmung muss eine H¨ ullenkorrektur durchgef¨ uhrt werden. Wie bestimmt man mAtom experimentell? Die Massenbestimmung geschieht durch Ablenkung eines q-fach ionisierten Atomstrahls in einem elektrischen und magnetischen Feld. Man nennt ein derartiges Ger¨ at ein Massenspektrometer. Wir wollen den einfachsten Fall  wie auch das magnebetrachten, dass sowohl das elektrische Feld E = Ex x tische Feld B = Bz z homogen und voneinander getrennt sind. Das ionisierte , Atom erh¨ alt in dem elektrischen Feld zun¨ achst eine Geschwindigkeit v = vx x mit der die Atome in das Magnetfeld eintreten. Die Gr¨oße der Geschwindigkeit betr¨ agt nach Gleichung (8.91)  |q U | , (16.24) vx = 2 m wobei U = Ex d die das Feld Ex erzeugende Spannung U ist und q bzw. m die Ladung bzw. Masse eines einzelnen Ions in dem Strahl. Im Magnetfeld werden die Ionen in der x-y-Ebene auf eine Kreisbahn abgelenkt, der Kreisbahnradius betr¨ agt nach Gleichung (8.171)  m |U | mv = 2 . (16.25) r= |q Bz | |q| Bz2 Daher ergibt sich die Masse m aus der Messung von r, wenn U , Bz und auch die Ionenladung q bekannt sind: m = |q|

r2 Bz2 . 2 |U |

(16.26)

420

16 Kernphysik

E−Feld

B−Feld

Abb. 16.4. Die Konfiguration eines Massenspektrometers aus gekreuzten elektrischen und magnetischen Feldern, das verschiedene Massen aus derselben Quelle unabh¨ angig von ihren Geschwindigkeiten auf zwei verschiedene Punkte fokussiert

Der große Nachteil dieser Methode besteht in den Geschwindigkeitsschwankungen, die der Ionenstrahl bei seiner Pr¨aparation erh¨alt, die i.A. in einer Ionenquelle vorgenommen wird. In der Ionenquelle brennt eine Gasentladung, die dabei auftretenden Temperaturen pr¨agen den Ionen eine Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung (6.33) auf. Der relative Fehler ∆v/v pflanzt sich mit doppelter St¨arke in der Massenunsch¨arfe fort: ∆v ∆m =2 . m v

(16.27)

Daher verwendet man Feldkonfigurationen, die unabh¨angig von ihrer Geschwindigkeit die geladenen Atome in dem Strahl auf einen Punkt fokussieren. Eine Kombination von zwei Sektorfeldern mit dieser Eigenschaft ist in Abb. 16.4 gezeigt. Auf diese Weise ist die Ruhemasse des Protons bestimmt worden, sie ergibt sich zu mp = 1,6726231 · 10−27 kg

(16.28)

2

= 938,27231 MeV/c .

Etwas gr¨ oßer ist die Ruhemasse des Neutrons mn = 1,6749286 · 10−27 kg

(16.29)

2

= 939,56563 MeV/c .

Die Massendifferenz betr¨agt mn −mp = 1,29 MeV/c2 und ist also gr¨oßer als die Ruhemasse des Elektrons me . Das Neutron ist deswegen kein stabiles Teilchen, es zerf¨ allt, wenn es nicht im Kern gebunden ist, mit einer Lebensdauer τ = 898 s in ein Proton, ein Elektron und ein Antielektronneutrino n → p + e− + ν e . Auf die Bedeutung dieses Zerfalls kommen wir in Kap. 16.4 zur¨ uck.

(16.30)

16.1 Der Atomkern

421

Abb. 16.5. Die mittlere Bindungsenergie eines Nukleons in Kernen mit verschiedenen Massenzahlen A (fette Kurve). Gemittelt u agt ¨ber A betr¨ diese Bindungsenergie etwa 8 MeV pro Nukleon

/A (MeV)

8 6 4 2

50

100 150

A 200

Es ist offensichtlich, dass zwischen der Masse des Nukleons und den Massen von Proton und Neutron ein Unterschied besteht. Dieser Unterschied muss vorhanden sein, denn wie die Elektronen in der H¨ ulle sind Proton und Neutron im Kern gebunden. Es gibt also einen Bindungsbeitrag zu der Kernmasse, der diesen Unterschied verursacht. Und zwar betr¨ agt die Ruhemasse eines Kerns mit Z Protonen und N Neutronen m K = Z mp + N m n −

Ebin  , c2

(16.31)

wobei der letzte Term auf der rechten Seite dieser Gleichung die Bindung von A Nukleonen im Kern ber¨ ucksichtigt. Eigentlich h¨angt dieser Beitrag nicht allein von A, sondern von der Kombination von Z und N ab, die zu dem vorgegebenen A geh¨ort. Gew¨ohnlich wird aber die Bindungsenergie Ebin als Funktion von A allein dargestellt, d.h. sie ist der Mittelwert Ebin  u ¨ ber alle stabilen Isobare. Diese mittlere Bindungsenergie pro Nukleon ergibt sich dann aus den experimentell bestimmten Massen zu c2 Ebin  = Z mp + N mn − mK  . A A

(16.32)

Die Abh¨angigkeit der mittleren Bindungsenergie pro Nukleon von der Anzahl der Nukleonen A ist in Abb. 16.5 gezeigt. Diese Bindungsenergie erreicht einen maximalen Wert bei etwa A = 60, diese Isobare binden die Nukleonen besonders stark. F¨ ur Massenzahlen A < 60 und A > 60 ist die Bindung der Nukleonen schw¨acher, und das hat folgende Konsequenzen: • •

Werden zwei Kerne vereint zu einem Kern mit A < 60, so wird Bindungsenergie frei, es entsteht ein stabilerer Kern. Man bezeichnet einen derartigen Prozess als Kernfusion. Wird ein Kern in zwei Kerne gespalten, von den jeder eine Massenzahl Ai > 60 besitzt, so wird ebenfalls Bindungsenergie frei, es entstehen zwei stabilere Kerne. Man bezeichnet diesen Prozess als Kernspaltung.

422

16 Kernphysik

Die Kernfusion ist die Reaktion, die in den Sternen zur Freisetzung von Kernenergie f¨ uhrt, die uns letztendlich in Form von thermischer Strahlungsenergie auf der Erde erreicht. Die Kernspaltung ist die von uns in den Kernkraftwerken benutzte Reaktion, mit deren Hilfe Kernenergie in thermische und dann elektrische Energie umgewandelt wird. Wir werden auf die Details dieser Reaktionen im Rahmen dieses Lehrbuchs nicht weiter eingehen. F¨ ur sehr grobe Absch¨ atzungen kann man annehmen, dass die Nukleonen mit etwa 8 MeV pro Nukleon in den stabilen Kernen gebunden sind. Nur sehr leichte Kerne weichen von diesem Sch¨ atzwert stark ab. Insbesondere der 42 HeKern folgt nicht dem in Abb. 16.5 ersichtlichen Trend. Dies liegt auch daran, dass 42 He das einzige stabile Isobar mit A = 4 in der Natur ist. Im 42 He sind die Nukleonen besonders stark gebunden. Es gibt noch andere Kerne, die sich ¨ ebenfalls durch eine große Bindungsenergie pro Nukleon auszeichnen. Ahnlich wie in der Atomh¨ ulle werden diese Kerne durch magische Zahlen definiert, die folgende Werte besitzen Z , N = 2 , 8 , 20 , 28 , 50 , 82 , 126 .

(16.33)

Sind Z und N gleichzeitig magisch, bezeichnet man den Kern als doppelt magisch. Statt durch ihre Bindungsenergie kennzeichnet man magische, doppelt magische und einzelne Kerne auch ¨ ofters durch ihr Massendefizit ∆mK = −

Ebin . c2

(16.34)

Es liegt nat¨ urlich nahe zu vermuten, dass die magischen Zahlen wie in der H¨ ulle auch im Kern durch eine Schalenstruktur der Nukleonenzust¨ande verursacht werden. Dies ist allerdings f¨ ur den Kern wesentlich schwieriger zu beweisen als f¨ ur die H¨ ulle. Mit diesen Schwierigkeiten wollen wir uns jetzt besch¨ aftigen.

16.2 Kernmodelle ¨ Zun¨ achst mag folgende Uberlegung sehr einfach erscheinen: Wir wenden die Methoden der Quantenphysik, die wir f¨ ur die Behandlung der Atomh¨ ulle entwickelt haben, auch auf den Atomkern an. Betrachten wir aber die station¨are Schr¨ odinger-Gleichung (14.32), die f¨ ur die Nukleonen zu l¨osen w¨are, werden sofort folgende Schwierigkeiten erkennbar: (1) Der Atomkern besitzt kein nat¨ urliches Zentrum, von dem wir annehmen k¨ onnten, dass es so im Raum fixiert ist, dass sich alle Nukleonen unabh¨ angig voneinander um dieses Zentrum bewegen. Wir m¨ ussten den Massenmittelpunkt S des Kerns als Zentrum w¨ ahlen, und jede Bewegung eines einzelnen Nukleons beeinflusst die Bewegung aller anderen Nukleonen, wenn das Zentrum der Ursprung eines Inertialsystems ist, das sich geradlinig gleichf¨ ormig bewegt.

16.2 Kernmodelle

423

(2) Das Fehlen eines Zentrums hat auch zur Folge, dass die Kernkraft im Prinzip nicht als Zentralkraft behandelt werden kann. Die Kernkraft ist eine Kraft zwischen jedem einzelnen Nukleonenpaar, und sie ist kurzreichweitig. Die Kurzreichweitigkeit der Kernkraft ergibt sich unmittelbar aus dem Rutherford-Streuexperiment. Erst wenn das α-Teilchen den Kern ber¨ uhrt, wird das Wirken der Kernkraft sichtbar und das α-Teilchen wird vom Kern absorbiert. Die Reichweite der Kernkraft kann daher nicht gr¨oßer sein als der Radius des Nukleons r0 . Aus dieser Sicht betrachtet, stellt der Kern ein kompliziertes Vielteilchenproblem dar mit einer Wechselwirkung zwischen den Teilchen, die wir nicht genau kennen. (3) Auf der anderen Seite besitzen die Nukleonen eine Eigenschaft, die einige dieser Schwierigkeiten weniger bedeutsam macht. Die Nukleonen sind Fermionen; daher k¨ onnen sie keinen Zustand besetzen, der bereits von einem anderen Nukleon besetzt ist. Die M¨ oglichkeit einer Umbesetzung besteht nur f¨ ur die am schw¨ achsten gebundenen Nukleonen, die wir in Analogie zur Atomh¨ ulle als Leuchtnukleonen bezeichnen. F¨ ur die Leuchtnukleonen, von denen es im g¨ unstigsten Fall nur eins gibt, bilden alle anderen Nukleonen einen stabilen inneren Kern, der sich nicht anregen l¨asst, sondern nur als das gew¨ unschte Zentrum fungiert, und in dem die Leuchtnukleonen eine mittlere potentielle Energie besitzen. Es ist also die Wirkung des Pauli-Prinzips, die es m¨oglich macht, auch den Atomkern mit ¨ ahnlichen Methoden zu beschreiben wie die, die wir f¨ ur die Atomh¨ ulle verwendet haben. Diese Einsicht hat sich in der zweiten H¨alfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Davor wurden andere Kernmodelle entwickelt, insbesondere das Tr¨ opfchenmodell, das die klassische Beschreibung eines inkompressiblen Fl¨ ussigkeitstropfens auf die Kernmaterie u ¨ bertr¨agt. 16.2.1 Das Tr¨ opfchenmodell Auch ein Fl¨ ussigkeitstropfen entsteht durch die Bindung von Atomen bzw. Molek¨ ulen untereinander. Diskutieren wir, welche Kr¨afte in der Fl¨ ussigkeit laut Kap. 5.1 zu der Bindung f¨ uhren. Es ergeben sich f¨ ur eine neutrale Fl¨ ussigkeit aus nur einer Teilchenart folgende zwei Beitr¨age: (1) Der Volumenbeitrag zwischen allen Teilchen im Fl¨ ussigkeitsvolumen V , das proportional zur Massenzahl A ist, Ebin,V ∝ V



Ebin,V = aV A .

(16.35)

(2) Der Oberfl¨ achenbeitrag, der die Bindung verringert, weil an der Fl¨ ussigkeitsoberfl¨ ache (O) die H¨ alfte der Partner zur Bindung fehlt, Ebin,O ∝ −O



Ebin,O = −aO A−2/3 .

(16.36)

F¨ ur eine neutrale Fl¨ ussigkeit sind diese beiden Beitr¨age die wesentlichen Beitr¨ age. F¨ ur die Kernmaterie m¨ ussen aber noch andere wichtige Beitr¨age

424

16 Kernphysik

ber¨ ucksichtigt werden, weil die Kernmaterie aus 2 Teilchensorten aufgebaut ist, von denen eine sogar geladen ist. Durch die Ladung wird verursacht: (3) Der Ladungsbeitrag, der die Bindung ebenfalls verringert, weil sich alle positiven Ladungen gegenseitig abstoßen Ebin,C ∝ −

q2 rK

Ebin,C = −aC Z 2 A−1/3 .



(16.37)

W¨ aren diese drei Beitr¨ age die einzigen wichtigen Beitr¨age, w¨are es am g¨ unstigsten, der Kern best¨ ande nur aus Neutronen. Tats¨achlich erfordert aber das Pauli-Prinzip, dass jeder Kernzustand nur mit einem Proton und einem Neutron besetzt sein kann. Daher ist es noch wesentlich g¨ unstiger, alle Zust¨ ande sind mit je einem Proton und einem Neutron besetzt, d.h. deren Anzahl betr¨ agt Z = N = A/2. Aus der positiven Abweichung von der Gleichbesetzung (A − 2 Z)2 ergibt sich: (4) Der Symmetriebeitrag, der die Bindung ebenfalls verringert, wenn sich die Anzahl von Protonen im Kern von der der Neutronen unterscheidet, Ebin,S ∝ −

(A − 2 Z)2 V



Ebin,S = −aS (A − 2 Z)2 A−1 . (16.38)

Mit diesen vier Beitr¨ agen zur Bindungsenergie sind zun¨achst einmal alle Effekte ber¨ ucksichtigt, die nach unseren bisherigen Kenntnissen bei klassischen Fl¨ ussigkeiten und ihrer Erweiterung auf Quantenfl¨ ussigkeiten auftreten k¨ onnen. Eine genaue Untersuchung der Stabilit¨at von Kernen zeigt, dass Kerne, die gerade Anzahlen von Protonen und Neutronen enthalten (die g-gKerne), etwas stabiler sind als Kerne mit ungeraden Anzahlen von Protonen und Neutronen (die u-u-Kerne). Ber¨ ucksichtigt man auch diese Tatsache bei der Bindungsenergie, ergibt sich als f¨ unfter Beitrag: (5) Der Paarungsbeitrag, der die Bindungsenergie f¨ ur g-g-Kerne vergr¨oßert und f¨ ur u-u-Kerne verkleinert ⎧ ur g-g-Kerne, ⎨ +1 f¨ ur u-u-Kerne, (16.39) Ebin,P = aP A−1/2 δ mit δ = −1 f¨ ⎩ 0 sonst.

Insgesamt betr¨ agt daher die Bindungsenergie eines Kerns mit Z Protonen und N = A − Z Neutronen Ebin = + aV A − aO A2/3 − aC Z 2 A−1/3 − aS (A − 2 Z)2 A−1 + aP A−1/2 δ .

(16.40)

Tabelle 16.1. Die Werte der Parameter a in der Bethe-Weizs¨ acker-Formel (16.40) aV

aO

aC

aS

aP

15,85

18,34

0,71

23,22

11,46 MeV

Neutronenzahl N

16.2 Kernmodelle

425

Abb. 16.6. Der Bereich der stabilen Kerne (schattiert) in Abh¨ angigkeit von der Neutronenzahl N und der Protonenzahl Z. F¨ ur kleine Z gilt f¨ ur die stabilen Kerne N = Z, aber f¨ ur große Z gilt wegen der CoulombAbstoßung zwischen den Protonen N > Z

150 100 50 0

0

50 100 Protonenzahl Z

Diese Formel wurde zuerst im Jahr 1935 von Bethe (geb. 1906) und Weizs¨acker (geb. 1912) aufgestellt, man bezeichnet sie deshalb als die Bethe-Weizs¨ ackerFormel. Die Parameter a, die in dieser Formel auftauchen, m¨ ussen an die gemessenen Bindungsenergien angepasst werden. Die optimale Anpassung ergibt sich f¨ ur die Werte in der Tabelle 16.1. Die mithilfe der Bethe-Weizs¨ acker-Formel nach Gleichung (16.31) berechneten Massen stimmen innerhalb von 10% mit den gemessenen Massen der stabilen Kerne u ¨ berein. Der Ladungsbeitrag zur Bindungsenergie Ebin,C ist der Grund daf¨ ur, dass ab Massenzahl A = 20 die stabilen Kerne mehr Neutronen als Protonen enthalten, wie in Abb. 16.6 dargestellt. 16.2.2 Das Schalenmodell Im Schalenmodell wird die station¨ are Schr¨ odinger-Gleichung (14.32) f¨ ur ein Leuchtnukleon im Kern gel¨ ost. Auch der Kern besitzt Kugelsymmetrie, d.h. die angemessenen Koordinaten zur Beschreibung des Kerns sind die durch Gleichung (15.12) definierten sph¨ arischen Polarkoordinaten r, ϑ, ϕ. Die potentielle Energie des Leuchtnukleons ist allein eine Funktion von r. Daher sind, wie in der Atomh¨ ulle, die station¨aren Zust¨ande des Leuchtnukleons ebenfalls charakterisiert durch die Bahndrehimpulsquantenzahl l und die Projektionsquantenzahl m. Ber¨ ucksichtigen wir weiterhin, dass das Leuchtnukleon auch eine Spinquantenzahl s = 1/2 besitzt, so koppeln l und s zu einer neuen Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses j = l + ms = l ± 1/2. Auch die Nukleonzust¨ ande lassen sich daher katalogisieren mithilfe der Nomenklatur

426

16 Kernphysik

lj , ¨ aquivalent zur Nomenklatur der Zust¨ ande in der H¨ ulle 2s+1 lj . Allerdings wird im Falle des Kerns gew¨ ohnlich die Multiplizit¨at 2s + 1 nicht angegeben. Bisher erscheint es so, als ob keine gr¨ oßeren Unterschiede zwischen den station¨ aren Zust¨ anden des Elektrons in der H¨ ulle und denen des Nukleons im Kern bestehen. Das ist aber nicht der Fall, beide unterscheiden sich durch zwei wichtige Fakten: (1) Die L-S-Kopplung Die Kopplung zwischen Bahndrehimpuls und Spin ist im Kern viel st¨arker als in der H¨ ulle. Noch wichtiger ist, dass diese Kopplung das entgegengesetzte Vorzeichen besitzt und sowohl f¨ ur ein geladenes Proton wie auch ein ungeladenes Neutron wirksam ist. Das hat zur Folge, dass im Kern, anders als in ande st¨ arker gebunden sind als die ll−1/2 Zust¨ande. der H¨ ulle, die ll+1/2 Zust¨ (2) Die potentielle Energie Die potentielle Energie eines Leuchtnukleons im inneren Teil des Kerns kann nur in parametrisierter Form angegeben werden, sie kann nicht aus der starken Wechselwirkung zwischen den Nukleonen hergeleitet werden. Aber es ist evident, dass die potentielle Energie wegen der Kurzreichweitigkeit der Kernkr¨ afte im Wesentlichen der Massenverteilung im Kern folgen muss, also wegen oßten Bereich des Kerns Wpot (r) = konst gelten ρK = konst auch u ¨ ber den gr¨ muss. Am besten hat sich die Woods-Saxon-Parametrisierung bew¨ahrt: Wpot (r) =

E0 . 1 + exp((r − rK )/r0 )

(16.41)

Im Inneren des Kerns betr¨ agt die potentielle Energie des Nukleons demnach Wpot (r ≪ rK ) ≈ −50 MeV (siehe Gleichung (16.7)), innerhalb des Kernrands mit einer Dicke von ca. r0 = 1,15 fm (siehe Gleichung (16.17)) steigt sie auf den Wert Wpot (r ≫ rK ) = 0 MeV an. Die station¨ are Schr¨ odinger-Gleichung (15.43) mit diesem Ansatz f¨ ur die potentielle Energie des Leuchtnukleons kann nicht geschlossen, sondern nur numerisch unter der Randbedingung ψn (r) = 0 f¨ ur r ≫ rK gel¨ost werden. Aus der Form der potentiellen Energie (16.41) ergibt sich, dass es zu einer gegebenen Hauptquantenzahl n keine Beschr¨ ankung f¨ ur die erlaubten ganzzahligen Werte von l gibt. Die quantisierten Energieeigenwerte En,l,j des Nukleons im Kern sind in Abb. 16.7 dargestellt. Es ergibt sich ein Verhalten ¨ahnlich dem der Alkaliatome in Abb. 15.6. Allerdings besteht zwischen den Werten der Zustandsenergien ein relativer Unterschied von ca. 106 , und die energetische Lage der Zust¨ ande n lj ist verschieden, weil sich die L-S-Kopplung und die potentielle Energie des Leuchtnukleons im Kern von denen eines Leuchtelektrons in der H¨ ulle unterscheiden. Aus der Lage der Zust¨ande in Abb. 16.7 ist auch ersichtlich, warum die kleinsten magischen Zahlen im Kern die Reihenfolge 2,8,20,28 besitzen: Nach Besetzung des tiefstliegenden Zust¨ande

16.2 Kernmodelle

2

f7/2

2

f5/2

3

d5/2

p3/2

3

d3/2

p1/2

s1/2

E(MeV)

2

2

0 3 2

1

2

1 1

2

−44

1 1

1

1

427

Abb. 16.7. Die Energieniveaus eines Leuchtneutrons im Schalenmodell mit einer Tiefe der potentiellen Energie E0 = −50 MeV. Die Zahlen an den Energieniveaus sind die Werte der Hauptquantenzahl n. Die gestrichelten Lini¨ en zeigen die Uberg¨ ange von einer zur n¨ achsten Schale, die h¨ oheren Schalen enthalten mehr Schalenmodellzust¨ ande als gezeigt. Um die Unterschiede zwischen der Bindung im Atomkern und in der Atomh¨ ulle zu erkennen, vergleiche man mit Abb. 15.6

mit diesen Anzahlen von Proton oder Neutron ist die Energiediffrenz zum n¨ achstliegenden Zustand besonders groß. Die Abb. 16.7 zeigt die quantisierten Zust¨ande eines einzelnen Leuchtnukleons. Wird der Atomkern angeregt, indem man ihm von außen Energie zuf¨ uhrt, kann das Leuchtnukleon im Rahmen des Schalenmodells aus dem Grundzustand in einen dieser h¨ oheren Schalenmodellzust¨ande springen. Auf die nur begrenzte G¨ ultigkeit dieses Modells werden wir in Kap. 17.4.2 zur¨ uckkommen. Es gibt eine weitere Komplikation. Wir haben das Termschema Abb. 16.7 des Nukleons berechnet ohne zu bedenken, dass das Proton geladen ist und daher eine zus¨ atzliche potentielle Energie aufgrund seiner Ladung besitzt ′ (r) = Wpot (r) + aC Z 2 A−1/3 , Wpot

(16.42)

wobei der letzte Term auf der rechten Seite der Ladungsbeitrag (16.37) zur Bindungsenergie gem¨ aß der Bethe-Weizs¨ acker-Formel ist. Dieser Beitrag ist unabh¨ angig von r, er verschiebt daher alle Energieeigenwerte des Protons um einen konstanten Betrag zu gr¨ oßeren Werten. In einem Schalenmodell mit voneinander unabh¨angigen Nukleonen werden alle Zust¨ ande nach dem Pauli-Prinzip mit je einem Proton und Neutron besetzt, bis alle Zust¨ ande mit negativen Energieeigenwerten besetzt sind. Von dann ab k¨ onnen nur noch die Zust¨ ande im Kontinuum besetzt werden: Ein Kern mit besetzten Zust¨ anden im Kontinuum besitzt aber keine stabile Konfiguration. Der schwerste noch einigermaßen stabile Kern (Lebensdauer τ = 6, 5 · 109 a) ist daher das 238 92 U mit Z = 92 Protonen und N = 146 Neutronen. Im Anhang 8 sind die in der Natur vorkommenden stabilen Kerne aufgez¨ ahlt. In Abb. 16.8 ist die Besetzung der Zust¨ ande eines leichteren stabilen Kerns schematisch dargestellt: Alle Zust¨ ande werden bis zur Fermi-Energie EF mit

428

16 Kernphysik

E

ECB

r

r

n

E0

p

E0 +EF

E0 −E bin,C

Abb. 16.8. Die anschauliche Darstellung der potenziellen Energie im Schalenmodell f¨ ur Neutronen (n) und Protonen (p). Beide unterscheiden sich durch Beitr¨ age, die durch die Ladung der Protonen verursacht werden: Die Potenzialtiefe f¨ ur die Protonen vergr¨ oßert sich, und der Kern besitzt f¨ ur geladene Teilchen eine Coulomb-Barriere ECB . Alle Zust¨ ande sind bis zur Fermi-Energie EF mit Nukleonen besetzt (schattierte Bereiche). Daher enth¨ alt ein schwerer Kern mehr Neutronen als Protonen

Protonen bzw. Neutronen aufgef¨ ullt. Daraus ergibt sich die Aussage, die auch schon das Tr¨ opfchenmodell gemacht hat: Ein stabiler schwerer Kern enth¨alt mehr Neutronen als Protonen, besitzt also einen Neutronen¨ uberschuss. In der Abb. 16.8 ist f¨ ur r ≈ rK die potentielle Energie von Proton und Neutron verschieden. Damit ein Proton den Kernrand erreichen kann oder damit ein Proton den Kern verlassen kann, muss es die Coulomb-Barriere ECB des Kerns u ur die Coulomb-Barriere benutzen wir ¨ berwinden. Als Sch¨atzwert f¨ ECB =

1 Z ′ Z e2 , 4π ǫ0 rK

(16.43)

wenn Z ′ die Ladung des Kernbruchst¨ ucks ist, das den Kern verl¨ asst, also f¨ ur ur ein α-Teilchen Z ′ = 2 wie in Gleichung (16.15). ein Proton Z ′ = 1 und f¨ Eine derartige Coulomb-Barriere existiert nicht f¨ ur die Neutronen mit Z ′ = 0. Anmerkung 16.2.1: Die Ursache f¨ ur die Kernkraft ist die starke Wechselwirkung zwischen den Quarks, welche die fundamentalen Bausteine des Nukleons sind. Die Kernkraft ist ein Sekund¨ areffekt der starken Wechselwirkung. Dieser Mechanismus ist ¨ aquivalent zum Auftreten der Van-der-Waals-Kraft zwischen den Atomen, die aus der elektrischen Wechselwirkung zwischen den Elektronen in der H¨ ulle entsteht. Man kann daher die Kernkraft als Van-der-Waals-Komponente der starken Wechselwirkung interpretieren, die sich analog zu Gleichung (4.1) nur in parametrisierter Form angeben l¨ asst.

16.3 Der Kernspin

429

16.3 Der Kernspin Der Atomkern besitzt einen Gesamtdrehimpuls J mit zugh¨origer Drehimpulsquantenzahl j, die man kurz als den Kernspin I bezeichnet1 . Es ist jedoch nicht richtig, dass der Kernspin einfach die Drehimpulsquantenzahl der Schale ist, in der sich das letzte ungepaarte Nukleon befindet. Wir wollen uns dies anhand der 1s2d-Schale klarmachen, die nach dem doppelt magischen Kern 16 40 8 O beginnt und mit dem doppelt magischen Kern 20 Ca endet, siehe Abb. 16.7. Die stabilen Kerne am Anfang dieser Schale besitzen folgende Kernspins in ihrem Grundzustand, wobei horizontal die Neutronenanzahl N und vertikal die Protonenanzahl Z aufgetragen sind: Tabelle 16.2. Die Kernspins I im Grundzustand von Kernen der 2s1d-Schale 1d5/2 Z=8

N =8

9

10

0

5/2

0

9

5/2

10

0

2s1/2

11

12

3/2

0

11

3/2

12

0

13

14

5/2

0

13

5/2

14

0

15

16

1/2

0

Wir haben f¨ ur dieses Beispiel eine der isolierten Schalen gew¨ahlt, trotzdem 23 sind die Kernspins von 21 10 Ne und 11 Na kleiner als die Drehimpulsquantenzahl der Schale. Wir wissen heute, dass dies durch den Verlust der Kugelsymme23 trie des Atomkerns verursacht wird. Viele Kerne, wie z.B. 21 10 Ne und 11 Na sind in ihrem Grundzustand deformiert, d.h. das Schalenmodell verliert seine G¨ ultigkeit. Empirisch gelten aber folgende Regeln, wobei i ≥ 0 eine ganze Zahl ist: • • • 1

Alle g-g-Kerne besitzen einen Kernspin I = 0. Alle u-g-Kerne besitzen einen halbzahligen Kernspin I = (2i + 1)/2. Alle u-u-Kerne besitzen einen ganzzahligen Kernspin I = i, wobei i = 0 die Ausnahme ist. Ein stabiler u-u-Kern kommt in der Tabelle 16.2 nicht vor. Das Symbol I f¨ ur den Kernspin hat sich eingeb¨ urgert, wir wollen es daher auch benutzen.

430

16 Kernphysik

16.3.1 Die Methode der Kernspinresonanz Wie mit dem Elektronenspin ist auch mit dem Kernspin ein magnetisches upft, das sich in einem a Moment ℘mag verkn¨ ¨ußeren Magnetfeld Bz ausrichtet. Die dadurch erzielte Ver¨ anderung der potentiellen Energie betr¨agt nach Gleichung (8.158) Wpot (mI ) = −℘mag Bz .

(16.44)

Dabei ist −I ≤ mI ≤ I die Orientierungsquantenzahl des Kernspins I, der sich auf 2I + 1 verschiedene Weisen relativ zum Magnetfeld Bz orientieren kann. Das magnetische Moment des Kernspins ergibt sich zu ℘mag = gK ℘K mI .

