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Jean Cocteau THOMAS DER SCHWINDLER DAS PHANTOM VON MARSEILLE Erzählende Prosa II Fischer
Jean Cocteau WER K AUSGABE IN ZWÖLF BÄNDEN Herausgegeben von Reinhard Schmidt
Band ER ZÄHLENDE PROSA II
FISCHER TASCHENBUCH VER LAG
Jean Cocteau THOM AS DER SCHWINDLER EI N E GE SCHICHTE Aus dem Französischen übersetzt von Friedhelm Kemp
DAS PHANTOM VON M ARSEILLE Aus dem Französischen übersetzt von Reinhard Schmidt
FISCHER TASCHENBUCH VER LAG
Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, April © omas l’imposteur, Gallimard, Paris © Deutsche Übersetzung: Desch, München / Wien / Basel © Le Fantôme de Marseille, La Nouvelle Revue Franchise, Gallimard, Paris, November © Deutsche Übersetzung: S. Fischer GmbH, Frankfurt am Main Für diese Ausgabe © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Manfred Walch Herstellung: Alexander Gutfreund Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ---
Über dieses Buch Ein junger Mann nützt die Wirrnisse des Ersten Weltkriegs, kleidet sich arglos in eine falsche Identität und verschmilzt mehr und mehr mit der gespielten Rolle. An die Stelle der Wirklichkeit setzt er sein Wunschbild, lebt ihm mit naiver Radikalität, bis sein Traum von der Realität eingeholt wird. »Eine Sekunde mit einem unbekannten Dichter«, hat Jean Cocteau diese zügig erzählte Geschichte einmal genannt. Er verarbeitet in omas dem Schwindler, wie er von den Kulissen der mondänen Pariser Gesellscha aus und als Ambulanzhelfer an der Front die Zeit des Ersten Weltkriegs erlebte. Einem Verwirrspiel von Sein und Schein ist auch die kurze Erzählung Das Phantom von Marseille gewidmet. Cocteau hat immer die Gestalt des Transvestiten fasziniert. Ihre erotische Anziehungskra führt hier zu tückischen Verwicklungen.
JEAN COCTEAU WER K AUSGABE IN ZWÖLF BÄNDEN DIE GROSSE KLUFT DAS WEISSBUCH Erzählende Prosa I
THOMAS DER SCHWINDLER DAS PHANTOM VON MARSEILLE Erzählende Prosa II
KINDER DER NACHT Erzählende Prosa III
DIE HOCHZEIT AUF DEM EIFFELTURM ORPHEUS DIE HÖLLENMASCHINE eater I
DIE GELIEBTE STIMME DER DOPPELADLER eater II
OPERA CHORAL Gedichte I
SPIEGELSCHRIFTEN Gedichte II
DAS BLUT EINES DICHTERS DIE SCHÖNE UND DAS TIER ORPHEE Filme
DAS BERUFSGEHEIMNIS Kritische Poesie I
OPIUM
Kritische Poesie II
DIE SCHWIERIGKEIT, ZU SEIN Kritische Poesie III
DIE FARBEN DER ERINNERUNG DER LEBENSWEG EINES DICHTERS Kritische Poesie IV
INHALT
omas der Schwindler . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Phantom von Marseille . . . . . . . . . . . . . .
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographische Hinweise . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen. . . . . . Eine Übersicht über Leben und Werk .
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THOMAS DER SCHWINDLER
Aus dem Französischen übersetzt von Friedhelm Kemp
VORWORT
Wenn es »schwarze Romane« gibt, so wäre omas der Schwindler ein weißer Roman, und es ist ja bekannt, daß das Weiße aus einem Wirbel aller Farben des gebrochenen Lichtes entsteht. In dem Abschnitt an der belgischen Front, wo ich bei den Marinefüsilieren gelebt habe, betrachteten jene schlichten Helden den Krieg als ein Spiel, das Niemandsland als ein Tennisnetz, über das hinweg man die Bälle wechselt. Leider war dieses Netz aus Stacheldraht, und die Bälle trafen tödlich. Nur wenige meiner Kameraden sind aus diesem Bereich von Saint-Georges heimgekehrt, wo man keinen Feindeshaß kannte, sondern einzig die Verpflichtung der Treue zu jener Uniform der Marine, die zu tragen als ein besonderes Vorrecht galt. Andere haben die harten Prüfungen der französischen Soldaten in Himmelblau geschildert, in den verschlammten Gräben, unter den berstenden Geschossen, von denen Guillaume Apollinaire wie von einem Feuerwerk spricht. Es ist unmöglich, sich im Jahre einen Krieg vorzustellen, in dem eine gewisse Eleganz noch zu ihrem Recht kam. Eben diese Eleganz ist das Element, welches in diesem Buche einen sehr jungen Menschen trägt, der in die Gefahr verliebt ist und den das Schauspiel des Krieges derart begeistert, daß er sich als Mitspieler einschleicht.
Guillaumes Tod ist der Tod eines Kindes, das spielt, es sei ein Pferd und dabei selber zum Pferd wird, sich seinem Traum vermählt und mit ihm verschmilzt. Mai
Der Krieg begann in einem wüsten Durcheinander. Und
daran änderte sich auch bis zuletzt nichts. Ein kurzer Krieg hätte sich bessern und sozusagen vom Baum fallen können; ein langer Krieg jedoch, den die merkwürdigsten Interessen hinfristeten und mit Gewalt an den Ast gebannt hielten, bot immer neue Vervollkommnungen, davon jede einen frischen Einsatz bedeutete, eine neue Schule begründete. Die Regierung hatte soeben Paris verlassen, oder, wie eines ihrer Mitglieder sich arglos ausdrückte: sie hatte sich nach Bordeaux abgesetzt, um den Marnesieg zu organisieren. Dieser Sieg, der als ein Wunder galt, ist leicht erklärlich. Man braucht nur auf die Schule gegangen zu sein. Ein Lausbub ist einem Musterknaben stets über, sobald nur irgendein Umstand diesen hindert, seinem vorgefaßten Plan blindlings zu folgen. Die wendige Unordnung, die schließlich die schwerfällige Ordnung besiegte, blieb nichtsdestoweniger eine Unordnung. Und sie begünstigte jede Art von Extravaganz. Die Tochter eines hohen Würdenträgers der Republik hatte mitten in dem stillen Paris das Krankenhaus des Doktor Verne in eine Rotkreuz-Station verwandelt. Das heißt, sie hatte das unterste Stockwerk dieses prächtigen alten Hôtel auf dem linken Seineufer umgestaltet und den übrigen Teil des Gebäudes den Zivilkranken überlassen. Der Eifer, mit dem sie sich in dieses mildtätige Unterneh-
men gestürzt hatte, war durch nichts zu dämpfen, außer durch die Abreise der Regierung. Sie entschuldigte sich, erklärte dem Doktor, daß sie verpflichtet sei, ihrem Vater zu folgen, obwohl sie alt genug war, nicht mehr gehorchen zu müssen. Sie verschwand also und überließ die Säle voller Betten und Apparate einem Stab von Chirurgen, von gutmütigen Sanitätern und Krankenschwestern. Doktor Verne war Spiritist. Er vernachlässigte die Patienten, deren es immer sehr viele gab, da die Anstalt mehrere erstklassige Spezialisten besaß. Verne, der im Verdacht stand, ein Trinker zu sein, verschloß sich einen Teil des Tages in seinem Arbeitsraum, einer ehemaligen Portiersloge, die auf den Hof hinausging, und hypnotisierte von dort aus die Angestellten. »Hinke«, befahl er dem einen. »Huste«, befahl er einem ändern. Diese lächerlichen Phänomene machten ihm einen Mordsspaß. Er trieb es so listig, daß er fast die ganze Anstalt einschläferte und auch die Patienten, die ihm so völlig ausgeliefert waren, seine Opfer wurden. Die Kranken wußten zwar, daß er ein Original war, doch sie ahnten nichts von seiner Manie. Sie empfingen seine tägliche Visite. Er begnügte sich damit, einen Blick auf die Fieberkurve zu werfen und von Zimmer zu Zimmer einige Phrasen von sich zu geben, wie ein Gastwirt, der von Tisch zu Tisch geht. Vernes Privatklinik war das frühere Hotel Joyeuse in der Rue Jacob. Das Hauptgebäude, an das sich seitlich zwei neue Flügel anschlössen, erhob sich zwischen dem runden Vorhof und dem Garten. Wenn man die Fenster in den Räumen zu ebener Erde öffnete, hatte man einen schönen Blick auf diesen Garten mit seinen Rasenflächen und Blumenbeeten. Hatte die trübsinnige Fassade den Kranken,
der dort eingeliefert wurde, bedrückt, so bereiteten die Bäume ihm eine angenehme Überraschung. In einem dieser Zimmer, die zwar noch ihre alte Holzvertäfelung hatten, doch nach den Vorschrien der Hygiene mit Ölfarbe gestrichen waren, lag die Tochter der Prinzessin de Bormes. Dieses junge Mädchen war vor kurzem am Blinddarm operiert worden. Die Prinzessin, die sich nicht von ihr trennen wollte, bewohnte einen kleinen Nachbarraum. Madame de Bormes war eine der wenigen Personen ihrer Kreise, die nach der Abreise der Regierung notgedrungen in Paris geblieben waren. Insgeheim war sie selig, einen Grund zu haben, der sie in der Hauptstadt zurückhielt. Sie glaubte nicht an die Einnahme von Paris. Sie glaubte nicht daran, weil es allgemein üblich war, daran zu glauben, und wie es in neun von zehn Fällen geschieht, verlieh ihr Widerspruchsgeist ihr eine Art zweites Gesicht. Sie galt trotzdem für völlig verrückt, und ihr Freund Pesquel-Duport, der Direktor der Zeitung Le Jour, der sie vergeblich beschworen hatte, ihre Tochter doch nach Bordeaux zu bringen, rief ihr noch am Morgen der Abreise zu, sie sei eine lasterhae Person, die nur hierbleiben wolle, um die Pfeifer den Militärmarsch von Schubert spielen zu hören. Ihre wirklichen Gründe waren völlig anderer Natur. Die verwitwete Prinzessin, die ihren Gatten schon als junge Frau, zwei Jahre nach der Hochzeit, durch einen Jagdunfall verloren hatte, war Polin. Polen ist das Land der Pianisten. Sie behandelte das Leben wie ein Klaviervirtuose und verstand es, allem jene Effekte zu entlocken, welche diese Musiker den mittelmäßigsten Stücken ebenso wie den schönsten Kompositionen entlocken. Ihre Aufgabe war das Vergnügen. So pflegte diese vortreffliche Frau zu sagen: »Ich denke
nicht gerne an die Armen. Ich kann die Kranken nicht ausstehen.« Kein Wunder, daß derartige Aussprüche Anstoß erregten. Sie wollte sich amüsieren, und sie verstand es, sich zu amüsieren. Im Gegensatz zu den übrigen Frauen ihrer Kreise hatte sie begriffen, daß das Vergnügen nicht in bestimmten Dingen liegt, sondern in der Art, wie man sie alle ergrei. Diese Haltung fordert eine robuste Gesundheit. Die Prinzessin war über vierzig. Sie hatte ein Gesicht wie ein kleines Mädchen, und darin saßen ein Paar lebhae Augen, die bei dem geringsten Anflug von Langeweile sofort ihren Glanz verloren. Deshalb floh sie die Langeweile und suchte jede Gelegenheit zum Lachen, das die Frauen sonst vermeiden, weil es Runzeln macht. Ihre Gesundheit, ihre Lebenslust, das Ausgefallene ihrer Kleidung und ihres Betragens hatten ihr einen schrecklichen Ruf eingebracht. In Wahrheit war sie die Reinheit, die Vornehmheit selbst. Das mußte solchen Leuten unbegreiflich bleiben, für die Vornehmheit und Reinheit göttliche Dinge sind, deren Verwendung einem Sakrileg gleichkommt. Denn die Prinzessin nahm sie in Gebrauch, schmeidigte sie und verlieh ihnen einen neuen Glanz. Sie deformierte die Tugend, wie die Eleganz einen allzu steifen Anzug deformiert, und die Schönheit der Seele war ihr so natürlich, daß sie bei ihr nicht weiter auffiel. So kam es, daß eine heuchlerische Gesellscha das gleiche Urteil über sie fällte, wie die schlecht angezogenen Leute über die Eleganz. Sie war im Zeichen des Abenteuers geboren. Ihre Mutter hatte sich, hochschwanger, betrogen, rasend vor Liebe, auf die Suche nach dem Schuldigen gemacht, der seit meh-
reren Monaten verschwunden war. Endlich, nachdem sie ihn in einer russischen Kleinstadt entdeckt hatte, war diese Liebende vor einer Türe, hinter der man einen Wortwechsel hörte und an der sie nicht zu läuten wagte, vor Schmerz und Erschöpfung zusammengebrochen und hatte sterbend einer Tochter das Leben geschenkt. Diese Tochter, Clémence, war bei einem Diener aufgewachsen, der sich dem Trunk ergeben hatte. Nach dem Tode ihres Vaters hatte eine Cousine sie aufgezogen. Aber dieses stumme, scheue Mädchen, das in instinktiver Abwehr die Schulter vorschob, entfaltete sich mit einem Schlag, wie der Rosenstrauch der Fakire. Nach einem Ball sah die Cousine zu ihrer Verblüffung, wie sie ausgelassen wurde. Sie begann zu sprießen und zu knospen, und bald stand sie innerlich wie äußerlich in voller Blüte. Sie war ein rechter Wildfang und bei allen Festen der Jugend die Anführerin. Schließlich, nachdem sie die Bekanntscha des Prinzen de Bormes, eines reisenden Diplomaten, gemacht hatte, verlobte sie sich innerhalb von vier Tagen. Der Prinz war wie behext von ihr. Sie aber sah durch ihn hindurch Frankreich und seine Hauptstadt. Paris schien ihr die einzige Bühne, die es wert war, daß sie dort debütierte. Es bedarf immer einer gewissen Zeit, bis die Aufrichtigkeit des ersten Impulses erlischt, bis das Publikum sich verhärtet und fürchtet, es könnte zuviel Gemüt gezeigt und sich haben einfangen lassen. Die Prinzessin genoß zuerst den Vorteil der Überraschung, die ihr erstes Aureten hervorrief. Allmählich erregte sie Anstoß durch ihre Ungezwungenheit und ihre ungeschickte Politik. Sie berührte, woran nicht gerührt, öffnete, was nicht geöffnet werden darf, und sprach auf dem straffen Seil,
inmitten eines eisigen Schweigens. Jeder wünschte, sie möchte sich den Hals brechen. Erst fand man sie unterhaltsam, dann wirkte sie störend. Ihr Eintritt in die Welt glich dem eines jungen Athleten, der in eine Gesellscha käme und dort die Karten durcheinander würfe mit der Ankündigung, jetzt müsse Fußball gespielt werden. Die alten Spieler (alte wie junge), die so viel Unverfrorenheit verwirrte, hatten sich aus ihren Sesseln erhoben. Bald ließen sie sich wieder zurücksinken und grollten dem Störenfried. Doch wenn diese markante und starkfarbige Persönlichkeit den einen zuwider war, so gab es andere, die sie verführte. Diese anderen waren die kleine Zahl, eben dieselbe, nach der man, wie Montesquieu wünschte, bei Gericht urteilen sollte. Und so betrieb Madame de Bormes von Verstoß zu Verstoß die geschickteste Art des Abfilterns, indem sie alles Mittelmäßige von sich absonderte und nur das Beste zurückbehielt. Sieben bis acht Männer, zwei bis drei Frauen von Herz bildeten ihren engsten Freundeskreis. Es waren genau die, welche eine Intrigantin sich gewünscht und unweigerlich verfehlt hätte. Die übrigen verhehlten, des Prinzen wegen, ihre Gefühle, die nach seinem Tode zu einer heimlichen Verschwörung wurden. Die Prinzessin sah in dieser Kabale eine Gelegenheit zum Kampf, bei der sie ihre Kräe entfalten konnte. Sie lachte im Kugelregen. Sie komplottierte mit ihrem Generalstab. Man warf ihr vor, sie trage nicht genügend Trauer. Doch sie hatte den Prinzen kaum geliebt, und es widerstrebte ihr, die Rolle der untröstlichen Witwe zu spielen. Der Prinz hinterließ ihr eine Tochter: Henriette.
Henriette hatte von ihrem Vater die verzückte Bewunderung geerbt, die ihn angesichts der Prinzessin lahmte. Clémence war die geborene Schauspielerin, ihre Tochter die geborene Zuschauerin, und ihr Lieblingsschauspiel war ihre Mutter. Es war aber auch wirklich ein hinreißendes Schauspiel, diese Frau zu betrachten, die das Übernatürliche anzog und die von himmlischen Erscheinungen umschwirrt schien wie ein Vogelsteller von Vögeln. Wenn etwas sie quälte, bekam man keine Lu mehr in ihrer Umgebung. Ob sie belebte oder bedrückte, in jedem Fall erlag man ihrer Ausstrahlung. Diese Frau, der es gleichgültig war, ob sie bei festlichen Gelegenheiten den ersten Platz einnahm, wollte jedenfalls den besten haben. Und das ist gewöhnlich nicht derselbe. Im Schauspiel lag ihr daran, zu sehen, und nicht, gesehen zu werden. Die Künstler vergötterten sie. Der Krieg erschien ihr sogleich als Kriegsschauplatz: ein Schauplatz, der den Männern vorbehalten war. Sie konnte sich nicht entschließen, am Rande der Ereignisse zu leben; sie sah sich ausgeschlossen von dem einzigen Schauspiel, das hinfort zählte. Und so kam es, daß sie, weit entfernt, die Umstände, die sie in Paris zurückhielten, zu beklagen, sie vielmehr segnete und ihrer Tochter Dank dafür wußte. Paris war nicht der Krieg. Aber leider kam er immer näher, und diese unerschrockene Natur lauschte dem Donner der Geschütze, wie man im Konzert hinter einer Türe, die zu öffnen die Logenschließer einem verwehren, dem Orchester lauscht. Dieser Durst der Prinzessin nach dem Kriege war so wenig krankha wie nur möglich. Das Blut, die Erregung, der Taumel der Stierkämpfe lockten sie nicht. Sie dachte nur
mit Abscheu daran. Sie beklagte die Verwundeten, hüben wie drüben. Nein, sie war nur wie närrisch in jede Mode verliebt, ob sie nun leichtfertig oder ernstha war. Jetzt war die Gefahr modern; sie starb vor Geborgenheit. Während die Jugend sich hingab und verschwendete, daß sie sich gleichsam aus den Fenstern warf, bebte sie vor Untätigkeit. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die Ereignisse ihr behilflich sein, sie tragen sollen, wie die Menge einer Frau behilflich ist, daß sie beim Feuerwerk etwas sieht. So große Schätze bleiben unverstanden. Sie scheinen verdächtig. Die geizige Welt beschuldigt einen, selber Geld zu schlagen. Der Wahn, überall Spione zu wittern, verfiel auch darauf, Madame de Bormes zu beschuldigen, daß sie Polin, das heißt eine Spionin sei. In der Rue Jacob gefiel sie. Sie wußte sich dies zunutze zu machen. Ihr Genie brachte sie bald auf die Spur einer sinnreichen Einrichtung, durch die sie an den Ereignissen teilnehmen könnte. Das Erdgeschoß des Hôtel war ein Lazarett, jedoch ein leeres Lazarett. Sie verfiel darauf, es zu füllen. Es handelte sich nur darum, eine Transportkolonne zusammenzustellen, Fahrzeuge und Fahrer aufzutreiben, die nötigen Passierscheine zu erhalten und an der Front so viele Verwundete wie nur möglich einzusammeln. Den Doktor köderte sie mit der Aussicht auf das Kreuz der Ehrenlegion, so daß er ihr Vorhaben unterstützte. Sie störte das Krankenhaus aus seinem Dornröschenschlaf auf, rüttelte es aus seiner Betäubung, stachelte den Patriotismus der Frau des Radiographen an und setzte so Teil um Teil eine riesige Maschine zusammen. Das Schwierigste war, die Wagen und Fahrer zu finden.
Die Prinzessin konnte es gar nicht fassen. Sie glaubte, eine Unzahl Leute hätten keinen anderen Wunsch, als ein Doppelleben zu fuhren und den Tod aus der Nähe zu sehen. Endlich gelang es ihr, elf Fahrzeuge zusammenzubringen, miteingerechnet ihre Limousine und den Krankenwagen der Klinik. Mit einem Blick hatte sie die Vorteile des Durcheinanders erfaßt, das eben auf seinem Gipfel war. Es war die Zeit, da die alte Uniform in der Umwandlung zur neuen begriffen und schon unkenntlich geworden war. Jeder machte sie sich nach seinem Belieben zurecht. Und diese Mauser, die in der Stadt schon vergnüglich war, wurde eine wahre Pracht beim Feldheer: eine Lawine von Sansculotten. Die Prinzessin erriet unseren erstaunlichen revolutionären Sieg mit seinen Landstraßen, übersät von Champagnerflaschen, Stühlen und Klavierautomaten. Was sie sich freilich weniger deutlich vorstellte, waren die Maskeraden, die Gebisse, die aufgetriebenen Bäuche, die ekelerregenden Gase des Todes, und daß Jäger und Wild bald schon zu Pflanzen werden, einander gegenüber Wurzeln schlagen, daß sie zu siamesischen Zwillingen werden sollten, die durch eine Membrane von Dreck und Verzweiflung verbunden waren. Sie witterte den Ruhm wie ein Pferd den Stall. Sie flog unseren Truppen nach. Sie stampe vor Ungeduld unter ihrer weißen Haube. Dreißigmal am Tage verließ sie das Zimmer ihrer Tochter und kam zurück, um über jeden ihrer Schritte Bericht zu erstatten. Der Ehrenhof, einst so würdig, mit Graswuchs zwischen dem Pflaster, war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Motoren dröhnten. Die Fahrzeuge fuhren im Rückwärtsgang
ineinander. Die Fahrer brüllten. Die Prinzessin schleie Verne hinter sich her, verteilte die Rollen, Endlich ging es wie bei dem berühmten »Alles loslassen!« des Oberst Renard, der neben seiner strickenden Ehehäle am Kamin saß, in seinem lenkbaren Luschiffmodell, das niemals aufsteigen wollte, sich zehn Zentimeter über den Boden erhob und gleich wieder zurückplumpste: als der festgesetzte Tag gekommen war, konnte die Kolonne nicht aurechen. Es fehlte noch ein roter Passierschein. Nachdem Madame de Bormes den Herren der Stadtkommandantur im Hôtel des Invalides um den Bart gegangen war, hatte sie geglaubt, das »Sesam, öffne dich!« des Krieges zu erhalten. Man stellte ihr nur eine Durchfahrtsgenehmigung aus, deren Gültigkeit sich nicht über Juvisy hinaus erstreckte. Die Enttäuschung war um so größer, als der Zug sich schon in aller Frühe unter dem Beifall der Milchfrauen und der Krankenhausangestellten in Bewegung gesetzt hatte. Er mußte also kehrtmachen und zockelte drei Stunden später mit hängenden Ohren wieder ein. Aber die Sache war nun einmal in Schwung gebracht. Nichts konnte sie aualten. Die Prinzessin unternahm weitere Schritte, und der Hof bot hinfort den Anblick eines Fabrikgeländes. Aus den Ritzen dieses Hofes begannen seltsame Pilze hervorzuschießen. Das Unwetter des Krieges hatte seine Fauna und Flora, die mit dem Frieden alsbald wieder verschwanden. Von dieser Sorte war auch Madame Valiche. Da alles Dramatische sie anlockte, wenn auch aus anderen Gründen als die Prinzessin, hatte sie sich der Sanitäts-
kolonne als Oberschwester angeboten. Sie brachte einen schlechten Dentisten mit, den Doktor Gentil, den sie für einen Chirurgen der städtischen Kliniken ausgab. Sie war ebenso häßlich, gewöhnlich und habgierig, wie Madame de Bormes schön, vornehm, selbstlos war. Diese beiden Frauen trafen sich auf dem Felde der Intrige. Nur daß die eine ihres Vergnügens, die andere ihres Vorteils wegen intrigierte. Madame Valiche betrachtete diesen verworrenen Krieg als eine vortreffliche Gelegenheit, in seinen trüben Wassern auf einen wunderbaren Fischzug nach Belohnungen auszuziehen. Sie liebte den Doktor Gentil und wollte ihn vorwärtsbringen. Außerdem besaß sie eine krankhae Vorliebe für alles Gräßliche. Die Prinzessin verwechselte diese Begeisterung mit der ihren. Sie sollte bald gewahr werden, welch ein tiefer Unterschied zwischen ihnen bestand. Madame Valiche war die Witwe eines Obersten, der in Tongking dem Fieber erlegen war. Sie erzählte das Ende ihres Mannes und was sich mit dem Sarg ereignet hatte, den sie nach Frankreich zurückbrachte. Dieser Sarg, der beim Ausladen an dem Haken des Kranes schlecht befestigt worden war, war schließlich ins Wasser gefallen. Sie tröstete sich mit dem Dentisten. Er hatte einen schwarzen Bart, ein gelbliches Gesicht und Augen wie eine Odaliske. Dieses Paar lebte in Kittel und Dienstmütze. Madame Valiche hatte sich und ihrem Geliebten Tressen aufgenäht. Sie folgte Clémence auf die Dienststellen, wo ihr energisches Aureten und ihre Armbinden Wunder wirkten. Aber trotz so viel Anmut auf der einen und so viel Schlauheit auf der anderen Seite blieb die Sanitätskolonne ein Phantom, das den Kranken auf die Nerven ging und dem Lazarett das Aussehen eines Ministeriums verlieh.
Diesen überfüllten Hof voller Lärm und Betrieb sah eines Abends durch das weit geöffnete Tor ein junger Soldat, der auf der Straße vorbeikam. Er blieb stehen, stützte sich auf einen Prellstein und warf auf dieses Tohuwabohu einen Blick wie den, mit dem Napoleon das Treiben der Revolutionsklubs beobachtet haben mochte. Nach langem Zaudern trat er endlich ein und mischte sich unter die Autoschlosser. Er sah so jung aus, daß er in seiner Uniform wie ein Kadett wirkte. Was aber seine Jugend unglaubwürdig machte, war eine schmale Unteroffizierslitze auf dem Ärmel seines knappen blauen Militärrocks. Sein hübsches Gesicht, von einer animalischen Frische, war eine bessere Empfehlung als jeder Ausweis. Nach zehn Minuten schon war er allen behilflich und wußte über alles Bescheid. Er wußte sogar, daß am Vortag der General d’ Ancourt eingeliefert worden war, der nun als einziger Patient in einem Zimmer des Erdgeschosses lag. Der General war ein Freund des Chefchirurgen der Rue Jacob, und dieser hatte erreicht, daß er ihn bei sich aufnehmen dure. Es sollte ihm ein Bein abgenommen werden. Er lag im Delirium. Sein Freund hatte wenig Hoffnung, ihn durchzubringen. Wie er so von Gruppe zu Gruppe ging, stieß der junge Militär zuletzt auf den Doktor Verne, der eben dabei war, mit der Prinzessin eine Liste der Mitglieder des Verbandes aufzustellen. »Wer sind Sie?« fragte Verne, barsch wie immer. »Guillaume omas von Fontenoy«, war die Antwort. »Ein Verwandter des Generals von Fontenoy?« Dieser General erfreute sich damals einer besonderen Beliebtheit. »Ja, sein Neffe.«
Diese Antwort tat unverzüglich ihre Wirkung, denn der Doktor verlor niemals sein Ehrenkreuz aus den Augen. Es leuchtete ihm voran wie der Stern den Heiligen Drei Königen. »Donnerwetter!« rief er. »Und Sie gehören auch zu uns?« »Ich bin«, sagte hierauf der junge Mann, »der Sekretär des Generals d’ Ancourt. Im Augenblick allerdings bedarf er meiner Dienste leider nicht, und ich beschäige mich, so gut ich kann, ohne mich allzuweit von ihm zu entfernen.« »Sie kommen uns wie vom Himmel geschickt!« rief die Prinzessin. »Wenn der General gerettet wird, so muß er doch noch auf Monate das Zimmer hüten. Ich nehme Sie in meinen Dienst. Ich bin Ihr General.« Während Verne sein Kreuz näher funkeln sah, hatte Clémence die tausend Möglichkeiten im Sinn, die dieser magische Name ihr verschae. Diese Frau, die eine Falle zwei Schritte vor ihren Füßen nicht gewahrte, sah, was die Zukun brachte. Und wieder einmal hatte sie recht gesehen.
