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Robert Cormier
Heroes Aus dem Amerikanischen von Rose Aichele
Fischer Taschenbuch Verlag
Fischer Schatzinsel Herausgegeben von Markus Niesen Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main, Februar 2001 Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel ›Heroes‹ bei Delacorte Press, New York
© Robert Cormier 1998 Für die deutschsprachige Ausgabe: © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2001 Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-85061-4
Larry LaSalle, der gewandte und schöne Leiter eines Jugendzentrums, wird von seinen Zöglingen grenzenlos verehrt. Über seine Vergangenheit als Tänzer kursieren nur vage Gerüchte. Bei Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg meldet er sich als Freiwilliger und wird kurze Zeit später mit dem „Silver Star“ dekoriert. Nach der offiziellen Ehrung jedoch vergewaltigt der strahlende Held die 15jährige Freundin des Ich-Erzählers Francis, der praktisch zum Zuschauen gezwungen wird und nicht einschreitet. Um das Trauma zu verdrängen, meldet sich Francis mit gefälschter Geburtsurkunde als Freiwilliger. Der Versuch, sich das Leben zu nehmen, zerstört sein Gesicht und bringt ihm die höchste amerikanische Kriegsauszeichnung ein. Von dem Wunsch beseelt, LaSalle umzubringen, kehrt er heim. Erzählt wird in Rückblenden. Wieder einmal thematisierte Cormier meisterhaft und sparsam moralische Grenzfälle, fragwürdiges Heldentum, Traumata und menschliche Abgründe aller Art.
Mein Dank gilt George Nicholson und Craig Virden
Zeige mir einen Helden, und ich werde eine Tragödie über ihn schreiben F. Scott Fitzgerald
I
ch heiße Francis Joseph Cassavant und bin gerade nach Frenchtown zurückgekehrt, einem Stadtteil von Monument. Der Krieg ist vorüber und ich habe kein Gesicht mehr. Ach, ich habe noch Augen, weil ich sehen, und Trommelfelle, weil ich hören kann, aber keine richtigen Ohren mehr, nur herabhängende Fleischfetzen. Aber das ist nicht schlimm, wie Dr. Abrams meint, weil Sehen und Hören die Dinge sind, auf die es ankommt. Und ich war auch vorher kein Adonis. Dr. Abrams sagte das natürlich nur im Spaß. Er versuchte immer wieder, mich zum Lachen zu bringen. Wenn mich etwas stört, dann ist es meine Nase. Oder vielmehr die Tatsache, dass ich keine Nase mehr habe. Meine Nasenlöcher sind wie zwei kleine Höhlen, die manchmal verstopfen, sodass ich durch den Mund atmen muss. Das trocknet meinen Hals aus und ich bekomme Schwierigkeiten beim Schlucken. Auch werde ich heiser und muss viel husten. Ich habe keine Zähne mehr, aber mein Kiefer ist unversehrt und mein Zahnfleisch fest, sodass ich ein künstliches Gebiss tragen kann. In den letzten Wochen fing mein Zahnfleisch jedoch an zurückzugehen, das Gebiss hat sich gelockert, es klappert beim Sprechen und rutscht mir im Mund herum. Ich habe keine Augenbrauen mehr, aber Augenbrauen sind unwichtig. Ich habe aber Wangen. So was Ähnliches. Das heißt, die Haut für meine Wangen hat man aus meinen Schenkeln herausgenommen, und es hat lange gebraucht, bis sie angeheilt war. Meine Schenkel brennen, wenn die Hose daran reibt. Dr. Abrams meint, dass meine ganze Haut mit der Zeit heilen wird und dass meine Wangen eines Tages so glatt wie ein Kinderarsch sein werden. Er sagte wirklich ›Arsch‹. »Bis dahin kannst du allerdings nicht erwarten«, sagte er, »dass dich im Kasino jemand bei der Damenwahl auffordert.« Bitte verstehen Sie ihn nicht falsch.
Er hat einen großartigen Sinn für Humor und er versucht immer wieder, mich dazu zu bekommen, mir einen Galgenhumor zuzulegen. Genau das habe ich probiert. Aber ohne viel Erfolg.
Ich trage ein Tuch, das den unteren Teil meines Gesichts bedeckt. Das Tuch ist weiß und aus Seide, so wie die Tücher, die die Piloten während des Ersten Weltkriegs bei ihren Flügen über Europas Schlachtfeldern und Schützengräben trugen. Ich male mir gern aus, wie es beim Gehen hinter mir im Wind flattert, aber ich schätze, dass es das gar nicht tut. Auf dem Kopf habe ich eine Mütze der Red Sox, die ich mir so tief ins Gesicht ziehe, dass der Schirm meine obere Gesichtshälfte in Schatten taucht. Beim Gehen neige ich den Kopf, so als ob ich Geld auf dem Gehweg verloren hätte und danach suchte. Ich habe einen Verband an der Stelle, wo einmal meine Nase war. Die Binde ist mit einer Sicherheitsnadel am Hinterkopf befestigt. Das gibt natürlich Probleme. Meine Nase, vielleicht sollte ich besser sagen meine Nasenhöhlen, laufen ziemlich oft. Ich weiß nicht, warum das so ist, und sogar die Ärzte können es sich nicht erklären, aber es ist, als ob ich dauernd erkältet wäre. Die Binde wird nass und ich muss sie oft auswechseln. Es ist dann schwierig, die Sicherheitsnadel am Hinterkopf wieder zuzumachen. Ich trage meine alte Armeejacke. Ich bin also, was mein Gesicht und meinen Körper angeht, gut verhüllt, obwohl ich natürlich nicht weiß, was ich einmal tun soll, wenn der Sommer kommt und es richtig heiß wird. Im Augenblick ist es März, kalt und regnerisch, und ich werde mir
den Kopf wegen des Sommers erst dann zerbrechen, wenn er wirklich da ist und ich noch lebe. Jedenfalls bekommen Sie einen Eindruck davon, wie ich aussehe, wenn ich auf der Straße gehe. Die Leute sehen mich erstaunt an und schauen schnell weg oder gehen auf die andere Straßenseite, wenn sie mich kommen sehen. Ich kann’s ihnen nicht verübeln.
Ich habe jede Menge Geld. Ich habe meinen ganzen Sold nachbezahlt bekommen, als ich aus Fort Delta entlassen wurde. Die Nachzahlung hatte sich während der Zeit angesammelt, die ich aktiv in Frankreich, dann im Lazarett, zuerst in Frankreich und anschließend in England, verbrachte. Ich habe nur Bargeld: Hunderter, Zwanziger und Zehner. Die kleineren Banknoten bewahre ich in meiner Brieftasche auf, aber das übrige Geld habe ich in meinem Matchsack verstaut, den ich immer über der Schulter trage. Ich bin wie der Glöckner von Notre-Dame; mein Gesicht sieht aus wie das eines Wasserspeiers und der Matchsack auf meinem Rücken wie ein Buckel. Ich wohne in der Dachwohnung des dreistöckigen Mietshauses von Mrs Belander in der Fourth Street. Nachdem ich schon eine ganze Weile geklopft hatte, kam sie endlich an die Tür und musterte mich argwöhnisch, weil sie mich nicht erkannte. Das war der Beweis, dass das Tuch und die Binde zweierlei bewirkten: dass sie nicht nur die Hässlichkeit dessen, was einst mein Gesicht gewesen war, verbargen, sondern auch meine Identität. Als sie mich mit ihren kleinen, schwarzen Augen von Kopf bis Fuß musterte, sagte ich: »Hallo, Mrs Belander.« Wieder eine Probe.
Sie reagierte nicht auf meinen Gruß und ich begriff, dass sie auch meine Stimme nicht erkannte. Mein Kehlkopf, wie Dr. Abrams mein Stimmorgan nannte, war ebenfalls durch die Granate verletzt worden. Ich kann zwar sprechen, aber meine Stimme ist nun viel tiefer und so rau, als ob ich eine chronische Halsentzündung hätte. Ich erinnerte mich an das, was Enrico Rucelli bei meinem letzten Lazarettaufenthalt gesagt hatte, dass nämlich Geld die Welt regiert. Ich machte gerade Anstalten, meine Brieftasche zu suchen, als sie fragte: »Veteran?« Ich nickte und ihr Gesichtsausdruck wurde ganz gerührt: »Armer Junge!« Ich ging hinter ihr die vier Treppen hoch. Die blauen Venen in ihren Beinen traten wie Würmer hervor. Die Wohnung ist klein, mit niedrigen, schrägen Decken. Zwei Räume, Küche und Schlafzimmer. Das Bett ist in Wirklichkeit nur ein Feldbett. Aber alles sehr sauber, die Fenster glitzern, der Boden glänzt vor Bohnerwachs und der schwarze Herd blitzt frisch poliert. Ich schaute aus dem Küchenfenster auf die Türme der Kirche von St. Jude. Als ich den Hals reckte, erblickte ich zwischen den dreistöckigen Mietshäusern in der Umgebung das schräge Dach des Katastrophenzentrums. Ich dachte an Nicole Renard und stellte fest, dass ich möglicherweise schon zwei Stunden nicht mehr an sie gedacht hatte. Ich drehte mich um und sah Mrs Belander mit ausgestreckter Hand, die rosafarbene Handfläche nach oben gedreht. »Im Voraus«, sagte sie. Sie war immer großzügig, wenn ich für sie Besorgungen machte, und vom Trinkgeld kaufte ich für zehn Cent die Kinokarten für die Samstagnachmittagvorstellung im Plymouth. Zu meinem dreizehnten Geburtstag backte sie mir
einen Kuchen. Das war vor fünf Jahren gewesen und scheint sehr lange her zu sein. Ich zahlte ihr jedenfalls eine Monatsmiete und sie stellte mir eine Quittung auf dem Küchentisch aus. Auf dem Tisch lag ein rot-weiß kariertes Wachstuch wie die, die wir zu Hause hatten, bevor die schlechten Zeiten begannen. Meine Nasenhöhlen wurden feucht und ich kramte nach meinem Taschentuch. Sie gab mir die Quittung. Ich las Mieter in ihrer zittrigen Handschrift an der Stelle, wo mein Name hätte stehen sollen. Ich hatte nichts dagegen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich wirklich anonym und nicht mehr Francis Joseph Cassavant war, sondern ein x-beliebiger Mieter in Frenchtown. »Danke, Mrs Belander.« Ich stellte sie erneut auf die Probe. »Sie kennen meinen Namen«, sagte sie und reagierte dieses Mal. Keine Frage, sondern eine Feststellung, ihr Blick wurde wieder argwöhnisch. Ich überlegte blitzschnell. »Unten am Briefkasten«, antwortete ich und vermutete, dass ihr Name dort stand. War wohl ein Volltreffer, da sie zufrieden nickte. »Schauen Sie später bei mir rein«, sagte sie, und ihr kanadischer Akzent brachte die Worte zum Klingen. »Ich mache Ihnen eine kräftige Suppe gegen Ihre Erkältung…« Als sie fort war, ging ich zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Ich war wieder daheim in Frenchtown. Ich dachte an den Revolver, den ich im Matchsack versteckt hatte, und mir war klar, dass meine Mission nun begann.
Später zünde ich eine Kerze in der Kirche von St. Jude an. Der Geruch brennenden Wachses und der Duft alten Weihrauchs – Gerüche der Vergebung – erfüllen die Kirche. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich bei Vater Balthazar Ministrant war
und an die lateinischen Responsorien, die ich mir so schlecht merken konnte. Ich knie am Altargitter nieder und bete. Ich bete für Enrico und hoffe, dass er endlich heimkehrt und sich seiner Situation anpasst, obwohl das entsetzlich klingt: anpassen und Situation. Enrico hat keine Beine mehr und er hat auch seinen linken Arm verloren. »Gott sei Dank bin ich Rechtshänder«, sagte er einmal, aber ich glaube nicht, dass er sich wirklich bei Gott bedankte. Ich bete auch für die Seele meiner Mutter und meines Vaters. Meine Mutter starb, als ich sechs war, bei der Geburt meines Bruders Raymond, der nur fünfeinhalb Stunden lang lebte. Mein Vater starb vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt im Polierraum der Kammfabrik von Monument, obgleich es mir immer so war, als ob er schon vor all dieser Zeit zusammen mit meiner Mutter gestorben war. Ich bete auch für meinen Onkel Louis, der mir ein Zuhause gab, bis ich Soldat wurde. Ich bete natürlich auch für Nicole Renard, wo immer sie jetzt sein mag. Und schließlich bete ich für Larry LaSalle. Es fällt mir schwer, für ihn zu beten, und ich zögere immer, bevor ich mich dazu überwinden kann. Dann denke ich wieder an das, was uns Schwester Gertrude in der dritten Klasse beigebracht hat. Worte, von denen sie behauptete, dass sie von Jesus stammten. Betet für eure Feinde, für die, die euch Schaden zugefügt haben. Es ist leicht, für die zu beten, die ihr liebt, sagte sie. Es zählt aber mehr, für die zu beten, die euch nicht lieben und die ihr nicht liebt. Also bete ich ein Vaterunser und ein Ave-Maria für Larry LaSalle. Dann empfinde ich Schuld und Scham, denn ich weiß, dass ich gerade für den Mann gebetet habe, den ich umbringen werde.
Bevor ich schlafen gehe, stelle ich mich vor den Spiegel im Badezimmer. Wie gewöhnlich sieht mein Haar grässlich aus, an manchen Stellen ist es dünn, an anderen sehr dicht. Während der ersten Tage im Krankenhaus in Frankreich fing es an, büschelweise auszufallen, und ist dann genauso unregelmäßig nachgewachsen. Ich reibe mir die Wangen mit Vaseline ein. Ich zwinge mich dazu, meine Nasenhöhlen anzusehen und nachzusehen, wie sich mein Mund durch das Gebiss verändert hat. Ich bewege das Gebiss in meinem Mund hin und her und erinnere mich an das, was Dr. Abrams gesagt hatte, dass ich in ein paar Monaten ein besser sitzendes Gebiss bekommen würde, wenn mein Zahnfleisch aufgehört hätte zu schrumpfen. Er gab mir auch seine Adresse in Kansas City, wo er praktizieren wird, wenn er aus dem Krieg zurückgekehrt ist. »In der plastischen Chirurgie sind große Fortschritte gemacht worden, Francis«, sagte er, »einer der wenigen Vorteile des Kriegs. Besuch mich, wenn dir danach ist!« Er war ein hoch gewachsener Mann, der wie Abraham Lincoln aussah. Und er sollte seine plastische Chirurgie lieber bei sich selbst anwenden, meinte Enrico. Enrico hatte immer etwas zu sagen. Über dieses und jenes. Manchmal glaube ich, dass er so viel redete, um den Schmerz zu überspielen. Selbst wenn er lachte und dabei ein Geräusch wie eine Holzsäge machte, konnte man den Schmerz in seinen Augen aufleuchten sehen. »Wenn du Nicole vergessen willst«, sagte er eines Nachmittags, als wir vom Karten- und Damespiel genug hatten, »musst du Folgendes tun:« Er legte den Pack Karten hin, mit dem er das Mischen mit einer Hand übte. »Du verlässt das Heer und gehst in ein Blindenheim. Dort gibt es bestimmt
ein hübsches blindes Mädchen, das nur auf einen netten Kerl wie dich wartet.« Ich wollte wissen, ob er Spaß machte. Auch wenn dies der Fall war, so war es doch schwer zu erkennen, weil seine Stimme immer schneidend und bitter klang und der Schmerz nie aus seinem Blick wich. »Du bist ein großer Held«, sagte er, »ausgezeichnet mit dem Silver Star. Dir sollte es nicht schwer fallen, ein Mädchen zu bekommen, solange sie dein Gesicht nicht sehen kann.« Er versuchte, eine Zigarette aus dem Päckchen mit Lucky Strikes herauszuschütteln. Drei oder vier Zigaretten fielen auf den Boden. »Ein blindes Mädchen ist genau das Richtige für dich!« Natürlich bin ich kein Held, und ich drehte mich angewidert weg, aber als ich dann später in der Nacht nicht einschlafen konnte, fragte ich mich, ob ich wirklich ein blindes Mädchen finden würde, das mich liebte. Lächerlich. Was machte mich glauben, dass eine Blinde sich automatisch in jeden xBeliebigen verliebte? »Vergiss es«, sagte ich am nächsten Tag zu Enrico. »Vergiss was?«, fragte er keuchend wegen des Schmerzes in seinen Beinen, die nicht mehr vorhanden waren. Er massierte immer noch die leere Stelle, wo einmal seine Beine gewesen waren. »Das mit dem blinden Mädchen.« »Mit welchem blinden Mädchen?« »Schon gut«, sagte ich und verschloss die Augen vor dem Anblick seiner Hand, die ins Leere griff. »Es geht immer noch um Nicole, stimmt’s?« Ich brauchte nicht zu antworten, weil wir beide wussten, dass es stimmte. Es würde immer um Nicole Renard gehen. Und obgleich ich aus dem Krieg wieder daheim bin, frage ich mich, ob ich sie jemals wieder sehen werde.
Ich begegnete Nicole Renard zum ersten Mal in der siebten Klasse in der Konfessionsschule von St. Jude. Es war in der Mathematikstunde. Schwester Mathilde stand an der Tafel und erklärte eine Dezimalaufgabe, als ihr das Stück Kreide in der Hand auseinander brach und auf den Boden fiel. Ich sprang auf, um die Kreide aufzuheben. Wir waren immer darauf erpicht, uns bei den Nonnen einzuschmeicheln, die unbarmherzig bestrafen konnten, indem sie das Lineal als Waffe benutzten und einem mitleidlos schlechte Noten in den Zeugnissen gaben. Als ich auf dem Boden kniete, öffnete sich die Tür und Mutter Margaret, die Schwester Oberin, kam hereingerauscht, gefolgt von dem schönsten Mädchen, das ich jemals gesehen hatte. »Das hier ist Nicole Renard. Eine neue Schülerin, die den weiten Weg von Albany, New York, zu uns hierher gemacht hat.« Nicole Renard war klein und schlank und hatte glänzendes, schwarzes Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Die unschuldige Blässe ihres Gesichts erinnerte mich an die Statue der heiligen Therese in der Nische neben Vater Balthazars Beichtstuhl in der Kirche von St. Jude. Als sie die Augen sittsam niederschlug, trafen sich unsere Blicke und ein Blitz des Erkennens durchfuhr uns, als ob wir uns schon früher getroffen hätten. Und noch etwas anderes blitzte in ihrem Blick auf, als ob sie mir sagen wollte, dass wir noch viel Spaß miteinander haben würden. Dann war alles wieder vorbei; sie war wieder die heilige Therese und ich kniete wie ein Ritter zu ihren Füßen, nachdem ihr Schwert meine Schulter berührt hatte. Ich gelobte ihr stumm meine Liebe und ewige Treue.
Schwester Mathilde führte sie zu einem freien Platz in der zweiten Reihe direkt am Fenster. Sie ließ sich nieder und schaute mich für den Rest des Tages nicht mehr an. Nach diesem ersten Blickkontakt ignorierte mich Nicole Renard, obwohl ich ihre Gegenwart im Klassenzimmer, auf dem Gang oder im Hof immer spürte. Es fiel mir schwer, sie anzusehen, weil ich gleichzeitig hoffte und fürchtete, dass sie meinen Blick erwidern und mich beschämt und sprachlos zurücklassen würde. Was aber nie geschah. Waren die Blicke, die wir uns an jenem ersten Tag zugeworfen hatten, nur ein Wunschbild meiner Fantasie gewesen? Glücklicherweise befreundete sie sich mit Marie LaCroix, die über uns im dritten Stock unseres Hauses in der Fifth Street wohnte. Die Mädchen gingen oft nach der Schule zusammen nach Hause – Nicole wohnte eine Straße weiter in der Sixth Street – und ich schlenderte hinter ihnen her, war glücklich, mich an Nicoles Fersen heften zu können. Sie hielten Schulbücher an sich gedrückt, kicherten und lachten, und ich hoffte, dass eines von Nicoles Büchern herunterfallen würde, sodass ich zu ihr eilen und es aufheben könnte. Ab und zu besuchte Nicole Marie im dritten Stock. Ich lauerte auf der Veranda darunter, spitzte bei ihren Gesprächen die Ohren und hoffte, dass meine Name fiel. Ich hörte aber nur das Gemurmel ihrer Stimmen und gelegentliche Lachsalven. Als ich, gepeinigt von Liebe und Sehnsucht, wie ein einsamer Wachtposten am Geländer stand, wartete ich darauf, dass Nicole die Treppe herunterkäme, um einen Blick von ihr zu erhaschen und vielleicht ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sobald sie aber in Sichtweite kam, wurde mein Mund sofort trocken und ich befürchtete, dass meine Stimme nur ein peinliches Quieken hervorbringen würde beim Versuch ›Hallo‹ zu sagen. Unmittelbar danach hörte ich ihre Schritte verhallen.