(16.45)

Diese Gleichung ist ¨ aquivalent zur Gleichung (15.29) f¨ ur das Elektron, wobei das Bohr’sche Magneton ℘Bohr = (e ¯ h)/(2 me ) ersetzt wird durch das Kernmagneton ℘K =

1 e¯ h ℘Bohr . = 2 mN 1858

(16.46)

Die Ver¨ anderungen der potentiellen Energie bei einer Orientierungs¨anderung des Kernspins sind daher wesentlich geringer als die bei einer Orientierungs¨ anderung des Elektronenspins. Diese Verminderung des Orientierungseffekts wird nur zu einem kleinen Teil kompensiert durch eine Vergr¨oßerung des Land´ e-Faktors f¨ ur den Atomkern. Der Vergleich zwischen Elektron, Proton und Neutron ergibt gs (Elektron) = 2,0024 gK (Neutron) = −3,8256 ,

(16.47) gK (Protron) = 5,5851 .

ur einen Atomkern mit A > 1 schwankt zwischen den Der Land´e Faktor gK f¨ Werten f¨ ur das Neutron und das Proton, f¨ ur u-g-Kerne mit einem ungeraden Proton liegt er eher bei gK ≈ 1, und bei einem ungeraden Neutron ist eher gK ≈ 0. Die gr¨ oßte Energiedifferenz zwischen zwei Zust¨anden mit ∆mI = 1 wird daher f¨ ur das Proton beobachtet. Dort betr¨agt sie |∆E| = 1,74 · 10−7 Bz eV T−1 ,

(16.48)

also f¨ ur ein Magnetfeld von Bz = 1 T ergibt sich |∆E| = 1,74 · 10−7 eV.

(16.49)

Dies ist eine außerordentlich geringe Energiedifferenz, wenn man sie mit der Normaltemperatur T0 = 273 K vergleicht, die einer Energie E0 = k T0 = 0,024 eV entspricht. Das relative Besetzungsverh¨ altnis zwischen den mI = 1/2 und anden betr¨ agt nach Gleichung (6.134) nur dem mI = −1/2 Zust¨

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns

P (mI = 1/2) = 1,000007 P (mI = −1/2)

431

(16.50)

und ist ohne experimentelle Tricks nicht nachweisbar. Dieser Trick besteht darin, dass man das geringe Besetzungsungleichgewicht (16.50) benutzt, um ¨ mithilfe der Absorption von Radiowellen den Ubergang aus dem mI = 1/2 Zustand in den mI = −1/2 Zustand und umgekehrt zu erzwingen. Bei einem Magnetfeld Bz = 1 T muss die Resonanzfrequenz der Radiowellen ν=

|∆E| 1,74 · 10−7 = = 42 MHz h 4,14 · 10−15

(16.51)

betragen. Die Bestimmung dieser Resonanzfrequenz ist, trotz des nur geringen Besetzungsungleichgewichts, mit hoher Pr¨ azision m¨oglich. Warum ist diese Methode, die Kernspinresonanz, auch f¨ ur die Biophysik von so großer Bedeutung? Wasserstoff, d.h. Protonen, bildet eines der h¨ aufigsten Elemente im organischen Material, allerdings eingebaut in komplizierte Molek¨ ulverbindungen. Werden diese Verbindungen in ein Magnetfeld gebracht, so wird durch Induktion zus¨ atzlich zum ¨außeren Magnetfeld Bz ein weiteres Magnetfeld Bind erzeugt, welches durch Elektronenbewegungen im Molek¨ ul verursacht wird. Das resultierende Magnetfeld B = Bz + Bind ist das Magnetfeld, das die Gr¨ oße der Energiedifferenz |∆E| bestimmt. Die St¨ arke des induzierten Magnetfelds h¨ angt von der Elektronenkonfiguration in der Umgebung des Wasserstoffs ab, verschiedene Konfigurationen resultieren in verschiedenen Resonanzfrequenzen. Zum Beispiel findet man f¨ ur Ethanol CH3 CH2 OH drei verschiedene Resonanzfrequenzen, die den Teilgruppen OH, CH2 und CH3 entsprechen. Daher eignet sich die Kernspinresonanz zur Strukturuntersuchung von organischen Molek¨ ulen. Neben Wasserstoff (11 H) werden 2 ur auch die Kerne Deuterium (1 H), Kohlenstoff (136 C) und Phosphor (31 15 P) f¨ diese Methode verwendet.

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns Was geschieht, wenn die Zust¨ ande des Nukleons im Atomkern u ¨ ber die Fermiullt werden? In Energie EF hinaus entweder mit Neutronen oder Protonen gef¨ beiden F¨ allen entsteht ein instabiler Atomkern, der nach einer bestimmten Zeit, seiner Lebensdauer τ , in einen stabilen Atomkern zerf¨allt. Welche Prozesse dabei im Kern ablaufen, ist unmittelbar aus dem Energiediagramm in Abb. 16.9 ersichtlich. (1) Der e− -Zerfall In Abb. 16.9a ist das Besetzungsschema gezeigt f¨ ur den Fall, dass der Kern zu viele Neutronen enth¨ allt. Damit die Besetzung mit Protonen und Neutronen ussige Neutron in wieder bei der gleichen Energie EF endet, wird das u ¨ bersch¨ ein Proton zerfallen

432

16 Kernphysik

n → p + e− + ν e .

(16.52)

Dieser Zerfall kann allerdings nur stattfinden, wenn alle uns bekannten Erhaltungsgesetze erf¨ ullt sind. Bez¨ uglich der Energieerhaltung bedeutet dies, dass f¨ ur den e− -Zerfall gelten muss mK − (mK′ + me + mν e ) = ∆m > 0 .

(16.53)

Dabei ist der Index K das Symbol f¨ ur die Nomenklatur des Mutterkerns A Z X, A Y. Die u ussige und K’ steht f¨ ur die Nomenklatur des Tochterkerns Z+1 ¨ bersch¨ Masse ∆m wird verwandelt in die kinetischen Energien des Tochterkerns A − unden Z+1 Y, des Elektrons e und des Antielektronneutrinos ν e , wobei aus Gr¨ der Impulserhaltung fast die gesamte kinetische Energie von den leichten Teilchen e− und ν e aufgenommen wird. (2) Der e+ -Zerfall In Abb. 16.9b ist das Besetzungsschema gezeigt f¨ ur den Fall, dass der Kern zu viele Protonen enth¨ allt. Damit die Besetzung mit Neutronen und Protonen ussige Proton in wieder bei der gleichen Energie EF endet, wird das u ¨bersch¨ ein Neutron zerfallen p → n + e+ + νe .

(16.54)

Auch in diesem Zerfall m¨ ussen alle uns bekannten Erhaltungsgesetze erf¨ ullt sein. Bez¨ uglich der Energieerhaltung bedeutet dies, dass f¨ ur den e+ -Zerfall gelten muss mK − (mK′ + me + mνe ) = ∆m > 0 .

(16.55)

Dabei ist der Index K das Symbol f¨ ur die Nomenklatur des Mutterkerns A Z X, A und K’ steht f¨ ur die Nomenklatur des Tochterkerns Z−1 Y. Die u ussige ¨ bersch¨

α n

p (a)

n

p (b)

n

p (c)

Abb. 16.9. Anschauliche Darstellung des e− -Zerfalls (a), des e+ -Zerfalls (b) und des α-Zerfalls (c) in einem instabilen Atomkern. Im Fall (a) verwandelt sich ein Neutron in ein Proton, im Fall (b) ein Proton in ein Neutron, und im Fall (c) vereinigen sich wegen des Gewinns an Bindungsenergie zwei Neutronen und zwei Protonen zu einem α-Teilchen

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns

433

Masse verwandelt sich analog zum e− -Zerfall fast zu 100% in die kinetischen Energien von e+ und νe Der e− - und e+ -Zerfall werden zusammengefasst unter der Bezeichnung β-Zerfall. (3) Der α-Zerfall. Das α-Teilchen ist ein 42 He-Kern und als solches nicht elementarer Baustein eines Atomkerns. Die große Bindungsenergie des α-Teilchens macht es aber wahrscheinlich, dass sich 2 Protonen und 2 Neutronen im Kern spontan f¨ ur kurze Zeit zu einem α-Teilchen vereinen k¨ onnen. Die dabei freiwerdende Enerordert in schweren Kernen, in denen EF nur wenig unter der Kongie Ebin bef¨ tinuumsgrenze E = 0 liegt, das α-Teilchen in einen Kontinuumszustand mit Energie E > 0, d.h. der Kern wird instabil. Dass er nicht sofort zerf¨allt, liegt allein daran, dass das α-Teilchen zun¨ achst die Coulomb-Barriere des Kerns u ¨ berwinden muss, falls E < ECB ist. Dies ist nur mithilfe des Tunneleffekts m¨ oglich; schematisch ist dieser Zerfallsprozess in der Abb. 16.9c dargestellt. 234 Betrachten wir ein Beispiel, n¨ amlich den α-Zerfall von 238 92 U in 90 Th. Die Ruhemassen der schweren Kerne und des α-Teilchens betragen mU = 238,05079 u , mTh = 234,04363 u , mα = 4,00260 u. ¨ Daraus errechnet sich eine Uberschussmasse ∆m = mU − (mTh + mα ) = 0,00456 u

(16.56) 2

= 4,25 MeV/c .

Das α-Teilchen besetzt also einen Kontinuumszustand mit der Energie E = 4,25 MeV, die Coulomb-Barriere f¨ ur das α-Teilchen besitzt allerdings einen Wert ECB = 36,5 MeV. Das bedeutet, der zu durchtunnelnde Bereich hat eine große L¨ ange l, und damit ist nach Gleichung (14.36) die Tunnelwahrscheinagt lichkeit P (l) sehr gering. In der Tat, die Lebensdauer des 238 92 U Kerns betr¨ oßer als das Alter des Universums. Und τ = 6,5 · 109 a, sie ist also etwas gr¨ daher ist das 238 92 U auch heute noch auf der Erde anzutreffen. Wir lernen, dass der α-Zerfall nur in schweren Kernen auftritt und nur ¨ dann, wenn f¨ ur die Uberschussmasse gilt mK − (mK′ + mα ) = ∆m > 0 ,

(16.57)

wobei der Index K den Mutterkern A Z X kennzeichnet und K’ den Tochterkern

A−4 Z−2 Y.

(4) Der γ-Zerfall Nicht immer f¨ uhren die bisher besprochenen Kernzerf¨alle direkt in den station¨ aren Grundzustand des Tochterkerns, sondern der Tochterkern bleibt in einem angeregten Zustand zur¨ uck. In diesem Fall verliert der Tochterkern seine u ussige Energie in Form von elektromagnetischer Strahlung, so wie ¨ bersch¨

434

16 Kernphysik

Tabelle 16.3. Die vier wichtigsten in der Natur auftretenden radioaktiven Zerf¨ alle des Atomkerns. Der hochgestellte Stern zeigt, dass der Kern angeregt sein kann und anschließend weiter zerf¨ allt Zerfallsart Mutter Tochter Vorkommen A ZX

A−4 ∗ Z−2 Y

nur in schweren Kernen



A ZX

A ∗ Z+1 Y

in allen Kernen m¨ oglich

+

A ZX

A ∗ Z−1 Y

in allen Kernen m¨ oglich

A ∗ ZX

A ZX

in allen Kernen m¨ oglich

α-Zerfall e -Zerfall e -Zerfall γ-Zerfall

Licht auch von der H¨ ulle emittiert wird, wenn sich diese in einem angeregten Zustand befindet. Allerdings besitzt das vom Kern emittierte Licht eine 106 -fach h¨ ohere Energie, liegt also im Bereich der γ-Strahlung, siehe Abb. 9.14. Wir haben 4 radioaktive Zerf¨ alle des Atomkerns kennen gelernt mit den in Tabelle 16.2 aufgef¨ uhrten charakterischen Eigenschaften. 16.4.1 Das radioaktive Zerfallsgesetz Bei der Untersuchung des radioaktiven Zerfalls machen wir unsere Messungen immer an einer großen Anzahl n von radioaktiven Kernen. Wann genau ein bestimmter Kern aus dieser Menge zerf¨ allt, kann nicht vorhergesagt werden. Aber es ist sicher, dass die Anzahl dn der pro Zeit dt zerfallenden Kerne davon abh¨ angt, wie viele radioaktive Kerne vorhanden sind und wie groß ihre Lebensdauer τ ist: n dn =− . dt τ

(16.58)

Das negative Vorzeichen ist notwendig, da n positiv ist, aber mit der Zeit immer kleiner wird. Das negative Verh¨ altnis −dn/dt bezeichnet man als Aktivit¨ at Ak der radioaktiven Probe. Die Differentialgleichung (16.58) besitzt die L¨ osung n(t) = n0 e−t/τ ,

(16.59)

wobei n0 die Anzahl der radioaktiven Kerne zur Zeit t = 0 angibt. Entsprechend erh¨ alt man f¨ ur die zeitliche Abnahme der Aktivit¨at: Die Aktivit¨ at einer radioaktiven Probe nimmt exponentiell mit der Zeit ab Ak(t) = Ak0 e−t/τ

mit Ak0 =

n0 . τ

(16.60)

In einem Experiment wird in den meisten F¨ allen die Aktivit¨at Ak(t) gemessen. Der Logarithmus dieser Messgr¨ oße nimmt linear mit der Zeit ab

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns

435

Abb. 16.10. Die logarithmische Abnahme der Aktivit¨ at einer radioaktiven Probe mit der Zeit. Der Achsenabschnitt f¨ ur t = 0 ergibt die Anfangsaktivit¨ at, die Steigung der Geraden die Lebensdauer τ oder die Halbwertszeit t1/2 = τ ln 2

ln Ak ln Ak 0 ln Ak0 /2

t

t 1/2

ln Ak(t) = ln Ak0 −

t . τ

(16.61)

In Abb. 16.10 ist ln Ak(t) als Funktion der Zeit aufgetragen. Aus dem Achsenabschnitt t = 0 ergibt sich die Anfangsaktivit¨at Ak0 der Probe, aus der Steigung der Geraden l¨ asst sich die Lebensdauer τ des radioaktiven Kerns bestimmen. Folgende andere Gr¨ oßen werden oft anstelle der Lebensdauer τ verwendet: • •

Die Zerfallskonstante λ = 1/τ , [λ] = s−1 . Die Halbwertszeit t1/2 = τ ln 2 .

Betrachtet man die Abnahme der Aktivit¨ at einer radioaktiven Probe, die von einem Organismus inkorporiert wurde, so tritt zus¨atzlich zu der Abnahme durch den radioaktiven Zerfall mit der Zerfallskonstanten λ0 noch eine Abnahme λ1 durch Ausscheidung hinzu. Die gemessene Zerfallskonstante ist dann gegeben durch λ = λ0 + λ1

oder

1 1 1 = + . τ τ0 τ1

(16.62)

Die Zerfallskonstante vergr¨ oßert sich, die Lebensdauer nimmt ab verglichen mit der freien Probe. Etwas schwieriger ist es, radioaktive Zerfallsketten zu behandeln, in denen radioaktive Zerf¨ alle zeitlich aufeinander folgen mit der Anfangsaktivit¨at Ak0,1 . Betrachten wir eine Kette mit zwei Zerf¨ allen A1 Z1 X1

τ

1 −→

A2 Z2 X2

τ

2 −→

A3 Z3 X3

.

(16.63)

F¨ ur den ersten radioaktiven Zerfall in der Kette ergibt sich nach Gleichung (16.60) Ak1 (t) = Ak0,1 e−λ1 t .

(16.64)

436

16 Kernphysik

F¨ ur den zweiten radioaktiven Zerfall muss zun¨achst einmal die zu Gleichung (16.66) analoge Differentialgleichung formuliert werden, die einen Verlustterm −λ2 n2 durch den zweiten Zerfall und einen Gewinnterm +λ1 n1 durch den ersten Zerfall enth¨ alt: dn2 = +λ1 n1 − λ2 n2 . dt

(16.65)

Die L¨ osung dieser Differentialgleichung bestimmt die Aktivit¨at des Kerns sie ergibt sich zu

A2 Z2 X2 ,

Ak2 (t) = Ak0,1

  −λ1 t λ2 e − e−λ2 t . λ2 − λ1

(16.66)

Zur Zeit t = 0 betr¨ agt daher die Aktivit¨ at dieses Kerns, der ja erst durch den 1 Zerfall von A X gebildet wird, Ak (0) = 0. Nach sehr langen Zeiten ergibt 2 Z1 1 sich f¨ ur f¨ ur

λ2 ≫ λ1 : Ak2 (t) = Ak0,1 e−λ1 t , λ2 −λ2 t λ1 ≫ λ2 : Ak2 (t) = Ak0,1 e . λ1

Das bedeutet, das zeitliche Verhalten der Aktivit¨at wird bestimmt durch den Kern in der Zerfallskette, der die gr¨ oßte Lebensdauer besitzt. 16.4.2 Die Wechselwirkung radioaktiver Strahlen mit der Materie Die radioaktive Strahlung ist in hohen Dosen gef¨ahrlich f¨ ur den Organismus. Dies liegt an dem Energieverlust, den die Strahlung in Materie erleidet. Mit dem Energieverlust ist eigentlich eine Energieumwandlung gemeint, denn die Energie der radioaktiven Strahlung wird in Materie letztendlich in thermische Energie umgewandelt. Dies ist ein sehr komplizierter Vorgang, den wir hier im Detail nicht behandeln werden. Uns interessiert allein die erste Stufe in diesem Umwandlungsprozess, die sehr oft darin besteht, dass die Atome in der Materie durch die Strahlung ionisiert werden. Dabei k¨onnen die chemischen Bindungen in einem Molek¨ ul zerst¨ ort werden und es bildet sich u.U. ein neues und anderes Molek¨ ul. Alle die radioaktiven Strahlen, die wir in Kap. 16.4 behandelt haben, besitzen die F¨ ahigkeit Atome zu ionisieren. Wir werden im Folgenden die α-Strahlung, die e− -Strahlung und die γ-Strahlung behandeln. Radioaktive Kerne, die bei ihrem Zerfall Positronen emittieren, stellen nur dann eine Gefahr dar, wenn sie direkt in den Organismus gelangen. Andernfalls werden die Positronen bereits in der Probe durch Vereinigung mit Elektronen vernichtet, und es entsteht bei der Vernichtung γ-Strahlung. Eine radioaktive Probe emittiert bei ihrem Zerfall pro Zeiteinheit n Teilchen (α, β, γ), jedes dieser Teilchen verliert in Materie seine Energie ε. Der gesamte Energieverlust betr¨ agt daher E = n ε. Die wichtige Gr¨oße ist, wie viel

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns

437

dieser Energie dE pro Wegl¨ ange dx verloren geht, d.h. wie dick die Materie sein muss, damit die Gesamtenergie in thermische Energie verwandelt werden kann. Der spezifische Energieverlust ist d dE = (n ε) . dx dx

(16.67)

Diese Beziehung macht deutlich, dass drei F¨ alle eintreten k¨onnen: (1) Die Energie ε ver¨ andert sich l¨ angs der Wegstrecke x nicht, aber die Teilchenzahl ver¨ andert sich. Dieser Fall tritt ein f¨ ur die γ-Strahlung, weil die Photonen in einem einzigen Prozess absorbiert werden k¨onnen und bei diesem einzigen Prozess ihre gesamte Energie verlieren. Der spezifische Energieverlust betr¨ agt in diesem Fall dn dE =ε . dx dx

(16.68)

(2) Die Zahl der Teilchen n ver¨ andert sich l¨angs der Wegstrecke x nicht, aber die Energie ver¨ andert sich. Dieser Fall tritt ein f¨ ur die α-Strahlung, weil etwa 106 Ionisationsprozesse notwendig sind, bevor ein α-Teilchen seine kinetische Energie ε ≈ 5 MeV verloren hat. Da die Masse des α-Teilchens sehr viel gr¨ oßer ist als die Masse der Elektronen in der Atomh¨ ulle, ver¨andert das α-Teilchen seine Bewegungsrichtung nach Gleichung (2.81) praktisch nicht. Der spezifische Energieverlust betr¨ agt in diesem Fall dε dE =n . dx dx

(16.69)

(3) Der am schwierigsten zu behandelnde Fall ist der, f¨ ur den sowohl n wie auch ε abh¨ angig von der Wegstrecke x sind. Dies tritt bei der e− -Strahlung ein, weil die Elektronen wegen ihre geringen Masse leicht aus ihrer Wegrichtung abgelenkt werden k¨ onnen. In diesem Fall ist der spezifische Energieverlust gegeben zu

dε dn dξ dE = n +ε , (16.70) dx dξ dξ dx wobei ξ den tats¨ achlichen Weg des Elektrons beschreibt und x den Weg in Einfallsrichtung der Strahlung in die Materie. Wir sollten beachten, dass der Term ε dn/dξ nur ber¨ ucksichtigt wurde, um noch einmal den Unterschied zwischen dem Energieverlust von Positronen und Elektronen zu verdeutlichen. F¨ ur Elektronen (e− ) ist dn/dξ = 0 , da Elektronen nicht vernichtet werden k¨ onnen, f¨ ur Positronen (e+ ) ist dieser Term dominant, da sie mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet werden. Die wichtigen Gr¨ oßen, die den Energieverlust eines Teilchens bei seinem Durchgang durch Materie beschreiben, sind •

die Energieabh¨ angigkeit des spezifischen Energieverlusts pro Teilchen dε(ε)/dx,

438

• •

16 Kernphysik

die Wegabh¨ angigkeit des Teilchenzahl n(x), und aus diesen Informationen die Wegabh¨ angigkeit des totalen spezifischen Energieverlusts dE(x)/dx,

Wir werden uns jetzt diese charakteristischen Funktionen f¨ ur die γ-, α- und β-Strahlung anschauen. (1) Die γ-Strahlung Die Prozesse, die zwischen den Photonen und den Atomen der Materie stattfinden k¨ onnen, kennen wir bereits. Es sind dies • • •

der Photoeffekt (Kap. 15.3.1), die Paarerzeugung (Kap. 13.3), der Compton-Effekt (Kap. 13.2).

Die beiden ersten Prozesse f¨ uhren immer zur vollst¨andigen Absorption des Photons, der dritte Prozess l¨ asst das Photon mit einer wesentlich geringeren Energie zur¨ uck, sodass es anschließend absorbiert wird. Die Abnahme dn der Photonenzahl pro Wegl¨ange dx wird beschrieben durch den Absorptionskoeffizienten µ und zwar gilt dn = −µ n dx

(16.71)

Wirkungsquerschnitt σ

mit der L¨ osung

dE dx

Gesamt− querschnitt

Paar− erzeugung

Photo− effekt

10 5

x n(x)

Compton− Streuung

10 6

107

ε (eV)

10 8 x

Abb. 16.11. Links: Die Wirkungsquerschnitte f¨ ur den Photoeffekt, die ComptonSreuung und die Paarbildung in Abh¨ angigkeit von der Photonenenergie ε (d¨ unne Kurven). Die Summe dieser Wirkungsquerschnitte ergibt den totale Absorptionswirkungsquerschnitt (fette Kurve). Rechts: Die Abh¨ angigkeiten des spezifischen Energieverlusts dE/dx und der Teilchenzahl n von der Wegl¨ ange x im Material in Einfallsrichtung der γ-Strahlung. Da n exponentiell abnimmt, ist n(x) ∝ dn(x)/dx ∝ dE(x)/dx

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns

n = n0 e−µ x .

439

(16.72)

Die Photonenzahl nimmt exponentiell mit der zur¨ uckgelegten Wegstrecke x ab. Wie stark die Abnahme ist, bestimmt der Absorptionskoeffizient µ, und damit die Wirkungsquerschnitte σPhot , σPaar und σCompt , mit denen die oben genannten Prozesse bei der Wechselwirkung zwischen Photon und Atom auftreten. Neben dem Wirkungsquerschnitt ist auch wichtig die Anzahl der Absorberatome, die durch ihre Anzahldichte ρ oder alternativ durch ihre Massendichte ρm beschrieben werden kann. Es ergibt sich µ = σ ρm

nA mMol

mit σ = σPhot + σPaar + σCompt .

(16.73)

Oft wird anstelle des Absorptionskoeffizienten die von der Absorberdichte unabh¨ angige Absorptionsl¨ ange λ zur Charakterisierung des Absorptionsprozesses benutzt. Die Absorptionsl¨ ange ist definiert als λ=

ρm mMol = nA σ µ

sodass

n = n0 e−ρm x/λ .

(16.74)

λ besitzt eine ¨ ahnlich Bedeutung wie die mittlere freie Wegl¨ange, die allerdings von der Dichte des durchquerten Materials abh¨angt, siehe Gleichung (6.50). Wie groß sind die Wirkungsquerschnitte, die in Gleichung (16.73) auftreten? Ihr Gr¨ oße ist abh¨ angig von der Energie ε des Photons und der Ordnungszahl Z des Absorbermaterials. F¨ ur einen Absorber aus Atomen mit großer Ordnungszahl findet man Z4 ε3 σPaar (ε) ∝ Z 2 ln ε Z σCompt (ε) ∝ . ε σPhot (ε) ∝

(16.75)

Die gemessenen Energieabh¨ angigkeiten dieser Wirkungsquerschnitte sind schematisch in Abb. 16.11 gezeigt. Ebenfalls finden sich dort die Funktionen dE(x)/dx und n(x). F¨ ur beide ergibt sich eine exponentielle Abnahme; im Prinzip ist die Reichweite der γ-Strahlung in Materie daher unendlich groß. (2) Die α-Strahlung Die α-Teilchen ionisieren die Atome in dem Absorbermaterial aufgrund ihrer Ladung q = 2 e. Das von dieser Ladung erzeugte elektrische Feld beschleunigt die Elektronen aus den Atomh¨ ullen des Absorbers, sie gelangen so in das Kontinuum und das α-Teilchen verliert kinetische Energie. Dieser Prozess l¨ asst sich im Rahmen der klassischen Physik beschreiben, die Rechnung dazu ist aber zu aufwendig, um hier dargestellt zu werden. Man findet f¨ ur den spezifischen Verlust an kinetischer Energie pro α-Teilchen Z dε ≈ −C1 (C2 ln ε + C3 ) , dx ε

(16.76)

440

16 Kernphysik

d ε /dx

dE dx

α in Luft x n(x)

10−1 101

103

ε (MeV)

105 x

Abb. 16.12. Links: Der spezifische Energieverlust eines einzelnen α-Teilchens in Abh¨ angigkeit von seiner kinetischen Energie ε. Rechts: Die Abh¨ angigkeiten des spezifischen Energieverlusts dE/dx und der Teilchenzahl n von der Wegl¨ ange x im Material in Einfallsrichtung der α-Strahlung. Da n praktisch u ange ¨ ber die gesamte Wegl¨ konstant ist, ist dE(x)/dx ∝ dε(x)/dx

wobei C1 , C2 , C3 von dem Absorbermaterial und der Teilchenart und Geschwindigkeit abh¨ angige Funktionen sind, die auch Abweichungen f¨ ur sehr kleine und große Geschwindigkeiten des α-Teilchens ber¨ ucksichtigen. In Abb. 16.12 ist der spezifische Energieverlust (16.76) schematisch dargestellt, diese Kurve wird Bethe-Bloch-Kurve genannt. Wie schon erw¨ ahnt, ist der Durchgang der α-Teilchen durch die Materie dadurch gekennzeichnet, dass die Teilchenzahl l¨ angs des Wegs x konstant bleibt, bis alle α-Teilchen ihre kinetische Energie vollst¨ andig verloren haben. Auch dies ist in Abb. 16.12 dargestellt. Aus diesem Verhalten l¨ asst sich ableiten, wie sich der spezifische Energieverlust l¨ angs des Wegs x ver¨ andert. Beim Eintritt in den Absorber besitzen die α-Teilchen noch eine große kinetische Energie, ihr Energieverlust ist daher gering. Am Ende ihres Wegs hat sich ihre kinetische Energie stark reduziert, und dann ist der Energieverlust nach Abb. 16.12 besonders groß. Daraus ergibt sich f¨ ur die Wegl¨ angenabh¨ angigkeit des spezifischen Energieverlusts dE(x)/dx die Bragg’sche Kurve, wie sie in Abb. 16.12 dargestellt ist. Die α-Teilchen, und allgemein schwere Kerne, besitzen die bemerkenswerte Eigenschaft, dass sie erst am Ende ihres Wegs das Absorbermaterial stark ionisieren. Man kann diesen Ort ver¨ andern, indem man die kinetische Energie der α-Teilchen ver¨ andert. Man besitzt damit ¨ die M¨oglichkeit, gezielt an ausgew¨ ahlten Orten im Organismus Anderungen in seiner atomaren Struktur vorzunehmen. (3) Die e− -Strahlung Auch Elektronen ionisieren die Atome des Absorbermaterials durch das elek-

16.4 Der radioaktive Zerfall des Atomkerns

dE dx

Elektronen in Blei

d ε /dξ

441

Ionisationsverluste

x n(x)

Strahlungsverluste

10−1 100

101

ε(MeV)

102 R

x

Abb. 16.13. Links: Der spezifische Energieverlust eines einzelnen Elektrons in Abh¨ angigkeit von seiner Energie ε. Bei kleinen Energien dominiert Ionisation der Atome im Absorbermaterial, bei großen Energien dominiert der Bremsstrahlungsprozess. Die Summe aus beiden ergibt die fett gezeichnete Kurve. Rechts: Die Abh¨ angigkeiten des spezifischen Energieverlusts dE/dx und der Teilchenzahl n von der Wegl¨ ange x im Material in Einfallsrichtung der Elektronen. Die exakte Form dieser Abh¨ angigkeiten muss entweder gemessen werden oder numerisch auf einer Rechneranlage berechnet werden. Als Reichweite der Elektronen wird der extrapolierte Wert R angegeben

trische Feld, das von ihrer Ladung q = −e erzeugt wird. Der spezifische Energieverlust eines Elektrons ist daher ¨ahnlich zu dem, der durch Gleichung (16.76) beschrieben wird. Bei der Ionisation ver¨ andern Elektronen aber i.A. auch ihre Bewegungsrichtung, sie werden inelastisch gestreut. Dar¨ uber hinaus ist nicht jeder Streuvorgang mit der Ionisation eines Absorberatoms verbunden, Elektronen k¨onnen auch elastisch gestreut werden. Und schließlich wissen wir aus Kap. 15.3.1, dass Elektronen auch ihre Energie teilweise dadurch verlieren k¨onnen, dass sie Bremsstrahlung erzeugen. Dieser Mechanismus des Energieverlusts wird dominant, wenn die kinetische Energie des Elektrons gr¨oßer ist als seine Ruheenergie. In Abb. 16.13 ist der spezifische Energieverlust pro Elektron dε/dξ als Summe dieser beiden Mechanismen dargestellt. Dabei ist nicht ber¨ ucksichtigt der Einfluss der Streuung auf den angenommenen Weg x, der immer in der Richtung des Elektroneneinfalls in den Absorber gemessen wird. Wegen der Streuprozesse, die zuf¨ allig ablaufen, ist es sehr schwierig, die Wegl¨ angenabh¨ angigkeiten von dE(x)/dx und n(x) zu berechnen. Aus experimentellen Untersuchungen ergibt sich ein Verhalten, wie es in Abb. 16.13 gezeigt ist. Wir erkennen, dass sich die radioaktiven Strahlen bei ihrem Durchgang durch Materie ganz unterschiedlich verhalten. Zur Charakterisierung dieser Unterschiede k¨onnen wir z.B. die Reichweite R der Strahlung in Materie her-

442

16 Kernphysik

anziehen. Diese h¨ angt nat¨ urlich von der Energie der Strahlung ab. Daher vergleichen wir Strahlenenergien von ca. 1 MeV, f¨ ur die wir finden: Die γ-Strahlen besitzen in Materie keine definierte Reichweite, sondern nur eine Absorptionsl¨ ange λ. Es ist daher schwierig, einen γ-Strahler mithilfe einer Materieschicht abzuschirmen. Die beste Abschirmung erreicht man durch ein Material mit einer hohen Ordnungszahl, also z.B. Blei. Die α-Strahlung besitzt in Materie eine sehr gut definierte Reichweite. Es ist daher relativ einfach, einen α-Strahler mithilfe einer d¨ unnen Materieschicht abzuschirmen. Zum Beispiel ist eine Aluminiumschicht von weniger als 1 mm Dicke ausreichend. Die β-Strahlung besitzt in Materie eine diffuse Reichweite. Trotzdem l¨asst sich ein β-Strahler leicht durch Materie abschirmen, die Dicke muss wegen der unterschiedlichen Ladung der Teilchen etwa viermal so groß sein wie bei einem α-Strahler. Außerdem sollte man beachten, dass Elektronen auch entgegen der Einfallsrichtung wieder das Material verlassen k¨onnen, da sie im Material im Gegensatz zu den α-Teilchen gestreut werden.

