Marley & Ich

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Marley & Ich

John Grogan Marley & ich Unser Leben mit dem frechsten Hund der Welt Deutsch von Gabriele Zigldrum GOLDMANN In Erin

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John Grogan

Marley & ich Unser Leben mit dem frechsten Hund der Welt

Deutsch von Gabriele Zigldrum

GOLDMANN

In Erinnerung an meinen Vater, Richard Frank Grogan, dessen einfühlsamer Geist jede Seite dieses Buches prägt.

VORWORT

Der perfekte Hund

I

m Sommer 1967, als ich zehn Jahre alt war, gab mein Vater endlich meinem anhaltenden Betteln nach und erlaubte mir einen eigenen H u n d . W i r fuhren alle zusammen in u n serer Familienkutsche tief ins ländliche Michigan, zu einem Hof, der von einer resoluten Frau und ihrer uralten M u t t e r betrieben wurde. D e r H o f warf n u r ein einziges Produkt ab H u n d e . H u n d e von jeder erdenklichen Größe, F o r m , Alter und Temperament. Sie alle hatten nur zwei Dinge gemeinsam: Alle waren Mischlinge, deren Abstammung niemand mehr nachvollziehen konnte, und alle suchten ein gutes Z u hause. W i r waren auf einer Art Gnadenhof für H u n d e . » N i m m dir Zeit, mein Junge«, sagte mein Vater. » D e i n e Entscheidung heute wird dich viele Jahre lang begleiten.« M i r war schnell klar, dass die älteren H u n d e ein Fall für die Nächstenliebe anderer Leute waren. Ich rannte sofort zum Welpenzwinger. »Ich würde einen n e h m e n , der nicht zu ängstlich ist«, riet mein Vater. »Rüttel am Gitterzaun und schau, welcher Welpe keine Angst hat.«

Ich fasste in den Zaun und zerrte daran, sodass er laut schepperte. Ein Dutzend Welpen sprang erschrocken zurück und landete in einem jaulenden Fellhaufen aufeinander. N u r einer blieb sitzen. Er hatte goldfarbenes Fell mit einem weißen Fleck auf der Brust, und er verteidigte das Gatter furchtlos mit lautem Gebell. D a n n sprang er auf und leckte 7

aufgeregt durch das Gitter hindurch an meinen Fingern. Es war Liebe auf den ersten Blick. W i r brachten ihn in einem Pappkarton nach Hause und nannten ihn Shaun. Er war ein vorbildlicher H u n d . O h n e M ü h e befolgte er jeden Befehl, den ich ihm beibrachte, und benahm sich immer tadellos. Ich konnte eine Brotrinde auf den Boden werfen, und er rührte sie nicht an, ehe ich ihm das K o m m a n d o dazu gab. Er kam, wenn ich ihn rief, und blieb sitzen, wenn ich es ihm sagte. Ich konnte ihn nachts alleine hinauslassen und sicher sein, dass er von selbst zurückk o m m e n würde, wenn er sein Geschäft gemacht hatte. W i r konnten ihn mehrere Stunden lang alleine zu Hause lassen und uns darauf verlassen, dass er nicht irgendwo hinmachen oder sonst etwas anstellen würde. Aber natürlich ließen wir ihn trotzdem nicht oft alleine. Er rannte neben Autos her, ohne sie zu verfolgen, und ich konnte ohne Leine mit ihm spazieren gehen. M a n c h m a l tauchte er bis zum Grund unseres kleinen Sees u n d kam mit einem riesigen Stein im Maul wieder an die Wasseroberfläche, sodass er beinahe eine Maulsperre hatte. Er liebte Autofahren über alles und saß auf Familienausflügen immer brav neben mir auf dem Rücksitz. Dabei schaute er stundenlang nur aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. U n d was vielleicht am besten war, ich brachte ihm bei, mich auf meinem Fahrrad wie auf einem Hundeschlitten durch unser Viertel zu ziehen, was meine Freunde vor Neid erblassen ließ. Er ist kein einziges Mal durchgegangen. Er war dabei, als ich meine erste (und letzte) Zigarette rauchte u n d als ich das erste Mal ein Mädchen küsste. U n d er saß neben mir auf dem Beifahrersitz, als ich heimlich das Auto meines großen Bruders n a h m und meine erste Spritztour machte. Shaun war temperamentvoll, aber zugleich besonnen, 8