Ich bedauerte es zutiefst und schwor mir, sie beim nächsten Mal anzusprechen. Wenn sich am Abend die Familien auf den Veranden versammelten, die Männer Bier tranken, das sie im Keller in großen irdenen Krügen selbst gebraut hatten, und wenn die Frauen beim Schwatzen Socken stopften und strickten, suchte ich oft Marie auf und versuchte sie dazu zu bringen, über Nicole zu sprechen. Obgleich wir erst zwölf waren, in einem Alter, in dem eine tiefe Kluft zwischen Mädchen und Jungen besteht und sie kaum voneinander Notiz nehmen, sprachen wir ab und zu miteinander, weil wir im gleichen Mietshaus wohnten. Wir saßen dann miteinander auf der Treppe und schwatzten über dies und jenes. Marie machte gern Witze. Sie machte Schwester Mathilde nach, die Verdauungsprobleme hatte, ihre Rülpser mit vorgehaltener Hand zu kaschieren versuchte, manchmal aus dem Klassenzimmer stürmte und die Tür hinter sich zuschlug. »Sie furzt im Gang«, behauptete Marie und machte diese Fürze vor der Tür prompt nach. Bei uns war Baseball ein wichtiges Gesprächsthema. Monument ist schon immer eine Stadt für Baseball gewesen und die Mannschaften aus Frenchtown, die sich aus Fabrikarbeitern zusammensetzten, gewannen oft die Städtemeisterschaften in der Feierabendliga. Maries älterer Bruder, Vincent, war ein Shortstop-Star bei den Frenchtown Tigers, und mein Vater, der den Spitznamen Lefty hatte, war vor Jahren bei derselben Mannschaft ein legendärer Catcher gewesen. Ich überlegte mir ständig, wie ich das Gespräch auf Nicole Renard bringen könnte. Sie hatte keine Geschwister, nach denen ich mich erkundigen konnte. Ich wusste nicht, ob sie gerne Bücher las oder welches ihre liebsten Filmstars waren. Schließlich nahm ich mir ein Herz. Wir waren in wohliges
Schweigen verfallen und hörten den Männern zu, die eine kleine Auseinandersetzung über die Red Sox hatten, als ich sagte: »Nicole Renard scheint sehr nett zu sein.« Und fühlte dabei, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Marie wandte sich um und starrte mich an. »Ja«, sagte sie. Ich sagte nichts mehr. Marie auch nicht. Wir hörten, wie mein Vater wieder mit der alten Leier kam: dass der Verkauf von Babe Ruth an die Yankees einen Fluch über seine Mannschaft gebracht hätte. »Magst du sie?«, fragte Marie schließlich. Ich prustete heraus: »Wen?« Sie schnaubte gereizt: »Natürlich Nicole, Nicole Renard!« »Ich weiß nicht«, sagte ich, meine Wangen brannten nun. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen anfangen sollte. »Warum hast du dann nach ihr gefragt?« »Ich weiß nicht«, wiederholte ich und kam mir dabei blöd und ertappt vor. Ich wusste nur, dass ich in die Gewalt von Marie LaCroix geraten war und dass sie mich wahrscheinlich bis an mein Lebensende erpressen würde. Schließlich ergab ich mich ihr auf Gnade und Ungnade. »Ja«, sagte ich, »ich mag sie.« Überrascht von der Erleichterung, die ich bei diesem Eingeständnis empfand, hätte ich am liebsten aller Welt verkündet: »Ich liebe sie von ganzem Herzen.« »Bitte sag ihr nichts davon«, bettelte ich. »Dein Geheimnis ist völlig sicher bei mir«, sagte Marie. Aber war es das wirklich? Doch im Grunde meines Herzens wollte ich, dass sie Nicole Renard erzählte, dass ich sie liebte. Drei Tage später verbrachten Marie und Nicole wieder gemeinsame Stunden auf der Veranda über mir. Ich saß da und las gerade Fiesta, als ich plötzlich feststellte, dass Ernest Hemingway nur sehr selten lange dreisilbige Wörter
verwendete, wobei ich mich fragte, ob wirklich jeder xBeliebige, mich eingeschlossen, Schriftsteller werden könnte. Als ich hörte, dass Nicole Anstalten machte aufzubrechen, dass sie durch die Wohnung ging und Marie zum Abschied »Tschüs!« zurief, schloss ich das Buch und setzte mich aufs Geländer, und zwar so, dass sie mich unmöglich übersehen konnte. Als ich ihre Schritte auf der Treppe hörte, schlang ich die Beine um die Geländerstäbe. Sie kam in Sicht. Dieses Mal schaute ich nicht weg. »Fall nicht runter, Francis!«, sagte sie, als sie an mir vorbei die Treppe hinuntereilte. Ich war so überrascht vom Klang ihrer Stimme, darüber, dass sie mich wirklich angesprochen hatte, dass ich beinahe vom Geländer gefallen wäre. Als ich mein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, wurde mir klar, dass sie tatsächlich meinen Namen ausgesprochen hatte. Fall nicht runter, Francis! Mein Name war auf ihren Lippen gewesen! Dann war mir alles entsetzlich peinlich. Warum hatte ich ihr nicht geantwortet? Hielt sie mich nun für blöd und unfähig, ein Gespräch anzufangen? Hatte sie mich nur auf den Arm nehmen wollen? Oder hatte sie wirklich befürchtet, dass ich vom Geländer fallen könnte? Diese Fragen ließen mich völlig verunsichert zurück. Ich hatte nicht gedacht, dass Liebe so quälend sein kann. Und schließlich die große Frage: Hatte Marie Nicole erzählt, dass ich sie gern hatte? Ich bekam nie eine Antwort auf diese Fragen und sprach nie mehr mit Marie über Nicole. Sie hatte es immer sehr eilig, wenn sie kam und ging, und ich war zu schüchtern, um sie in die Enge zu treiben. Die Sommerferien begannen und jeder ging verschiedenen Beschäftigungen nach. Nicole kam nicht mehr ins Haus. Manchmal erblickte ich sie in der Third Street,
wie sie gerade in ein Geschäft ging oder aus einem herauskam, und es verschlug mir den Atem. An einem heißen Sommernachmittag sah ich sie mit Schwester Mathilde auf dem Klostergelände herumspazieren. Eines Abends, als ich mit Joey LeBlanc und ein paar anderen Jungen vor Laurier’s Drugstore herumlungerte, sah ich sie die Straße überqueren, ihr weißes Kleid war nur ein verwischter Tupfen in der hereinbrechenden Dunkelheit. Sie schaute in unsere Richtung und winkte. Ganz hingerissen von ihrer Aufmerksamkeit winkte ich zurück. Joey winkte ebenfalls und rief: »He, Nicole, du hast eine Laufmasche im Strumpf!« Er lachte über seine vermeintlich witzige Bemerkung. Natürlich konnte er ihre Strümpfe auf diese Entfernung gar nicht sehen. Nicole hielt an, neigte den Kopf, als ob sie sich nicht schlüssig wäre; daraufhin brach Joey wieder in Lachen aus. Nicole ging weiter und beschleunigte ihre Schritte. »Du quatschst zu viel«, sagte ich zu Joey und wandte mich angewidert ab. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er. Ich antwortete nicht… Ich fragte mich, ob sie Joey LeBlanc oder mir zugewinkt hatte.
Ich fühle mich wie ein verkleideter Spion, wenn ich durch die Straßen von Frenchtown gehe. Verdeckt vom Tuch und der Bandage, ziehe ich durch den frostigen Morgen, halte an den Straßenecken an und beobachte die Leute, die kommen und gehen, dann ziehe ich weiter, wenn ich ihre mitleidigen oder neugierigen Blicke auf mir spüre.
Ich versuche, den Blickkontakt mit den Leuten zu vermeiden, die ich kenne, wie zum Beispiel mit Mr Molnier, dem Metzger, der mit seiner blutbefleckten Schürze am Eingang seiner Metzgerei steht, und mit Mrs St. Pierre, die ihn missbilligend anblickt, als sie an ihm vorübergeht. Da ich nun zurückgekehrt bin, muss ich ganz bestimmte Orte aufsuchen. Einer davon ist die Sixth Street und das graue, dreistöckige Mietshaus, in dem Nicole Renard mit ihren Eltern lebte, im zweiten Stock in Nummer 212. Ich weiß, dass sie nicht mehr dort wohnt, und es bringt mir nichts, dorthin zu gehen, aber es ist für mich ein Muss, wieder einen Blick darauf zu werfen. Ich bleibe lange auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und starre zu den leeren Fenstern mit ihren weißen Spitzenvorhängen hinauf. Nach einer Weile taucht ein kleines Kindergesicht am Fenster im zweiten Stock auf, wie der Geist des kleinen Mädchens, das Nicole einst war. Ich lächle das Kind an, aber es weicht vom Fenster zurück, verschwindet, wie Nicole einst aus Frenchtown verschwand. Oder war das Kind nur eine vorübergehende Sinnestäuschung gewesen? Nachdem ich die Straße überquert habe, steige ich die Stufen zur Veranda im ersten Stock hinauf und blicke auf die Namensschilder neben den schwarzen Briefkästen: Langevin, Morrisette, Tourigny. Das Namensschild mit ›Morrisette‹ glänzt ganz neu und hat das ersetzt, auf dem ›Renard‹ stand. Ich starre auf den endgültigen Beweis dafür, dass Nicole fort ist. Ich weiß nicht, wo die Renards hingegangen sind. Sie sind völlig überraschend bei Nacht und Nebel weggezogen. Das war es wenigstens, was mir Norman Rocheleau eines Abends in einem Dorf bei Rouen mitteilte. Seine Einheit kam durch die Ortschaft, die wir vorübergehend besetzten, und wir erkannten uns von der gegenüberliegenden Straßenseite aus
wieder. Er war drei Jahre älter als ich, aber wir waren beide in die Konfessionsschule von St. Jude gegangen. Wir unterhielten uns über Schwester Perpetua, die uns in der sechsten Klasse unterrichtet hatte und die berüchtigt gewesen war wegen ihrer Tatzen mit dem Lineal. »Streck die Hand aus!«, pflegte sie beim geringsten Verstoß zu befehlen, und das Lineal sauste beinahe wie von selbst herab. Ich machte mit Norman einen Tausch: meine Ration Chesterfields, die ich ohnehin nicht rauchte, für seine Militärausgabe von Der große Gatsby – einen großartigen Roman, wie man mir sagte. Wie die Helden in einem Roman von Ernest Hemingway fuhren wir fort, uns bei vin rouge auf der Treppe eines ausgebombten Bauernhofs über die längst vergangenen Zeiten in Frenchtown zu unterhalten. Als die Dämmerung die gezackten Konturen der zertrümmerten Häuser weicher machte und der Wein mich meine gewohnte Zurückhaltung vergessen ließ, nahm ich mir den Mut zu fragen: »Was von den Renards gehört?« Ich hatte beinahe Angst, ihren Namen auszusprechen. Er tat es für mich: »Nicole!« Dann: »Bist du nicht sogar eine Zeit lang mit ihr gegangen?« Ihren Namen zu abendlicher Stunde in einem fremden Land laut ausgesprochen zu hören, verschlug mir die Sprache. »Ja, sie war meine Freundin«, sagte ich schließlich und ließ die Erinnerungen auf mich einstürmen: unsere Lippen, die sich berührten, ihre Hand in der meinen, als wir die Mechanic Street entlanggingen, das Parfüm, das sie immer an sich hatte und das wie Frühlingsblumen duftete. Nachdem er an seiner Zigarette gezogen und den Rauch aus dem Mund und durch die Nase geblasen hatte, erzählte er mir
vom plötzlichen Weggang der Familie aus Frenchtown. Und dann das Folgende: »Alle möglichen Gerüchte über sie, Francis. Sie fing an, zu Hause zu bleiben, nicht mehr aus dem Haus zu gehen, außer zur Morgenmesse um 5 Uhr 30, die für die Nonnen ist und die kein normaler Sterblicher jemals besuchen würde. Sie lebte wie – « Er fuchtelte mit seiner Zigarette herum, suchte nach dem richtigen Wort. » – eine Einsiedlerin. Dann war sie plötzlich weg. Sie und ihre Familie. Verließ Frenchtown, ohne es jemandem zu sagen.« Er starrte mich neugierig an und fragte: »Hast du nichts mehr von ihr gehört?« »Nein«, erwiderte ich. Er sah mich argwöhnisch an, die Neugierde blieb aber in seinem Blick. »Du bist so um die fünfzehn herum, stimmt’s? Wie bist du eigentlich Soldat geworden?« Ich erzählte ihm, dass ich meine Geburtsurkunde gefälscht hatte. Er fragte mich nicht, warum ich Soldat geworden bin, und ich erwartete es auch nicht von ihm. Damals wollte jeder in den Krieg ziehen, um die Japsen und die Deutschen zu besiegen. Am Ende eines langen Tages verfielen wir nach einer Weile in ein schläfriges Schweigen. Dann ging er weg, um sich wieder seiner Einheit anzuschließen, wanderte in die Dämmerung hinaus. Er wandte sich noch einmal um, und wir salutierten mehr aus Jux und grinsend, weil wir uns für keine richtigen Soldaten hielten, sondern nur für zwei Jungen aus Frenchtown in Uniform. Und ich hatte noch niemanden getötet.
Als ich mich umdrehe, um die Treppe von Nr. 212 in der Sixth Street hinunterzugehen, wird die Eingangstür aufgestoßen und
es erscheint eine Frau mit einer feuchten Schürze und einem Besen in der Hand. Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch an. »Wollen Sie was?« Ich frage mich, ob sie den Besen als Waffe zu ihrem Schutz benutzt, was ich ihr nicht verübeln kann. Ich muss mir immer wieder in Erinnerung rufen, wie ich auf andere Leute wirke. »Wissen Sie, wo die Renards hingezogen sind?« Ich erwarte keine Antwort, hoffe aber, dass mir die Frage Respekt verschafft. »Was?«, fragt sie stirnrunzelnd, wobei sie den Besen vor sich umklammert hält. Natürlich hatte das Tuch meine Stimme gedämpft. »Die Renards«, wiederholte ich und versuchte, die Wörter deutlich auszusprechen, »wo sind sie?« »Alle weg«, sagt sie mit trauriger Stimme, »alle weg.« Sie fängt an, den Hauseingang zu fegen, so als ob sie mich ebenfalls wegkehren wolle. Ihre Worte jagen mich die Treppe hinunter auf die Straße: Alle weg, alle weg.
Mrs Belander wartet schon, als ich von der Third Street zurückkomme, zwei Taschen mit Lebensmitteln von Henault’s Market in den Armen. Ich habe meine Vorräte an Kakao, Brot, Erdbeermarmelade und diversen Campbells Suppen in rotweißen Konservendosen aufgestockt, vor allem mit Tomaten-, Bohnen- und Erbsensuppe. Alles weiche Sachen, weil mein Zahnfleisch empfindlich ist und ich Schwierigkeiten beim Kauen habe. Ich habe auch zwei Flaschen pasteurisierte Milch gekauft, ein Pfund Butter und ein Stück Cheddarkäse, die ich in dem kleinen elektrischen Kühlschrank aufbewahre, den ich auf meiner Anrichte stehen habe. Ich komme mit sehr wenig
Nahrung aus, weil ich irgendwo in Frankreich meinen Appetit verlor und jetzt nur esse, um mich noch eine Weile am Leben zu erhalten. Mrs Belander hat einen hohen Kochtopf in den Händen und sagt: »Ich werde sie Ihnen hochtragen, die Bohnensuppe, die ich gekocht habe.« Wir gehen zusammen die Treppe hoch. In der Wohnung stelle ich die Lebensmittel auf die Anrichte und sie stellt den Topf auf den Herd. »Nicht kochen«, sagt sie, »nur erhitzen…« Dann dreht sie sich nach mir um. »Sie haben Ihren Namen noch nicht gesagt.« Nicht wirklich vorwurfsvoll, aber so als ob ihre Gefühle verletzt worden wären. Dies ist der Punkt, an dem mein Leben zur Lüge wird. »Raymond«, sage ich ihr und benutze dabei den Namen meines toten Bruders. »Beaumont«, füge ich hinzu: den Mädchennamen meiner Mutter. »Pére et mére?«, fragt sie. Ich habe mir die Antworten darauf schon zurechtgelegt: ›In Kanada.‹ In Gedanken ersetze ich ›in Kanada‹ durch ›im Himmel‹. »Zuerst wohnten wir in Boston«, fahre ich fort, »aber sie gingen nach Hause zurück, nach Kanada, als der Krieg anfing.« Wahr ist, dass mein Onkel Louis, der nie die amerikanische Staatsangehörigkeit hatte, nach Kanada zurückkehrte, während ich im Krieg war. Ich sehe ihren fragenden Blick und erwidere schnell: »In der Armee habe ich einen Jungen aus Frenchtown kennen gelernt: Norman Rocheleau. Er hat mir von Frenchtown erzählt und es hat so geklungen, als ob es sich dort aushalten ließe.« Zweifel blitzt in ihrem Blick auf, und ich füge meiner Lügengeschichte schnell noch etwas hinzu: »Meine Eltern warten in Kanada auf mich. Ich muss aber noch eine Weile nach Fort Delta wegen der Behandlung.«
Es erschreckt mich, wie leicht mir das Lügen fällt. »Vous parlez français?«, fragt sie mich. Ich schüttle verneinend den Kopf. Ich verstehe zwar Französisch wegen der acht Jahre in der Konfessionsschule von St. Jude, aber habe es nie richtig sprechen können. Sie seufzt tief auf, sieht mein Tuch und die Bandage lange prüfend an und murmelt wieder »Armer Junge«, als sie zur Tür schlurft.
Die Wohnung wird nur durch den schwarzen Herd in der Küche geheizt, der aus einer gläsernen Ölkanne gespeist wird, die ich alle paar Tage aus dem großen Metallcontainer im Hinterhof wieder auffüllen muss. Der Ofen wärmt nur einen kleinen Teil der Küche, die übrige Wohnung ist klamm, obwohl der Winter vorbei ist. Ich mache mir eine Tasse Kakao, um trotz der Kälte den Augenblick des Zubettgehens zu verschieben und hinauszuzögern. Die Wanduhr in Form eines Banjos sagt mir, dass es fünfundzwanzig Minuten nach elf ist, was bedeutet, dass eine lange Nacht vor mir liegt. Ich sehne mich nach Schlaf, meine Augen sind entzündet und brennen, aber ich weiß, dass die Träume beginnen, sobald ich die Augen schließe und in Schlaf versinke. Im Bad schmiere ich noch mehr Vaseline auf meine Wangen. Schließlich schlüpfe ich ins Bett. Mrs Belander hat mir zusätzliche Decken besorgt, die ich mir bis zum Kinn hochziehe. Ich falte das Kissen unter meinem Kopf, um zu verhindern, dass mir der Schleim in die Kehle fließt und mich würgen und husten lässt.
Ich kann nie den Augenblick zurückverfolgen, in dem ich dann wirklich einschlafe, diese verschwommene Linie zwischen Wachen und Vergessen. Während ich darauf warte, sage ich mir die Namen der Kameraden in meiner Kompanie vor: Richards, Eisenberg, Chambers ja, und Smith. Und ihre Vornamen oder Spitznamen – Eddie, Erwin, Blinky und Jack. Dann noch weitere Nachnamen: Johnson, Orlandi, Reilly und O’Brien und ihre Vornamen, Henry, Sonny, Spooks und Billy. Und dann beginne ich wieder von vorn, diesmal in der alphabetischen Reihenfolge, während ich immer noch aufs Einschlafen warte. Ich will nicht mehr an sie denken, an die GIs in meiner Kompanie. Ich will nicht mehr ihre Namen aufsagen. Ich will vergessen, was dort in Frankreich passiert ist, aber jede Nacht beginnt das Aufsagen von neuem, wie eine Litanei, die Namen der GIs wie die Perlen eines Rosenkranzes. Ich schließe die Augen und sehe sie in verstreuten Gruppen in der verlassenen Ortschaft vorrücken, zerstörte Häuser und mit Trümmern übersäte Straßen, das Gewehr im Anschlag, vorabendliche Schatten die Fenster und Eingänge und die Einmündungen der Gassen verdunkeln. Wir sind alle verkrampft und nervös, haben Angst, weil die letzte Ortschaft friedlich und leer erschien, bis dann plötzlich Heckenschützen aus Fenstern und Hauseingängen das Feuer auf uns eröffneten und die Vorhut unmittelbar vor unserer Kompanie niedergemetzelt wurde. Nun höre ich Henry Johnsons unregelmäßigen Atem und Blinky Chambers Pfeifen zwischen den Zähnen. Das Dorf zu still, zu ruhig. »Himmel«, murmelt Sonny Orlandi. ›Himmel‹ bedeutet: Ich habe Angst, und so ergeht es allen anderen auch, die Waffe in der geballten Faust, stumme Flüche liegen in der Luft. Ächzen, Zischen und Fürze. Nicht wie die Kriegsfilme im Plymouth. Keiner legt Heldenmut oder Tapferkeit an den Tag. Wir gehen wahrscheinlich den letzten Gang unseres
Lebens in dieser Ortschaft, deren Namen wir nicht einmal kennen, und andere Ortschaften liegen vor uns. Und Eddie Richards fragt ins Leere: »Was zum Teufel machen wir hier eigentlich?« Und er hält sich den Bauch, weil er schon seit drei Tagen Durchfall hat und nach Scheiße stinkt, sodass ihn alle meiden. Nun bricht plötzlich Geschützfeuer los und zur selben Zeit steigen Granaten auf – ihre oder unsere – und explodieren um uns herum. Wir gehen in Deckung, rennen, robben, stoßen auf Dreck und versuchen, mit den Gebäuden zu verschmelzen, aber nirgends ist man sicher. Ich finde mich in einer engen Gasse wieder, taste mich durch den aufgewirbelten Staub voran, als zwei deutsche Soldaten in weißen Uniformen wie grimmige Gespenster vor mir auftauchen. Sie legen ihre Gewehre an, aber ich komme ihnen mit meinem Selbstlader zuvor. Der Kopf des einen Soldaten explodiert wie eine reife Tomate und der andere schreit Mama, als er durch meine Kugeln in zwei Hälften geteilt wird, die beide zu Boden taumeln. Unter dröhnendem Artilleriefeuer schrecke ich aus dem Schlaf und stelle fest, dass ich mit weit aufgerissenen Augen keuche und ausnahmsweise einmal in Mrs Belanders Mietwohnung nicht friere. Der Schweiß auf meiner Haut ist warm, doch im Nu wird er eisig. Na ja, zwar begegnete ich den deutschen Soldaten an jenem Tag in der Gasse, aber meine Schüsse töteten die Soldaten schnell, ohne dass ein Kopf durch die Luft geflogen oder ein Körper in zwei Hälften zerteilt worden wäre, obgleich einer von ihnen wirklich Mama schrie, als er zu Boden fiel. Als ich auf sie herabblickte, in einer jener schaurigen Pausen während einer Attacke – einer plötzlich eintretenden Stille – die schrecklicher ist als explodierende Granaten – sah ich, wie jung sie waren: kleine Jungen, die noch zu jung waren zum Rasieren, mit Apfelwangen. Wie ich.
»He, Francis, komm schon!«, brüllt Eddie Richards, und wir machen uns auf allen vieren aus der Gasse davon und fliehen in den Wald. Sein Gestank hängt immer noch schwer in der Luft. Wir irren im Wald umher, bis es Nacht wird, als wir zufällig auf die Überbleibsel unserer Kompanie stoßen und erfahren, dass Jack Smith und Billy O’Brien tot sind und Henry Johnson verwundet ist. Die Brust von einem Schrapnell aufgerissen, hat man ihn hinter die Linien getragen und wir sehen ihn nie wieder. Am nächsten Tag schießt mir die Granate das Gesicht weg.
Die Morgensonne brennt auf meinen Lidern, und ich blinzle ins Tageslicht, das durchs Fenster dringt. Ich habe wieder einmal eine Nacht überlebt, wieder Träume und Erinnerungen ertragen, obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, welches die Träume und welches die Erinnerungen sind. Meine Gliedmaßen sind steif und die wunden Stellen brennen, aber ich tappe hustend aus dem Bett, den Rachen voller Schleim. Vergiss alles, sage ich mir, und sei dankbar für das, was dir geblieben ist. Du bist zurück in Frenchtown und dein Körper ist intakt. Du hast eine ordentliche, trockene Unterkunft und musst einen Auftrag ausführen. Und vielleicht wird dies der Tag sein, an dem Larry LaSalle wieder auf den Straßen von Frenchtown auftaucht und du deinen Auftrag ausführen kannst.
Ich sage mir, dass ich das Katastrophenzentrum nicht aufsuchen werde, weil nichts dadurch gewonnen wäre, so wie der Besuch von Nicoles Haus in der Sixth Street bei mir nur Einsamkeit und Reue wachgerufen hatte. Aber obwohl ich mir die Sinnlosigkeit von solchen Besuchen eingestehe, gehe ich gebeugt im nicht nachlassenden Märzwind in Richtung des Katastrophenzentrums am Ende der Third Street. Plötzlich packt mich eine Hand an der Schulter. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, und eine Stimme flüstert mir zu: »Landmine?« Als ich mich umdrehe und unter dem Schirm der Red-SoxMütze hervorschaue, sehe ich Arthur Rivier vor mir, der mich neugierig mustert. Neugierde gemildert durch Mitleid. Ich schüttle den Kopf, ich verdiene sein Mitleid nicht. »Dann also Granate?«, fragt er. Mein Schweigen gibt ihm die Antwort und er murmelt: »Brutal… brutal…« Seine Augen sind trübe und blutunterlaufen, und nichts deutet darauf hin, dass er mich erkannt hat, worüber ich froh bin. Bevor er Soldat wurde, war Arthur Rivier ein gefeierter Malhüter bei den Frenchtown Tigers gewesen und hatte auf Cartier’s Field über den Zaun spektakuläre Homeruns geschafft. Ich erinnere mich, als er zusammen mit anderen Soldaten in seiner khakifarbenen Uniform mit den Unteroffiziersstreifen für kurze Zeit auf Heimaturlaub aus dem Feld zurückkam. Ich wollte wie sie sein, wie diese Heroes, die gegen die Japsen und die Deutschen kämpften und in die Schlacht zu Land und zur See zogen. Ich brannte darauf, das Alter zu erreichen, in dem ich mit ihnen gemeinsam an diesem Kreuzzug für die Freiheit teilnehmen könnte.