16.5 Die radioaktive Belastung des Menschen Es gibt nat¨ urliche radioaktive Quellen, die ohne das Zutun des Menschen dauernd Strahlen emittieren und denen wir deshalb st¨andig ausgesetzt sind. Um die St¨ arke dieser Quellen und ihre Wirksamkeit zu kennzeichnen, wurden folgende Gr¨ oßen eingef¨ uhrt: •

Die Anzahl der radioaktiven Zerf¨ alle pro Zeit, also die Aktivit¨ at Ak, besitzt die Einheit Bq “Becquerel” Ak = −

dn dt

, [Ak] = s−1 = Bq.

(16.77)

Eine radioaktive Quelle hat die Aktivit¨ at Ak = 1 Bq, wenn pro Sekunde ein radioaktiver Zerfall stattfindet, und das ist eine sehr geringe Anzahl von Zerf¨ allen.



Anmerkung: Fr¨ uher wurde als Einheit der Aktivit¨ at das Ci “Curie” verwendet. Es ist 1 Ci = 3,7 · 1010 Bq.

Die Energiedosis D ist das Maß f¨ ur die physikalische Strahlenwirkung in Materie. Die Energiedosis ist definiert als das Verh¨altnis von Energieverlust pro Masse D=

dE dm

, [D] = J kg−1 = Gy “Gray”.

(16.78)

Anmerkung: Fr¨ uher wurde als Einheit der Energiedosis rad verwendet. Es ist 1 rad = 1 · 10−2 Gy.

16.5 Die radioaktive Belastung des Menschen

20 15

α n

10 5

Abb. 16.14. Der Bewertungsfaktor ur die verschiedenen StrahlungsarQ f¨ ten in Abh¨ angigkeit von deren Energie

Q p

443

γ,e

0.01 0.1 1 10 100 Energie (MeV) •

¨ Die Aquivalenzdosis H ber¨ ucksichtigt die unterschiedlichen Wirksamkeiten der verschiedenen radioaktiven Strahlungen auf den Organismus. ¨ Die Aquivalenzdosis ist definiert als das Produkt aus Energiedosis D und Bewertungsfaktor Q H = QD

, [H] = J kg−1 = Sv “Sievert”.

(16.79)

¨ Anmerkung: Fr¨ uher wurde als Einheit der Aquivalenzdosis rem verwendet. Es ist 1 rem = 1 · 10−2 Sv.

Der Bewertungsfaktor Q ist strahlungs- und energieabh¨angig. In Abb. 16.14 ist dies f¨ ur die nat¨ urlichen Strahlungsarten (α , β , γ) und auch f¨ ur die k¨ unstlichen Strahlungsarten (p , n) dargestellt. Demnach sind α-Strahlen mit einer kinetischen Energie unterhalb von 2 MeV f¨ ur den Organismus besonders gef¨ahrlich, w¨ ahrend e− - und γ-Strahlen nur eine geringe Wirksamkeit besitzen. Allerdings kann man sich bei ersteren relativ leicht gegen ¨ außere Quellen abschirmen, die Abschirmung ist f¨ ur letztere viel aufwendiger. Extrem gef¨ahrlich ist es, wenn ein α-Strahler in den Organismus gelangt und eine Abschirmung unm¨oglich ist. F¨ ur die nat¨ urlich vorkommenden radioaktiven Strahlen gibt es im wesentliche zwei Quellen, die H¨ ohenstrahlung und die terrestrische Strahlung. (1) Die H¨ ohenstrahlung Die H¨ ohenstrahlung entsteht in etwa 20 km H¨ ohe in der Erdatmosph¨are durch Reaktionen der Prim¨ arstrahlung aus dem Weltraum mit den Kernen der Atmosph¨ arenatome. Die Prim¨ arstrahlung besteht zum u ¨ berwiegenden Teil aus hochenergetischen Protonen und zum kleineren Teil aus hochenergetischen schweren Kernen. Durch die Kernreaktionen entstehen als Sekund¨arstrahlung u ¨ berwiegend β-, γ-Strahlen und Protonen. Aus Kap. 12.3 wissen wir, dass auch Myonen gebildet werden; diese besitzen aber keine Wirksamkeit im Organismus. ¨ Die von der H¨ ohenstrahlung verursachte Aquivalenzdosis h¨angt sehr stark von der H¨ ohe ab. An verschiedenen Orten in Deutschland betr¨agt die j¨ahrliche

444

16 Kernphysik

Dosisleistung Meeresh¨ ohe (0 m): Garmisch (2000 m): Zugspitze (3000 m):

H = 0,3 · 10−3 Sv a−1 , H = 0,6 · 10−3 Sv a−1 , H = 1,4 · 10−3 Sv a−1 .

¨ Dagegen betr¨ agt die Aquivalenzdosis der empfangenen Strahlung bei einem Flug von Deutschland nach den USA (7 h Flugdauer) bereits H = 0,2 · 10−3 Sv. Wenn man dies umrechnet auf eine Gesamtflugzeit von 10% eines Jahres (bei Piloten), ergibt sich eine Dosisleistung bei Flugreisen (10000 m):

H = 25 · 10−3 Sv a−1 .

(2) Die terrestrische Strahlung Die terrestrische Strahlung entsteht durch den Zerfall von in der Natur vorkommenden radioaktiven Kernen mit sehr langer Lebensdauer. Einen dieser Kerne haben wir bereits kennen gelernt, 238 92 U. Dieses Uranisotop ist der Ausgangskern einer ganzen Kette von radioaktiven Zerf¨allen. Von diesen Ketten gibt es im Prinzip vier verschiedene in der Natur, die sich durch die Massenzahl ihres Mutterkerns voneinander unterscheiden. F¨ ur n = ganze Zahl sind dies: (1) Die A = 4n-Kette 10 a. Der Mutterkern ist 232 90 Th mit Lebensdauer τ = 2 · 10 (2) Die A = 4n + 1-Kette Der Mutterkern ist 241 94 Pu mit Lebensdauer τ = 1,4 a. Wegen der extrem kurzen Lebensdauer ist diese Kette seit langem ausgestorben. (3) Die A = 4n + 2-Kette 9 Der Mutterkern ist 238 92 U mit Lebensdauer τ = 6,5 · 10 a. (4) Die A = 4n + 3-Kette 9 Der Mutterkern ist 235 92 U mit Lebensdauer τ = 1,3 · 10 a. Alle diese Ketten enden nach einer Vielzahl von α- und β-Zerf¨allen bei 207 208 den stabilen Bleiisotopen 206 82 Pb , 82 Pb , 82 Pb und dem stabilen Wismutkern 209 83 Bi. Die radioaktiven Ausgangskerne befinden sich in der Erdkruste, von dort gelangen sie in Baumaterialien und von dort z.B. in die Zimmerw¨ande. Unter den radiokativen Zwischenkernen befindet sich auch das Edelgas Radon, das aus der Erdkruste oder aus den W¨ anden in die Luft tritt und eingeatmet wird. Neben diesen radioaktiven Zerfallketten gibt es eine große Anzahl von weiteren radioaktiven Kernen mit langen Lebensdauern in der Natur. Das 9 bekannteste Beispiel ist wohl das 40 19 K mit einer Lebensdauer τ = 1,9 · 10 a,

16.5 Die radioaktive Belastung des Menschen

445

das wir mit der Nahrung aufnehmen. Mit der Nahrung nehmen wir auch auf das radioaktive 146 C, das zwar nur eine Lebensdauer τ = 8 · 103 a besitzt, das aber st¨ andig von der H¨ ohenstrahlung neu produziert wird. ¨ Die Aquivalenzdosis der terrestrischen Strahlung h¨angt stark von dem Ort ab. In der N¨ ahe von Uranlagerst¨ atten ist sie nat¨ urlich hoch, weit davon entfernt ist sie klein. In Deutschland schwankt die j¨ahrliche Belastung zwischen 0,1 · 10−3 Sv a−1 in Schleswig-Holstein und 1 · 10−3 Sv a−1 in BadenW¨ urttemberg. Es gibt bewohnte Orte in der Welt, wo noch wesentlich h¨ohere Belastungen erreicht werden. Zum Beispiel in Indien mit ca. 27 · 10−3 Sv a−1 , in Brasilien mit ca. 87·10−3 Sv a−1 , und ein extremer Wert findet sich offenbar im Iran, wo ca. 200 · 10−3 Sv a−1 gemessen werden. Neben den nat¨ urlichen Quellen f¨ ur die radioaktive Belastung gibt es auch solche, f¨ ur die der Mensch selbst verantwortlich ist. Zu den st¨arksten dieser Quellen geh¨ ort der Einsatz von R¨ ontgenger¨ aten und radioaktiven Pr¨aparaten in der Medizin. Verglichen damit ist die Belastung durch Kernkraftwerke wegen der strengen Sicherheitsvorschriften vernachl¨assigbar klein. Diese Belastung ist etwa ebenso groß wie die, welche durch konventionelle Kraftwerke auf der Basis von fossilen Brennstoffen verursacht wird. Brennstoffe enthalten n¨ amlich ebenfalls radioaktive Beimischungen, die mit dem Abgas ins Freie gelangen. F¨ ur die Gesamtbelastung des Menschen ergibt sich die Zusammenstellung in Tabelle 16.4. Insgesamt betr¨ agt die j¨ahrliche radioaktive Belastung age zur radioaktiven Belastung des Menschen Tabelle 16.4. Beitr¨ Radioaktive Quelle

Nat¨ urliche Belastung

H¨ ohenstrahlung Terrestrische Strahlung im Freien in H¨ ausern Nahrungsaufnahme

0,3

total

2,0

Menschlich Anwendung in Medizin verursachte Kernkraftwerk Belastung Konventionelles Kraftwerk total insgesamt

J¨ ahrliche ¨ Aquivalenzdosis (mSv a−1 )

0,4 1,0 0,3

2,0 0,01 0,01 2,0 4,0

des Menschen durch nat¨ urliche und k¨ unstliche Quellen etwa 4 mSv a−1 . Dies ist zu vergleichen mit den durch die Strahlenschutzverordnung festgelegten Grenzen f¨ ur eine zus¨ atzliche Belastung. Bei diesen Belastungsgrenzen wird unterschieden zwischen den normal exponierten Personen, die keiner

446

16 Kernphysik

¨ arztlichen Uberwachung unterliegen, und den beruflich exponierten Personen, ¨ ¨ die der a unterliegen. Es gelten folgende j¨ahrlichen Be¨rztlichen Uberwachung lastungsgrenzen • •

Normal exponiert: 1 mSv a−1 . Beruflich exponiert: 20 mSv a−1 , einmalig 50 mSv a−1 , im Lebensalter nicht mehr als 400 mSv.

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Unter einem Vielteilchensystem versteht man ein System aus n Teilchen, wobei n eine so große Zahl ist, dass es keinen Sinn macht, die Trajektorie jedes einzelnen Teilchens im Phasenraum beschreiben zu wollen. Selbst wenn wir voraussetzen, dass es sich um freie Teilchen in einem abgeschlossenen Volumen V handelt, also keine Kr¨ afte auf oder zwischen den Teilchen wirken, so werden sich wegen der elastischen St¨ oße zwischen den Teilchen bzw. zwischen den Teilchen und der Wand des Volumens ihre Trajektorien st¨andig ver¨andern. Unter diesen Bedingungen ist es sinnvoller, man beschreibt die Eigenschaften des Systems durch Mittelwerte, z.B. die innere Energie U des Systems durch den Mittelwert der kinetischen Energie aller freien Teilchen, vergleichen Sie mit Gleichung (6.42): U = n εkin  =

3 n RT . 2

(17.1)

Da wir im Folgenden immer freie Teilchen betrachten, schreiben wir zur Vereinfachung f¨ ur die kinetische Energie einfach ε. Mit ε bezeichnen wir in diesem Kapitel die Energie eines einzelnen Teilchens, mit E = n ε die Energie des Vielteilchensystems. In dem Kap. 6, in dem wir uns mit der Thermodynamik besch¨aftigten, haben wir diese Methode zur Beschreibung eines idealen Gases benutzt. Das ideale Gas ist ein klassisches Vielteilchensystem, d.h. jedes Teilchen gehorcht den Gesetzen der klassischen Physik und alle Teilchen besitzen denselben Mittelwert ε, wenn sich das System im thermischen Gleichgewicht befindet. Wir kennen aber bereits Systeme, in denen die Teilchen nicht mehr den Gesetzen der klassischen Physik gehorchen, sondern ihre Energien gequantelt sind. Wir nennen derartige Systeme kurz Quantensysteme, dazu geh¨oren z.B. die freien Elektronen in einem metallischen Leiter, die f¨ ur dessen Stromleitung verantwortlich sind. Aber auch die Nukleonen in einem Kern kann man u.U. wie ein Quantensystem behandeln, denn auch sie erf¨ ullen zwei Bedingungen:

448

• •

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Sie sind, wegen des Pauli-Prinzips, in gewissem Umfang frei. Sie sind eingeschlossen in einem festen Volumen, dem Kernvolumen VK .

Unsicher ist, ob ihre Anzahl A gen¨ ugend groß ist, sodass sich die Kerneigenschaften durch Mittelwerte beschreiben lassen. Die Frage ist dann, wie berechnet man die Mittelwerte in einem Vielteilchensystem. Die Antwort h¨ angt davon ab, ob es sich um ein System aus klassischen Teilchen oder um ein Quantensystem handelt. Den Grund f¨ ur diese Unterscheidung finden wir in der fundamentalen Annahme dar¨ uber, ob ein Teilchen von allen anderen Teilchen unterschieden werden kann oder ob das unm¨ oglich ist. In einem klassischen Vielteilchensystem sind die Teilchen unterscheidbar: Jedes Teilchen kann mit einer Nummer versehen werden, welche dieses Teilchen von allen anderen Teilchen unterscheidet. Die Vertauschung von zwei Teilchen im Phasenraum ergibt daher einen neuen Zustand des Systems. In einem Quantensystem sind die Teilchen nicht unterscheidbar: Die Vertauschung von zwei Teilchen im Phasenraum ver¨ andert den Zustand des Systems nicht. Wir werden uns im Folgenden damit besch¨ aftigen, welche Konsequenzen diese unterschiedlichen Annahmen u ¨ ber die Unterscheidbarkeit von Teilchen auf die Eigenschaften des Systems haben. Unsere Vorgehensweise wird durch die vorausgegangenen Kapitel festgelegt. Ein Teilchen i, das einen bestimmten Zustand j besetzt, wird durch eine Wellenfunktion ψj (i) beschrieben. F¨ ur den Fall, dass es sich um einen gebundenen Zustand handelt, steht der Index j f¨ ur alle Quantenzahlen, die notwendig sind, um den Zustand eindeutig zu beschreiben. Handelt es sich aber um freie Teilchen, liegen die Zust¨ ande im Energiekontinuum mit Energie ε, das wiederum ein Teil des gesamten Phasenraums ist, der selbst in Zellen allt. In diesem Fall repr¨asentiert der Index j eine von der Gr¨ oße dΠ = h3 zerf¨ der vielen Phasenraumzellen dΠ.

17.1 Die Vielteilchenwellenfunktion Unsere Aufgabe ist, aus den Wellenfunktionen ψj (i) der einzelnen Teilchen die Wellenfunktion des Systems zu konstruieren. Um das Problem prinzipiell zu erl¨ autern, beschr¨ anken wir uns auf ein System aus zwei Teilchen 1 ≤ i ≤ 2, das nur zwei Zust¨ ande 1 ≤ j ≤ 2 besitzt. Allgemein ergibt sich die Wellenfunktion des Systems durch Multiplikation der Wellenfunktionen aller Teilchen. In einem klassischen System f¨ uhrt dies zu vier Wellenfunktionen, die vier verschiedene Zust¨ ande des Systems beschreiben:

17.1 Die Vielteilchenwellenfunktion

449

Ψ1 (1, 2) = ψ1 (1) ψ1 (2) , (beide Teilchen im Zustand 1) Ψ2 (1, 2) = ψ1 (1) ψ2 (2) , (je ein Teilchen im Zustand 1 oder 2) Ψ3 (1, 2) = ψ2 (1) ψ1 (2) , (je ein Teilchen im Zustand 1 oder 2) Ψ4 (1, 2) = ψ2 (1) ψ2 (2) , (beide Teilchen im Zustand 2) In einem Quantensystem beschreiben dagegen die Systemwellenfunktionen Ψ2 (1, 2) und Ψ3 (1, 2) den exakt gleichen Zustand des Systems. Denn es spielt keine Rolle, welches Teilchen sich im Zustand 1 oder 2 befindet, da zwischen den Teilchen nicht unterschieden werden kann. Daher setzt sich die Wellenfunktion eines Quantensystems aus beiden M¨oglichkeiten zusammen: 1 Ψ± (1, 2) = √ (Ψ2 (1, 2) ± Ψ3 (1, 2)) 2

(17.2)

Der Normierungsfaktor 2−1/2 muss auftreten, damit die Gesamtwahrscheinlichkeit der Besetzung von zwei Zust¨ anden im Phasenraum genau eins ergibt. ¨ In der Gleichung (17.2) haben wir beide M¨oglichkeiten der Uberlagerung ¨ von Wellen ber¨ ucksichtigt, die konstruktive Uberlagerung (+) und die de¨ struktive Uberlagerung (−). Diese beiden M¨ oglichkeiten beschreiben aber total verschiedene Quantensysteme, d.h. verschiedene Quantenteilchen, die diese Systeme aufbauen. Man erkennt dies sofort, wenn wir die Eigenschaften des Quantensystems f¨ ur den Fall untersuchen, dass beide Teilchen den gleichen Zustand i besetzen. Die Gleichung (17.2) liefert f¨ ur die konstruktive ¨ Uberlagerung dann die Systemwellenfunktion √ 1 Ψ+ (1, 2) = √ (ψi (1) ψi (2) + ψi (2) ψi (1)) = 2 ψi (1) ψi (2) . 2

(17.3)

Diese Wellenfunktion ist identisch zu den √ klassischen Wellenfunktionen Ψ1 (1, 2) bzw. Ψ4 (1, 2), bis auf den Vorfaktor 2. Wenn wir uns daran erinnern, dass P = |Ψ+ (1, 2)|2 ein Maß f¨ ur die Wahrscheinlichkeit ist, dass zwei Teilchen diesen Zustand besetzen, dann ist PBE (2) = 2 |ψi (1) ψi (2)|2 = 2 PMB (2) .

(17.4)

Das bedeutet, das Quantensystem, das wir mit dem Index BE versehen haben, ist so beschaffen, dass zwei Quantenteilchen mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit (verglichen mit der Wahrscheinlichkeit PMB (2) eines klassischen Systems) denselben Zustand besetzen. Diese Eigenschaft zeichnet die Bosonen aus, daher steht der Index BE f¨ ur die Namen der Physiker Bose (1894 - 1947) und Einstein (1879 - 1956), die sich mit den Eigenschaften von Bosonensystemen besonders besch¨ aftigt haben, w¨ ahrend der Index MB f¨ ur die Physiker Maxwell (1831 - 1879) und Boltzmann (1844 - 1906) steht, die sich mit den klassischen Vielteilchensystemen besch¨ aftigt haben, siehe Kap. 6. Das Ergebnis (17.4) k¨ onnen wir auch so ausdr¨ ucken: Die Besetzung des Phasenraums mit Bosonen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit die Phasenraumzellen besetzen, die bereits mit anderen Bosonen besetzt

450

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

sind. Die Phasenraumbesetzung zeichnet sich durch eine Klumpenbildung aus, die uns bereits in den Kap. 13.1 und 15.2.3 aufgefallen war. Bezogen auf die Wellenfunktion eines Quantensystems aus Bosonen gilt daher: Die Wellenfunktion eines Systems aus Bosonen ist symmetrisch gegen¨ uber der Vertauschung von zwei Bosonen, d.h. sie ver¨andert bei Teilchenvertauschung ihr Vorzeichen nicht. Das Verhalten der Systemwellenfunktion Ψ− (1, 2) ist, verglichen damit, total verschieden. Betrachten wir auch hier den Fall, dass beide Teilchen denselben Zustand besetzen. Die Systemwellenfunktion lautet dann 1 Ψ− (1, 2) = √ (ψi (1) ψi (2) − ψi (2) ψi (1)) = 0 , 2

(17.5)

und die Besetzungswahrscheinlichkeit betr¨ agt PFD (2) = 0 .

(17.6)

Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Teilchen denselben Zustand besetzen, ist null, und dies ist eine charakteristische Eigenschaft der Fermionen. Denn eine Doppelbesetzung ist wegen des Pauli-Prinzips ausgeschlossen, jeder Quantenzustand kann nur mit maximal einem Fermion besetzt sein. Der Index FD in Gleichung (17.6) steht f¨ ur die Physiker Fermi (1901 - 1954) und Dirac (1902 - 1984), welche die Statistik von Fermionensystemen entwickelt haben. Bezogen auf die Wellenfunktion eines Fermionensystems gilt daher: Die Wellenfunktion eines Systems aus Fermionen ist antisymmetrisch gegen¨ uber der Vertauschung von zwei Fermionen, d.h. sie wechselt bei Teilchenvertauschung ihr Vorzeichen.

17.2 Die statistische Verteilungsfunktion Die verschiedenen Symmetrien der Systemwellenfunktion entscheiden, wie und mit wie vielen Teilchen die Zellen des Phasenraums besetzt werden k¨ onnen. Die Besetzung eines einzelnen Zustands, der durch seine Energie ε gekennzeichnet ist, wird beschrieben durch die Verteilungsfunktion f (ε), deren Form davon abh¨ angt, ob sich die Teilchen wie klassische Teilchen oder wie Quantenteilchen verhalten. Wir setzen wieder ein System mit zwei Zust¨ anden und ihren Energien ε1 < ε2 voraus; die Gesamtenergie des Systems ist wie in Gleichung (6.34) durch seine Temperatur T gegeben. Dann wird im Mittel der Zustand 1 mit n(ε1 ) Teilchen besetzt sein, der Zustand 2 mit n(ε2 ) Teilchen. Aber gleichzeitig werden auch Teilchen mit der ¨ Ubergangswahrscheinlichkeit P1→2 von dem Zustand 1 in den Zustand

17.3 Die Bose-Einstein-Statistik

451

¨ 2 wechseln, und mit der Ubergangswahrscheinlichkeit P2→1 geschieht der ¨ ¨ Ubergang von 2 nach 1. Diese beiden Ubergangswahrscheinlichkeiten m¨ ussen gleich groß sein, denn im thermischen Gleichgewicht darf sich die Besetzung eines Zustands nicht ver¨ andern, P1→2 = P2→1 .

(17.7)

¨ Wovon h¨ angen die Ubergangswahrscheinlichkeiten ab? In einem klassischen Vielteilchensystem davon, wie viele Teilchen den Anfangszustand besetzen, und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, den Endzustand neu zu besetzen. Das heißt, wir finden n(ε1 ) P (ε2 ) = n(ε2 ) P (ε1 ) ,

(17.8)

oder n(ε2 ) fMB (ε2 ) P (ε2 ) = = = exp n(ε1 ) fMB (ε1 ) P (ε1 )



ε1 − ε2 kT

.

(17.9)

Dabei haben wir die Ergebnisse des Kap. 6 benutzt, insbesondere die Gleichung (6.134), die die relative Besetzungswahrscheinlichkeit von zwei vorher unbesetzten Zust¨ anden angibt. Dar¨ uber hinaus kennen wir auch schon die Verteilungsfunktion der Teilchen im Phasenraum, wenn es sich um klassische Teilchen handelt. Ausgedr¨ uckt als Funktion der Energie ε und mit dem Index MB versehen, um ein klassisches Vielteilchensystem zu charakterisieren, gilt gem¨ aß Gleichung (6.131) n(ε) = fMB (ε) = C0 e−ε/(kT ) .

(17.10)

C0 ist die Normierungskonstante, die ber¨ ucksichtigt, dass das System eine vorgegebene und konstante Anzahl n von Teilchen enth¨alt. Im Folgenden werden wir uns u ur Quantensysteme aussieht. ¨ berlegen, wie die Verteilungsfunktion f¨ Dabei ist zu ber¨ ucksichtigen, dass die Teilchenenergien gequantelt sind und die Symmetrie der Systemwellenfunktion die klassische Gleichung (17.10) f¨ ur die Besetzung der Energiezust¨ ande modifiziert.

17.3 Die Bose-Einstein-Statistik Handelt es sich um ein Quantensystem aus Bosonen, so wissen wir bereits, dass die Besetzungswahrscheinlichkeit eines Zustands davon abh¨angt, wie viele Bosonen sich bereits in diesem Zustand befinden. F¨ ur den Fall, dass ein zweites Boson einen Zustand besetzt, der bereits mit einem Boson besetzt ist, ergibt die Gleichung (17.4) 2

PBE (2) = 2 (PBE (1)) = (1 + 1) PBE (1) PBE (1) .

(17.11)

452

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Der Vorfaktor (1 + 1) im rechten Teil dieser Gleichung stellt die Verst¨arkung der Besetzungswahrscheinlichkeit dar: Sie steigt um den Faktor 2, wenn ein zweites Boson den mit einem Boson bereits besetzten Zustand zus¨atzlich besetzt. Dieses Gesetz l¨ asst sich verallgemeinern. Nehmen wir an, der Zustand sei bereits mit n Bosonen besetzt, dann betr¨ agt die Wahrscheinlichkeit, ihn zus¨ atzlich mit dem (n + 1)ten Boson zu besetzen PBE (n + 1) = (1 + n) PBE (n) PBE (1) = (n + 1)! (PBE (1))(n+1) . (17.12) Der Verst¨ arkungsfaktor f¨ ur die Besetzung durch das (n + 1)te Boson ist also (1 + n), und das muss in Gleichung (17.8) ber¨ ucksichtigt werden. F¨ ur Bosonen gilt daher die modifizierte Gleichung n(ε1 ) (1 + n(ε2 )) P (ε2 ) = n(ε2 ) (1 + n(ε1 )) P (ε1 ) ,

(17.13)

ε  ε  n(ε1 ) n(ε2 ) 1 2 exp exp = . 1 + n(ε1 ) kT 1 + n(ε2 ) kT

(17.14)

oder

Dies gilt f¨ ur beliebige Energien ε1 und ε2 ; daher m¨ ussen beide Seiten der Gleichung (17.14) denselben konstanten Wert C+ besitzen. Es ergibt sich  ε  n(ε) exp = C+ 1 + n(ε) kT

(17.15)

und daraus folgt n(ε) = fBE (ε) =



−1  ε  1 −1 exp . C+ kT

(17.16)

Dabei ist C+ eine Konstante, die im Prinzip so bestimmt werden muss, dass sich die Anzahl der Bosonen im System nicht ver¨andert, also  n 2s + 1 (17.17) fBE (ε) g(ε) dε = h3 V gilt. Hier taucht zus¨ atzlich im Vergleich zur klassischen Gleichung (6.129) die Multiplizit¨ at 2s + 1 auf, weil Quantenteilchen auch durch die Einstellung ihres Spins unterschieden werden k¨ onnen. Bosonen sind Teilchen mit ganzzahliger Spinquantenzahl s, und in der Natur existieren verschiedene Typen derartiger Teilchen. Zum Beispiel ist das 42 He-Atom ein Boson mit s = 0, ebenso wie das doppelt ionisierte 42 He++ -Ion, aber das einfach ionisierte 42 He+ -Ion ist ein Fermion, denn es besitzt die Spinquantenzahl s = 1/2. Alle diese Teilchen besitzen eine große Ruhemasse und zum Teil auch eine Ladung. Daher k¨ onnen wir immer davon ausgehen, dass die Anzahl der 4 He-Bosonen in diesen Systemen sich nicht ver¨andert und die Bedingung 2 (17.17) erf¨ ullt werden muss. Die Berechnung des Integrals ist geschlossen

17.3 Die Bose-Einstein-Statistik

453

nicht m¨ oglich, aber es stellt sich heraus, dass unter Normalbedingungen 1/C+ ≫ 1 gilt. Man bezeichnet das Bosonensystem in diesem Fall als nicht entartet, und der Term −1 in Gleichung (17.16) kann vernachl¨assigt werden. ur ein nicht entartetes Dann ist fBE (ε) ≈ C+ exp (−ε/(k T )), und man erh¨alt f¨ Quantensystem aus Bosonen fBE (ε) ≈ fMB (ε) .