leidenschaftlich und doch ausgeglichen. Er besaß sogar die Diskretion, sich für sein Geschäft in die Büsche zurückzuziehen, sodass nur noch sein Kopf hervorschaute. D a n k dieser Reinlichkeit konnte man immer barfuß über unseren Rasen laufen. W e n n uns am Wochenende Verwandte besuchten, fuhren sie mit der festen Absicht wieder nach Hause, sich auch einen H u n d anzuschaffen, so sehr hatte Shaun - oder Saint Shaun, wie ich ihn schließlich nannte - sie beeindruckt. Natürlich war das mit dem Heiligsein n u r ein W t z , aber wir glaubten doch beinahe daran. M i t seinem unbekannten Stammbaum war er einer der unzähligen unerwünschten H u n d e Amerikas. U n d doch wurde er durch eine gütige Vorsehung zu einem heiß geliebten H u n d . Er trat in mein Leben und ich in seines - und er schenkte mir damit eine Kindheit, wie sie jedes Kind verdient hätte. Diese Liebesgeschichte dauerte vierzehn Jahre, u n d als er starb, war ich nicht m e h r der kleine Junge, der ihn an einem Sommertag mit nach Hause gebracht hatte. Ich war erwachsen geworden, hatte einen Collegeabschluss und meinen ersten festen J o b , weit weg von zu Hause. Als ich von zu Hause auszog, hatte ich Saint Shaun dort gelassen. D o r t gehörte er hin. Meine Eltern, beide inzwischen Rentner, riefen an, um mir die traurige Nachricht mitzuteilen. Später erzählte mir meine Mutter: »In fünfzig Jahren E h e habe ich deinen Vater nur zweimal weinen sehen. Das erste Mal, als wir M a r y Ann verloren haben« - meine Schwester, die tot zur Welt kam -, »und das zweite Mal an dem Tag, als Shaun starb.« Saint Shaun war der Heilige meiner Kindheit. Er war der perfekte H u n d . Zumindest wird er das in meiner E r i n n e rung immer bleiben. U n d Shaun setzte die Maßstäbe, nach denen ich später alle H u n d e beurteilen würde.

EINS

Mit Welpe zu dritt

W

ir waren jung. W i r waren verliebt. W i r genossen die erste wunderbare Zeit der Ehe, wenn m a n glaubt, dass im Leben alles möglich ist. Die Welt gehörte uns. U n d so kam es, dass meine Frau und ich an einem J a n u arabend im J a h r 1991 nach füinfzehnmonatiger E h e hastig zusammen zu Abend aßen und dann losfuhren, um auf eine viel versprechende Anzeige in der Palm Beach Post zu antworten. Ich weiß nicht genau, warum wir das taten. Ein paar W o chen zuvor war ich kurz nach Sonnenaufgang aufgewacht und hatte gemerkt, dass Jenny nicht neben mir lag. Ich war aufgestanden und hatte sie auf der überdachten Veranda u n seres kleinen Bungalows gefunden, wo sie im Bademantel an unserem Glastisch saß und sich mit einem Stift in der H a n d über eine Zeitung beugte.

An der Szene war nichts Ungewöhnliches. Die Palm Beach Post war unsere Lokalzeitung und außerdem zur Hälfte für unser Familieneinkommen verantwortlich. W i r arbeiteten beide als Journalisten. Jenny schrieb Kolumnen für die Palm Beach Post, und ich arbeitete als Reporter für das lokale K o n kurrenzblatt, den Sun-Sentinel von Südflorida, der seine Büros eine Stunde südlich in F o r t Lauderdale hatte. Jeden Morgen warfen wir als Erstes einen Blick in die Zeitungen, um zu sehen, wie unsere Artikel platziert worden waren u n d 11