Arthur Rivier zeigt auf den Eingang des St. Jude-Klubs und sagt: »Komm, ich spendier dir ‘nen Drink…« Der Klub ist, wo sich die jungen Männer von Frenchtown treffen, um Billard und Poker zu spielen, Bier und Wein zu trinken und nach einer langen Arbeitswoche in den Kammund Knopffabriken Tanzpartys für ihre Freundinnen zu schmeißen. Die Vorschriften verlangen, dass man 21 Jahre alt ist, bevor man Mitglied werden kann, und jeder Junge in Frenchtown freut sich auf diesen Geburtstag. Als ich zögere, sagt Arthur: »Du hast ‘nen guten Drink verdient…« Das Innere des Klubs ist verraucht und voller Menschen, Billardkugeln klicken, alle sprechen gleichzeitig und plötzlich ein Schwall aus der Jukebox: »Don’t Sit Under the Apple Tree with Anyone Else but Me«, das ich zuletzt im englischen Lazarett im Radio gehört hatte. Bekannte Gesichter drehen sich nach mir um. Big Boy Burgeron, Armand Telliere, Joe LaFontaine und ein paar andere, alles Veteranen und Überlebende, Baseballspieler und Fabrikarbeiter, die zu Kämpfern in Uniform wurden. »Bier«, antworte ich und erhebe meine Stimme über den Lärm, als mich Arthur fragt, was ich trinken will. Bier trank ich zum ersten Mal im englischen Lazarett, als Enrico einen Pfleger bei der Nachtschicht bestach, damit er uns ein paar Flaschen brachte. Das Bier war warm und bitter, aber wenigstens eine Abwechslung zu den Medikamenten, die ich jeden Tag schlucken musste. Ich stürze das Bier nun hinunter, indem ich das Halstuch lüfte, als sich Arthur mit Big Boy Burgeron auf eine Diskussion einlässt, ob man nun, da der Krieg vorbei ist, besser Bulle oder Feuerwehrmann werden solle. Big Boy, der 135 Kilo wog, bevor er einrückte, und nun hager und knochig ist und ohne weiche Konturen, meint, dass
man am besten Feuerwehrmann würde, weil man in diesem Beruf weder marschieren noch gehen müsse: »Ich mit meinem Pech müsste wahrscheinlich als Bulle meine Runden schieben. Und ich kann nicht mehr gehen – die Infanterie hat meine Füße ramponiert…« »Ich konnte nie eine Leiter hinaufklettern«, sagt Armand Telliere ins Leere, als er am Billardtisch einen Stoß vorbereitet. »Außerdem heißt es, dass die Bullen von jetzt an in Autos patrouillieren. Ob zu Fuß oder im Wagen, jedenfalls keine Akkordarbeit mehr in der Fabrik für mich…« »Für mich College«, verkündet Joe LaFontaine, hält sein Bierglas in die Höhe und beobachtet, wie Licht auf das Glas trifft. »Der Gesetzentwurf für GIs. Die Regierung ist bereit zu zahlen, also gehe ich hin…« »Du hast ja nicht mal die Abschlussprüfung der High School«, sagt Arthur Rivier, aber er meint es nicht ernst und lacht dabei. Andere stimmen in das Gelächter ein, verbreiten ein Klima von Kameradschaftlichkeit in der Bar, ein Gemeinschaftsgefühl, an dem ich gern teilhaben würde. »Ich kann die Schule nachholen«, erwidert Joe LaFontaine, »die sind ganz wild auf Veteranen!« Er trinkt schnell einen Schluck Bier. »Ich gehe aufs College!«, verkündet er feierlich und erhebt seine Stimme, sodass ihn jeder hören kann. »Ich werde Lehrer.« »Schwester Martha würde sich im Grab umdrehen«, meint Armand Telliere. »Das wäre dann allerdings ein Kunststück«, sagt Arthur, »ich habe sie in der vergangenen Woche nämlich noch quicklebendig herumlaufen sehen. Verprügelt immer noch die Jungen in der achten Klasse. Selbst ein laufender Meter und verprügelt sie immer noch.« »So wie sie auch dich verprügelt hat!« Big Boy lacht.
Alle stimmen in das Gelächter ein, jemand bestellt eine weitere Runde, und die Jukebox spielt: »I’ll Be with You in Apple Blossom Time« – der Himmel hängt voller Geigen. Arthur wendet sich mir zu: »Du bist nicht gerade gesprächig, wie?« Ich will nach Larry LaSalle fragen, ob jemand weiß, wann und ob er überhaupt zurückkommt, aber ich will nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Das Tuch und die Bandage genügen, um Neugier zu wecken. »Ist schon gut«, sagt er, »ist dein gutes Recht zu schweigen.« Was wäre, wenn ich ihm sagen würde, dass ich der kleine Francis Cassavant bin, der den Bällen hinter den Grundlinien nachjagte, wenn die Frenchtown Tigers gegen die West Side Knights, die Rivalen von der anderen Seite der Stadt, um die Meisterschaft von Monument spielten. Was wäre, wenn ich Arthur sagen würde, dass ich nicht wie die anderen Veteranen hier im St.-Jude-Klub der Held bin, für den er mich hält. Als die große Auseinandersetzung über Bullen und Feuerwehrmänner weitergeht, schleiche ich mich unbemerkt aus der Bar in die feuchte Märzluft in der Third Street davon. Ich bewege mich durch die Menge der Käufer und Schulkinder, die aus der Schule von St. Jude kommen, meine Anonymität ist durch das Tuch und die Bandage garantiert. Ich bin etwas benommen vom Bier, weil ich seit dem Frühstück, bei dem ich mich dazu zwingen musste, Kaffee zu trinken und Haferflocken zu essen, nichts mehr zu mir genommen habe. Natürlich bin ich auf dem Weg zum Katastrophenzentrum.
Das Katastrophenzentrum ist nun mit Brettern vernagelt und verlassen, die Bezeichnung FRENCHTOWN FREIZEITZENTRUM über der Eingangstür verblasst und kaum mehr sichtbar. Der rote Anstrich der Tür ist zu einem
morbiden Rosa geworden. Meine Nasenhöhlen beginnen zu laufen und das Tuch vor meinem Gesicht wird feucht. Nach einer Weile bemerke ich, dass es nicht die Feuchtigkeit von meinen Nasenhöhlen ist, die mein Tuch durchtränkt. Ein Ort, der Unglück bringt, pflegten die Leute zu sagen. Ein verwunschener Ort, andere hinzuzufügen. Früher war das Zentrum unter der Bezeichnung Grenier’s bekannt gewesen und die Kinder von Frenchtown, mich eingeschlossen, hörten oft von seiner tragischen Geschichte – die jedoch nicht von Anfang an tragisch war. Die Festhalle war ein Ort fröhlicher Veranstaltungen gewesen; für Galaveranstaltungen und große Bälle wie zu Silvester und zum Nationalfeiertag am 4. Juli. Traditionell wurden dort Hochzeitsempfänge abgehalten. Nach der Messe in der Kirche von St. Jude zog die Hochzeitsgesellschaft zu Fuß durch die Third Street zur Festhalle. Bis zur Hochzeit von MarieBlanche Touraine. Marie-Blanche vermählte sich mit einem gut aussehenden Iren namens Dennis O’Brien aus der Ebene von North Monument, nachdem sie ihre Verlobung mit Hervey Rochelle, dem Vorarbeiter in der Versandabteilung der Kammfabrik von Monument, gelöst hatte. Beim Empfang, während einer Pause zwischen dem Festmahl und dem Tanz, als Marie-Blanche und Dennis die Hochzeitstorte anschnitten, stürmte Hervey in den Saal, in seiner Hand blitzte ein Revolver. Einen Augenblick später lag Marie-Blanche mit blutdurchtränktem Hochzeitskleid sterbend auf dem Boden. Eine Kugel drang in Dennis O’Briens Wirbelsäule und lähmte ihn für den Rest seines Lebens. Hervey erhängte sich noch in derselben Nacht im Geräteschuppen hinter der Kammfabrik. Das war das Ende von Grenier’s Hall als Ort für Festlichkeiten. Die Türen wurden verriegelt und die Fensterläden geschlossen. Die Kinder schauderten, wenn sie
die Geschichte dieses verhängnisvollen Tages hörten, und hasteten immer ganz schnell an dem verlassenen Gebäude vorbei. Ein paar behaupteten, dass man in stürmischen Vollmondnächten Stöhnen und Weinen hörte, wenn man das Ohr an die Eingangstür presste. Für die Kinder von Frenchtown wurde es Brauch, in den Vollmondnächten zu mitternächtlicher Stunde an der Tür zu lauschen, quasi als Übergangsritual. Bevor ich jedoch damit an der Reihe war, gab man Grenier’s Hall noch einmal die Chance zu einem neuen Leben. Ich war in der siebten Klasse, und es war in dem Jahr, als Nicole Renard in mein Leben trat, als man mit der Umgestaltung der Festhalle begann. Eines Samstagmorgens eilten die Leute zu der Stätte, als das Gerücht umging, dass sich Zimmerleute und Maler in hektischer Betriebsamkeit über das Gebäude hermachten. Ich rannte zum Ort des Geschehens und sah mit Erstaunen, wie Lastwagen und Lieferwagen mit der Aufschrift STADT MONUMENT Teams von Arbeitern ausspuckten, die, wie wir erfuhren, für ein neues, städtisches Bauprogramm eingestellt worden waren. In den folgenden Tagen arbeiteten die Männer wie verrückt, kratzten Farbe ab und trugen neue auf, tauschten Türen und Fenster aus und teerten das Dach. Aber die Arbeit war völlig planlos. Die Arbeiter ließen ihre Hämmer fallen, verschütteten Farbe, standen sich im Weg herum und zogen gelegentlich braune Papiertüten aus der Tasche und nahmen schnelle Schlucke aus versteckten Flaschen. »Es ist wie in einem Film mit den Marx Brothers«, sagte Eugene Rouleau, der Herrenfrisör, dessen Zunge so scharf war wie sein Rasiermesser. Als die Arbeiter schließlich mit ihrer Arbeit fertig waren, sah das Gebäude immer noch unfertig aus. Die weiße Farbe deckte die dunklen Moderflecken an den Verschalungsbrettern nicht
vollständig ab und die Läden hingen windschief von den Fenstern herab. »Seht nur!«, rief jemand. Als wir hinsahen, rutschte das Schild mit der Aufschrift FRENCHTOWN FREIZEITZENTRUM von seinem Platz über der Eingangstür herab, bis es in einem schiefen Winkel über der Tür hing. »Es ist immer noch ein verwunschener Ort«, sagte Albert Laurier von Laurier’s Drugstore. Die Leute nickten zustimmend. Sie dachten an den Hochzeitsempfang von Marie-Blanche Touraine. In dieser Nacht strich jemand die Worte auf dem Schild aus und ersetzte sie durch KATASTROPHENZENTRUM in leuchtend roter Schrift. Obgleich die ursprüngliche Bezeichnung wiederhergestellt wurde, war der Ort seitdem unter den Bewohnern von Frenchtown als KATASTROPHENZENTRUM bekannt. Das Zentrum wurde eröffnet, als die Konfessionsschule von St. Jude ihre Pforten wegen der Sommerferien schloss. An diesem Junimorgen stand ich mit meinen Mitschülern um 9 Uhr vor dem Gebäude. Ein großer, schlanker Mann tauchte vor uns auf, eine blonde Haarsträhne in der Stirn, mit einem strahlenden Filmstarlächeln. »Guten Morgen«, sagte er, »ich heiße Larry LaSalle.« »Ist das sein richtiger Name?«, fragte Joey LeBlanc in einem Flüsterton, den man über die ganze Menge hinweg hörte. Joey wurde von den Nonnen des Öfteren dafür bestraft, dass er unaufgefordert redete. »Stimmt – ist mein richtiger Name«, antwortete Larry LaSalle. Und aus irgendeinem Grund applaudierte die Menge. Larry LaSalle hatte die breiten Schultern eines Athleten und die schmalen Hüften eines Tänzers. Er war beides. Beim Baseball führte er den Schläger mit großer Sachkenntnis, wenn
er auf dem provisorischen Sandplatz nebenan Homeruns erzielte, und später unterzog er uns anstrengenden Leibesübungen und Gymnastik. Er war auch ein guter Tänzer, mit einem Touch von Fred Astaire in seinem Gang, seine Füße berührten kaum den Boden. Er konnte mit atemberaubender Geschwindigkeit steppen und gewagte Sprünge auf der Bühne machen. Vor allem war er aber ein Lehrer, der Tanzkurse gab, in den Künsten und Handwerken unterrichtete, einen Chor gründete und Musikshows leitete. Das Katastrophenzentrum wurde in der siebten und achten Klasse zu meinem Hauptquartier; ein Ort abseits der Straßen und verlassenen Grundstücke von Frenchtown. Ich war dort nie ein Held gewesen, für Baseball war ich zu klein und unfügsam. Und ich war zu schüchtern, um mich den Jugendbanden anzuschließen, die sich an den Straßenecken herumtrieben. Ich hatte keinen Busenfreund, obwohl Joey LeBlanc, der im ersten Stock unseres Hauses wohnte, oft mit mir am Samstagnachmittag ins Plymouth ging. Während des Films gab er ständig seinen Senf dazu, wie ein Radiokommentator, der die Handlung beschreibt. Er war kein Bücherwurm, während ich mich gern zwischen den Regalen der Stadtbücherei von Monument herumtrieb, wo ich Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Jack London entdeckte und mit einem Arm voller Bücher nach Hause eilte. Mein Zuhause war die Wohnung, in der ich mit meinem Onkel Louis, dem Bruder meines Vaters, lebte. Einem schweigsamen Koloss von einem Mann, der Rangiermeister in der Kammfabrik war. Nach dem Tod meines Vaters hatte er mich aufgenommen. Er kochte für uns und putzte die Wohnung. Jeden Abend trank er drei Flaschen Bier und hörte nebenbei bis zu seiner Schlafenszeit um elf Uhr Radio, das er leiser gestellt hatte. Er sprach selten mit mir, aber ich hegte
keinen Zweifel an seiner Zuneigung. Wenn ich am Küchentisch meine Bücher las, strich er mir im Vorübergehen über den Kopf und hörte ernsthaft zu, wenn ich ihm über meinen Schultag berichtete, eine Pflichtübung für mich bei jedem Abendessen. »Du bist ein guter Junge, Francis«, pflegte er jedes Mal zu sagen, wenn er mir am Freitag mein Taschengeld von 50 Cent aushändigte. Die Einsamkeit der Wohnung veranlasste mich, nach der Schule und an den Wochenenden zum Katastrophenzentrum zu gehen. Ohne Talent für Gesang oder Tanz oder Kunsthandwerk nahm ich schließlich an der Gymnastik teil, nachdem Larry LaSalle in einer Ansprache jeden dazu angespornt hatte, wenigstens an einer Aktivität teilzunehmen. Ich hatte mir einen Platz in der hintersten Reihe ausgesucht, um nicht aufzufallen, und Larry LaSalle brachte mich nicht in Verlegenheit, indem er mich nach vorne rief, wo die kleineren Jungen hingehörten. Larry LaSalle fühlte sich überall im Zentrum zuständig und zeigte, wie man aus Lederstreifen Schlüsselhalter, aus alten Weinkrügen Lampen, aus Lehmklumpen Aschenbecher machen konnte. Er zähmte den für seine Schlägereien auf dem Schulhof berüchtigten Butch Bartoneau, indem er ihn davon überzeugte, dass er singen konnte, und unterrichtete ihn geduldig Tag für Tag, bis dann Butchs Version von »Der sterbende Cowboy« in Herbstblätter, der ersten Musikproduktion im Katastrophenzentrum, jedem Tränen in die Augen trieb. »Aber er verprügelt immer noch andere Jungen auf dem Schulhof«, bemerkte Joey LeBlanc bissig. Unter der Führung von Larry LaSalle wurde Edna Beauchene, die groß, linkisch und schüchtern war, zum Hit der Show. Wie eine Gammlerin gekleidet, tanzte sie eine
komplizierte Nummer mit Mülltonnen und erntete damit Applaus wie ein Broadway-Star. »Ihr seid alle Stars«, versicherte uns Larry LaSalle immer wieder. Es hieß, dass auch Larry LaSalle ein Star gewesen war mit Auftritten in den Nachtklubs von New York und Chicago. Jemand brachte einen vergilbten Zeitungsausschnitt mit, auf dem er im Smoking neben dem Plakat eines Nachtklubs mit der Aufschrift MIT LARRY LASALLE IN DER HAUPTROLLE zu sehen war. Wir erfuhren jedoch wenig über ihn und er wollte nicht gefragt werden. Wir wussten nur, dass er in Frenchtown zur Welt gekommen und seine Familie weggegangen war, um ihr Glück anderswo zu versuchen. Larry hatte als Junge in Madame Toussaints Studio in der Stadt Tanzunterricht bekommen und mit neun oder zehn den ersten Preis in einem Amateurwettbewerb gewonnen. Warum hatte er dem Showgeschäft den Rücken gekehrt und war nach Frenchtown zurückgekommen? Niemand wagte ihn zu fragen, obwohl gemunkelt wurde, dass er in New York City »in Schwierigkeiten gekommen war«, ein Gerücht, das Joey LeBlanc mit schadenfroh gerunzelter Stirn und viel sagendem Blick weitererzählte. Ein paar von uns gingen nicht näher auf die Gerüchte ein, weil sie von Larry LaSalles Begabung und Tatkraft geblendet waren. Tatsächlich trug der Nimbus des Geheimnisvollen, der ihn umgab, zu seinem Zauber bei. Er war unser Champion und wir waren froh, in seiner Nähe sein zu dürfen. Im Laufe dieses ersten Winters fing auch Nicole Renard an, ins Jugendzentrum zu kommen und schloss sich der Tanzgruppe an. Sie hatte schon in Albany Unterricht gehabt und zog sofort die Aufmerksamkeit von Larry LaSalle auf sich. Ich pflegte ihr zuzusehen, wie sie über den Boden glitt, erhaschte flüchtige Eindrücke von ihren weißen Schenkeln, als
sie sich drehte und wendete. Sie schien in ihrer eigenen Welt zu leben wie das seltene Exemplar einer besonderen Spezies. Leicht wie eine Feder und anmutig, hob sie sich von den übrigen Tänzern ab. Sie nahm an keinen anderen Kursen teil, auch nicht an den Turnübungen oder handwerklichen Kursen, und ging nach dem Tanzkurs einfach wieder weg. Eines Tages, als sie auf den Ausgang zuging, Schweißtropfen auf der Stirn wie Regentropfen auf weißem Porzellan, sagte sie: »Hallo, Francis.« Es war der gleiche Spott in ihrer Stimme wie damals, als sie mich ermahnte, ja nicht vom Geländer herunterzufallen. Ich schluckte, hustete und stieß ein »Hallo« aus, aber brachte ihren Namen nicht über die Lippen. Sie hielt inne, als ob sie noch mehr sagen wollte, unsere Blicke trafen sich mit derselben Sympathie, die ich damals im Klassenzimmer von Schwester Mathilde empfunden hatte. Einen Augenblick später war Nicole weg und ließ eine süße Duftspur hinter sich, vermischt mit dem Moschusgeruch ihres Schweißes. Das Nachbild ihres Körpers bewegte sich durch den Raum. Sie erinnerte mich nicht mehr an die heilige Therese, sondern an die Mädchen in gewissen Zeitschriften in Laurier’s Drugstore, die mein Blut in Wallung brachten und mich in den Knien weich werden ließen. Nicole Renards Besuche machten mein Leben im Katastrophenzentrum vollkommen. Darum ärgerte es mich auch, als Joey LeBlanc sagte, dass er immer noch das alte Verhängnis über dem Ort schweben sah. »Du redest zu viel«, sagte ich und schlug die Tür hinter mir zu, als wir eines Nachmittags das Zentrum verließen.
»Ein böses Geschick«, erklärte er, »du wirst schon noch sehen!« Ich schaudere, nun, da der Regen einsetzt, und wende mich vom Katastrophenzentrum ab im Bewusstsein, dass der arme Joey LeBlanc, der an einem Strand von Iwoschima im Südpazifik starb, schließlich doch Recht hatte.
Ich bin nun schon beinahe einen Monat in Frenchtown. Der März ist in den April übergegangen, aber der Himmel ist immer noch voll schwerer, tief hängender Wolken und es regnet fast jeden Tag. Ich durchstreife die Straßen und mit der Zeit nicken mir die Leute zu oder grüßen mich mit einem Lächeln, weil ich zu einer vertrauten Erscheinung geworden bin. Meine Armeejacke sagt ihnen, dass ich Veteran bin. Und dies ist eine Zeit, in der die Veteranen überall willkommen sind. Wenn ich mich vor den Geschäften herumtreibe, wenn ich auf den Eingangsstufen der Kirche von St. Jude an der Ecke von Third und Mechanic Street stehe, halte ich nach Larry LaSalle Ausschau, nach diesem gezierten Fred Astaire-Gang und diesem Filmstarlächeln. Dann denke ich an den Revolver in meinem Matchsack und warte ungeduldig auf Larrys Rückkehr. Manchmal stehe ich vor dem Kloster und frage mich, ob das Geheimnis dessen, was Nicole widerfahren war, hinter diesen Mauern verborgen liegt. Die Veteranen im St. Jude-Klub grüßen mich immer mit lauten Hallos und anerkennenden Schlägen auf den Rücken. Sie machen mir Platz an der Bar oder in der Menge, vor deren Augen sich gerade ein spannendes Billardspiel abspielt. Sie respektieren meine Schweigsamkeit und meine Anonymität. Die Gespräche drehen sich nun um die neuen Chevrolets und
Fords, die aus den Fabriken in Detroit kommen, und die Zwanglosigkeit, mit der man die Third Street entlanggehen kann, ohne vor einem Offizier salutieren zu müssen, und in Zivilklamotten statt der Uniform herumlaufen kann. Arthur, Armand und Joe sind immer in der Bar, gehören zum Inventar, bis sie dann Polizisten oder Feuerwehrleute werden oder aufs College gehen oder in die Fabriken zurückkehren. Aber dies ist ein Schwebezustand zwischen zwei Leben. Sie trinken Bier und Wein, spielen Billard und klönen und das Gespräch dreht sich immer wieder um die Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg, an die Nonnen in der Schule von St. Jude, die langen Predigten von Vater Balthazar, die Baseballspiele auf Cartier’s Field und den geheimnisumwitterten Fremden, der Frenchtown im Sommer vor vielen Jahren aufsuchte, der beinahe bei jedem Spiel einen Homerun schaffte und den viele für einen verkappten Major-League-Spieler hielten. Vielleicht Babe Ruth oder Lou Gehrig. Ich lasse mein Glas Bier auf der Theke schal werden, weil ich hellwach sein will, wenn Larry LaSalle hereinspazieren oder jemand seinen Namen erwähnen sollte. Der Alte Würger lässt mich mein Bier langsam süffeln und nimmt es mir nicht übel, wenn ich kein weiteres bestelle. Er ist der Barkeeper, der Putzmann und der Mann, der bei Auseinandersetzungen schlichtet. Arthur behauptet, dass er bei den Karnevalen, die nach Frenchtown gelangten, zu catchen pflegte und gegen den herumziehenden Champion antrat, der die lokalen Catcher herausforderte. Er war berühmt für seinen Würgegriff, der seine Gegner lähmte. Arthur zufolge ist seine Stimme so rau seit der Zeit, als er von einem KarnevalsChampion, der drauf und dran war, den Kampf zu verlieren, noch am Adamsapfel getroffen wurde. Zwar ist sein Haar schütter und grau, aber seine Augen sind klar und wachsam,
seine Muskeln wölben sich unter dem weißen Hemd, und seine Fliege bewegt sich, wenn er spricht. Im Klub kommt immer wieder der Augenblick plötzlicher Stille, so, als ob alle müde geworden seien und es doch noch zu früh ist, um nach Hause zu gehen. Auch die Jukebox schweigt. Ich beobachte die Leute und mir fällt dieses und jenes auf. Ich sehe das Zucken um Arthurs Mundwinkel und die Art und Weise, wie unsichtbare Finger scheinbar an seinen Lippen zerren. Armand starrt ins Leere und schaut auf etwas, das kein anderer sehen kann, und plötzlich ist da ein Aufflackern von – ja, was eigentlich? – Entsetzen?, Albträumen? – in seinem Blick. Als ich mich abwende, sehe ich George Richelieu an seinem hochgesteckten Ärmel zupfen, in dem sein Arm stecken sollte, der aber irgendwo im Südpazifik begraben oder wahrscheinlich ins Gestrüpp des Dschungels geworfen wurde, wie Arthur eines Tages vor sich hin gemurmelt hatte. In der zunehmenden Stille höre ich meine eigene Stimme in den Ohren gellen, als ich das Schweigen mit der Frage breche, die mir seit meinem Eintreffen in Frenchtown auf der Zunge brennt: »Weiß jemand, wann Larry LaSalle zurückkommt?« Meine Stimme, die plötzlich energisch, klar und gar nicht mehr heiser ist, überrascht mich. Arthur sieht mich mit neugierigem und misstrauischem Blick an, mustert mich einen Augenblick lang, wendet sich dann ab und erhebt sein Glas: »Auf Larry LaSalle«, ruft er, »den Schutzheiligen des Katastrophenzentrums!« Ich frage mich, ob er einen Witz macht oder sarkastisch ist, aber er nickt mir bedeutsam zu, indem er sein Glas hochhält. »Und auf die Kinder, die das Glück hatten, ihm zu begegnen«, fügt Joe LaFontaine hinzu und erhebt ebenfalls sein Glas.