(17.18)

Ein nichtentartetes Quantensystem aus Bosonen, z.B. das 42 He-Gas unter Normalbedingungen, verh¨ alt sich wie ein klassisches Vielteilchensystem. Was aber passiert, wenn die Bedingung f¨ ur die Nichtentartung 1/C+ ≫ 1 nicht erf¨ ullt ist? Dann kann es geschehen, dass 1/C+ exp(ε/(k T )) = 1 oder sogar 1/C+ exp(ε/(k T )) < 1 wird. Der zweite Fall darf nicht auftreten, weil dann die Anzahl der Bosonen in dem Zustand mit Energie ε negativ werden w¨ urde. Aber auch der erste Fall exp(ε/(k T )) = C+ bedeutet, dass fBE (ε) → ∞ divergiert, stellt also einen Grenzfall in der Besetzung des Phasenraums mit Bosonen dar. Diesen Grenzfall bezeichnet man als Bose-Einstein-Kondensation. Im kondensierten Zustand vergr¨oßert sich der r¨ aumliche Teil des Phasenraums dV auf das gesamte zur Verf¨ ugung stehende Volumen V , und alle Bosonen besitzen dieselbe Energie ε. Die Konsequenz ist, dass sich die Wellenfunktion des kondensierten Systems nicht mehr als das Produkt aus Teilchenwellenfunktionen darstellen l¨asst, wie in Gleichung (17.3), denn die Teilchen haben ihre Individualit¨at vollst¨andig verloren, sondern die Wellenfunkion ergibt sich als L¨ osung der Schr¨odinger-Gleichung f¨ ur den kondensierten Zustand. Die Heisenberg’schen Unsch¨ arferelationen ¨ atzen, bei welcher der Ubergang erlauben uns aber, die Temperatur TE abzusch¨ in den kondensierten Zustand erfolgt. Aus 1/3  n 1/3 V , (17.19) folgt dpx ≈ h dx ≈ n V und damit ergibt sich

ε = k TE = also

3 h2  n 2/3 3 2 (dpx ) ≈ , 2m 2m V

TE ≈

3 h2  n 2/3 . 2mk V

(17.20)

(17.21)

Man nennt TE die Einstein-Temperatur, ihr Wert ist f¨ ur ein Gas aus Teilchen mit der Masse m ≈ 100 u und bei einer Teilchendichte von n/V ≈ 1018 m−3 geringer als TE < 10−6 K. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Bose-Einstein-Kondensation erst 1995 experimentell beobachtet wurde, nachdem die Technik zur Erzielung derart tiefer Temperaturen entwickelt worden war.

454

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

17.3.1 Die Hohlraumstrahlung Im letzten Kapitel haben wir Systeme behandelt, in denen die Anzahl der Bosonen sich nicht ver¨ andert. Es gibt aber auch Systeme, in denen die Gesamtanzahl der Bosonen nicht erhalten ist. Das bekannteste Beispiel f¨ ur ein Boson, das sowohl erzeugt wie auch vernichtet werden kann, ist das Photon mit Spinquantenzahl s = 1. Das Photon besitzt keine elektrische Ladung und keine Ruhemasse, aber es besitzt Energie und Impuls, die mit anderen Quantenteilchen ausgetauscht werden k¨ onnen. Ein Prozess f¨ ur die Photonerzeugung ist z.B. die Elektron-Positron-Vernichtung (Anmerkung 16.0.1), ein Prozess f¨ ur die Photonvernichtung die Paarerzeugung (Kap. 13.3). In der Tat, jede Lichtquelle ist ein Beweis daf¨ ur, dass die Photonenzahl in einem Quantensystem nicht erhalten sein muss. In einem Vielteilchensystem aus Photonen ist die Gesamtzahl der Photonen im Allgemeinen nicht erhalten. In diesem Fall ergibt sich f¨ ur die Konstante C+ ein Wert C+ = 1 und die Anzahl der Photonen im Zustand mit Energie ε betr¨agt −1   ε  fBE (ε) = exp −1 . (17.22) kT

Unter Normalbedingungen ist k T0 = 0,024 eV, d.h. f¨ ur Photonenenergien h ν > 1 eV ist fBE (ε) ≈ fMB (ε) und das Photonensystem verh¨alt sich wie ein klassisches Vielteilchensystem. Die Abweichungen vom klassischen Verhalten werden erst bei kleinen Frequenzen beobachtbar. Zuerst gelang es Planck im Jahr 1900, diese Abweichung mithilfe der Quantennatur des Photons zu erkl¨ aren. Wir werden diese Erkl¨ arung, allerdings auf eine andere Weise, jetzt nachvollziehen. Mit fBE (ε) kennen wir die Anzahl der Photonen, die einen Zustand mit Energie ε = h ν bei der Temperatur T im thermischen Gleichgewicht besetzen. Wir kennen aber noch nicht die Zustandsdichte g(ε), d.h. die Anzahl der Zust¨ ande in einem gegebenen Energieintervall dε. Photonen besitzen keine Ruhemasse, und daher gilt ε = c p bzw. dε = d(c p), wenn p der Impuls des Photons ist. Man kann in der Zustandsdichte g(ε) daher die Energie auch durch den Impuls ersetzen, also g(cp) berechnen. Weiterhin m¨ ussen wir uns Gedanken zur Multiplizit¨ at der Photonen machen. Obwohl Photonen die Spinquantenzahl s = 1 besitzen, betr¨ agt ihre Multiplizit¨at nur 2. Dies ergibt sich experimentell aus der Tatsache, dass der elektrische Feldvektor immer senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung des Lichts stehen muss und daher nur rechts oder links zirkular polarisiertes Licht existieren kann. Der eigentliche Grund f¨ ur die scheinbare Verkleinerung der Multiplizit¨at ist die verschwindende Ruhemasse des Photons. Die Anzahl der Photonenzust¨ande in einem gegebenen Impulsintervall betr¨ agt daher 2 2s + 1 g(ε) dε = 3 3 4π (cp)2 d(cp) . h3 h c

(17.23)

17.3 Die Bose-Einstein-Statistik

455

Wegen c p = h ν ergibt sich daraus 2s + 1 8π g(ε) dε = 3 ν 2 dν . h3 c

(17.24)

Mithilfe der Gleichung (17.17) l¨ asst sich so die Anzahl der Photonen pro Frequenzintervall dν berechnen: Das Planck’sche Strahlungsgesetz Die Anzahl der Photonen dn pro Frequenzinterval dν in einem Hohlraum mit dem Volumen V und der Temperatur T ist gegeben durch dn =

ν 2 dν 8π V . c3 eh ν/k T − 1

(17.25)

Man nennt einen K¨ orper, der bei der Temperatur T diese Photonenverteilung besitzt, einen schwarzen K¨ orper. Um einen schwarzen K¨orper experimentell zu realisieren, benutzt man eine vollst¨ andig absorbierende Hohlkugel, deren Wand die Temperatur T besitzt. Im Inneren der Hohlkugel wird dann ein elektromagnetisches Feld erzeugt, dass sich als Quantensystem aus Photonen beschreiben l¨ asst und die Photonenverteilung (17.25) besitzt. Man kann diese Verteilung messen, indem man ein kleines Loch in die Wand der Hohlkugel bohrt und einen Teil der Strahlung austreten l¨asst. Wenn die Wand auf konstanter Temperatur gehalten wird, ist die St¨orung der Photonenverteilung durch das Loch vernachl¨ assigbar klein. Die Intensit¨at der durch das Loch austretenden Strahlung dI pro Frequenzintervall dν ist definitionsgem¨aß (siehe Gleichung (9.116)) dI = c

ν 3 dν dn 8π h dε = chν = 2 h ν/k T . V V c e −1

(17.26)

Mithilfe des Planck’schen Strahlungsgesetzes lassen sich eine ganze Reihe von Aussagen u ¨ ber die Strahlung eines schwarzen K¨orpers machen. Von diesen wollen wir nur zwei der wichtigsten diskutieren. •

Das Wien’sche Verschiebungsgesetz

In Abb. 17.1 ist die spektrale Intensit¨ atsverteilung dI/dλ = (ν/λ) dI/dν als Funktion der Wellenl¨ ange λ aufgetragen. Die Intensit¨atsverteilung besitzt bei einer bestimmten Wellenl¨ ange λmax einen maximalen Wert, der von der Temperatur T des schwarzen K¨ orpers abh¨ angt. Durch Ableitung d2 I/dλ2 = 0 kann man verifizieren, dass die Position maximaler spektraler Intensit¨at bestimmt wird durch das Wien’sche Verschiebungsgesetz T λmax = konst = 0,0029 m K.

(17.27)

Zum Beispiel kann man die Sonne recht gut als schwarzen Strahler behandeln. Bei einer Oberfl¨ achentemperatur von T = 6000 K liegt daher das Maximum

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

dI dλ

Abb. 17.1. Die Strahlungsintensit¨ at dI, die von einem schwarzen K¨ orper pro Wellenl¨ angenintervall dλ bei verschiedenen Temperaturen T emittiert wird. Der spektrale Bereich des sichtbaren Lichts ist schattiert dargestellt. Erst bei Temperaturen T > 5000 K liegt das Maximum der Intensit¨ atsverteilung im sichtbaren Bereich

T = 1650 K sichtbares Licht

456

1450 K 1250 K 1000 K

1

2 .. 3 4 5 Wellenlange λ ( µ m)

der von der Sonne emittierten Strahlung bei der Wellenl¨ ange λmax = 480 nm, also im gelben Teil des sichtbaren Spektralbereichs. •

Das Stefan-Boltzmann’sche Strahlungsgesetz

Durch Integration u ¨ ber alle Frequenzen und den Raumwinkel ergibt sich aus Gleichung (17.26) die Gesamtintensit¨ at I, die ein schwarzer Strahler bei der Temperatur T pro Zeiteinheit emittiert. Diese Intensit¨ at kann nur noch von der Temperatur abh¨ angen, die Integration der Gleichung (17.26) ist jedoch so aufwendig, dass wir nur das Ergebnis notieren wollen: Die Gesamtintensit¨ at eines schwarzen Strahlers betr¨ agt I = σ T4

mit

σ = 5,6705 · 10−8 W m−2 K−4 .

(17.28)

Auch hier kann man aus der Oberfl¨ achentemperatur und der Oberfl¨ ache der Sonne berechnen, wie viel Energie die Sonne pro Zeit abstrahlt. Diese Leistung ist unglaublich groß, sie betr¨ agt P⊙ = 4 · 1026 W. Davon erreicht die Erdoberfl¨ ache allerdings nur ein sehr geringer Bruchteil. Und zwar betr¨ agt dieser Bruchteil, wenn man die Reflexionsverluste an der Erdatmosph¨ are noch ber¨ ucksichtigt, pro Erdoberfl¨ ache und gemittelt u ¨ ber ein Jahr nur noch I⊕ = 218 W m−2 .

17.4 Die Fermi-Dirac-Statistik

457

17.4 Die Fermi-Dirac-Statistik Neben den Bosonen gibt es in der Natur auch die Fermionen, also Teilchen mit halbzahliger Spinquantenzahl. Die bekanntesten Beispiele f¨ ur Fermionen sind das Elektron und die Nukleonen mit Spinquantenzahl s = 1/2. Die Fermionen gehorchen dem Pauli-Prinzip, d.h. es k¨onnen nicht mehr als ein Fermion einen Quantenzustand besetzen. Ausgedr¨ uckt mithilfe der Besetzungswahrscheinlichkeit ergibt die Gleichung (17.6) PFD (2) = (1 − 1) (PFD (1))2 = 0 .

(17.29)

Und entsprechend muss Gleichung (17.8) f¨ ur ein Quantensystem aus Fermionen modifiziert werden, so wie wir es auch f¨ ur ein Quantensystem aus Bosonen getan haben: n(ε1 ) (1 − n(ε2 )) P (ε2 ) = n(ε2 ) (1 − n(ε1 )) P (ε1 )

(17.30)

ε  ε  n(ε2 ) n(ε1 ) 1 2 exp exp = . 1 − n(ε1 ) kT 1 − n(ε2 ) kT

(17.31)

oder

Dies gilt f¨ ur beliebige Energien ε1 und ε2 , daher m¨ ussen beide Seiten der Gleichung (17.31) denselben konstanten Wert C− besitzen. Es ergibt sich  ε  n(ε) exp = C− , (17.32) 1 − n(ε) kT

daraus folgt

n(ε) = fFD (ε) =



−1  ε  1 +1 exp . C− kT

(17.33)

Dabei ist C− eine Konstante, die so bestimmt werden muss, dass sich die Fermionenzahl in dem System nicht ver¨ andert. Denn im Gegensatz zu den Bosonen gilt In einem Quantensystem aus Fermionen ist die Gesamtzahl der Fermionen immer erhalten. Es ist u ¨ blich, dass die Normierungskonstante C− mit in den Exponenten der Gleichung (17.33) geschrieben wird, d.h. man erh¨alt f¨ ur die Anzahl der Fermionen in einem Zustand mit der Energie ε

−1 ε − εF , (17.34) fFD (ε) = exp +1 kT wobei εF = k T ln C− die Fermi-Energie ist. Da f¨ ur C− < 1 der Logarithmus ln C− < 0 ist, erkennen wir, dass die Fermi-Energie u.U. auch negativ werden kann. Wir werden bald erkennen, wann dies der Fall ist.

458

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Die Fermi-Energie berechnet sich aus der Bedingung  n 2s + 1 fFD (ε) g(ε) dε = , h3 V

(17.35)

wobei g(ε) die Anzahl der Zust¨ ande im Energieintervall dε angibt. Im Gegensatz zu dem Photon besitzen alle oben genannten Fermionen in der nichtrelativistischen N¨ aherung eine Ruhemasse m0 = m. Daher finden wir mithilfe der Gleichung (6.130) √ 2s + 1 2s + 1 3/2 g(ε) = 4π m 2ε . h3 h3

(17.36)

Das heißt, f¨ ur diese Fermionen mit Spinquantenzahl s = 1/2 ergibt sich f¨ ur den zu integrierenden Teil auf der linken Seite von Gleichung (17.35) √ 2s + 1 8π fFD (ε) g(ε) = 3 m3/2 2 ε 3 h h



exp



ε − εF kT

+1

−1

. (17.37)

Die Berechnung des Integrals in Gleichung (17.35) ist geschlossen nicht durchf¨ uhrbar, und wir wollen uns daher auf zwei Grenzf¨alle beschr¨anken, und f¨ ur diese die Fermi-Energie bestimmen. 1) Das nichtentartete Fermionensystem Dieser Fall tritt auf, wenn e(ε−εF )/(k T ) ≫ 1 ist, also die +1 in Gleichung (17.34) vernachl¨assigt werden kann. Diese Bedingung verlangt, dass εF < −k T , ist, die Fermi-Energie muss also negativ sein. Ein Fermionensystem mit negativer Fermi-Energie ist ein nichtentartetes Fermionensystem. Die Fermi-Energie ergibt sich f¨ ur ein derartiges System aus der Normierungsbedingung (17.35)  √ n 8π = 3 (2 m)3/2 eεF /(k T ) (17.38) e−ε/(k T ) ε dε V h 2 3/2 εF /(k T ) = 3 (2π m k T ) e h ¨ oder in Ubereinstimmung mit Gleichung (6.128) e−εF /(k T ) =

2V n



2π m k T h2

3/2

.

(17.39)

Da die rechte Seite dieser Gleichung > 1 ist, muss εF < 0 sein. Es ist leicht nachzurechnen, dass z.B. f¨ ur einfach ionisiertes 42 He+ unter Normalbedingungen die Fermi-Energie in der Gr¨ oßenordnung von εF ≈ −0,3 eV ist. In diesem Fall verh¨ alt sich das 42 He+ -Gas wie ein klassisches Vielteilchensystem, und

17.4 Die Fermi-Dirac-Statistik

fFD ( ε ) 1

T=0K T>0K

T >> 0 K

−εF 0

εF

ε

459

Abb. 17.2. Die Verteilungsur ein Ferfunktion fFD (ε) f¨ mionengas. Der Grad der Entartumg wird in diesem Bild durch die Temperatur T bestimmt. Ist T = 0, ist das Gas vollst¨ andig entartet, f¨ ur T > 0 ist die Entartung in der N¨ ahe der Fermi-Energie ur εF aufgehoben, und erst f¨ T ≫ 0 ist das Gas vollst¨ andig nichtentartet und besitzt eine negative Fermi-Energie

dieses Ergebnis ist ¨ aquivalent zu unseren Schlussfolgerungen f¨ ur ein anderes nichtentartetes Gas, in dem 42 He wegen seiner Spinquantenzahl s = 0 als Boson auftritt. Ob Fermion oder Boson, unter Normalbedingungen bildet neutrales oder geladenes 42 He ein ideales Gas, in dem die Quantennatur des 42 He unbeobachtbar bleibt. Erst bei sehr tiefen Temperaturen tritt diese Quantennatur in Erscheinung. Bei T = 2,2 K weicht die molare W¨armekapazit¨at von atomarem 42 He sprunghaft vom klassischen Wert CV = 3/2 R ab, und 42 He wird superfluid. 1) Das entartete Fermionensystem Dieser Fall tritt ein, wenn εF > k T wird, also die Fermi-Energie sehr stark positiv ist. In diesem Fall darf die +1 in Gleichung (17.34) nicht mehr vernachl¨ assigt werden, und f¨ ur T → 0 betr¨ agt die Anzahl der Fermionen in einem Zustand mit Energie ε ⎧ ur ε < εF , ⎨ 1 f¨ ur ε = εF , (17.40) fFD (ε) = 1/2 f¨ ⎩ 0 f¨ ur ε > εF . In Abb. 17.2 ist die Funktion fFD (ε) f¨ ur ein entartetes Fermionensystem dargestellt. Gibt es in der Natur entartete Fermionensysteme? Die Gleichung (17.39) l¨ asst erwarten, dass ein System dann entartet, wenn die Teilchendichte ρ = n/V sehr groß wird oder wenn die Teilchenmasse oder die Temperatur sehr klein werden. Unter Normalbedingungen erf¨ ullen die freien Elektronen in einem metallischen Leiter zwei dieser Bedingungen: • •

Elektronen besitzen, verglichen mit 42 He, eine wesentlich kleinere Ruhemasse. Die Elektronendichte ρ in einem Festk¨ orper ist wesentlich gr¨oßer als die Gasdichte, wenn jedes Gitteratom in dem Festk¨orper z.B. ein freies Elektron besitzt.

460

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Die Leitungselektronen in einem metallischen Leiter bilden ein entartetes Fermionensystem. F¨ ur ein entartetes Fermionensystem k¨ onnen wir die Fermi-Energie wiederum leicht bestimmen. Es gilt unter Ber¨ ucksichtigung von Gleichung (17.40) n 8π = 3 m3/2 V h =

8π V 3



εF √ 2 ε dε 0

2 m εF h2

3/2

(17.41)

,

und daraus ergibt sich die Fermi-Energie zu h2 εF = 2m



3n 8π V

2/3

,

(17.42)

also eine Funktion, die nur von der Masse m der Fermionen und ihrer Teilchendichte ρ abh¨ angt. Betrachten wir zuerst die Ladungselektronen in Kupfer(Cu). Ihre Ruhemasse betr¨ agt me = 0,5 MeV c−2 , ihre Teilchendichte ist ρe = 8,6 · 1028 m−3 , wenn jedes Cu-Atom eine freies Elektron besitzt. Daraus ergibt sich f¨ ur die Fermi-Energie der Leitungselektronen εF ≈ 7 eV. Dieser Wert ist unter Normalbedingungen wesentlich gr¨ oßer als die thermische Energie ε = 0, 024 eV der Elektronen. Die Leitungselektronen in Cu bilden also ein entartetes Fermionensystem. Betrachten wir jetzt die Nukleonen in einem Cu-Atomkern. Ihre Ruhemasse betr¨ agt mN = 931 MeV c−2 , ihre Teilchendichten sind, nach Protonen und Neutronen getrennt, ρK = 0, 8 · 1044 m−3 . Und daraus ergibt sich eine, verglichen mit den Leitungselektronen, noch wesentlich h¨ohere Fermi-Energie von ¨ mit unserer fr¨ uheren Absch¨atzung εF ≈ 40 MeV. Dies ist in Ubereinstimmung Gleichung (16.5). F¨ ur einen nichtangeregten Kern betr¨agt die Kerntemperatur T = 0 K, daher stellen auch die Nukleonen im Atomkern ein entartets Fermionensystem dar. F¨ ur beide Systeme wollen wir untersuchen, welche Eigenschaften f¨ ur die jeweiligen Systeme sich daraus ableiten lasssen. 17.4.1 Die molare W¨ armekapazit¨ at freier Leitungselektronen Die freien Elektronen in einem Festk¨ orper bilden ein Gas, das im Prinzip eine molare W¨ armekapazit¨ at besitzen sollte, so wie auch ideale Gase (z.B. 4 armekapazit¨ at besitzen. Verhielten sich die Elektronen 2 He) eine molare W¨ wie klassische Teilchen, sollte ihre W¨ armekapazit¨at CV = 3/2 R betragen, d.h. die gesamte molare W¨ armekapazit¨ at eines metallischen Leiters erg¨abe sich nach dem Dulong-Petit’schen Gesetz zu

17.4 Die Fermi-Dirac-Statistik

CV = 3 R +

461

9 3 R= R, 2 2

wenn pro Gitteratom ein freies Elektron existiert. Dies wird experimentell nicht beobachtet, vielmehr besitzten alle Festk¨orper bei Zimmertemperatur etwa dieselbe molare W¨ armekapazit¨ at von CV ≈ 3 R, siehe Tabelle 6.2. Die Anzahl freier Elektronen in einem Festk¨ orper ist offensichtlich ohne Bedeutung f¨ ur seine W¨ armekapazit¨ at. Der Grund daf¨ ur liegt in der Entartung des Elektronengases. Berechnen wir die mittlere Energie ε eines freien Elektrons, dann ergibt sich nach Gleichung (17.41), wenn wir nur die von der Energie abh¨angigen Faktoren ber¨ ucksichtigen, ∞ √ ε ε fFD (ε) dε . (17.43) ε = 0 ∞ √ ε fFD (ε) dε 0

Die Energieintegration erstreckt sich im Prinzip bis nach ∞. Wenn wir aber fFD (ε) nach Gleichung (17.40) f¨ ur ein entartetes Fermionensystem einsetzen, ergibt sich  εF √ ε ε dε 3 ε = 0 εF √ (17.44) = εF . 5 ε dε 0

Die mittlere Elektronenenergie ist daher unabh¨angig von der Temperatur T , und daher ist die molare W¨ armekapazit¨ at des entarteten Elektronengases CV =

dE d ε 3 dεF = nA = nA =0. dT dT 5 dT

(17.45)

Anschaulich bedeutet dieses Ergebnis, dass in der N¨ahe des absoluten Temperaturnullpunkts die thermische Energie nicht ausreicht, um ein Elektron in einen unbesetzten Zustand oberhalb der Fermi-Energie anzuregen. Bei Temperaturen T > εF /k ist das Elektronengas nicht mehr entartet, die Anregung der Elektronen w¨ are m¨ oglich und sie w¨ urden dann zur molaren W¨armekapazit¨at des Festk¨ orpers beitragen. Unsere Absch¨ atzung u ¨ ber die Gr¨oße von εF in Cu zeigt aber, dass bei diesen Temperaturen Cu l¨angst geschmolzen ist. 17.4.2 Das Fermi-Modell des Atomkerns Die Fermi-Energie der Protonen bzw. Neutronen in einem Atomkern mit Temperatur T = 0 betr¨ agt εF ≈ 40 MeV. Dies ist die Energie, bis zu der die Quantenzust¨ ande des Kerns vollst¨ andig mit Nukleonen besetzt sind, siehe Abb. 16.8. Da die mittlere Bindungsenergie der Nukleonen Ebin ≈ 8 MeV betr¨agt, muss die potentielle Energie der Nukleonen im Atomkern etwa E0 = −50 MeV betragen, und dies stimmt gut mit unserer Absch¨atzung Gleichung (16.1) u ¨ berein.

462

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Wie im Falle der Leitungselektronen kann auch ein Atomkern bei Temperatur T = 0 nicht angeregt werden, seine W¨ armekapazit¨at ist CV = 0 und die Dichte der vollst¨ andig besetzten Zust¨ ande betr¨ agt √ (17.46) gK (ε, T = 0) = g(ε) ∝ ε . Experimentell beobachtet man aber, dass ein Atomkern relativ leicht anzuregen ist, z.B. durch die Streuung langsamer Neutronen. Dabei besitzt der Streuquerschnitt immer dann einen maximalen Wert, wenn die Neutronenergie gerade der Anregungsenergie eines Kernzustands entspricht. Man bezeichnet dieses Verhalten als Resonanzstreuung. Durch die Anregung in den Resonanzzustand mit Energie ε erw¨ armt sich der Kern auf eine Temperatur T > 0 K. Welcher Zusammenhang besteht zwischen T und ε? Entwickeln wir die Energie nach der Temperatur um ε = 3/5 εF, so muss gelten ε=

3 εF + a (k T )2 + ... , 5

(17.47)

ur T = 0. Aus dem Ansatz (17.47) damit CV = dE/dT = A dε/dT = 0 f¨ folgt, was hier nicht bewiesen werden soll, dass die Anzahl der angeregten Kernzust¨ ande pro Energieintervall zunehmen muss wie gK (ε, T > 0) ∝ e2





.

(17.48)

Das bedeutet, dass die Zustandsdichte bei hohen Kerntemperaturen exponentiell mit der Wurzel der Energie zunimmt. Durch Abz¨ahlen der in der Neutronenstreuung beobachteten Resonanzen ist diese Aussage des statistischen Fermi-Modells experimentell verifiziert worden. Der Vorfaktor a hat die Gr¨ oße a ≈ 0,08 A MeV−1 , h¨ angt also von der Anzahl der Nukleonen ab. Die Zustandsdichte ist daher wesentlich gr¨ oßer, als das Schalenmodell mit einem Leuchtnukleon nach Abb. 16.7 erwarten l¨asst. Der Grund ist, dass die Wechselwirkung zwischen dem Leuchtnukleon und den A − 1 Nukleonen des restlichen Kerns die Zustandsdichte um einen Faktor A erh¨oht. Wir werden diesem Ph¨ anomen gleich im n¨ achsten Kap. 17.5 wieder begegnen, dann allerdings bei den Leuchtelektronen in einem Festk¨orper, deren Anzahl ne um mehr als 23 Gr¨ oßenordungen h¨ oher ist als die Anzahl der Nukleonen in einem Kern. Bei kleinen Kerntemperaturen und damit f¨ ur kleine Anregungsenergien ε l¨ asst sich die exponentielle Zustandsdichte in eine Taylor-Reihe um ε0 = 0 entwickeln, √ gK (ε, T ≈ 0) ∝ 1 + 2 a ε + ... , (17.49) und wir erhalten bis auf die 1, die den Grundzustand des Kerns ber¨ ucksichtigt, wiederum das Ergebnis (17.46).

17.5 Die Elektronenzust¨ ande in einem Festk¨ orper

463

Abstand r

ε

Atompositionen

Abb. 17.3. Die angeregten Zust¨ ande der H¨ ullenelektronen, wenn die Atome im achsten gebundenen Kristallgitter einen Abstand d ≈ 2 rBohr besitzen. Die am schw¨ Elektronen sind nicht mehr an ein bestimmtes Atom gebunden, sondern k¨ onnen sich frei von Atom zu Atom bewegen

17.5 Die Elektronenzust¨ ande in einem Festk¨ orper Ein Festk¨ orper ist aus einer regelm¨aßigen Anordnung von Atomen aufgebaut, diese Anordnung bezeichnen wir als Atomgitter. Es ist keineswegs offensichtlich, dass in diesem Gitter freie Elektronen existieren k¨ onnen, denn in jedem Einzelatom sind die Elektronen in gequantelten Zust¨ anden gebunden. Die Ursache, dass sich diese Bindungen l¨osen, kann nur in den elektrischen Kr¨ aften zwischen einem Gitteratom und seinen Nachbarn im Gitter liegen. Die Wirkung dieser elektrischen Kr¨afte, die eine Reichweite von der Gr¨ oße des Atomradius besitzen, kann man sich anschaulich so vorstellen, wie es in Abb. 17.3 gezeigt ist. Ist der Abstand zwischen benachbarten Gitteratomen von gleicher Gr¨oße wie der Atomradius, dann wird die potenzielle Energie der Elektronen im Gitter ver¨andert. F¨ ur die am schw¨ achsten gebundenen Elektronen eines Atoms wird diese Ver¨anderung so stark, dass sie ihre Bindung an dieses Atom verlieren und zu den Nachbaratomen wandern k¨ onnen: Sie verhalten sich wie freie Elektronen. Allerdings sind auch die Zust¨ande, die von den freien Elektronen besetzt werden, weiterhin gequantelt. Aber der energetische Abstand zwischen zwei Zust¨ anden ist so klein, dass er experimentell nicht beobachtbar ist. Die schwach gebundenen Zust¨ande von n Gitteratomen f¨ uhren zu einem Energieband aus n sehr eng nebeneinander liegenden Zust¨ anden, die von den freien Elektronen besetzt werden. F¨ ur die elektrischen Eigenschaften eines Festk¨ orpers sind zwei Energieb¨ ander von besonderer Bedeutung, das Leitungsband und das Valenzband. Zwi-

464

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

ε

ε

ε Leitungsband

Leitungsband

∆Eg

Leitungsband

∆Eg

Valenzband

Abb. 17.4. Die energetischen Lagen von Leitungs- und Valenzband (schattierte Fl¨ achen) zusammen mit den Verteilungsfunktionen fFD (ε), die nur in der N¨ ahe der Fermi εF nicht entartet sind. Bei einem Leiter liegt εF in der Mitte des Leitungsbands, beim Halb- und Nichtleiter in der Mitte der Energiel¨ ucke ∆Eg

Valenzband Valenzband

Leiter

f FD (ε )

Halbleiter Nichtleiter

schen beiden befindet sich eine Energiel¨ ucke ∆Eg , die in einem Festk¨ orper mit idealem Gitter frei von Elektronenzust¨ anden ist. Eine schematische Darstellung der energetischen Lagen von Leitungs- und Valenzband ist in Abb. 17.4 gezeigt. Die Besetzung von Leitungsband und Valenzband mit Elektronen ist bestimmend daf¨ ur, ob der Festk¨orper ein elektrischer Leiter oder ein Nichtleiter ist. Wir betrachten den Fall, dass die Temperatur des Festk¨ orpers T > 0 ist, die Zustandsdichte aber nur in der N¨ahe der Fermi-Energie εF nicht entartet ist. Dann gilt: Ist das Leitungsband nur zur H¨ alfte mit Elektronen besetzt, dann ist der Festk¨orper ein elektrischer Leiter. Ist das Leitungsband nicht mit Elektronen besetzt, dann ist der Festk¨ orper ein elektrischer Nichtleiter. Es muss allerdings ber¨ ucksichtigt werden, dass die Besetzungswahrscheinlichkeiten nach Gleichung (17.9) von der Temperatur T abh¨ angen. Ist die Eneroßenordnung giel¨ ucke ∆Eg zwischen Valenz- und Leitungsband von der Gr¨ ∆Eg ≈ k T , dann k¨ onnen Elektronen aus dem Valenzband in das unbesetzte Leitungsband angeregt werden, und aus dem Nichteiter wird ein Halbleiter. Aus einem Nichtleiter bei T = 0 K entsteht bei endlichen Temperaturen ein Halbleiter, wenn die Energiel¨ ucke ∆Eg so klein ist, dass Elektronen aus dem voll besetzten Valenzband in das unbesetzte Leitungsband angeregt werden k¨onnen. In Abb. 17.4 sind diese Verh¨ altnisse dargestellt, wobei in dieser Abbildung auch die Anzahl der Elektronen fFD (ε) in einem Zustand mit dargestellt ist. Durch die Anregung der Elektronen aus dem Valenzband in das Leitungsband

17.5 Die Elektronenzust¨ ande in einem Festk¨ orper

3.