Trotzdem er den Namen des ungläubigen Jüngers trug,
war Guillaume omas ein Schwindler. Er war weder der Neffe des Generals de Fontenoy, noch überhaupt mit ihm verwandt. Er war nur in einem Flecken namens Fontenoy, unweit Auxerre, geboren, wo nach den Geschichtsschreibern die Schlacht von Fontanet stattgefunden haben soll, bei der Karl der Kahle im Jahre den Sieg über Lothar I. davontrug. Bei Kriegsausbruch war Guillaume sechzehn Jahre alt. Er tobte vor Wut. Er verfluchte sein Alter. Von einem
Großvater, der ein großer Seefahrer gewesen war, hatte er die Lust zum Ausreißen geerbt. Er war eine elternlose Waise und lebte auf Montmartre bei einer Tante, einer frommen alten Jungfer, die ihn überall herumstreunen ließ und einzig auf ihr eigenes Seelenheil bedacht war, worüber sie das der anderen fast aus den Augen verlor. Da ihm die Lüge schon als eine Art Vorzimmer zu künftigen Abenteuern erschien, machte Guillaume sich älter, als er war, erzählte den Nachbarinnen, daß er bald eingezogen, daß er eine Sondergenehmigung erhalten würde, und erschien eines schönen Tages in Uniform. Diese Uniform stammte von einem Kameraden. Im Schutze dieser Verkleidung trieb er sich überall herum, strich um die Kasernen und um das Gitter an den Invalides. Zu seiner Tante sagte er: »Ich bereite mich auf die Artillerieschule vor.« Alles war so undurchsichtig, so verworren, daß man sich über nichts mehr wunderte. So gab eines das andere, und es erging ihm, wie es den Kindern beim Spiel ergeht. Er begann an das Spiel zu glauben. Er nähte sich eine Litze auf. Niemand hielt ihn an. Er empfand keine Furcht. Es erfüllte ihn mit Stolz, daß die Zivilisten sich nach ihm umdrehten, wenn er vorbeiging. Eines Tages, als er einem Hilfsradler ein Familienpapier gezeigt hatte, auf dem der Name Fontenoy zu lesen stand, glaubte der Radler, er heiße omas de Fontenoy und stellte ihm die gleiche Frage wie der Doktor Verne. Zum erstenmal bejahte er sie, und von nun an gehörte dieser Titel zu den Requisiten seines Spiels. Man sieht, zu welcher Sorte von Schwindlern unser junger Guillaume gehört. Einer Sorte, der man eine Sonderstel-
lung einräumen muß. Sie leben halb im Traum. Ihr Betrug setzt sie nicht herab, sondern rückt sie eher hinauf. Guillaumes Betrug war ohne Arg. Und es wird sich noch zeigen, daß er sein eigenes Opfer wurde. Er hielt sich für etwas, das er nicht war, wie ein Kind sich für Kutscher oder Pferd hält. Er wäre sehr erstaunt gewesen, wenn man ihn darauf hingewiesen hätte, daß er Gefahr lief, ins Gefängnis gesteckt zu werden. Um seine wunderliche Unantastbarkeit zu erklären, will ich eine Szene als Beispiel anführen, die sich zwanzigmal wiederholte. Guillaume geht mit Madame Valiche über die Place des Invalides. Er ist ganz versessen auf Schußwaffen. Er trägt einen Ordonnanzrevolver am Koppel. Dazu eine Feldmütze und eine Armbinde des Roten Kreuzes des Doktors Gentil, beide mit goldenen Litzen. Ein Hauptmann hält ihn an. Es entsteht folgender Dialog: »He, Sie da!« – »Herr Hauptmann?« – »In welchem Aufzug laufen Sie denn herum? Sie tragen einen Revolver und eine Rot-Kreuz-Binde?« – »Aber Herr Hauptmann ...« – »Und diese Mütze? Was ist das für eine Mütze?« – »Das ist die Mütze von Cyr, Herr Hauptmann.« – »Wie? Sie sind in Saint-Cyr? Glauben Sie ja nicht, Sie könnten mich zum Narren halten. Wie heißen Sie?« – »omas de Fontenoy, Herr Hauptmann.« – »De Fontenoy? Ein Verwandter des Generals?« – »Sein Neffe, Herr Hauptmann.« – »Man erzählt, daß er den linken Flügel der Deutschen umgangen hat.« – »Das entspricht den Tatsachen, Herr Hauptmann.« – »Sagen Sie mal, unter uns, ich weiß wohl, daß jeder heute sich seine Uniform zurechtmacht, wie es ihm gerade paßt, aber Sie sollten doch nicht eine Armbinde und einen Revolver tragen. Wählen Sie.
Tragen Sie das eine oder das andere. Weil«, fügte dieser Militär väterlich hinzu, »Sie es mit mir zu tun haben; Sie könnten aber auch einmal an einen Dummkopf geraten.« Die Prinzessin zog Guillaume offiziell mit in den Tanz hinein. Diesen Talisman ließ sie nicht mehr los. In achtundvierzig Stunden erreichte sie, was sie seit vier Wochen zu erreichen versuchte. Ein de Fontenoy brauchte in keinem Vorzimmer zu warten. Man brummte, zupe Guillaume am Ohr, gab ihm einen kleinen Klaps, und schon hatte er seine Genehmigung in der Tasche. Man stellte der Kolonne sogar eine Ordonnanz zur Verfügung, die alle Parolen kannte und sie hinfort auf ihren Fahrten auf dem Beifahrersitz des vordersten Wagens begleiten sollte. In diesem Wagen saßen Madame Valiche und der Dentist, in dem nächsten die Prinzessin, die übrigen folgten, wie es gerade kam. Die Fahrer waren etwa ein Hemdenmacher, ein Schristeller, ein Müßiggänger. Um elf Uhr abends brach man auf. Was die Buntheit einer solchen Zusammenstellung noch erhöhte, war der Umstand, daß Madame de Bormes ihren Fahrer, dem sein Marschbefehl zugestellt worden war, durch einen armen russischen Maler ersetzt hatte, der das Französische nur ungenügend beherrschte, und der aus Liebe chauffierte. Die Prinzessin unterstützte ihn. Er schwärmte für sie. Er war ein schlechter Fahrer. Aber er brauchte nicht schnell zu fahren und sich nur hinter dem ersten Wagen zu halten. Madame Valiche und der Doktor Gentil, die noch nie einen Wagen besessen hatten, genossen diese Spazierfahrt und kamen sich vor, als führen sie geradewegs ins Glück hinein. Sie streckten die Beine von sich, über die Kisten mit
Trockenkeks, Orangen und Cordial-Médoc, die Madame de Bormes für die Verwundeten mitführte. Sie dehnten und räkelten sich, streichelten ihre Tressen und fielen sich in die Arme, wenn es über eine Abflußrinne ging. Bei jedem Posten machten die Wagen halt. »Wer da?« Ein drohender Schatten versperrte die Fahrbahn. Wie ein mechanisches Spielzeug hopste die Ordonnanz von ihrem Sitz, flüsterte dem Schatten etwas ins Ohr, schwang sich in den Wagen zurück, und der Zug setzte seine Fahrt fort, bewegte sich die Hügel entlang, durchquerte zerstörte Dörfer. Ein abgeschmacktes Zwischenspiel ereignete sich, als Madame de Bormes, die Guillaume in ihren Wagen genommen hatte, durch das Rückfenster bemerkte, daß der Krankenwagen der Klinik erleuchtet war wie eine Auslage in der Rue de la Paix. Der Doktor Verne saß neben dem Fahrer, und in dieser Beleuchtung thronte mutterseelenallein die Frau des Radiographen, die allgemein in dem Verdacht stand, Vernes Geliebte zu sein, auf einem riesigen Stapel von Kopissen. Sie spielte einen Engel. Lächelnd, mit halbgeschlossenen Augen, eine Hand am Lichtschalter, erschien und verschwand sie nach Belieben, während man durch die Felder fuhr. Madame de Bormes bat Guillaume, sich aus dem Schlag zu beugen und dem Doktor zuzurufen, er möge das Licht ausschalten. Es war gefährlich, in diesem Gelände den Engel zu spielen, wo die kleinste Lampe genügte, daß man als Spion an die Wand gestellt wurde. Clémence und Guillaume verstanden sich. Sie preßten ihre Nasen gegen die Scheiben wie Kinder, die auf eine Leckerei lüstern sind. Sie betraten die Kulissen des Dramas. Die Bühne kam
immer näher, und sie spähten in diese Öde hinaus, auf die Bäume, die links und rechts vorbeihuschten, in diese von fernem Kanonendonner verstörte Nacht. Glichen sie nicht den Melomanen der Galerie, die, über einen schwarzen Abgrund gebeugt, ihrem Strawinsky lauschen? Die endlose Fahrt ermüdete sie nicht. Sie ertrugen den braunen Geruch nach Schlachthaus, das dumpfe Grollen eines einstürzenden Horizonts. Bald wird dieses Drohnen nicht mehr das einer Tordurchfahrt sein, wie man es im fünen Stock hört. Es wird den Wagen erschüttern, ihn mit hellen Blitzen umgeben. Die Prinzessin und Guillaume hoen, jeder für sich, auf diesen großen Augenblick. Was für ein geheimes Gesetz führt einen Guillaume, eine Madame Valiche, eine Prinzessin de Bormes wie das Quecksilber zusammen? Ihre Abenteuerlust eilt herbei von den Enden der Welt, um gemeinsame Sache zu machen. Plötzlich bog der vorderste Wagen in einen Querweg und blieb stehen. Man unterschied ein Gitter und die Pfeiler eines Tores. Was war geschehen? Sehr einfach. Verne hatte einen kleinen Besitz in der Umgebung von Paris. Er wollte hundert Geranientöpfe dorthin bringen. Ohne der Prinzessin, deren Sarkasmen er fürchtete, etwas zu verraten, hatte er die Wagen heimlich voll Blumentöpfe geladen und mit Madame Valiche vereinbart, daß man diesen gewaltigen Umweg machte. Statt sich der Front zu nähern, hatte man sich also von ihr entfernt. Als die Prinzessin merkte, welchen Streich man ihr gespielt hatte, geriet sie außer sich. Der Doktor lud seine Geranien ab. Sie packte ihn beim Ärmel. Doch als sie
eben in die heigsten Vorwürfe ausbrechen wollte, wandte er ihr ein so groteskes Gesicht zu, daß sie laut auflachte. Er trug nämlich eine Art Brille, deren Gummimaske ihm ein griechisches Profil verlieh. Dieses Lachen war seine Rettung. Die Prinzessin konnte seiner gar nicht Herr werden. Die Tränen schössen ihr aus den Augen, so daß sie in ihren Wagen zurückkehren mußte. Dieses wilde Gelächter dauerte so lange, als der Doktor und seine Helfer die Blumentöpfe forttrugen. Es begann sich gerade zu legen, als Verne, sehr beschämt, herantrat, um sich zu entschuldigen. Und wieder brach es von neuem los. Das ist eine Frau, dachte Guillaume, mit der man sich verstehen kann. Sie paßte in sein Spiel. Er bedauerte seine fromme Tante. »Glauben Sie an Gott, Madame?« fragte er sie. »Ja«, erwiderte Clémence; »vor allem, wenn ich Angst habe. Zum Beispiel in der Eisenbahn.« Es dämmerte, als sie M... erreichten. Die steil abfallende Straße war voller Menschen. Der Bischof war schon auf und machte sich an seinem Mäntelchen zu schaffen. Er verließ diese Straße nur, um auf die Kanzel zu steigen. Er war ehrgeizig. Er liebte Prachtentfaltung und Ehrenbezeigungen. Darum wollte er auch nicht einen Fingerbreit seiner Herrlichkeit preisgeben. Aufrecht stand er dort, theatralisch genug, rae seine Robe, und zeigte seine violetten Waden, als hätte die deutsche Flut beim Abzug einige Pfützen hinterlassen. Er hatte die Stadt in Schwung gebracht, den Bürgermeister an die Wand gespielt und herrschte nun wie ein Kapitän an Bord.
Die Frauen küßten seinen Amethyst, die Männer erwarteten seine Befehle. Schön und aufgeblasen, war er eine märchenhae Fuchsie. Als die Sanitätskolonne vor seinen Augen seine Stadt durchschnitt, runzelte er die Brauen und merkte sich mühelos das Aussehen der Fahrzeuge. Die Prinzessin hätte gerne seinen Segen empfangen, aber Gentil war Freidenker. Er glaubte nicht einmal an das Tischrücken wie Madame Valiche, die so viel Unglauben gar nicht fassen konnte. »So ein Ungeheuer«, pflegte sie zu sagen; »er glaubt an gar nichts.« »Doch, Madame«, entgegnete der Dentist mit verächtlicher Stimme, »ich glaube. Ich glaube an die Ätherschwingungen.« Sie fanden den Bischof lächerlich. »Er steckt ja schon in aller Herrgottsfrühe im Ballkleid«, rief Madame Valiche. »Schönen guten Morgen, Dominus Vobiscum Amen«, brummelte der Doktor, und ihr Wagen zog die anderen unter dem zürnenden Blick des hochgewachsenen Greises hinter sich her. Man kann eine Stadt durchschneiden, aber man schneidet keinen Bischof. Sie sollten diesen Fehler am nächsten Tag büßen. Für den Augenblick war nur ein Seminarist betroffen. Er suchte seinen Bruder, von dem er ohne Nachrichten war, und hatte die Erlaubnis erhalten, sich der Kolonne anzuschließen. Er kauerte sich auf dem Sitz des letzten Wagens zusammen, aber das Adlerauge des Bischofs hatte im Vorbeifahren sämtliche Knöpfe an seiner Soutane gezählt. Madame Valiche mußte an ihn denken. »Armer Vobiscum«, sagte sie zu dem Doktor, »er wird schön in der Klemme stecken.« Sie nannte die Priester »Vobiscum«.
Doch der Doktor schlief. Madame Valiche wickelte ihm einen Schal um und faßte seine schlaffe Hand. Der Himmel begann sich zu röten. Die Hähne krähten. Der Kanonendonner erschütterte die Scheiben. Alles war rosig; die Böschungen, der Rauch, die Munitionswagen, die Pferde. Am Rande eines Ackers voll rosiger Runkelrüben standen Dragoner im Hemd und wuschen sich. Die vorbeifahrenden Frauen versetzten sie in Erstaunen. Die Prinzessin, die ihnen zuwinkte, sah noch lange ihre rosigen Gesichter, die der Kolonne mit runden Augen und offenen Mündern nachschauten. Die Kulissen, dachte sie bei sich selbst. Das sind die Schauspieler, die Statisten, die sich ankleiden. Von Apfelbaum zu Apfelbaum, von Posten zu Posten erreichten sie endlich einen Marktflecken, wo man die Verwundeten in ein rundes Zelt brachte, das wie ein Zirkus auf dem Dorfplatz aufgeschlagen war. Der Wagen von Madame Valiche hielt an. Sie suchte nicht das Feuer, sie suchte seine Opfer. Ein paar junge Ärzte empfingen diese unerwartete Verstärkung sehr höflich, wenn auch ein wenig erstaunt. Man öffnete eine Kiste, man verteilte die Flaschen daraus und benachrichtigte den Chefarzt. Der Chefarzt sah diese Zivilisten höchst ungern. Mit groben Worten verweigerte er die Verwundeten, um die ihn die Prinzessin bat. »Nein, Madame!« rief er aus. »Die Strohschütte, das ist der Luxus der Verwundeten. Die brauchen sonst nichts. Man soll die Verwundeten nur ja in Ruhe lassen. Die Verwundeten werden uns noch die größten Scherereien in diesem Krieg machen.« Den Mitgliedern der Kolonne verschlugen diese Worte den Atem. Die Prinzessin war schon entschlossen, schroff abzubrechen. Aber die Gewöhnlichkeit wird nur durch Ge-
wöhnlichkeit besiegt. Der Oberstabsarzt war für nichts anderes empfänglich. Die Liebenswürdigkeit der Prinzessin war ihm ein Greuel. Madame Valiche eroberte ihn. Sie verstand es mit seltenem Geschick, Guillaumes Namen einfließen zu lassen. Der Oberstabsarzt wurde ein anderer Mensch. Seine Gehilfen wurden weniger förmlich. Der Oberstabsarzt weigerte sich zwar, seine Verwundeten herzugeben, aber er gestattete, daß man Süßigkeiten unter sie verteilte und ihnen Verbände anlegte. Er verwies auf ein Gehö in neun Kilometer Entfernung, wo die Verwundeten so schlecht untergebracht seien, daß man sie gewiß gerne abtreten werde. In dem Zelt lagen an die dreißig Märtyrer auf Strohbündeln in den letzten Zügen. Ein unbeschreiblicher, süßlicher Gestank, dem der Wundbrand seinen schwarzen Moschusgeruch beimischte, hing Übelkeit erregend in der Lu. Die einen lagen mit gelben, geschwollenen Gesichtern, auf denen Scharen von Fliegen krochen; andere hatten die Hautfarbe, die Magerkeit und die Gebärden der Mönche des El Greco. Sie sahen alle aus, als kämen sie aus einem Schlagwetter. Das Blut gerann auf ihren zerfetzten Uniformen, und diese Uniformen ließen weder Farbe noch Schnitt erkennen, so daß man nicht wußte, wer die Deutschen waren und wer die Unsrigen. Eine große Bestürzung hatte sie einander gleich gemacht. Als Madame de Bormes diese Stätte betrat, drohte ihr übel zu werden. Sie machte eine übermenschliche Anstrengung, sich aufrecht zu halten. War sie doch die Urenkelin eines Mannes, der sich nicht ergeben wollte; lieber zermalmte er ein Glas zwischen den Lippen und verschlang es. Eine wirkliche Überraschung war Madame Valiche. Sie befand sich endlich in ihrem Element. Dieses Schlachthaus
verwandelte sie. Sie scherzte, bediente sich der Kasernenhofsprache, bereitete Binden und Spritzen vor, schnitt Feldröcke auf, legte Verbände an, machte Injektionen, verweigerte oder reichte Trinkwasser. »Hopp, mein Kleines!« rief sie der Prinzessin zu, die sich so ungeschickt anstellte, wie Madame Valiche es auf einem Ball hätte sein können. »Hopp! An die Arbeit! Reichen Sie mir mal die Schere. Nicht doch, lassen Sie das Aunöpfen. Schneiden Sie, schneiden Sie! Papa Staat bezahlt’s ja!« Sie lachte, während sie neben einem menschlichen Überrest kniete. Der Ekel, der die Prinzessin gepackt hielt, ließ sie fast ihr Unternehmen bereuen. Aber sie mußte feststellen, daß Madame Valiche durchaus den richtigen Ton traf, daß die jungen Ärzte sie als Kollegen behandelten und daß sie, die Prinzessin, sich falsch betrug. Sie ließ ihre Blicke nach Guillaume umhergehen. Guillaume war an der Betätigung der christlichen Nächstenliebe sehr wenig gelegen. Auf seinen Namen bauend, stattete er dem Waffenlager einen Besuch ab und requirierte Revolver. Abends fuhren sie nach dem Gehö weiter. Es regnete, und es war kalt. Dieses Gehö lag mitten zwischen den Feldern. Sein Hof, der sich in der Mitte buckelte, sandte das schlammige Wasser in die Ställe. Diese Ställe beherbergten ein deutsches Feldlazarett, das man gefangengenommen hatte. Hier lagen nur Verwundete des Feindes. Man verhandelte im Regen, beim Schein einer Laterne, die der schlarunkene Chefarzt schwenkte. Nichts sei ihm lieber, sagte er, als wenn man ihn von diesem Geschmeiß befreie. Der deutsche Stabsarzt hielt eine Mistgabel und eine
Laterne. Die Verwundeten im Dunkeln waren nicht zu erkennen. Er stocherte mit seiner Gabel herum. Das war sein System des Auslesens. Die am ärgsten dran waren, schrien am lautesten. Er übergab dem Dentisten ihre Verwundetentäfelchen. Dann hob man die Unglücklichen aus dem Schlamm und trug sie auf den Hof hinaus. Einem, der auf einer Tragbahre lag, fiel die volle Helle eines Scheinwerfers ins Gesicht. Er war jung. Er lebte, doch waren ihm beide Hände abgerissen. Mit seiner Zunge schnappte er nach einem Kettchen, das er um den Hals trug, und nahm die Medaillen, die daran hingen, in den Mund. Sicher erbat er ein Wunder: daß er in seinem Bett erwachen möchte, in Deutschland, und seine Hände wieder hätte. Der Major nahm ihm die Medaillen aus dem Mund, indem er mit einer Zinke seiner Gabel unter die Kette fuhr. Der Verstümmelte ließ ihn gewähren und begann wieder von vorne. Als man den Armen aufrichtete, hatte er einen schrecklichen Reflex. Als wollte er die Messingstangen des Krankenwagens ergreifen, reckte er seine beiden Stümpfe hoch. Ohnmächtig mußten ihn die Sanitäter hineinstemmen. »Uff«, sagte unser Oberstabsarzt zu dem preußischen Kollegen, »vous content?« (»Fous gondent?« wiederholte er seine Worte, um sich verständlich zu machen.) Doch der Gefangene biß sich die Lippen und erteilte seine Anordnungen durch Zeichen. »Schade«, sagte Madame Valiche zu der Prinzessin, während sie ihre Strähnen mit grauenerregenden Händen unter die Haube zurückschob. »Körbe voll für das Val-de-Grace. Nix für die Rue Jacob. Also auf ein andermal.« Die Prinzessin bewunderte diese Frau beinahe. »Aber, Madame«, fragte sie mit einer Arglosigkeit, die
bei den Weltleuten als finsterste Bosheit galt, »was tun Sie eigentlich, wenn kein Krieg ist?« »Ich? Morgens reite ich in den Bois. Weißes Zaumzeug, Parmaveilchen über den Ohren. Abends im Ritz von fünf bis sieben. Ich deklamiere. Ich nehme Unterricht bei Romuald. Samstags deklamiere ich im Petit Palais, im Club der Ehrenflieger. Glauben Sie nur ja nicht, daß ich immer im Kittel herumlaufe. Ich habe meine besondere Note. Ich trage gerne Roben aus Charmeuse, ein dünnes Kettchen um die Fessel, Veilchensträuße, die schon ein wenig welk sind, und Filzhüte mit Rembrandtfedern. Kennen Sie Die Braut des Paukenschlägers?« Madame de Bormes sank in einer Taucherglocke auf den Meeresgrund. Madame Valiche eröffnete ihr Labyrinthe. »Olé! Olé!« schloß dieses Weib. »Ich muß wieder zu meinen Boches.« Sie wirbelte auf ihren Absätzen herum und deutete einen spanischen Tanzschritt an. »Gentil habe ich auf dem Ball der Zahnstocher kennengelernt, wissen Sie«, sagte sie noch, schon in der Stalltür, indem sie einen belgischen Akzent annahm. »Er war als Bure verkleidet, und ich ging als Carmen. Ein dunkles Auge dich bewacht.« Sie verschwand. Die Prinzessin de Bormes konnte sich Madame Valiche nirgends woanders vorstellen als nachts auf den Landstraßen, die Hände in ihren Soldatenmantel vergraben, oder bei Tag mit dem Ausleeren von Nachtgeschirren beschäftigt. Sie glaubte, weit herumgekommen zu sein, viele Leute kennengelernt zu haben, aber sie war sich nicht bewußt, daß sie, wie die Erde, ihre eigene Atmosphäre mit sich nahm, und wie der Erde fiel es ihr schwer, die ändern Welten für bewohnt zu halten. Diese Person einerseits, und so viel Grauen andrerseits,
stellten sie auf eine harte Probe. Der Geist, die Exzentrizität, die Selbstsicherheit einer Frau von Welt, die den Tadel der Weltleute gewohnt ist, mögen noch so groß sein, sie bewegt sich dennoch auf einem Liebhabertheater, und die erste Berührung mit einem wahren eater lahmt die Ungezwungenheit ihrer Bewegungen. Die Prinzessin hatte sich bald wieder gefaßt. Sie war nicht die Frau, eine Niederlage einzustecken. Sie dure nicht länger wie ein leibhaiger Vorwurf mitten auf diesem Hof herumstehen. Es mußte ihr gelingen, über Madame Valiche zu lachen und mit anzupacken. In einer Minute war ihr Entschluß gefaßt. Sie sprengte ihre Fesseln. Und als Madame Valiche aus dem Stall trat und rief: »Da hab’ ich einen, dem es beide Beine abgerissen hat«, sagte die Prinzessin mit heller Stimme: »Darf ich Ihnen behilflich sein, ihn fortzutragen.« Auf der Rückfahrt leerte Guillaume im Auto seine Taschen, die er mit deutschen Ladestreifen und Schulterstükken vollgestop hatte. Er zeigte Madame de Bormes diese unheimliche Sammlung vor. Anfangs wie eine Debütantin von dem Gestank der Kulissen enttäuscht, gewohnte sie sich allmählich an diesen Gestank. Sie war müde. Guillaume nicht. Er schob ihr die Kissen zurecht und war noch vor ihr eingeschlafen. Sein Kopf sank vornüber, seine Zunge schob sich zwischen den halbgeöffneten Lippen vor. Seine Hand, die auf dem Griff der Wagentür ruhte, fiel schwer herunter. Er glich den Verwundeten. Madame de Bormes schlief ebenfalls ein. »Zehn Minuten Aufenthalt, Restaurationsbetrieb! Alles aussteigen!«
Madame Valiche riß die Wagentür auf. »Wo sind wir?« fragte Clémence noch halb schlafbefangen. Guillaume sprang aus seinem Traum auf die Straße. »Wir sind in M ... angekommen, schöne Prinzessin, und unsere Verwundeten schreien, daß einem ganz anders wird.« Wirklich hörte man in der kalten Nacht seltsame Klagelaute, Verwünschungen, Schläge gegen die Außenwände der Wagen. »Sie haben Schmerzen«, sagte Clémence; »die Straße ist voller Löcher.« »Was Sie beide nicht am Schlafen gehindert hat. Das ist doch alles nur zu ihrem Besten. Man bringt sie in ihr Bettchen. Sie wissen gar nicht, wie gut sie es haben. Aber da drückt uns der Schuh nicht. Wir sind steckengeblieben. Fünf Fahrzeuge ohne Benzin.« So war es. Es galt keine Minute zu verlieren. Der Wagen der Prinzessin und der von Madame Valiche mußten sich aufmachen und Benzin herbeischaffen. Nachdem man Erkundigungen eingezogen hatte, stellte sich heraus, daß es dazu einer Genehmigung von Seiten des Bischofs bedure. Es war sechs Uhr früh. Das Wehgeschrei der Verwundeten ließ Madame de Bormes nicht lange zaudern. Vielleicht war es geschickt, den Seminaristen mitzunehmen, der keine Spur von seinem Bruder entdeckt hatte. Man schob ihn in den Wagen, in dem Gentil schlummerte, und fuhr gegenüber der Freitreppe des Bischofs vor. Die Prinzessin zog die Glocke. Eine alte Haushälterin kam und öffnete. Ein junger Priester folgte ihr auf dem Fuße. Madame de Bormes erklärte ihnen ihre Notlage. Der junge Priester, der seine Soutane zuknöpe, zeigte ein mitleidiges Gemüt und bat die Haus-
hälterin, Brot und Konfitüren herbeizuschaffen, während er Monseigneur ins Bild setzte. Monseigneur, der immer auf dem Posten war, hatte bereits durch die Läden hindurch die Überreste der Kavalkade erkannt. Er kleidete sich an, stürmte die Treppe herunter und, ohne jemand zu Wort kommen zu lassen, ließ er ein Donnerwetter auf Clémence niedergehen. Er war bleich vor Zorn. Seine Strafpredigt galt ihrer Durchfahrt am Vortag. Er allein stellte hier Fahrbefehle aus. Alles, was den Sanitätsdienst betraf, unterstand einzig und allein seiner Aufsicht. Ihre Wische gingen ihn einen Dreck an, und er würde nicht einen Tropfen Benzin herausrücken. »Ja!« rief dieser gute Mann, der nur von Richelieu verblendet war und der jedenfalls rot sah, »ja! Sie wollen alles über meinen Kopf hinweg erreichen. Von mir aus. Sehen Sie zu, wie Sie sich zurechtfinden.« »Kommen Sie«, sagte er barsch zu dem jungen Priester. Er ließ die Prinzessin stehen, durchschritt die Vorhalle und öffnete die Tür auf die Straße. Wo ihn eine Apotheose erwartete. Madame Valiche und Gentil hatten auf der Rückfahrt den Grund der Kisten geleert. In ihrem Wagen häuen sich das Durcheinander und der Unrat eines Speisewagens. Sie waren betrunken von Cordial-Médoc. Sie taten ihren Zärtlichkeiten keinen Zwang mehr an. Als der Bischof von der Freitreppe herab dieses sich wälzende Paar, die Flaschen, den Seminaristen erblickte, prallte er zurück. Madame Valiche öffnete ein halbirres Auge. »Rasch, Liebling, rasch«, rief sie dem Doktor zu, »komm, küß mich, da sind die Pfaffen schon!« Madame de Bormes, die ebenfalls hinausgetreten war, sah nur noch den Rücken des Bischofs. Er entfernte sich in
Richtung der Kathedrale unter einem feinen Regen. Und rae, wie am Vortag, mit beiden Händen sein Gewand. Weder Madame Valiche noch Gentil waren in der rechten Verfassung, um zu begreifen, wie nichtswürdig ihr Benehmen war. Am Halse ihres Geliebten hängend, sang Madame Valiche eine Arie aus Manon. Der Seminarist schluchzte. Dieses Schauspiel im Regen hatte etwas nicht wieder Gutzumachendes an sich. Guillaume rettete alles. Er hatte den Bürgermeister aufgesucht, hatte Fontenoy genannt. Und in seinem Entzükken, daß man seine Macht anerkannte und den Bischof überging, hatte der Bürgermeister Kanister über Kanister hergegeben. Man schae das orgiastische Paar fort. Sie schliefen. Man füllte die Benzintanks, und der klagende Zug setzte sich wieder in Bewegung. Wie o überfielen Madame de Bormes, wenn sie später auf den nachtschwarzen Straßen dieses Klagegeschrei hörte, die heigsten Gewissensbisse. Sie fragte sich, ob sie nicht, um sich zu betätigen, den schon Sterbenden den Rest gab. Die Straßen, die sich zwischen der Front und der Hauptstadt immer länger und länger erstreckten, waren von den Schleppern aufgerissen. Jeder Stoß bereitete diesen Männern Höllenqualen. War es nicht richtiger, sie trotz der fehlenden Pflege an Ort und Stelle zu lassen? Dort könnten sie wenigstens in Ruhe sterben. Wenn sie dann aber, nachdem das Lazarett der Rue Jacob voll war, ihre Schützlinge in den verschiedenen Militärkrankenhäusern besuchte, so begriff sie, daß sie keinem verbrecherischen Vergnügen frönte.