Alle schließen sich an und mit Überraschung sehe ich, wie sich der Alte Würger ein Glas Rotwein einschenkt. Ich habe ihn noch nie zuvor trinken sehen. »Auf den Silver Star und die Männer, die ihn tragen«, brummt er, »und auf Larry LaSalle, den Besten der Besten…« »He, Würger, hast du das Sammelalbum noch?«, fragt Arthur. Der Würger setzt sein Glas ab, greift unter die Theke und zieht ein großes, in Leder gebundenes Buch hervor. Er streift mich mit seinem Blick und sagt: »Sie sind alle hier drin.« Auf dem Einband steht in weißer Blockschrift: DIE KRIEGER VON FRENCHTOWN. Er durchblättert Seiten mit Zeitungsausschnitten und Fotos von Männern und Frauen, die alle in Uniform sind. Bei einer Doppelseite hält er das Buch hoch mit Schlagzeilen, Artikeln und Bildern von Larry LaSalle. Die größte Schlagzeile am Beginn der einen Seite lautet: LEUTNANT LASALLE WIRD MIT DEM SILVER STAR AUSGEZEICHNET. »Es gibt viele Auszeichnungen für außerordentliche Verdienste«, sagt der dicke Barkeeper mit krächzender Stimme, »aber nur für Heldentum gibt es den Silver Star.« Seine alte Stimme klingt plötzlich ganz förmlich und würdevoll: »Für Tapferkeit.« Eine andere Schlagzeile in der Mitte der Seite lautet: LASALLE NIMMT FEIND GEFANGEN, RETTET SEINE KAMERADEN VOM MARINEINFANTERIEKORPS »Der Tänzer wird zum Helden«, sagt Arthur. Dann hält er inne und wendet sich mir zu, beugt sich zu mir herüber und flüstert mir zu: »Diese Stimme, mit der du nach Larry LaSalle gefragt hast. Jetzt kenne ich sie wieder. Du bist Francis Cassavant.« Sein Blick verrät, dass er begriffen hat. »Du hast immer – «
» – die Bälle bei den Spielen auf Cartier’s Field aufgeraut«, füge ich mit leiser Stimme hinzu, weil ich fürchte, dass die Zeit meiner Anonymität vorbei ist. Seine Augen werden größer und er sagt: »Dann hast du ja auch einen Silver Star und bist im Buch des Würgers.« Als er sich umdreht, um den anderen zu erklären, wer ich bin, berühre ich ihn an der Schulter. »Mach keinen Wirbel, Arthur. Lass mich, wie ich bin«, und zeige auf das Tuch und die Bandage. »Du verdienst Anerkennung, Francis«, flüstert er, »du bist ein gottverdammter Held!« Er schüttelt den Kopf, als ob er’s nicht fassen könnte. »Der kleine Francis Cassavant. Stürzt auf eine Granate und rettet – wie viele Männer hast du gerettet, Francis? Für wie viele Männer warst du bereit, dein Leben zu opfern?« Indem ich das Tuch hochhebe, nippe ich am Bier, tue etwas, nur um seinen Fragen auszuweichen. Es entsteht eine lange Pause. »Gut, du hast meinen Respekt. Wenn du nicht darüber sprechen willst, dann soll’s mir auch recht sein.« Er gibt mir einen Klaps auf den Rücken. Ich wende mich von seinem bewundernden Blick ab. »Und ich werde dein Geheimnis bewahren.« Der Würger legt das Buch wieder an seinen Platz unter dem Tresen und wischt mit einem feuchten Lappen über die Theke. »Es ist gut, dass das Buch für sich selbst spricht«, sagt er. Dann sieht er mich an und beantwortet meine Frage: »Keiner weiß, wann er zurückkommt. Früher oder später kommen sie aber alle wieder nach Frenchtown zurück.« Arthur stupst mich an. Immer noch im Flüsterton sagt er: »Katastrophenzentrum. Pingpong. Du warst damals der Champion beim Pingpong, stimmt’s?«
»Tischtennis.« Ich korrigiere ihn behutsam, während ich mich an Larry LaSalle und den kurzen Augenblick als Tischtennischampion im Katastrophenzentrum erinnere.
»Was ist los?«, fragte Larry LaSalle. »Nichts«, erwiderte ich. Er traf mich ganz allein auf der hinteren Treppe des Katastrophenzentrums an, wo ich ins Leere starrte. Es gab nichts in meiner Welt, was der Betrachtung wert gewesen wäre. Drinnen übte der Chor für die Follies and Fancies-Inszenierung und sang »Happy Days Are Here Again«, die Worte klangen wie Hohn in meinen Ohren. Ich wusste auch, dass die anderen Kinder an den Werkbänken arbeiteten. »Es muss aber etwas sein«, sagte Larry LaSalle und ließ sich neben mir auf der Treppe nieder. »Ich bin zu nichts gut«, bekannte ich, »ich kann weder singen noch tanzen. Ich bin kein guter Baseballspieler.« Und ich bringe nicht einmal den Mut dazu auf, ein normales Gespräch mit Nicole Renard zu führen, fügte ich im Stillen hinzu. Während ich seinem Blick auswich, bekam ich eine plötzliche Wut auf mein Selbstmitleid. Lass das bleiben, sagte ich mir. »Ich habe dich beobachtet, Francis. Während der Gymnastik. Du hast hervorragende Reflexe. Du hast einen natürlichen athletischen Gang.« Er sprach das Wort aus, als ob er es buchstabieren würde: G-a-n-g. »Ich glaube, ich habe die richtige Sportart für dich.« Trotz meiner Zweifel weckte er mein Interesse. Über Larry LaSalles Meinung konnte man sich niemals hinwegsetzen. »Schau, heute ist Dienstag. Das Haus wird wegen Renovierung für ein paar Tage geschlossen, um neue Geräte
anzuschaffen. Komm am Freitagnachmittag wieder. Aus dir wird noch ein Champion.« »Ich werde hier sein«, versprach ich. Wo sonst hätte ich auch schon sein sollen? Als ich drei Tage später ins Zentrum kam, war ich überrascht: das ganze Haus war völlig umgekrempelt worden. Am äußersten Ende der Festhalle hatte man eine Bühne errichtet und zwei Scheinwerfer installiert. »Für die Musikshows«, erklärte er. Am Eingang stand ein Getränkeautomat. Zwei Pingpongtische nahmen den Platz an den seitlichen Fenstern ein, die auf die Third Street hinausgingen. Als er mich zu dem nächsten Tisch geführt hatte, nahm er den weißen Plastikball in die Hand und ließ ihn ein paar Mal auf die Tischplatte schnellen. »Pingpong«, sagte ich und hoffte, dass meiner Stimme keine Enttäuschung anzuhören war. »Tischtennis«, sagte er. »Pingpong ist ein Spiel, Tischtennis ist eine Sportart. Kennt man auf der ganzen Welt. Ein Sport, den du mit deiner Schnelligkeit und deinem Reaktionsvermögen beherrschen wirst.« Er deutete auf die beiden Schläger auf dem Tisch und sagte: »Los, fangen wir an!« Er zeigte mir, wie ich mich aufstellen musste: wachsam, nach vorne gelehnt, die Knie leicht gebeugt, den Schläger in der rechten Hand auf Gürtellinie. Als er auf die andere Seite des Tisches gegangen war, spielte er mir den Ball zu. Ich schwang den Schläger, traf den Ball, war froh, als ich das Klicken hörte und sah zu, wie er ordentlich übers Netz flog. Der Ball kam zurück. Ich traf ihn wieder. Der Ball prallte auf Larry LaSalles Seite ab und kam wieder zu mir zurück. Erneut kam der Ball an, drehte dann aber wie wild nach rechts ab. Plötzlich hellwach, holte ich nach dem Ball aus, schaffte es auch, ihn
mit dem Schläger zu treffen und sah ihn genauso unberechenbar übers Netz zurückwirbeln. »Ausgezeichnet«, rief Larry LaSalle. »Du hast einen angeschnittenen Ball zurückgeschlagen.« Wir spielten beinahe eine Stunde lang, als sich andere Kinder um uns versammelten, um bei diesem neuen Sport zuzuschauen. Vor lauter Schwitzen klebte mir das Hemd am Körper und der Schläger an der Hand. Ich verfehlte ein paar Bälle, besonders die angeschnittenen, die völlig schief flogen, aber die meisten gab ich zurück. Häufig jubelte die Menge Larry LaSalle zu und das eine oder andere Mal auch mir, wenn ich den Ball mit einem Satz nach vorne zurückbrachte. Noch nie zuvor hatte mir jemand zugejubelt. Schließlich warf er den Schläger auf den Tisch und kündigte eine Pause an, während er mich zum neuen Automaten führte, wo er mir ein Cola spendierte. »Gratuliere, Francis«, sagte er und prostete mir mit seiner Flasche zu. »Du bist ein Naturtalent. Neben Reaktionsvermögen hast du auch die Gabe der Antizipation. Das ist das, was geborene Sportler haben. Sie sehen vorher, wo der Ball landen wird, sei’s beim Baseball, beim Football oder beim Tischtennis.« Bei seinen Worten blieb ich wie angewurzelt stehen. »Du hast auch einen tollen Return. Das ist das Erfolgsrezept, Francis. Überlass den anderen Spielern die Offensive, lass sie die Bälle anschneiden, lass sie die Bälle abtöten. Du gibst sie unverdrossen zurück, zuverlässig und solide. Deinen Gegner wird das frustrieren, er passt nicht mehr so gut auf und macht einen Fehler.« Er stürzte die Cola in einem großen Schluck hinunter. »Morgen werde ich dir den Chop bei der Verteidigung und den Spin beim Angriff beibringen.« So wie er unbeholfene Mädchen in den Ballettunterricht gelockt und Ballspieler und Schläger zu Sängern und Tänzern gemacht hatte, so machte er plötzlich aus Tischtennis eine ganz
große Sache. Er gab unermüdlich Stunden, arrangierte Turniere und ermutigte auch Mädchen dazu, den Sport zu erlernen. Ich verbrachte viele Stunden beim Tischtennis, spielte ein Match nach dem anderen, brachte mehr Druck in mein Spiel, aber konzentrierte mich vor allem auf die Returns, versuchte locker zu bleiben und mit dem Ball mitzugehen. Wie Larry LaSalle vorausgesagt hatte, wurden meine Gegner oft entmutigt und rot vor Zorn, während ich ruhig und gelassen blieb und auf einen Fehler von ihnen wartete. Ich entwickelte keinen spektakulären tödlichen Schlag wie Joey LeBlanc. Meine angeschnittenen Bälle waren nicht so druckvoll wie die von Louis Arabelle, der mit einem Schwung spielte, der trügerisch war: Er schlug die Bälle beinahe beiläufig, aber sie beschrieben unvorhersehbare Flugbahnen und landeten nie dort, wo man es erwartete. Ich gewann jedoch eine Reihe von Spielen und konnte manchmal eine Siegesserie verbuchen. Ich suchte oft nach Nicole unter den Zuschauern, besonders wenn ich gut spielte. Sie war aber nur selten da. Eines Nachmittags, als ich Joey LeBlanc mit fünf Punkten in Folge besiegte, was ihm ausnahmsweise einmal die Sprache verschlug, drehte ich mich um und bemerkte, dass ihr Blick auf mir ruhte. Sie führte die Finger zu den Lippen und winkte mir damit zu. Verwundert fragte ich mich: Hat sie mir wirklich eine Kusshand zugeworfen? Unmöglich. Oder doch? Der Schläger glitt mir aus der Hand und fiel auf den Tisch. Als ich wieder aufsah, war sie verschwunden.
Im Tanzunterricht war Nicole die Begabteste von allen. Ihr schlanker Körper bog und drehte sich wie von selbst, als ob ihre Gliedmaßen aus Gummi seien. Eifersucht durchzuckte mich, als Larry LaSalle sie durch die Luft schleuderte und
dann losließ, wobei er einen kurzen Moment lang der Schwerkraft trotzte und Nicole dann wieder auffing, an sich drückte, sodass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, bevor er sie an seinem Körper herabgleiten ließ. Er applaudierte und schaute ihr tief in die Augen, als sie ihm zu Füßen lag. Für das Dezember-Programm kreierte er eine ganze Nummer für sie und einen Song mit dem Titel: »Dancing in the Dark«. Sie glitt zwischen den Schatten hin und her, als der Plattenspieler spielte, und Larry LaSalle bediente selbst den Scheinwerfer, den er eigens für ihren Auftritt angebracht hatte. Er fuhr fort, mir zusätzlichen Tischtennisunterricht zu geben, und wir trugen unzählige Spiele gegeneinander aus. Sein Blick leuchtete bewundernd auf, wenn mir ein ungewöhnlicher Schlag gelang. »Francis, ich habe mir vorgenommen, dich so weit zu bringen, dass du mich schlägst«, sagte er. Aber er gewann immer, mit einer Reihe von Angriffsschlägen und Returns, die mühelos schienen, aber nie ihr Ziel verfehlten. Als das erste Wochenende im Dezember immer näher rückte, war im Katastrophenzentrum alles zum Zerreißen gespannt. Larry LaSalle hatte eine Doppelveranstaltung angekündigt – ein Tischtennisturnier am Samstag, auf das am Sonntag die Musikshow Follies and Fancies folgen sollte. »Nicole wird am Sonntag der Star sein und ich will, dass du der Star vom Samstag wirst«, sagte Larry LaSalle. »Eigentlich sollte ich keine Lieblinge haben, Francis, aber du und Nicole ihr seid etwas Besonderes für mich.« Ich fragte mich, ob er meine heimliche Liebe zu ihr ahnte. Als ich am Samstag am Katastrophenzentrum ankam, hatten sich schon viele Jugendliche um eine Silbertrophäe versammelt, die einen Spieler bei der Angabe darstellte. Ich stellte mir vor, dass Nicole mir die Trophäe überreichte,
während ich sie mit der Bescheidenheit eines wahren Meisters entgegennahm. Ich war erst am Nachmittag zum Spielen vorgesehen, nach einem ausgeklügelten System, das sich Larry LaSalle ausgedacht hatte, um mittelmäßige Spieler auszusieben. Die besseren Spieler, wie Louis Arabelle, Joey LeBlanc und ich wurden zurückgestellt, um es mit den Gewinnern vom Vormittag aufzunehmen. Als das Freizeitheim vom Lärm der aufspringenden Bälle, den anfeuernden Rufen und dem Applaus der Zuschauer widerhallte, wurde ich unruhig und nervös. Wenn mich nun meine angeschnittenen Bälle im Stich ließen? Und wenn sich meine Returns vom Tisch wegdrehten? Als ich zum Fenster hinausstarrte, spürte ich etwas in meiner Nähe, eine plötzliche Unruhe in der Luft und gleichzeitig einen Hauch des feinen Dufts, den ich mit Nicole Renard verband. »Viel Glück, Francis!« Ich drehte mich um, und da war sie. Obwohl es mir, wie immer in ihrer Gegenwart, die Sprache verschlug, brachte ich wenigstens ein dämliches Lächeln zustande. »Ich sehe dir gerne beim Tanzen zu.« Ich platzte einfach damit heraus und überraschte mich selbst damit, so etwas sagen zu können. »Und ich sehe dir gern beim Spielen zu«, sagte sie. »Wirklich?« Ungläubigkeit schwang in meiner Stimme mit. »Du spielst Tischtennis, wie ein Tänzer tanzt. So wie du dich bewegst. So wie du den Ball schlägst. Manchmal summe ich ein Lied vor mich hin, wenn du spielst. Es ist, als ob du nach dem Lied tanzt.« Zum ersten Mal in meinem Leben erfüllte mich Selbstvertrauen.
»Morgen Nachmittag nach der Show werde ich eine Party bei mir zu Hause geben. Larry findet, dass es sich für Leute im Showgeschäft so gehört. Kommst du auch, Francis?« Ihre Worte machten mich glücklich und schmerzten mich zugleich: Ich freute mich über ihre Einladung, empfand dabei aber eine krankhafte Eifersucht wegen der lockeren Art, mit der sie seinen Namen ausgesprochen hatte – nicht Larry LaSalle oder Mr LaSalle, wie die anderen Mädchen und Jungen, sondern eben Larry ganz lässig hingeworfen, als ob sie mehr füreinander wären als nur Lehrer und Schülerin. Unser Gespräch wurde durch die Ankündigung unterbrochen, dass die Wettkämpfe für das Halbfinale gerade begannen. Nicole berührte mich an der Schulter, ihre Hand war sowohl sanft als auch zärtlich. »Viel Glück«, wünschte sie mir. Zwei Stunden später hatte ich mehr Spiele überstanden, als ich zählen konnte, die Zeit verging wie im Fluge, als der Ball auf dem Tisch hin- und herflog. Angabe und Return. Angeschnittene Bälle und Bälle ohne Schnitt. Tödliche Schläge und dann wieder weiche Schläge. Die Zahl meiner Gegner reduzierte sich in rascher Folge. Joey LeBlanc, der an diesem Tag große Schwierigkeiten bei seiner Angabe hatte, verlor schließlich haushoch mit 21 zu 12 und trollte sich murrend. Noch nie hatte ich mein Schicksal so klar vor Augen gesehen. Ich fühlte mich unüberwindlich, unbesiegbar, hatte den Ball immer unter Kontrolle. Die Zuschauer spendeten oft Beifall. Bei spektakulären Schlägen, ob von mir oder meinem Gegner, ging ein erstauntes Raunen durch die Menge, und es wurde still, wenn der Ausgang eines Spiels zweifelhaft schien. Für mich aber gab es keinen Zweifel. Zwischen den Spielen suchte ich Nicole mit meinen Blicken und entdeckte sie oft, wie sie mir ermutigend zulächelte. Der Ort schien leer, wenn ich nach ihr suchte und sie nicht fand.
Am Nebentisch hatte auch Louis Arabelle ein Spiel nach dem anderen gewonnen und seinen eigenen Beifall bekommen. Wir schauten uns zwischen den Spielen an und grinsten, da es zwangsläufig schien, dass wir uns im Finale gegenüberstehen würden. Jedes Mal, wenn am Nebentisch ein Beifallssturm ausbrach, wusste ich, dass Louis wieder einen spektakulären Punkt erzielt hatte. Schließlich waren nur noch Louis und ich übrig geblieben. Wir standen uns am Tisch gegenüber. Beide unbesiegt. Louis groß und schlaksig, mit langen Armen und Beinen, bereit, sein trügerisches Spiel zu spielen. Nie nervös, nie in Eile. Ich bereitete mich auf seine weichen Schläge vor, seine Schwindel erregenden angeschnittenen Bälle. Louis erzielte schnell fünf Punkte in seinem ersten Angabespiel, er überrumpelte mich mit der betonten Lässigkeit, mit der er seinen Schläger erhob, und der Heftigkeit, mit der der Ball übers Netz auf mich zugeflogen kam. Lähmende Stille machte sich breit. Ich reagierte nicht mit Panik, sondern nahm mir vor, cool zu bleiben: Dies war ein Tag, an dem ich nicht verlieren konnte. Durch meine eigenen fünf Angaben stand das Spiel unentschieden. Und danach stellte ich mich einfach gute eineinhalb Meter von der Tischkante entfernt auf und konzentrierte mich auf den Return. Louis verlor drei Punkte in Folge und zum ersten Mal sah ich ihn maßlos enttäuscht, sah, wie er sich noch mehr anstrengte, finster dreinschaute und zuletzt immer mehr Fehler machte. Ich erzielte 21 Punkte gegenüber seinen 18, indem ich einfach so spielte, wie Larry LaSalle es mich gelehrt hatte: mit Geduld und indem ich cool und gelassen blieb, während Louis sich immer mehr ins Zeug legte. Als er seinen letzten Schlag verpatzt hatte, der mich zum Sieg führte, erhob sich ein
Geschrei unter der Menge, auf das Hochrufe und Pfiffe und Getrampel folgten. Im Siegestaumel drehte ich mich um, mein Herz schlug heftig, das Blut pochte mir vor Freude in den Adern. Die Trophäe hoch über dem Kopf haltend, sah ich Larry LaSalle durch die Menge auf mich zukommen, Nicole neben ihm. Ihre Augen waren auf mich gerichtet, leuchteten für mich. Wie in einem Traum, der plötzlich wahr wird, nahm Nicole Larry LaSalle die Trophäe ab und übergab sie mir, das Strahlen in ihrem Gesicht spiegelte mein eigenes wider. Unter der Menge wurde es still, als ich die Trophäe an meine Brust drückte, meine Augen wurden feucht. Erwartete man eine Ansprache von mir? »Passen Sie bloß auf, Mister LaSalle«, rief Joey LeBlanc, »Francis hat Sie durchschaut!« Seine Worte wurden beifällig aufgenommen, und ich wünschte, einen Weg zu finden, um Joey LeBlanc zum Schweigen zu bringen. Dann kamen Rufe aus der Menge: »La-ree… La-ree…« Sie riefen seinen Vornamen, was sie sich alleine nicht getraut hätten. »La-ree… Laree…« Ich schauderte, der Augenblick meines Triumphs war besudelt und entwertet und ich erkannte, dass sie Larry LaSalle und mich um die eigentliche Meisterschaft des Katastrophenzentrums spielen lassen wollten. Dann: »Fran-cis… Fran-cis…« Mehr Applaus, Zurufe und Pfiffe. Und eine Stimme aus der Menge: »Du schaffst es, Francis…« Larry LaSalle nickte mir zu, die Schultern fragend hochgezogen, als ob er sagen wollte: Es bleibt dir überlassen,
Francis, wie können wir aber zu den Fans ›Nein‹ sagen und sie enttäuschen? Plötzlich schoss es mir durch den Kopf: Vielleicht kann ich ihn schlagen. Den ganzen Nachmittag über war mein Spiel beinahe fehlerlos gewesen, sogar Louis Arabelle, den Besten von allen, hatte ich leicht geschlagen. Wie die Spieler in den Kasinos, die eine Glückssträhne haben und nicht verlieren können. Vielleicht hatte ich so eine Glückssträhne. Ich nickte Larry LaSalle zu und nahm den Schläger in die Hand. Warf nochmals einen Blick auf Nicole und sah sie zustimmend lächeln. Ich verschaffte mir einen festen Stand und machte einen Probeschwung. Die Zuschauer fingen an zu brüllen. Das Spiel begann. Ich hatte Angabe. Der Schläger traf den Ball. Es ging mir nicht um Schnelligkeit oder Schnitt, ich wollte die Bälle nur genau und ohne Risiko platzieren und dann wie gewöhnlich defensiv spielen. Mein Herz schlug regelmäßig, mein Körper war einsatzbereit. Der Ball kam wieder zu mir. Ich schlug ihn zurück. Er kam immer wieder und ich schlug ihn immer wieder zurück. Larrys Return war perfekt platziert, an der Tischkante, beinahe außerhalb meiner Reichweite, aber irgendwie erreichte ich ihn, spielte zurück und brachte Larry aus der Fassung. Mein Punkt. Nächster Punkt für ihn, dann wieder für mich. Dann für ihn. Wir hatten die erste Hälfte hinter uns, es stand 13 zu 12. Ich hatte Angabe, als ich bemerkte, dass er mich gewinnen ließ und dabei das Spiel so raffiniert lenkte, dass nur ich erkannte, was er tat. Sehr geschickt verfehlte er meine Returns um Haaresbreite, tat frustriert und platzierte seine Returns an scheinbar unmöglichen Stellen, aber gerade noch in meiner Reichweite.