4.

5.

B Al Ga In Tl

C Si Ge Sn Pb

N P As Sb Bi

465

Abb. 17.5. Die Elemente aus der 3., 4., und 5. Hauptgruppe, die Halbleiter sind (stark schattiert) oder Mischhalbleiter bilden (schwach schattiert)

bleiben im Valenzband unbesetzte Zust¨ ande zur¨ uck, die ebenfalls frei beweglich sind und die man L¨ ocher nennt. Zwischen der elektrischen Leitung in einem metallischen Leiter und einem Halbleiter bestehen daher wesentliche Unterschiede: Die Leitf¨ ahigkeit eines metallischen Leiters wird verursacht durch die Elektronen im Leitungsband, deren Anzahl nicht von der Temperatur abh¨angt. Die Leitf¨ ahigkeit eines elektrischen Halbleiters wird verursacht durch die Elektronen im Leitungsband und die L¨ ocher im Valenzband, deren Anzahl gleich groß ist und mit der Temperatur zunimmt. Wir wollen uns im Folgenden nur mit den elektrischen Eigenschaften der Halbleiter weiter besch¨ aftigen. 17.5.1 Die elektrischen Halbleiter Die elektrischen Halbleiter liegen in der 4. Hauptgruppe des periodischen Systems, siehe Abb. 17.5. Von diesen Elementen werden besonders Silizium (Si) und Germanium (Ge) als Halbleitermaterial verwendet, z.B. Si f¨ ur die Herstellung von elektronischen Bauelementen und von Solarzellen. Dar¨ uber hinaus gibt es auch Mischhalbleiter, die durch die Mischung von einem Element aus der 3. Hauptgruppe mit einem Element der 5. Hauptgruppe entstehen, z.B. InSb oder GaAs. Unter Normalbedingungen setzen sich die freien Ladungstr¨ager in einem reinen Halbleiter zusammen aus den Elektronen mit Anzahl n− im Leiur die Ladungstungsband und den L¨ ochern mit Anzahl n+ im Valenzband. F¨ − tr¨agerdichten gilt dn /dV = dn+ /dV = ρe , was voraussetzt, dass die FermiEnergie EF eines Halbleiters genau in der Mitte der Energiel¨ ucke ∆Eg liegt. Die Ladungstr¨ agerdichten sind sehr gering, sie h¨angen stark von der Gr¨oße der Energiel¨ ucke und der Temperatur ab: ρe (T ) = ρe,0 e−∆Eg /(2 k T ) ≈ 1028 e−∆Eg /(2 k T ) .

(17.50)

466

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

Bei einer Energiel¨ ucke von ∆Eg = 1 eV ergibt sich bei Zimmertemperatur T = 293 K ρe ≈ 1019 m−3 .

(17.51)

Und das ist um ca. 10 Gr¨ oßenordnungen geringer als die Dichte der Leitungselektronen in einem metallischen Leiter wie Cu. Entsprechend ist der spezifische Widerstand in einem Halbleiter um ca. 10 Gr¨oßenordnungen h¨oher, vergleiche mit Gleichung (8.113) rΩ =

(u−

1 ≈ 103 Ω m. − u + ) ρ− C

(17.52)

Die Gr¨ oßen u− und u+ stellen die Beweglichkeiten der Elektronen im Leitungsband und der L¨ ocher im Valenzband dar, f¨ ur die Ladungsdichte gilt ρ− C = −e ρe . Der spezifische Widerstand eines Halbleiters nimmt wegen Gleichung (17.50) allerdings mit der Temperatur ab. Die Abb. 17.6 stellt schematisch das gemessene Temperaturverhalten eines Halbleiterwiderstands dar. Es f¨ allt auf, dass die Gleichung (17.52) nur f¨ ur große Temperaturen gilt, f¨ ur kleine Temperaturen dagegen sinkt der spezifische Widerstand mit sinkender Temperatur, im Widerspruch zu Gleichung (17.52). Dieses Ph¨anomen ist auf die Verunreinigungen im Halbleitermaterial zur¨ uckzuf¨ uhren, die zus¨atzliche

r Ω ( Ω m) ziemlich rein

tu ei

dl

em

Fr ng

Eigenleitung

sehr unrein

Temperatur T (K) Abb. 17.6. Die Abh¨ angigkeit des spezifischen Widerstands von der Temperatur in einem Halbleiter. Bei hohen Temperaturen dominiert die Eigenleitung, weil sich gen¨ ugend Elektronen im Leitungsband und L¨ ocher im Valenzband befinden. Bei tiefen Temperaturen stammen die Ladungstr¨ ager von Verunreinigungen im Halbleitermaterial und der Widerstand ist umso geringer, je gr¨ oßer der Verunreinigungsgrad ist

17.5 Die Elektronenzust¨ ande in einem Festk¨ orper

467

Ladungstr¨ ager f¨ ur die elektrische Leitung zur Verf¨ ugung stellen und ein Temperaturverhalten besitzen, das ¨ ahnlich zu dem eines metallischen Leiters ist: Der spezifische Widerstand eines metallischen Leiters nimmt mit sinkender Temperatur ab. Man spricht daher in dem Niedrigtemperaturbereich von Fremdleitung, in dem Hochtemperaturbereich dagegen von Eigenleitung. Den Anteil der Fremdleitung kann man durch die Konzentration der Verunreinigung gezielt steuern. Verwendet man als Fremdatome die Elemente der 3. und 5. Hauptgruppen des periodischen Systems, so nennt man den Vorgang der gezielten Verunreinigung Dotierung. Die Dotierung mit Fremdatomen aus der 3. Hauptgruppe, z.B. mit Bor (B), erzeugt in dem Halbleiter lokalisierte Elektronenzust¨ande etwas oberhalb des Valenzbands, die mit Elektronen aus dem Valenzband besetzt werden k¨onnen. Dadurch entstehen L¨ ocher in dem Valenzband, der Halbleiter wird p-leitend. Dotiert man mit Elementen aus der 5. Hauptgruppe, z.B. mit Phosphor (P), so werden lokalisierte Elektronenzust¨ ande gerade unterhalb des Leitungsbands geschaffen, aus denen Elektronen in das Leitungsband angeregt werden und dort frei beweglich sind. Der Halbleiter wird dadurch n-leitend. Die Wirkung der Dotierung ist schematisch in Abb. 17.7 dargestellt, sie besteht in einer deutlichen Zunahme der elektrischen Leitf¨ ahigkeit eines Halbleiters. 17.5.2 Die Halbleiterdiode Die große technische Bedeutung der Halbleiter entsteht durch die geladene Grenzfl¨ ache zwischen einem n-dotierten und einem p-dotierten Halbleiter. Zwei Halbleiter, die eine derartige Grenzfl¨ ache besitzen, nennt man eine Halbleiterdiode. Die Lage der Elektronenzust¨ ande in der N¨ahe der Grenzfl¨ache ist ¨ in Abb. 17.7 gezeigt. Auf der p-Seite der Grenzfl¨ache besteht ein Uberschuss an ¨ L¨ ochern, auf der n-Seite ein Uberschuss an Elektronen. Daher werden Elektronen u achenkontakt hinweg von der n-Seite in die p-Seite ¨ber den Grenzfl¨ diffundieren, um die L¨ ocher aufzuf¨ ullen. Es entsteht dadurch auf beiden Seiten der Grenzfl¨ ache eine Zone, die arm an freien Ladungstr¨agern ist und die deswegen Verarmungszone genannt wird. In der n-Seite bleiben lokalisierte und positiv geladene Fremdatome und in der p-Seite bleiben lokalisierte und

Leitungsband p−leitend

n−leitend

Valenzband Verarmungszone

Abb. 17.7. Die geladene Grenzfl¨ ache zwischen einem p- und n-dotierten Halbleiter. Außerhalb der Grenzfl¨ ache verhalten sich die dotierten Halbleiter normal, innerhalb der Grenzfl¨ ache bildet sich infolge der Ladungstr¨ agerdiffusion eine Zone mit stark reduzierten Dichten an beweglichen Elektronen und L¨ ochern aus, die man als Verarmungszone bezeichnet

468

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

I

U U0 U

I I0 Id + I ph

Abb. 17.8. Die Strom-SpannungsKennlinie einer Halbleiterdiode. Die gepunktete Kurve ergibt sich, wenn in der Verarmungszone nur Elektron-LochPaare aufgrund der Umgebungstemperatur gebildet werden, Die ausgezogene Kurve ergibt sich, wenn durch einfallendes Licht die Anzahl der in der Verarmungszone gebildeten ElektronLoch-Paare ganz wesentlich erh¨ oht wird, wie es bei der Solarzelle der Fall ist. Der Arbeitsbereich einer Solarzelle ist stark schattiert, der ideale Arbeitsbereich ist schwach schattiert

negativ geladene Fremdatome zur¨ uck. Diese Grenzfl¨achenladungen erzeugen eine elektrisches Gegenfeld, das schließlich die weitere Diffusion von Elektronen von der n-Seite in die p-Seite unterbindet. Bei endlichen Temperaturen k¨ onnen aber in der Verarmungszone Elektron-Loch-Paare gebildet werden, die durch das Gegenfeld getrennt werden und die zu einem Dunkelstrom Id von der n-Seite auf die p-Seite einer Halbleiterdiode f¨ uhren (man beachte, dass die Stromrichtung definitionsgem¨ aß immer die Richtung ist, in die sich eine positive Ladung bewegt). Einen viel st¨ arkeren elektrischen Strom in die Gegenrichtung kann man dadurch erzeugen, dass man eine negative Spannung U an die n-Seite der Halbleiterdiode legt, welche die frei beweglichen Elektronen im Valenzband u ¨ ber die Verarmungszone auf die p-Seite treibt, wo sie mit den L¨ ochern im Valenzband rekombinieren. Die Strom-Spannungs-Kennlinie einer Halbleiterdiode lautet daher gen¨ ahert   (17.53) I = Id e(e U)/(k T ) − 1

und ist in Abb. 17.8 dargestellt. Dabei ist der Dunkelstrom Id u ¨berproportional groß dargestellt. Die Halbleiterdiode zeigt daher kein Ohm’sches Verhalten. Ursache ist die elektrische Doppelschicht in der Verarmungszone, siehe Kap. 8.2. Die Folge ist, dass durch die Diode, bis auf den Dunkelstrom, kein Strom fließt, wenn die Diode in Sperrrichtung geschaltet ist (positive Spannung an n-Seite, negative Spannung an p-Seite). Dagegen fließt ein von der Spannung U und der Temperatur T abh¨ angiger Strom, wenn die Diode in Durchlassrichtung geschaltet ist (negative Spannung an n-Seite, positive Spannung an p-Seite). Die Halbleiterdiode wirkt daher wie ein Gleichrichter. 17.5.3 Die Solarzelle

Die Halbleiterdiode bildet das Grundelement f¨ ur viele elektronische Bauteile, die wir hier aber nicht behandeln werden. In diesem Kapitel soll eine Anwendung besprochen werden, die auch f¨ ur Biologen von besonderem Interesse ist,

17.5 Die Elektronenzust¨ ande in einem Festk¨ orper

469

die Solarzelle. Mit dieser Halbleiterdiode, denn darum handelt es sich, wird die Strahlungsenergie der Sonne in elektrische Energie umgewandelt, und dieser Prozess ist daher ¨ ahnlich zu dem Prozess der Photosynthese, bei dem in der Zelle Sonnenenergie in chemische Energie umgewandelt wird. Die Umwandlung von Sonnenenergie in elektrische Energie geschieht in ¨ der Verarmungszone einer Halbleiterdiode. Ahnlich wie bei der Entstehung des Dunkelstroms werden durch das Sonnenlicht in der Verarmungszone ElektronLoch-Paare erzeugt. Dazu muss die mit dem Sonnenlicht eingestrahlte Energie ε = h ν die Bedingung erf¨ ullen h ν ≥ ∆Eg ,

(17.54)

d.h. es kann immer nur ein Teil der spektralen Energieverteilung des Sonnenlichts in elektrische Energie umgewandelt werden. Dieser Teil h¨angt von der Gr¨ oße der Energiel¨ ucke zwischen Valenz- und Leitungsband ab. Da der durch die Sonnenstrahlung erzeugte Strom IPh den Dunkelstrom verst¨ arkt, lautet die Strom-Spannungs Kennlinie einer Solarzelle   (17.55) I = Id e(e U)/(k T ) − 1 − IPh .

Diese Kennlinie ist in Abb. 17.8 dargestellt. Die Kennlinie schneidet die Achse U = 0 an der Stelle I0 = −Iph , man bezeichnet den Strom I0 als den Kurzschlussstrom der Solarzelle. Weiterhin schneidet die Kennlinie die Achse sichtbares Licht

0.6

InP GaAs CdTe CuInS2 CuGaSe a−Si

0.1

c−Si

0.2

CuInSe 2

Wirkungsgrad η

0.3

1.0 1.4 1.8 .. Energielucke ∆ Eg (eV)

Abb. 17.9. Der ideale Wirkungsgrad einer Solarzelle in Abh¨ angigkeit von der Energiel¨ ucke zwischen Valenz- und Leitungsband. Die Stellung einiger Halbleitermaterialien und der Bereich des sichtbaren Lichts (schattiert) sind ebenfalls gezeigt. Der technisch erreichbare Wirkungsgrad ist etwa nur halb so groß wie der hier gezeigte

470

17 Quantenphysik der Vielteilchensysteme

I = 0 an der Stelle U0 = (k T )/e ln(IPh /Id ), man bezeichnet die Spannung U0 als die Leerlaufspannung einer Solarzelle. Dabei haben wir den Beitrag des Dunkelstroms zur Leerlaufspannung vernachl¨ assigt, da immer IPh ≫ Id gilt. Bei Zimmertemperatur ist die Leerlaufspannung einer Solarzelle stets kleiner als die zugeh¨ orige Energiel¨ ucke, es gilt etwa U0 ≈ 0,5 ∆Eg /e ≈ 0,5 V, und mit steigender Temperatur nimmt die Leerlaufspannung weiter ab. Der Operationsbereich einer Solarzelle liegt im 4. Quadranten ihrer StromSpannungs-Kennlinie, also zwischen dem Kurzschlussstrom I0 und der Leerlaufspannung U0 . Die elektrische Leistung, die eine Solarzelle erzeugen kann, betr¨ agt Pel = U I = cf U0 I0 ,

(17.56)

wobei cf = (U I)/(U0 I0 ) als F¨ ullfaktor bezeichnet wird. Die Gr¨oße des F¨ ullfaktors h¨ angt von der Form der Kennlinie im 4. Quadranten ab, die Kennlinie sollte dort m¨ oglichst die Form eines Kastens besitzen. Gebr¨auchliche Solarzellen erreichen F¨ ullfaktoren in der Gr¨ oße cf ≈ 0,5. Dies und die Bedingung (17.54) schr¨ anken den Wirkungsgrad einer Solarzelle, mit dem Sonnenenergie in elektrische Energie umgewandelt wird, drastisch ein. In Abb. 17.9 sind die theoretisch zu erwartenden Wirkungsgrade in Abh¨angigkeit von der Energiel¨ ucke dargestellt. Die tats¨ achlich erreichbaren Werte sind etwa nur halb so groß, sie betragen f¨ ur amorphes Si, aus dem heute die Mehrzahl aller Solarzellen gefertigt werden, nur etwa η ≈ 0,12.

18 Molek¨ ulphysik

Atome k¨ onnen sich zu gr¨ oßeren Aggregaten zusammenlagern und einen stabilen Aggregatzustand bilden. Solche Aggregatzust¨ande sind uns aus den Kap. ¯ 5 (fl¨ ussiger Aggregatzustand) und Kap. 4 (fester Aggregatzustand) bekannt. Ihre Eigenschaften lassen sich im Rahmen der klassischen Physik durch makroskopische Variablen beschreiben, d.h. die Quantennatur der eigentlichen Bausteine dieser Zust¨ ande, und das sind die Atome, bleibt in vielen Experimenten unbeobachtbar. Und selbst wenn sie beobachtbar wird, wie z.B. in der elektrischen Leitf¨ ahigkeit eines metallischen Leiters, ist eine statistische Behandlung der Quantenph¨ anomene ausreichend, wie wir sie in Kap. 17 diskutiert haben. Der Grund ist, dass der Aggregatzustand aus sehr vielen, ca. 1023 Atomen, aufgebaut ist. In diesem Kapitel werden wir uns mit den Molek¨ ulen besch¨aftigen, die aus wesentlich weniger Atomen aufgebaut sind. Ja, wir werden im Wesentlichen sogar nur solche Molek¨ ule behandeln, die aus zwei Atomen bestehen. Sind diese beiden Atome identisch, nennt man das Molek¨ ul homonuklear, anderenfalls handelt es sich um ein heteronukleares Molek¨ ul. Die wichtigsten Fragen sind: • •

Warum bilden diese beiden Atome einen stabilen Zustand, den wir Molek¨ ul nennen? Welches sind die Eigenschaften dieses Molek¨ uls?

Beide Fragen lassen sich nur im Rahmen der Quantenphysik beantworten, da die Atome selbst Quantenteilchen sind und ihre Anzahl im Molek¨ ul so gering ist, dass eine statistische Beschreibung ausscheidet. Die quantenmechanische Behandlung selbst eines so einfachen Molek¨ uls wie H2 wird dadurch sehr kompliziert, und mit Recht bildet die Molek¨ ulphysik den Abschluss dieses Lehrbuchs. Wir werden nur die Ideen und Grundz¨ uge der quantenmechanischen Behandlung dieser Zwei-Atom-Systeme darstellen, die detaillierte Darstellung auch komplizierterer Molek¨ ule erfolgt in der Quantenchemie.

472

18 Molek¨ ulphysik

18.1 Die Molek¨ ulbindung Zun¨ achst mag es so erscheinen, als ob der Mechanismus der Molek¨ ulbindung auch klassisch zu verstehen ist. Betrachten wir zwei neutrale Atome A und B, so k¨ onnte ein Elektron vom Atom A zum Atom B wandern, wodurch zwei Ionen A+ und B− entstehen, die sich elektrostatisch anziehen. Dieser Typ der Bindung wird in der Tat in der Natur beobachtet, z.B. beim HCl (Chlorwasserstoff). Man nennt diese Bindung heteropolar oder Ionenbindung. Was nat¨ urlich klassisch nicht zu verstehen ist, ist die Tatsache, dass das Elektron spontan vom H-Atom zum Cl-Atom wandert und sich zwischen den beiden Ladungen daraufhin eine stabile Gleichgewichtslage einstellt. Ersetzen wir das Cl-Atom durch ein zweites H-Atom, entsteht H2 (Wasserstoff). Da beide Atome ununterscheidbar sind, wird sich das Elektron bei einem gewissen Abstand der H-Atome mit gleicher Wahrscheinlichkeit bei beiden Atomen aufhalten, d.h. im zeitlichen Mittel sind beide H-Atome weiterhin ungeladen. Aber die Pendelbewegung der Elektronen zwischen den Atomen f¨ uhrt ebenfalls zur Molek¨ ulbindung. Man nennt diese Bindung kovalent oder hom¨ oopolar, anschaulich wird die Bindung verursacht durch die Lokalisation der negativ geladenen Elektronen zwischen den beiden positiv geladenen H+ -Ionen. Warum diese Elektronen lokalisieren, kann aber nur quantenmechanisch verstanden werden. Und mit diesem Quantenph¨anomen wollen wir uns jetzt besch¨ aftigen. Und zwar werden wir zun¨achst das Molek¨ ul H+ 2 betrachten, das sich leichter quantenmechanisch behandeln l¨asst, da es nur ein Elektron besitzt. 18.1.1 Das H+ ul 2 -Molek¨ Im Prinzip m¨ ussen wir zur quantenmechanischen Behandlung des H+ uls 2 -Molek¨ die Schr¨ odinder-Gleichung (14.32) f¨ ur das Elektron im elektrischen Feld der osen, die einen Abstand rab voneinander haben. In Abb. beiden H+ -Ionen l¨ 18.1 sind die Ortsvektoren f¨ ur dieses Problem dargestellt, die Indices a und b bezeichnen je eines der beiden H+ -Ionen, S die Lage ihres Massenmittelpunkts. Es gilt

e ra

rb r S

a

rab

b

Abb. 18.1. Die Lage der Ortsvektoren, die bei der quantenmechanischen Behandlung des H+ uls eine Rolle spielen. a und 2 -Molek¨ b kennzeichnen die beiden H+ -Ionen, e das Elektron, S ist der Massenmittelpunkt des Molek¨ uls

18.1 Die Molek¨ ulbindung

ra = r +

rab 2

,

rb = r −

r ab , 2

473

(18.1)

wenn r der Ortsvektor vom Massenmittelpunkt S zum Elektron ist, und ra bzw. r b die Ortsvektoren von je einem der H+ -Ionen zum Elektron kennzeichnen. S ist auch der Massenmittelpunkt des Gesamtsystems, da me gegen assigbar klein ist. Wichtig f¨ ur die Schr¨odinger-Gleichung ist die mp vernachl¨ potenzielle Energie des Systems, die sich aus 3 Anteilen zusammensetzt: •

Die potenzielle Energie zwischen den H+ -Ionen Wpot,a−b =



1 e2 . 4πǫ rab

Die potenzielle Energie zwischen Elektron und dem H+ -Ion a Wpot,a−e = −



(18.2)

1 e2 . 4πǫ ra

(18.3)

Die potenzielle Energie zwischen Elektron und dem H+ -Ion b Wpot,b−e = −

1 e2 . 4πǫ rb

(18.4)

Die gesamte potenzielle Energie betr¨ agt daher Wpot = Wpot,a−b + Wpot,e

mit Wpot,e = −

e2 4πǫ



1 1 + ra rb

. (18.5)

Die Schr¨ odinger-Gleichung kann mit viel Aufwand f¨ ur diesen Ansatz der potenziellen Energie gel¨ ost werden und ergibt die Energieeigenwerte Ej (rab ) des Elektrons als Funktion des Ionenabstands rab . Der bestimmte Abstand rj , f¨ ur den Ej (rj ) einen minimalen Wert erreicht, ergibt dann den Gleichgewichtsabstand des Molek¨ uls f¨ ur diesen speziellen Energieeigenwert. Die exakte L¨ osung der Schr¨ odinger-Gleichung ist jedoch viel zu aufwendig und verschleiert auch den Mechanismus, der zur Molek¨ ulbildung f¨ uhrt. aherung, die Instruktiver ist es, man l¨ ost das H+ 2 -Problem im Rahmen einer N¨ als LCAO-N¨ aherung bezeichnet wird. LCAO steht f¨ ur “linear combination of atomic orbitals”. Wie dieser Name besagt, wird die Wellenfunktion des Elektrons im Molek¨ ul gen¨ ahert dargestellt durch die Linearkombination der Elektronenwellenfunktionen f¨ ur ein isoliertes H-Atom. Im Grundzustand des Wasserstoffatoms a lautet die Wellenfunktion eines Elektrons 1 e−ra /aBohr , ψa (ra ) =  3 π aBohr

(18.6)

und ebenso f¨ ur das Wasserstoffatom b

1 ψb (rb ) =  3 e−rb /aBohr , π aBohr

(18.7)

474

18 Molek¨ ulphysik Abb. 18.2. Die Verteilung der Wahrscheinlichkeitsdichten P = |Ψ |2 des Elektrons entlang der Symmetrieachuls mit den H+ se z des H+ 2 -Molek¨ Positionen bei a und b. Die ausgezogene Kurve bezieht sich auf den symmetrischen Zustand, die gepunktete Kurve auf den antisymmetrischen Zustand

P

PS PA a

z b

Die LCAO-N¨ aherung des Elektrons im H+ ul ist daher, da das Elektron 2 -Molek¨ zwischen a und b nicht unterscheiden kann, 1 Ψ± (r) = √ (ψa (r) ± ψb (r)) , 2

(18.8)

wobei ra und rb durch r nach Gleichung (18.1) ersetzt werden. ¨ Wie in Kap. 17.1 haben wir f¨ ur die Uberlagerung von zwei Zustandswellenfunktionen sowohl die symmetrische M¨ oglichkeit Ψ+ (r) wie auch die antisymmetrische M¨ oglichkeit Ψ− (r) angesetzt. Diesen beiden M¨oglichkeiten entsprechen verschiedene Aufenthaltswahrscheinlichkeiten des Elektrons im Molek¨ ul: •

Die symmetrische Wellenfunktion besitzt die Dichte der Aufenthaltswahrscheinlichkeit PS (r) =



 1 |ψa (r)|2 + |ψb (r)|2 + |ψa (r)| |ψb (r)| , 2

(18.9)

und besitzt an der Stelle r = 0 einen Wert PS (0) > 0. Die antisymmetrische Wellenfunktion besitzt die Dichte der Aufenthaltswahrscheinlichkeit PA (r) =

 1 |ψa (r)|2 + |ψb (r)|2 − |ψa (r)| |ψb (r)| , 2

(18.10)

und besitzt an der Stelle r = 0 einen Wert PA (0) = 0.

In Abb. 18.2 sind diese beiden Wahrscheinlichkeitsdichten dargestellt. Auf Grund der anschaulichen Interpretation der kovalenten Bindung (das Elektron lokalisiert zwischen den beiden H+ -Ionen) vermuten wir, dass allein der symmetrische Zustand Ψ+ (r) zur Molek¨ ulbindung f¨ uhrt, nicht dagegen der antisymmetrische Zustand Ψ− (r). Dies ist das Ergebnis, das man durch die L¨ osung der Schr¨ odinger-Gleichung erh¨ alt. Es l¨asst sich aber auch in der LCAO-N¨ aherung verifizieren.

18.1 Die Molek¨ ulbindung

475

In dieser N¨ aherung erh¨ alt man die Energie des Elektrons nicht als einen Eigenwert (die Wellenfunktion ist ja nur n¨ aherungsweise bekannt), sondern als Erwartungswert E. Weiterhin nehmen wir die f¨ ur eine zentrale CoulombKraft g¨ ultige Beziehung (siehe Anmerkung 2.3.2) an E(rab ) =

1 Wpot (rab ) , 2

(18.11)

d.h. wir m¨ ussen allein die Erwartungswerte der potenziellen Energie ur die Wpot,a−b (rab ) und Wpot,e (rab ) betrachten. Der Erwartungswert f¨ potenzielle Energie bei einer gegebenen Wellenfunktion Ψ± (r) ergibt sich zu  Wpot (rab )S = Ψ+ (r) Wpot (rab ) Ψ+ (r) dVr (18.12)  Wpot (rab )A = Ψ− (r) Wpot (rab ) Ψ− (r) dVr , wobei die Integration u oglichen Werte von r durchzuf¨ uhren ist. Bei ¨ber alle m¨ dieser Berechnung ist allein Wpot,e (r) von Interesse, da dieser Anteil der potenziellen Energie direkt von r abh¨ angt. Es ergeben sich f¨ ur den symmetrischen und den antisymmetrischen Zustand je drei Terme Wpot (rab )S = Wpot,a−b (rab ) + WCLB (rab ) + WAust (rab ) Wpot (rab )A = Wpot,a−b (rab ) + WCLB (rab ) − WAust (rab )

(18.13)

mit den Beitr¨ agen WCLB (rab ) = WAust (rab ) =





ψa (r) Wpot,e (r) ψa (r) dVr < 0 ,

(18.14)

ψa (r) Wpot,e (r) ψb (r) dVr < 0 ,

da Wpot,e (r) f¨ ur alle Werte von r negativ ist. Der symmetrische und der antisymmetrische Zustand besitzen also einen gemeinsamen Coulomb-Term WCLB (rab ), aber sie unterscheiden sich in dem ur den symmetrischen ZuVorzeichen des Austauschterms WAust (rab ), der f¨ stand die gesamte potenzielle Energie kleiner macht als f¨ ur den antisymmetrischen Zustand. Dieses Verhalten ist in Abb. 18.3a zusammen mit Wpot,a−b (rab ) > 0 dargestellt. Nur im symmetrischen Zustand ergibt der Erwartungswert der Energie bei dem Abstand rj = 0,106 nm einen minimalen Wert, der −2,65 eV unterhalb der Grundzustandsenergie von −13,6 eV des Wasserstoffatoms liegt, siehe Abb. 18.3b. Dieser Zustand entspricht dem stabilen Grundzustand des uls. Der antisymmetrische Zustand hat dagegen sein EnergieminiH+ 2 -Molek¨ ul. mum f¨ ur rab → ∞, d.h. in diesem Zustand existiert kein stabiles H+ 2 -Molek¨

476

18 Molek¨ ulphysik

W pot (eV)

E(eV)

Wpot,a−b EA

−20 −40 −60

Wpot,e A

ra−b −10

Wpot,e S

(a)

rj = 0,106 nm ra−b ES

−20

(b)

Abb. 18.3. Unter (a) die Abh¨ angigkeiten von dem intermolekularen Abstand ra−b f¨ ur die potenziellen Energien Wpot,a−b (zwischen den beiden H+ -Ionen) und Wpot,e  (zwischen Elektron und den Ionen) sowohl f¨ ur den symmetrischen wie auch den antisymmetrischen Zustand. Unter (b) ist die Gesamtenergie f¨ ur den symmetrischen Zustand (ausgezogene Kurve) und den antisymmetrischen Zustand (gepunktete Kurve) zu sehen. Nur ersterer besitzt bei rj ein Energieminimum, bildet also ein stabiles Molek¨ ul

Die Bindung im H+ ul wird also allein durch das Auftreten der Aus2 -Molek¨ tauschterms WAust (rab ) verursacht, der rein quantenmechanischen Ursprungs ist und dadurch entsteht, dass in der Quantenphysik identische Teilchen ununterscheidbar sind.