wie sie sich gegen die Konkurrenz ausnahmen. M i t Hingabe kreisten wir ein, unterstrichen und schnitten aus. An diesem M o r g e n jedoch steckte Jenny ihre Nase in die Kleinanzeigen. Als ich näher herantrat, sah ich, dass sie fieberhaft etwas unter der Rubrik »Haustiere - H u n d e « einkreiste. » O h « , sagte ich mit meiner Frischgebackener-Ehemann-und-daher-sehr-sanft-und-freundlich-Stimme. »Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?« Sie antwortete nicht. »Jen-Jen?« » D i e Pflanze«, sagte sie endlich mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. » D i e Pflanze?«, fragte ich. » D i e blöde Pflanze«, präzisierte sie. »Die, die wir umgebracht haben.« Die 7w'rumgebrachthaben? Ich wollte nicht darauf herumreiten, aber fürs Protokoll: Es handelte sich um eine Pflanze, die ich gekauft und die sie um die Ecke gebracht hatte. Ich hatte sie eines Abends damit überrascht, eine schöne, große Dieffenbachie mit cremefarbenem Muster auf den grünen Blättern. » G i b t es einen besonderen Anlass?«, hatte sie gefragt. Aber es gab keinen. Ich hatte sie ihr einfach nur geschenkt, um ihr zu sagen: »Verdammt, ist es nicht fantastisch, verheiratet zu sein?« Sie hatte sich über meine Geste und die Pflanze gefreut und sich bedankt, indem sie mir die Arme um den Hals legte und mich küsste. U n d dann hatte sie sofort damit angefangen, mein Geschenk mit erstaunlicher Kaltblütigkeit zu töten. Natürlich nicht absichtlich; eher hat sie das arme Ding zu Tode gepflegt. J e n n y hat nicht gerade einen grünen Daumen. Sie ging davon aus, dass alle Lebewesen Wasser brauchen, und vergaß dabei, dass sie auch Luft benötigen. Also goss sie die Dieffenbachie täglich reichlich. 12

»Pass auf, dass du sie nicht ertränkst!«, riet ich ihr. »Okay«, antwortete sie und füllte eine weitere G i e ß kanne. Je kränker die Pflanze aussah, desto m e h r goss sie sie, bis sie schließlich in eine Art geschmolzenen Klumpen zerfloss. Ich betrachtete ihre Uberreste im Blumentopf auf dem F e n s terbrett und dachte: Mann, jemand, der an böse Vorzeichen glaubt, hätte hier jede Menge Material. Da saß sie also und vollbrachte den unglaublichen logischen Schritt von einer toten Pflanze im Blumentopf zu den Haustieranzeigen. Bring eine Pflanze um und kauf dir einen Welpen. Klar, das war logisch. Ich sah mir die Zeitung, die vor ihr lag, genauer an u n d entdeckte die Anzeige, die ihr besonderes Interesse geweckt hatte. Sie hatte drei dicke rote Kreuze daneben gemalt. D e r Text lautete: »Reinrassige Labradorwelpen, hellbraun. N u r in gute Hände.« »Also«, fing ich an, »kannst du mir diese Labrador-Pflanzen-Geschichte noch mal erklären?« »Weißt du«, sagte sie und sah auf, »ich habe mich so bemüht, und was ist passiert? Ich kann noch nicht einmal eine dämliche Topfpflanze am Leben erhalten. Ich meine, was muss man da schon tun? Du brauchst das verdammte D i n g doch nur zu gießen!« Dann kam sie auf den Punkt: » W e n n ich schon keine Topfpflanze versorgen kann, wie soll ich dann jemals ein Baby versorgen können?« Sie sah mich an, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Die Babysache, wie ich es nannte, war schon ein fester Bestandteil von Jennys Leben geworden und wurde von Tag zu Tag schlimmer. Als wir uns das erste Mal bei einer kleinen Zeitung in Michigan begegnet waren, war sie erst ein paar Monate vom College weg und das Erwachsensein schien noch eine ferne, unbestimmte G r ö ß e . Für uns beide war es 13