Diese prächtige Frau, die für sich allein den leitenden Zivil- und Militärstellen die Bedeutung einer Organisation klarmachte, welche erst sehr viel später zu einer stehenden Einrichtung wurde, glaubte noch nach Entschuldigungen suchen zu müssen. Sobald ihre Tochter wiederhergestellt war, kehrte Madame de Bormes in ihre Wohnung in der Avenue Montaigne zurück. Sie war beständig zwischen ihrer Wohnung und dem Krankenhaus unterwegs. Mitunter brach sie auch gleich von zu Hause auf und stieß zu den übrigen an den Toren von Paris. Guillaume war das Hätschelkind des Hauses. Er hatte dort ein Zimmer, so daß er nicht genötigt war, zu seiner Tante auf Montmartre heimzugehn, wenn sie von allzu anstrengenden Fahrten zurückkamen. Im übrigen war die Tante seine geringste Sorge. Sie sah ihn jede Woche einmal auf zehn Minuten; was er damit begründete, daß er einen Posten als Verbindungsmann habe. In seinem Zimmer legte er sich eine Sammlung von Helmspitzen und Granatsplittern an. Die Feuertaufe empfingen Clémence de Bormes und Guillaume in Reims. Bei ihrer Ankun hügelabwärts sahen sie die Stadt unter sich liegen wie den Scheiterhaufen der Jungfrau von Orléans. Ein finsterer Schwaden hing in der Lu, so flach und langgestreckt wie der Rauch eines Ozeandampfers auf offener See. In der Stadt wuchs das Gras auf den Straßen, Bäume wuchsen aus den Fenstern. Die aufgerissenen Häuser zeigten die geblümten Tapeten ihrer Zimmer. In einem sah man noch eine Kommode, und an einer Wand einen Rahmen. Das Bett schwebte am Rand einer anderen.
Die Kathedrale war ein Gebirge aus alten Spitzen. Die Militärärzte, die das heige Bombardement an jeder Ausübung ihrer Tätigkeit verhinderte, warteten im Keller des »Goldenen Löwen« auf eine Atempause, Dreihundert Verwundete füllten das Hospiz und das Krankenhaus. Da Reims im Kriegsfälle der Patenscha einer Stadt unterstand, die sich um nichts kümmerte, konnte es weder jemand ernähren noch evakuieren. Die Verwundeten starben an ihren Wunden, vor Hunger, vor Durst, am Starrkrampf, unter den Einschlägen. Tags zuvor hatte man im Krankenhaus einem Artilleristen eben eröffnet, daß man ihm ein Bein abnehmen müsse, ohne Betäubung, daß dies die einzige Möglichkeit sei, ihn zu retten, und er rauchte gerade mit bleichem Gesicht vor der Folter eine letzte Zigarette, als eine Granate die chirurgischen Instrumente zu Staub zerschlug und zwei Regimentsärzte auf der Stelle tötete. Niemand wagte es, wieder vor dem Artilleristen zu erscheinen. Man mußte ihn seinem Schicksal überlassen, bis der Wundbrand ihn völlig überzogen hatte, wie der Efeu eine Statue. Ähnliche Szenen wiederholten sich zehnmal am Tage. Bei den Barmherzigen Schwestern waren für hundertfünfzig Verwundete eine Tasse schaler Milch und eine halbe Bratwurst vorhanden. In einem langen aufgerissenen Saal ging ein Priester von Strohsack zu Strohsack, um den Verwundeten die Sterbesakramente zu spenden. Um ihnen die Hostie in den Mund zu schieben, brach er die Zähne mit einer Messerklinge voneinander. Die Hilfe, die unsere Sanitätskolonne leisten konnte, war gering, doch die Ärzte überhäuen Gentil mit Meldungen, die um Unterstützung baten. Man lebte unter der Wölbung unserer Geschosse, die mit dem Getöse eines D-Zuges vorüberbrausten, und der deutschen Grana-
ten, die das Ende ihrer seidigen Bahn mit einem Krachen und einem schwarzen Todespatzen markierten. Die Verwirrung dieser Stadt hatte den Höhepunkt erreicht, man war völlig fertig mit den Nerven. Überall sah man nur Spione, und mit dem Standgericht war man rasch bei der Hand. Die Prinzessin, Madame Valiche und Guillaume begegneten einer Patrouille, die drauf und dran war, den russischen Maler kurzerhand an die Wand zu stellen. Man hatte ihn aufgegriffen, als er gerade die Kathedrale zeichnete. Der magische Name war seine Rettung und verhinderte, daß man noch weiteren Mitgliedern der Kolonne das gleiche Los bestimmte. Diese unerträgliche Atmosphäre wirkte belebend auf Clémence und Guillaume. Sie gingen Madame Valiche zur Hand, deren Eifer keine Grenzen mehr kannte und die beide Feldlazarette in Erstaunen versetzte. Sie schlug vor, die Wagen mit Verwundeten vollzuladen. Sie und der Doktor würden in Reims bleiben, und anderntags könne eine neue Ladung abgeholt werden. Die Prinzessin und Guillaume wollten ebenfalls bleiben. »In meinen leeren Wagen«, sagte Clémence, »gehen noch zwei Mann hinein. Ich kann ihnen unmöglich den Platz wegnehmen.« Sie schliefen unter Felddecken im Keller des »Goldenen Löwen«. Die Stadt wurde von Granaten überschüttet wie ein Schiff von den Wogen eines Sturmes. Und jedesmal wankte sie bis in ihre Grundfesten. Die feindlichen Geschütze hatten es auf den Gasometer abgesehen. Sie umkreisten ihn, tasteten das Gelände ab, mit der Unentschiedenheit eines Blinden, der einen Türgriffsucht. Diese Bedrohung brachte alle um den Rest ihrer Nervenkra.
Guillaume bewunderte die Tapferkeit der Prinzessin, die wiederum seine bewunderte. Guillaumes Tapferkeit war Kinderei, und die der Prinzessin Ahnungslosigkeit. Das sollte ihnen bald bewiesen werden. Die Prinzessin hatte das Ärgste ertragen. An einer Straßenecke war ihr ein Pferd begegnet, das hinkend in seine eigenen Gedärme trat. Sie hatte eine Gruppe von Artilleristen gesehen, die zerschmettert neben ihrem Geschütz lagen. Aber sie hielt sich für unverwundbar. Als einzige oder doch beinahe einzige Frau in dieser Stadt erwartete sie, daß der Tod sie mit besonderer Zuvorkommenheit behandeln werde. Sie streie ihn, ohne ihn zu fürchten. Als sie aber auf dem Wege zwischen dem Krankenhaus und dem Hospiz in einer Entfernung von fünfzig Metern sah, wie das Feuer des Himmels eine Frau und ihre Tochter wegfraß, und mit einem Male begriff, daß die Granaten die Frauen nicht verschonen, packte sie eine jähe Angst, wie sie gerade die reichen Naturen bisweilen befällt. In ihrer Bestürztheit begann sie zu schreien, in allen Richtungen umherzuirren, nach Guillaume zu rufen. Guillaume, der, während er in den Trümmern herumschnüffelte, von dem Ludruck zu Boden geworfen worden war, doch außer einem Balkenstoß gegen das Knie keinen Schaden davontrug, kam humpelnd angelaufen. Er war ganz grün im Gesicht. Clémence rang die Hände. Sie sprach von ihrer Tochter, nannte sich eine Rabenmutter, beschwor Guillaume, sie auf der Stelle fortzubringen. Das war leichter gesagt als getan. Ihre Fahrzeuge würden nicht vor Abend zurück sein. Der Rest des Tages war eine Hölle. Madame Valiche
nahm die Prinzessin in Pflege, die an allen Gliedern zitterte. Die Wagen kamen zurück, außer einem. Dem des Müßiggängers. Des Schmarotzers, wie er allgemein genannt wurde. Die Deutschen hatten die Kolonne, die wie ein verdächtiger Ameisenzug in halber Höhe der Hügel dahinfuhr, unter Beschuß genommen. Die Granaten versuchten, die Wagen wie Brettsteine zu erwischen. Endlich war es einem Geschoß gelungen, den Wagen des Müßiggängers zu treffen, so daß keine Spur von ihm übrigblieb. Die Rückfahrt mußte bis zum Einbruch der Dunkelheit verschoben werden. Die Prinzessin weigerte sich zu warten. Als der russische Maler den Motor ankurbelte, fiel ein großer Brocken, der dem Gasometer galt, in das Haus, hinter dem der Wagen stand. Sie wurden von Mörtel bedeckt, und die Scheiben flogen in Stücke. So fuhren Clémence und Guillaume denn in einem glorreichen, doch unbequemen Wagen von Reims fort, ohne das Schleudern des Russen zu fürchten. Die frische Lu pfiff ihnen um die Ohren und ermunterte die Lebensgeister der Prinzessin. Da hörte Guillaume, wie diese unverbesserliche Frau vor sich hinmurmelte: »Wir wollen umkehren; es ist lächerlich, solche Angst gehabt zu haben.«
E s gibt Leute, die alles besitzen, und niemand glaubt es
ihnen: Reiche, die so arm, Adlige, die so gewöhnlich sind, daß der Unglaube, dem sie überall begegnen, sie schließlich einschüchtert und ihr Benehmen etwas Verdächtiges bekommt. An gewissen Frauen werden die schönsten Perlen zu falschen Perlen. Während an ändern die falschen wie echte wirken. Ebenso gibt es Menschen, die ein blindes Vertrauen einflößen und Vorrechte genießen, auf die sie keinen Anspruch besitzen. Guillaume omas gehörte zu dieser glücklichen Sorte. Man glaubte ihm. Er dure alle Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen, brauchte keinerlei Berechnung anzustellen. Ein Stern der Lüge führte ihn geradewegs zum Ziel. So zeigte sein Gesicht auch niemals den gequälten, gehetzten Ausdruck des Schurken. Obwohl er weder Schlittschuh laufen noch schwimmen konnte, dure er sagen: Ich laufe Schlittschuh, und: Ich schwimme. Jeder hatte ihn schon auf dem Eise, im Wasser gesehen. Eine besondere Fee erteilt diese Gabe bei der Geburt. Manche bringen es zu etwas, an deren Wiege keine andere Fee, außer dieser einen, erschienen ist. Es kam niemals vor, daß Guillaume sich prüe, daß er dachte: Wie finde ich da wieder heraus? oder: Ich betrüge, oder: Ich bin ein Schu, oder: Ich bin ein ganz gerissener Kerl. Er war völlig eins mit seiner eigenen Legende. Je mehr er sich in seine Rolle einlebte, desto enger verwuchs er mit ihr und desto stärker war das Feuer, das er hineinlegte, desto überzeugender sein Freimut. Seit kurzem besaß er ein neues Spielzeug: den Bericht über den Tod seiner beiden Vettern, die vor den Augen ihres Vaters gefallen waren. Seine absurde Erzählung war so
naiv in der Zeichnung und so bunt in den Farben wie ein Bilderbogen. Und wie auf einem solchen Bilderbogen hatte seine Vereinfachung etwas ungemein Treffendes und schien wirklicher als die Wirklichkeit. Er berührte in jedem seiner Zuhörer das Kind, das wir alle irgendwo geblieben sind. Manchmal setzte er dem Bild noch einen goldenen Tupfen auf. Er war selbst ganz überwältigt. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Es war unmöglich, ihm ohne Rührung zuzuhören, Da er niemals jene Vorsicht zu beobachten brauchte, die den Gaunern zum Verderben ausschlägt, so erzählte er diese heroische Episode im Hause der Prinzessin, bei Tisch, vor Männern, denen das Kriegshandwerk geläufig war. Zivilisten wie Militärs fielen darauf herein, so wahr ist es, daß die Wahrheit – selbst die gefälschte – aus dem Munde der Kinder kommt. Inzwischen kehrten die Flüchtlinge nach Paris zurück. Alle, die die Stadt Hals über Kopf verlassen hatten, trafen einer um den ändern wieder dort ein. Jeder entschuldigte seine Abreise bei denen – den wenigen –, die geblieben waren. Die einen schützten dienstliche Verpflichtungen vor, andere ihr Töchterchen, andere ihre alte Mutter, andere ihre gewichtige Persönlichkeit, welche die Deutschen unverzüglich als Geisel genommen hätten, andere die vaterländische Pflicht. Pesquel-Duport, der Leiter des Jour, den seine Freunde den »Direktor« nannten, einer der zehn aus dem Kreis um die Prinzessin, versuchte ihr zu beweisen, daß sie unrecht gehabt hätte, obwohl die Umstände ihr recht gäben: einmal sei das Schicksal ebenso närrisch und liebenswürdig wie sie selbst gewesen, und es habe nichts zu besagen, daß
von Kluck nicht in Paris einmarschiert sei, denn im Prinzip sei er dennoch einmarschiert. Im Prinzip. Eben dem Umstand, daß sie keine Prinzipien besaß, verdankte Clémence ihre ungewöhnliche Hellsicht. Und das gleiche Fehlen jedes Prinzips ist auch der Grund, warum das Zustandekommen unseres Erfolges dem gesunden Menschenverstand ein Rätsel blieb! Für gewöhnlich schätzen es die Freunde eines Hauses nicht, wenn sie dorthin zurückkehren, einem neuen Gesicht zu begegnen. Doch Guillaume bildete auch hier eine Ausnahme. »Ich habe Ihren Herrn Vater in der Kammer sehr gut gekannt«, sagte Pesquel-Duport zu ihm. Er war und blieb nun einmal das Hätschelkind. Nur, daß ihn jetzt noch mehr Leute verwöhnten. Er hatte Clémence gesagt, er habe Schmerzen am Knie von einem Splitter jener Granate, die den Oberschenkel des Generals d’Ancourt zerschmettert hatte. Dieser Splitter wurde zu einer wahren Heldentat. Sein Heroismus reihte ihn unter die Männer ein, und seine Bilderbogengeschichte schloß ihm alle Herzen auf, Denn nicht aus List, sondern aus Eigenliebe hatte er niemals etwas von der Überraschung verlauten lassen, die ihm die ersten Fahrten an die Front verursacht hatten. Im übrigen gehörte der Bericht über Reims in das Repertoire der Prinzessin. Den überließ er ihr. Die Wahrheit bereitete ihm das Unbehagen der Lüge. Reims interessierte ihn nicht, störte ihn eher. Guillaumes dankbarstes Publikum war die Tochter der Prinzessin, Henriette. Wir sagten bereits, daß sie zu der
Rasse der Zuschauer gehörte. Bisher war ihre Mutter der einzige Darsteller gewesen, dessen Spiel sie mit atemloser Spannung verfolgte. Nun war ein zweiter Spieler hinzugekommen. Aufgewachsen ohne jeden Aberglauben an Kasten, Titel, Reichtümer, hatte Henriette ihre Mutter die Menschen stets an ihren Verdiensten beurteilen und die Künstler auf die gleiche Stufe mit den Fürsten stellen sehen. Aber sie war sehr jung, ging wenig aus und hatte selten Gelegenheit, außergewöhnlichen Männern zu begegnen. Dank des Krieges, der wie ein Eisenbahnunglück die seltsamsten Begegnungen begünstigt, lernte sie nicht nur einen jener außergewöhnlichen Männer kennen, sondern er stand sogar in ihrem Alter, und sie lebten Seite an Seite. Überflüssig, zu schildern, mit welcher Hingerissenheit dieses arglose Gemüt den Berichten lauschte, bei denen die Alten zerflossen. Sie liebte Guillaume. In ihren Gedanken brachte sie ihn immer mit ihrer Mutter zusammen, und da ihre Mutter ihn wie einen Sohn behandelte, erblickte sie darin nichts Schuldhaes. Die Prinzessin sah durch die Wände, sie las nicht, was an ihrer Oberfläche stand. So entging ihr dieser wunderbare Vorgang: eine Rose, die sich entfaltet. Und Guillaume merkte noch weniger. Aber die Jugend hat ihre ansteckenden Krankheiten. Der falsche de Fontenoy war ohne Falsch. Sein unberührtes Herz verstand sehr wohl, was seinem kindlichen Geist, der so tief nicht reichte, entging. Guillaume erlernte das Leben mit einem wahren Heißhunger, seit er den Fuß in den Hof des Krankenhauses gesetzt hatte. Mit diesem Augenblick hatte ein neues Dasein
für ihn begonnen. Ohne sich sein Glück im mindesten zuzurechnen, bereicherte, entwickelte, vervollkommnete er sich. Jeder trägt auf der linken Schulter einen Affen, und auf der rechten einen Papagei. Ohne daß Guillaume etwas dazu tat, wiederholte sein Papagei die Sprache einer Welt der Bevorrechteten, und sein Affe ahmte ihre Gebärden nach. So lief er nicht wie die exzentrischen Leute Gefahr, daß die Gesellscha ihn heute annahm, um ihn morgen wieder fallen zu lassen. Er höhlte sich seinen Platz aus, und da sein Name ihn beglaubigte, schien er dort seit je aufgewachsen zu sein. Nur einer der intimen Freunde der Prinzessin sah Guillaume mit scheelen Blicken. Nämlich der Direktor. Er war seit fünf Jahren wie ein Narr in die Prinzessin verliebt. Das Genie dieses Journalisten bestand in nichts anderem als in einer zähen Geduld. Er hatte den Jour besitzen wollen; er besaß ihn. Er hatte reich werden wollen; er war es. Er wollte diese noch jugendliche Witwe heiraten, deren blendende Einsichten in der Gesellscha verdunkelt blieben, doch seinem Werke förderlich sein und in der Welt des Geistes funkeln würden. Pesquel-Duport glaubte an die Welt des Geistes. Er stammte aus der Epoche der Salons. Er wollte selber einen besitzen. Er hatte noch nicht bemerkt, daß die offizielle Prominenz nur aus den Komödianten und Hanswursten der Kunst besteht, und daß ihre Handwerker im verborgenen bleiben. Sein Traum war eine Tafel mit reichem Blumenschmuck, mit blinkendem Kristall; an ihr die elegantesten Frauen, die berühmtesten Männer, und mitten unter ihnen Clémence, ihm gegenüber. Die Prinzessin pflegte, wenn er sie bestürmte, zu erwi-
dem: »Mein lieber Direktor, warten Sie noch etwas. Warten wir noch etwas. Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß ich das für Sie empfände, was man Liebe nennt. Übrigens weder für Sie noch für einen ändern. Aber von allen meinen Freunden sind Sie gewiß derjenige, der mir am wenigsten mißfällt.« Sie war aufrichtig. Sie fand sein Gesicht nicht häßlich. Pesquel-Duport war dreiundfünfzig und hatte schlohweißes Haar. Er hielt sich für eine ungewöhnliche Begabung. Er war es in der Welt des Kampfes, aber er war einfältig im Hinblick auf jedes tiefere Verständnis, das an den leitenden Stellen so selten ist, weil es einen hindert, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, Ein wirklich tiefer Mensch versenkt sich, er steigt nicht. Lange nach seinem Tode entdeckt man mit einem Male die ganze Länge seiner versunkenen Säule, oder auch, nach und nach, deren einzelne Stücke. Während diese großen mittelmäßigen Intelligenzen voll Scharlick und Ironie ungehindert bis zu dem niedrigen Gesims der Macht aufsteigen. Doch eben die Naivität dieses Ehrgeizigen gefiel Clémence. Denn wenn sie auch kein tiefer Geist war, so besaß sie zumindest wie gewisse Insekten einen Rüssel, mit dem sie ohne Methode, doch sehr tief in das Innere der Dinge hinabreichte. So gab diese Phantastin die Wahrsprüche des Tiresias von sich. Pesquel-Duport stellte diese Fähigkeit an ihr fest, ohne sie zu begreifen, und fuhr sehr gut, wenn er ihre Ratschläge befolgte. Was er aber begriff, was sein Scharlick ihm zu erfassen erlaubte, war die Tatsache, daß die sehr intelligenten Frauen in der Regel einen männlichen Verstand besit-
zen, der sie aus dem Lot bringt und das Gleichgewicht ihrer Persönlichkeit stört, während die Prinzessin echt weiblich blieb und ihre Fähigkeiten nur dem eigenen Geschlecht verdankte. Sie erschien ihm nackt und ursprünglich, eine Eva, die den Apfel, nach dem es sie gelüstet, verschmaust und das fertig eingerichtete Heim des Paradieses nicht ungern verläßt. Pesquel-Duport wußte, daß der Lebenswandel der Prinzessin über jeden Vorwurf erhaben war. Diese Gewißheit hinderte ihn jedoch nicht, eifersüchtig zu sein. Der Gedanke an das Verhältnis zwischen Cherubin und der Gräfin, Jean-Jacques Rousseau und Madame de Warens, Fabrice del Dongo und der Sanseverina verdarb ihm die Beziehungen zwischen Clémence und Guillaume. Er glaubte, Guillaume sei in seine Beschützerin verliebt und die Beschützerin fühle sich durch diese Verehrung geschmeichelt. Und hierin täuschte ihn sein Scharlick. Guillaume, den Madame de Bormes erweckt und aus dem Puppenstand der Kindheit gelöst hatte, widmete alle Schätze seines Inneren ihrer Tochter Henriette. Die Prinzessin machte ihn immer etwas schwindelig. In Henriette fand er sie wieder, doch ihm erreichbarer. Von Zeit zu Zeit stieg dieser wunderbare Schauspieler in das Dunkel des Zuschauerraumes hinab, um sich dort neben Henriette niederzulassen und ihrer Mutter zu applaudieren. Und so glich Henriette ein wenig jenen Gattinnen, die nach der Aufführung die Zärtlichkeitsbeweise empfangen, welche eigentlich der Prima-Ballerina gelten. Guillaume schmückte dieses junge Mädchen mit den Reizen der Prinzessin, und da es ein reizendes Geschöpf war, kostete ihn dies keine Mühe.
Die Prinzessin de Bormes erneuerte und öffnete ihre Räume wieder, die des Krieges wegen unbenutzt geblieben waren. Sie war außerstande, ihre Vergnügungen zu dosieren. Das der Hausfrau beeinträchtigte die des Heroismus. Sie begleitete die Kolonne nicht mehr regelmäßig und begnügte sich, ihren Wagen zur Verfügung zu stellen. Sie pinselte, scheuerte, firnißte und kaue ein. Wenn er nicht unterwegs war, aß Guillaume fast allabendlich in der Avenue Montaigne. Die Fahrten an die Front wurden nun immer schwieriger. Allmählich entstanden überall regelrechte Dienststellen, und man macht sich in Frankreich niemals verdächtiger, als wenn man nirgends registriert ist. Auf dem Troisième Bureau kam es vor, daß man die wenigen Offiziere, die unter den schrecklichsten Gefahren aus der Gefangenscha entflohen waren, sehr ungnädig empfing. Sie standen in keiner Liste mehr. Diese Gespensterkolonne erregte überall Ärgernis. Doch da sie keine Kosten verursachte, wollte man sie nicht ohne weiteres ausschalten und begnügte sich damit, ihr Knüppel zwischen die Räder zu werfen. Guillaume fuhr fort, diese Knüppel zu beseitigen. Das Krankenhaus klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsanker. Man beobachtete die verschiedenen Stadien der langsamen Agonie des Generals d’ Ancourt. Man fürchtete ein Ende, das zweifelsohne die Rückkehr seines PseudoSekretärs zur Truppe zur Folge haben würde. Eines Abends ließ Guillaume, dem die Stadtkommandantur nunmehr die Parole anvertraute, auf sich warten. Guillaume hatte Punsch auf Punsch mit den Radlern der Invalides getrunken. Er war betrunken. Er grölte aus vol-
lern Halse jenes Wort, das Frankreich an seinem Busen birgt und eher zu sterben bereit ist, als es sich entreißen zu lassen. Ein gutmütiger alter Sanitäter, der Graf d’ Oronge, packte in seiner Empörung Guillaume beim Kragen und schüttelte ihn. Guillaume wehrte sich und nannte den Alten einen Trottel. Der ganze Hof lief zusammen und niemand wagte, dem Neffen des Generals unrecht zu geben. Endlich, nachdem der Graf, bleich vor Wut, den Trunkenen zu Boden geschleudert hatte, erhob sich Guillaume, ballte die Faust gegen Verne und verließ den Hof mit der lauten Drohung, daß man noch von ihm hören werde. Man versuchte, den Grafen zu beruhigen; doch dieser stieß nur immer wieder mechanisch hervor: »So ein Bengel! So ein Bengel!« Und in der Verwirrung hatte niemand das unheilvolle Wort behalten, so daß die Kolonne nicht aurechen konnte. Nach acht Uhr rief der Doktor bei der Prinzessin an. Sie erwarte Guillaume zum Abendessen; er sei noch nicht eingetroffen. Dieser Anruf brachte die Prinzessin und Henriette völlig aus dem Häuschen. Sie glaubten Guillaume in der Rue Jacob und sahen ihn im Geiste schon unter einem Autobus. Um neun Uhr riefen sie Verne an. Er ließ über den Vorfall im Hof kein Wort verlauten und begnügte sich mit der Mitteilung, daß Guillaume gekommen und wieder davongegangen sei. Pesquel-Duport, der mit zu Tisch saß, machte sich ein wenig über ihre Aufregung lustig, und als er dann mit Clémence allein geblieben war, machte er ihr Vorwürfe, daß sie eines Schulbuben wegen so aus der Fassung gerate.
Wer war er denn überhaupt? Woher kam er? Aus welchen Kreisen? »Wie?«, rief sie, »Sie wissen doch, welchen Namen er trägt!« »Wer beweist Ihnen, daß er ihn trägt?« entgegnete der Direktor, Sehr verdutzt über diesen Einwand, mußte Madame de Bormes sich zum erstenmal gestehen, daß sie keinerlei Ausküne über Guillaume besaß. Doch abgesehen davon, daß sein Erfolg jeden Ausweis ersetzte, wollte sie sich auch nicht auf einem Fehler ertappen lassen. »Ich weiß über ihn«, sagte sie, »was ich wissen muß.« Und indem sie eine Besorgnis, die sie überfiel, aus dem Stegreif in ein Werkzeug ihrer Rechtfertigung verwandelte, fügte sie hinzu: »Glauben Sie denn, daß ich jeden Beliebigen mit Henriette zusammen ließe?« Während dieses Gespräch in der Avenue Montaigne stattfand, beging Guillaume, der blau wie eine Strandhaubitze war, gewiß eine der unbegreiflichsten Handlungen seiner Lauahn. Da der Alkohol den letzten Deckel der Wirklichkeit lüftete, lief er zu seiner Tante, um sich bei ihr zu beschweren. Die arme Betschwester begriff nichts von allem, was er ihr vorjammerte. Sie brachte nur so viel heraus, daß man ihn quälte, daß man seine Unteroffizierstressen in einem Zivilkrankenhaus beleidigte und daß Guillaume sie anflehte, sie solle befehlen, daß man ihm die gebührende Achtung entgegenbringe. Sie hielt die Tränen seiner Trunkenheit für Tränen der Scham, brachte die Artillerieschule, die Verbindungsstelle und das Krankenhaus durcheinander. Kurz, angesichts einer solchen Verzweiflung versprach sie, sich in die Rue
Jacob zu begeben und mit Verne zu reden. Guillaume schloß sich in seinem Zimmer ein, warf sich unausgekleidet aufs Bett und versank in einen totenähnlichen Schlaf. Am ändern Morgen schlief er noch, als seine Tante schon nach der Rue Jacob hinab unterwegs war. Sie saß noch keine halbe Stunde in der kleinen Portiersloge des Doktors, als Verne die wahre Katastrophe begriffen hatte: daß Guillaume omas ein bloßer omas ohne von und zu war und eben sein sechzehntes Lebensjahr vollendet hatte. Sein Ehrenkreuz rotierte vor seinen Augen wie ein Feuerwerkskörper. Als sie den Doktor in einem fort von ihrer Familie reden hörte, von den Fontenoy, dem General de Fontenoy, dem Neffen des Generals de Fontenoy, hatte die arme Alte ausgerufen: »Da liegt ein Irrtum vor. Da ist kein wahres Wort dran. Guillaume ist aus Fontenoy gebürtig, das ist alles. Das ist gar nicht sein Name. Wie hat er das nur behaupten können. Oh! Oh!« Worauf sie in Ohnmacht sank. Verne machte einen raschen Überschlag. Er sammelte seine Streitkräe. Wichtig war vor allem, daß Guillaume der blieb, der er war, oder vielmehr, der er nicht war. Verne hielt die alte Jungfer bei den Händen und übergoß sie mit Strömen von Flüssigkeit, Es fehlte nicht viel, daß er wie ein Hypnotiseur ausgerufen hätte: »Sie sind eine Fontenoy, ich will es.« Sie kam wieder zu sich. »Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!« sagte Verne zu ihr. »Trinken Sie einen Schluck Wasser. So, so. Das ist alles halb so schlimm. Zürnen Sie ihm nicht. Er trägt einen viel zu schönen Namen, als daß man ihm zürnen könnte.« Und wie die alte Jungfer sich verwahrte: »Ta ta ta«,
sagte der Doktor ... »Ich will nichts hören. Ich weiß, ich weiß schon. Sie sind allzu bescheiden.« Dieses ungeheuerliche Wort gab ihr den Rest. Der Doktor durchbohrte sie mit seinem starren Blick und schob sie zur Türe. »Und vor allem«, sagte er, fast in ihr Ohr hinein, »erwähnen Sie unsere Unterredung Ihrem Neffen gegenüber mit keiner Silbe. Dinge von höchster Wichtigkeit hängen davon ab. Schwören Sie es. Schwören Sie es auf Ihr Meßbuch!« rief er und griff nach dem schwarzen Band, der aus ihrem Ridikül hervorsah. Die Unglückliche leistete den verlangten Schwur. Sie glaubte, einen Verrückten vor sich zu haben. Sie täuschte sich kaum. Der Doktor war wie verrückt vor Unruhe. Er begleitete sie bis unter die Torausfahrt, aus Furcht, es könnte ihr noch jemand in den Weg laufen. Er hatte recht vermutet. Sie begegneten der Prinzessin, die eben eintrat. Verne sah der alten Jungfer nach, bis sie um die Straßenecke verschwunden war. Madame de Bormes erwartete ihn im Hof. »Nein, so was!« rief er aus, »wie kann man nur so unachtsam sein! Sie kennen diese vortreffliche Person nicht?« Und als die Prinzessin ihn fragend anblickte: »Das war Guillaumes Tante, Fräulein de Fontenoy.« Kein Ausspruch hätte der Prinzessin willkommener sein können. Sie gratulierte sich zu den Antworten, mit denen sie die Verdächtigungen des Direktors abgewiesen hatte. Die Journalisten, dachte sie, leben eben von unbewiesenen Skandalgeschichten.