18.1.2 Das H2 -Molek¨ ul Das H2 -Molek¨ ul besitzt, im Gegensatz zum H+ ul, zwei Elektronen, 2 -Molek¨ die wir mit den Indices 1 und 2 kennzeichnen wollen. Es ist offensichtlich, dass dieses weitere Elektron das quantenmechanische Problem noch wesentlich weiter kompliziert. Und in der Tat ist die Schr¨ odinger-Gleichung nicht mehr exakt l¨ osbar und man muss auf N¨ aherungsverfahren, wie z.B. die LCAON¨ aherung zur¨ uckgreifen. Die Schwierigkeiten werden allein schon dadurch sichtbar, dass wir uns die potenzielle Energie des Systems u ¨ berlegen. Wegen des zweiten Elektrons lautet diese jetzt im Gegensatz zu Gleichung (18.5)

1 1 1 1 1 1 e2 − − − − + (18.15) Wpot (r 1 , r 2 , rab ) = 4πǫ rab ra1 rb1 ra2 rb2 r12

18.1 Die Molek¨ ulbindung

477

wobei die Abst¨ ande zwischen Elektronen und den beiden H+ -Ionen sich sinngem¨ aß aus der Abb. 18.1 ergeben, wenn Elektron 1 mit Elektron 2 erg¨anzt wird. Der Term ∝ 1/r12 bechreibt die abstoßende Wechselwirkung zwischen den beiden Elektronen. ul d¨ urfen wir annehmen, dass die Molek¨ ulbindung Auch f¨ ur das H2 -Molek¨ durch die Austauschterme WAust (rab ) verursacht wird, von denen es jetzt mehrere gibt, da das H2 -Molek¨ ul zwei Elektronen besitzt. Daher lassen sich nur mithilfe der Wellenfunktionen Ψ+ (r1 ) und Ψ+ (r2 ) stabile Molek¨ ulzust¨ande konstruieren. In der LCAO-N¨ aherung lautet die Wellenfunktion f¨ ur den stauls bilen Grundzustand des H2 -Molek¨ Φ(r1 , r2 ) = Ψ+ (r1 ) Ψ+ (r2 ) .

(18.16)

Diese Zustandsfunktion widerspricht jedoch dem Pauli-Prinzip, da sie nicht antisymmetrisch gegen die Elektronenvertauschung 1 ↔ 2 ist. Denn wir erinnern uns: Die Wellenfunktion von zwei Fermionen muss die Bedingung Φ(1, 2) = −Φ(2, 1) erf¨ ullen. Um die Zustandsfunktion antisymmetrisch zu machen, m¨ ussen die Spins der Elektronen entgegengesetzt gerichtet sein, d.h. der Zustand muss den Gesamtspin S = 0 besitzen. Einen derartigen Zustand nennt man einen Singulettzustand, weil seine Multiplizit¨ at den Wert 2s + 1 = 1 besitzt, wobei s = 0 die zum Spin S geh¨orende Quantenzahl ist. Beschreibt man die Orientierung der Elektronenspins symbolisch durch ur den bindenden eine Wellenfunktion χ±1/2 , dann lautet die Wellenfunktion f¨ Grundzustand in der LCAO-N¨ aherung (18.17) Φs=0,ms =0 (1, 2) =   1 √ Ψ+ (r1 ) Ψ+ (r2 ) χ1/2 (1) χ−1/2 (2) − χ1/2 (2) χ−1/2 (1) . 2

Diese Funktion ist, wie vom Pauli-Prinzip gefordert, antisymmetrisch gegen Vertauschung der Elektronen 1 und 2, aber symmetrisch gegen die Vertauschung der H+ -Ionen a und b. Der aus den Wellenfunktionen eines einzelnen Elektrons aufgebaute Triplettzustand mit s = 1 besitzt die drei Wellenfunktionen

(18.18) Φs=1,ms =−1 (1, 2) = 1 √ (Ψ+ (r1 ) Ψ− (r2 ) − Ψ+ (r2 ) Ψ− (r1 )) χ−1/2 (1) χ−1/2 (2) 2 Φs=1,ms =0 (1, 2) =   1 (Ψ+ (r1 ) Ψ− (r2 ) − Ψ+ (r2 ) Ψ− (r1 )) χ1/2 (1) χ−1/2 (2) + χ1/2 (2) χ−1/2 (1) 2 Φs=1,ms =+1 (1, 2) = 1 √ (Ψ+ (r1 ) Ψ− (r2 ) − Ψ+ (r2 ) Ψ− (r1 )) χ+1/2 (1) χ+1/2 (2) . 2 Diese Wellenfunktionen des Triplettzustands sind ebenfalls antisymmetrisch gegen Vertauschung der Elektronen 1 und 2, und sie sind auch antisymme-

478

18 Molek¨ ulphysik

E(eV) Triplett

−20 −40

r j = 0,074 nm ra−b Singulett

Abb. 18.4. Die Abh¨ angigkeiten der ul Gesamtenergien in einem H2 -Molek¨ von dem intermolekularen Abstand ra−b . Die durchgezogene Kurve gilt f¨ ur den Singulettzustand mit symmetrischer Ortswellenfunktion, die gepunktete Kurve f¨ ur den Triplettzustand mit antisymmetrischer Ortswellenfunktion. Nur der Singulettzustand besitzt bei rj ein Energieminimum Ej , bildet also ein stabiles Molek¨ ul

E j = −32,5 eV

trisch gegen die Vertauschung der H+ -Ionen a und b. Im Gegensatz zum Singlettzustand ist der Triplettzustand aber nichtbindend, d.h. er f¨ uhrt zu keinem Minimum der Zustandsenergie bei einem bestimmten Abstand rab . ur SingulettDie Erwartungswerte der Energie in Abh¨ angigkeit von rab sind f¨ und Triplettzustand in Abb. 18.4 gezeigt. 18.1.3 Die Elektronenzust¨ ande in zweiatomigen Molek¨ ulen In einem Atom werden die Elektronenzust¨ ande definiert durch die Quantenzahlen n, l, ml . Der Bahndrehimpuls L mit Bahndrehimpulsquantenzahl l und Projektionsquantenzahl ml ist zeitlich konstant, da das elektrische Feld des Atomkerns kugelsymmetrisch ist. Daraus folgt, dass die Zust¨ande in einem Atom ml entartet sind. Dies gilt nicht mehr f¨ ur die Molek¨ ule. In einem zweiatomigen Molek¨ ul ist das elektrische Feld nicht kugelsymmetrisch, sondern nur noch rotationssymmetisch um die Verbindungslinie zwischen den beiden Atomkernen. Daher pr¨ azediert der Bahndrehimpuls L um diese Symmetrieachse z, wobei die Projektion des Bahndrehimpulses Lz auf die z-Achse weiterhin zeitlich konstant bleibt, aber jetzt auch den Energieeigenwert eines Zustands mitbestimmt. In der Molek¨ ulphysik werden diese Projektionen durch die Quantenzahl λ definiert, d.h. es gilt h Lz = λ ¯

mit

|λ| ≤ l .

(18.19)

Ein Elektron in einem Zustand mit λ = 0 wird ein σ-Elektron genannt, das mit |λ| = 1 wird π-Elektron genannt. Daher sind die Elektronenzust¨ande in einem zweiatomigen Molek¨ ul definiert durch die Quantenzahlen n, l, λ, und dazu treten noch die Quantenzahlen, welche die verschiedenen Einstellm¨oglichkeiten

18.1 Die Molek¨ ulbindung

479

des Elektronenspins festlegen. Diese Einstellm¨oglichkeiten sind beschr¨ankt durch eine weitere Symmetrie, die nur in den zweiatomigen homonuklearen Molek¨ ulen auftritt und deren Ursache in der Identit¨at der beiden Atomkerne a und b liegt. Bei Vertauschung von a mit b, wobei r ab → r ba gilt, muss die Wellenfunktion jedes Elektronenzustands bis auf ihr Vorzeichen in sich selbst u ullen diese Bedingung, ¨ bergehen. Die Einelektronwellenfunktionen (18.8) erf¨ sie wird auch von den Wellenfunktionen (18.17) und (18.18) des Zweielektronensystems erf¨ ullt. Nach der Gleichung (18.1) entspricht der Vertauschung von a mit b einer Spiegelung r → −r der Wellenfunktion am Massenmittelpunkt des Molek¨ uls. Die Wellenfunktion der Elektronen besitzt daher folgende Eigenschaft und Bezeichnung: •

Ein Zustand wird gerade genannt, wenn f¨ ur seine Wellenfunktion gilt Φg (r) = +Φg (−r) ,



(18.20)

und daher besitzt die Wellenfunktion den Index g. Ein Zustand wird ungerade genannt, wenn f¨ ur seine Wellenfunktion gilt Φu (r) = −Φu (−r) ,

(18.21)

und daher besitzt die Wellenfunktion den Index u. ul ist offensichtlich nur der Zustand (1sσ)2g bindend, dagegen der Im H2 -Molek¨ Zustand (1sσ)2u nichtbindend. Der Exponent in dieser Nomenklatur gibt an, mit wie viel Elektronen dieser Zustand besetzt ist. Diese Zuordnung l¨ asst sich auch f¨ ur die Zust¨ande durchf¨ uhren,, die durch eine h¨ ohere Hauptquantenzahl n und Drehimpulsquantenzahlen l,λ definiert werden, d.h. f¨ ur die Molek¨ ulzust¨ ande (n l λ)g bzw. (n l λ)u . Die Zustandsenergien h¨ angen, wie schon ¨ ofters erw¨ ahnt, von dem Abstand rab zwischen den beiden Atomkernen mit der Ordnungszahl Z ab. Ist der Abstand rab = 0, m¨ ussen die Molek¨ ulzust¨ ande in die Einelektronzust¨ande des vereinigten Atoms mit Ordnungszahl 2Z u ur rab → ∞ erhalten wir die Einelektron¨ bergehen. F¨ zust¨ ande von 2 isolierten Atomen mit Ordnungszahl Z. Die Zustandsenergien ver¨ andern sich zwischen diesen Extremf¨ allen. Die Ver¨anderungen, ohne die ucksichtigen, werden in dem KorrelatiBeitr¨ age von Wpot,a−b (rab ) zu ber¨ onsdiagramm Abb. 18.5 dargestellt. Die eingezeichneten Energiewerte sind nur qualitativ; um die exakten Energiewerte zu erhalten, m¨ ussen die entsprechenden quantenmechanischen Rechnungen mithilfe der Schr¨ odinger-Gleichung durchgef¨ uhrt werden. Das Korrelationsdiagramm Abb. 18.5 ist im Wesentlichen gedacht zur Feststellung, welche Wellenfunktionen den Grundzustand eines gegebenen zweiatomigen, homonuklearen Molek¨ uls bilden und wie stark die Molek¨ ulbindung ahr ist. Die Wellenfunktionen der vereinigbei welchem Abstand rab ungef¨ ten Atome sind ebenfalls durch die Indices g und u gekennzeichnet. In einem isolierten Atom wird dieses Kennzeichen die Parit¨ at des Zustands genannt, sie wird allein bestimmt durch den Wert der Bahndrehimpulsquantenzahl l:

480

18 Molek¨ ulphysik

(3d) 10 (3p)

6

(3s) 2

(3pu π )4 (3pu σ )2 (3sg σ ) 2

(2p σ ) 2u (2p π ) 4g (2p π ) 4u (2p σ ) 2g

(2s σ ) 2u 6

(2p) (2s) 2

)4

(2pu π (2pu σ )2 (2sg σ ) 2

(2s σ ) 2g

(1s) 2

(2s) 4

antibindend

(1s σ ) 2u bindend

(2p) 12

(1s σ ) 2g

(1s) 4

(1sg σ ) 2

Abb. 18.5. Das Korrelationsdiagramm f¨ ur die homonuklearen zweiatomigen Molek¨ ule. Auf der linken Seite sind die Zustandsenergien der vereinigten Atome gezeigt, auf der rechten Seite die der vollst¨ andig getrennten Atome mit ihren maximalen Besetzungszahlen als Exponent. Bindende Zust¨ ande besitzen eine fallende Korrelationslinie, antibindende eine steigende Korrelationslinie

Alle l = 0-Zust¨ande(s-Zust¨ande) haben die Parit¨at g, alle l = 1-Zust¨ande(pZust¨ande) haben die Parit¨at u. Die Exponenten der Zustandsfunktionen geben an, mit wie viel Elektronen ein bestimmter Zustand besetzt werden kann. Die Ver¨anderung der Zustandsenergien wird im Wesentlichen durch die Regel festgelegt, dass sich die Symmetrie g bzw. u nicht in Abh¨angigkeit von rab ver¨andern darf und dass sich die Linien der Zustandsenergien gleicher Symmetrie nicht kreuzen d¨ urfen. Mithilfe des Korrelationsdiagramms l¨asst sich vorhersagen, welche Atome ein zweiatomiges Molek¨ ul bilden k¨onnen und wie die Wellenfunktion der Elektronen dieses Molek¨ uls im Grundzustand aussieht. F¨ ur die 6 leichtesten Atome ergeben sich die in Tabelle 18.1 aufgef¨ uhrten M¨oglichkeiten (b. bedeutet, dass die Grundzustandskonfiguration bindend ist, n.b. heißt nichtbindend, und KK ist eine Abk¨ urzung daf¨ ur, dass die 1s Schale vollst¨andig gef¨ ullt ist). ul ist besonders interessant, denn hier tritt der Fall ein, Das C2 -Molek¨ dass durch Mischung der (2 s σ)g - und (2 p σ)g -Konfigurationen die Energie des Grundzustands abgesenkt werden kann und damit die Bindung verst¨arkt wird. Man nennt die Konfigurationsmischung Hybridisierung; ihre Folge ist, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der beiden Elektronen auf der Verbin-

18.1 Die Molek¨ ulbindung

481

Tabelle 18.1. Grundzustandskonfigurationen der 6 leichtesten zweiatomigen und homonuklearen Molek¨ ule. Bindende Zust¨ ande sind mit b. gekennzeichnet, nichtbindende mit n.b., KK bedeutet, dass die 1s-Schale vollst¨ andig mit Elektronen besetzt ist Molek¨ ul

Bindung

H2 He2 Li2 Be2 B2 C2

Konfiguration ( 1 s σ )2g ( 1 s σ )2g ( 1 s σ )2u KK ( 2 s σ )2g KK ( 2 s σ )2g ( 2 s σ )2u KK ( 2 s σ )2g ( 2 p σ )2g ( 2 p π )2u KK ( 2 s σ )2g ( 2 p σ )2g ( 2 p π )4u

b. n.b. b. n.b. b. b.

dungslinie zwischen den Atomkernen a und b verst¨arkt wird, wie in Abb. 18.6 anschaulich dargestellt. Diese Bindung wird σ-Bindung genannt, ihr Merkmal ist die Konzentration der Elektronendichte entlang der z-Achse. Dann bleiben 6 weitere Elektronen zur¨ uck, die zus¨ atzliche kovalente Bindungen mit anderen Atomen eingehen k¨ onnen, vorzugweise mit H-Atomen. Durch diese zus¨ atzlichen Bindungen wird allerdings die Rotationssymmetrie des Molek¨ uls um die z-Achse zerst¨ ort und die Projektionsquantenzahl λ und die Symmetrie g bzw. u verlieren ihre Relevanz. Es ist dann angebrachter, die Elektronenzust¨ ande nicht mehr durch ( 2 s σ )2g ( 2 p σ )2g ( 2 p π )4u zu definieren, sondern durch die an den Atomkernen a und b lokalisierten Elektronenzust¨ ande σ−Bindung

+ a

+

+

σ−Hybridisierung

+

++ ++

z

b

+

z

a

b

+

+

z

z

+ π −Antibindung

π −Bindung

Abb. 18.6. Dies Bild zeigt die verschiedenen kovalenten Bindungstypen in einem homonuklearen zweiatomigen Molek¨ ul. Die σ-Bindung entsteht durch Elektronen¨ uberlappung l¨ angs der z-Achse; durch Mischung der s- und p-Zust¨ ande (Hybridisierung) wird die Bindung noch verst¨ arkt. Die π-Bindung erfolgt durch Elektronen¨ uberlappung parallel zur z-Achse, aber nur im antisymmetrischen Zustand. Die Vorzeichen geben die Vorzeichen der Wellenfunktionen

482

18 Molek¨ ulphysik

(b)

(a)

Abb. 18.7. Die Wanderung der Doppelbindung in einem Benzolring. Die Bilder (a) und (b) stellen die Positionen der Doppelbindung zu verschiedenen Zeiten dar, das Bild (c) macht direkt deutlich, dass die π-Bindung nicht lokalisiert ist

(c)

( 2 s )1a ( 2 s )1b ( 2 px )1a ( 2 px )1b ( 2 py )1a ( 2 py )1b ( 2 pz )1a ( 2 pz )1b . In dieser Darstellung ist die (sp)-Hybridisierung eine Mischung aus den (2 s) und (2 pz ) -Zust¨ anden, sie verst¨ arkt ebenfalls die Konzentration der Elektronendichte auf der z-Achse, stellt also die σ-Bindung dar. Das Ethan H3 C-CH3 ist ein Molek¨ ul mit diesem Bindungstyp, an die neben der C-C-Bindung noch vorhandenen 6 Elektronen werden kovalent 6 H-Atome gebunden. Neben der σ-Bindung k¨ onnen auch die (2 px ) - bzw. (2 py ) -Konfigurationen an der Kohlenstoffbindung teilnehmen, und zwar in der Kombination ( 2 px )1a − ahrend ( 2 px )1a + ( 2 px )1b , nichtbindend ist. Dieser ( 2 px )1b , die bindend ist, w¨ Bindungstyp wird π-Bindung genannt, ihr Merkmal ist die Elektronenkonzentration ober- und unterhalb der z-Achse, wie in Abb. 18.6 anschaulich ul dieses Bindungstyps. Da 4 dargestellt. Das Ethen H2 C=CH2 ist ein Molek¨ Elektronen zur Bindung der Kohlenstoffatome ben¨otigt werden, stehen nur noch 4 Elektronen zur kovalenten Bindung der H-Atome zur Verf¨ ugung. Die aufeinander folgenden Sequenzen von C2 -Systemen mit einfacher σ-Bindung und (σ π)-Bindung f¨ uhren z.B zu dem geschlossenen Benzolring C6 . In diesem Ring sind die Elektronen der σ-Bindungen lokalisiert zwischen den einzelnen C-Atomen, dagegen sind die Elektronen der π-Bindungen nicht lokalisiert, d.h. diese Elektronen wandern entlang des Rings. Dies ist anschaulich in Abb. 18.7 dargestellt. Die Wanderbewegung der π-Elektronen verst¨arkt noch die kovalente Bindung zwischen den C-Atomen. Und schließlich existiert das C2 -System auch noch in der Form der Dreifachbindung (σ π 2 ), an der gleichzeitig alle ( 2 p )6 -Elektronen teilnehmen. Das erste Glied in dieser Reihe von Molek¨ ulen ist das Ethin HC≡CH mit der gebr¨ auchlicheren Benennung Azetylen. F¨ uhrt der Austauch von Elektronen zwischen zwei Atomen zu einer Konzentration der Elektronendichte l¨ angs der z-Achse, so entsteht eine kovalente σ-Bindung. Erh¨ oht sich durch den Austausch die Elektronendichte parallel zur z-Achse, entsteht eine π-Bindung.

18.2 Molek¨ ulspektroskopie

483

Anmerkung 18.1.1: Schreiben wir die symmetrische Zweiteilchenwellenfunktion (18.16) aus, ergibt sich 1 ( (ψa (r1 ) ψa (r2 ) + ψb (r1 ) ψb (r2 )) 2 + (ψa (r1 ) ψb (r2 ) + ψb (r1 ) ψa (r2 )) ) .

Φ(r1 ,r2 ) =

Der erste Term beschreibt eine Konfiguration, bei der beide Elektronen entweder am Atomkern a oder b sitzen. Dieser Fall tritt bei der Ionenbindung auf, sollte in einer kovalenten Bindung aber nur eine geringe Wahrscheinlichkeit haben. Der zweite Term gilt f¨ ur den Fall, dass je ein Elektron an a und an b sitzt, entspricht also der kovalenten Bindung. In der LCAO-N¨ aherung l¨ asst sich die symmetrische Wellenfunktion daher auch schreiben 1 Φ(r1 ,r2 ) = √ (Φion (r1 ,r2 ) + Φkov (r1 ,r2 )) 2 oder in einer allgemeineren N¨ aherung Φ(r1 ,r2 ) = √

1 (a Φion (r1 ,r2 ) + b Φkov (r1 ,r2 )) . a 2 + b2

F¨ ur einen rein kovalenten Zustand ist daher die Kombination a = 0 wahrscheinlich eine bessere N¨ aherung der Wellenfunktion als die LCAO-N¨ aherung. Anmerkung 18.1.2: In einem Atom ist die Hybridisierung von Zust¨ anden wegen der Kugelsymmetrie unm¨ oglich. Erst in einem Molek¨ ul ergibt sich diese M¨ oglichkeit durch Brechung der Kugelsymmetrie, d.h. Zust¨ ande mit verschiedener Bahndrehimpulsquantenzahl l, aber gleicher Projektionsquantenzahl λ k¨ onnen sich “mischen”. Anmerkung 18.1.3: Die Gleichung (18.11) ist nat¨ urlich f¨ ur ein Molek¨ ul nicht streng g¨ ultig, sondern wurde nur benutzt, um das Problem der Energieberechnung transparent zu machen. Korrekter ist, dass wir auch den Erwartungswert der kinetischen Energie Wkin (rab ) mithilfe der LCAO-Wellenfunktion berechnen und darauf den Erwartungswert der Gesamtenergie erhalten: E(rab ) = Wkin (rab ) + Wpot (rab ).

18.2 Molek¨ ulspektroskopie Unter dem Begriff Molek¨ ulspektroskopie verstehen wir die Emission und Absorption von elektromagnetischen Wellen durch ein Molek¨ ul. Da das Molek¨ ul ein quantisiertes System ist, erfolgt die Emission und Absorption im Normalfall immer in Form von Energiequanten, deren Gr¨oßen uns somit einen direkten Zugang zu den Energiewerten E eines Molek¨ uls vermitteln. Bisher haben wir als Energieeigenwerte eines Molek¨ uls nur die Energien der Elektronenzust¨ ande E = Eelek betrachtet. Die ungef¨ahre Gr¨oße von

484

18 Molek¨ ulphysik

Eelek ergibt sich aus dem Korrelationsdiagramm Abb. 18.5, wenn wir Elektronen aus der Grundzustandskonfiguration eines Molek¨ uls in seine angeregten Zust¨ ande propagieren. Neben der Elektronenanregung kann ein zweiatomiges Molek¨ ul aber auch noch Schwingungen der beiden Atomkerne a und b um deren Gleichgewichtslage ausf¨ uhren, und es kann um eine Achse durch den Massenmittelpunkt des Molek¨ uls rotieren. In Kap. 6 haben wir uns ausf¨ uhrlich mit diesen Bewegungsformen besch¨ aftigt und gelernt, dass jeder eine gewisse Anzahl von Freiheitsgraden zugeordnet ist. Je nach Schwingungsamplitude bzw. Rotationsgeschwindigkeit ver¨ andern sich die Schwingungsenergie Evib oder Rotationsenergie Erot , aber nat¨ urlich sind diese Ver¨anderungen gequantelt. Allgemein ergibt sich die gequantelte Energie eines Molek¨ uls zu E = Eelek + Evib + Erot .

(18.22)

Dabei sind die Ver¨ anderungen dieser drei Anteile zur Gesamtenergie von ganz unterschiedlichen Gr¨ oßenordnungen: ∆Eelek ≈ 10 eV,

(18.23)

∆Evib ≈ 10−1 eV, ∆Erot ≈ 10−4 eV.

Also wird f¨ ur die Untersuchung der Elektronenzust¨ande Licht im sichtbaren und ultravioletten Spektralbereich ben¨ otigt (siehe Abb. 9.14), f¨ ur die Untersuchung der Molek¨ ulschwingungen Licht im infraroten Bereich; die Untersuchung der Molek¨ ulrotationen erfordert Mikrowellen. Allerdings k¨ onnen diese Untersuchungen an einem Molek¨ ul nur dann durchgef¨ uhrt werden, wenn sich bei der Ver¨ anderung der Zustandsenergie um uls ver¨andert. Die ∆E auch das elektrische Dipolmoment ℘el des Molek¨ Emission bzw. Absorption von Licht setzt immer eine Ver¨anderung ∆℘el = 0 voraus. Bei Ver¨ anderung des Elektronenzustands ist das u ¨ blicherweise der Fall, dagegen besitzen diatomare, homonukleare Molek¨ ule im Grundzustand wegen ihrer Symmetrie (Ladungs- und Massenmittelpunkt fallen zusammen) kein permanentes elektrisches Dipolmoment. Bei Ver¨anderung der Vibrationsund Rotationszust¨ ande im elektronischen Grundzustand ist daher ∆℘el = 0, ¨ d.h. derartige Molek¨ ule k¨ onnen durch Licht nicht zu Uberg¨ angen innerhalb der Vibrations- und Rotationszust¨ ande veranlasst werden. Bei diatomaren heteronuklearen Molek¨ ulen, wie z.B. HCl, ist dies aber m¨oglich. Die Raman-Spektroskopie er¨ offnet auch f¨ ur die homonuklearen Molek¨ ule eine M¨oglichkeit zur Untersuchung ihrer Vibrations- und Rotationszust¨ande, siehe Kap. 18.2.4. Wir wollen uns jetzt mit der Frage besch¨ aftigen, wie groß die Energie E in Gleichung (18.22) wirklich ist. Dazu m¨ ussen wir die station¨are Schr¨odingerGleichung l¨ osen, die sich, wie wir in Kap. 14.2 gelernt haben, ganz allgemein mithilfe der Energieoperatoren so darstellen l¨ asst: (E)Op Φ = ((Eelek )Op + (Evib )Op + (Erot )Op ) Φ = E Φ .

(18.24)

18.2 Molek¨ ulspektroskopie

485

Der einfachste Ansatz f¨ ur die Gesamtwellenfunktion Φ des Molek¨ uls ist die Born-Oppenheimer-N¨ aherung Φ = Φelek Φvib Φrot ,

(18.25)

die daf¨ ur sorgt, dass sich Gleichung 18.24 in drei Gleichungen separieren l¨asst (Eelek )Op Φelek = Eelek Φelek (Evib )Op Φvib = Evib Φvib

(18.26) (18.27)

(Erot )Op Φrot = Erot Φrot .

(18.28)

Mit der L¨ osung der Schr¨ odinger-Gleichung (18.26) haben wir uns im vorherigen Kapitel besch¨ aftigt und gesehen, welche Schwierigkeiten dabei auftreten und mit welchen Methoden diese u ¨ berwunden werden k¨onnen. Mit den L¨ osungen von (18.27) und (18.28) werden wir uns in den n¨achsten beiden Kapiteln besch¨ aftigen. 18.2.1 Das molekulare Rotationsspektrum Ein diatomares Molek¨ ul stellt einen K¨ orper mit einem Tr¨ agheitsmoment I dar, dessen Gr¨ oße im Wesentlichen durch die Masse und die Lage der Atomkerne im Schwerpunktsystem des Molek¨ uls gegeben ist. F¨ ur ein homonukleares Molek¨ ul mit m = ma = mb ergibt sich z.B. I=

m (rab )2 . 2

(18.29)

F¨ ur ein heteronukleares Molek¨ ul finden wir I = mred (rab )2

mit

mred =

ma mb . ma + mb

(18.30)

mred wird als reduzierte Masse eines K¨ orpers bezeichnet. Dreht sich das Molek¨ ul um eine seiner Haupttr¨ agheitsachsen, so ist die Rotation kr¨ aftefrei, d.h. die Drehachse steht fest im Raum. Die zugeh¨orige Rotationsenergie betr¨ agt in der klassischen Physik Erot =

1 (A) 2 I ω , 2

(18.31)

wobei A eine der drei Haupttr¨ agheitsachsen ist. Allerdings sind nur zwei dieser Achsen, die x- und y-Achse, von Bedeutung, denn bez¨ uglich der z-Achse ist I (z) = 0, weil in einem zweiatomigen Molek¨ ul die Gesamtmasse praktisch auf der z-Achse liegt. Diatomare Molek¨ ule haben daher nur zwei Rotationsfreiheitsgrade, wie wir bereits in Kap. 6.2.2 festgestellt haben. F¨ ur die beiden zur z-Achse senkrechten Achsen gilt I (x) = I (y) = I .

(18.32)

486

18 Molek¨ ulphysik

Mithilfe des Drehimpulses L2 = I 2 ω 2 l¨ asst sich Gleichung (18.31) auch schreiben: Erot =

L2 . 2I

(18.33)

Diese klassische Beziehung kann, wie in Kap. 14.2 beschrieben, in die zugeh¨ orige Schr¨ odinger-Gleichung eines Quantensystems umgewandelt werden und ergibt (Erot )Op Φrot =

1 (L2 )Op Φrot = Erot Φrot . 2I

(18.34)

Daraus erkennen wir: Die Energieeigenwerte des quantenmechanischen Rotators ergeben sich, bis auf einen Faktor, aus den Eigenwerten L2 des Operators (L2 )Op , die wir bereits seit Kap. 15.1.2 kennen L2 = l (l + 1) h ¯2 ,

(18.35)

mit der Drehimpulsquantenzahl l, die man in der Molek¨ ulphysik u ¨ blicherweise durch das Symbol J ersetzt. Wir erhalten daher f¨ ur die Rotation eines Molek¨ uls die Energieeigenwerte Erot = h B J (J + 1)

mit

B=

¯ h . 8π I

(18.36)

Die Energiedifferenz zwischen zwei benachbarten Rotationszust¨anden mit ∆J = 1 → J ′ = J + 1 betr¨ agt ∆Erot = h B ((J + 1)(J + 2) − J(J + 1)) = 2 h B (J + 1) .