Der Lärm der Menge verebbte, ging in Schweigen über, das nur durch das Klicken des Balls auf dem Tisch und das weiche Klacken des Balls gegen die genoppte Gummischicht unserer Schläger unterbrochen wurde. Ein Riesenseufzer ging durch die Menge, wenn ein spektakulärer Punkt gemacht wurde. Ich wagte es nicht, den Blick vom Spiel abzuwenden, um Nicole anzusehen. Zwei Spiele fanden zur gleichen Zeit statt: das harte, unerbittliche Spiel, das die schweigende Menge verfolgte, und das raffinierte, sanfte Spiel, bei dem mich Larry LaSalle gewinnen ließ. Schließlich stand es 20 zu 19 für mich. Ein Punkt noch bis zum Sieg. Ich widerstand der Versuchung, Larry LaSalle in die Augen zu sehen. Er hatte immer noch Angabe. Geduckt und in Wartestellung schaute ich ihn schließlich an, sah seine zusammengekniffenen Augen, die plötzlich undurchdringlich und geheimnisvoll waren. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich begriff, dass er die nächsten beiden Punkte mühelos gewinnen und mir die Meisterschaft nehmen konnte. Er konnte sie so beschämend leicht gewinnen, dass die Menge – vor allem Nicole – sofort merken würde, dass er die ganze Zeit mit mir geplänkelt hatte. Seine Angabe war perfekt, aber mein Return war es ebenfalls. Wir begannen ein endloses Hin und Her, trafen, schlugen zurück, Bälle, die man beinahe verfehlte, und solche, nach denen man hechten musste, bis der Ball zuletzt auf meine Seite flog, ein atemberaubender Schlag, der zur Tischkante abdrehte und der Menge einen Laut des Erstaunens entlockte, obwohl Larry und ich wussten, dass er innerhalb meiner Reichweite lag. Sein abschließendes Geschenk für mich. Hechtend schlug ich den Ball an die einzige Stelle zurück, von der aus er ihn nicht zurückgeben konnte.
Er führte die Beifallsrufe, das Gebrüll und Pfeifkonzert zur Feier des Tages an. Er eilte an meine Seite, drückte mir die Hand, umarmte mich ungestüm, sein Ohr so nahe, dass ich ihm zuflüstern konnte: »Danke schön!« Er überließ mich der Menge, als der Beifall andauerte, mein Name ununterbrochen gerufen wurde. Ich suchte Nicole mit den Blicken, entdeckte ihr glückliches Gesicht, die Hände wie beim Gebet gefaltet, die Augen halb geschlossen, als ob sie sich mir opfern wollte. Einen Augenblick später, als sich die Menge auflöste, stand sie plötzlich vor mir, strahlte, umklammerte meine Hand und flüsterte: »Mein Champion!« Und sie war mir so nahe, dass ich ihren warmen Atem auf meiner Wange spürte: »Bis morgen!« Aber ›morgen‹ war der 7. Dezember 1941.
Arthur Rivier lehnt zusammengesackt an einem Backsteingebäude an der Einfahrt zur Pee Alley. Mir wird sofort klar, dass er betrunken ist. Das Licht der Straßenlampe fällt auf seinen offenen Mund und die Speichelspuren auf Lippen und Kinn. Beinahe Mitternacht und die Third Street menschenleer. In der Wohnung wurde ich von Unruhe ergriffen und beschloss, in den Straßen umherzustreifen, weil ich mir einbilde, dass Larry LaSalle genauso gut in der Nacht wie am Tag wieder in Frenchtown aufkreuzen kann. Arthur Rivier blinzelt, als er mich kommen sieht. »Alles o.k.?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass es ihm schlecht geht. »Niemand spricht über den Krieg«, murmelt er, versucht mich scharf ins Auge zu fassen, was ihm auch schließlich gelingt, und nun durchbohrt er mich mit seinem Blick, die Trübung ist verschwunden. »Sie sprechen über GIGesetzesentwürfe, über das Studium am College, über
Heiraten und ob man zur Polizei oder Feuerwehr gehen soll, aber sie sprechen nicht über den Krieg…« Ich lege ihm den Arm um die Schulter, um ihn zu stützen, weil er an der Mauer herunterzurutschen droht. Eine lächerliche Geste, weil er mindestens 20 Kilo schwerer ist als ich. Er erhebt das Gesicht zum Nachthimmel. »Ich will darüber sprechen, über meinen Krieg«, jammert er, »und auch deinen Krieg, Francis. Jedermanns Krieg. Einen Krieg, über den niemand sprechen will…« »Was für ein Krieg ist das?«, frage ich, nur um etwas zu sagen, weil ich auf die Trauer in seiner Stimme reagieren muss, erwarte aber keine Antwort. »Der panische Krieg«, sagt er und schließt die Augen. »Mein Gott, hatte ich vielleicht Angst, Francis! Ich hab in die Hose gemacht. Eines Tages, als ich über ein freies Feld rannte, hatte ich solche Angst, dass ich in die Hose geschissen hab, Kugeln flogen um die Füße und alles gab nach…« Als er die Augen wieder öffnet, fragt er mich: »Hast du dich nicht gefürchtet?« Ich erinnere mich an die Ortschaft, unseren vorrückenden Zug und die Bemerkung von Eddie Richards: »Was tun wir hier eigentlich?« Und den Gestank von Durchfall. »Alle haben sich gefürchtet«, tröste ich ihn. »Heroes!«, höhnt er, die Stimme durchdringend und bitter, alle Anzeichen von Betrunkenheit sind verschwunden. »Wir waren keine Helden. Der Würger und sein Album! Keine Helden in diesem Album, Francis. Nur wir, Jungen aus Frenchtown. Verschreckt, voller Heimweh, mit Magenkrämpfen und Kotzen. Keine Glanzstücke wie in den Zeitungsartikeln oder Nachrichtensendungen. Wir waren keine Helden. Wir waren nur dort…«
Während er die Augen schließt, lässt er sich wieder gegen die Mauer fallen, als ob die Worte all seine Energie aufgebraucht hätten. Schatten zeichnen sich an der Einfahrt ab. Als ich aufblicke, sehe ich, wie sich die Silhouetten von Armand und Joe vor der Straßenbeleuchtung der Third Street abheben. »Armer Arthur«, murmelt Armand und geht auf ihn zu, legt den Arm um ihn und tastet behutsam sein Gesicht ab. Ein tiefes Schnarchen bläht Arthurs Nasenflügel und lässt seine Lippen flattern. Wir Armen, denke ich, als ich sie mit schwankenden Schritten weggehen sehe, Arthur Rivier zwischen ihnen. Ein kalter Wind rüttelt an den Gebäuden und treibt mich zu Mrs Belanders Wohnung zurück.
Larry LaSalle war einer der ersten Männer von Frenchtown, die sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten. Er gab seine Absicht am Montagnachmittag bekannt, ein paar Stunden, nachdem Präsident Roosevelt im Radio verkündet hatte, dass sich die Vereinigten Staaten mit Japan im Kriegszustand befänden, nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor. Patriotischer Eifer gepaart mit Wut über den Überraschungsangriff im Pazifik griff in den Straßen von Frenchtown und den Radiosendern und Zeitungen zufolge in der ganzen Nation um sich. Es bildeten sich sofort Schlangen von Männern und Frauen vor den Rekrutierungsstellen, die dem Ruf gefolgt waren, für ihr Land zu kämpfen. An jenem Nachmittag stand Larry LaSalle im Katastrophenzentrum vor uns, das Filmschauspielerlächeln war grimmiger Entschlossenheit gewichen. »Wir können das den Japsen nicht durchgehen lassen«, sagte er, in seinem Blick blitzte Wut auf, die wir bei ihm noch nicht kannten. Als wir
ihm für seine Ankündigung Beifall spenden wollten, hob er abwehrend die Hand und sagte: »Aber nicht doch, Kinder. Ich tue nur, was Millionen andere auch tun.« Larrys Aufruf markierte für uns den Beginn des Krieges. Andere Eintritte in die Armee folgten, als unsere Väter und Brüder einrückten. Täglich versammelten sich Leute auf dem Monument Square, um sich von den Männern zu verabschieden, die mit Bussen nach Fort Delta gebracht wurden, um in die Armee oder Luftwaffe einzutreten, und mit dem Zug in die Hauptquartiere der Marineinfanterie und Kriegsmarine gefahren wurden. In den Fabriken von Frenchtown wurde rund um die Uhr gearbeitet, als die Kriegsproduktion anlief. »Wir stellen keine Kanonen und Bomben her«, sagte Onkel Louis eines Tages beim Abendessen, »aber unsere Soldaten brauchen ganz alltägliche Dinge, wie Kämme und Bürsten, Knöpfe, Messer und Gabeln. Das Leben geht weiter, sogar beim Militär.« Es ging das Gerücht um, dass die Kammfabrik von Monument, in der Onkel Louis arbeitete, in einer Sonderabteilung geheimes Kriegsgerät produzierte. Mein Onkel legte den knorrigen Zeigefinger auf den Mund: »Pst«, sagte er. Ich erschauerte: ein Kriegsgeheimnis in Frenchtown! Mussten wir vielleicht vor Spionen auf der Hut sein? Larry LaSalles Eintritt in die Armee bewirkte, dass das Katastrophenzentrum für einen Zeitraum schloss, den die Leute als »die Dauer« bezeichneten. Die Jugendlichen trieben sich nun im Schulhof von St. Jude oder vor Laurier’s Drugstore herum. Innerhalb kürzester Zeit machte sich die Abwesenheit von jungen Männern auf den Straßen von Frenchtown bemerkbar. In der Sonntagsmesse betete Vater Balthazar von der Kanzel herab ›für die Sicherheit unserer Männer und Frauen im Krieg‹. Mit der Zeit waren auch Frauen in Uniform zu sehen. Sie wurden »Waves« und »Spars«
genannt und sie trugen auf den Straßen einen Stolz zur Schau, den sie als Fabrikarbeiterinnen noch nicht gehabt hatten. Unerfahrene junge Leute und Frauen übernahmen manche der Arbeiten in den Läden und Fabriken. Mr Laurier gab mir eine Teilbeschäftigung in seinem Drugstore für die Zeit nach der Schule und an den Wochenenden. Ich musste Botengänge machen, den Boden wischen, den Abfall wegbringen und die Regale mit Ware aus dem Lager auffüllen. Besonders gern füllte ich die Behälter für Süßigkeiten auf mit Tootsie Rolls, Butterscotch Bits und den großen 5-Cent-Schokoladenriegeln wie Baby Ruth und Mr Goodbar. Mr Laurier, immer höflich und geschniegelt in seinem weißen Hemd mit schwarzer Fliege, zahlte mir zwei Dollar fünfzig pro Woche und spendierte mir am Samstagnachmittag ein Schokoladenfrappe, nachdem er mir das Geld ausgehändigt hatte. Nicole Renard schaute ab und zu vorbei. Manchmal blieb sie noch ein bisschen, nachdem sie ihr Lieblingskonfekt ausgesucht hatte: Butterscotch Bits, drei für einen Penny. Sie hatte ebenfalls die Stadtbücherei von Monument für sich entdeckt und erzählte mir, wie sehr sie bei den letzten Seiten von In einem anderen Land geweint hatte. »Das ist mein Lieblingsroman«, sagte ich. »Hast du Rebekka gelesen?«, fragte sie. »Nein, aber ich habe den Film gesehen«, erwiderte ich und war erstaunt, dass wir eine ganz normale Unterhaltung führten. »Ich auch, aber mir gefiel das Buch besser«, sagte sie. »Was magst du lieber, Filme oder Bücher?« »Beides«, sagte ich. »Ich auch.« Und dann plötzlich Stille, aber ein wohlwollendes Schweigen, als sie mir ein Bonbon anbot.
Ich holte tief Atem und sagte: »Hättest du Lust, mit mir mal ins Kino zu gehen?« Die Erde stand still. »Das wäre prima«, sagte sie schließlich. Die Samstagnachmittage im Plymouth in der Innenstadt wurden zu unserem wöchentlichen Rendezvous. Bei dem Wort schwirrte mir der Kopf: Ich ›ging‹ wirklich mit Nicole Renard. Wir trafen uns vor dem Kino, und sie bestand darauf, ihre Eintrittskarte selbst zu bezahlen, obgleich sie sich von mir zu Milk Duds aus dem Automaten im Foyer einladen ließ. Das Kino war immer überfüllt und laut, die Nachmittagsvorstellungen waren speziell für Jugendliche, mit einer Cowboy-Serie und zwei Filmen. Die Movietone News erinnerten an den Krieg, der um den ganzen Erdball tobte, und ein grimmiger Kommentator sprach von Orten, die uns vor ein paar Monaten noch unbekannt gewesen waren – Bataan im Pazifik und Tobruk in Afrika. Wir jubelten unseren Truppen zu und buhten und pfiffen, immer wenn Hitler auf der Leinwand erschien und seinen Arm zu diesem verhassten Gruß erhob. Ab einem gewissen Zeitpunkt während der Vorführung hielten wir dann Händchen, ihre Hand fühlte sich in der meinen kalt an, aber ich musste meine Hand immer wieder wegziehen, um mir den Schweiß von der Handfläche abzuwischen. Kurz vor dem »Ende« des letzten Films auf der Leinwand gestattete sie mir einen unschuldigen Kuss, unsere Lippen berührten sich kurz, der Schokoladengeschmack ging von ihren Lippen auf meine über. Einmal rutschte meine Hand versehentlich herunter und strich über ihren Pullover. Ich war erstaunt über die Weichheit ihres Busens. Meine Hand verweilte einen Augenblick lang dort und Nicole protestierte nicht. Mir blieb die Luft weg und ich kam erst wieder zu Atem, als wir uns zum Gehen erhoben.
Auf dem Nachhauseweg sprachen wir nicht nur über die Filme, die wir gesehen hatten, sondern über tausenderlei andere Dinge. Ich war erstaunt über das Fehlen von Pausen in unserer Unterhaltung, und dass ich offensichtlich immer etwas zu sagen hatte. Sie hatte eine Art, mich aufzuziehen, die mich meine Schüchternheit vergessen ließ. »Was hast du über deine Karriere als Tischtennis-Champion hinaus einmal vor?« »Ich weiß nicht.« Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Ja, was hatte ich eigentlich vor? »Du musst doch Pläne haben, Francis. Sag, was dir ganz spontan dazu einfällt.« »Ich will jedes Buch in der Stadtbücherei lesen.« »Gut«, sagte sie, »und wie steht’s mit dem Schreiben? Hast du nicht Schwester Mathildes Preis für Kreatives Schreiben bekommen?« Ich wurde ganz rot vor Freude und Verlegenheit, und meine Wangen glühten. »Ach, ich könnte niemals ein ganzes Buch schreiben!« »Ich glaube aber schon.« Ich musste das Thema wechseln: »Und du, Nicole? Was hast du einmal vor?« »Ach, alles Mögliche«, sagte sie, hob den Kopf und sah sich nach den dreistöckigen Mietshäusern von Frenchtown um, die an uns vorüberzogen, und nach dem Kirchturm von St. Jude in der Ferne. »Die Welt dort draußen ist so groß. Ich würde gern mehr im Krieg mithelfen. Vielleicht Krankenschwester werden, wenn der Krieg lange genug dauert…« Ich wusste, dass sie mit den Nonnen im Kloster Socken und Schals für die Soldaten strickte. Ich hänselte sie wegen des Geruchs von gekochtem Kohl, den sie an sich hatte, wenn sie nach dem Kloster bei Laurier’s vorbeischaute. »Das Parfüm des Klosters«, sagte ich und kam mir dabei sehr witzig vor.
»Kein übler Geruch, Francis«, sagte sie, »jedenfalls besser als ›Pariser Nacht‹.« Das war das billige Parfüm, das in unserem Laden am besten ging. Als wir einmal am Katastrophenzentrum vorbeikamen, fing ich an, »Dancing in the Dark« auf eine parodistische Art und falsch wie immer zu singen, weil ich sie gerne lachen hörte. Aber dieses Mal lachte sie nicht. »Das war eine traurige Party, nicht wahr?«, sagte sie. Ich stimmte ihr zu, dachte an diese Party vom 7. Dezember, als die Nachricht eintraf, dass die Japaner einen uns völlig unbekannten Ort namens Pearl Harbor bombardiert hatten. Die Party erschien plötzlich abgeschmackt und überflüssig. Wie konnten wir ein Tischtennisturnier und eine Musikshow feiern, wenn man unser Land angegriffen und sich unsere Welt in nur wenigen Augenblicken so drastisch verändert hatte? Die Party nahm ein jähes Ende, als alle aufbrachen, um nach Hause zu kommen und durch die Straßen eilten, als ob man jederzeit mit Bombenangriffen auf Frenchtown rechnen müsste. An einem Sonntagnachmittag im Dezember hatten wir von einem Augenblick zum anderen erfahren, dass die Welt kein sicherer Ort mehr war. Laurier’s Drugstore wurde der Versammlungsort der Leute von Frenchtown, die The Monument Times oder The Wickburg Telegram dort kauften, den Verlauf des Krieges diskutierten und es nicht fassen konnten, wie schnell aus den Jungen von Frenchtown Frontkämpfer wurden. »Erstaunlich«, sagte Mr Laurier, »so ein Junge macht den Abschluss an der High School, bekommt sechs Wochen lang eine Grundausbildung mit Gewehr und Granaten, dann wird er auf einem Truppentransporter nach Übersee verfrachtet und fünf Monate später – fünf Monate später! – kämpft er gegen die Japsen oder Deutschen.«
Das kleine rote Radio auf dem Regal neben dem Siphon gab plärrend die Nachrichten des Tages zwischen Kriegsliedern wie »Rosie an der Nietmaschine« von sich, in denen Arbeiterinnen in den Rüstungsbetrieben verherrlicht wurden, und »Die weißen Klippen von Dover«, wo es um die Klippen ging, die die Piloten als Erstes erblickten, wenn sie nach den Bombenangriffen über dem europäischen Festland zurückkehrten. Tag für Tag brachte die Times auf Seite fünf Geschichten und Bilder von unseren Truppen und oft wurden die Auszeichnungen für Heldentaten auf dem Schlachtfeld bekannt gegeben. »Hast du das von Larry LaSalle gehört?«, fragte Nicole atemlos, als sie eines Dienstagnachmittags in den Laden stürmte. Obgleich sie mit mir am Süßwarenstand sprach, drehten sich die Kunden um und hörten ihr zu. Ein tiefes Schweigen trat im Laden ein. »Er hat einer ganzen Einheit das Leben gerettet«, verkündete sie, »hat eine feindliche Geschützstellung erobert. Es kam im Radio…« Am darauf folgenden Samstagnachmittag im Plymouth waren wir ganz überwältigt, als wir plötzlich Larry LaSalle in den Movietone News sahen. Er war unrasiert, das Gesicht hager und abgespannt, die Augen tief in die Höhlen gesunken. Aber es war doch unser Larry LaSalle. Hochrufe erfüllten den Raum, die Zuschauer trampelten und übertönten beinahe die Stimme des Kommentators: »Ein Marineinfanterist aus New England, einer der großen Helden der Kampfhandlungen im Pazifik, hat den Silver Star verliehen bekommen…«, und wieder erbebte das Kino von Hochrufen und Applaus, die den restlichen Kommentar übertönten.
An diesem Abend und dem darauf folgenden Tag drängten sich die Bewohner von Monument im Plymouth, um den ersten großen Kriegshelden der Stadt auf der Filmleinwand zu sehen.
Ich habe das Tuch und die Bandage nicht schon immer getragen. Im Krankenhaus in England, auf seinem Gelände und auch außerhalb des Geländes habe ich das Brennen der Luft auf meinem rohen Fleisch genossen, als zum ersten Mal die Verbände entfernt wurden. Ich hatte mich kaum einmal in Spiegeln, Fenstern oder Glastüren erblickt. Bis zu jenem dreitägigen Kurzurlaub in London. Als ich bei strahlendem Frühlingssonnenschein spazieren ging, war ich enttäuscht, weil ich London in meinem Bewusstsein immer mit nebligen Tagen und Nächten und Jack the Ripper oder Sherlock Holmes, die im Dunkeln herumschlichen, in Verbindung gebracht hatte. Ich steuerte auf die Baker Street zu und hoffte die Nummer 221 B zu finden, obgleich ich wusste, dass die Adresse nur in den Geschichten von Conan Doyle existierte. Beim Gehen merkte ich, dass Leute auf mich zukamen und sich dann abwandten oder mir viel Raum ließen zum Vorübergehen. Ein kleiner Junge an der Hand seiner Mutter schrie plötzlich laut auf und verbarg sein Gesicht in den Rockfalten seiner Mutter. Ich fragte mich, was ihn erschreckt hatte, als er mich wieder mit einem weit aufgerissenen Auge verstohlen anguckte, bevor er in Tränen ausbrach. Ich wich an eine Hausmauer zurück und ging auf das Spiegelglasfenster einer Kneipe zu, wo ich neben der Reklame für Bier und Nierenpasteten das sah, was der kleine Junge gesehen hatte: mein Gesicht. Eigentlich gar kein Gesicht: die Nasenlöcher wie die Schnauze eines Tiers, die sich schälenden
Wangen, der zahnlose Mund, Kiefer und Mund zusammengezwängt wie von unsichtbaren Klammern. Ich versuchte den Kragen meiner Eisenhower-Jacke hochzuziehen, damit wenigstens der untere Teil meines Gesichts verdeckt war, aber der Kragen war zu schmal, verdeckte überhaupt nichts, sodass ich mit gesenktem Kopf den Gehsteig entlangeilte, den Blickkontakt mit den Passanten mied und mir wünschte, unsichtbar zu sein. Warum hatte mich niemand darauf hingewiesen?, fragte ich mich verbittert im Doppeldeckerbus, wo ich mein Gesicht in den Händen verbarg, begriff dann aber, dass die Ärzte und Schwestern sich wahrscheinlich so an die Verwundeten und Verstümmelten gewöhnt hatten, dass das Abnormale für sie normal geworden war. Enrico schenkte mir das weiße Halstuch, das er angeblich von einem Luftwaffenpiloten beim Poker gewonnen hatte. Jetzt in Frenchtown heilt mein Gesicht wieder. Das Gebiss gibt meiner unteren Gesichtshälfte eine Form und mein Kiefer ist fester, aber die Nasenlöcher sind immer noch Höhlen und meine Wangen heilen einfach nicht richtig, bleiben wund und rot. Wenn ich mich im Spiegel ansehe, sehe ich nicht mehr mich, sondern einen Fremden, der langsam Gestalt annimmt. Um ehrlich zu sein, es ist mir egal, ob meine Wunden heilen oder nicht. Weil ich weiß, dass es nichts ausmacht. Für mich ist es wichtig, dass ich mein Gesicht vor anderen verberge, nicht nur, um ihnen den Schock eines verstümmelten Gesichtes zu ersparen, sondern um zu verhindern, dass sie später, wenn ich meinen Auftrag ausgeführt habe, den kleinen Francis Cassavant damit identifizieren. Jeden Tag beim Erwachen weiß ich, dass dies der Tag sein könnte, an dem Larry LaSalle auftaucht, und ich fange an, Türen zu schließen. Keine wirklich vorhandenen Türen, sondern Türen zur Zukunft. Ich nehme die Adresse und
Telefonnummer von Dr. Abrams in Kansas City und verbrenne sie im Spülstein in der Küche. Das Nächste ist die Liste der Krankenhäuser für Veteranen, die mir Enrico mitgegeben hat, als ich England verließ. »Ich werde in einem davon sein«, sagte er mir, »bis ich die richtige Entsorgungsmethode finde.« Ich wusste, was er unter ›Entsorgung‹ verstand, weil ich mir bereits meine eigene Methode nach der Ausführung meines Auftrags ausgedacht hatte. Ich sehe zu, wie die Liste mit Krankenhäusern in Flammen aufgeht. Leb wohl, Enrico! Der Geruch von Asche erfüllt die Luft, feuchter Weihrauch, der für Larry LaSalles Heimkehr brennt. Seine zweite Heimkehr. Während ich die Augen schließe, denke ich an Nicole und wie seine erste Heimkehr im Krieg unser Leben für immer veränderte.