der erste feste J o b nach der Schule gewesen. W i r aßen jede M e n g e Pizza, tranken viel Bier und verschwendeten keinen Gedanken an die Möglichkeit, dass unsere Jugend eines Tages vorbei sein könnte und wir einmal etwas anderes als junge, alleinstehende, unmäßige Pizza- und Bierkonsumenten sein würden. Aber die J a h r e vergingen. W i r hatten gerade angefangen, miteinander auszugehen, als verschiedene Jobangebote - und ein einjähriges Fortbildungsprogramm in meinem Fall - uns in unterschiedliche Richtungen im östlichen Teil von Amerika zogen. Zuerst waren wir n u r eine Stunde Fahrzeit voneinander entfernt. D a n n waren es drei Stunden. D a n n acht u n d am E n d e vierundzwanzig. Als wir schließlich beide in Südflorida landeten und das Ganze amdich wurde, war J e n n y fast dreißig. Ihre Freundinnen hatten Babys. Ihr Körper sandte ihr seltsame Signale. Die einst auf ewig offen stehende T ü r der Fortpflanzung schien sich langsam zu schließen. Ich lehnte mich von hinten über sie, umarmte sie und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Schon in Ordnung«, sagte ich. Aber ich musste zugeben, dass ihre Bedenken nicht ganz aus der Luft gegriffen waren. Keiner von uns hatte jemals wirklich für etwas sorgen müssen. Klar, wir waren beide mit Haustieren aufgewachsen, doch die zählten nicht wirklich. W i r hatten ja immer gewusst, dass sich unsere Eltern um sie k ü m m e r n würden. W i r wollten beide eines Tages Kinder, aber war einer von uns dieser Aufgabe wirklich gewachsen? Kinder waren so ... so ... unheimlich. Sie waren hilflos und verletzlich und sahen aus, als würden sie sofort zerbrechen, wenn m a n sie fallen ließ. D a n n hellte sich Jennys M i e n e plötzlich auf. »Ich dachte, ein H u n d wäre vielleicht gut zum Ü b e n « , sagte sie.

14

Als wir in der Dunkelheit in Richtung N o r d w e s t e n zur Stadt hinausfuhren, wo die Vororte von West Palm Beach in ausgedehnte Ländereien übergehen, dachte ich noch einmal über unseren Entschluss nach, einen H u n d anzuschaffen. Es war eine riesige Verantwortung, besonders für zwei Menschen mit Vollzeitjob. U n d doch wussten wir, worauf wir uns einließen. W i r waren beide mit H u n d e n aufgewachsen und hatten sie unendlich geliebt. Ich hatte Saint Shaun gehabt, und Jenny Saint Winnie, den von der ganzen Familie heiß geliebten English Setter. Unsere schönsten Kindheitserinnerungen waren mit diesen H u n d e n verbunden. W i r waren mit ihnen auf Berge gestiegen, geschwommen, hatten mit ihnen gespielt und wegen ihnen Arger bekommen. W e n n J e n ny den H u n d wirklich nur gewollt hätte, um ihre elterlichen Fähigkeiten zu trainieren, hätte ich versucht, es ihr auszureden und ihr stattdessen einen Goldfisch anzudrehen. Aber genauso wie wir beide Kinder wollten, so wussten wir auch beide, dass unsere Familie nur mit einem H u n d komplett sein würde. Als wir miteinander ausgegangen waren, lange bevor der Gedanke an Kinder aufgetaucht war, verbrachten wir Stunden damit, über unsere Haustiere zu diskutieren, wie sehr wir sie vermissten und wie sehr wir uns wünschten, eines Tages - wenn wir ein eigenes H a u s hatten und Ruhe in unser Leben eingekehrt war - wieder einen H u n d zu haben. Jetzt war es so weit. W i r wohnten zusammen an einem Ort, den wir so schnell nicht wieder verlassen wollten, und wir konnten ein Haus unser Eigen nennen. Es war ein perfektes kleines Häuschen auf einem kleinen, eingezäunten Grundstück, das genau die richtige G r ö ß e für einen H u n d hatte. U n d die U m g e b u n g war ebenfalls genau richtig, ein unkonventionelles, städtisches Wohngebiet eineinhalb Blocks vom Intracoastal Waterway entfernt, einem Binnen15