Als omas bei seiner Tante erwachte, schmerzte ihn der Schädel, und er hatte jede Erinnerung an seine gestrigen Streiche verloren. Er entsann sich nur noch, daß er Punsch getrunken und daß die Müdigkeit ihn verhindert hatte, sich auszuziehen. Er machte seine Morgentoilette, stieg die Butte Montmartre hinunter und begab sich in das Krankenhaus. Die Prinzessin saß in Vernes Klause. Er hatte ihr gerade den Auritt mit der Parole berichtet, wobei er die Szene ein wenig verharmloste. »Guillaume ist etwas lebha ... Monsieur d’ Oronge ist etwas taub. Guillaume hatte mir seine Tante hergeschickt, um mich zum Zweikampf zu fordern.« Er lachte. Er versuchte, ein onkelhaes Wohlwollen auf sein großes Haifischgesicht zu zaubern. »Guillaume! Da ist er ja! Guillaume!« Madame de Bormes stieß einen Schrei aus. Man sah ihn hinter der Glastüre, zwischen den Fahrzeugen. »Er trete ein«, rief der Doktor, während er diese Tür öffnete, »er trete ein, unser verlorener Sohn.« Seine Seele war zwischen Haß und Respekt geteilt. Er haßte Guillaume, weil dieser ihn hereingelegt hatte, aber die Kühnheit des Handstreichs imponierte ihm. Mochte Guillaume zusehen, wie er mit beidem zurechtkam. Er hatte den Gauner in der Hand und konnte ihn benutzen, ohne sich irgendwelchen Gefahren auszusetzen. Die Prinzessin würde ihn immer decken. Dieser Mann, dem ein Adelstitel den Kopf verdrehte, glaubte, es sei kleinlich, mit einer Prinzessin de Bormes wegen eines Titels zu streiten, und ihre Macht über die Gesellscha sei so groß, daß sie eine Poularde »Karpfen« und einen omas »Fontenoy« taufen könne, wenn sie jemals bloßgestellt würde. Unfähig, die Hieroglyphe einer solchen Frau zu entziffern, legte er ihr das Schlimmste zur
Last und zögerte keinen Augenblick, sie für die Geliebte des jungen Schwindlers zu halten. Die Prinzessin schalt Guillaume, daß er sie gestern so im Stich gelassen hatte. Er berichtete von dem Punsch. Als der Name des Herrn d’ Oronge fiel, sprang ihm mit einem Satz alles wieder ins Gedächtnis. »Sie sind schuld«, sagte Verne, »daß die Kolonne nicht aurechen konnte und daß die Verwundeten warten müssen. Die Fahrzeuge hätten um Mitternacht abfahren sollen. Sie stehen noch im Hof. Übrigens«, fügte er wie beiläufig hinzu, »Ihre Tante hat mir einen Besuch abgestattet. Eine sehr fromme Dame, wie der General.« Wobei er Guillaume heimlich beobachtete. Guillaume fand diese Bemerkung ganz natürlich. Donnerwetter! dachte Verne, so ein Frechdachs! Der hat’s faustdick hinter den Ohren. Der wird es weit bringen, wenn man ihn nicht vorher anhält. Sorgen wir dafür, daß man ihn erst anhält, wenn es zu spät ist. Clémence fragte: »Wie kommt es nur, daß ich Ihre Tante nicht kenne?« »Das ist eine Heilige«, antwortete Guillaume, »sie verläßt das Haus nie, außer um nach Sacré-Coeur zu gehen. Heute früh ist sie gewiß gekommen, weil sie die Kirche des Heiligen Franz Xaverius besuchen wollte, dem sie öers eine Kerze weiht.« Der Doktor wiegte sein Haupt, spendete ihm heimlich Beifall, wie ein Angeklagter vor Gericht einem Spießgesellen, der sich auf keinem Widerspruch ertappen läßt. Sein Plan war gefaßt. Ihn sollte man nicht länger bestehlen. Er würde mit Guillaume halbpart machen. Doch wie es Leute gibt, denen man glaubt, und andere, an denen man zweifelt, so gibt es auch Leute, die gewinnen, und andere, die verlieren. Der Doktor verlor.
Für Guillaume sind die Krankenkolonne, das Lazarett, Verne, Madame Valiche, der Dentist, die Frau des Radiographen nur eine leere Schachtel. Bleibt der Inhalt: die Prinzessin und Henriette. Es hätte heißen müssen: Henriette und die Prinzessin, denn Guillaume langweilte sich seit einiger Zeit, was gewöhnlich das erste Anzeichen der Liebe ist, die, ehe sie selbst in ihrem vollem Glanz erscheint, zuerst einmal behutsam alles andere häßlich, inhaltsleer und farblos macht. Guillaume magerte ab; das körperliche Wachstum blieb zurück; es war zu viel auf einmal: seine Rolle, seine Wahrheit, das Unbehagen einer normalen Entfaltung unter Schichten von Lüge. Guillaumes Gewohnheit, sich keine Rechenscha über sich selbst zu geben und wie ein Schlafwandler zu handeln, hielt seinen Blick gefangen. Weil er immer alles im Zwielicht beließ, häuen sich die Finsternisse in ihm. Statt sich zu sagen, daß er Henriette liebe – was nicht zu seinem Spiel gehörte –, hing er wie verzaubert an diesem Spiel und schob sein Unbehagen auf die Untätigkeit, den Mangel an Abenteuern. Der General d’ Ancourt starb. Guillaume ergriff diese Gelegenheit beim Schöpf, um aus dem Krankenhaus zu verschwinden. Verne platzte fast vor Wut. Aber was sollte er machen? Ohne den beiden Frauen etwas zu sagen, ging Guillaume hin und suchte Pesquel-Duport auf der Redaktion auf. Er gab vor, der Tod des Generals befreie ihn von seinem Dienst, seines Beines und seines Nervenzustandes wegen sei er seinerzeit zurückgestellt worden; daß er dem General folgen dure, habe er nur seinem Onkel zu verdanken, und nun weigere man sich, ihn wieder zu nehmen, weil man seinem Onkel, den schon so schwere Verluste getroffen hat-
ten, einen Gefallen damit zu tun glaubte. Er halte es im Hinterland nicht aus, und er beschwor den Direktor, ihn in eine der Kantinen zu schicken, die die Zeitung an der Front unterhielt. Es sei jedoch überflüssig, die Avenue Montaigne von diesem seinem Schritt zu unterrichten. Er werde vorgeben, einen Befehl erhalten zu haben. Pesquel-Duport wäre ihm beinahe um den Hals gefallen. Nichts kam ihm gelegener als Guillaumes Entfernung. Er verbarg diese Genugtuung, äußerte vielmehr sein Mißfallen über diesen Plan, nicht ohne ihn zugleich wegen seiner Tapferkeit zu loben, und versprach zuletzt, gegen die Zusage eines unverbrüchlichen Schweigens bei Madame de Bormes, ihn in der Kantine von Coxyde an der belgischen Front unterzubringen. Die belgische Front, das bedeutete die Belgier, die Zuaven, die Tirailleure, die Engländer, die Marine-Füsiliere. Ein weites Feld für abenteuerliche Unternehmungen. Guillaume strahlte. Seine gute Laune war von kurzer Dauer. Abermals überfiel ihn eine lähmende Traurigkeit, ohne daß er wußte, warum. Seine Augen standen voll Tränen, und er wagte Henriette und ihrer Mutter nicht ins Gesicht zu schauen. Madame de Bormes glaubte, der Tod seines Vorgesetzten gehe ihm so sehr zu Herzen. Die Liebe machte aus Henriette eine Stradivari, ein Barometer, das auch die leisesten seelischen Schwankungen und Temperaturumschläge registrierte. Sie allein las in seiner Seele wie in einem offenen Buch und entzifferte das, was ihre Mutter für Betrübnis hielt und Guillaume für eine Art Langeweile mit Anfällen von Gewissensbissen. Diese Gewissensbisse galten nicht einem Verstoß, der in seinen Augen keiner mehr war, sondern dem Umstand, daß er den Direktor heimlich gebeten hatte, ihn von den
beiden Frauen zu trennen. Zumindest mußte dieses bequeme Motiv herhalten, um ihm seinen Zustand zu erklären. So hielt er das Haupt gesenkt, als er Madame de Bormes und ihrer Tochter seine neue Verwendung mitteilte. Der Schlag wurde dadurch gemildert, daß es sich um einen bevorzugten Posten handelte (einen Krankenposten, erläuterte Guillaume), der zufällig zu einer Einrichtung gehörte, deren Fäden in den Händen des Direktors zusammenliefen. Aber die verwandte Seele der Prinzessin wußte gleich, daß ein ruhiger Posten für Guillaume nicht lange einer bleiben würde. »Wenn Sie nur keine Dummheiten anstellen«, seufzte sie. »Ich werde den Direktor warnen, damit er die nötigen Anweisungen gibt, daß man Sie überwacht.« Die doch so kurze Abschiedswoche wollte kein Ende nehmen. Guillaume, der sich zu langweilen und dieser Langeweile auf seiner Chimäre zu entrinnen glaubte, knüpe zwischen den Frauen und sich jenes Band der Abwesenheit, das immer stärker wird, je länger es wird und je mehr sich die Perspektive verkehrt: denn wir sehen die, die sich entfernen, ins Maßlose wachsen. Henriette schlief keine Nacht mehr. Sie sagte sich: Er liebt mich. Er glaubt, ich liebte ihn nicht; oder aber: Er scheut sich vor Mama. Er zieht sich zurück und leidet. So buchstabierte sie ohne Beihilfe die Fibel der Liebe. Es bedure der ganzen Unrast der Prinzessin, ihrer Leitern und Töpfe mit Lackfarben, um ihr die roten Augen ihrer Tochter zu verbergen. Kaum war Guillaume, unter Tränen und mit reichlichen Gaben bedacht, abgefahren, als Henriette erkrankte. »Henriette gleicht mir«, sagte Clémence zu Pesquel-
Duport; »bisher besaß sie die unverschämte Ausgeglichenheit ihres Vaters. Seit einiger Zeit aber finde ich sie ebenso übertrieben wie mich. Diese Verwandlung bringt uns einander näher. Guillaumes Abschied hat sie ganz krank gemacht. Das gefällt mir.« Die Liebe dieses jungen Mädchens sprang in die Augen. Sobald Pesquel-Duport dies bemerkte, rechnete er auch sie dem Ballast hinzu, der mit Guillaumes Entfernung abgeworfen wurde. Ach, und Clémence, die blinde Hellseherin, sah nicht, daß ihre Tochter, wie in einem Lied von Heinrich Heine, in ein Gespenst verliebt war.
Die Kantine der Zeitung Le Jour kampierte auf der Straße
zwischen Nieuport-Ort und Coxyde-Ort. Sie verpflegte und stärkte die Truppen, die zur Ablösung kamen. Sie bestand aus einer dampfenden Feldküche, in deren Retorte die neun Freiwilligen reihum schwarzen Kaffee und Punsch brauten, den sie literweise am Rande der Straße ausschenkten. Diese Freiwilligen, dem Dienstrang nach den Leutnants gleichgestellt und von einem wirklichen Leutnant überwacht, hausten in Coxyde-Ort, in einer wahren Räuberhöhle. Alle diese Baracken glichen Räubernestern, vor allem die von Coxyde-Strand, halbzerstörte Sommerwohnungen der belgischen Badegäste längs der Nordsee. Nieuport-Ort, Nieuport-Strand, Coxyde-Strand, CoxydeOrt waren untereinander aus der Vogelschau durch ein verzerrtes Netz von Landstraßen verbunden. Zwischen Coxyde-Strand und Nieuport-Strand waren Dünen. Dann Felder, Bauernhöfe und ein Wald mit dem
Beinamen »Dreieckswäldchen« zwischen Coxyde-Ort und Nieuport-Ort. Das Ganze unbewohnt und insgeheim bevölkert. Die englische und französische Artillerie, die man gemischt hatte, nutzte die Dünen und den Baumbestand aus. Die Zuaven und die Tirailleure hielten die Gräben an der Mündung der Yser besetzt, wo einer ihrer Posten die erste Tasche dieser Höhlenstadt bewachte, deren Windungen sich von einem Ende Frankreichs zum ändern hinzogen. Dann, in der Richtung auf Saint-Georges, überwachten die Marine-Füsiliere ein Gelände, das während der Schlacht an der Yser teuer erkämp worden war. Zuaven und Füsiliere trafen sich außer Dienst in den ehemaligen Hotels und Privatbesitzungen von CoxydeStrand. Die Ruinen der beiden Nieuport boten den Offizieren und den Verbandsstationen der verschiedenen Einheiten keinen anderen Unterschlupf als ihre Keller. Unter diesen entvölkerten Ortschaen, diesen ausgestorbenen Feldern verbarg sich ein unglaubliches Labyrinth von unterirdischen Gängen, Straßen und Galerien. Die Männer wanderten dort wie die Maulwürfe umher, und man konnte, wenn man in Coxyde durch ein Erdloch hinabstieg, aus einem anderen Loch in vorderster Linie herauskommen, ohne zwischendurch den Himmel erblickt zu haben. Der Frontabschnitt war ein ruhiger Abschnitt. In stillschweigender Übereinkun schössen die Unseren nicht auf Ostende, damit der Feind nicht das Schloß La Panne unter Beschuß nahm, wo der König und die Königin im Exil lebten. Das Herrscherpaar wohnte dort mit den königlichen Kindern, die das Ungewöhnliche ihres Aufenthaltes genossen und voller Entzücken über einen reizenden Geflügelhof waren.
Die natürliche Schranke des Flusses und der Überschwemmungen schützte Nieuport vor jeder ernstlichen Überraschung. Nichtsdestoweniger fürchtete der Oberst Jocaste beständig eine nächtliche Landung auf Flößen längs des Strandes. Das war eine gänzlich unbegründete Befürchtung. Aber sie war nun einmal seine Lieblingsvorstellung. Aus diesem Grunde hatte man an der Küste, zwischen Nieuport und der Yser, einen Laufgraben mit Tannenholzverschalung eingerichtet, in dem es wie in einem Schweizer Hotel roch und der auf den Namen des Obersten getau war. Dieser betrachtete seinen Graben mit Recht als ein Weltwunder. Er war allerdings ebenso überflüssig wie die Pyramiden, so schwebend wie die Gärten der Semiramis, so hohl wie der Koloß von Rhodos, so unheimlich wie das Grabmal des Mausolus, so kostspielig wie das Standbild des Zeus, so kalt wie der Tempel der Diana und so weithin sichtbar wie der Leuchtturm von Alexandria. Überall waren Wachtposten aufgestellt, die nach den Möwen schössen. Der Untergrund von Nieuport glich der Station am éâtre du Châtelet. Man hatte die einzelnen Keller untereinander verbunden, und dieser Kanal hieß allgemein nur »Strecke Nord-Süd«. Jeder Ausschlupf trug den Namen einer der Haltestellen der Untergrundbahnlinie, die Paris von Norden nach Süden durchquert. Und es war nicht sein geringster Reiz, daß man bei dem Schilde »Concorde« mitten in den Ruinen eines ehemaligen Kasinos landete. Eine Abzweigung führte zu dem Befehlsstand des Obersten. Dieser war in dem Keller der Villa »Pas sans Peine« untergebracht, von der wie durch ein Wunder nur das Eßzimmer erhalten geblieben war. An stillen Tagen pflegte
der Oberst dort zu Mittag zu speisen, wie eine feiste Ratte in einem Stück Schweizerkäse. Das Meisterwerk des Abschnitts waren jedoch die Dünen. Der Anblick dieser frauenhaen Landscha stimmte einen ganz weich und zärtlich: so glatt, so hingeschmiegt mit Brüsten und Hüen, und dazwischen all die Männer. Denn diese Dünen waren nur dem Anschein nach verödet. In Wirklichkeit waren sie nur Fassaden, Kulissen, Attrappen, nur Lug und Trug. Die falsche Düne des Obersten Quinten etwa war eine echt weibliche List. Der Oberst, ein tapferer Krieger, hatte sie unter einem Hagel von Granaten erbauen lassen, der rings um ihn niederprasselte, während er rauchend in einem Schaukelstuhl lag. Sie verbarg an ihrem Kamm einen Beobachtungsstand, von dem der Beobachter in einem Nu auf einem Toboggan herabflitzen konnte. Kurz, diese Dünen, die auf ihrer Rückseite mit immer neuen künstlichen Einrichtungen versehen wurden, boten den deutschen Fernrohren als Vorderansicht nur einen riesigen Kartentrick, einen schweigenden Hinterhalt. »Wo steht das schwere Geschütz? Wo steht es? Rechts? Links? In der Mitte? Folgen Sie mir genau. Wo steht es? Rechts? Links? Bumm! In der Mitte.« Und das Geschütz unter seiner sandfarbenen Plane mit ihren Höckern wie ein Kamelrücken, auf dem ein wenig bleiches Grashaar sprießt, glitt zurück und entsandte eine Granate so schwer wie ein Geldschrank. Man sah nichts. Man hörte die Hundertfünfundfünfziger, die Fünfundsiebziger, die trockenen Champagner entkorken und deren Geschoß einen Streifen Seidenzeug zerreißt, das englische Geschütz, von dem man niemals begriff, woher es schoß, die Flugzeugabwehrkanonen, welche
die Aeroplane mit kleinen Wattewölkchen umkränzen, gleich den Seraphim, die die Heilige Jungfrau begleiten, die austernfarbene Nordsee, in der ein Wasser schwappte, so kalt, so grau, so sehr nach HONaCl aussehend, daß man ebensowenig Lust hatte, darin zu baden, wie etwa danach, sich lebendig verbrennen oder begraben zu lassen. Nachts schwankten Himmel und Erde im Schein der Leuchtraketen wie ein Zimmer und seine Decke bei einem flackernden Wachslicht. Wenn Nebel herrschte, saugte er die Blitze der Kanonade auf, so daß sie zu einer einzigen blendenden Helle zusammenflössen, die einen ganz verrückt machte. Über dem Meer draußen küßten, suchten und trennten sich und gestikulierten die Scheinwerfer. Manchmal vereinigten sie sich wie Ballerinen, und oben, wo sie sich trafen, sah man die weißen Bäuche der Zeppeline, die nach London flogen. Schlief man in Coxyde? So weckte einen die MarineArtillerie. Dieses Schießen brachte die Erde ins Wanken und warf eine große Winde aus blaßblauem Licht gegen die Fensterscheiben. Sonntags, wenn die Maschinengewehre auf einem einzigen Ton eine Art von Totenschädelgelächter durch den Himmel trillerten und die singenden Motoren ihr Surren plötzlich von Blaßblau zu Samtschwarz dämpen, sah man die Offiziere der Royal Navy beim Tennis. Dieser ungeheuren Lüge aus Sand und Laub fehlte nur noch Guillaume de Fontenoy. Eines Abends traf er ein. Ein side-car brachte ihn von Dünkirchen. Der Empfang der Kantine war eisig. Das kam daher, daß Pesquel-Duport, um Guillaume unterzubringen, den Spaßvogel und Anführer der Gruppe zum Frontdienst
freigegeben hatte. Guillaume nahm also einen noch warmen Platz in Besitz: einen warmen Platz, der so kalt war, daß ihm das Herz gefror. Er hatte Kameraden zu finden geho. Er fand Todfeinde. Diese albernen Burschen, die für Guillaumes übernatürlichen Zauber unempfänglich waren, verdächtigten ihn der Mitschuld an einem Verbrechen, von dem er nichts ahnte, und erklärten ihn in Verschiß. Da sie die höheren Dienstgrade fürchteten und auf Auszeichnungen erpicht waren, hätte höchstens der Name des Generals eine Wirkung tun können. Doch ein Frontabschnitt ist eine Provinzstadt, wo der Apotheker mehr gilt als Charcot. Der Abschnitt unterstand nicht dem Befehl von Fontenoy. Die lächerlichen Schwatzbasen hatten bald heraus, daß Guillaume voller Begeisterung steckte. Das war der Gipfel. Jeder dieser Freiwilligen war so wenig freiwillig wie nur möglich. Nichts Edles, Frohes, Lauteres verband sie. Sie empfanden Guillaumes Eifer als eine Beleidigung. Der will sich wohl über uns lustig machen, dachten sie. Und aus Rache schickten sie ihn als Melder zu den Zuaven, die in einer Gegend lagen, wo es schon gefährlich war. Guillaume verlangte nichts Besseres. Voller Entzücken streie er in diesem Gehege aus dröhnendem Feuer umher. So geschah es, daß er die Bekanntscha des Obersten Jocaste machte. Als der Oberst den Namen de Fontenoy las, geriet er ganz aus dem Häuschen. Er schleppte Guillaume in sein Erdloch, und da es eben fünf Uhr war, bat er ihn, doch eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Der Telefonist spielte die Rolle der Haustochter. Auf eine Ecke des Tisches stellte er zwei Tassen, eine Teekanne und eine Keksdose. Unter dem Vorwand, daß es verboten war, die Villen zu plündern, und da doch jedes Gerät daher stammte,
behauptete man immer, alles in der Kirche gefunden zu haben. »Diese Tassen stammen aus der Kirche«, sagte der Oberst mit einem Zwinkern. Der Oberst bestürmte Guillaume mit Fragen über seinen Onkel. Dieser General war sein Abgott. Unter dem Reden rollte er ein Paar Wickelgamaschen um seine dicken Waden und ächzte dabei jedesmal so sehr, als ob er sich einen Verband anlegte. Er teilte Guillaume seine Befürchtungen hinsichtlich der Flöße mit und entwarf ihm seinen Verteidigungsplan. Auch auf Gigase war er gefaßt, obwohl sie an dieser Stelle bei dem ständig umspringenden Wind kaum zu verwenden waren. Er war sehr stolz auf sein Eßzimmer mit Spitzenvorhängen. »Das ist meine Art«, sagte er zu Guillaume, »immer standesgemäß, wenn es sich einrichten läßt. Da bin ich ganz versessen drauf. Darum habe ich natürlich auch, doch das ganz unter uns, eine Mätresse, eine Frau aus den besten Kreisen. Und wenn wir zusammen dinieren, wir beide allein oder in Gegenwart ihres Gatten: sie immer im großen Abendkleid und die Herren im Smoking.« Sein viertes Steckenpferd war ein Fünfundsiebziger, der in vorderster Linie, in einer Entfernung von siebenundzwanzig Metern vor dem feindlichen Horchposten, zusammengesetzt worden war, Bolzen um Bolzen wie die Schiffe in den Flaschen. »Die werden Augen machen«, sagte er, »wenn sie uns angreifen wollen. Ein Fünfundsiebziger in vorderster Linie!« Er lachte, klatschte sich auf die Schenkel. Plötzlich öffnete sich die Tür und der kommandierende General des Abschnitts erschien. In Begleitung zweier Hauptleute, die von Lederzeug
und Ordensbändern nur so strotzten, war er auf Inspektion unterwegs, auf einer Art Überraschungsparty, die für diejenigen, die seinen Besuch empfingen, wenig angenehm war. Der Oberst sprang auf und stieß, als er sich verbeugte, die Keksdose vom Tisch. Aus weltmännischer Gewohnheit stürzte der General vor, um das Gebäck aufzulesen, und prallte mit seinem Helm gegen den Schädel des Obersten, der in entgegengesetzter Richtung vorgestürzt war. »Habe ich Ihnen weh getan?« fragte er. Er hatte sehr weh getan. Der Oberst erwiderte, es habe nichts zu bedeuten. Guillaume, in einem Winkel des Kellers, verschlang diesen seltsamen Auritt mit staunenden Augen. Nachdem der arme Oberst sich ein wenig von dem physischen und moralischen Schock erholt hatte, beschrieb er seine Wunderwerke. Er war eben bei seinem Fünfundsiebziger in der Hütte, und der General, der augenscheinlich die Tarnung durch die Dünen vergaß, fragte, ob diese Hütte eine Laubhütte sei, als ein Kanonier erschien. Der Oberst winkte ihn fort, aber der General wehrte ab: er wolle um keinen Preis, versicherte er, den normalen Dienst des Abschnitts stören. »Nun, was gibt’s?« fragte der Oberst. Es handelte sich um den Fünfundsiebziger. Nach endlosen Vorreden erklärte der Mann, die Maße stimmten nicht, die Hütte sei zu knapp, die Lafette sei sichtbar, und es bestünden die besten Aussichten, daß der Feind ein rechtes »Tamtam« von Vergeltungsmaßnahmen veranstalten würde. »Vergeltungsmaßnahmen! Vergeltungsmaßnahmen!« polterte der Oberst los, wütend darüber, daß er in den Augen des Generals lächerlich erschien. »Das wollen wir
einmal sehen. Denen werd ich zeigen, was Vergeltungsmaßnahmen sind!« »Befehlen Sie«, brüllte er in ein Sprachrohr hinein, »hundert Schuß aus dem Fünfundsiebziger auf die Villa Vromberg.« »Vromberg?« erkundigte sich der General. »Parbleu«, sagte er, zu den Hauptleuten gewandt, »das war die Villa der Frau von Vromberg. Eine reizende Dame. Die arme Frau von Vromberg!« »Sie kennen die Dame, Herr General«, rief der Oberst, der völlig den Kopf verlor. Und er schnappte nach dem Sprachrohr: »Befehl zurück, schießen Sie nicht«, rief er, »Be-fehl-zu-rück, schie-ßen-Sie-nicht!« Der General sah, in welchen Zustand sein Besuch den Ärmsten versetzte. »Zum Teufel«, bemerkte er, »Sie sind allzu galant, Herr Oberst, daß Sie auch noch die Trümmer verschonen. Ich gehe jetzt. Mir scheint, alles steht vortrefflich. Bleiben Sie. Lassen Sie sich nicht stören. Sparen Sie sich die Mühe. Ich finde den Weg schon alleine.« Der Oberst fand sich wieder allein mit Guillaume. Der Schweiß troff ihm in Strömen herunter. Er rieb sich eine Beule, die der Helm verursacht hatte. Er fragte, ob er sich auch auf der Höhe der Situation gezeigt habe. »Da ist freilich die Sache mit dem Fünfundsiebziger«, wiederholte er. »Aber mein Laufgraben macht alles wieder wett.« Dann tranken sie Tee. Bürokraten, nichts als Bürokraten, dachte Guillaume. Er suchte einen Durchschlupf. Sein Ziel war jene bedrohliche Stelle, wo man nachts ein Knattern wie von einem Feuerwerk hörte, jenes flinke, ungleichmäßige Schießen, das den
Ticks eines Schläfers gleicht, der im Traum zu wandern glaubt. Am übernächsten Tag gab der Oberst ihm einen Führer mit, um die vordersten Stellungen zu besuchen. Sie brachen um elf Uhr auf, bei Mondschein. Statt die Laufgräben zu benutzen, auf die der Oberst so stolz war, mißachtete man seine Anordnungen und nahm die Anhöhe über die ehemalige Hauptstraße von Nieuport. Von Sperre zu Sperre bewegte man sich zwischen den Dominos einiger Mauerreste und des Mondscheins. Der Mond übertrieb diese jungen Ruinen, und rechts vom Strand sah man zwei oder drei chloroformierte Baume, die im Stehen schliefen. Eine Brücke aus Balken, Bohlen, Planken, Knüppeln, Fässern, die gegeneinander polterten, führte über die Ysermündung. In dichten Massen wogte das graue Wasser tragisch in die Nordsee, wie eine Hammelherde in das Schlachthaus drängt. Nachts begann dieses Wasser zu phosphoreszieren. Warf man eine Patronenhülse hinein, so versank sie hellerleuchtet wie die Titanic. Fiel ein Geschoß hinein, so entzündete sein Sturz am Grunde des Wassers einen ganzen Boulevard voll schimmernder Auslagen. Auf dem anderen Ufer begannen die Schützengräben. Guillaume berührte den ersten jener Sandsäcke, die die Höhlenstadt schützen, und in welche die Kugeln mit dem gleichen Geräusch hineinfahren wie die Hummel in eine Blüte. Das Labyrinth der Schützengräben nahm kein Ende. Guillaume folgte seinem schweigsamen Führer, der, in Fäustlinge, in Schaffelle, in dicke Schals vermummt, seine Pfeife vor sich hinpae. Man hörte die Brandung bald hinter, bald vor sich, jetzt zur Linken, dann zur Rechten. Man