Leutnant Lawrence LaSalle, U. S. Marineinfanteriekorps, ausgezeichnet mit dem Silver Star für heroische Taten in den dampfenden Dschungeln von Guadalcanal im Südpazifik, Held der Wochenschauen und Rundfunkübertragungen, kam auf Heimaturlaub nach Hause. Er sollte am 3. Juli 1943 mit dem 15-Uhr-10-Zug aus Boston eintreffen. An diesem feuchtwarmen Nachmittag versammelte sich eine Menschenmenge am Bahnhof von Monument, um ihn zu empfangen, darunter Jugendliche aus dem Katastrophenzentrum wie z. B. Joey LeBlanc, Louis Arabelle, Marie LaCroix, ich selbst und Eltern, die wussten, dass Larry LaSalle für ihre Kinder in der trostlosen Zeit der Wirtschaftskrise ein kluger Rattenfänger von Hameln gewesen war.
Ich blickte in die Richtung von Monument Park, weil ich es nicht erwarten konnte, bis Nicole zu uns stieß. Als freiwillige Helferin beim Roten Kreuz von Monument richtete sie an diesem Tag das Essgeschirr für die Soldaten her. Sie hatte gemeint, dass sie rechtzeitig zu Larry LaSalles Ankunft bei uns sein werde. Ich setzte einen Fuß aufs Gleis und hoffte, dass ich das leichte Vibrieren spüren würde, das das Herannahen des Zuges ankündigte. Die Hitze des Gleises ging durch meinen Schuh. Als ich mich umwandte, sah ich Nicole aus dem Hitzedunst auf mich zukommen. Sie trug einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse. Sie winkte mir zu, als sie auf den Bahnhof zueilte. Zur selben Zeit kündigte das Schnaufen und Pfeifen der Lokomotive und das Zischen des Dampfes die Ankunft des Zuges aus Boston an. Einen Augenblick später stand Larry LaSalle auf der Plattform am Ende eines Wagens, in der grünen Uniform mit dem Dienstgradabzeichen des Leutnants auf den Schulterklappen und den Abzeichen und Orden auf der Brust. Er lächelte sein altes Filmstarlächeln, die Haut von der Sonne gebräunt und glänzend, kleine Fältchen um die Augen, als er uns zuzwinkerte. Wir jubelten ihm zu, als er von der Plattform herunterkam und auf unsere Gruppe zuging, immer noch einen Touch von Fred Astaire in seinem Gang, aber etwas an ihm war anders. Er war nun dünn wie eine Messerklinge und schien genauso gefährlich. Die Züge um Nase und Wangenknochen traten schärfer hervor. Ich erinnerte mich, wie schwer es mir gefallen war, sich ihn als kämpfenden Marineinfanteristen vorzustellen, aber als ich seinen schlanken, durchtrainierten Körper nun sah, konnte ich mir gut vorstellen, wie er einen Hügel auf Guadalcanal erstürmte, das Gewehr in der Hand, mit
gezücktem Bajonett, Granaten am Gürtel, und dem Feind Kugeln in den Leib jagte. Dann war er plötzlich bei uns, und wir umringten ihn, bedrängten ihn, umarmten ihn und kamen ihm so nahe wie nur möglich. »Mein Kriegsheld!«, rief Joey LeBlanc, der natürlich wieder den Hanswurst spielte, aber er sprach aus, was wir alle dachten. Ja, Larry war unser Kriegsheld, aber schon lange vor dem Krieg war er für uns ein Held gewesen. Er rückte von uns ab, hielt uns auf Distanz, trat zurück. »So kann ich euch besser sehen«, sagte er und sah uns der Reihe nach an. Als sein Blick auf mich fiel, machte ich eine Geste, als ob ich den kleinen, weißen Ball übers Netz spielte, und er schwenkte den Arm wie beim Return. Sein Blick wanderte zu Nicole, und ich sah ein plötzliches Aufwallen von Zuneigung in seiner Miene. Nicole verbeugte sich, neigte den Kopf wie eine Balletttänzerin, und als Antwort darauf verbeugte er sich ebenfalls, den Blick erfüllt von ihr. Vor Verwirrung wurden ihre Wangen knallrot, was nur zu ihrer Schönheit beitrug. Bürgermeister Harold Burnham kam in einem großen, schwarzen Auto, gefolgt von Stadtoffiziellen, von denen die meisten den kurzen Weg vom Rathaus zu Fuß gingen. Die Autos veranstalteten ein Hupkonzert, und weitere Jubelrufe erhoben sich in die heiße Nachmittagsluft, als der Bürgermeister Larry LaSalles Hand kräftig schüttelte, ihn heftig umarmte und ihm einen silbernen Schlüssel zur Stadt überreichte. »Sie sind unser Grund zum Feiern«, erklärte der Bürgermeister und wies damit auf den Umstand hin, dass die Feiertage in den Kriegsjahren still begangen wurden. Keine Freudenfeuer oder Feuerwerke, keine Paraden. »Ihre Anwesenheit in unserer bedeutenden Stadt, Leutnant Larry LaSalle, ist Grund genug zum Jubel.«
Andere Beamte hielten Reden, die Worte gingen über uns hinweg, ohne uns zu berühren, während Larry LaSalle bescheiden und mit gesenktem Blick vor der Menge stand. Schließlich trat Ruhe ein und er wandte sich an die Versammlung: »Ich danke Ihnen«, sagte er. Er sprach von den Männern und Frauen, die auf der ganzen Welt im Namen der Freiheit ihren Dienst versahen und wie einige von ihnen mutig und bereitwillig ihr Leben dafür opferten. Er hielt inne und sah auf uns herab, auf seine Kinder vom Katastrophenzentrum. »Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Und am liebsten möchte ich mit meiner Clique vom Katastrophenzentrum zusammen sein.« Wieder einmal hatte er uns das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein, indem er uns von den übrigen Stadtbewohnern abhob, die dort versammelt waren. Nicole drückte mir die Hand, und meine Augen wurden feucht. »Für diese jungen Leute müssen wir die Welt sicher machen – sie sind unsere Zukunft…« Die Feier ging während des Nachmittags und Abends weiter und gipfelte in einer nächtlichen Tanzveranstaltung im Rathaus. Der Saal war ein heller Punkt in der dunklen Stadt im Kriegszustand, die Straßenbeleuchtung war spärlich und Luftschutzwarte patrouillierten auf dem höchsten Punkt des Moosock Hill, um nach feindlichen Flugzeugen Ausschau zu halten, obwohl ein Luftangriff auf Monument sehr unwahrscheinlich war. Vorsicht ist besser als Nachsehen, hieß es in einem Leitartikel von The Monument Times. Deutsche UBoote waren in den Gewässern vor der Küste von Massachusetts gesichtet worden und Gerüchten zufolge schlichen verkappte Nazis auf den Straßen von New England umher. Aber hinter den verdunkelten Fenstern erstrahlte das Rathaus in gleißendem Licht. Das große Orchester spielte die
gängigen Melodien, zu denen die Tänzer übers Parkett wirbelten. Wir waren eine fröhliche Clique; Larry LaSalles persönliche Gäste auf dem Ball. Von einem separaten Teil des Balkons aus konnten wir sehen, wie er sich unten im Saal zwischen den Stadtoffiziellen und ihren Frauen hin und her bewegte, Hände schüttelte, anerkennende Klapse auf den Rücken ebenso über sich ergehen ließ wie die Umarmungen schöner Frauen. Ich blickte gelegentlich zu Nicole hinüber, wie sie mit weit aufgerissenen, sehnsüchtigen Augen die Frauen in ihren modischen Gewändern bestaunte, deren glitzernde Pailletten das Licht einer sich drehenden Kristallkugel an der Decke reflektierten. »Ist das nicht wunderschön?«, sagte Nicole und wies auf eine Frau in einem schlichten, weißen Kleid hin, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. »Eines Tages werde ich dir auch so etwas kaufen«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Meine Stimme zitterte ein bisschen, verriet meine Liebe zu ihr. Während sie meine Hand drückte, lehnte sie sich an mich und ihre glühende Wange ruhte an meiner. Schließlich schaute Larry LaSalle zu uns herauf und deutete auf den vorderen Teil des Saals, wo er uns treffen wollte. Er traf uns am Eingang, gedämpfte Musik im Hintergrund, und verkündete: »Eine Überraschung für euch!« Mit einer schwungvollen Gebärde geleitete er uns hinaus und über die Eingangstreppe hinunter. Er stellte uns hintereinander auf und wir begannen einen wilden Schlangentanz über den Marktplatz von Monument, zwischen den Statuen der Generäle hindurch und vorbei an der Kanone und dem Springbrunnen. Larry LaSalle führte den Zug an, Nicole kam nach ihm, mit ihren Händen auf seinen Hüften und meinen Händen auf ihren Hüften. Wir lachten und schrien
und hielten am Brunnen an, um zu trinken und uns gegenseitig ins Gesicht zu spritzen. Dann überquerten wir die Kreuzung von Main und West Street und schickten uns an, die Mechanic Street hinunter zu marschieren, tanzten gelegentlich aus der Reihe, um anzuhalten und zu lachen – als ob wir alle betrunken wären, ohne einen Tropfen Alkohol angerührt zu haben. Einmal flüsterte mir Nicole zu: »Bleib in meiner Nähe!«, als wir unseren Zug durch die dunklen Straßen wieder aufnahmen. Und eine freudige Erregung durchlief mich, als ich sie an mich zog und sagte: »Ich werde dich nie verlassen!« Als ob wir eine Liebesszene im Plymouth durchlebten. Schließlich stand die große Überraschung unmittelbar bevor, als uns Larry durch die Third Street zum Katastrophenzentrum führte. Er verneigte sich vor uns, holte einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und stieß sie auf. »Voilà«, sagte er und führte uns hinein. Dann erzählte er uns, dass er Henry Roussier, den alten Hausmeister im Ruhestand, veranlasst habe, das Jugendzentrum für eine festliche Gelegenheit gründlich zu reinigen und aufzuräumen. Als Larry das Licht andrehte, sahen wir den Pingpongtisch mit den Schlägern und weißen Bällen darauf, einen Tisch mit Limonadedosen und Zuckerriegeln, keine Schokoladenriegel mehr wegen der Kriegsbeschränkungen, aber doch immerhin Süßigkeiten. Larry legte eine Platte auf und ein altes Lied aus der Glanzzeit des Katastrophenzentrums vor dem Krieg mit seinen Tischtennisturnieren und Follies and Fancies-Musicals erfüllte den Saal: Nicht in einer Million Jahren wird es noch einmal so eine geben wie dich…
Wir spielten Tischtennis, ohne die Punkte zu zählen, spielten uns gegenseitig die Bälle zu, versuchten und brachten
manchmal sogar unmögliche Schläge zustande. Larry krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, nahm die Orden und Ordensbänder ab, die er als ›Lametta‹ bezeichnete. Wir spielten ein Spiel nach dem anderen, während Nicole die Platten wechselte und mit Marie LaCroix Jitterbug tanzte. Die Hochstimmung des Abends verpuffte. Joey LeBlanc und Louis Arabelle verabschiedeten sich und später verzogen sich Marie und die anderen, bis schließlich nur noch Larry, Nicole und ich übrig waren. Larry umarmte uns beide. »Mein Lieblingschampion und meine Lieblingstänzerin«, sagte er. »Such Dancing in the Dark«, sagte er zu Nicole. Als sie wegging, um unter den Schallplatten zu suchen, legte mir Larry den Arm um die Schulter. »Zeit nach Hause zu gehen, Francis«, sagte er, »du siehst müde aus… es war ein langer Tag.« Der Tag war für mich nicht lang genug gewesen. »Ich würde gerne noch ein bisschen bleiben«, sagte ich. »Nicole und ich werden einen letzten Tanz zusammen tanzen«, sagte er, »nur wir beide ganz allein. Es ist wichtig, Francis.« Ich überlegte mir, ob er ihr etwas Wichtiges zu sagen, ob er eine Möglichkeit gefunden hatte, sie zum Star zu machen. Vielleicht Truppenbetreuung. Für Larry LaSalle war nichts unmöglich. Sein Gesicht war erhitzt, seine Augen leuchteten vor Erregung. »Deshalb gehst du jetzt besser, o.k.?« Nicole legte die Schallplatte auf und wandte sich nach uns um, erwartungsvoll sah sie Larry an. »Ich muss jetzt gehen«, sagte ich zu ihr, »Ihr beide bleibt. Ein letzter Tanz…« Die Worte klangen unecht, als ich sie aussprach, und ich stellte fest, dass es Larrys und nicht meine eigenen Worte waren. Nicole runzelte die Stirn. »Bleib hier und schau zu«, sagte sie. Ihr Gesichtsausdruck verwirrte mich. War sie nur höflich
und bat mich deswegen zu bleiben? Wollte sie mit Larry allein sein? Er ging zu ihr hin, legte den Arm um sie und zog sie sanft zu sich heran. »Er ist müde«, sagte Larry, »und will gehen…« Wir taten immer, was uns Larry LaSalle befohlen hatte. Führten immer seine leisesten Wünsche aus. Und nun schien ich wirklich müde zu sein, wie Larry es angedeutet hatte, die Ereignisse des Tages und all die Aufregungen holten mich ein. Ich sah, wie mich Larry mit gerunzelter Stirn anblickte, so wie er mich immer beim Tischtennis ansah, wenn ich eine dumme Bewegung machte. Geh jetzt… »Ich sollte jetzt wohl besser gehen«, sagte ich und vermied es, Nicole dabei anzusehen. Plötzlich bereute ich meinen Entschluss, auch während ich sprach, weil ich in Wirklichkeit bleiben, mit ihnen zusammen sein wollte. Als ich mich abwandte, hörte ich das dumpfe Geräusch, als die Schallplatte auf den Plattenteller fiel. Fußgetrappel, dann berührte mich eine Hand an der Schulter. »Geh nicht!«, flüsterte mir Nicole ins Ohr. Aber Larry LaSalle hatte mir befohlen zu gehen. »Doch, ich verziehe mich jetzt wohl besser«, sagte ich, »ich glaube, er will dir etwas sagen.« Der Anfang von »Dancing in the Dark« erklang im Raum, und der Sänger sang: Im Dunkeln tanzen bis die Melodie endet…
Plötzlich war er dort, riss sie in seine Arme und während er dies tat, griff er mit der Hand nach dem Lichtschalter, drehte ihn aus und tauchte den Saal in Dunkelheit. Ich bahnte mir den Weg zur Eingangstür, aber wich zurück und ging nicht weg, sondern stellte mich in dem kleinen Foyer im schräg einfallenden Mondlicht auf. Als die Musik den Saal erfüllte,
fühlte ich mich elend in meiner Isolation, wollte mit Nicole tanzen, so wie Larry LaSalle mit ihr tanzte, sie eng umschlungen hielt. In größter Seelenpein stand ich im Schatten der Eingangshalle und wartete auf das Ende des Songs. Dann würde ich Nicole sagen, dass ich nicht weggegangen, sondern dageblieben war, sie nie verlassen würde, dass ich getan hatte wie sie mich geheißen und nicht weggegangen war, weil sie mir wichtiger war als Larry LaSalle. Der Song endete, das Kratzen der Nadel auf der Schallplatte hörte nicht auf, ich vernahm einen Seufzer und ein Geräusch, das ein Stöhnen hätte sein können, und das Rascheln von Kleidern. Wie lange hatte ich schon dort gestanden und gelauscht? Die leisen Geräusche gehört, dann ein plötzliches Keuchen und das Kratzen der Nadel, als sich die Schallplatte immer weiter drehte. Ich bekam keine Luft mehr, mein Körper war völlig starr, die Lungen schmerzten und im Augenblick panischer Angst, mit pochendem Herzen, kam ich wieder zu Atem und horchte und hörte nun nichts mehr. Was taten sie? Aber ich wusste ja, was sie taten. Der Gedanke durchfuhr mich so schnell, dass er kaum wahrzunehmen war. Dann, ein Winseln, wie von einem kleinen, gefangenen Tier in der Falle, das Stöhnen nun ganz deutlich. Das Kratzen der Nadel hörte auf. Schritte näherten sich, kamen immer näher und plötzlich stolperte Nicole in die Eingangshalle, ihr Gesicht vom Mondstrahl eingefangen. Sie sah mich in dem Augenblick, in dem ich sie erblickte. Sah ihr Gesicht, ihren Blick. Das Haar zerzaust, der Mund weit aufgerissen, die Lippen geschwollen. Tränenfeuchte Wangen. Die weiße Bluse zerrissen, mit der einen Hand hielt sie sie vorne zusammen, damit sie nicht aufging.
Ich ging aus der Dunkelheit auf sie zu. Sie erhob eine Hand, um mich daran zu hindern, keuchte nun, ihr Atem wie ein Stöhnen, das aus ihrem Körper drang. Im Schimmer des Mondes blitzten ihre Augen voll maßloser Wut, als sie mich ansah. Schlimmer als Wut. Aber was? Was nur? Ich führte die Hand zum Gesicht, nicht um meine Tränen wegzuwischen, sondern um mich vor diesem entsetzlichen Blick zu schützen. Ich konnte aber meine Augen nicht bedecken, musste sie anschauen. Und entdeckte in ihrem Blick nun, was ich nicht wahrhaben wollte: Verrat. Meinen Verrat an ihr – in ihrem Blick. Sie starrte mich noch einen Augenblick lang an, den Mund immer noch offen, schüttelte dann den Kopf, als ob sie es nicht fassen könnte, und eilte zur Tür, rüttelte am Türgriff. Riss dann die Tür auf, trat hinaus und schlug sie hinter sich zu, während ich hilflos zurückblieb. Wie betäubt trat ich aus dem Mondschein heraus, wollte mich im Dunkeln verstecken. Larry Stimme ertönte aus der Tiefe des Saals. »Ist dort jemand?« An die Wand gedrückt, verhielt ich mich ganz still, hörte mich so rau atmen, dass ich befürchtete, er würde es hören. Seine Schritte wurden lauter, als er sich näherte. Er tauchte durch den Mondstrahl, eine gespenstische Silhouette. Und ich schloss die Augen, wollte ihn nicht sehen. Dann, keine Schritte mehr. Hatte er mich entdeckt? Ich riss die Augen auf. Er war an der Tür, ein Schatten nun, drehte den Türgriff und pfiff eine Melodie vor sich hin… »Dancing in the Dark«… pfiff leise, als er vor die Tür trat, sie leise hinter sich zumachte und in die Nacht hinausging. Ich blieb dort stehen und dachte an das, was ich in Nicoles Blick gesehen hatte.
Erstaunlich, dass das Herz keinen Ton von sich gibt, wenn es bricht.
Eine Hitzewelle brach über Frenchtown herein, die Hitze konnte man förmlich in der Luft sehen. Die Leute bewegten sich wie im Zeitlupentempo, versammelten sich nach Feierabend in den Vorgärten und auf den Veranden, hofften auf eine kühle Brise. Die Männer schleppten sich mühsam zur Arbeit in den Fabriken und sahen morgens genauso müde aus wie spät am Abend, wenn ihre Schicht zu Ende war. Drei Tage lang suchte ich die Sixth Street zu allen Tageszeiten auf, stellte mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Nicoles Haus auf und schaute zum zweiten Stock empor, wagte mich manchmal in den Hof, weil ich hoffte, dass ich einen flüchtigen Blick von ihr erhaschen würde, wenn sie kam oder fortging oder an einem Fenster erschien. Trotz der Hitze blieb die Veranda von Nicoles Wohnung im zweiten Stock leer. Die Fenster waren geöffnet, um die kühlere Luft in die Wohnung zu lassen, aber niemand kam oder ging. Nicoles Vater verließ die Wohnung immer kurz vor sieben Uhr, um zur Arbeit in die Fabrik zu gehen, und kam kurz nach fünf Uhr nachmittags wieder zurück. Ich ging ihm aus dem Weg und blieb in dieser Zeit der Straße fern. Als ich wartete, fuhr ein kleiner Junge aus dem Haus gegenüber von Nicole mit seinem Fahrrad unablässig auf dem Gehsteig hin und her und starrte mich gelegentlich an. Schließlich fragte er mich, indem er in die Sonne blinzelte: »Warum bist du die ganze Zeit hier?« Ich zuckte mit der Achsel: »Ich warte.« »Bist du der Buhmann?«, fragte er und kratzte sich am Kinn.
Ja, hätte ich am liebsten gesagt. Eine Art Buhmann, der schreckliche Dinge tut, wie zum Beispiel zulässt, dass seinem Mädchen Gewalt angetan wird. Sogar vor mir selbst vermied ich das entsetzliche Wort für das, was ihr wirklich widerfahren war. Der Junge wartete einen Augenblick lang auf meine Antwort und radelte dann zurück in seinen Hof. Schwieg, als er mich über die Schulter angaffte. Ging dann ins Haus und kam nicht mehr heraus.
In Laurier’s Drugstore kursierten wilde Gerüchte über Larry LaSalles jähe Abreise aus Frenchtown so kurz nach seinem Eintreffen. Jemand sagte, dass sein Heimaturlaub gestrichen worden wäre und seine Truppe für eine Großoffensive gegen die Nazis in Europa wieder einberufen worden sei. Es ging die Rede von einem Postboten vom Telegrafenamt, der mitten in der Nacht die Mechanic Street entlanggeradelt sei, um ein Telegramm zur Wohnung von Larry LaSalle in der Spruce Street zu bringen. »Das war kein Postbote«, spottete Mr Laurier, »sondern Crazy Joe Touraine, der nach der Hitze des Tages abkühlen wollte…« Ich konnte nachts nicht mehr schlafen. Lag auf dem Bett und starrte zur Decke hinauf, froh über die Hitze, die so erbarmungslos war, als wäre sie ein Teil der Hölle, die ich verdient hatte.