Wasserweg, der von N e w Jersey bis Texas verläuft und unser Viertel, West Palm Beach, von der edlen Wohngegend in Palm Beach trennte. Am Fuße unserer Straße, der Churchill Road, lag ein lang gestreckter Park mit asphaltierten Wegen, der sich über Kilometer am Ufer entlang erstreckte. Ein idealer O r t zum Joggen, Radfahren und Inlineskaten. Und natürlich vor allem, um mit einem H u n d spazieren zu gehen. Das H a u s stammte aus den Fünfzigerjahren und hatte einen gewissen C h a r m e - mit Kamin, grob verputzten W ä n den, großen Fenstern und Flügeltüren, die auf unseren Lieblingsplatz hinausführten, die überdachte Veranda hinter dem H a u s . D e r Garten war eine kleine tropische Oase, mit Palmen, Bromelien, Avocadobäumen und Buntnesseln in grellen Farben. Das Grundstück wurde von einem ausladenden M a n g o b a u m beherrscht, der jeden Sommer seine schweren Früchte mit lautem Plumpsen auf die Erde fallen ließ. Das klang grotesk, als würden Leichen vom Dach geworfen. W i r lagen dann immer im Bett und lauschten. Plumps. Plumps. Plumps. W i r hatten diesen Bungalow mit zwei Schlafzimmern und einem Bad ein paar M o n a t e nach unserer Rückkehr aus den Flitterwochen gekauft u n d uns sofort darangemacht, ihn herzurichten. Die Vorbesitzer, ein pensionierter Postangestellter und seine Frau, hatten die Farbe G r ü n geliebt. Die Verzierungen außen am H a u s waren grün. Die W ä n d e im Haus waren grün. Die Vorhänge waren grün. Die Fensterläden waren grün. Die Haustür war grün. D e r Teppich, den sie gerade erst angeschafft hatten, um das Haus besser verkaufen zu können, war grün. N i c h t ein freundliches Apfelgrün oder ein kühles Smaragdgrün oder gar ein mutiges Limonengrün, sondern ein ungesundes Erbsensuppengrün mit einem Hauch von Khaki. Das Haus hatte die Atmosphäre einer Militärbaracke. 16

An unserem ersten Abend dort rissen wir jeden Z e n t i m e ter des neuen grünen Teppichs heraus und schleiften ihn auf den Gehsteig hinaus. U n t e r dem Teppich entdeckten wir makellose Eichendielen, die, soweit wir das beurteilen konnten, noch nie eine Schuhsohle gesehen hatten. W i r polierten sie, bis sie glänzten. D a n n gingen wir einkaufen und gaben einen halben Monatslohn für einen handgewebten persischen Teppich aus, den wir im W o h n z i m m e r vor dem Kamin ausrollten. Im Laufe der M o n a t e strichen wir jede grüne Oberfläche und tauschten jedes grüne Accessoire aus. Das H a u s des Postbeamten wurde langsam zu unserem. Als wir mit allem fertig waren, war es natürlich n u r logisch, dass wir uns einen großen, vierbeinigen Mitbewohner mit scharfen Krallen, großen Zähnen und äußerst begrenzten Englischkenntnissen ins H a u s holten, damit er es wieder auseinandernehmen konnte. »Langsam, Dingo, sonst fahren wir noch dran vorbei!«, schimpfte Jenny. »Es muss hier ganz in der N ä h e sein.« W i r fuhren in tiefschwarzer N a c h t durch eine Landschaft, die einmal ein M o o r gewesen und nach dem Zweiten Weltkrieg trockengelegt worden war, um sie zuerst als Ackerland u n d später als Baugrund für Landliebhaber zu nutzen. W i e Jenny vorausgesagt hatte, erfassten unsere Scheinwerfer bald einen Briefkasten mit der Adresse, nach der wir suchten. Ich bog in einen Schotterweg ein, der in einen großen, eingezäunten H o f mündete. Vor dem H a u s stand ein Brunnen und dahinter war eine kleine Scheune zu sehen. An der T ü r begrüßte uns eine Frau mittleren Alters namens Lori. N e b e n ihr stand ein großer, friedlicher hellbrauner Labrador. »Das ist Lily, die stolze M a m a « , sagte Lori, nachdem wir uns vorgestellt hatten. W i r sahen, dass Lilys Bauch fünf 17