drehte und wendete sich, ohne es zu merken, und wußte niemals, wo man das Meer hintun sollte. Manchmal ging einem das Wasser bis ans Knie. Dieses Venedig, dieses Algier, dieses Neapel wie aus einem Traum schien ebenso leer wie die Dünen, denn in tausend Kellern schliefen die Zuaven, dicht gedrängt wie Weinflaschen. Man zerbrach sie an den Tagen der großen Gelage. An zwei Punkten dieser Front kamen sich die Mäander der deutschen und französischen Stellungen so nahe, daß sie sich fast berührten. Einmal in der Nähe von Saint Georges, bei dem »Grünen Bühl«, das andere Mal in der Nähe des Strandes. Hier hatte man auf beiden Seiten Horchlöcher ausgehoben. Guillaume schlüpe in die Sappe. Hier mußte man auf dem Bauch kriechen. Diese Sappe mündete in eine Grube, in der zwei Mann Platz hatten. Tagsüber spielten sie Karten. Der Feind lag in einer ähnlichen Grube, zwölf Meter entfernt. Jedesmal, wenn einer der Zuaven nießen mußte, rief eine deutsche Stimme: »Gesundheit!« Die Mauer der vordersten Linie entlang, auf einer Art Damm, Gesims oder Sockel, waren in Abständen die Beobachter verteilt. Zum Bau dieser Mauer hatte man, wie für die übrige Stadt, alles mögliche verwendet. Man merkte gleich, daß sie, außer den Sandsäcken, aus Spiegelschränken, Kommoden, Sesseln, Klavierdeckeln, aus Langeweile, Trübsinn und Schweigen bestand. Dieses Schweigen, das die Schüsse und die Brandung noch verstärkten, glich dem Schweigen der Glaskugeln, in denen es schneit. Man wanderte dort, wie man im Traume fliegt. Als Guillaume mit seinem Gummistiefel ausrutschte,
plätscherte das Wasser. Einer der Beobachter wandte sich um. Es war ein algerischer Reiter. Er legte den Finger auf die Lippen. Dann erstarrte er wieder zur Statue. Denn dieser Araber in einem Burnus aus Zeitungspapier und Bindfaden stand regungsloser als der tote Antar auf seinem Leibroß. Guillaume betrachtete zwischen den Säkken diese vom Mondschein bemehlte Gestalt, die einem eifersüchtigen Müller glich, der drohend, mit dem Gewehr im Anschlag, in einem Dachfenster seiner Mühle auf der Lauer liegt. Bei diesen Beobachtern konzentrierte sich alles Leben im Gesicht. Wenn sie ihre Gewehre luden, kamen und gingen ihre Hände wie Diener. So hatte Frankreich am Saume seines Mantels einen erstaunlichen Hermelin aus spähenden Gesichtern. Was Guillaume aber vor allem anzog, war der flammende Streifen des Zwischenlandes, wo das Drahtgestrüpp wuchert. Niemand setzt je einen Fuß dorthin, außer bei einem Angriff oder auf nächtlicher Patrouille. Um einem dieser Spähtrupps anzugehören, hätte Guillaume wer weiß was getan. So aber mußte er umkehren. Er war nur ein Tourist. Er verließ das eater und fand sich auf der Straße wieder, ohne an dem geheimnisvollen Leben der Schauspieler teilzuhaben. Er verging vor Ungeduld. Jede Woche lastete ihm auf den Schultern. Seine einzige Freude waren die Briefe und Gaben, die Henriette und ihre Mutter schickten. Seine leeren Tage ließen seine Gedanken zu den beiden Frauen zurückkehren. Wie die Weitsichtigen, die nur auf größeren Abstand lesen können, entzifferte Guillaume allmählich seine Gefühle für Henriette. Sie war fern, unwirk-
lich, ein Phantom. So konnte sie Eingang in sein Traumspiel finden. Er spielte diesen Akt wunderbar. Er seufzte, schmachtete, aß nicht mehr, ritzte Herzen in Aluminiumringe, schrieb Briefe, die er wieder zerriß; denn wie die Katzen, die sich balgen, genau spüren, wann die Kralle hängen bleibt, so tat Guillaume, den die Liebe marterte, dennoch nichts, was Henriette ins Bild setzen, seinem Traum die geringste Wurzel geben konnte. Er versuchte gar nicht zu erfahren, ob diese Liebe Erwiderung fand. Er dure mit Goethe sagen: »Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?«
S o lagen die Dinge, als die Kantine einen Versetzungsbe-
fehl an die Somme erhielt. Sie würde einen Teil ihrer Ausrüstung in Belgien zurücklassen, mit einem Freiwilligen zur Bewachung. Dieser Freiwillige konnte niemand anders als Guillaume sein. Die ändern waren so einfältig zu glauben, daß sie ihm einen rechten Streich spielten, wenn sie ihn los wurden. In Wahrheit wurde er sie los. Zwei Tage nach ihrer Abfahrt traf Guillaume den j ungen Hauptmann Roy, von den Marine-Füsilieren. »Wie«, sagte dieser, »man hat Sie allein gelassen? Kommen Sie doch in unsere Offiziersmesse!« Der Heroismus vereinigte eine gemischte Gesellscha unter ein und derselben Palme. Manch ein zuküniger Mörder fand hier die Gelegenheit, die Entschuldigung seines Lasters und dessen Belohnung, Seite an Seite mit den Mär-
tyrern. Man wundert sich vielleicht, daß sogar die Angehörigen der Straataillone an der Front verwendet wurden. Die Gesellscha fand es damals ganz in der Ordnung, daß sie den Instinkten, deretwegen man sie ausgeschlossen hatte, freie Bahn ließen. Doch weder Zuaven noch Füsiliere machten von dieser Jagderlaubnis Gebrauch. Den Marine-Füsilieren lag jede Roheit fern. Ihre Vorgesetzten waren Hebenswürdige Heroen. Diese jungen Männer, die tapfersten der Welt, von denen keiner übriggeblieben ist, faßten den Krieg als ein Spiel auf, ohne jeden Haß. Leider nehmen solche Spiele ein trauriges Ende. Sie lösten einander in den Stellungen ab und bewohnten eine Villa in Coxyde-Strand. Was Guillaume auszeichnete, entzückte sie. Welchen Vorwurf hätte man ihm damals auch noch machen können? Er betrügt niemanden. Der Name eines Generals war nicht imstande, diese edlen Seelen zu beeinflussen. Wurde dieser Name, der hier jede praktische Bedeutung einbüßte, nicht ein bloßer Spitzname? Sie trugen alle einen. Guillaume omas war Fontenoy, wie Roy: Fantomas, Pajot: Giraffenhals, Combescure: Rascher Tod, Breuil de la Payotte, ein Sohn des Admirals: der Admiral, Le Gannec: Gordon Pym. Sie schienen die gleiche Aufgabe zu haben wie Madame de Bormes: sich die Langeweile mit allen Mitteln vom Halse zu halten. Dem übrigen Abschnitt, wie der Umgebung der Prinzessin, fehlte hierfür jedes Verständnis. Man hielt ihre Ungezwungenheit für Hochmut. Man nannte sie Aristokraten. Man täuschte sich kaum. Dieses Bataillon war wirklich eine Aristokratie, das heißt eine echte Demokratie, eine Familie. Nur dort konnte Guillaume ein solcher Empfang zuteil
werden. Eifersüchteleien, Furcht vor den Schreibstuben, den Vorgesetzten, Standesunterschiede hätten dem anderswo im Wege gestanden. Das Bataillon pflegte die Lässigkeit der wahren Eleganz. Nach der Mahlzeit nähte Le Goff, der diensttuende Matrose bei Tisch, ein paar Anker auf den dunkelblauen Uniformrock der Kantinen, und damit war es geschehen: Guillaume war adoptiert. Er würde bei ihnen bleiben. Die Seesoldaten bedeuteten für Guillaume, wie die Prinzessin, eine Art Zuhause. Sie waren völlig in ihn vernarrt, sie verwöhnten ihn, holten seinen Rat ein. Zum Abendessen nahmen sie ihn mit zu ihrem Bataillonschef. Dieser reizende alte Herr fand die Adoption ebenso belustigend, wie wenn seine Kinder, so nannte er seine Untergebenen, ihm einen kleinen Bären zugeführt hätten. Tatsache ist, daß Guillaume, wie die Bären, Affen, Murmeltiere, zu einem Fetisch wurde. Er fühlte sich am Ziel. Seine Liebe zu Henriette ließ nach. Sein Herz hatte um ihretwillen zu schlagen begonnen, aber seine Liebe war Liebe überhaupt. Er übertrug ihren Schwung auf seine neuen Freunde. An sie verschwendete er seine Schätze. Er war in das Bataillon verliebt. Alles begünstigte ihn, denn als wirklicher Marine-Füsilier hätte Guillaume seine Aufgabe drückend gefunden. Doch Füsilier geworden, ohne es zu sein, konnte er sein Glück in vollen Zügen genießen. Die langen Sendschreiben aus der Avenue Montaigne las er nur obenhin. Es kam vor, daß er sie unerbrochen in seiner Rocktasche vergaß. Die Leckereien verteilte er an die Kantine und dankte auf Feldpostkarten, die den Gefühlsergüssen enge Grenzen ziehen. Als ob er Zeit zum Schreiben gehabt hätte! Er begleitete
alle, sei es Roy, sei es Breuil, sei es Le Gannec in die Stellungen. Er zog auf Posten mit ihnen, und bisweilen vermachte man ihn bei der Ablösung dem nächsten. Er hatte einen einzigen längeren Brief geschrieben: an Pesquel-Duport. Er bat darin, ihn doch in Coxyde zu lassen, wobei die nicht näher bestimmten Ausrüstungsgegenstände als Vorwand für seinen endlosen Aufenthalt herhalten mußten. Seine Freude war so vollkommen, daß er seinen Urlaubsschein zerriß. Er sagte der Kantine, daß er es nicht über sich brächte, sie zu verlassen. Dieser Zug krönte seine Eroberungen. Die jungen Offiziere veranstalteten ihm zu Ehren ein Gelage und schickten um Champagner nach La Panne, wo das Hotel Terlinck und die Konditorei trotz der Bomben noch in Betrieb waren. Sie tranken sich einen Rausch an und hielten Reden. Der Name de Fontenoy kehrte darin öers wieder, doch auf wenig respektvolle Weise. Der General spielte dabei eher die Rolle eines alten Trottels als eines Abgotts. Der wahre Abgott war Guillaume. Mademoiselle de Bormes und die Prinzessin lebten in Erwartung dieses Urlaubs. Sie trafen unzählige Vorbereitungen, wie sie Guillaume verwöhnen wollten, und Henriette bekam wieder frischere Farben. Die Enttäuschung wirkte niederschmetternd. Guillaume gab vor, die ihm anvertraute Ausrüstung nicht verlassen zu können. Man würde mich ausplündern, schrieb er. Sie ließen sich nicht täuschen, um jedoch in Wahrheit einer größeren Täuschung zum Opfer zu fallen. »Er fürchtet, wir könnten ihn hindern, zu seiner Pflicht zurückzukehren«, rief Clémence. Tränenüberströmt küßte Henriette in ihrem Bett eine
Momentaufnahme, die Guillaume geschickt hatte, warf sich ihr Schweigen vor und quälte sich zerrissenen Herzens zwischen den beiden Vorstellungen ab, daß Guillaume sie nicht liebte und sie mied, oder daß er sie liebte und eine Glut zu dämpfen versuchte, auf deren Erhörung er kein Anrecht zu haben glaubte. Sie sah nur dieses Weiß und dieses Schwarz. Sie unterschied nichts dazwischen. Ihr jugendlicher Optimismus neigte eher dem Weißen zu. Er liebt mich, dachte sie, und sein Zartgefühl gebietet ihm, mich zu meiden. Er fürchtet als Verführer zu gelten, und daß Mama ihn davonjagt. Ich allein bin die Schuldige. Meine Trägheit setzt ihn der Gefahr aus. Henriette schwor sich zu reden, zu flehen. Doch es gelang ihr nicht. Ihr Geheimnis war ihr so teuer, daß sie sich scheute, es mit irgend jemand zu teilen. Völlig außer sich bestürmten diese beiden Frauen Pesquel-Duport. Er sei an allem schuld. Sie wußten nicht, wie recht sie hatten. Er mochte noch so viel zu seiner Entlastung anführen, die Dienstvorschrien erklären – die Avenue Montaigne war nicht mehr zum Aushalten. Da kam ihm einer jener Einfalle, die, wenn sie sich an die Menge wenden, das Glück eines Journalisten begründen. »Die Zeitung«, sagte er zu den beiden Frauen, »organisiert eatervorführungen für die Soldaten. Ich werde die nächste Darbietung an die Nordfront verlegen, ich nehme Sie in die Truppe auf, und ich begleite Sie.« Die Prinzessin fiel ihm um den Hals. Henriette weinte. Der Direktor hielt sein Versprechen. Vier Tage später stiegen Clémence, Henriette und er in den Zug, der die Schauspieler an die Front brachte.
Die Frauen kamen sich vor wie in einem Vergnügungszug, der zu einem Picknick im Freien fuhr. Guillaume wußte von nichts. Man wollte ihn überraschen.
Die Truppe, die man auf gut Glück zusammengelesen hatte, bestand aus einigen Komparsen, einer Sängerin in einem Staatskleid und einem Federhut vom Hofe Ludwigs XIV., einem berühmten Tragöden, einer Debütantin in Trauer, die im Vorjahr bei dem Wettbewerb am Conservatoire eine ehrenvolle Erwähnung errungen hatte, und einem jugendlichen Liebhaber, dessen Sohn, ein Oberst, soeben zum siebten Male ausgezeichnet worden war. Er hoe, ihn an der Front zu treffen. Pesquel-Duport war gerade dabei, die Reisegefährten einander vorzustellen, als die Prinzessin zu ihrer Verblüffung Madame Valiche erscheinen sah, die rasch noch ein paar Orangen gekau hatte. Ihre Aufmachung entsprach der Schilderung, die sie selber seinerzeit auf dem Bauernhofgegeben hatte. »Nein, so was!« rief diese gräßliche Person, »Sie? Sie hier? Was gibt’s denn, meine Beste?« sagte sie, um den Schauspielern zu zeigen, daß sie mit Madame de Bormes auf vertrautem Fuß stehe. Die Prinzessin überließ ihr den Vorteil dieses »meine Beste«, denn sie sah alles in rosigen Farben und wollte niemand um sein Vergnügen bringen; sie stellte PesquelDuport vor und sagte, daß sie ihm diese Gunst verdanke. Sie fügte hinzu: »Guillaume Fontenoy ist in Coxyde; wir hoffen ihn dort zu treffen.« Aha! Da liegt der Hund begraben, dachte Madame Valiche und zwinkerte der Prinzessin zu. Die Prinzessin legte keinen Wert darauf, daß Madame
Valiche sich unter Berufung auf die gemeinsame Vergangenheit an sie und Guillaume hängte. Deshalb hatte sie den wahren Zweck ihrer Reise zuerst verschweigen wollen. Unverzüglich begriff sie jedoch, daß diese Person sich rächen würde, wenn sie dahinterkam, daß man ihr etwas verheimlichte. Das war der Grund, warum sie einen harmlosen Satz mit einiger Verlegenheit herausbrachte. Pesquel-Duport besaß Scharlick, doch nicht genug. Er bemerkte den sonderbaren Ton in den Worten der Prinzessin und das Zwinkern. Beides mißfiel ihm. Nun war die Reihe an Madame Valiche, ihr Hiersein zu erklären: »Sie werden mich auf den Brettern bewundern, meine Beste. Ich wollte die Nordfront besuchen. Meister Romuald« (hier wies sie auf den Tragöden) »war so gütig, mich mitzunehmen. Doch halt! ich zahle meinen Platz. Bitte schön, ich gebe Die Braut des Paukenschlägers. Und ich wirke in der Tochter des Tambourmajors mit.« Die Prinzessin stellte Henriette vor, die glaubte, die Darbietung habe schon begonnen. Mit der Unbekümmertheit der Jugend lachte sie Madame Valiche und den Schauspielern ins Gesicht, behielt dieses fröhliche Lachen auf ihren Zügen und musterte sie wie wunderliche Tiere. Pesquel-Duport hatte vorsorglicherweise für die beiden Frauen und sich ein Abteil reservieren lassen, das von dem der Truppe ein wenig ablag. Jedesmal, wenn Madame Valiche auf dem Gang vorbeistrich, ließ sie ihr Auge über die leeren Plätze wandern und mimte hinter den Scheiben ein »Teufel auch, Sie haben’s gut!«, das als Vorwurf gemeint war. Denn sie waren in ihren Abteilen eng zusammengepfercht. Die Prinzessin saß auf Kohlen. Pesquel-Duport blieb hart.
»Bitten Sie sie nur ja nicht herein«, sagte er. »Diese Person ist das reinste Klebpflaster.« Als Pesquel-Duport einmal hinüberging, um ein paar ermunternde Worte an seine Schäfchen zu richten, hörte er, wie Meister Romuald seine Kriegserlebnisse von zum besten gab. Er erzählte schon seit der Abfahrt. Dieser Mann hatte einen Monat zuvor einen verblüffenden Einfall gehabt – verblüffend für den, der die Welt der Kulissen nicht kennt. Nachdem er als erster den Heldentod eines seiner Schüler erfahren hatte, hatte er dessen Eltern aufgesucht, ein biederes Ehepaar, das diesen Sohn vergötterte, und um ihnen, wie er meinte, die Nachricht möglichst schonend beizubringen, hatte er sie ihnen in Gestalt eines selbstverfaßten Sonetts mitgeteilt. Diese Unglücklichen waren gerade beim Essen. Romuald blieb unter der Türe stehen und begann sein Machwerk zu rezitieren. Sie begriffen nichts und hielten ihn für übergeschnappt. Man mußte ihnen nachträglich alles erklären, wie man einen zum Tode Verurteilten, bei dem das Beil nicht funktioniert hat, noch einmal köp. Die junge Schauspielerin in Trauer war die Verlobte des Schülers. Sie konnte das Sonett auswendig. In Dünkirchen wurden sie von Automobilen erwartet. Der Tragöde trug einen breitkrempigen Filzhut, Gamaschen, einen Brotbeutel und einen Operngucker. Er suchte die feindlichen Flieger. Am andern Morgen, in La Panne, wo die Truppe untergebracht war, wären Madame de Bormes und ihre Tochter, die es schon nicht mehr am Ort hielt, vor freudigem Erschrecken beinahe in Ohnmacht gefallen, denn kaum hatte man in der Offiziersmesse die Ankun der Schauspielerin-
nen erfahren, da hatten Guillaume, Roy und Pajot sich aufgemacht, ihnen entgegenzugehen. Als Guillaume sah, wer diese Schauspielerinnen waren, glaubte er zu träumen. Das war, für ihn, der beste Beweis, daß er nicht träumte. Die beiden Frauen und er bildeten eine Gruppe wie auf einem Stich aus der napoleonischen Zeit: Des Kriegers Heimkehr. Guillaumes durchlüetes, übermütiges Herz empfing sie mit freudigem Jubel. Er hatte sich nicht entschließen können, zu ihnen zu fahren, aber es entzückte ihn, daß sie zu ihm kamen und seine Kameraden kennenlernten. Er gehörte nicht zu jenen engen Seelen, die überall Trennungswände erhalten wollen. Ein Wunder, das fortwährt, hört auf, als solches zu gelten. Darum verschwinden die Erscheinungen so schnell. Nach einer Viertelstunde wunderte sich schon keiner mehr. Guillaume umarmte Madame Valiche, und die Füsiliere entführten den Direktor und die beiden Damen. Abends, zur Vorstellung, würde man in Coxyde wieder zu der Truppe stoßen. Es regnete. Dieser Tag war für diese drei Menschen der schönste der Welt. Pesquel-Duport, der sich verjüngt fühlte, gefiel den Füsilieren. Madame de Bormes und Henriette kamen die Vorbereitungen zugute, die man für die Schauspielerinnen getroffen hatte, und sie mochten glauben, dieser märchenhae Empfang gelte ihnen. Alles trug zur Erhöhung ihrer Freude bei: die Dünen, die Aeroplane, die Kanonen, die Helme und, als sie dann die Villa betraten, die Überraschung, eine Küche zu durchqueren, wo halbnackte Teufel mit tätowierten Ankern auf Brust und Armen beim Schein eines Höllenfeuers feixend um die Kessel tanzten.
Madame des Bormes hatte einen Riesenerfolg. Da hier keiner wußte, ob er nicht morgen schon tot war, gab man sich ohne Rückhalt und Berechnung. Diese großmütige Atmosphäre, die für die Prinzessin wie für Guillaume die rechte Lebenslu war, brachte sie zu ihrer vollen Geltung. Eine schöne Frau und ein frisches junges Mädchen mußten ja auch in einer solchen Umgebung ebenso ergreifend wirken wie Rosen auf einem Eisfeld. Roy führte sie überall herum. Man jubelte ihnen zu. Man küßte ihre Hände, man berührte ihre Kleider. Jedem leuchtete eine geliebte Ähnlichkeit aus ihnen entgegen. Madame de Bormes, die die Lächerlichkeit meilenweit witterte, fühlte, daß sie es sich erlauben dure, ja, daß sie geradezu gehalten war, die Lederfransen ihres Mantels abzureißen und zu verteilen. Selten genug findet eine Frau sich in einer Lage, die ihr eine solche Geste erlaubt. Die Königin der Belgier hätte keinen größeren Erfolg haben können. Guillaume war sehr stolz und ließ Henriette nicht aus den Augen. In diesem Überfluß, in dieser Fülle schien Henriette das Glück gewiß. Und da sie nicht mehr fürchtete, Guillaume könnte sie für leichtfertig halten, ließ sie ihrer Ausgelassenheit die Zügel schießen. So trieben sie in sanem Gefalle dem Schauspiel zu. Dieses fand in einem Hangar des englischen Geschwaders statt, der eine bessere Gelegenheit bot als unsere eleganten Bühnen. Die Automobile der Vorgesetzten schnurrten mit ausgeschalteten Lichtern. Man zog die Eintrittskarten aus der Tasche. Die Soldaten traten einer um den ändern ein; da der Saal ziemlich klein war, hatte man die Plätze sehr spärlich verteilt.
Die Zukurzgekommenen machten gute Miene zum bösen Spiel. Im Sande sitzend, lauschten sie einem Kameraden, der ihnen Monologe rezitierte. Andere bohrten mit ihren Bajonetten Löcher in die Bretter, um den Schauspielerinnen beim Auskleiden zuzusehen. Das Orchester spielte die Nationalhymnen, die sich eine an der ändern entzündeten. Dann nahmen die französischen, englischen und belgischen Generäle ihre Plätze ein, und die Darbietungen begannen. Die Truppe spielte Die Angst vor Schlägen, einen Akt aus Der Funke, und einen Akt aus der Tochter des Tambourmajors. Da in dem ersten dieser Lustspiele von einem Hauptmann die Rede ist und in den folgenden ein Hauptmann auritt, glaubten die Soldaten, es sei ein Stück in drei Akten. Die Handlung kam ihnen etwas verworren vor. Im Anschluß an diese Komödien und die Operette, in der Madame Valiche als Tambour aurat, kehrte sie allein auf die Szene zurück und rezitierte in diesem frechen Kostüm Die Braut des Paukenschlägers. Sie gefiel sehr gut. Mit Hilfe von Grimassen und zweideutigen Anspielungen gelang es ihr, diesem Gedicht eine Art zotiger Aktualität zu verleihen. Die Sängerin gefiel weniger. Um den Saal zu ermuntern, in ein Marschlied mit einzustimmen, das die Militärs nicht singen, rief sie: »Los! Alle zusammen! Eins – zwei – drei –«; doch keiner rührte sich. Romuald rettete die Veranstaltung, indem er, eine Trikolore über die Schulter geworfen, die Marseillaise deklamierte. Nach der Vorstellung war die Truppe bei dem General Madeion zu Gast. Madame de Bormes und ihre Tochter konnten sich dem nicht gut entziehen, um so mehr, als PesquelDuport dort in seiner offiziellen Rolle aureten mußte.
Guillaume und seine Kameraden vereinbarten, daß das Trio beim Auruch zu ihnen stoßen sollte, daß sie es heimlich nach Saint Georges führen würden; der General hatte nämlich verboten, daß man Zivilisten die Stellungen zeigte. Dieser General, der Pesquel-Duports Titel nicht recht verstanden hatte und ihn nicht für einen Zeitungs-, sondern für den eaterdirektor hielt, beglückwünschte ihn zu seiner Truppe. »Sie haben da«, sagte er zu ihm, »eine ausgezeichnete Truppe.« »Herr General«, suchte Pesquel-Duport ihn zu berichtigen, »ich bin nur ein Gast.« »Ich auch! Zum Teufel! ich auch. Und es macht mir einen verdammten Spaß. Nicht wahr, meine Damen?« rief der General aus. Sein Ausspruch war völlig sinnlos. Er hielt derartige Sätze für ein Zeichen von Geistesgegenwart. Die Prinzessin und Henriette hatten nur den einen Wunsch, aufzubrechen. Pesquel-Duport runzelte die Brauen. Endlich, sobald es der Anstand erlaubte, verabschiedeten sie sich. »Bravo! Noch einmal bravo, meine Damen!« sagte der General, der in ihnen die Darstellerinnen des Stückes von Pailleron wiedererkannt hatte. Der Rest der Nacht war herrlich. Obwohl sie mit den Schuhen zwischen den Latten der Laufroste hängenblieben, waren die beiden Frauen vier Stunden auf den Beinen. In einem Keller von Nieuport hatte Guillaume sie mit Mänteln und Helmen versehen. Auf dem Rückweg taumelten sie vor Müdigkeit.
Plötzlich blieb die Prinzessin stehen. »Ich weiß nicht, was ich habe«, sagte sie, »mir wird so sonderbar.« »Sie haben doch keine Angst?« sagte Roy. »Ziehen Sie den Kopf ein, fürchten Sie nichts. Unsere Feinde schlafen.« »Zu albern. Ich bin ein törichtes Frauenzimmer. Gehen wir weiter.« Madame Valiche erfuhr oder witterte den Besuch der Stellungen. Wütend, daß man sie nicht mitgenommen hatte, rächte sie sich. Als sie Henriette auf der Rückfahrt einmal allein auf dem Gang des Wagens begegnete, nahm sie die Gelegenheit wahr. Da sie zwischen der Prinzessin und Guillaume ein Verhältnis vermutete und das junge Mädchen durchschaut hatte, tat sie, als blicke sie um sich, ob ihnen auch niemand zuhöre; dann flüsterte sie: »Sagen Sie mal ... Guillaume ist ganz verrückt nach Ihnen ... Geben Sie acht. Bringen Sie den Kleinen nicht zur Verzweiflung. Der wäre imstand, sich eins vor den Schädel knallen zu lassen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie Henriette ganz versteinert, ganz vereist stehen und begab sich in das Abteil der Schauspieler zurück. Bei den Füsilieren war von nichts anderem mehr die Rede als von den beiden Frauen. Sie erhöhten Guillaumes Prestige, mehr als jeder Onkel im Generalsrang. »Sag mal«, sagte Roy, »die Kleine ist ja ganz vernarrt in dich.« Und mit jener Stimme, deren er sich einst bedient hatte, um der Prinzessin bei Verne zu erwidern: »Meine Tante ist eine Heilige« usw., erwiderte Guillaume dem Füsilier:
»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Wir lieben uns wie Bruder und Schwester.« Dieser Besuch hatte Guillaume bereichert und dieser Reichtum blieb ihm. Ein neues Requisit schmückte sein seltsames Spiel. Henriette mochte bis ans Ende der Welt gehen, ohne daß es ihm etwas ausgemacht hätte.
E in Unglück traf die Gruppe von Coxyde.