(18.37)

Diese Energiedifferenz steigt linear mit der Drehimpulsquantenzahl J des unteren Zustands an. Lichtabsorption bzw. Lichtemission findet innerhalb einer Rotationsbande nur mit der Auswahlregel ∆J = ±1 statt. Die Frequenzen

Iabs

1

2

3

4

5

ν ν0

Abb. 18.8. Schematische Darstellung des Frequenzspektrums, das von einem zweiatomigen Molek¨ ul bei ¨ Uberg¨ angen innerhalb einer seiner Rotationsbanden emittiert bzw. absorbiert wird. Die Frequenzlinien sind aquidistant angeordnet, ihr Frequenz¨ abstand betr¨ agt ∆ν = ¯ h/(4π I), er ist also umgekehrt proportional zum Tr¨ agheitsmoment I des Molek¨ uls

18.2 Molek¨ ulspektroskopie

487

des absorbierten bzw. emittierten Lichts ordnen sich daher auf einer Frequenzskala in gleichm¨ aßigen Abst¨ anden an, wie es schematisch in Abb. 18.8 gezeigt ist. Der Abstand zwischen zwei Frequenzen betr¨agt ∆ν = 2 B und erlaubt die experimentelle Bestimmung von B, d.h. des Tr¨agheitsmoments des Molek¨ uls. Betrachten wir z.B. HCl, so findet man B = 3 · 1011 Hz, und endsprechend betr¨ agt der Energieabstand zwischen dem J = 1- und dem J = 0-Zustand ∆Erot = 2,5 · 10−3 eV.

(18.38)

Es ist interessant zu berechnen, wie viele der Rotationszust¨anden in diesem Molek¨ ul bei Normaltemperatur k T = 2,4 · 10−2 eV besetzt sind. F¨ ur das Verh¨ altnis der Besetzungszahlen ergibt Gleichung (6.134) P (J) = e−h B J(J+1)/kT = e−0,05 J(J+1) . P (J = 0)

(18.39)

Also ist z.B. der J = 5-Rotationszustand bei Normaltemperatur nur 5-mal schw¨ acher besetzt als der J = 0-Zustand. Dies ist auch der Grund, warum in den Absorptionsspektren dieser Molek¨ ule eine so große Anzahl der Rotations¨ uberg¨ ange zu beobachten ist. 18.2.2 Das molekulare Vibrationsspektrum Molek¨ ule k¨ onnen um ihre Gleichgewichtslage schwingen, der Grund ist die Abh¨ angigkeit der potenziellen Energie des Molek¨ uls Wpot (rab ) vom Abstand rab zwischen den Atomkernen, wie er f¨ ur das H2 Molek¨ ul z.B. in Abb. 18.4 gezeigt ist. Entwickeln wir die potenzielle Energie um den Abstand rj , bei dem Wpot (rj ) minimal ist, und brechen wir diese Entwicklung nach dem 1. Glied ab, so erhalten wir nach Kap. 4.1 die harmonische N¨ aherung Wpot (z) = k

z2 , 2

(18.40)

wobei die Konstante k von der Form der potenziellen Energie um die Gleichgewichtslage z = 0 mit z = rab − rj abh¨ angt. Die Gleichung (18.40) stellt die potenzielle Energie einer harmonischen Schwingung in der klassischen Physik dar. In der Quantenphysik sind die Energien dieser Schwingung gequantelt, die Energieeigenwerte Evib ergeben sich aus der station¨aren Schr¨odingerGleichung (14.32) −

z2 ¯ 2 d2 h Φvib = Evib Φvib . Φ + k vib 2 m dz 2 2

(18.41)

Diese Differentialgleichung mit der Randbedingung Φvib (z → ∞) = 0 ist relativ leicht zu l¨ osen, ohne dass wir hier im Detail auf diese Rechnung eingehen wollen. Wir sind allein an den Energieeigenwerten interessiert, und diese ergeben sich zu

488

18 Molek¨ ulphysik

Evib = h ¯ ω0 (nvib + 1/2)

mit

ω0 =



k . m

(18.42)

Die Vibrationsquantenzahl nvib besitzt nur ganzzahlige und positive Werte nvib = 0, 1, 2, ... . Die Energiedifferenz zwischen benachbarten Zust¨anden n′vib = nvib + 1 ist daher konstant in der harmonischen N¨aherung ∆Evib = h ¯ ω 0 = h ν0

mit

ν0 =

ω0 . 2π

(18.43)

Dieses Ergebnis ist aber, wie schon gesagt, nur so lange korrekt, solange die Schwingung wirklich harmonisch ist. Bei großen Werten der Quantenzahl nvib weicht die potenzielle Energie Wpot (rab ) relativ stark von der harmonischen N¨ aherung k z 2 /2 ab und die Energiedifferenzen werden mit wachsendem nvib immer kleiner. Die Absorption bzw. Emission von Licht und die dabei auftretende Ver¨anderung der Vibrationsenergie gehorcht der Auswahlregel ∆nvib = ±1. Also besitzt in der harmonischen N¨ aherung das absorbierte bzw. emittierte Licht nur eine einzige Frequenz ν0 . Bei Normaltemperatur l¨asst sich unter Ber¨ ucksichtigung der Gr¨ oßenordnungen (18.23) leicht zeigen, dass f¨ ur das Besetzungsverh¨ altnis eines angeregten Vibrationszustands zum Grundzustand gilt P (nvib ) ≈ e−4 nvib ≈ 0 , P (nvib = 0)

(18.44)

d.h. bei der Lichtabsorption wird auch im anharmonischen Fall nur eine Fre¨ quenz ν0 beobachtet, die dem Ubergang vom Grundzustand in den ersten angeregten Vibrationszustand entspricht. 18.2.3 Die Molek¨ ulspektren Nach Gleichung (18.22) lautet die Gesamtenergie eines Zustands in einem Molek¨ ul E = Eelek + h B J(J + 1) + h ν0 (nvib + 1/2) .

(18.45)

In Abb. 18.9a ist dies schematisch dargestellt, wobei G¨ ultigkeit der harmo¨ nischen N¨ aherung Voraussetzung ist. Die Uberg¨ ange zwischen Elektronen¨ zust¨ anden mit den Quantenzahlen j und j ′ schließen meist auch Uberg¨ ange zwischen den Vibrationszust¨ anden und den Rotationszust¨anden ein. Dasselbe ¨ gilt f¨ ur Uberg¨ ange innerhalb einer Vibrationsbande mit ∆nvib = ±1, die meis¨ tens auch Uberg¨ ange innerhalb der Rotationsbanden mit ∆J = ±1 induziert. Betrachten wir den letzten Fall in Abb. 18.9b zuerst. Auf Grund der Aus¨ wahlregeln m¨ ussen folgende Vibrations-Rotations-Uberg¨ ange zu beobachten sein:

18.2 Molek¨ ulspektroskopie

(a) E

(b) J=

nvib =

(c)

E

5

n’vib =

rot

4 3 2 1 0

rot

rot

2 vib

489

3

n vib=

2

3 1

5

vib

2

rot

0 4

vib vib

3 2 1 0

1

elektronisch

r a−b

P

1 0

Q R Zweig

r a−b

Abb. 18.9. Unter (a) sind schematisch alle Anregungsenergien eines zweiatomigen Molek¨ uls gezeigt, welche dieselbe Elektronenkonfiguration (elektronisch) besitzen. Die G¨ ultigkeit der harmonischen N¨ aherung (gepunktete Parabel) wird angenommen. ¨ Der mittlere Teil (b) zeigt die m¨ oglichen Uberg¨ ange zwischen den Rotations- und ¨ Vibrationszust¨ anden. Unter (c) ist dargestellt, dass Uberg¨ ange zwischen verschiedenen Elektronenkonfigurationen bevorzugt bei konstantem intermolekularem Abstand ra−b an den Umkehrpunkten der Schwingungen erfolgen

Q Zweig:

ν = ν0

R Zweig: P Zweig:

ν = ν0 + 2 B (J + 1) ν = ν0 − 2 B (J + 1)

(∆J = 0)

(18.46) (∆J = +1) (∆J = −1) .

Die Frequenz ν0 des Q Zweigs wird i.A. nicht beobachtet, wenn die Rotations¨ Vibrations-Uberg¨ ange innerhalb einer konstanten Elektronenkonfiguration ¨ auftreten, weil Uberg¨ ange mit ∆J = 0 dann nicht erlaubt sind. Die Linien in dem Absorptionsspektrum liegen daher bei kleineren und gr¨ oßeren Frequenzen symmetrisch um ν0 , wobei der Abstand zwischen zwei benachbarten Linien konstant ist. Dies ist der Idealfall, in Wirklichkeit weichen die Lagen der Spektrallinien innerhalb eines Zweigs von der Gleichung (18.46) ab, wenn die Tr¨agheitsmomente des Molek¨ uls zu verschiedenen Vibrationszust¨ anden verschieden sind oder wenn sie sich mit der Rotationsgeschwindigkeit ver¨ andern. ¨ Findet gleichzeitig auch noch ein Ubergang zwischen verschiedenen Elektronenzust¨anden j → j ′ statt, so involviert dieser bevorzugt solche Vibrationszust¨ande, deren Schwingungsumkehrpunkte beim gleichen Abstand rab zwischen den Atomkernen auftreten. Man nennt diese Auswahlregel das FranckCondon-Prinzip. Es tr¨ agt der Tatsache Rechnung, dass sich ein schwingendes Molek¨ ul bei großen Quantenzahlen nvib die meiste Zeit in den Umkehr-

490

18 Molek¨ ulphysik

¨ punkten der Schwingung aufh¨ alt. Die Anderung der Elektronenkonfiguration durch Absorption oder Emission von Licht findet daher mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesen Punkten bei konstantem rab statt. In Abb. 18.9c ist das Franck-Condon-Prinzip grafisch dargestellt, es ist auch dann wirksam, wenn sich bei dem Elektronen¨ ubergang die Vibrationsquantenzahl um ∆nvib = ±1 ¨ ver¨andern muss. Dar¨ uber hinaus werden bei einem Ubergang zwischen Elektronenzust¨ anden noch diverse Rotationszust¨ ande mit angeregt, sodass die Molek¨ ulspektren i.A. sehr kompliziert sind und aus einer großen Anzahl von Linien bestehen, deren Frequenzen eng benachbart sind und die in den Spektren ¨ als Banden auftreten, die auf einzelnen elektronischen Uberg¨ angen mit dazu gekoppelten Schwingungs¨ uberg¨ angen aufbauen. Die Abb. 18.9a vermittelt eine Eindruck davon, wie groß die Komplexit¨ at der Molk¨ ulspektren sein kann. 18.2.4 Die Raman-Streuung Vibrations- und Rotations¨ uberg¨ ange ohne einen gleichzeitigen Elektronenu ulen nicht beobachtet, wenn diese Molek¨ ule kein ¨ bergang werden in Molek¨ permanentes elektrisches Dipolmoment besitzen, wie z.B. in linearen Molek¨ ulen mit Spiegelsymmetrie an einer Ebene durch ihren Massenmittelpunkt. O-C-O oder H-H sind Molek¨ ule von diesem Typ. Man kann aber in diesen Molek¨ ulen ein Dipolmoment von außen induzieren, z.B. durch das elektrische Feld einer elektromagnetischen Welle. Anschaulich betrachtet bedeutet diese Polarisation des Molek¨ uls eine virtuelle Absorption und Emission des Lichts. Virtuell deswegen, weil die Absorption nicht in einen station¨aren Zustand des Molek¨ uls erfolgen muss, das Licht also nicht die Bedingung h ν = ∆E erf¨ ullen muss. Die Emission muss dann auch nicht unbedingt in den Anfangszustand des Molek¨ uls zur¨ uckf¨ uhren, sondern kann alternativ in einem davon verschiedenen Rotations- bzw. Vibrationszustand enden. Den ersten Fall der virtuellen Absorption-Emission bezeichnet man als Rayleigh-Streuung. Unterscheiden sich Anfangszustand i und Endzustand f des Molek¨ uls, so spricht man von Raman-Streuung. Die Raman-Streuung zeichnet sich dadurch aus, dass das einfallende Licht und das an den Molek¨ ulen gestreute Licht verschiedene Frequenzen besitzt. Im Normalfall wird Licht aus dem sichtbaren oder ultravioletten Spektralbereich in der Raman-Spektroskopie verwendet. Die relative Frequenzdifferenz der Streulichts ∆ν/ν = (Ef − Ei )/h ν ist daher in der Gr¨ oßenordnung 10−5 , und das Raman-Spektrometer muss ein entsprechend hohes Aufl¨ osungsverm¨ ogen besitzen. Auf der anderen Seite macht dann die Raman-Spektroskopie eine direkte Aussage u ¨ ber die Energien von Vibrations- und Rotationszust¨ anden. Die Raman-Spektroskopie ist deswegen eine weit verbreitete Methode zur Untersuchung von Molek¨ ulen, insbesondere von solchen ohne permanentes elektrisches Dipolmoment, deren Ergebnisse oft einfacher zu interpretieren sind als die, die man im Zusammenhang mit ¨ elektronischen Uberg¨ angen beobachtet.

18.2 Molek¨ ulspektroskopie

491

Anmerkung 18.2.1: Warum muss sich bei der Absorption bzw. Emission von elektromagnetischen Wellen das elektrische Dipolmoment des Molek¨ uls ver¨ andern? Wir erinnern uns an Kap. 9.4.3, in dem erl¨ autert wurde, dass wir uns ein Molek¨ ul als einen Hertz’schen Dipol vorstellen k¨ onnen, der nach Gleichung (9.108) das elektriangt nur sche Dipolmoment ℘el (t) besitzt. Der Hertz’sche Dipol sendet oder empf¨ elektromagnetische Wellen, wenn ∆℘el = d℘el /dt ∆t = 0 ist. Dies ist nur eine notwendige Bedingung; bei der Lichtemission bzw. Lichtabsorption m¨ ussen auch alle Erhaltungsgesetze erf¨ ullt sein. Die G¨ ultigkeit der Energieerhaltung h ν = ∆E benutzen wir st¨ andig, aber auch die Drehimpulserhaltung und die Parit¨ atserhaltung d¨ urfen nicht verletzt werden. Das Photon besitzt die Spinquantenzahl s = 1 und hat die Parit¨ at u. Daraus ergeben sich die Auswahlregeln, die wir in diesem Kapitel ofters erw¨ ahnt haben. Vergleichen Sie auch mit Anmerkung 15.2.2, die ausf¨ uhrliche ¨ Diskussion der Auswahlregeln geht aber weit u ¨ ber den Rahmen dieses Lehrbuchs hinaus.

19 Anh¨ ange

In den Anh¨ angen zu diesem Lehrbuch sollen kurz einige wichtige mathematische Formeln und Rechenregeln zusammnengefasst werden, die o¨fters in diesem Lehrbuch benutzt werden. Am Schluss befinden sich zwei Tabellen mit den wichtigsten physikalischen Konstanten und den Definitionen der Vorsilben zu den physikalischen Maßeinheiten, und ganz am Schluss eine Liste der in der Natur vorkommenden stabilen Atomkerne. Eine wesentlich umfangreichere Zusammenstellung aller wichtigen mathematischen Methoden und Formeln findet sich z.B. in dem Buch: I.N. Bronstein, K.A. Semendjajew: Taschenbuch der Mathematik (Verlag Harri Deutsch, Frankfurt) ISBN 3-817-12005-2

494

19 Anh¨ ange

19.1 Anhang 1: Rechenregeln f¨ ur Vektoren.

Operation

Schreibweise

Komponentendarstellung

Vektor

r

Betrag

|r|

r = xx  + y y + z z

|r| =

Gleichheit

r1 = r2

x1 = x2 y1 = y2 z1 = z2

Spiegelung

r 1 = −r 2

x1 = −x2 y1 = −y2 z1 = −z2

Addition

r1 = r2 + r3

x1 = x2 + x3 y1 = y2 + y3 z1 = z2 + z3

Subtraktion

r1 = r2 − r3

x1 = x2 − x3 y1 = y2 − y3 z1 = z2 − z3

Nullvektor

r=0

x=0 y=0 z=0

Multiplikation mit Skalar s

r1 = s r2

x1 = s x2 y1 = s y2 z1 = s z2



x2 + y 2 + z 2 =



r2

19.2 Anhang 2: Das Skalar-Produkt

495

19.2 Anhang 2: Das Skalar-Produkt Durch das Skalar-Produkt r1 = r2 · r 3 wird ein Skalar r1 definiert, der den Wert besitzt r1 = |r 2 | |r 3 | cos θ mit 0 ≤ θ ≤ π. Der Winkel θ ist der eingeschlossene Winkel zwischen den Vektoren r2 und r3 . Das bedeutet r1 = 0, wenn (1) r2 = 0, oder (2) r3 = 0, oder (3) θ = π/2 . Die Rechenregeln f¨ ur das Skalar-Produkt lauten; Tabelle 19.1. Eigenschaften des Skalar-Produkts Operation

Schreibweise

Komponentendarstellung

Skalar insbesondere

r1 = r 2 · r 3 r2 = r · r

r 1 = x 2 x 3 + y2 y3 + z 2 z 3

Vertauschung

r2 · r3 = r3 · r2

Klammerung

r 4 · (r 2 + r 3 ) = r4 · r2 + r4 · r3

Multiplikation mit Skalar

a2 a3 (r 2 · r 3 ) = (a2 r 2 ) · (a3 r 3 )

Ableitung

d (r · r ) dt  2 3    = dr 2 · r 3 + r 2 · dr 3 dt dt

496

19 Anh¨ ange

19.3 Anhang 3: Das Vektor-Produkt Durch das Vektor-Produkt r1 = r 2 × r3 wird ein neuer Vektor r 1 definiert, ur ein der senkrecht auf den Vektoren r2 und r 3 steht und die Anforderungen f¨ rechtsh¨ andiges Koordinatensystem erf¨ ullt (siehe Abb. 2.8). Die Komponente dieses Vektors ist r1 = |r 2 | |r 3 | sin θ mit 0 < θ < π.

r1

r2

θ

r3

Abb. 19.1. Die Orientierung der senkrecht aufeinander stehenden Vektoren r 2 , r 3 und r 1 , die zusammen ein rechtsh¨ andiges kartesisches Koordinatensystem bilden

Tabelle 19.2. Eigenschaften des Vektor-Produkts Operation

Schreibweise

Komponentendarstellung

Vektor

r1 = r2 × r3

x 1 = y2 z 3 − y3 z 2 y1 = z 2 x 3 − z 3 x 2 z 1 = x 2 y3 − x 3 y2

Nullvektor

r1 = r2 × r2 = r 2 × (−r 2 ) = 0

x 1 = y2 z 2 − y2 z 2 = 0 y1 = z 2 x 2 − z 2 x 2 = 0 z 1 = x 2 y2 − x 2 y2 = 0

Vertauschung

r 2 × r 3 = −(r 3 × r 2 )

y2 z3 − y3 z2 = −(y3 z2 − y2 z3 ) z2 x3 − z3 x2 = −(z3 x2 − z2 x3 ) x2 y3 − x3 y2 = −(x3 y2 − x2 y3 )

Klammerung

r 1 × (r 2 + r 3 ) = r1 × r2 + r1 × r3

Multiplikation mit Skalar

a2 a3 r 1 = (a2 r 2 ) × (a3 r 3 )

Ableitung

d (r × r ) 3 dt  2    dr 2 × r 3 + r 2 × dr 3 = dt dt

19.4 Anhang 4: Die wichtigsten Beziehungen zwischen Funktionen sinϕ und cosϕ. 497

19.4 Anhang 4: Die wichtigsten Beziehungen zwischen den harmonischen Funktionen sinϕ und cosϕ.

sin ϕ = −sin (−ϕ) d sin ϕ = cos ϕ dϕ

cos ϕ = cos (−ϕ) d cos ϕ = −sin ϕ dϕ

sin ϕ = cos (π/2 − ϕ) = sin (π − ϕ) cos ϕ = sin (π/2 − ϕ) = −cos (π − ϕ) sin (ϕ1 + ϕ2 ) = sin ϕ1 cos ϕ2 + cos ϕ1 sin ϕ2 cos (ϕ1 + ϕ2 ) = cos ϕ1 cos ϕ2 − sin ϕ1 sin ϕ2 sin ϕ1 + sin ϕ2 = 2 sin ((ϕ1 + ϕ2 )/2) cos ((ϕ1 − ϕ2 )/2) sin ϕ1 − sin ϕ2 = 2 sin ((ϕ1 − ϕ2 )/2) cos ((ϕ1 + ϕ2 )/2) cos ϕ1 + cos ϕ2 = 2 cos ((ϕ1 + ϕ2 )/2) cos ((ϕ1 − ϕ2 )/2) cos ϕ1 − cos ϕ2 = −2 sin ((ϕ1 + ϕ2 )/2) sin ((ϕ1 − ϕ2 )/2)

Zwischen den harmonischen Funktionen und der Exponentialfunktion mit komplexem Argument bestehen wichtige Beziehungen, die insbesondere auch zum Beweis der Additionstheoreme in der obigen Zusammenstellung benutzt werden k¨ onnen:  1  iϕ e − e−i ϕ 2i  1  iϕ e + e−i ϕ . cos ϕ = 2 sin ϕ =

Daraus ergeben sich auch die Umkehrungen

ei ϕ = cos ϕ + i sin ϕ , e−i ϕ = cos ϕ − i sin ϕ , die uns bei der Behandlung der Schwingungen in Kap. 7.1.4 wieder begegnen werden.

498

19 Anh¨ ange

19.5 Anhang 5: Die Taylor-Entwicklung Jede mehrfach differenzierbare Funktion f (x) kann um den Wert x0 mit x = x0 + ∆x in eine Taylor-Reihe entwickelt werden: f (x) =

∞  (∆x)k dk f (x0 ) k! dxk

k=0

= f (x0 ) + ∆x

df (x0 ) (∆x)2 d2 f (x0 ) (∆x)3 d3 f (x0 ) + + ... . + dx 2! dx2 3! dx3

Dabei ist dk f (x0 )/dxk der Wert der k. Ableitung der Funktion f (x) nach x an der Stelle x = x0 . Spezialf¨ alle: Ist eine Funktion symmetrisch um x0 (f (−∆x) = f (∆x)), so enth¨alt die Reihe nur die geraden Glieder k = 2n. Ist eine Funktion antisymmetrisch um x0 (f (−∆x) = −f (∆x)), so enth¨alt die Reihe nur die ungeraden Glieder k = 2n + 1. Es folgen jetzt einige Reihenentwicklungen f¨ ur ausgesuchte Funktionen: ur |x| < 1 Die Binomialreihe um x0 = 0 f¨ (1 ± x)n = 1 ± n x +

n(n − 1) 2 n(n − 1)(n − 2) 3 x ± x + ... 2! 3!

Die Exponentialfunktion um x0 = 0 f¨ ur |x| < ∞ exp(±x) = 1 ± x +

x3 x2 ± + ... 2! 3!

Der nat¨ urliche Logarithmus um x0 = 1 f¨ ur 0 < x < 2 ln(x) = (x − 1) −

(x − 1)2 (x − 1)3 (x − 1)4 + − + ... 2 3 4

Die Sinusfunktion um x0 = 0 f¨ ur |x| < ∞ sin(x) = x −

x3 x5 x7 + − + ... 3! 5! 7!

Die Cosinusfunktion um x0 = 0 f¨ ur |x| < ∞ cos (x) = 1 −

x4 x6 x2 + − + ... 2! 4! 6!

19.6 Anhang 6: Differentialgleichungen

499

19.6 Anhang 6: Differentialgleichungen Eine Differentialgleichung ist das naheliegende Instrument, um Zustandsanderungen in der Natur auch mathematisch beschreiben zu k¨onnen. Wird ¨ ein Zustand in einem gegebenen Raum-Zeit-Punkt durch eine Anzahl von Zuugen diese Zustandsgr¨oßen i.A. einem standsgr¨ oßen {ξi } beschrieben, so gen¨ physikalischen Gesetz f ({ξi }, t, x, y, z) = 0 . Die Ver¨ anderung dieses Zustands in Raum und Zeit wird dann durch eine Differentialgleichung beschrieben. Wir wollen das beispielhaft anhand der zeitlichen Ver¨ anderungen untersuchen. Die zeitliche Ver¨ anderungen der Zustandsgr¨oßen sind gegeben durch ihre Ableitungen nach der Zeit dk ξi /dtk , und die zeitliche Ver¨anderung des Zustands gen¨ ugt dann i.A. physikalischen Gesetzen, die ein System von gew¨ ohnlichen Differentialgleichungen ergeben Fi ({ξi ,

dk ξi dξi ,..., k }, t, x, y, z) = 0 . dt dt

Die Differentialgleichungen werden “gew¨ ohnlich” genannt, weil die Ableitungen nach nur einer Variablen, n¨ amlich nach der Zeit t, darin auftreten. Außerdem sind diese Differentialgleichungen linear und von der Ordnung k, weil die Ableitungen nur linear und bis zur maximalen Ordnung k auftreten. In diesem Lehrbuch benutzen wir nur Differentialgleichungen mit der maximalen Ordnung k = 2, und weiterhin gen¨ ugt sehr oft nur eine Zustandsgr¨oße ξ, um den Zustand zu kennzeichnen. Bis auf eine wichtige Ausnahme, die die raum-zeitliche Ausbreitung von Wellen betrifft, stoßen wir in diesem Lehrbuch daher auf Differentialgeichungen der Form F (ξ,

dξ d2 ξ , ,t) = 0 . dt dt2

Ein Beispiel f¨ ur eine Differentialgleichung der Ordnung 1 ist das radioaktive Zerfallsgesetz dξ +aξ = 0 , dt wobei ξ die Anzahl der radioaktiven Kerne repr¨asentiert. Ein Beispiel f¨ ur eine Differentialgleichung der Ordnung 2 ist die Bewegungsgleichung f¨ ur eine harmonische Schwingung d2 ξ +aξ = 0 , dt2 wobei ξ f¨ ur die Auslenkung aus der Ruhelage steht.

500

19 Anh¨ ange

Differentialgleichungen in der Physik besitzen immer eine L¨osung, denn sie stellen die mathematische Formulierung f¨ ur eine beobachtbare Zustands¨anderung dar. Die L¨ osung ist der Wert der Zustandsgr¨oße ξ(t) zu jeder Zeit t. Aber diese L¨ osung ist nicht eindeutig, denn sie besitzt eine Anzahl von k zun¨ achst unbestimmten Integrationskonstanten Ck . Diese werden allerdings dadurch bestimmt, dass man den Wert der Zustandsvariablen ξ und aller ihrer zeitlichen Ableitungen bis zur Ordnung k − 1 f¨ ur einen gewissen Zeitpunkt t = t0 festlegt. Man nennt diese Werte die “Anfangsbedingungen”, wenn zeitliche Ver¨ anderungen untersucht werden. Bei r¨aumlichen Untersuchungen spricht man von den “Randbedingungen”. In unserem Fall machen erst die Anfangsbedingungen die L¨ osung der Differentialgleichung eindeutig. Wie sehen diese L¨ osungen aus? Die meisten Differentialgleichungen, die in diesem Lehrbuch behandelt werden, besitzen eine L¨osung in der Form ξ(t) =

k 

Ci eα t ,

i=1

ergeben sich also als Linearkombination von Exponentialfunktionen. F¨ ur die Differentialgleichung von der Ordnung 1 liefert dieser Ansatz die L¨osung ξ(t) = C1 e−a t . Die Zustandsvariable nimmt daher exponentiell ab oder zu, je nachdem ob a positiv oder negativ ist. F¨ ur die Differentialgleichung von der Ordnung 2 liefert dieser Ansatz die L¨ osung ξ(t) = C1 e−

√ at

+ C2 e+

√ at

.

In diesem Fall sieht es zun¨ achst so √aus, als ob Schwierigkeiten auftreten k¨ onnten, wenn a < 0 ist und daher a imagin¨ar wird. Aber im Anhang √ 4 ist gezeigt, dass dies der Darstellung der harmonischen Funktionen sin ( a t) √ und cos ( a t) entspricht. Zum Schluss wollen wir noch kurz die Differentialgleichung f¨ ur die Wellenausbreitung betrachten, die von der Form d2 ξ d2 ξ − a =0 dt2 dx2

mit

a>0

ist. Dies ist eine partielle Differentialgleichung von der Ordnung 2, denn es treten in ihr die Ableitung nach Ort und Zeit auf. Durch den L¨osungsansatz ξ = ξt ξx , wobei ξt nur von der Zeit und ξx nur von dem Ort abh¨angen, kann man die partielle Differentialgleichung in zwei gew¨ohnliche Differentialgleichungen separieren: d2 ξt − b ξt = 0 dt2 d2 ξx b − ξx = 0 . dx2 a

mit

b>0

19.6 Anhang 6: Differentialgleichungen

501

Dies sind zwei entkoppelte Differentialgleichungen der harmonischen Schwingung, deren L¨ osungen ξt und ξx wir bereits kennen. Mit β 2 = b und α2 = b/a ergibt sich als vollst¨ andige L¨ osung   ξ(t, x) = C1 e−i(β t−α x) + C2 e+i(β t−α x)   + C3 e−i(β t+α x) + C4 e+i(β t+α x) .

Davon stellt, bei richtiger Wahl der Integrationskonstanten Ci , der erste Teil der L¨ osung eine in positiver x-Richtung fortschreitende Welle dar, der zweite Teil eine in negativer x-Richtung fortschreitende Welle.

502

19 Anh¨ ange

19.7 Anhang 7: Physikalische Konstanten und Vorsilben zu den Maßeinheiten Tabelle 19.3. Ausgesuchte physikalische Konstanten Physikalische Gr¨ oße Vakuumlichtgeschwindigkeit Elementarladung Planck’sche Konstante

Symbol c e h

Feinstrukturkonstante Avogadro-Konstante Universelle Gaskonstante Boltzmann-Konstante

α α−1 nA R k

Elektrische Feldkonstante Magnetische Feldkonstante Stefan-Boltzmann-Konstante Atomare Masse

ǫ0 µ0 σ u

Elektronenmasse

me

Protonenmasse

mp

Neutronenmasse

mn

Bohr’sches Magneton

℘Bohr

Wert 2,99792458 · 108 m s−1 1,60217646 · 10−19 C 6,62606876 · 10−34 J s−1 4,13566727 · 10−15 eV s−1 7,29735308 · 10−3 137,0359895 6,0221367 · 1023 mol−1 8,314510 J K−1 mol−1 1,3806503 · 10−23 J K−1 8,617342 · 10−5 eV K−1 8,854187871 · 1012 A2 s2 N−1 A−2 4π · 10−7 N A−2 5,67051 · 10−8 W m−2 K−4 1,66053873 · 10−27 kg 931,4940 MeV/c2 9,10938188 · 10−31 kg 0,510998 MeV/c2 1,67262158 · 10−27 kg 938,271998 MeV/c2 1,67492716 · 10−27 kg 939,565330 MeV/c2 9,27400899 · 10−24 J T−1 5,788381749 · 10−5 eV T−1

Tabelle 19.4. Die Vorsilben zu den physikalischen Maßeinheiten Vorsilbe Atto

Wert −18

10

−15

Abk. Vorsilbe a

Deka

Wert

Abk.