W o c h e n nach der G e b u r t noch angeschwollen war und ihre Zitzen deutlich heraustraten. W i r knieten uns beide hin und sie begrüßte uns freundlich. Sie war genau das, was wir uns unter einem Labrador vorstellten - gutmütig, liebenswert, sanft und atemberaubend schön. » W o ist der Vater?«, fragte ich. » O h « , sagte die Frau und zögerte den Bruchteil einer Sekunde lang, »Sammy Boy? Er ist irgendwo draußen unterwegs.« D a n n fügte sie schnell hinzu: »Sicher wollen Sie jetzt unbedingt die Welpen sehen?« Sie führte uns durch die Küche in einen Raum, der in eine Art Säuglingsstation umfunktioniert worden war. D e r Boden war mit Zeitungen ausgelegt und in einer Ecke stand eine niedrige Schachtel mit alten Handtüchern. Doch all das n a h m e n wir n u r am Rande wahr. Kein Wunder, wo doch vor uns n e u n kleine gelbe Welpen übereinander stolperten, während sie sich fiepend drängten, um diese fremden Leute zu begutachten. J e n n y schnappte nach Luft. »Meine Güte«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Reizendes gesehen.« W i r setzten uns auf den Boden und ließen die Welpen auf uns herumklettern, während Lily freundlich dazwischen herumlief, mit dem Schwanz wedelte und jeden ihrer Sprösslinge mit der Schnauze anstupste, um zu sehen, ob auch alles in O r d n u n g war. Ich hatte mit J e n n y ausgemacht, dass wir uns die Welpen nur ansehen, ein paar Fragen stellen und dann noch einmal darüber nachdenken würden, ob wir uns auch wirklich einen H u n d anschaffen wollten. »Das ist die erste Anzeige, auf die wir uns melden«, hatte ich gesagt, »lass uns nichts überstürzen.« Aber nach dreißig Sekunden war mir klar, dass ich die Schlacht verloren hatte. Es stand außer Zweifel, dass vor Morgengrauen einer dieser Welpen uns gehören würde. 18

Lori war keine professionelle Hundezüchterin. W i r hatten keine Ahnung davon, wie m a n es anging, einen reinrassigen H u n d zu kaufen. D o c h wir hatten genug gelesen, um zu wissen, dass man sich von den so genannten Welpenfabriken fernhalten sollte, diesen kommerziellen Hundezuchten, die reinrassige H u n d e ausstießen wie eine Autofirma ihre Fließbandware. Im Gegensatz zu serienmäßig produzierten Autos können serienmäßig produzierte Rassehundwelpen nämlich ernste Erbschäden aufweisen, von Hüftverformungen bis zu früher Erblindung, als Folge von fortgesetzter Inzucht. Lori dagegen betrieb die H u n d e z u c h t als Hobby, eher aus Liebe zu dieser Rasse als aus Profitgier. Sie besaß n u r eine H ü n d i n und einen Rüden. Die beiden stammten von verschiedenen Linien ab, was Lori anhand der Stammbäume nachweisen konnte. Dies war Lilys zweiter und voraussichtlich letzter Wurf, ehe sie sich in den wohlverdienten R u h e stand eines Haustiers auf dem Land zurückziehen würde. Mit beiden Eltern vor O r t konnte der Käufer die Abstamm u n g direkt nachvollziehen - auch wenn der Vater in u n serem Fall irgendwo draußen unterwegs u n d damit nicht greifbar war. D e r W u r f bestand aus fünf Weibchen, die bis auf eines alle bereits vergeben waren, und vier M ä n n c h e n . Lori verlangte 400 Dollar für das letzte Weibchen und 375 Dollar für die Rüden. Einer der Rüden schien besonders verliebt in uns zu sein. Er war der Verspielteste von allen, rannte auf uns zu, purzelte auf unseren Schoß u n d kletterte an unseren Pullovern bis zum Gesicht hinauf, um uns abzuschlabbern. Er nagte mit erstaunlich scharfen Babyzähnen an unseren Fingern und tapste in schiefen Kreisen auf riesigen, lohfarbenen Pfoten um uns herum, die für den Rest seines Körpers viel zu groß waren. » D e n da können Sie für 350 Dollar haben«, sagte Lori. 19