Pajot sollte auf Urlaub fahren, eben an dem Tag, da er die Stellungen verließ. So zitterte er die ganze Nacht, es könnte ihm etwas zustoßen. Roy neckte ihn, und als Pajot ihn anflehte, sich doch still zu verhalten, fuchtelte Roy ihm mit seiner Taschenlampe vor der Nase herum und schmierte ihm einen hellen Schein ins Gesicht. Pajot fiel auf der Stelle tot um, eine Kugel im Kopf. Diese Kugel war eine verirrte Kugel, aber Roy hielt sich für den Mörder. Eine finstere Schwermut bemächtigte sich seiner. Guillaume wich nicht von seiner Seite, überwachte ihn und war bemüht, ihn aufzuheitern. In Paris lebte Mademoiselle de Bormes mit dem Satz der Madame Valiche. Sie war schon darüber hinaus, es zu beklagen, daß eine solche Frau sich in ihre Qualen einmischte. Sie warf sich vor, ein Verbrechen zu begehen. Selbst wenn sie Guillaume nicht geliebt hätte, hätte sie sich fast verpflichtet gefühlt, dergleichen vorzutäuschen, und sie liebte ihn. Sie wählte einen sehr gescheiten Ausweg: sich PesquelDuport zu eröffnen. Sie wußte es einzurichten, daß sie eines Nachmittags
zusammen nach Saint-Cloud fuhren, um ihre Mutter vom Golfplatz abzuholen. Im Wagen, bleich, halbtot, enthüllte sie ihm ihr Herz. Pesquel-Duport kannte ihre Neigung, doch nicht deren Heigkeit. Nun hatten seine Nachforschungen ihm eben gestern den Beweis erbracht, daß Guillaume, obwohl aus einer höchst achtbaren Familie, den Titel de Fontenoy zu Unrecht führte. Er befand sich in einer recht verzwickten Lage. Angesichts der Schätze, die man vor ihm ausbreitete, beschloß der Gute, noch einen Aufschub zu gewähren. Er sagte Henriette, er werde mit ihrer Mutter sprechen und er bitte sie herzlich, sich zu beruhigen, Vertrauen zu haben. »Handeln Sie rasch«, rief diese Jungfrau, mit der Stimme einer langjährigen Mätresse, »es gilt keinen Augenblick zu verlieren. Retten wir ihn!« Sie schneuzte sich, streie ihre Haare zurück, rückte ihren kleinen Hut zurecht. Und Pesquel-Duport dachte an seine eigene Liebe, an sein Alter, an Clémence, die beinahe noch ebenso jugendfrisch war wie Henriette. Sie behauptet, sie würde nicht mehr lieben, dachte er bei sich. Sie sagt das vielleicht nur, weil sie noch nie geliebt hat. Ich halte sie für jünger, für sehr viel jünger als ihre Tochter. Das Automobil rollte über die Straßen. Henriette schwieg, schaute mit verstörtem Gesicht auf die Landscha hinaus. Pesquel-Duport hing seinen eigenen Gedanken weiter nach: Da ist allerdings ihre Begeisterung für Guillaume. Aber wenn so etwas Ernst ist, hält man es eher geheim. Doch sie ist so unerfahren, daß sie imstande ist zu lieben, ohne es zu wissen, und es noch später zu merken als ihre Tochter.
Er fragte sich, wie er sich verhalten sollte. Und er heckte folgenden Plan aus: Dieser Plan war äußerst geschmacklos, roh und gefährlich. Aber er liebte, und die Liebe kümmerte sich wenig um Zartgefühl, Sanheit, Sicherheit. Er würde Clémence davon unterrichten, daß ihre Tochter Guillaume liebte, und ihr zureden, die beiden doch zusammenzugeben. Damit würde er einerseits aus der Wirkung dieser Neuigkeit erkennen, ob er es mit einer Mutter oder einer Nebenbuhlerin zu tun hatte, andrerseits ging die Prinzessin doch nur geringe Verpflichtungen ein, denn zuletzt würde er Guillaumes falschen Namen, sein Alter aufdecken und die Verlobung würde rückgängig gemacht. Der Direktor zählte auf diesen wohlvorbereiteten eatercoup, um Henriette zu heilen. Am gleichen Abend noch ging ein Freund, der mit ihnen speiste, ins Konzert und ließ sie allein. Sobald Henriette ihr Zimmer aufgesucht hatte, machte Pesquel-Duport sich an die Durchführung seines Programms. »Mein Gott!« rief die Prinzessin. »Wie töricht! Sie liebt und verschweigt es mir. Aber, lieber Direktor, ich falle aus allen Wolken. Und Guillaume liebt sie? Welch ein Glück! Wenn ich bedenke, daß ich einen Bormes heiraten konnte. So etwas Dummes, Albernes, Zerstreutes wie mich gibt es auch nur einmal. Wahrhaig, ich verdiene alles, was man mir vorwir.« Pesquel-Duport wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Diese Frau sollte ihn immer wieder aus dem Geleise bringen. Ihr Übereifer veranlaßte ihn zu bremsen. Er wandte ein, man müsse abwarten, Ausküne einholen, die Vermögensverhältnisse ...
»Die Vermögensverhältnisse!« unterbrach ihn die Prinzessin. »Ach was, lassen Sie die doch aus dem Spiel. Und wer sagt Ihnen denn, daß Guillaume arm ist? Die Fontenoy sind reich. Henriette erhält eine anständige Mitgi. Im übrigen«, sie brach in ein lautes Gelächter aus, »sind wir beide nicht recht bei Verstand, mein guter Direktor. Wir sind einer so naiv wie der andere. Da sitzen wir und reden allen Ernstes von etwas, das gar nicht vorhanden ist. Henriette ist die Unerfahrenheit selbst. Guillaume ist neunzehn Jahre alt. Er ist der erste junge Mann, dem sie begegnet. Sie glaubt, sie sei in ihn verliebt. Keine Spur. Auch ich bin in Guillaume verliebt. Aber das hat doch mit Liebe nichts zu tun.« Die Prinzessin setzte eine ernste Miene auf, um diese Extravaganzen von sich zu geben. Mit einer Gebärde hinderte sie Pesquel-Duport, den Mund aufzutun. Während er ihr zuhörte, fühlte er seine Befürchtungen wieder erwachen. »Ich will Henriette«, fuhr Clémence fort, »nicht so leichthin verheiraten, noch Guillaume eine Frau anhängen, die er nach vierzehn Tagen wieder leid ist. Sehen Sie mich schon mit einem Schwiegersohn auf dem Hals?« Bei diesem Wort Schwiegersohn im Zusammenhang mit Guillaume brach sie abermals in schallendes Gelächter aus. »Das ist eine Verrückte«, sagte sich Pesquel-Duport allen Ernstes; »aber eine Verrückte, nach der ich selber verrückt bin.« Als ihr Lachen nachließ, wollte die Prinzessin Einzelheiten wissen. Der Direktor verhaspelte sich, stellte die Szene im Auto als harmlos hin. »Da haben wir’s«, sagte Clémence. »Sie sind nur zum Artikelschreiben zu gebrauchen. Schweigen Sie. Ich werde
ein sehr einfaches Mittel anwenden. Ich werde Henriette selber fragen.« Sie erhob sich und verschwand. Pesquel-Duport vergrub das Gesicht in den Händen. Diesem Manne mit der harten Faust standen die Tränen in den Augen. Was nützte ihm seine Faust? Clémence war nicht zu fassen. Sie wand sich, entglitt ihm, löste sich auf. Er fühlte sie unwirklich werden: ein bloßer Hauch. Er wiederholte sich: Ich liebe eine Verrückte; ich liebe eine Fee. Liebt sie Guillaume? Nein. Sie liebt sich selbst nicht. Sie liebt ihre Tochter nicht. Sie ist weder eine Kokette noch eine Mutter. Sie ist zu etwas anderem geschaffen, das ich nicht begreife. Im Grunde ist das alles doch sehr viel einfacher. Sie erscheint mir als eine Fee; dabei ist sie nur leicht, leichter als irgend etwas. Liebt sie Guillaume, ohne es zu wissen? Dann hätte ich noch eine Chance. Vielleicht liebt sie uns alle beide ... Pesquel-Duport entgleiste, stolperte, drehte sich im Kreise. Als er aus seinem Halbschlummer, an dem das Feuer schuld war, erwachte, sah er auf die Uhr. Die Prinzessin war gegen elf Uhr zu Henriette gegangen. Jetzt war es ein Uhr nachts. Es kam ihm vor, als habe er fünf Minuten gewartet. Denn der Schmerz, der Zweifel und sogar ein Kaminfeuer zerlegen die Zeit nach ihrem Belieben. Pesquel-Duport gehörte so sehr zu den Intimen der Avenue Montaigne, daß er sich über die Etikette hinwegsetzen dure. Er ging hin und horchte an der Zimmertür des jungen Mädchens, hörte drinnen schluchzen, klope, trat ein. Madame de Bormes saß auf dem Bett. Mutter und Tochter hielten sich weinend umschlungen.
»Herein! Kommen Sie! Kommen Sie rasch!« rief die Prinzessin. »Und sagen Sie unserer Verliebten, daß sie ihren Guillaume bekommen soll, daß sie seine Frau sein soll, daß ich es ihr verspreche.« Wie der Besuch an der Front ferner rückte, begann die Prinzessin sich zu langweilen. Ihre Tochter war ihre Rettung. Henriette küßte sie, liebkoste sie, bewunderte dieses Meisterwerk: eine Mutter, die, weit entfernt zu predigen und das Feuer der Jugend zu dämpfen, es zu helleren Flammen entfachte. Nach einer endlosen Beratung, bei der jede ihre Meinung abgab, wurde der Beschluß gefaßt, daß Henriette an Guillaume schreiben sollte. Die Prinzessin fand es normal, daß die Frauen den ersten Schritt täten. Sie würde ein Postskriptum anfügen, das jeden Verdacht der Heimlichkeit beseitigte. »Sei unbesorgt«, sagte sie zu Henriette, »ich werde nichts lesen.« Henriette schloß sich in ihr Zimmer ein, betrachtete Guillaumes Bild und schrieb: Mein lieber Guillaume, Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Ich möchte Ihnen nur kurz, schreiben, weil ich so ungeschickt bin und weil das, was ich Ihnen zu sagen habe, sehr einfach ist. Mein lieber Guillaume, stellen Sie bitte keine Dummheiten an: Ich liebe Sie auch. Das soll nicht heißen, daß ich Sie liebe, wie Mama Sie liebt, noch wie ich Mama liebe. Ich liebe Sie aus Liebe. Ich bin ganz, krank davon und sehr glücklich. Aber ich habe Angst. Aus Ihrer aufrichtigen Freude bei unserer Ankun in La Panne
erkannte ich, daß Sie unserem Hause nur aus Zartgefühl ferngeblieben waren. Sollten Sie uns aus anderen Gründen meiden, so wäre unser unvermutetes Erscheinen Ihnen doch eher unangenehm gewesen. Mein lieber Guillaume, Mama und ich waren sehr glücklich, zu hören, wie die Soldaten Sie lobten, aber ich habe sie nicht nötig, um zu wissen, wer Sie sind. Ich habe Angst, daß Sie sich mehr aussetzen könnten, als von Ihnen gefordert wird, und daß Sie Ihr Leben zehnmal wagen, wo andere es nur einmal wagen. Wenn ich Ihnen diesen Brief schreibe, der mir so schwerfällt und mich so viel Mühe kostet – denn wieviel lieber würde ich mit Ihnen sprechen, Ihre Hand halten – so tue ich dies darum, weil ich möchte, daß Sie sich meinetwegen schonen: meinetwegen, unsretwegen, unsrer Zukun wegen. Mama ist so gut, wie Sie sich gar nicht vorstellen können. Sie hat mir selbst erlaubt, Ihnen zu schreiben. Sie hat gesagt, ich soll Ihnen rasch schreiben, um Zeit zu gewinnen. Mein lieber Guillaume, antworten Sie mir. Sagen Sie mir, ob Sie mich lieben, wie ich Sie liebe, und ob Sie glücklich sind, daß Mama in unser Glück einwilligt. Ich muß abbrechen, weil mir die Tränen kommen und weil ich doch immer nur das Gleiche wiederholen würde. Mein lieber Guillaume, Ich küsse Sie
Ohne diesen Brief zu lesen, fügte die Prinzessin am unteren Ende des Blattes hinzu: Da haben wir die Bescherung!
Um sechs Uhr abends, sobald Pajot begraben war, sobald die Offiziersmesse in Ordnung und die Meldungen vorschrismäßig abgegeben waren, kehrten Roy und Guillaume in den Graben zurück, um dort Combescure abzulösen, der Roy für vierundzwanzig Stunden vertreten hatte. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg, denn der Wagen, der sie bis zur Brücke von Nieuport-Ort hätte bringen sollen, war in der Nähe des Dreieckswäldchens von einem Schrapnell getroffen worden, das den Motor zertrümmert hatte. Der Anmarsch war für Roy weniger beschwerlich als mit seinen Leuten, denn er ging als Spaziergänger, ohne jene Bürde schwerer Gegenstände, die ihm sonst wie einem Maibaum um den Nacken baumelten. Aber seine Bürde war von anderer Art. Sein Herz drückte ihn mehr als diese ganze Ausrüstung. Und doch zählten die Toten wenig in jenem Abschnitt. Obwohl der zivile Tod jeden von uns tri, behält er ein gewisses Prestige. Es geschieht sogar, daß der Tod ein gutes Führungszeugnis ausstellt. »Sieh an«, denkt man fast wider Willen, »nun ist dieser Mensch gestorben. Immerhin, er ist tot. Er war also doch nicht irgendwer. Er taugte vielleicht doch mehr, als man hätte meinen sollen.« An der Front aber, als ob die Häufigkeit des Todes, die Verwundungen und die ununterbrochenen Gefahren jeden Menschen mehrmals sterben ließen, wurde der Tod in Kleingeld umgewechselt und verlor seinen Wert. Sein Kurs stand so niedrig wie nur möglich. Die Ausdrucksweise des Abschnitts mußte daher jedem, der aus dem Land-des-seltenen-Todes kam, höchst unbarmherzig vorkommen.
In der Tat, man sagte nicht: »Der arme Soundso«, sondern: »Er brauchte ja nicht gerade seine Nase aus dem Unterstand zu strecken.« Man sprach von den Granaten wie von Autobussen, wie von den Gefahren von Paris, vor denen ein Provinzler oder ein Kurzsichtiger nicht auf der Hut ist. Pajots Tod bildete eine Ausnahme von der Regel. Er amputierte dem Körper der Villa der Füsiliere eines seiner Glieder, und Roy war der mittelbare Anlaß dieser Amputation. »Ich habe ihn getötet«, sagte er, »als ob meine Taschenlampe eine Waffe wäre.« Dieser Umstand allein hätte genügt, um Pajots Tod eine zivile Wichtigkeit zu verleihen. Guillaume und Roy wanderten also schweigend durchs Gelände. Der Wind schürte ein klagendes Surren in den kleinen Ampeln, die oben an den Telegrafenmasten sitzen wie die Blüten von Maiglöckchen. Roy, der eine bretonische Mutter hatte, war abergläubisch. Er hörte Pajots Seele klagen. Er preßte, kniff Guillaumes Arm und biß sich die Lippen wie ein Kind, das sich das Weinen verbeißt. Nach Saint-Georges zurückkehren, hieß an die Stätte des Verbrechens zurückkehren. Er war froh, daß das Automobil nicht verwendungsfähig war, weil dies den Augenblick des Wiedersehens hinausschob. Guillaume mochte sich noch so sehr bemühen, den Zufall verantwortlich zu machen, auf die Prellschüsse hinzuweisen und wie schwer es sei, auf einen Kopf zu zielen, der nur für eine Sekunde sichtbar war, Roy fraß sich immer tiefer in sein Schuldgefühl hinein. »Seine Angehörigen ...«, murmelte er, »... seine armen Angehörigen. Er sollte auf Urlaub fahren, zu seiner Frau
und seinen Kindern. Er beschwor mich, keine Dummheiten zu machen. Es ist zu gräßlich.« Plötzlich erscholl im Dunkeln eine seltsame Musik. Das war die nouba der Negerschützen, die durch den Ort zogen. Die nouba wird auf einer Eingeborenen-Dreilochflöte gespielt, welche die Soldaten nachmachen, indem sie sich die Nase zuhalten, die Stimme in den Kopf hinaufziehen und sich auf den Adamsapfel schlagen. Diese näselnde Flöte spielt ganz für sich allein eine schrille Klageweise. So müßte die Stimme der Jezabel klingen. Dann antworten die Trommeln und Trompeten. Der Trupp näherte sich wie das Geleit der Bundeslade auf der Straße nach Jerusalem. Roy und Guillaume traten beiseite und sahen ihn vorbeiziehen. Die Neger kamen aus Dünkirchen, ganz benommen von Kälte und Erschöpfung. Sie waren über und über bedeckt mit Halstüchern, Mantillen, Fäustlingen, Beuteln, Kochgeschirren, Patronen, Waffen, Beutestücken, Amuletten, mit Ketten aus Glasperlen und Armreifen aus Zähnen. Während der untere Teil ihres Leibes marschierte, tanzte der obere Teil im Takt der Musik. Diese Musik hielt sie aufrecht, hob sie vorwärts. Ihre Köpfe, ihre Arme, ihre Schultern, ihre Bäuche bewegten sich, san gewiegt von diesem wilden Opium. Ihre Füße, die nicht mehr im Gleichschritt gingen, schleien im Schmutz nach. Man hörte, wie diese Füße durch diesen Schmutz schmatzten, und wenn die Musik aussetzte, wie die Gewehrkolben gegen die Gasmaskenbüchsen klapperten; dann wieder erhob sich das Solo vom Grunde der Wüste, aus der Tiefe der Zeiten, und wieder antworteten die Trommeln und Trompeten.
Die nouba, die Guillaume erheiterte, durchbohrte seinem Kameraden das Herz. Ihr Klagegesang stimmte zu seiner Trauer. Er dachte an die Fahrten mit Pajot, an ihr Schiff, an ihre Aufenthalte und Streifzüge in den Hafenstädten des Orients. Wortlos setzten sie ihren Weg fort. Das Dreieckswäldchen brauste wie ein königlicher Jagdgrund. In Nieuport lag der Friedhof der Marinefüsiliere neben der unförmigen Kirche. Jenseits von Nieuport sah man von dem Graben aus, der nach Saint-Georges führte, in dem überschwemmten Gelände rechterhand das Gerippe eines Gehöes aufragen, die sogenannte Verreckte Kuh. Erfinder dieses Beinamens, den die Generalstabskarten übernommen hatten, war eine junge Engländerin, Miss Elisabeth Hart. Miss Hart, die jeder nur Miss Elisabeth nannte, war die Tochter des Kommandierenden Generals der englischen Truppen in diesem Abschnitt, Unter der Flagge des Roten Kreuzes zockelte sie mit einer Taschenambulanz umher und lebte mit den MarineFüsilieren. Bei einer Französin wäre eine solche Lebensführung anstößig gewesen. Aber Miss Elisabeth war ein rechter Bursche, ein Teufelskerl. Sie kleidete sich fast wie ein Matrose. Sie trug kurzgeschnittenes Haar, dessen Locken ein Engelsgesicht umrahmten. Sie besaß eine große Ähnlichkeit mit den Amazonen des amerikanischen Films, nur daß man sie niemals zittern sah. Sie kam und ging zwischen La Panne und der vorderen Linie und ließ ihren Ambulanzwagen irgendwo stehen wie in den Straßen von London. Ihre Forschheit verstimmte den Obersten der Zuaven. Er fand sie sittenlos. So kam
es, daß sie den Meeresabschnitt zugunsten des Überschwemmungsabschnitts vernachlässigte. Die Füsiliere verehrten sie wie eine Heilige. Eine Heldin war sie gewiß. Sind doch freier Wille, Ungehorsam, das Absurde, das Ungewöhnliche geradezu die Voraussetzungen des Heroismus. Außerdem konnte sie aus der Hand lesen. Als Guillaume und Roy in Saint-Georges eintrafen, hockte sie in Roys Unterstand und trank Portwein mit Combescure. Sie war von einem längeren Urlaub zurückgekehrt. Sie kannte Guillaume noch nicht. Ihr Akzent war nicht unangenehm. Dauernd bemüht, unser »r« richtig zu sprechen, und außerstande, es im Rachen zu bilden, rollte sie es mit der Zungenspitze. Sie versuchte, Roy seine Skrupel auszureden. Combescure wollte, daß sie Guillaume aus der Hand lese. Das Geschä einer aufrichtigen Handleserin war etwas heikel an der Front. Sie weigerte sich. Guillaume bestand darauf. Als die junge Engländerin das Innere dieser Hand erblickte, malte sich eine solche Überraschung auf ihren Zügen, daß Combescure und Roy den Grund wissen wollten. »So was! ...« antwortete Elisabeth. »Eine solche Hand ist mir noch nicht vorgekommen. Er hat nicht eine Lebenslinie; er hat mehrere.« »Und mein Tod, oder ... meine Tode?« forschte Guillaume. »Wissen Sie, ich verstehe mich nur so ein bißchen darauf. Ich sehe nur das Ganze. Der Gesamteindruck Ihrer Hand ist ausgezeichnet.«
Combescure und Miss Hart brachen auf. Sie brachte ihn bis Coxyde. »Was für eine Frau!« sagte Guillaume zu Roy. »Ein wunderbares Geschöpf.« »Wieder ein Opfer Elisabeths. Ihre Toten sind schon nicht mehr zu zählen«, scherzte der junge Hauptmann. »Sie ist ein tapferes Mädchen, und ein guter Kerl, was noch tausendmal mehr wert ist.« Doch es war ihm nicht nach Reden zumute. Guillaume verstand ihn. Nachdem Roy seine Anordnungen erteilt hatte, schlug er ihm eine Partie Karten vor. Hauptmann Roys Unterstand war der einzig bewohnbare von Saint-Georges. Das Wasser machte die Erdarbeiten fast unmöglich. Es leistete dem sträflichen Leichtsinn der Matrosen Vorschub. Ihr Unterstandssystem verhielt sich zu den Graben der Zuaven wie ein Bienenstock in einem Baum zu dem Bienenstock eines Imkers. Man sicherte sich dort weder gegen das Wasser noch gegen das feindliche Feuer. Diese Sorglosigkeit bei Männern, die das Schaukeln der See und der Hängematte gewöhnt waren oder die sich, wenn sie noch nicht auf Fahrt gewesen waren, von dem Gemeinschasgeist wiegen ließen, wurde durch den Umstand noch verstärkt, daß ein einstündiges Bombardement genügt, um die Arbeit von fünf Wochen zuschanden zu machen. O, wenn die Deutschen einen Vorstoß unternommen hatten, litten die Zuaven weniger unter ihren Verletzungen als in ihrem Architektenstolz. Nur die Zuneigung der Füsiliere für ihre Anführer hatte sie veranlaßt, eine Art Kabine zu erbauen, mit jenen bewunderungswürdigen Schneiderinnenhänden, die es ver-
stehen, aus einer Mütze mit einem roten Puschel ein Wunder an Eleganz zu machen und ein Tau wie verschlungene Liebesinitialen zu schürzen. Dieser Abschnitt war daher sehr gefährlich und die Verluste ziemlich hoch. Roy wünschte zu schweigen und spielte schweigend. Draußen hörte man hie und da jene vereinzelten Schüsse, die man nur abzugeben schien, damit der Krieg keine Unterbrechung erlitt. Plötzlich vernahm man nahes Gewehrfeuer. – Es dauerte an. Roy legte die Karten hin, um zu sehen, was es gab. »Das sind«, sagte er zu Guillaume, indem er die Karten wieder aufnahm, »unsere Herren, die ihre Possen treiben. Plouardec und Lulu, die in dem Horchgraben liegen, spielen Manille und sind drauf verfallen, ihre Punkte durch Gewehrschüsse zu verkünden. Das ist ein billiges Verfahren. Ich habe den Unfug abgestellt.« Die Matrosen stehen zu ihren Vorgesetzten in einem anderen Verhältnis als die übrigen Soldaten, die bei ihnen »die Krieger« heißen. So zum Beispiel grüßen sie diese Vorgesetzten, wie die Infanterieoffiziere den Gruß eines Rekruten erwidern, und begleiten diese Geste mit einem schwachen freundlichen Grinsen. Zwölf Minuten nach Roys Zurechtweisungen ging das Schießen von neuem los. Roy lächelte, wütend. »Das geht denn doch zu weit«, sagte er. »Ich werde sie bestrafen. Komm, Guillaume.« Sie näherten sich eben der Plattform, die vor den Horchpostenlöchern liegt, als aus einiger Entfernung, doch recht klar und nachdrücklich, eine Stimme erscholl:
»Wartet, ihr Halunken«, kläe sie, in einem ausgezeichneten Französisch. »So was vertreibt sich die Zeit damit, andere Leute im Schlaf zu stören. Wartet, ich werde euren Vorgesetzten Meldung erstatten!« »Euren Vorgesetzten Meldung erstatten« hieß soviel wie: eine Salve befehlen. »Sie schießen auf meine Anordnung«, brüllte Roy hinüber. Alles, deutsche Stimme und Gewehrfeuer, verstummte. Mit diesen Sanktionen hatte es beiderseits sein Bewenden. Ein solcher Dialog muß denen recht unwahrscheinlich vorkommen, die keine Vorstellung haben von dem nachbarlichen Geist eines langen Krieges, von dem Gemeinschasgeist der Marine. Die wiederaufgenommene Kartenpartie zog sich endlos in die Länge, als das Telefon schnarrte. Roy nahm den Hörer auf. Man verstand schlecht. Die Leitungen, die in einem Affentempo ausgelegt worden waren, kreuzten und berührten einander. Die Geräusche des Abschnitts hausten in dem Apparat wie das Meeresrauschen in einer Muschel. »Unmöglich, etwas zu verstehen«, sagte er. »Ich hänge ein. Den paar Brocken nach, die ich verstanden habe, handelt es sich um den Posten F« (der Posten F lag fünf Kilometer entfernt) »und darum, daß sie niemand herschicken können. Auch ich habe niemand. Die Laufgräben sind von den vorgestrigen Minen aufgerissen. Die längste Strecke liegt völlig offen da. Ich habe keine Lust, einer Meldung wegen einen von den Jungens auszusetzen. Die Schwachköpfe haben überhaupt keine Vorstellung von der Gefahr. Sie scheuen den längeren Weg und
wollen nicht begreifen, daß man dreißig Meter von den Deutschen entfernt nicht pfei, nicht bellt und keine Narrenpossen treibt.« »Das ist doch ganz einfach«, sagte Guillaume hierauf. »Ich pfeife nicht, ich belle nicht. Wenn nötig, krieche ich sogar. Ich brauche nur den großen Umweg zu nehmen. Ich gehe.« Roy weigerte sich. Guillaume bestand darauf. Da Roy jedoch eigentlich gerne mit seinem Gram allein gewesen wäre, da der große Umweg nicht gefährlich war und Guillaume über diese nächtliche Wanderung frohlockte, so einigten sie sich schließlich. Guillaume würde hingehen und mit seiner Meldung unverzüglich zu Roy zurückkehren. Die kalte Nacht schimmerte von weißen Raketen und Gestirnen. Zum erstenmal fand Guillaume sich in ihr allein. Ein letzter Vorhang hebt sich. Das Kind und das Zauberreich werden eines. Guillaume erfährt endlich die Liebe. Statt den Verlängerungsgraben einzuschlagen, folgte er der Brustwehr der vordersten Linie bis zu dem Polder, wo man sich nur noch kriechend fortbewegen konnte. Breuil und er waren Meister in dieser Indianerübung. Nach einigen Metern stieß er auf eine Leiche. Eine Seele hatte sich hastig, wie es eben kam, dieses Körpers entledigt. Neugierig musterte er ihn mit einem harten Blick. Er setzte seinen Weg fort. Er kam an weiteren Leichen vorbei, die das Gemetzel dort verstreut hatte, wie den Kragen, die Stiefel, die Krawatte, das Hemd eines Betrunkenen, der sich auszieht. Der aufgeweichte Grund machte das Kriechen auf allen
vieren immer beschwerlicher. Manchmal gleitet man wie auf Samt dahin, dann wieder scheint der Schlamm sich mit einem saugenden Ammenkuß an einen zu heen. Guillaume hielt an, wartete, und kroch wieder weiter. Er lebte aus allen Sinnen und Kräen. Er dachte weder an Henriette noch an Madame de Bormes, als das Bild der Prinzessin unversehens vor ihm auftauchte. Er hatte die von Minen zerfetzte Stelle des Grabens wiedererkannt, wo einige Tage zuvor die Angst sie plötzlich überfallen hatte. »Da haben wir noch einmal Glück gehabt«, sagte er sich. »Man hält den Abschnitt für viel zu ruhig. Die Prinzessin hatte eine feinere Nase als wir. Als hätte sie den Tod dieses Grabens gewittert.« Übereinandergestapelte Spanische Reiter und ein Gewirr von Stacheldraht versperrten ihm den Weg. Linksherum hätte man durch knietiefes Wasser waten müssen. Guillaume wandte sich nach rechts. Er betrat Festland und freute sich gerade über das völlige Fehlen der Leuchtraketen, als er wie angewurzelt stehenblieb. Ihm gegenüber, in geringem Abstand, war der Umriß einer feindlichen Patrouille zu erkennen. Diese Patrouille sah Guillaume und rührte sich nicht. Sie hielt sich für unsichtbar. Guillaumes Herz sprang im Takt, pochte mit dumpfen Schlägen wie das Pochen eines Bergarbeiters am Grunde eines Schachtes. Die Regungslosigkeit wurde ihm unerträglich. Er glaubte ein »Wer da?« zu vernehmen. »Fontenoy!« schrie er aus voller Kehle, und erhob so seinen Schwindel zu einem Feldgeschrei. Er nahm die Beine
unter den Arm, und aus spaßwütigem Übermut fügte er noch hinzu: »Guillaume II.« Guillaume flog, sprang, stob wie ein Hase davon. Da er nicht schießen hörte, blieb er stehen, außer Atem, wandte sich um. Da traf ihn ein gräßlicher Stoß wie von einem Stock vor die Brust. Er fiel um. Er wurde taub, blind. »Eine Kugel«, dachte er. »Ich bin verloren, wenn ich mich nicht totstelle.« Aber Wahn und Wirklichkeit waren nur noch eines in ihm. Guillaume omas war tot.