1

da

2

10

Femto

10

f

Hekto

10

h

Piko

10−12

p

Kilo

103

k

Nano

−9

10

n

Mikro

10−6

µ

−3

Mega

6

10

M

Giga

109

G

12

Milli

10

m

Tera

10

T

Zenti

10−2

c

Peta

1015

P

Dezi

10−1

d

Exa

1018

E

Beachten Sie, dass ab 103 alle Vorsilben als Abk¨ urzung nur noch einen großen Buchstaben besitzen.

19.8 Anhang 8: Stabile Atomkerne

503

19.8 Anhang 8: Stabile Atomkerne Unter stabilen Atomkernen verstehen wir nur solche, die nicht radioaktiv zerfallen, also mit unser heutigen Messgenauigkeit eine unendlich lange Lebensdauer besitzen. Tabelle 19.5. Stabile Atomkerne. F¨ ur jede Ordnungszahl Z ist das Isotop mit der gr¨ oßten H¨ aufigkeit unterstrichen Z 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Symbol H He Li Be B C N O F Ne Na Mg Al Si P S Cl Ar K Ca

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Sc Ti V Cr Mn Fe Co Ni Cu Zn Ga Ge As Se

Neutronenzahl N (prozentuale H¨ aufigkeit) 0 (99,985) 1 (0,015) 1 (0,00014) 2 (99,99986) 3 (7,5) 4 (92,5) 5 (100) 5 (20,0) 6 (80,0) 6 (98,9) 7 (1,1) 7 (99,63) 8 (0,37) 8 (99,76) 9 (0,04) 10 (0,20) 10 (100,0) 10 (90,51) 11 (0,27) 12 (9,22) 12 (100,0) 12 (78,99) 13 (10,00) 14 (11,01) 14 (100,0) 14 (92,23) 15 (4,67) 16 (3,10) 16 (100,0) 16 (95,02) 17 (0,75) 18 (4,21) 20 (0,02) 18 (75,77) 20 (24,23) 18 (0,337) 20 (0,063) 22 (99,600) 20 (93,27) 22 (6,73) 20 (96,941) 22 (0,647) 23 (0,135) 24 (2,086) 26 28 (0,187) Scandium 24 (100,0) Titan 24 (8,2) 25 (7,4) 26 (73,8) 27 (5,4) 28 28 (99,75) Vanadium 27 (0,25) Chrom 26 (4,35) 28 (83,79) 29 (9,50) 30 (2,36) Mangan 30 (100,0) Eisen 28 (5,8) 30 (91,7) 31 (2,2) 32 (0,3) Kobalt 32 (100,0) Nickel 30 (68,27) 32 (26,10) 33 (1,13) 34 (3,59) 36 34 (69,17) 36 (30,83) Kupfer Zink 34 (48,6) 36 (27,9) 37 (4,1) 38 (18,8) 40 Gallium 38 (60,1) 40 (38,9) Germanium 38 (20,5) 40 (27,4) 41 (7,8) 42 (36,5) 44 42 (100,0) Arsen Selen 40 (0,99) 42 (9,93) 43 (8,39 44 (25,94) 46

Name Wasserstoff Helium Lithium Beryllium Bor Kohlenstoff Stickstoff Sauerstoff Fluor Neon Natrium Magnesium Aluminium Silizium Phosphor Schwefel Chlor Argon Kalium Calcium

(0,004)

(5,2)

(0,91) (0,6) (7,8) (54,75)

Z Symbol Name 35 Br Brom 36 Kr Krypton 37 38 39 40 41 42

Rb Sr Y Zr Nb Mo

Rubidium Strontium Yttrium Zirkon Niob Molybd¨ an

43 Tc 44 Ru

Technetium Ruthenium

45 Rh 46 Pd

Rhodium Palladium

47 Ag 48 Cd

Silber Cadmium

49 In 50 Sn

Indium Zinn

51 52 53 54

Antimon Tellur Iod Xenon

Sb Te I Xe

44 42 50 48 46 50 50 52 50 56

Neutronenzahl N (prozentuale H¨ aufigkeit) (50,99) 46 (49,31) (0,3) 44 (2,3) 46 (11,6) 47 (11,5) 48 (57,0) (17,3) (100,0) (0,56) 48 (9,86) 49 (7,00) 50 (82,58) (100,0) (51,45) 51 (11,32) 52 (17,19) 54 (17,28) 56 (2,76) (100,0) (14,84) 52 (9,25) 53 (15,92) 54 (16,68) 55 (9,55) (24,13) 58 (9,63)

52 58 58 56 64 60 58 66 64 62 68 70 68 74 70 77 78 74 81 82 78 82 82 90

(5,5) (31,6) (100,0) (1,02) (11,72) (51,83) (1,42) (32,72) (100,0) (1,0) (24,3) (57,3) (0,03) (100,0) (1,0) (21,2) (100,0) (0,106) (11,230) (100,0) (0,19) (100,0) (35,60) (7,40)

55 Cs 56 Ba

C¨ asium Barium

57 58 59 60

La Ce Pr Nd

Lanthan Cer Praseodym Neodym

61 62 63 64

Pm Sm Eu Gd

Promethium Samarium 82 (4,21) Europium 88 (47,8) Gadolinium 90 (2,18) 96 (21,90) Terbium 94 (100,0) Dysprosium 90 (0,1) 97 (24,9) Holmium 98 (100,0)

65 Tb 66 Dy 67 Ho

54 (1,9) 60 (18,7)

55 (12,7)

58 (11,14)

59 (22,33) 60 (27,33) 62 (26,46)

62 (48,17) 60 (1,01) 68 (8,52)

62 (14,25) 63 (14,59) 64 (27,49)

64 69 72 70

(0,7) (8,6) (42,7) (7,76)

65 (0,4) 70 (32,4)

72 (0,1) 78 (26,9)

74 (1,9) 80 (10,4)

56 (12,6)

66 (14,7) 72 (4,6)

57 (17,0)

67 (7,7) 74 (5,6)

72 (14,38) 73 (21,30) 74 (56,53) 75 (26,4) 82 (8,9)

76 (4,1)

76 (0,101) 78 (2,417) 79 (6,592) 80 (7,854) 82 (71,700) 80 (0,25)

82 (88,48) 84 (11,06)

83 (15,98)

85 (10,89) 86 (22,56) 88 (7,56)

87 (18,72) 90 (52,2) 91 (14,83)

88 (10,04) 90 (36,23) 92 (30,80)

92 (0,1) 98 (28,2)

94 (2,3)

92 (20,51) 93 (15,68) 94 (24,89)

95 (18,9)

96 (25,5)

19.8 Anhang 8: Stabile Atomkerne Z Symbol Name 68 Er Erbium

N (prozentuale H¨ aufigkeit) 98 (33,6) 99 (23,0) 100 (26,8)

69 Tm 70 Yb

101 (14,3)

102 (21,9)

103 (16,1)

106 (27,2)

107 (13,7)

108 (35,3)

109 (14,3)

110 (30,7)

112 (28,6)

71 72 73 74 75 76

Lu Hf Ta W Re Os

77 78 79 80

Ir Pt Au Hg

81 Tl 82 Pb 83 Bi

Neutronenzahl 94 (0,1) 96 (1,6) 102 (14,9) Thulium 100 (100,0) Ytterbium 98 (0,1) 100 (3,1) 104 (31,8) 106 (12,7) Lutetium 104 (100,0) Hafnium 104 (5,2) 105 (18,6) Tantal 108 (100,0) Wolfram 106 (0,1) 108 (26,3) Rhenium 110 (100,0) Osmium 108 (0,02) 111 (1,63) 116 (41,66) Iridium 114 (37,3) 116 (62,7) Platin 114 (0,8) 116 (32,9) Gold 118 (100,0) Quecksilber 116 (0,1) 118 (10,1) 122 (29,7) 124 (6,8) Thallium 122 (29,5) 124 (70,5) Blei 124 (24,4) 125 (22,4) Bismut 126 (100,0)

505

112 (13,51) 113 (16,36) 114 (26,82)

117 (33,8)

118 (25,3)

120 (7,2)

119 (17,0)

120 (23,1)

121 (13,2)

126 (53,2)

Sachverzeichnis

Abbe’sche Theorie 310 Abbildungsmaßstab 294 Abklingzeit 147, 256 Abl¨ oseenergie 206, 345, 399 Abschirmzahl 399 Absorptionskoeffizient 397, 438 Absorptionsl¨ ange 439 Absorptionsverm¨ ogen 278 Adh¨ asionskraft 80 Adiabaten-Koeffizient 114 ¨ Aquipotenzialfl¨ ache 183 ¨ Aquivalenzdosis 443 Aggregatzustand 471 fester 75 fl¨ ussiger 75 gasf¨ ormiger 75 Akkomodation 294 Aktivit¨ at 434, 442 Alkaliatom 394 Alpha-Zerfall 433 Amperemeter 224 Amplitude 38 Anion 204 Anode 204 Anomalie des Wassers 134 Anpassung 152 Antimaterie 362 Antiproton 411 Arbeit 41 Archimedisches Prinzip 78 Atom 169 Atomare Energieeinheit 183 Atomare Masseneinheit 97

Atomgitter 463 Atomkern 414 Liste der stabilen 503 Aufl¨ osungsverm¨ ogen 310 Auftrieb 78 Auswahlregel 486, 488, 491 Avogadro-Zahl 96 Bahndrehimpuls 382 Bahnkurve 24 Barometrische H¨ ohenformel 92 Basismaßeinheit 10 Bernoulli’sches Gesetz 85 Beschleunigung 22 Besetzungswahrscheinlichkeit 128 Beta-Zerfall 433 Bethe-Bloch-Kurve 440 Bethe-Weizs¨ acker-Formel 425 Beugung 306 Beweglichkeit Elektronen im Gas 213 Elektronen im Leiter 195 Ionen im Elektrolyten 205 Ionen im Gas 212 Bewegung beschleunigte 22 geradlinige 22 Bewegungsgleichung 37 Rotation 61 Schwingung 38 Biegung 70, 73 Bild optisches 283 Bildrekonstruktion 293

508

Sachverzeichnis

Bindung heteropolar 203, 472 hom¨ oopolar 472 Ionen- 472 kovalent 472 Biot-Savart’sches Gesetz 228 Blindleistung 255 Bogenmaß 26 Bohr’scher Radius 381 Bohr’sches Atommodell 379 Bohr’sches Magneton 231 Boltzmann-Faktor 128 Boltzmann-Konstante 98 Born-Oppenheimer-N¨ aherung 485 Bose-Einstein-Kondensation 453 Bose-Einstein-Statistik 451 Boson 391, 449 Bragg’sche Kurve 440 Bragg-Reflexion 360 Brechkraft 292 Brechungsgesetz 285, 298 elektrisches Feld 194 magnetisches Feld 237 Brechzahl 277 Bremsstrahlung 396 Brennpunkt 291 Brennweite 289 Brewster-Winkel 300 Carnot’scher Kreisprozess 120 Celsius-Skala 94 Charakteristische Strahlung 397 Clausius-Clapeyron-Gleichung 133 Compton-Effekt 352 Compton-Wellenl¨ ange 353, 380 Coriolis-Kraft 36 Coulomb-Barriere 417, 428 Coulomb-Kraft 173 Curie-Temperatur 232

Dichroit 302 Dielektrikum 190 Dielektrische Verschiebung 193 Dielektrizit¨ atszahl 192 Differentialgleichung 499 Diffusion 105 Diffusionskonstante 105 Diode 467 Dipolfeld 189, 217 Dipolmoment elektrisches 187, 484 magnetisches 217 Dipolpotenzial 189 Dirac-See 365 Dispersion 269, 364 anomale 281 normale 280 Dissoziation 203 Doppelbrechung 302 Doppelschicht 207 Doppelspaltexperiment 350 Doppler-Effekt klassischer 161 relativistischer 328 Dosisleistung 444 Dotierung 467 Drehimpuls 63, 64 Drehimpulserhaltung 64, 339 Drehkristallverfahren 360 Drehmoment 53, 60 Dipol 189, 219 Drehspulinstrument 224 Driftgeschwindigkeit 195 Druck 76 Dulong-Petit’sches Gesetz 103, 460 Dunkelstrom 468 Durchlassrichtung 468 Durchschnittsgeschwindigkeit 20 Dynamo 245

Dampfdruckkurve 133 Dampfmaschine 132 Dampfturbine 132 Daniell-Element 209 Debye-Scherrer-Verfahren Dehnung 70, 72 Deutliche Sehweite 294 Deviationsmoment 54 Diamagnetismus 232

Ebene Wellen 153 Effektivwert 255 Eigenfrequenz 141, 252, 280 Eigenfunktion 373 Eigenleitung 467 Eigenschwingung 145 Eigenwert 372, 374 Eigenzeit 333 Eigenzustand 372

362

Sachverzeichnis Einfallsebene 281 Einstein-Temperatur 453 Elastische Kraft 32, 68 Elastizit¨ atsmodul 70 Elektrische Energie 183 Elektrische Feldkonstante 173 Elektrische Influenz 171 elektrische Kraft 11 Elektrische Kraft 5 Elektrische Ladung 5 Elektrische Leistung 198 Elektrische Polarisation 171 Elektrischer Dipol 187 Elektrischer Fluss 177 Elektrischer Leiter 170 Elektrischer Strom 194, 197 Elektrisches Feld 173 Energiedichte 185 Elektrisches Potenzial 181, 182 Elektrochemische Spannungsreihe Elektrolyse 206 Elektrolyt 203 Elektron 169 Ruheenergie 337 Elektronenvolt 183 Elektronspin 388 Elektrostatik 168 Elementarladung 6, 170 Elementarwelle 306 Emission induzierte 405 stimulierte 405 Energieband 463 Energiedichte 343 elektromagnetische Welle 273 Energiedosis 442 Energieerhaltung 43, 336 Energieflussdichte 274 elektromagnetische Welle 274 Energiel¨ ucke 464 Energiequantelung 343 Energieverlust 436 spezifischer 437 Energiewandlung 116 Entartung 384, 453, 458, 459 Enthalpie 111, 136 Entropie 109, 122 Erdatmosph¨ are 92 Erdbeschleunigung 23

509

Erde 23 Erwartungswert 374, 475 Expansion 110

210

Faraday’sches Induktionsgesetz 241 Faraday-Konstante 204 Faraday-K¨ afig 181 Fehler prozentualer 18 relativer 18 Fehlerfortpflanzung 17 Feinstruktur 389 Feinstrukturkonstante 380 Feld homogenes elektrisches 181 homogenes magnetisches 229 inhomogenes 219, 388 Feldlinien 174 Fermi-Dirac-Statistik 457 Fermi-Energie 427, 457 Fermi-Modell 461 Fermion 391, 450, 457 Ferromagnetismus 232 Fick’sches Gesetz 105 Fl¨ achentr¨ agheitsmoment 73 Fl¨ ussigkeit benetzende 82 ideale 84 nicht benetzende 81 reale 86 Fl¨ ussigkeitsblase 80 Fl¨ ussigkeitstropfen 80 Fourier’sches Gesetz 108 Fourier-Zerlegung 143 Franck-Condon-Prinzip 489 Franck-Hertz-Experiment 399 Fraunhofer-Beugung 305 Freie Teilchen 127, 338, 447 Freiheitsgrad 19, 102 Fremdleitung 467 Frequenzfilter 252 Frequenzsperre 254 Fresnel-Beugung 305 Fresnel-Gleichungen 300 Fundamentale Kr¨ afte 7 Galilei-Invariante 318 Galilei-Transformation 318 Galvani-Spannung 205

510

Sachverzeichnis

Gamma-Zerfall 433 Gangunterschied 305 Gauss’sches Gesetz 177 Gauss-Verteilung 14, 125 Gegenstand optischer 283 Geometriefaktor 70, 73 Geschwindigkeit 21 Geschwindigkeitsaddition klassische 318 relativistische 331 Gewicht 23 Gitterspektrometer 309 Gleichgewicht 58, 67 Gleichgewichtszustand 123 Gleichrichter 468 Gleichspannungsgenerator 247 Gleichverteilung 125 Gleichverteilungsgesetz 101 Gleitreibung 33 Gravitationskraft 4, 11, 38, 44 Grenzfl¨ ache 80 elektrische 206, 467 Grundfrequenz 143, 270 Gruppengeschwindigkeit 268, 282, 362 G¨ ute 147 H2 -Ion 472 ul 476 H2 -Molek¨ Haftreibung 33 Halbleiter 464, 465 Halbwertszeit 435 Hall-Sonde 224 Harmonische Funktion 497 harmonische Kraft 43 Harmonische Kraft 32, 38, 68, 487 Hauptquantenzahl 379 Hauptsatz der Thermodynamik erster 108 zweiter 123 Hauptstrahl 292 Haupttr¨ agheitsachse 55, 485 He-Ne-Laser 408 Heisenberg’sche Unsch¨ arferelationen 127, 356, 358, 368, 453 Hertz’scher Dipol 271 Hohlraumstrahlung 454 Hooke’sches Gesetz 71 Huygens’sches Prinzip 306

Hybridisierung 480 Hydraulische Presse 77 Hydrostatischer Druck 77 H¨ ohenstrahlung 443 Ideales Gas 91 Impedanz 249 Impuls 47 Impulserhaltung 47, 334 Induktion 431 Induktionsspannung 240 Inertialsystem 318 Innere Energie 101 Intensit¨ at 159, 274 Interferenz 142, 303 Inversionstemperatur 137 Ion 170 Ionenladungszahl 204 Ionisierungsenergie 387, 399 Isobare 414 Isotone 414 Isotope 414 J-J-Kopplung 393 Joule-Thomson-Effekt

137

K-Schale 395 Kapillarit¨ at 82 Kartesisches Koordinatensystem Kathode 204 Kation 204 Kelvin-Skala 94 Kepler’sche Gesetze 39 Kernfusion 421 Kernkraft 412 Kernmagneton 430 Kernphysik 411 Kernspaltung 421 Kernspin 429 Kernspinresonanz 430 Kinetische Energie 43, 337 Kinetische Gastheorie 95 Kirchhoff’sche Regeln 200, 243 Klassische Physik 8 Koh¨ arenz 303 Koh¨ arenzl¨ ange 304, 407 Koh¨ asionskraft 80 Kompressibilit¨ at 72, 76 Kompressionsmodul 72

11

Sachverzeichnis Kondensator 180 Kontaktspannung 206 Kontinuit¨ atsgleichung 84, 107, 197 Kontinuum 395, 412, 448 Koordinaten linksh¨ andige 27 rechtsh¨ andige 27 Korrelationsdiagramm Molek¨ ule 479 Kosmische Geschwindigkeit 45 Kraft elastische 32, 68 elektrische 5, 11 Gravitation 4, 11, 38, 44 harmonische 32, 38, 43, 68, 487 konservative 41, 182 kurzreichweitige 5, 6 langreichweitige 5 schwache 6 starke 6, 428 Kreisbewegung beschleunigte 29 gleichf¨ ormige 25 Kreisprozess 116 Kreisstrom 228 Kristallgitter 51, 360 Kritische Temperatur 130 Kritischer Punkt 131 K¨ altemaschine 119 L-S-Kopplung 393 Ladungsdichte 172 Ladungserhaltung 171, 340 Ladungskapazit¨ at 184 Ladungsmittelpunkt 172 Lambda-Viertel-Pl¨ attchen 303 Land´e-Faktor 231, 389, 430 Laser 404 Laserbedingung 406 Laue-Verfahren 362 LCAO-N¨ aherung 473 Leistung 45 Leiter 59 Leiterknoten 199 Leitermasche 199 Leitungsband 463 Lennard-Jones-Funktion 68 Lenz’sche Regel 241 Leuchtelektron 394

511

Leuchtnukleon 423 Lichtelektrischer Effekt 344 Linse 289 Lorentz-Kraft 221 Lorentz-Transformation 323 Lupe 296 L¨ ange 20 L¨ angenkontraktion 326 L¨ ocher 465 Magische Zahl 401, 422 Magnetfeld 217 einer Spule 229 eines Torus 230 Energiedichte 245 Magnetische Erregung 236 Magnetische Induktion 239 Magnetische Permeabilit¨ at 234 Magnetischer Dipol 216 Magnetischer Fluss 240 Magnetisierung 233 Magnetostatik 216 Masse 19 schwere 4 tr¨ age 30 Massendefizit 422 Massendichte 51 Massenmittelpunkt 52 Massenpunkt 19 Massenspektrometer 419 Massenzahl 169 Materiewellen 359 Mathematisches Pendel 39 Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung 99, 420 Maxwell’sche Gesetze 260 Maxwell-Konstruktion 131 Mechanische Energie 43 Membranspannung 208 Menschliches Auge 294 Meson 411 Messfehler 13, 16 statistischer 14 systematischer 14 Messgr¨ oße 9 skalare 10 tensorielle 13, 334, 340 vektorielle 13 Messwert 16

512

Sachverzeichnis

Metallischer Leiter 198 Michelson-Morley-Experiment 321 Mikroskop 297 Mikrozustand 124 Mittelebene 289 Mittelpunkt 289 Mittlere freie Wegl¨ ange 105 Moderne Physik 8 Molare Masse 96 Molare W¨ armekapazit¨ at 101, 460 Molek¨ ul 471 heteronukleares 471 homonukleares 471 Momentangeschwindigkeit 21 Moseley’sches Gesetz 399 Multiplizit¨ at 452, 477 Multipol 172 Myon 327

Okularlinse 297 Optische Achse 289 Optische Instrumente 296 Ordnung eines Systems 126 Ordnungszahl 169 Osmose 107 Osmotischer Druck 107

n-Leitung 467 Naturkonstante 8, 502 Nernst-Gleichung 208 Netzwerk 199 Neutron 169, 411 Neutronenzahl 169 Newton’sche Axiome 30 Newton’sche Ringe 313 Newton’sches Gesetz 108 Newton’sches Reibungsgesetz 86 NMR 430 Nomenklatur Atom 169 Atomkern 414 Zustand 390, 425 Nordpol 216 Normalbedingungen 100, 453, 487 Normalkoordinaten 145 Normalschwingung 145 Normalspannung 69 Normalverteilung 14, 125 Nukleon 411 Numerische Apertur 310

p-Leitung 467 Paarerzeugung 354 Paarvernichtung 413 Parallelschaltung 200 Paramagnetismus 232 Parit¨ at 479 Partialdruck 100 Pauli-Prinzip 391, 414, 448, 450, 457, 477 Periode 153 Periodisches System 401, 465, 503 Phase 38 Phasenfl¨ ache 293 Phasengeschwindigkeit 153, 267, 282, 362 Phasenraum 126, 447 Phasen¨ ubergang 133 Photoeffekt 397 Photon 344 Planck’sches Strahlungsgesetz 455 Planck’sches Wirkungsquantum 8, 344 Poisseuille’sches Gesetz 88 Poisson-Zahl 72 Polarisation 298, 301 elliptische 301 lineare 301 zirkulare 301 Positron 365 Potenzielle Energie 42 Poynting-Vektor 274 Prismenspektrometer 287 Proton 169, 411 Pr¨ azession 64

Oberfl¨ achenenergie 79 Oberfl¨ achenspannung 79 Oberfrequenz 143 Objektivlinse 297 Ohm’sches Gesetz 198 Ohm’sches Verhalten 198, 468

Quantelung 343 Quantendefekt 394 Quantensystem 447 Quantenzahl 372 Quellenfeld 260 Quellenfreiheit 218

Sachverzeichnis Radioaktiver Zerfall 431 Raman-Spektroskopie 484, 490 Randbedingung 372 Rauigkeit 90 Raumspiegelung 12 Rayleigh-Streuung 352, 490 Redox-Reaktion 209 Reduzierte Feldst¨ arke 213 Reduzierte Masse 485 Reflexionsgesetz 284, 298 Reflexionsverm¨ ogen 277 Reihenschaltung 202 Relativit¨ atspostulat 323 Relativit¨ atsprinzip 31 Resonanz 431 Resonanzbedingung 164 Resonanzfrequenz 151 Resonanzkatastrophe 152 Resonanzstreuung 462 Resonator 165, 270, 405 Reynolds-Zahl 88 Rotation 60, 485 kr¨ aftefreie 56, 485 Rotverschiebung 330 Rutherford-Streuquerschnitt 417 Rydberg-Konstante 379 Rydberg-Zustand 387 R¨ ontgenr¨ ohre 396 R¨ ontgenstrahlen 395 Satz von Steiner 62 Schalenmodell 425 Schalldruck 158 Schallenergie 157 Schallschnelle 157 Schattenraum 283 Scheinleistung 256 Scherung 71 Schiefe Ebene 33 Schiefer Wurf 24 Schmelzdruckkurve 134 Schr¨ odinger-Gleichung 367 station¨ are 370 Schubmodul 71 schwache Kraft 6 Schwache Ladung 6 Schwarzer K¨ orper 343, 454, 455 Schwebung 146, 268 Schweredruck 77, 85

513

Schwerpunkt 52 Schwerpunktsystem 48, 485 Schwingung elektrische 256 erzwungene 150 ged¨ ampfte 146 mechanische 140, 487 unged¨ ampfte 140 Schwingungs¨ uberlagerung 142 Sch¨ atzwert 16 Sekund¨ arionisation 213 Selbstinduktivit¨ at 242 Selbst¨ andige Entladung 214 Semipermeable Wand 106 Sieden 135 Singulettzustand 477 Skalar-Produkt 495 Solarzelle 468 Spannung elastische 69 elektrische 182 Spektralserie 386 Sperrrichtung 468 Spezielle Relativit¨ atstheorie 321 Standardabweichung 15 Starke Kraft 6, 428 Starke Ladung 6 Statik 57 Statischer Druck 85 Staudruck 85 Stefan-Boltzmann’sches Strahlungsgesetz 456 Stehende Welle 163, 374, 379 Stern-Gerlach-Versuch 388 Stichprobe 16 Stoffmenge 96 Stokes’sche Reibungskraft 88, 147 Stoß 48 Strahldrehung 286 Strahlenoptik 282 Strahlversetzung 285 Streuung 415 Stromdichte 197 Stromfaden 83 Str¨ omung laminare 84 turbulente 84 Str¨ omungswiderstand 88 Sublimationsdruckkurve 134

514

Sachverzeichnis

Superpositionsprinzip 24, 140 Supraleiter 220, 234 Suszeptibilit¨ at elektrische 191 magnetische 233 System 122 abgeschlossenes 32, 108 offenes 108 System International (SI) 10 S¨ attigungsdampfdruck 130 S¨ udpol 216 Tangentialspannung 70 Target 416 Taylor-Entwicklung 498 Binomialkoeffizient 124 Taylor-Reihe 40, 68, 462, 498 Teilchenstromdichte 105 Temperatur 94 Temperaturausgleich 122 Terrestrische Strahlung 444 Thermospannung 208 Torsion 71 Torus 230 Totalreflexion 287 Trajektorie 21, 24 Transformator 247 Translation 52 Transmissionsverm¨ ogen 278 Transportprozess 104 Tr¨ agheitskr¨ afte 35 Tr¨ agheitsmoment 56, 485 Hohlzylinder 62 Vollkugel 61 Vollzylinder 61 Tr¨ opfchenmodell 423 Tubusl¨ ange 297 Tunneleffekt 371, 433 ¨ Ubergangswahrscheinlichkeit 450 Umgebung 122 Universelle Gaskonstante 100 Vakuumlichtgeschwindigkeit 20 Valenzband 463 van’t-Hoff’sches Gesetz 107 Van-der-Waals-Gleichung 130 Van-der-Waals-Kraft 67, 428 Varianz 15

Vektor 11, 494 axialer 30 polarer 30 Rechenregeln 494 Vektor-Produkt 496 Verarmungszone 467 Verdampfungsw¨ arme 132 Verdunstung 135 Verformung 69 Verschiebungsstrom 259 Verteilungsfunktion 127, 450, 451 Vielteilchensystem 447 Vierervektor 325, 332 Virialtheorem 46 Viskosit¨ at 86 Voltmeter 224 Volumenausdehnungskoeffizient 94 Volumenstromst¨ arke 87 Vorzeichenregel Energie 109 Wahrer Wert 15 Wasserstoffatom 378 Wechelspannungsgenerator 246 Wechselspannung 248 Wechselspannungsfrequenz technische 246 Wechselstrom 248 Wechselstromwiderstand 249 Weiß’sche Bezirke 232 Welle longitudinale 140, 267 transversale 140, 267 Welle-Teilchen-Dualismus 351 Wellen elektromagnetische 262 mechanische 152 Wellenfunktion 448 Symmetrie 450 Wellengleichung 154, 265, 366 Wellenl¨ ange 153 Wellenoptik 283, 297 Wellenvektor 281 Wellenzahl 153 Widerstand Ohm’scher 198 spezifischer 199, 205, 466 Widerstandsbeiwert 89 Wien’sches Verschiebungsgesetz 455

Sachverzeichnis Winkelgeschwindigkeit 28 Winkelmaß 26 Winkelvergr¨ oßerung 294 Wirbelfeld 260 Wirbelfreiheit 182 Wirkleistung 255 Wirkungsgrad 117, 121 Wirkungsquerschnitt 104, 416, 439 Woods-Saxon-Potenzial 426 W¨ armekraftmaschine 119 W¨ armepumpe 119 Zeit 19 Zeitdilatation 326 Zeitkonstante 244 Zentralkraft 46 Zentrifugalkraft 36

Zentripetalbeschleunigung Zerfallskonstante 435 Zustandsfunktion 109 Zustandsgleichung ideales Gas 100 reales Gas 129 Zustandsgr¨ oße 109 makroskopische 93 mikroskopische 93 Zustands¨ anderung adiabatische 115 irreversibel 112 isobare 113 isochore 113 isotherme 114 reversibel 112 Z¨ undspannung 214

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