Am vierten Tag sah ich sie schließlich aus dem Korridor auf die Veranda im ersten Stock heraustreten. Sie ging nicht weg, als ich in den Hof kam. »Nicole!«, rief ich.
Als sie mich sah, runzelte sie die Stirn, trat einen Schritt zurück, hielt inne, als ob sie auf mein Näherkommen wartete. »Nicole!« Meine Stimme brach, nicht wie damals, als ich ihr gegenüber so schüchtern war, sondern weil mein Herz nun so voll war, dass es ihren Namen beim Aussprechen erdrückte. Sie erwiderte meinen Blick, sagte lange nichts, und als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme hart. »Du bist die ganze Zeit dort gewesen«, sagte sie vorwurfsvoll. Ich konnte nicht antworten, mir fiel nichts ein, was ich zu meiner Verteidigung hätte vorbringen können. Weil ich keine Entschuldigung hatte. »Und du hast nichts getan!« Der Vorwurf in ihrer Stimme war schlimmer als die Härte. »Ich weiß.« Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich sagte oder nur dachte. »Du wusstest, was er tat, stimmt’s?« Mein Kopf war so schwer, das Blut hämmerte mir in den Schläfen, dass ich kaum nicken konnte. Ans Geländer gelehnt, fragte sie: »Warum hast du nichts getan? Ihm befohlen aufzuhören. Hilfe geholt. Irgendwas.« »Tut mir Leid«, sagte ich. Ich wusste, wie erbärmlich das für sie klingen musste. Sie schüttelte den Kopf, wandte sich ab. Ich konnte es mir nicht leisten, sie gehen zu lassen. »Bist du…«, fing ich an, aber zögerte, als sie sich umdrehte und mich wieder ansah. Wie sollte ich es formulieren? Bist du verletzt? Völlig zerrissen? »Geht’s dir wieder gut?«, fragte ich. »Nein, natürlich nicht«, antwortete sie. Wut flackerte in ihrem Blick auf. »Ich habe Schmerzen, mir tut alles weh!«
Ich konnte nur stumm dastehen, als ob alle meine Sünden plötzlich ans Tageslicht gekommen wären und es kein Verzeihen dafür gab. Schließlich fragte ich: »Was kann ich für dich tun?« »Armer Francis«, sagte sie schließlich, aber ohne Mitleid in der Stimme. Verachtung vielleicht, als sie mich mit dem Blick streifte. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Geh jetzt, Francis«, sagte sie schließlich, »geh einfach weg!« Und sie selbst ging auch weg, riss sich vom Geländer los, betrat den Flur. Eben noch dort und schon verschwunden. Ich wartete darauf, dass sie wiederkäme. Ich wartete sinnlos lange. Irgendwo schlug eine Tür zu. Später bellte ein Hund, ein Auto donnerte vorbei. Schließlich ging ich weg.
Später in der Woche ging ich nach dem Abendessen in die Kirche, schlüpfte in Vater Balthazars Beichtstuhl und wartete dort, bis der Hausmeister, Mr Boudreau, die Türen für die Nacht schloss. Schließlich trat ich aus meinem Versteck in die altvertraute Atmosphäre von heißem Wachs und Weihrauch heraus und ging durch die Dunkelheit zum rückwärtigen Teil der Kirche, kletterte die Stufen zur Empore hinauf und öffnete die Tür, die zur Außenseite des höchsten Turmes führte. Vater Balthazar hatte mir die Tür während meiner Ministrantenzeit gezeigt. Ich begann in der Dunkelheit über die steilen Treppen hinaufzusteigen, die die Arbeiter für die Reparaturen am Turm benutzten. Die Hitze verstärkte sich und die Treppe wurde immer enger, mein Herz schlug heftig, ich atmete keuchend, ein Geräusch wie von zerreißendem Stoff.
Als ich anhielt, um Kräfte zu sammeln, und darauf wartete, dass mein Herz und meine Lunge sich ein bisschen erholten, suchte ich nach der steinernen Tür, die zur Seite gedreht werden konnte, um zur Außenseite des Turms zu gelangen. Ich ertastete die Tür mit der Hand. Ächzend und keuchend gelang es mir, die Tür in ihren rostigen Angeln zur Seite zu drehen. Ich sah auf Frenchtown hinab, das unter mir lag, auf die dunklen Schatten der dreistöckigen Häuser, die schattigen Straßen; und die Sterne waren näher denn je, als ob ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um mir einen vom Himmel zu holen. Der windstillen Sommernacht zum Trotz überraschte mich ein Windstoß und kühlte den Schweiß auf Gesicht und Stirn. Ich verweilte dort und schwelgte in der plötzlichen Kühle. Dann guckte ich wieder hinaus, reckte meinen Hals, um auf den Gehsteig aus Zement hinabzuschauen. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich auf dem Gehsteig aufträfe? Während ich immer noch hinunterstarrte, begann ich ein Gebet aufzusagen, das alte Vaterunser auf Französisch, so wie es uns die Nonnen gelehrt hatten. Dann hielt ich inne, entsetzt über mein Tun. Ich sagte ein Gebet auf, bevor ich die allerschlimmste Sünde beging, die der Verzweiflung. Ich dachte an den Friedhof von St. Jude und die Gräber, die abseits von den übrigen lagen, mit den bedauernswerten Menschen, die sich das Leben genommen hatten und nicht in geweihter Erde begraben werden konnten. Ich dachte an meine Mutter und meinen Vater – konnte ich so ihren Namen besudeln? Habt ihr gehört) was Leftys Sohn in der vergangenen Nacht getan hat – er hat sich vom Turm von St. Jude in den Tod gestürzt! So konnte ich nicht sterben. Auf der ganzen Welt fielen zur Zeit Soldaten ehrenvoll auf dem Schlachtfeld. Ein erhabener Tod. Heldentod. Wie konnte ich da sterben, indem ich mich von einem Turm stürzte?
Am Nachmittag des darauf folgenden Tages stieg ich in den Bus nach Fort Delta, in meiner Tasche die Geburtsurkunde, die ich wegen meines Alters geändert hatte, und wurde Soldat in der Armee der Vereinigten Staaten.
Ach dachte immer, dass ich Larry LaSalle auf der Third Street entdecken würde, ihn dort wie Fred Astaire entlangtänzeln und beobachten würde, wie er den Passanten sein Filmschauspielerlächeln schenkte. Ich würde ihn dann beschatten, ihm durch die Straßen nach Hause folgen, seine Adresse aufschreiben und später mit dem Revolver in der Tasche zurückkehren, um meinen Job zu erledigen. Stattdessen erfahre ich von LaSalles Heimkehr ausgerechnet von Mrs Belander, als ich wieder einmal von einem Streifzug durch die Straßen von Frenchtown zurückkomme. Ich höre sie zufällig mit einer Nachbarin auf der hinteren Veranda schwatzen. Mrs Belander faltet die Wäsche zusammen, die sie von der Leine zwischen ihrem und dem dreistöckigen Nachbarhaus genommen hat. Die Nachbarin ist Mrs Agneaux, eine korpulente Frau mit geröteten Wangen und Basedowaugen. Sie unterhalten sich auf Französisch. Ich halte mich in der Nähe auf und höre wie ein Spion zu. Sie bemerken nicht, dass ich das meiste verstehe, wenn sie sich über das Wetter und dann über den alten Mr Tardier unterhalten, der die Frauen beim Vorbeigehen immer in den derriere zwickt. Ich bin verblüfft, als ich Mrs Agneaux den Namen von Larry LaSalle in den Mund nehmen höre. Das Französisch, das von den Kanadiern gesprochen wird, geht ihnen sehr schnell von der Zunge und klingt beinahe wie Musik. Manchmal ist es so schnell, dass Wörter in dem kaskadenartigen Schwall verloren gehen. Ich rücke näher heran, um jede Silbe zu hören, bekomme zwar einiges nicht
mit, aber höre doch genug, um mein Herz zum Rasen zu bringen und in Wallung zu geraten. Ich konzentriere mich so sehr darauf, dass ich Kopfschmerzen bekomme, einen pochenden Schmerz über den Augen verspüre. Was ich von der schnell sprechenden Mrs Agneaux erfahre: dass Larry LaSalle nach Frenchtown zurückgekehrt ist, dass er langsam geht, als ob seine Beine schmerzten, dass er im zweiten Stock eines dreistöckigen Mietshauses an der Ecke von Ninth und Spruce wohnt, das jemandem gehört, dessen Namen ich nicht verstehe. »Welche Ecke?« Ich preise Mrs Belander, die die Frage stellt, die mir selbst auf der Zunge liegt. »Das grüne Haus mit der billigen Außenfarbe zum Schleuderpreis, die schon wieder verblasst…« Ich höre nicht den Rest ihrer Beschreibung. Aber ich habe genug erfahren. Larry LaSalle ist nach Frenchtown zurückgekehrt. Und ich weiß nun, wo ich ihn suchen muss.
Der Revolver bauscht sich wie ein Geschwür an meinem Oberschenkel auf, als ich durch die morgendlichen Straßen gehe und gegen den Wind ankämpfe, der nicht nachlässt. Die Aprilsonne sticht mir in die Augen, aber der Wind, der gegen die Ladenfenster tost und den Abfall in den Rinnstein bläst, zerstreut die Wärme. An der Ecke von Ninth und Spruce Street bleibe ich stehen und schaue an dem dreistöckigen Haus zu den Fenstern im zweiten Stock empor, wo ich Larry LaSalle endlich antreffen werde. Vermutet er mich hier auf der Straße? Hat er eine Vorahnung, dass er nur noch wenige Minuten zu leben hat? Ich bin ruhig. Mein Herz schlägt normal. Was bedeutet ein Toter mehr nach dem Sterben in den Dörfern und auf den
Feldern in Frankreich? Die unschuldigen Gesichter der beiden jungen Deutschen tauchen vor meinem inneren Auge auf. Aber Larry LaSalle ist nicht unschuldig. Die Stufen, die zum zweiten Stock führen, sind alt und ausgetreten und ich denke an all die Leute, die Treppen wie diese hinaufgestiegen sind, Leute, die in den Fabriken gearbeitet haben und am Ende des Tages todmüde nach Hause gekommen sind. Als ich an der Tür von Larry LaSalles Wohnung stehe, berühre ich den Wulst in meiner Tasche, um sicher zu sein, dass ich den Revolver dabeihabe. Mein Klopfen klingt laut und gebieterisch in dem stillen Treppenhaus. Keine Antwort. Ich warte. Ich poche wieder an die Tür, diesmal habe ich die Hand zur Faust geballt. »Treten Sie ein, die Tür ist nicht verschlossen«, ruft Larry LaSalle. Die Stimme ist unverwechselbar, ein bisschen schwach nur, doch immer noch die Stimme, die uns im Katastrophenzentrum aufmunterte. Plötzlich zögernd, ungewiss – seine Stimme bringt mir wieder zu Bewusstsein, was ich tun muss – trete ich in die Wohnung ein mit ihrem Geruch von Erbsensuppe, die auf dem schwarzen Herd brodelt. Der Dampf steigt aus einem großen, grünen Topf auf. Larry sitzt in einem Schaukelstuhl neben dem schwarzen Kohlenofen und kneift die Augen zusammen, blinzelt, um zu sehen, wer in seine Wohnung gekommen ist. Er ist blass, die Augen tief in die Höhlen gesunken wie in der Wochenschau im Plymouth, und er scheint nun sehr gebrechlich zu sein wie die Abbildung auf einem alten Foto, das vom Alter verblasst und vergilbt ist. Seine Augen zwinkern beständig, als ob er Schnappschüsse von mir machen würde. Glimmt Furcht in seinem Blick? Mein Puls wird schneller angesichts der Möglichkeit.
»Francis, Francis Cassavant«, kündige ich mich an. Es ist wichtig, dass er sofort weiß, wer ich bin. Ich will keine Zeit vergeuden. »Ach, Francis«, sagt er, seine Augen verraten Freude, weil er nichts von meinem Auftrag ahnt. »Herein mit dir!«, sagt er, die frühere Begeisterung wieder in seiner Stimme. Er steht langsam von seinem Schaukelstuhl auf, hält ihn mit der Hand an, als er sich erhebt. Als er mir seine Hand zum Gruß hinstreckt, trete ich ihm entgegen. Wir schütteln uns die Hände. Im letzten Augenblick, als es so aussieht, als ob wir uns wieder wie alte Freunde und Kameraden, wie Lehrer und Schüler umarmen könnten, reiße ich mich los. Seine blassen Hände greifen ins Leere, bevor er sie faltet und sich wieder in den Stuhl fallen lässt. »So setz dich doch«, sagt er und zeigt auf den Stuhl am Fenster, der seinem gegenübersteht. »Leg deine Jacke ab«, sagt er, »und auch deine Mütze von den Red Sox und dein Tuch…« Ich bewege mich nicht. Lege nichts ab. Ich habe nicht vor, lange zu bleiben, nur lange genug, um meinen Auftrag auszuführen. »Hab keine Angst, dein Gesicht zu zeigen, Francis. Dieses Gesicht oder was davon übrig ist, ist ein Zeichen für deine Tapferkeit, für den Silver Star, den du dir verdient hast…« »Auch du hast einen Silver Star bekommen«, sage ich, nur um etwas zu antworten, und staune wieder, dass uns Larry LaSalle immer einen Schritt voraus war, so wie er nun über mein Gesicht Bescheid weiß und den Silver Star. Er zuckt mit der Achsel und sackt seufzend in seinem Stuhl zusammen, als ob er plötzlich sehr müde wäre. »Nett von dir, dass du mich besuchst…«, sagt er und setzt sein früheres Filmstarlächeln auf. »Erinnert mich an die alten
Zeiten im Katastrophenzentrum. Das waren noch Zeiten, nicht wahr? Diese Tischtennismeisterschaft. Welch großer Tag für dich, Francis…« Eine große Traurigkeit überkommt mich, als ob mir plötzlich der Winter in die Knochen gefahren wäre. »Du hast es ermöglicht, hast mich gewinnen lassen!« »Du hast nicht verstanden, Francis. Du hattest den Sieg verdient. Es war mehr als nur ein Spiel. Mehr als ein Spielergebnis. Du hast meisterhaft gespielt und den Pokal verdient…« Warum musste es darauf hinauslaufen? »Diese Zeit ist aber nun vorbei. Und der Krieg ist zu Ende. Alles ist anders. Nicht nur der Krieg ist zu Ende, sondern alles andere auch«, sagt er, hält die Hände hoch und betrachtet sie. Reibt sich die Schenkel. »Keine sichtbaren Wunden, Francis. Aber ich bin völlig am Ende. Zuerst haben sie es Dschungelfieber genannt, aber ich glaube nicht, dass sie wirklich wissen, was es ist…« Vielleicht holen dich nun deine Sünden ein. »Und du, Francis. Wirst du wieder…? Wirst du wieder gesund, wieder wie neu sein?« »Ja.« Ich habe keine Lust, ins Detail zu gehen oder ihm von Dr. Abrams zu erzählen, weil sowieso nichts passieren wird. Im Zimmer tritt Schweigen ein und er rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ich befühle den Revolver in meiner Tasche, um mich an meinen Auftrag zu erinnern. »Wie kommt es, dass du so jung in die Armee gekommen bist?«, fragt er und richtet den Blick auf mich, so wie er es früher immer getan hatte, als ob meine Worte von größter Wichtigkeit für ihn wären. Ich erzähle ihm von den gefälschten Papieren. »In jenen Tagen haben sie jeden mit Handkuss genommen.«
»Noch ein Kind!« Er schüttelt den Kopf, seine Augen voller Bewunderung. »Und aus dir ist ein Held geworden…« Ich hatte immer ein Held sein wollen wie Larry LaSalle und die anderen, aber war schon immer ein Betrüger gewesen. Und nun bin ich der Täuschung überdrüssig und will mich vom Selbstbetrug befreien. Ich sehe von ihm weg zum Fenster hinaus auf die sonnenüberflutete Straße. »Ich bin kein Held«, sage ich ihm. »Natürlich bist du das. Ich habe davon gehört, die Zeitungsartikel darüber gelesen…« »Weißt du, warum ich in den Krieg wollte?« »Warum will man wohl in den Krieg, Francis?« »Ich zog in den Krieg, weil ich sterben wollte.« Dann senkte ich die Stimme, als ob ich bei Vater Balthazar beichten würde: »Ich war zu feige, um mich selbst umzubringen. Im Krieg, im Gefecht, rechnete ich mir aus, wäre es leicht umzukommen. Und ich würde keine Schande über meinen Vater und meine Mutter bringen. Ich suchte nach einer Gelegenheit, um zu sterben, und tötete stattdessen andere – zwei davon waren Kinder wie ich…« »Du hast deine Patrouille gerettet und dich auf die Granate gestürzt…« »Als ich mich darauf gestürzt habe, wollte ich nicht diese GIs retten, sondern habe eine Chance gesehen, schnell alles zu beenden. Aber etwas völlig Verrücktes ist passiert. Mein Gesicht wurde weggeschossen und ich bin nicht gestorben…« Seine Stimme ist nur noch ein Wispern: »Warum wolltest du sterben, Francis?« »Weißt du das denn nicht?«, sage ich, erstaunt über seine Frage. Dann begreife ich, dass er mich in jener Nacht nicht gesehen hatte. »Nicole. Nicole Renard.«
Er sperrt den Mund auf und fährt zusammen wie von einem unerwarteten Schlag getroffen. »Ich bin an jenem Abend da geblieben«, meine eigene Stimme ist nun ein Wispern, »und habe gehört, was du ihr angetan hast. Und ich habe sie danach gesehen. Diese Augen und was sich darin ausgedrückt hat…« Kopfschüttelnd sagt er: »Und deswegen wolltest du sterben?« Ich will immer noch sterben. »Für das, was du ihr angetan hast. Und ich habe nicht gehandelt. Bin nur dort gestanden und habe es mit ihr geschehen lassen…« »Ach Francis, du bist zu streng mit dir. Du hast nichts getan, um dich schuldig fühlen oder dir den Tod wünschen zu müssen. Und überhaupt hättest du mich nicht hindern können. Du warst doch noch ein Kind…« »Sie auch.« Meine Lippen zittern. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Bist du deswegen gekommen? Um mir das zu sagen?« Ich ziehe den Revolver aus der Tasche. »Deswegen bin ich gekommen!« Ich ziele auf ihn, den Finger am Abzug. Aber meine Hand zittert, die Nasenhöhlen nässen und plötzlich werde ich von der Ungeheuerlichkeit überwältigt, die ich im Begriff bin zu begehen. Warum musste es dazu kommen? »Du hättest doch jede haben können«, sage ich. Meine Stimme ist zu laut, dröhnt mir in den Ohren. »All die schönen Frauen auf dem Ball. Warum gerade Nicole?« »Die süßen jungen Dinger, Francis. Sogar ihre Erregtheit ist süß…« Süße junge Dinger. Hatte er es schon früher getan? Wie viele junge Mädchen hatte er schon vernascht? Ich schüttle entsetzt den Kopf.
»Jeder sündigt, Francis. Das Schreckliche ist, dass wir unsere Sünden lieben. Wir lieben das, was uns böse macht. Ich liebe die süßen jungen Dinger.« »Das ist doch keine Liebe«, sage ich. »Es gibt alle möglichen Arten von Liebe, Francis.« »Wusstest du denn nicht, dass wir dich liebten?«, frage ich. »Du warst unser Held, noch bevor du in den Krieg gezogen bist. Du hast etwas aus uns gemacht…« Er seufzt, seine Lippen beben und seine Stimme zittert, als er mich fragt: »Wischt diese eine Sünde von mir all die guten Dinge weg?« »Das solltest du lieber Nicole fragen«, sage ich und messe ihn mit den Blicken. Bis zu diesem Moment hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wo ich die Kugel platzieren sollte, ob ich auf diese Stelle zwischen den Augen oder auf seine Brust, sein Herz, zielen sollte. Es ist nicht wirklich eine Frage des Zielens, nicht aus dieser Entfernung. Nur des Verlangens. Der Sucht zu rächen, was er Nicole und auch den anderen jungen Mädchen angetan hat, von denen ich nun erfahren habe. Er macht eine Handbewegung, als ob er den Revolver in meiner Hand zurückweisen wolle. »Weißt du, warum ich auf diesem Stuhl sitze, Francis? Und mich kaum erhoben habe, als du hereinkamst? Meine Beine sind ruiniert.« Er weist mit der Hand auf den Tisch hin und erst jetzt sehe ich die Krücke aus Aluminium, die am Tisch lehnt. »Kein Tanzen mehr für mich, Francis. Keine süßen jungen Dinger mehr. Nichts mehr.« »Soll ich vielleicht Mitleid mit dir haben?« »Sieh mich nicht so an«, sagt er und wendet den Blick von mir. »Ich wünschte mir nur das Eine, dass du mich wieder einmal so ansehen würdest wie im Katastrophenzentrum, als
ich für dich noch der große Held war. Dazu ist es aber nun zu spät, nicht wahr?« Ich bin seines Geredes müde und brenne darauf, zu vollbringen, weshalb ich gekommen bin. »Du kannst jetzt dein Gebet sprechen«, sage ich zu ihm, wie ich es über die Jahre so oft geprobt habe. Ich habe mich nun doch dazu entschlossen, auf das Herz zu zielen, sein Herz zu zerstören, so wie er Nicoles Herz gebrochen hat und das meinige – und wie viele noch? »Warte!«, ruft er und greift nach einem kleinen Tisch neben seinem Stuhl mit einer Zigarrenschachtel darauf. Er öffnet die Schachtel und nimmt einen Revolver heraus – wie der meinige eine Erinnerung an den Krieg. Ich zucke zusammen, den Finger am Abzug, aber er legt den Revolver in den Schoß und wiegt ihn in der Hand. »Wie du siehst, habe ich meine eigene Waffe, Francis. Ich ziehe sie immer wieder hervor und betrachte sie. Ab und zu setze ich sie an die Schläfe. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wenn man abdrückt und alles enden lässt.« Er seufzt und schüttelt den Kopf, dann nickt er mir zu. »Lass also von deinem Revolver ab, Francis, einer reicht für das, was zu tun ist!« Er sieht den Zweifel in meinem Blick und leert mit einer schnellen Handbewegung das Magazin seines Revolvers. »Leer«, sagt er, »du bist jetzt außer Gefahr, Francis. Du warst immer sicher bei mir. Leg also deine Waffe weg. Bewusst oder unbewusst hast du deinen Auftrag hier erfüllt. Und du hättest es ohnehin nicht fertig gebracht, mich kaltblütig umzubringen.« Wir starren uns lange Zeit unverwandt an. »Bitte!«, sagt er, und seine Stimme klingt wie das Schreien eines kleinen Kindes.