Der erste, der Guillaumes Tod in Paris erfuhr, war Pes-
quel-Duport, der in seiner Eigenscha als Organisator der Kantinen benachrichtigt wurde. Der Gute konnte es gar nicht glauben, trotz der Beweise. Er sah voraus, daß diese Nachricht wie ein Donnerschlag in der Avenue Montaigne wirken müsse. Er litt das Leid der Prinzessin mit. Was er sich nicht eingestand, oder doch nur halb eingestand, war die Tatsache, daß dieser Tod, so schrecklich er als Lösung war, nichtsdestoweniger eine Lösung bedeutete. Er setzte hinter dieses Abenteuer einen Schlußpunkt und gestattete ihm, das Geheimnis des erfabelten Fontenoy für sich zu behalten. Armer Guillaume, dachte er. Der falsche Onkel würde einen solchen Neffen gewiß nicht verleugnen. An der Nordfront gefallen, verdient er die Grabinschri des Kindes Septentrion: Tanzte zwei Tage und gefiel. Nun galt es, seiner Tante und den beiden Frauen die Nachricht beizubringen. Der Direktor, der den zweiten
Gang hinauszuzögern wünschte, jedoch nicht wollte, daß diese Unglücklichen das Unheil auf einem anderen Weg erführen, beschloß, Guillaumes Tante aufzusuchen und sich dann in die Avenue Montaigne zu begeben. Er hatte die Rechnung ohne Madame Valiche gemacht. Während er auf Montmartre seiner traurigen Pflicht genügte und Fräulein omas nach einem kurzen Schweigen folgenden Ausspruch tat, der den Ungläubigen erstaunte: »Ich danke Ihnen. Ich werde ihn bald wiedersehen. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier waren«, bog Madame Valiche eben von den Champs Elysées in die Avenue Montaigne ein. Sie hatte nichts von allem Vorgefallenen verwunden: weder den Ausflug in die Stellungen, noch das Sonderabteil, noch den Triumph der Prinzessin, noch den durch eine Laune Guillaumes gesprengten Krankenzug. Ihre Rache war am Werk, Dieser Vampir erfuhr jeden Todesfall, von Belgien bis zum Elsaß, vor allen anderen. Daß Guillaume gefallen war, wußte sie schon durch einen Bruder Gentils, einen Major in Zuydecôte, der in der Frühe auf Urlaub gekommen war. Er hatte ihr die Nachricht mit folgendem Kommentar übermittelt: »Ist ihm ganz recht geschehen, dem Windbeutel.« Und alsbald hatte sie sich aufgemacht, diese Neuigkeit Henriette und der Prinzessin brühwarm zu überbringen. Die beiden Frauen, die sich nicht allzu weit von ihrer Wohnung zu entfernen wagten, aus Furcht, sie könnten Guillaumes Antwort auf Henriettes Brief um eine Minute verfehlen, standen eben im Begriff, einige Besorgungen zu machen. Sie begegneten Madame Valiche im Vestibül. Ihre
ernste Miene erschreckte sie. Sie kehrten mit ihr in den Salon zurück. Madame Valiche verstand sich darauf, das Messer kunstgerecht zu schleudern. »Ich hab’ es kommen sehen«, sagte sie nur. Henriette war die erste, die das Unglück erriet. Sie stürzte sich auf Madame Valiche. Im Zeitraum von einer Sekunde hatte die Elende ihre Opfer erledigt. Als Pesquel-Duport den Salon betrat, kam er gerade noch zum Halali. Madame de Bormes und ihre Tochter stießen wilde Schreie aus, zerrissen ihre Kleider. Hochaufgereckt, ihnen gegenüber, stand Madame Valiche und schwelgte in erfundenen Details. Pesquel-Duport packte sie bei den Röcken. »Sie! ... Sie ...!« keuchte er, »Sie werden mir den Gefallen tun, zu verschwinden – und das schleunigst!« Er schüttelte sie, schleie sie zur Tür des Vestibüls. Am liebsten hätte er sie zermalmt. Er warf sie hinaus. Was machte ihr das schon aus? Madame Valiche rückte ihren Hut zurecht, lief eiligst die Treppe hinunter und stürzte nach Hause. Gentil hatte sich eben zu Tisch gesetzt und mit den Vorspeisen begonnen. »Gratulieren Sie mir«, rief sie noch auf der Schwelle. »Ich hab’ gesehn, was ich sehn wollte. Mutter und Tochter. Alle beide.« Endlich hoe sie ihn einmal aus der Fassung zu bringen, diesen Mann, den sie bewunderte, der sie ausnutzte und der wohl wußte, wie sehr eine gespielte Kaltblütigkeit die Hysteriker beeindruckt.
»Sitten der oberen Zehntausend«, bemerkte er achselzuckend und strich sich etwas Butter aufs Brot. Trunken vor Liebe und befriedigtem Haß, betrachtete Madame Valiche diesen Mann, der unerschütterlich dasaß und kaute. »Doktor«, stammelte sie, »Sie sind ein Gott.« »Es gibt keine Götter, Madame. Ich sehe die Dinge, wie sie sind; das ist alles.«
Mademoiselle de Bormes überstand die Folgen dieser Er-
schütterung nicht. Madame de Bormes brachte sie nach Auteuil in ein Sanatorium. Sie starb zwei Monate später an einer nervösen Krankheit, die nicht tödlich war. Was bedeutet, daß es ihr, trotz der sorgfältigsten Überwachung, gelang, Gi zu nehmen. Ihre Mutter wurde von heut auf morgen eine alte Frau. Sie sah niemanden; ihr einziger Umgang war PesquelDuport. »Heiraten wir doch«, sagte er. »Sie können nicht allein leben.« »Warten Sie noch etwas«, entgegnete die Prinzessin. »Jetzt sind Sie zu jung. Wir haben Pech mit unserem Alter. Aber eines Tages werden Sie mich eingeholt haben.«
Der Marinefriedhof in Nieuport, neben der Kirche, ist eine abgetriebene Brigg. In ihrer Mitte ragt ein gebrochener Mast.
Führt diese Brigg eine Ladung Opium mit sich? Ein tiefer Schlummer hält die Mannscha umfangen. Jedes Grab ist auf das zierlichste aufgeputzt mit Muscheln, Kieselsteinen, alten Feuerböcken, alten Geländern. Auf einem liest man den Namen von Jacques Roy. Jacques Roy ist innerhalb von vier Stunden auf der Verbandsstation von Nieuport gestorben, an einer Verwundung, die er sich in Saint-Georges zugezogen hatte, glücklich darüber, Pajot und Guillaume zu rächen, an deren Tod er sich die Schuld zuschrieb. Sein Kreuz trägt die übliche Inschri. Auf dem Kreuz daneben aber steht zu lesen: G.-T. DE FONTENOY Gefallen für uns
Cap Nègre
DAS PHANTOM VON MARSEILLE Aus dem Französischen übersetzt von Reinhard Schmidt
Seit vier Tagen lebte Achill als Frau verkleidet in der Wohnung der Frauen. Es handelt sich jedoch nicht, wie Sie vielleicht glauben könnten, um den Achill aus der Legende, und es ist keine griechische Sage, was Sie gerade vor Augen haben. Der Achill, von dem hier die Rede ist, war arabischer Abstammung, seine Mutter aber kam aus Marseille; er war zwanzig Jahre alt und sah aus wie fünfzehn. Er war schön, von einer weiblichen Schönheit, doch ohne weibisch zu wirken. Ich will damit sagen, sein bartloses Gesicht mit den scharfen Konturen, seine schmale Taille, seine feinen Gelenke gestatteten es diesem jungen Spaßvogel, mit aller Anmut und Pracht die Kleider einer Mode zu tragen, die der Frau ein jungenhaes Äußeres geben möchte; bei ihm allerdings verkehrte sich diese Mode wieder ins Weibliche und verlieh ihm einen unaussprechlichen Reiz, mehrdeutig schillernd und fabelha in des Wortes wahrster Bedeutung. Warum trug unser Achill Frauenkleider, Frauenstrümpfe und Schmuck? Und an welchem Ort trug er das denn? Der peinlichen Genauigkeit unseres Berichts zuliebe müssen wir gestehen, daß er sich versteckte, oder genauer: daß man ihn versteckte, ihn den Nachforschungen der Polizei entzog. Diese List hatte sich eine Frau namens Rachel ausgedacht, zum größten Vergnügen ihrer Gefährtinnen, und diese Gefährtinnen und diese Rachel, weit weniger bekleidet als unser Held, umgaben ihn mit ihrem Lachen und ihren Liebenswürdigkeiten in einem gehei-
men Zimmer eines sehr übel beleumundeten Hauses in Marseille. Kurz, Achill ließ, trotz seines jugendlichen Alters, zwei Mädchen für sich »anschaffen«. Die eine, Rachel, arbeitete im Haus, die andere, Marthe, auf der Canebière * und in den umliegenden Straßen. Rachel und Marthe liebten Achill, und Achill liebte sie beide. Er legte eben das Quentchen grausamer Gleichgültigkeit an den Tag, das es brauchte, um in diesem Milieu seinen Mann zu stehen, einem Milieu, in dem, von einigen rar gesäten Gelegenheiten abgesehen, Zärtlichkeit nicht gerade groß geschrieben wird. Dieser nette kleine Zirkel war reichlich naiv, was immer man auch unterstellen möchte; nicht wenige der in der »feinen Welt« gängigen Gepflogenheiten hätten dieses Dreiergespann aufs äußerste schockiert. Sie folgten einfach den Riten einer jahrhundertealten Tradition und dachten sich nichts Böses dabei. Das Unglück wollte es, daß Achill sich von Viktor, einem Kollegen, in eine weniger ehrbare Unternehmung hatte verwickeln lassen – einen Einbruch, um nichts zu verschweigen – und daß Rachel und ihre Gefährtinnen, als die Polizei nach Achill suchte, die Kühnheit besaßen, ihn als Frau zu verkleiden und unter ihre Truppe zu mischen. Durch seine Liebenswürdigkeit hatte Achill bald die Herrin des Hauses für sich eingenommen, und Madame wurde zur Komplizin dieses Schachzugs. Seit vier Tagen suchte man nun nach Achill, der sich, wie der Achill des Mythos, in Frauenkleidern bei den Frauen versteckt hielt. Doch leider haben auch die schönsten Dinge im Leben ein Ende. Madame erwartete eine Hausdurchsuchung, * [Anm. d. Übers.: Canebière: die Hauptstraße im Zentrum von Marseille.]
und trotz der heiklen und schlüpfrigen Umstände, denen er sich damit aussetzte, wurde beschlossen, daß unser Held das »Flamboyant« verlassen und bis auf weiteres sich in den dunklen Gassen herumtreiben sollte. Die ersten Schritte auf der Straße fand Achill recht vergnüglich. Unter der Verkleidung verwandelte sich seine Flucht in eine Karnevalsmaskerade, und der Spaß daran verschleierte ihm seine dramatische Lage. Das ging so weit, daß sich Achill, statt wie vereinbart im Schatten der engen Straßen um die Markthallen zu bleiben, gegen acht Uhr abends zuerst bis auf den Kai hinauswagte, wo die Boote liegen, die die Touristen zum Château d’ If bringen und von denen Musik aus Grammophonen dröhnt, und schließlich mitten auf die Canebière. Eben dort fiel ihm auf dem Gehsteig Marthe ins Auge, die ihre Runde machte. Er wollte, da er eine Szene fürchtete, ein Zusammentreffen tunlichst vermeiden und sprang schnell auf die Fahrbahn. Der verdutzte Blick eines Polizisten brachte ihm wieder in Erinnerung, daß die Beine, die er da unter den Arm nahm, wohl nicht ganz zu seiner derzeitigen Erscheinung paßten. Überhastet wollte er einen anderen Gang anschlagen, wich zurück, verzettelte sich in dem berühmten Marseiller Verkehrschaos und stolperte, von einer Limousine gestoßen, die ihn beinahe umgefahren hätte. Im Handumdrehen hatte sich eine gestikulierende Menschentraube um ihn gebildet, vom starken Arm des Fahrers des Wagens wurde er wieder auf die Beine gebracht, fortgezogen und auf die Polster neben einen seriösen Herrn mit gewichtiger Miene gesetzt, der mit der einen Hand dem Fahrer das Zeichen zum Losfahren gab und mit der anderen der Menge und dem Polizisten bedeutete, er werde sich um alles Weitere kümmern, der Zwischenfall sei
abgeschlossen, man könne wieder auseinandergehen und sich anderen Belustigungen zuwenden. Der Besitzer der Limousine hieß Fabre-Maréchol, nannte eines der größten Vermögen von Marseille sein eigen, stellte Olivenöl her (Marke Maréchol) und war gerade auf dem Heimweg von seinem Klub. Er hatte, so glaubte er, aus einem ganz natürlichen Reflex menschlicher Anteilnahme heraus gehandelt; während nun die riesige Limousine am Meeresufer entlang glitt und er von der Seite die vielversprechenden Gesichtszüge und Körperformen seines Opfers musterte, fragte er sich allmählich, ob dieser Reflex menschlicher Anteilnahme nicht eher ein Zeugnis unserer erstaunlichen Fähigkeit war, mit dem Glück in Berührung zu treten, das Wunder beim Schöpf zu ergreifen, das die Menschen alle heimlich ersehnen und auf das noch die Prosaischsten einen Anspruch erheben, selbst wenn sie glauben, sie hätten sich bereits abgefunden. Monsieur Fabre-Maréchol tätschelte Achill die Hände, erkundigte sich, ob er verletzt sei, ob er von seinem Sturz noch etwas spüre. Achill war nie um eine Antwort verlegen, wenn es eine Geschichte zu erfinden galt. Er spielte die Szene hinreißend. Er seufzte, schimpe sich eine dumme Gans, gab sich als ein armes Mädchen namens Lily aus, wandte den Kopf ab, sobald er von dem Sturz sprach, so daß dieser Sturz beinahe wie ein Selbstmordversuch erscheinen konnte; er wischte sich eine Träne aus dem Auge, sprach von seiner Einsamkeit und wie sehr ihm die Touren zuwider seien, mit denen man sich als junges Mädchen, ist die Familie einmal gestorben, in Marseille durchschlagen müßte, nur um zu überleben. Kurz, er rührte den guten Fabre-Maréchol so sehr, daß der brave Mann sich fragte – und er wagte kaum daran zu glauben –, ob ihn nicht gerade das Schicksal mit seinem Schneefinger antippte, ob das ge-
fühlshungrige Herz, das er unter dem Anzug eines Familienvaters und Industriellen verbarg, nicht endlich auf die Gelegenheit gestoßen war, sich freien Lauf zu lassen. Monsieur Fabre-Maréchol besaß eine Frau und drei unausstehliche Kinder, zwei Töchter und einen Sohn; er war einer dieser reizenden Männer, über die man sagt: Er ist ein Schafskopf, aber er hat eine Frau, einen Sohn und Töchter allererster Klasse. Im Augenblick hielten sich diese Personen allererster Klasse zur Sommerfrische in Pourville auf. Monsieur FabreMaréchol genoß sein Junggesellenleben, und wenn er an das kleine Appartement dachte, das er unbenutzt ließ und eines Tages, so hoe er, zur Verwirklichung eines Traums verwenden könnte, entrang sich ihm ein Seufzer. Irgendwelche flüchtigen Abenteuer hätten seine empfindsame Seele schockiert; er gab sich unbestimmten Träumereien hin, wartete ab, spann seine Wünsche fort und lebte in der Hoffnung ... als plötzlich, mit einem Schlag und wie durch die mysteriöse Kra eines Zauberstabs eine junge Frau in seinem Wagen saß, eine junge Vogelfrau, ein junges Gesicht, so zart, so blond und unbekannter Herkun wie Melisande. * Monsieur Fabre-Maréchol befand diese Eroberung für würdig, die Schwelle seines noch jungfräulichen Appartements zu überschreiten. Und so strandete Achill unversehens, anstatt gefahrvoll unter den Augen der Polizei herumzustreunen, inmitten eines luxuriösen Liebesnestes, das sich ein reicher Industrieller mit Hingabe geschaffen hatte, * [Anm. d. Übers.: Anspielung auf das Stück Palleas und Melisande des belgischen Schristellers Maurice Maeterlinck (–): Ein Prinz tri, als er sich in einem Wald verirrt, auf die schöne Melisande, deren Herkun im dunkeln liegt, und verliebt sich in sie. Claude Debussy (–) hat das Stück vertont.]
um hier einer Herzensgöttin zu huldigen und ihr das Leben zu versüßen. Achills Plan war von ergreifender Schlichtheit: »Wenn er mich anrührt«, überlegte er sich, »packe ich ihn am Schlafittchen, schlag ihn nieder, erleichtere ihn um seine Brieasche, und dann nichts wie weg!« Doch Monsieur Fabre-Maréchol sollte den Gang der Dinge in eine andere Richtung lenken. Angesichts des respektvollen Verhaltens des gut siebzigjährigen Mannes veränderten sich nach und nach Achills Pläne. Ursprünglich auf schnelles Handeln ausgerichtet, wurden sie nun langfristiger. Nach einigen Stunden war es bereits eine ausgemachte Sache, daß Lily hier einziehen sollte; sie sollte es sich gemütlich machen, die alte Concierge würde ihr immer das Essen herauringen, und es gälte nur noch die Minute abzuwarten, da Monsieur Fabre-Maréchol dank unermüdlicher Aufmerksamkeiten schließlich das Eis zum Schmelzen brächte, ein durchaus berechtigtes Schamgefühl besiegen könnte und seiner Leidenscha der heißersehnte Lohn zuteil werde. »Verstehen Sie«, sagte Achill, »Sie sind nicht so wie die ändern. Ich möcht’ Ihnen nicht Honig ums Maul schmieren und eine große Schau abziehen. Sie richten sich direkt an mein Herz ... und ich werde warten, bis mein Herz Antwort gibt ...« Man sieht, daß er mit den Leuten umzugehen verstand und längst nicht mehr, wie man so sagt, an Mamas Rockzipfel hing. Lassen Sie mich hinzufügen, und das ist nun ein starkes Stück, daß Monsieur Fabre-Maréchol, der in seinem Liebesrausch das größte Zutrauen gefaßt hatte, seine Angebetete fragte, ob sie nicht eine Bekannte wüßte, die ihr als Zimmermädchen zur Hand gehen könnte, und unser Held, der blindlings auf den Spuren der italienischen Opera
buffa wandelte, schlug augenblicklich Marthe vor und erreichte es auch, daß sie eingestellt wurde. Man kann sich wohl Marthes erstauntes Gesicht vorstellen, das unbezwingbare Lachen der beiden und das befremdliche Schauspiel, das der arme Industrielle hätte überraschen können, wäre er nicht peinlich darauf bedacht gewesen, nur nicht aufdringlich zu erscheinen; er bewies ein geradezu unglaubliches Taktgefühl bei der Wahl seiner Besuchszeiten. Dieser außergewöhnliche Zustand währte nun schon eine Weile. Das Pärchen verhätschelte sich. Marthe ging aus und hielt Rachel auf dem laufenden. Die Bemühungen der Polizei erlahmten allmählich. Monsieur Fabre-Maréchol machte sich Hoffnungen. Seit einer Woche fiel sogar ein leichter Schatten von Ungeduld auf seine Hoffnung, denn mit Sorge sah er den Tag, da die Seinen aus dem Urlaub zurückkehren würden, immer näher kommen, und er fürchtete, nicht zu Unrecht, die Verwicklungen, die ein Doppelleben mit sich brächte. Marthe spürte diese Ungeduld. Sogleich riet sie dem jungen Mann, die Zügel ein wenig schießen zu lassen, ein bißchen Entgegenkommen zu zeigen und beispielsweise vorzuschlagen, zusammen auszugehen; das würde der Eitelkeit des alten Mannes gewiß schmeicheln. Es war ein gefährliches Unterfangen, doch Achill wollte es wagen. Man sah sie zusammen, und man tratschte darüber. Im Klub blieben ihnen Fragen nicht erspart. Fabre-Maréchol wurde rot, schlug die Augen nieder, verteidigte sich lauwarm und steckte die Rippenstöße ein. Die Lage wurde so gespannt, so delikat, daß Marthe, nervöser als ihr Freund und auch klarer bei Verstand, dem ein Ende zu setzen beschloß, koste es, was es wolle. Eine Waffe mußte gekau werden (man kann ja nie wis-
sen), und nun, da Achill ein kleines Vermögen an Perlenschmuck besaß, mußte man das Risiko auf sich nehmen, das Ding, wie die Ganoven sich ausdrücken, hochgehen zu lassen, das heißt rasch und entschlossen zum Angriff übergehen, eines Nachts den armen Industriellen geknebelt und gefesselt allein inmitten der Ruinen seines Traums zurücklassen. Dieses Vorhaben drückte Achills Stimmung sehr. Es war angebracht, nun ein Ende zu setzen, das gab er ja zu, aber dieses Leben hier gefiel ihm nicht schlecht, und ein leises Unbehagen beschlich ihn bei dem Gedanken, wieder in ein anderes zurückzufallen, das durch erneute polizeiliche Verfolgungen beträchtlich erschwert werden würde. Für den letzten Akt wählte das Pärchen einen Abend, an dem Fabre-Maréchol voller Stolz seine Eroberung in eine Art Tanzbar ausführen wollte. Marthe sollte auf ihre Rückkehr warten, die Waffe in der Tasche ihrer Dienstmädchenschürze versteckt, gemeinsam würden sie über den hilflosen Alten herfallen, ihn fesseln und sich schleunigst aus dem Staub machen. Die Tanzbar schwirrte von dem Lärm der Leute. Niemand wagte an den geheimnisvollen kleinen Tisch heranzutreten, an dem Fabre-Maréchol seinen Triumph genoß. Achill gab sich keine Mühe mehr, seine Rolle gut zu spielen, und bot dem Publikum ein denkwürdiges Schauspiel. »Wenn ich Maréchol wäre, würde ich auf den Anstand der Kleinen da nicht allzuviel geben«, verkündete eine sehr schöne junge Person, die an einem Tisch thronte, an dem sich die großen Tiere der Stadt drängten. In der Tat legte Achill mit all seiner Schminke, seinen falschen Wimpern, seinen Federn und Rüschen immer ungehemmter ein gar nicht mädchenhaes Gebaren an den Tag. Er hörte das Orchester nicht mehr, sah die Lampen
nicht mehr, und die bunten Lichtkegel glitten an ihm ab. Auf seinem Herzen lastete eine unbestimmte Traurigkeit, ihm wurde nicht recht klar, wie sehr ein innerliches Aufbäumen gegen seine schändliche Undankbarkeit daran schuld war; er verfiel auf befremdliche Narrheiten, sah sich, wie er Maréchol mit sich fort in den Wagen zog, sich ihm zu Füßen warf, ihm alles beichtete und an sein gutes Herz appellierte, er möchte ihn in Zukun wie einen Sohn behandeln. Dann kamen ihm wieder andere Bilder in den Sinn: Er strich endlos urnher, die Hände in den Taschen einer kurzen Jacke. Er mußte vor der Polizei auf der Hut sein, sich in chinesischen Läden verstecken und immer warten und warten, bis er wieder hinausschlüpfen konnte, um die Rue de la Rose, die Rue Saint-Christophe entlang zu irren und über die trostlosen Hafendocks. Nein! Er würde Maréchol alles gestehen! Maréchol würde ihn sicher nicht verjagen, er wird verstehen und verzeihen ... er hat doch ein weiches Herz, eine gütige Seele ... Ein Ruck ging durch seinen Körper, und Achill fand sich in der Tanzbar wieder. Tänzer streien an ihm vorüber, Maréchol betrachtete ihn mit leicht betrunkenem Blick, hundert Augen waren forschend auf ihn gerichtet. »Gehen wir!« sagte er. Oben auf der Marmortreppe, die zur Eingangshalle hinabführte, passierte es dann; mit der erschreckenden Schalkhaigkeit eines Blitzes brach die Katastrophe herein. In seine Erinnerungen versunken, so wenig es nur ging in Einklang mit seiner Rolle als eleganter Dame, hatte sich Achill eben den Pelzmantel über die Schultern legen lassen, als er unten, an eines der auslaufenden Geländer der breiten Treppe gelehnt, in der Livree eines Hoteldieners Viktor, seinen Komplizen bei dem Einbruch, erkannte. Die folgenden Ereignisse, ich wiederhole es, spulten sich so
rasch ab, daß ich mich einer Art Zeitlupe bedienen muß, um sie Ihnen zu beschreiben. Nach einem Schrei: »Viktor!« und einem gellenden Pfiff, zu dem er, was sich denkbar kurios ausnahm, die dick beringten Finger zwischen seine purpurroten Lippen schob, schwang Achill ein Bein über das Marmorgeländer, und rittlings halb dem Rausch der Geschwindigkeit, halb bereits dem Tod ergeben, sauste er vor den weitgeöffneten Mündern des Oberkellners und Fabre-Maréchols nach unten. Der arme Junge wurde das Opfer einer Lausbubenangewohnheit, wurde mitten in seinen Träumen und seinen Kleidern erfaßt, mit etwaigen Hindernissen hatte er nicht gerechnet. Was war genau geschehen? Man horte einen Schrei, und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, hatte sich diese himmlische Rutschpartie in etwas Schreckliches, Schicksalhaes, Unbewegliches, etwas Rotes und Blasses, Unwiderrufliches, dem feierlichen Schweigen der Ruinen Geweihtes verwandelt. Die Menge stürzte herbei. Stufe für Stufe, mit schief hängenden Augengläsern und starrem Blick stieg Fabre-Maréchol hinab zu der Vogelscheuche aus Hahnenfedern und Rüschen, einem kleinen, platt gedrückten, auf dem Boden zerschmetterten Geschöpf, über dessen Geschlecht, nachdem der Tod eine fatale Unordnung angerichtet hatte, kein Zweifel mehr bestehen konnte. Schnell wurde eine weiße Decke über den Leichnam gebreitet, doch jeder hatte genügend Zeit gehabt, sich an dem Schauspiel zu weiden, wie die Augen des Industriellen sich auf die sittenwidrige Enthüllung heeten. Und da sich jeder, wie nicht anders zu erwarten, über den wahren Grund dieser Hypnose täuschte, ließ es die leichtfertige Menge nicht an sarkastischen Kommentaren fehlen. Spöttisches Getuschel tönte Maréchol also nach, als er wankend, aber
noch respektiert von der Polizei, seinen Wagen suchte. Das Gerede wurde um so hämischer, man kann es sich leicht vorstellen, als der Beklagenswerte auch noch Viktor mit sich zog, den einzigen Bindestrich zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, eine seltsame Antigone im Kostüm eines Hoteldieners. Im Wagen plapperte Viktor ununterbrochen, während Maréchols Kopf wie von einem Fallbeil getroffen auf die Brust herabkippte. »Machen Sie sich nichts draus«, erklärte dieser Optimist. »Es gibt auch noch andere als den armen Achill auf der Welt. Sie werden sich schon trösten. Ich zum Beispiel, sag ich Ihnen, schau vielleicht gar nicht danach aus, aber ich brauch mich nur wie eine Frau anziehen, und Marlene Dietrich kann heimgehen, das dürfen Sie mir glauben!« Sie waren angekommen, stiegen die Treppe hinauf, läuteten. Auf dieses Klingeln hatte Marthe, der bald die Nerven durchgingen, die ganze Zeit gelauert. Wie sie den Mund aufmachen wollte ... »Vergiß es«, erklärte Viktor. »Gib dir keine Mühe, Monsieur weiß alles.« Monsieur wußte gar nichts, verstand überhaupt nichts. Seit einer Stunde lebte er in einer Welt unter einem Unglücksstern, einer verkehrten Welt, in der die kleinsten Zeichen keine Bedeutung mehr erkennen lassen, in der das vor Abscheu umgestülpte Herz sich fragt, wie es noch schlagen kann. Zusammengebrochen, wie von einer Welle des Unheils in den Sessel geworfen, ließ er stumpfsinnig seinen Blick von Viktor zu Marthe, zu den Möbeln, zu der liebevoll ausgewählten Einrichtung wandern; von der vagen Hoffnung, hier glückliche Stunden zu verleben, blieb nur ein leerer Spuk zurück. Eine dicke Träne kullerte ihm über die Nase, verfing sich
in den Haaren seines grauen Schnurrbarts, zögerte, ehe sie über den Bart weiterlief. Marthe sah diese Träne und wurde von ihr getäuscht. Viktor hatte sie soeben aufgeklärt. »Oh, diese Schweine!« schrie sie, »sie haben unter einer Decke gesteckt!« Sie griff zum Revolver, zielte und drückte ab. Der Skandal, den der Prozeß verursacht hat, ist allgemein bekannt, auch, wie die Zeitungen die Einzelheiten der Verhandlung verschwiegen. Beim Verhör durch den Untersuchungsrichter sagte Marthe, freilich sollte sie ihre Tat bedauern, da Monsieur Maréchol ja ein anständiger Kerl war, und sie hätte es falsch verstanden, warum er weinte, aber eigentlich würde sie gar nichts bedauern, denn ohne Achill könnte sie nicht leben, und der arme Monsieur hätte so auch nicht leben können, »weil der war halt in ein Phantom verliebt«.
NACHWORT omas der Schwindler (omas l’imposteur) ist im Oktober , etwa drei Monate, nachdem Cocteau seinen ersten Roman Die große Klu abgeschlossen hatte, in Pramousquier an der Côte d’Azur entstanden. Wie er mit der Großen Klu auf die Arbeit Raymond Radiguets an Le Diable au corps antwortete, so will er auch mit omas dem Schwindler es wieder seinem Freund gleichtun, der seinen zweiten Roman Le Bai du comte d’ Orgel bereits begonnen hat (zu Radiguets Einfluß auf Cocteau s. Die Schwierigkeit, zu sein sowie das Nachwort zu »Erzählende Prosa I«). Hatte zu der Großen Klu eine mißglückte Liebscha seiner Jugendzeit den Stoff geliefert, grei er jetzt seine Erlebnisse des Ersten Weltkriegs auf. Die Grundidee der »Schwindelei« beruht auf einer Anekdote, die in der Zeitschri Le Mot veröffentlicht wurde und vermutlich aus Cocteaus eigener Feder stammt: Ein junger Soldat names Raoul omas aus Castelnau – Cocteau hat ihn offenbar persönlich gekannt – gibt sich als der Neffe des Generals de Castelnau aus, und es gelingt ihm, alle Welt zum Narren zu halten. Diese Geschichte vermengt der Roman mit des Autors eigenen Erinnerungen an die Jahre –. Aus Gesundheitsgründen war Cocteau vom Kriegsdienst freigestellt und hätte somit in keiner Weise am Kriegsgeschehen teilnehmen müssen. Doch wie viele andere Pariser Künstler und Intellektuelle brannte er danach, in den Krieg zu ziehen, Frankreich gegen den deutschen Angriff zu verteidigen. Diesen Wunsch entfachten wohl die aufgeheizte nationalistische Stimmung, die jeden jungen Mann ohne Uniform oder beweiskräigen Verband in Paris scheelen Blicken aussetzte, und obendrein eine Abenteuerlust, die sich den Krieg als eine aufregende Unterbrechung des mondänen Pariser Gesellschaslebens ausmalte. Bald auch bot sich ihm eine Gelegenheit. Eine seiner Bekannten, Misia
Edwards, organisierte einen privaten Sanitätskonvoi an die Front, der die Verwundeten nach Paris ins Krankenhaus bringen sollte. Misia Edwards, die man später vor allem unter dem Namen ihres dritten Ehemannes Sert kennt, war eine wohlbegüterte Frau, verkehrte in den besten gesellschalichen und künstlerischen Kreisen und besaß dort beträchtlichen Einfluß. Cocteau, frisch vom Schneider als eleganter Hilfssanitäter eingekleidet, war also mit von der Partie. Während einer dieser nicht ungefährlichen Unternehmungen erlebte er den Bombenangriff auf Reims, den er in seiner Geschichte schildert. Zwischen diesen Exkursionen hält er sich in Paris auf; mit Paul Iribe gibt er das Luxusblatt Le Mot heraus, das sich im künstlerischen Gewand der allgemein herrschenden nationalistischen Propaganda anschließt, die Greueltaten der Deutschen zeichnerisch anprangert und den Heroismus der französischen Nation lyrisch befördern will; Nummern dieser Zeitschri sind von November bis Juli erschienen. Cocteau macht die Bekanntscha des Flugpioniers und Kampffliegers Roland Garros und darf ihn auf einigen seiner Flüge begleiten. Diese Flugerlebnisse halten in Bilder- und Gedankenfetzen die Gedichte von Le Cap de Bonne Espérance (Das Kap der Guten Hoffnung) fest, an denen er während des Kriegs schreibt; der Band ist Garros gewidmet, der im letzten Kriegsjahr bei einem Einsatz ums Leben kommt. Als Cocteau einen neuen Versuch unternimmt, sich offiziell für den Kriegsdienst zu melden, wird er wiederum für untauglich erklärt und dem Hilfsdienst zugeordnet. Ende des Jahres bricht er mit einem Sanitätskonvoi an die belgische Front auf, nach Nieuport-Coxyde; dies ist der »Abschnitt «, von dem er in den bis verfaßten Gedichten des Discours du grand sommeil (Rede vom großen Schlaf) spricht. omas der Schwindler zeichnet eindringlich das Labyrinth der Schützengräben nach, das dieses Dünengebiet durchfurcht. Cocteau scheint sich, nach anfänglichen Reibereien, in der verschworenen Männergesellscha der Marinefüsiliere sehr wohl gefühlt zu haben, dort im Stellungskrieg fast am Ufer der Nordsee. Stets hat er ein zärtliches Andenken daran bewahrt. Zwischendurch erhalt er immer
wieder die Möglichkeit, nach Paris zu fahren; er verkehrt in den Künstlerkreisen von Montmartre, schmiedet Pläne für ein Ballettspektakel, das er mit Pablo Picasso und dem Komponisten Erik Satie auf die Beine stellen will. Im Juni wird er von Nieuport-Coxyde nach Amiens und an die Somme-Front abberufen; dort tobt der Krieg weit heiger als in dem belgischen Abschnitt. Ende Juli kehrt er auf Urlaub nach Paris zurück und entscheidet sich nun dafür, nicht länger am Krieg teilzunehmen; da er sich als Freiwilliger verpflichtet hatte, erreicht er es auch rasch, sich von seinen Sanitäteraufgaben offiziell entbinden zu lassen. Er widmet sich forthin voll und ganz seinen künstlerischen Bestrebungen, d. h. in erster Linie dem Ballettprojekt Parade (s. hierzu das Nachwort in »eater I«). Was hat ihn dazu veranlaßt, dem Krieg den Rücken zu kehren? In Opium schreibt er gut zehn Jahre später, in Nieuport sei ihm eines Abends klar geworden, daß er den Krieg als Amüsement betrachtete; das habe ihn bewogen, sich schleunigst aus ihm zurückzuziehen. Auch in seinem Brief an Jacques Maritain von (s. den Band »Kritische Poesie I« dieser Ausgabe) übt er Selbstkritik, wenn er ein »Verbrechen an Leichtfertigkeit« eingesteht, »das ich um ein Haar begangen hätte: die Liebe zum Krieg«; als Indizien dieser Leichtfertigkeit verweist er auf Discours du grand sommeil und auf omas den Schwindler. Nicht, daß er in omas dem Schwindler die Schrecken des Kriegs beschönigt oder sie rundweg, im Stil der Futuristen, als großartiges Schauspiel angesehen hätte. Er führt mit seinem Helden eine Haltung vor, die den Krieg nicht ernst nimmt, ihn als abenteuerliches Spiel auflaßt und deshalb in den Tod mündet. Der Autor seinerseits handelt allerdings insofern »leichtfertig«, wie er es nennt, ästhetisiert das Kriegsgeschehen, als er diese Einstellung zwar falsch, aber bewundernswert findet und den Untergang des Helden zum fleischgewordenen poetischen Traum verklärt. Diese Ästhetisierung ist Cocteau später also selber ein wenig aufgestoßen, angesichts des Kriegs empfand er sie offenkundig als unangemessen. Genau dasselbe poetische Konzept hat er jedoch weiterhin, und bis zu seinem Lebensende, verfochten, nur eben nicht mehr
mit dem Krieg als Hintergrund. Aus Wunschgebilden, die, ohne eine Konfrontation mit der Wirklichkeit zuzulassen, sich gegen sie abschotten und blindlings sich an die Stelle der Realität zu setzen versuchen, keimt für ihn alle Dichtung; lebt man ihnen, flammt kurz ein dunkel glänzender Funke in der prosaischen Welt auf. Der Wunsch, der in ihnen zum Durchbruch gelangen will, ist ein Liebesstreben, unter dem sich unweigerlich die Leere des Grabes auut, weil es sich über alle Wirklichkeit hinwegsetzt: Tod und Liebe gehen ihre romantische Verschränkung ein, wenn die Cocteauschen Helden im Sog ihrer Scheinwelt verschwinden. Fast alle sind sie »Schwindler« wie der omas aus Fontenoy, sie verformen die Wirklichkeit nach ihrem Belieben. Aber in Wahrheit »schwindeln« sie gar nicht, dazu fehlt ihnen jede Distanz zu ihrem Begehren, dem sie kopfüber nachstürzen; sie sind eins mit ihrer »Lüge«, verwandeln sich in Phantomgestalten ihrer Wünsche und schließen sich so von der Wirklichkeit aus. Diese Ablehnung jeder vermittelnden Haltung, dieses Aufgehen in der Illusion meint Cocteau, wenn er nicht müde wird, die Unschuld und Reinheit seiner Protagonisten zu beteuern. Solche Unschuld hat der Dichter verloren; er durchschaut den Schein als solchen. Doch wie seine Gestalten sucht er in ihm sein Heil. Er weiß, überließe man sich ihm tatsächlich, führte dies zur Vernichtung der wirklichen Existenz, in den Tod; nur die Spielwiese der Kunst gewährt die Freiheit, sich ihm rückhaltlos zu ergeben. Im Reich der Dichtung eröffneten sich nun unendliche Möglichkeiten, eine erfundene Welt auszumalen; Cocteau indes ist gerade daran gelegen, den Tatbestand der Täuschung selbst, die Klu zwischen poetischem Zauber und Wirklichkeit lockend vor Augen zu führen: Stets deutet seine Dichtung auf ihr eigenes scheinhaes Wesen. Dies könnte man den Realismus der Cocteauschen Ästhetik nennen. Freilich, wenn der »Schwindel« in der Katastrophe auffliegt, soll das nur seine tragische Größe zementieren. Die kurze Erzählung Das Phantom von Marseille (Le Fantôme de Marseille) treibt mit der Sexualität ihr doppeltes Spiel. Die unbeschwerte Unmoral des Helden, die ihm überdies seine Lebens-
verhältnisse nahelegen, läßt ihn kaum weniger reinen Herzens erscheinen als omas de Fontenoy oder Jacques Forestier in der Großen Klu . Er folgt der Faszination der Komödie, wenn er sich der Vorspiegelung falscher Tatsachen verschreibt. Er verhält sich naiv dabei; wie der alte Industrielle wird er vom Strom seiner Wünsche fortgespült. An seinem Tod trägt ein Mangel an berechnendem Denken, eine spontane Geste die Schuld. Der Industrielle, für seinen Teil, fällt doppelt dem Schein zum Opfer: Erst blendeten ihn die strahlenden Farben eines lang ersehnten Traums, und schließlich ereilt ihn der Tod nur aufgrund eines Mißverständnisses, einer falschen Interpretation der Tränen, die er über sein Unglück vergießt. In omas dem Schwindler geht es in rasanter Fahrt der Apotheose entgegen; den poetischen Strahlenkranz des Helden erzeugt eine Sprache ohne Pathos, ungekünstelt und durchsichtig. Er habe sich bemüht, »mit einem Mal das Komische und das Schmerzliche zu durchdringen«, notiert er in seinem Artikel Zu omas dem Schwindler (s. »Kritische Poesie I«), der Leser solle den Eindruck einer »weißen lebhaen Schärfe« zurückbehalten. Der Ton des Phantoms von Marseille ist verspielter, aber ebenso rasch und leichtfüßig führt der Text zum jähen Erwachen. Aus dem schillernden Wechselspiel von Sein und Schein tritt die flüchtige Erscheinung eines Phantoms hervor, die vollkommen Cocteaus Ideal der Schönheit verkörpert: faszinierende Ausgeburt sexueller Wünsche, eine tänzelnde, wie instinktive Eleganz, die immer zu weit geht, glänzende, jedoch trügerische Behauptung eines Scheins, und darum tragisch. Das Androgyne, die verwirrende Mischung der Geschlechter hat Cocteau stark angezogen. Auch in Kinder der Nacht etwa liegt solcher Reiz in der Lu, wenn das Bild des geliebten Mitschülers die Züge seines weiblichen Doppelgängers überlagern. hat Cocteau in seinem Aufsatz Barbette (s. »Kritische Poesie I«) die Verwandlungskünste des Transvestiten und Trapezakrobaten Barbette als vollendetes Muster ästhetischer Schöpfung gefeiert. Neben des Autors damaligem Freund, dem zwanzigjährigen Marcel Khill, mag Barbette denn auch zu einem gewissen Teil als Vorbild des Achill gedient haben. Unter dem Titel Deux Travestis
(Zwei Transvestiten) veröffentlichte Cocteau Das Phantom von Marseille zusammen mit dem Aufsatz über Barbette. Ursprünglich ist die Erzählung im November in der Nouvelle Revue Française erschienen. Es klingt in diesem Text auch die Erinnerung an ein ziemlich verschleiertes Kapitel seiner Jugend nach. Mit fünfzehn Jahren ist er von zu Hause ausgerissen und hat sich nach Marseille durchgeschlagen. Dort will er im chinesisch-vietnamesischen Viertel mit seinen Bordells und Opiumspelunken Unterschlupf gefunden haben; er sei hier das erste Mal hautnah mit allen Facetten des Lebens in Berührung gekommen. Wie lange dieses Abenteuer dauerte, ist ungeklärt. Cocteau hat kurz vor seinem Tod einmal von einem Jahr gesprochen. Doch hätte solch ein langes Verschwinden nicht größeres Aufsehen erregen und damit größere Spuren in seiner Biographie hinterlassen müssen? Später hat Cocteau Das Phantom von Marseille zu einem Solo für Edith Piaf umgearbeitet: Sie steht, des Mordes angeklagt, vor dem Untersuchungsrichter und erzählt ihm den Hergang der tragischen Verwechslungen. Man findet diese Fassung in der unter dem Titel éâtre de poche (Taschentheater) erschienenen Textsammlung. omas der Schwindler wurde von Georges Franju verfilmt. Reinhard Schmidt
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
Erstausgaben und Übersetzungen der Werke dieses Bandes: – omas l’imposteur, Paris: Gallimard, . deutsche Übersetzung: omas der Schwindler, aus dem Französischen von Friedhelm Kemp; erstmals München/Wien/Basel: Desch, . – Le Fantôme de Marseille, in: La Nouvelle Revue Française, November , Paris: Gallimard. (Auch erschienen in: Jean Cocteau, Oeuvres complètes, t. I, Lausanne: Marguerat, , sowie in: Jean Cocteau, Deux Travestis, Paris: Fournier, .)
Ausgewählte Literatur: Zur Biographie: – Frederick Brown: An Impersonation of Angels, New York, . Deutsche Übersetzung: Ein Skandal fürs Leben, Bern/München, . – André Fraigneau: Cocteau par lui-même, Paris, . Deutsche Übersetzung: Jean Cocteau in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek, . – Jean-Jacques Kihm / Elizabeth Sprigge / Henri C. Béhar: Jean Cocteau. L’homme et les miroirs, Paris, . Deutsche Übersetzung: Jean Cocteau. Sein Leben – ein Meisterwerk, bearbeitet von Friedrich Hagen, München / Wien / Basel, . – Francis Steegmuller: Cocteau. A Biography, Boston/Toronto, . Französische Übersetzung: Cocteau, Paris, .
Zum Werk: – David Bancro: e Poetic Wonderland of Cocteau’s »omas l’imposteur«, In: Australian Journal of French Studies, , ; S. –. – Jean Bérand-Villars: Sur »omas l’imposteur«. In: La Table Ronde, no , Oktober ; S. –. – Günter Blöcker: Jean Cocteau: »omas der Schwindler«. In: ders.: Kritisches Lesebuch. Literatur unserer Zeit in Probe und Bericht, Hamburg ; S. –. – Jacques Brosse: Cocteau, Paris, . – Pierre Chanel: Sur »omas l’imposteur«. In: Cahiers Jean Cocteau no , Paris, ; S. –. – Jean Cocteau: Entretiens avec André Fraigneau, Paris, . – Lydia Crowson: e Esthetic of Jean Cocteau, New Hampshire, – Serge Dieudonné: Le poete imposteur. In: Cahiers Jean Cocteau no : Le Romancier, Paris, ; S. –. – Henri Godard: Un romancier pressé. In: Magazine litteraire, no , Oktober (Dossier Jean Cocteau); S. –. – Milorad: Romans jumeaux ou de l’imitation. In: Cahiers Jean Cocteau no : Le Romancier; Paris, ; S. –. – Gérard Mourgue: Constantes de »omas l’imposteur«. In: La Table Ronde, no , Oktober ; S. –. – Gérard Mourgue: Cocteau, Paris, .
Weitere Literatur zu Cocteau findet sich in der Bibliographie des Bandes »Kritische Poesie IV« dieser Ausgabe.
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Titelbild: aus Deux Travestis, Paris: Fournier, . S. Le destin (Das Schicksal), aus omas l’imposteur, vom Autor illustrierte Ausgabe, Paris: N. R. F., . S. Le voyageur dans les glaces (Die Reise übers Eis bzw. durch die Spiegel; Selbstporträt), aus Dessins, Paris: Stock, S. aus omas der Schwindler, München/Wien/Basel: Desch, . S. Le mauvais lieu X (An einem verrufenen Ort), aus Dessins, S. aus omas der Schwindler, . S. aus Maison de santé, Paris: Briant-Robert, . S. Jean Cocteau an der belgischen Front (der technische Dienst beim Militär heißt in Frankreich »génie«). S. aus omas der Schwindler, . S. aus omas l’imposteur, . S. aus omas l’imposteur, . S. La lampe de poche (Die Taschenlampe), aus omas l’imposteur, . S. aus omas l’imposteur, . S. Le faux marin (Der falsche Marinesoldat), aus omas l’imposteur, . S. aus omas der Schwindler, . S. Le mauvais lieu XI, aus Dessins, . S. Le mauvais lieu I, aus Dessins, . S. Jean Cocteau an der belgischen Front. Alle Zeichnungen von Jean Cocteau.
EINE ÜBERSICHT ÜBER LEBEN UND WERK
am . Juli in Maisons-Laffitte nahe Paris als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren. . April: Jeans Vater begeht aus ungeklärten Gründen Selbstmord. – Schulbesuch in Paris. gibt nach dem dritten erfolglosen Versuch, die Reifeprüfung zu bestehen, seine Schulausbildung auf. erste Lesung seiner Gedichte; beginnt am mondänen Pariser Gesellschasleben teilzunehmen, verkehrt u. a. mit Marcel Proust, Anna de Noailles, Reynaldo Hahn. erste Buchveröffentlichung: der Gedichtband La Lampe d’ Aladin. Mitbegründer der luxuriösen literarischen Zeitschri Schéhérazade. Lernt den Leiter des Russischen Balletts, Serge Diaghilew, kennen. Gedichtband Le Prince frivole. Zeichnungen für das Russische Ballett; macht die Bekanntscha Igor Strawinskys. Aufführung seines Balletts Le Dieu bleu. Gedichtband La Danse de Sophocle. künstlerische Neuorientierung; distanziert sich von seiner gesamten bisherigen Arbeit und wird fortan die Liste seiner Werke mit dem in diesem Jahr entstehenden Prosawerk Le Potomak beginnen lassen. Erster Weltkrieg; vom Kriegsdienst zurückgestellt, zeitweise als freiwilliger Ambulanzhelfer an der Front. Mitbegründer der Zeitschri Le Mot. schreibt an Gedichten zu Le Cap de Bonne Espérance und Discours du grand sommeil (Rede vom großen Schlaf). Pflegt den Umgang mit den Künstlern von Mont-
martre und Montparnasse, mit Max Jacob, Picasso, Cendrars, Apollinaire, Erik Satie. Gegen Ende des Jahres erneut als Ambulanzhelfer in Nieuport. läßt sich endgültig ausmustern. Arbeitet mit Satie und Picasso an dem Ballett Parade. mit Picasso und Strawinsky in Rom, wo Diaghilew Parade vorbereitet. Mai: Uraufführung von Parade in Paris. veröffentlicht das musik- und kunsttheoretische Manifest Le Coq et l’ Arlequin (Hahn und Harlekin). lernt den erst sechzehnjährigen Dichter Raymond Radiguet kennen, der bald sein engster Freund wird. Artikelserie Carte Blanche über die Pariser Künstlerszene. Le Cap de Bonne Espérance, Ode à Picasso und Le Potomak erscheinen. Uraufführung des Mimodrams Le Bœuf sur le toit (Der Ochs auf dem Dach). Gründet mit Radiguet die Zeitschri Le Coq, veröffentlicht Poésies –. Uraufführung von Les Mariés de la tour Eiffel (Die Hochzeit auf dem Eiffelturm). langer Aufenthalt in Le Lavandou und Pramousquier an der Côte d’ Azur mit Radiguet; schreibt hier Le Grand Ecart (Die große Klu), omas l’imposteur (omas der Schwindler) und Plain-Chant (Choral). Der Gedichtband Vocabulaire (Wortschatz) und der Essay Le Secret professionnel (Das Berufsgeheimnis) erscheinen. Dezember: Uraufführung von Antigone. Rede D’ un ordre considéré comme une anarchie. . Dezember: Raymond Radiguet stirbt an Typhus, Le Grand Ecart, omas l’imposteur und Plain-Chant erscheinen. Uraufführung seiner Shakespeare-Bearbeitung Romeo et Juliette und des Balletts Le Train bleu. Versammelt die meisten seiner bisherigen Gedichte in Poésie (–). Massiver, regelmäßiger Opiumgenuß. Der katholische Religionsphilosoph Jacques Maritain führt ihn vorübergehend in die Arme der Kirche.
Entziehungskur auf Drängen Maritains. Sommer: in Villefranche an der Côte d’ Azur Arbeit an Gedichten zu Opéra, an den Stücken Oedipe-Roi (König Ödipus) und Orphée sowie an Lettre à Jacques Maritain (Brief an J. Maritain). Veröffentlicht das Gedicht L’ Ange Heurtebise (Der Engel Heurtebise). Premiere von Orphée, Es erscheinen Le Rappel à l’ ordre mit großteils bereits publizierten essayistischen Texten, die Zeichnungen Maison de santé und Lettre à Jacques Maritain, das seinen Bruch mit dem offiziellen Katholizismus einleitet. befreundet sich mit dem jungen Schristeller Jean Desbordes. Strawinskys Oratorium Oedipus Rex wird mit Cocteaus ins Lateinische übersetztem Text uraufgeführt. Opéra. Œuvres poétiques (–). Dezember: schreibt Le Livre blanc (Das Weißbuch). veröffentlicht Le Mystère laïc (Das weltliche Geheimnis) und, anonym, Le Livre blanc. Im Dezember: erneute Entziehungskur, während der er Les Enfants terribles (Kinder der Nacht) und Opium. Journal d’une désintoxication (Tagebuch einer Entziehungskur) verfaßt. verläßt im März die Klinik. Veröffentlichung von Les Enfants terribles. Uraufführung von La Voix humaine (Die geliebte Stimme). Dreht den Film Le Sang d’un poète (Das Blut eines Dichters). Opium wird veröffentlicht. erkrankt im Sommer in Toulon an Typhus. erste Vorführung von Le Sang d’un poète; schreibt La Machine infernale (Die Höllenmaschine). Es erscheint Essai de critique indirecte (Versuche), das Le Mystère laïc und Des Beaux Arts considérés comme un assassinat (Die Schonen Künste als ein Mord betrachtet) enthält. Le Fantôme de Marseille. Im Dezember Entziehungskur. Trennung von Jean Desbordes. Uraufführung von La Machine infernale.
Die Erinnerungsskizzen Portraits-Souvenir (Die Farben der Erinnerung) erscheinen in der Zeitung Le Figaro. Weltreise mit seinem Freund Marcel Khill, um Jules Vernes Reise um die Welt in Tagen zu verwirklichen; die Reportagen erscheinen in der Zeitung Paris-Soir. lernt Jean Marais kennen, mit dem ihn eine lebenslängliche Freundscha verbinden wird. Uraufführung von Les Chevaliers de la Table Ronde (Die Ritter von der Tafelrunde). Uraufführung von Les Parents terribles, das in Paris kurzzeitig als sittenwidrig von den öffentlichen Bühnen verbannt wird. schreibt La Fin du Potomak. Uraufführung von Les Monstres sacrés. Zieht sich, als die deutschen Truppen in Paris einmarschieren, nach Perpignan zurück. Neuerliche Entziehungskur. Im Herbst Rückkehr in das besetzte Paris. Uraufführung von La Machine à écrire (Die Schreibmaschine). Heige Angriffe der rechten Presse. Schreibt das Versdrama Renaud et Armide; veröffentlicht die Gedichte Allégories. Sein Artikel Salut à Breker anläßlich einer Pariser Ausstellung des im Dritten Reich hochgeschätzten Bildhauers Arno Breker ru einige Empörung hervor. Setzt sich vor Gericht für den angeklagten Schristeller Jean Genet ein. . Januar. Tod seiner Mutter. Uraufführung von Renaud et Armide. Drehbuch zu dem Film L’ Eternel Retour von Jean Delannoy. Essay Le Mythe du Greco. Sein alter Freund Max Jacob stirbt, von den Nazis deportiert. Jean Desbordes wird der Untergrundtätigkeit bezichtigt und von der Gestapo zu Tode gefoltert. dreht den Film La Belle et la Bête (Die Schöne und das Tier). Schreibt die Dialoge zu dem Film Les Dames du Bois de Boulogne von Robert Bresson. Das lange Gedicht Léone erscheint.
Uraufführung von L’ Aigle à deux têtes (Der Doppeladler) und des Balletts Le Jeune Homme et la Mort; das Gedicht La Crucifixion und La Belle et la Bête. Journal d’un film erscheinen. Roberto Rossellini verfilmt La Voix humaine, Cocteau selbst L’ Aigle à deux têtes. Essayband La Difficulté d’être (Die Schwierigkeit, zu sein). Lernt Edouard Dermit kennen, den er später zu seinem Adoptivsohn machen wird. Erwirbt mit Jean Marais ein Haus in Milly-laForêt. verfilmt Les Parents terribles. Ende Dezember in New York. Essay Lettre aux Américains (Brief an die Amerikaner). Frühjahr: begleitet eine eatertruppe auf einer Tournee durch den Nahen Osten, er erzählt diese Reise in Maalesh. Dreht im Herbst Orphée. Wird zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, éâtre de poche (Taschentheater) erscheint. Jean-Pierre Melville verfilmt Les Enfants terribles. Uraufführung des Balletts Phèdre. Sein Film Orphée erhält in Venedig den internationalen Kritikerpreis. Präsident der Autoren- und Komponistengewerkscha. Uraufführung des Stücks Bacchus. Entretiens autour du cinématographe (Gespräche über den Film) und Jean Marais. in München erste umfassende Ausstellung des graphischen und malerischen Werks; kurze Aufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland. Gedichtband Le Chiffre sept. Uraufführung des Balletts La Dame à la licorne in München. Vorsitzender der Jury des internationalen Filmfestivals in Cannes. Erste Reise nach Spanien, das er in den kommenden Jahren mehrmals besuchen wird. Démarche d’un poète (Der Lebensweg eines Dichters). Gedichtband Appogiatures und Essayband Journal d’un inconnu (Tagebuch eines Unbekannten).
. Juni: Herzinfarkt. Gedichtband Clair-obscur. Aufnahme in die Academie royale de langue et de litterature française de Belgique und in die Académie française. Dekoration der Kapelle Saint-Pierre in Villefranche. Ehrendoktor der Universität Oxford. Ehrenmitglied des New Yorker Institute of Arts and Leiters. Wandmalereien im Trausaal des Rathauses von Menton. Veröffentlicht die spanischen Impressionen La Corrida du er mai. Ausstellung seiner Töpfereien. Reden Discours sur la poésie und Les Armes secrètes de la France. Gedichtband Paraprosodies. Blutsturz; schreibt, ans Krankenbett gefesselt, an den Gedichten zu Le Requiem. Uraufführung des Mimodrams Le Poète et sa muse. Dreharbeiten zu seinem letzten Film Le Testament d’Orphée. Le Testament d’ Orphée läu in den Kinos an. Wird zum »Prince des poètes«, zum »Dichterfürsten« gewählt. Ausstellung des graphischen und malerischen Werks in Nancy. Kommandeur der Ehrenlegion. Gedichtband Cérémonial espagnol du Phénix suivi de La Partie d’échecs. Uraufführung von L’ Impromptu du Palais-Royal in Tokio. Der autobiographische Essay Le Cordon ombilical und Le Requiem erscheinen. . April: Herzanfall. Zieht sich in sein Haus nach Milly zurück; dort stirbt er am . Oktober.
Für weitere Informationen zu Leben und Werk sei auf den Band »Erzählende Prosa I« dieser Ausgabe verwiesen. Eine ausführliche Bibliographie enthält der Band »Kritische Poesie IV«.
An die Stelle der Wirklichkeit setzt Thomas der Schwindler ein Wunschbild, lebt es mit naiver Radikalität aus, bis der Traum von der Wirklichkeit eingeholt wird. Das Phantom von Marseille kreist um die erotische Anziehungskraft, die die Gestalt des Tansvestiten auf Cocteau ausübte.
Fischer
ISB N 3-596-29202-6