Ich lasse die Waffe sinken. Nehme meinen Finger vom Abzug. Meine Hand zittert. Ich stecke den Revolver zurück in meine Tasche. »Geh jetzt, Francis. Lass mich hier. Lass alles hier, den Krieg, das, was im Katastrophenzentrum passiert ist, lass alles hinter dir, lass es bei mir zurück.« Plötzlich will ich nur noch raus. Der Suppengeruch verursacht mir Übelkeit und die Wohnung ist zu warm. Ich will ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich habe die Hand schon auf dem Türgriff, als er meinen Namen ruft. Ich öffne die Tür, aber halte inne, zwinge mich zum Warten. Aber sehe ihn nicht an. »Bevor du gehst, Francis, lass dir noch etwas gesagt sein: Du hättest dich ohnehin auf die Granate gestürzt. Dein instinktives Gefühl hätte dich dazu getrieben, dich für deine Kameraden zu opfern.« Versucht mich immer noch besser zu machen, als ich bin. Ich schließe die Tür hinter mir, unter dem Tuch und der Bandage ist mein Gesicht erhitzt und gerötet. Die Kälte des Treppenhauses schlägt mir ins erhitzte Gesicht und ich fröstle. Es scheint, dass ich seit meiner Rückkehr nach Frenchtown nur gefröstelt habe. Seine Stimme hallt mir in den Ohren wider: Wischt diese eine Sünde von mir all die guten Dinge weg? Ich gehe die Treppe hinunter, meine Schritte hallen von den ausgetretenen Stufen wider. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, als ich schließlich unten anlange und an der Außentür anhalte. Der Schuss aus einem Revolver zerreißt die Luft. Meine Hand ruht auf dem Türgriff. Aus dieser Entfernung hört sich der Laut beinahe wie ein Pingpongball an, der auf den Tisch aufschlägt.
In den langen Korridoren des Klosters hallt das Gebimmel der Türglocke endlos wider. Während ich warte, trete ich zurück und blicke auf die verblasste, rote Backsteinmauer des Gebäudes und die schwarzen, abstoßenden Fensterläden. An Sommerabenden pflegten wir unsere Spiele im Hof zu spielen – Buck, Buck, How Many Fingers Up? und Kick the Can – bis dann eine Nonne die Fensterläden öffnete, in die Hände klatschte und uns bei einbrechender Dunkelheit nach Hause jagte. Die Tür öffnet sich und eine alte Nonne mit durchsichtiger Haut sieht mich misstrauisch an. Ich habe mich inzwischen an den Schock gewöhnt, den mein Anblick den Leuten verursacht, und versuche meine Stimme so sanft und harmlos wie möglich klingen zu lassen. »Könnte ich wohl Schwester Mathilde sprechen? Ich bin einer ihrer früheren Schüler.« Sie mustert mich eingehend mit ihren blassblauen Augen und bedeutet mir dann einzutreten. Sie führt mich zu einem kleinen Zimmer rechts von der Eingangshalle. Wie gewöhnlich riecht es nach Kernseife und Kohl. Sie weist mir durch Kopfnicken einen der zwei unbequemen Stühle neben dem Fenster zu und wartet, bis ich mich gesetzt habe, bevor sie sich von mir abwendet. Sie hat kein einziges Wort mit mir gesprochen. Ihre Schritte verhallen, als ich es mir bequem mache und überlege, ob ich umsonst gekommen bin. Ich bin hier, weil mir einfiel, wie oft Nicole die Nonnen im Kloster besucht hat, mit Schwester Mathilde auf dem Gelände spazieren gegangen ist und zusammen mit den Schwestern Socken und Schals für die Soldaten gestrickt hat. Vielleicht weiß Schwester Mathilde, was aus Nicole wurde oder wohin ihre Familie gezogen ist. Das Knistern von gestärkter Kleidung und das Stapfen von schweren Schuhen kündigen Schwester Mathilde an. Beim
Betreten des Zimmers berührt sie den langen, schwarzen Rosenkranz, der von ihrer Hüfte bis zum Saum ihres langen, schwarzen Rockes herabhängt. Ihre Haut ist so weiß wie die gestärkte Nonnenhaube, die ihr Gesicht umrahmt. Sie betrachtet mich neugierig und ich nehme die Red-SoxMütze ab. »Francis Cassavant«, sage ich. »Natürlich, Francis«, sagt sie und ein Lächeln erhellt ihr Gesicht. Sie lächelte nur sehr selten in der Klasse. »Wie ich gehört habe, hast du deinem Vaterland treu gedient. Wir sind alle stolz auf dich.« Sie setzt sich auf die Kante ihres Stuhls, als ob sie als Nonne nicht bequem sitzen dürfe. »Wir beten Tag und Nacht für unsere Männer und Frauen in Uniform.« Sie fragt mich nach meinen Verletzungen und ich erzähle ihr so wenig wie möglich. Sie sagt, dass sie speziell für mich zu Gott beten wird. Schließlich wird ihr Blick fragend. »Nicole Renard«, sage ich, »ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wo sie ist und was sie macht. Ihre Familie hat die Stadt verlassen, während ich weg war. Wissen Sie, wohin sie gegangen sind, Schwester?« »Ja, Nicole«, sagt sie und nickt mit dem Kopf, »Sie waren befreundet, n’est-ce pas?« Ich nicke zurück, mein Interesse erwacht wieder. »Ach Nicole«, sagt sie, faltet ihre Hände und lässt sie wieder los. »Ein liebes Mädchen. Klug. Auch verschlossen. Aber wir haben schließlich alle unsere Geheimnisse, nicht wahr, Francis?« Ich zucke mit der Achsel, wage nichts zu sagen. Ein Gedanke geht mir durch den Kopf. »Ist sie weggegangen, um ins Kloster zu gehen?«, frage ich. Die Aussicht macht meine Hoffnung zunichte, sie jemals wieder zu sehen.
»Ja, sie ist weggegangen, aber nicht, um Nonne zu werden«, sagt Schwester Mathilde, »weder ist das Leben so einfach, Francis, noch eine Berufung zu Gott.« Froh, dass mein Gesicht unter dem Tuch und der Bandage verborgen ist, sodass sie meine Erleichterung nicht sieht, riskiere ich einfach die Frage: »Wissen Sie, wo sie jetzt ist, Schwester?« Sie nimmt die Perlen ihres herabhängenden Rosenkranzes in die Hand und lässt sie durch die Finger gleiten. »Ihre Familie ist nach Albany zurückgekehrt. Ich glaube, dass Mr Renard mit der Arbeit in der Kammfabrik nicht glücklich war und dass er zu seiner früheren Arbeit zurückgekehrt ist…« »Ist auch Nicole gern zurückgegangen?«, frage ich. Dann, weil mir mein Drängeln bewusst wird: »Glauben Sie, dass es in Ordnung wäre, wenn ich sie besuchte?« Sie seufzt, ihre Schultern heben und senken sich, die Perlen klicken aneinander, als ihre Finger darübergleiten. »Ich weiß nicht, Francis. Sie schien nicht sehr glücklich zu sein, als sie sich verabschiedete. War sie unglücklich darüber, Frenchtown zu verlassen, oder war da noch etwas anderes? Habt ihr euch gestritten, wie es bei jungen Leuten manchmal üblich ist?« Nun bin ich dabei aufzuatmen. Wenn sie so fragt, weiß sie bestimmt nicht, was mit Larry LaSalle in jener Nacht im Katastrophenzentrum passiert ist. »Vielleicht würde es sie freuen, wenn sie ein Freund aus Frenchtown besuchte. Es ist schwer für einen jungen Menschen wie Nicole, von den Freunden wegzugehen…« »Haben Sie ihre Adresse, Schwester?« »Vor ein paar Wochen hat sie mir einen Brief geschrieben. Sie ist nun in der Abschlussklasse von St. Anne, einer höheren
Töchterschule der Schwestern des Heiligen Geistes. Oben in meinem Schreibtisch habe ich ihre Adresse.« Ein paar Minuten später stehen wir an der Eingangstür, unsere Finger berühren sich flüchtig, als wir uns die Hand geben. Noch nie zuvor habe ich eine Nonne berührt. Sie lässt meine Hand los und berührt den Verband auf meinem Gesicht. »Ich hoffe, dass dein Gesicht bald heilt, Francis.« »Ein Arzt, den ich im Krieg kennen gelernt habe, wird mir dabei helfen. Er ist darauf spezialisiert. In Kürze werde ich wieder so gut wie neu sein.« Ich frage mich, ob es eine besonders schwere Sünde ist, eine Nonne anzulügen. Wenig später lasse ich Schwester Mathilde und das Kloster hinter mir, Nicole Renards Adresse in der Tasche.
Für den Bruchteil einer Sekunde erkenne ich sie nicht, sehe nicht Nicole Renard in dem Mädchen, das gerade das Zimmer betreten hat. Das lange, schwarze Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, ist weg. Sie trägt es nun kurz geschnitten und streng zurückgekämmt mit Haarbüscheln über den Ohren. Ihre Backenknochen sind nun kantiger und die Augen erscheinen größer. Ich sehe sie an, als ob ich ein Gemälde im Museum betrachten würde, suche nach diesem übermütigen Flackern in ihren Augen, aber sehe dort nur eine Frage. »Francis«, kündige ich mich an, so wie ich es bei Larry LaSalle und Schwester Mathilde getan habe, »Francis Cassavant…« Sie trägt eine grüne, offene Strickjacke, darunter eine weiße Bluse und dazu einen grünen Schottenrock – die Schuluniform. Als ich früher am Nachmittag das Schulgelände betrat, hatte ich andere Schülerinnen gesehen, die genauso bekleidet waren.
Ihr Gesicht ist undurchdringlich, als sie auf mich zukommt, und ich frage mich, ob mein Kommen ein Fehler war und ich ihr zuvor hätte schreiben sollen. Stattdessen habe ich ganz spontan den Zug von Monument nach Worcester genommen, dann nach Albany und ein Taxi zur Töchterschule von St. Anne. Im Verwaltungsgebäude überzeugte ich die Nonne am Empfang davon, dass ich harmlos war; ein verwundeter Veteran und ein Schulfreund von Nicole Renard aus Monument – und sie geleitete mich schließlich in dieses einfach möblierte Besuchszimmer, mit Gemälden von Heiligen an den holzverkleideten Wänden und einer alten Schulzimmeruhr, deren Zeiger auf 6 Uhr 30 stehen geblieben waren. »Ich konnte mir nicht denken, wer mich besucht«, sagt Nicole, als sie an mir vorbei zu der hohen Glastür geht, die auf einen Tennisplatz und grüne Felder dahinter hinausgeht. Vielleicht war es dumm von mir zu glauben, dass wir uns umarmen oder die Hand geben würden. »Du hast einen langen Weg hinter dir«, sagt sie. »Du auch.« Sie runzelt die Stirn und ihr Blick drückt Besorgnis aus. »Wie geht es dir, Francis? Dein Gesicht…« »Das ist nichts«, sage ich und zeige dabei auf die Bandage und das Halstuch. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Meine Haut heilt. In Europa hat sich ein Arzt um mich gekümmert. Wenn er aus dem Krieg zurückkommt, wird er mein Gesicht wieder in Ordnung bringen – man nennt es plastische Chirurgie.« Ich lüge immer noch, aber dieses Mal belüge ich wenigstens keine Nonne. »Ich habe von deiner Auszeichnung gehört. Dass du auf eine Granate gesprungen bist und all diese Menschenleben gerettet hast. Erinnerst du dich noch an Marie LaCroix? Sie schreibt mir ab und zu, was es in Frenchtown Neues gibt.«
»Und du, Nicole? Wie geht’s dir?« Ich will nicht über die Granate sprechen. »Gut«, sagt sie, aber die Weichheit ist aus ihren Zügen verschwunden, ihre Stimme klingt hart und spröde. »Die Mädchen hier sind sehr nett. Nonnen sind natürlich Nonnen, aber wenigstens benutzen sie hier keine Lineale zum Bestrafen. Also geht es mir gut.« Es klingt aber nicht so. »Eine Sache tut mir Leid«, sagt sie, »was ich dir an jenem Tag angetan habe.« »Mir angetan? Wann denn?« »An jenem Tag auf der Veranda hätte ich dir nicht solche Dinge sagen sollen. Du warst nicht schuld an dem, was passiert ist. Das wurde mir erst später klar und ich bin zu deinem Onkel Louis gegangen, habe aber erfahren, dass du dich zum Kriegsdienst gemeldet hast.« Schweigen tritt zwischen uns ein und sie kehrt sich wieder dem Fenster zu, sieht hinaus, als ob sich dort etwas Interessantes abspielen würde. Ich geselle mich zu ihr und schaue zwei Mädchen in weißen Blusen und Shorts zu, die Tennis spielen. Wenn der Ball aufschlägt, klingt es nicht so hart wie ein Pingpongball auf der Tischplatte oder ein Schuss. »Er ist tot, wusstest du das?« Es fällt mir leicht, das zu sagen, weil ich sie nicht dabei ansehe. »Ich weiß.« »Er war…« »Sprich es nicht aus, Francis. Ich weiß, was er war. Eine Weile hat er mir im Jugendzentrum das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Hat uns allen dieses Gefühl gegeben. Hat mir weisgemacht, eine Ballerina zu sein. Nun finde ich allmählich heraus, was ich bin, wer ich wirklich bin…« »Und wer bist du, Nicole?«
»Ich habe dir doch gesagt – ich bin gerade dabei, es herauszufinden.« – Als ob sie meine Frage ungeduldig machen würde. Dann: »Was ist aber mit dir, Francis? Wie geht es dir? Was wirst du nun tun, da du zurück bist?« Während der Bahnfahrt hatte ich mir schon eine Antwort zurechtgelegt. »Zuerst werde ich auf die High School gehen. Später dann aufs College. Nach der GI-Gesetzesvorlage wird Veteranen das Studium bezahlt.« Die Worte klingen banal und unecht in meinen Ohren. »Willst du Schriftsteller werden? Ich habe immer gedacht, dass du das einmal werden würdest.« »Ich weiß nicht.« Was zur Abwechslung einmal die Wahrheit ist. Schweigen tritt zwischen uns ein, das nur durch das Schwirren der Tennisschläger, das dumpfe Aufprallen der Bälle und das ferne Gelächter eines Mädchens auf irgendeinem Korridor unterbrochen wird. »Warum bist du heute hergekommen?«, fragt sie. Die Frage überrascht mich. Wusste sie denn nicht, dass ich sie früher oder später ausfindig machen würde? »Ich wollte dich wieder sehen, dir sagen, dass es mir auch Leid tut, was passiert ist, und sehen, ob…« »… es mir gut geht, ob ich es überlebt habe?« Wieder der bittere Tonfall in ihrer Stimme. Um zu sehen, ob du es vielleicht noch einmal mit mir versuchen willst, weshalb ich mich dann vielleicht wegen des Revolvers in meinem Matchsack anders besinnen würde. »Nun, es geht mir gut.« Sie erhebt die Hände mit den Handflächen nach oben. »Sieht man das nicht?« Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, aber nicht in ihrem Blick. Zum ersten Mal bin ich ihr gegenüber nicht mehr schüchtern. »Das glaube ich dir nicht, Nicole!« »Was glaubst du mir nicht?« »Ich glaube nicht, dass es dir gut geht.«
Sie sieht mich lange an und bleibt dabei so still wie die stehen gebliebene Uhr an der Wand. »Hast du es jemals jemandem erzählt, Nicole? Darüber gesprochen?« Meine Frage scheint sie zu überraschen. »Wem hätte ich es schon sagen sollen? Vielleicht meinen Eltern? Es hätte sie umgebracht, für immer ruiniert. Oder noch schlimmer, vielleicht hätte ihn mein Vater auch umgebracht. Eine Anzeige bei der Polizei? Er war ein großer Kriegsheld. Er hat mich ja nicht zusammengeschlagen. Keine sichtbaren Verletzungen zugefügt. Also habe ich es auch niemandem gesagt. Meinen Eltern habe ich lediglich gesagt, dass ich nicht mehr in Frenchtown bleiben wolle. Mein Vater wollte sowieso zurück. Dies ist seine Heimatstadt. Und so kamen wir zurück. Es gab keine Fragen. Ich glaube, sie hatten Angst, welche zu stellen.« Sie weicht zurück, als ob sie sich von mir distanzieren wolle. »O.k.«, sagt sie, »wenn es mir vielleicht auch nicht gerade gut geht…«, sie verzieht das Gesicht, sucht nach dem richtigen Wort, »so kann ich mich doch arrangieren. Werde mit der Zeit auch immer besser darin. Als Marie LaCroix zu schreiben anfing, hat es mich beim Anblick des Poststempels von Monument geschüttelt, und ich habe diesen ersten Brief zerrissen. Sie ließ aber nicht locker. Nun lese ich ihre Briefe und schreibe sogar zurück.« Sie seufzt, als ob sie plötzlich außer Atem wäre. »Es ist nun beinahe drei Jahre her, Francis, und manchmal kann ich ohne Schaudern an Frenchtown zurückdenken. Und dann…« Ihre Stimme stockt, und sie senkt den Blick. »Und dann komme ich daher!« Sie schüttelt den Kopf. »Als du deinen Namen gesagt hast, war ich einen Moment lang beinahe in Panik. Es tut mir Leid, weil auch du ein Teil der guten alten Zeit warst, Francis. Immer so schüchtern, ich musste dich einfach hänseln. Diese
Nachmittagsvorstellungen im Kino und unsere langen Spaziergänge nach Hause.« Die Erinnerung lässt ihre Stimme weich werden. Wir sprechen über vergangene Zeiten, und sie gesteht mir, dass sie die Cowboy-Serien und ihr aufgesetztes Happy End in Wirklichkeit nicht mochte, aber um meinetwillen so tat als ob. Und ich erzähle ihr, wie peinlich es mir war, dass meine Hand immer verschwitzt war, wenn wir Händchen hielten, worauf sie sagt, dass auch ihre Hand feucht war. Sie sagt, dass Marie LaCroix mit dem Gedanken gespielt hätte, ins Kloster zu gehen, was natürlich in jedes Kloster Leben bringen würde. Und sie erzählt mir vom Alltag in St. Anne. Dass sie Lehrerin werden will, vielleicht für Englisch. Sie fragt mich über den Krieg aus und ich bagatellisiere ihn, erzähle ihr harmlose Dinge, vom überfüllten Truppentransportschiff nach Europa und dass in Frankreich das Licht ganz anders ist als in Amerika. Dann gehen uns die Worte aus. Schweigen tritt zwischen uns ein und verstärkt die Geräusche des Tennisspiels draußen, das Aufschlagen des Balls. Schließlich streckt sie den Arm nach mir aus. »Dein armes Gesicht«, sagt sie und macht eine Bewegung, als ob sie das weiße Tuch berühren wolle, aber ich weiche ihr aus. »Ich will nicht, dass du mich so siehst«, sage ich ihr. »Wenn der Arzt mein Gesicht wieder in Ordnung gebracht hat, schicke ich dir ein Foto.« »Versprochen?« »Versprochen«, erwidere ich, obwohl ich weiß, dass ich das Versprechen nie einhalten werde und sie es wahrscheinlich auch gar nicht von mir erwartet. Sie sieht mich zärtlich an, aber Zärtlichkeit ist nicht Liebe. Ich hatte auch schon während unseres ganzen Gesprächs
gewusst, dass wir die Leere zwischen uns mit Worten aufzufüllen versuchten. Ich habe auch gewusst, dass ich sie verloren habe, und zwar schon vor langer Zeit. »Ich muss jetzt gehen«, sage ich. Mein Geschenk für sie. Sie nickt beinahe ungeduldig, schaut auf ihre Uhr. »Die Glocke wird jetzt jeden Augenblick läuten. Wir leben hier nach dem Glockenschlag.« Sie kommt zu mir und greift dieses Mal nicht nach meinem Gesicht, sondern nach meiner Hand. »Immer noch feucht«, sagt sie voll Zärtlichkeit in der Stimme. »Mein lieber Francis. Mein Tischtennis-Champion. Mein Silver-Star-Held…« Held – das Wort bleibt im Raum stehen. »Ich weiß nicht mehr, was ein Held ist, Nicole.« Ich denke an Larry LaSalle und seinen Silver Star. Und meinen eigenen Silver Star für eine feige Tat. »Schreib darüber, Francis. Vielleicht kannst du so die Antwort finden.« »Glaubst du wirklich?« »Natürlich.« Mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme. Wie die Nicole Renard, die mich vor dem Tischtennisturnier im Katastrophenzentrum angespornt hatte. Sagte, dass ich gewinnen könne. Sie weicht aus. »Hör zu, ich muss jetzt gehen.« Plötzlich kurz angebunden und in Eile. »Kann ich wiederkommen?«, frage ich und hasse mich dafür, weil ich die Antwort darauf schon weiß, die so zwangsläufig ist wie die Lösung einer Rechenaufgabe, die Schwester Mathilde an die Tafel schreibt. »Ach, Francis«, sagt sie, die Worte voller Schwermut. Und sehe die Antwort in ihrem Blick. Sie reckt sich zu mir empor und drückt ihre Lippen gegen das feuchte Tuch, wo es meine Lippen bedeckt. Ich rechne mit
einem stechenden Schmerz, aber empfinde nur den Druck ihrer Lippen und schließe die Augen, halte am Augenblick fest, will, dass er ewig dauert. »Führe ein gutes Leben, Francis. Sei, was immer dich glücklich macht.« Die Glocke läutet, lässt uns einen Moment lang zusammen erstarren. Und als ich die Augen wieder öffne, ist sie verschwunden, das Zimmer ist leer, ihre Schritte hallen auf dem Flur nach, bis nur noch Stille übrig ist.
Im Bahnhof, wo ich auf einer harten Bank sitze, sehe ich den Leuten zu, wie sie im Berufsverkehr am späten Nachmittag kommen und gehen und mit ihren Koffern und Aktentaschen irgendwohin unterwegs sind. Ein Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht kämpft mit dem Rucksack auf ihrem Rücken. Zwei Matrosen sitzen auf dem Marmorboden und spielen Karten. Ein Stabsfeldwebel marschiert durch den Wartesaal, als ob er eine unsichtbare Kompanie anführen würde, die Uniform frisch gebügelt, und er trägt eine Reihe von Orden auf der Brust. Ein junger, unrasierter Kerl mit schmutziger, fleckiger Kampfjacke beobachtet ihn, folgt dem Feldwebel mit halbgeschlossenen Augen und sackt dann an der Wand zusammen, lächelt verträumt vor sich hin. Aber das Lächeln wird zur Grimasse und ich frage mich, was er denkt oder woran er sich erinnert. Ich erinnere mich an das, was ich Nicole gesagt habe, dass ich nicht weiß, wer die wahren Helden sind, und denke dabei an meine eigene Kompanie: an Sonny Orlandi, Spooks Reilly und Blinky Chambers. An Eddie Richards und seinen Durchfall. An Erwin Eisenberg. An Henry Johnson, der von einem Schrapnell getroffen wurde. Und an die Gefallenen:
Jack Smith, Billy O’Brien und all die anderen. Ich denke auch an Enrico, ohne Beine und ohne einen Arm. Und ich denke an Arthur Rivier, so betrunken und kläglich in jener Nacht in der Gasse. Wir waren nur dort gewesen. Kinder in Panik, keine geborenen Kämpfer oder Killer. Die nicht nur dort waren, sondern dort blieben, die nicht davonrannten, sondern den gerechten Krieg führten. Und die nun nicht mehr darüber sprechen. Und keinen Silver Star bekamen. Aber trotz allem Helden waren. Die wahren Helden. Wenn ich jemals schreiben werde, wie es Nicole von mir erhofft, werde ich über sie schreiben. Vielleicht sollte ich eine Schreibmaschine kaufen und mich an die Arbeit machen. Vielleicht sollte ich versuchen, Dr. Abrams Telefonnummer in Kansas City herauszufinden. Vielleicht sollte ich auch Enrico ausfindig machen und mich über die Krankenhäuser informieren, von denen er mir erzählt hat. All das sollte ich tun. Ich denke an Nicole. Ich denke an den Revolver im Matchsack zu meinen Füßen. Ich hebe den Matchsack auf und schultere ihn. Das Gewicht auf meinem Rücken ist ganz angenehm, als ich den Wartesaal durchquere, auf den Ausgang und den nächsten Zug zusteuere, der den Bahnhof verlässt.