J e n n y ist eine fanatische Schnäppchenjägerin und bringt andauernd irgendwelche Sachen nach Hause, die wir weder brauchen noch haben wollen, nur weil sie zu günstig waren, um daran vorbeizugehen. »Ich weiß, dass du nicht Golf spielst«, sagte sie eines Tages, als sie ein Set gebrauchter Golfschläger aus dem Auto zog. »Aber du glaubst gar nicht, wie günstig ich die bekommen habe!« Jetzt sah ich, wie ihre Augen zu leuchten anfingen. » O h , Liebling«, säuselte sie, »der kleine Kerl ist ein Sonderangebot!« Ich muss zugeben, dass er verdammt niedlich war. U n d verspielt. N o c h ehe ich wusste, was er vorhatte, hatte er bereits die Hälfte meines Uhrarmbandes verspeist. » W i r müssen eine M u t p r o b e machen«, sagte ich. Ich hatte J e n n y die Geschichte schon oft erzählt, wie wir Saint Shaun ausgesucht hatten, als ich noch ein Junge war und mein Vater mir geraten hatte, eine plötzliche Bewegung oder L ä r m zu machen, um die scheuen Welpen von den mutigen zu unterscheiden. W i e wir also da inmitten des Welpenhaufens saßen, warf sie mir einen entnervten Blick zu, den sie immer für alte Grogan-Familiengeschichten parat hat. » I m Ernst!«, sagte ich. »Es funktioniert!« Ich stand auf, wandte mich von den Welpen ab und drehte mich dann abrupt wieder um, wobei ich einen plötzlichen, übertriebenen Schritt auf sie zu machte. Ich stampfte mit dem Fuß auf und rief: »Hey!« Keiner der Welpen schien besonders beeindruckt von den Anstrengungen dieses seltsamen Fremden. D o c h n u r einer warf sich nach vorne, um diesem vermeintlichen Angriff mutig die Stirn zu bieten. Es war das Sonderangebot. Er jagte auf mich zu, warf sich gegen meine Knöchel und stürzte sich auf meine Schnürsenkel, als wären sie gefährliche Feinde, die in die Flucht geschlagen werden müssten. »Ich glaube, das ist Schicksal«, sagte Jenny. 20

»Meinst du?« Ich hob ihn mit einer H a n d hoch u n d sah ihm ins Gesicht. Er blickte mich mit herzerweichenden braunen Augen an und knabberte dann an meiner Nase. Ich ließ ihn in Jennys Arm plumpsen, wo er das Gleiche mit ihr tat. »Sieht aus, als würde er uns mögen«, sagte ich. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. W i r stellten Lori einen Scheck über 350 Dollar aus, und sie meinte, wir könnten in drei Wochen wiederkommen und unser Sonderangebot mitnehmen. Er wäre dann acht W o c h e n alt und entwöhnt. W i r dankten ihr, streichelten Lily noch einmal u n d verabschiedeten uns. Als wir zum Auto gingen, legte ich Jenny den A r m um die Schultern und zog sie an mich. »Unglaublich, oder?«, sagte ich zu ihr. » W i r haben tatsächlich unseren H u n d ! « »Ich kann es kaum erwarten, ihn nach Hause zu holen«, meinte Jenny. Gerade, als wir das Auto erreichten, hörten wir ein G e räusch. Es kam vom Wald her. Irgendetwas brach durchs Gehölz - und schnaufte dabei sehr laut. Es klang wie aus einem Horrorstreifen. U n d es kam näher. W i r erstarrten und versuchten, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das Geräusch wurde lauter. D a n n plötzlich brach das D i n g wie ein Blitz auf die Lichtung hinaus und stürzte auf uns zu. Ein hellbraunes Etwas. Ein sehr großes hellbraunes Etwas. Es galoppierte ohne anzuhalten an uns vorbei, ja, sogar scheinbar ohne uns zu bemerken, und wir sahen, dass es ein großer Labrador war. Aber er hatte nichts mit der süßen Lily gemein, mit der wir gerade im H a u s geschmust hatten. D i e ses Tier war tropfhass und bis zum Bauch voller Schlamm und Zweige. Die Z u n g e hing ihm wild an einer Seite aus dem Maul, und Schaum flog von seinen Lefzen, als er an uns vorbeiraste. Einen Augenblick lang sah ich den seltsamen, leicht verrückten und doch irgendwie fröhlichen Ausdruck 21

in seinen Augen. Es war, als ob dieses T i e r gerade einen Geist gesehen hätte - und sich vor Begeisterung gar nicht fassen könnte. D a n n verschwand es mit dem Getöse einer durchgehenden Büffelherde hinter dem H a u s . Jenny stieß einen kleinen Schrei aus. »Ich glaube, wir haben gerade den Papa kennen gelernt«, sagte ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.

ZWEI

Adel verpflichtet

U

nsere erste Amtshandlung als frischgebackene H u n d e besitzer war ein Streit. Er begann auf der Heimfahrt von der Hundezüchterin und flackerte die ganze folgende Woche immer wieder auf. W i r konnten uns nicht einigen, wie wir unser Sonderangebot taufen sollten. J e n n y lehnte meine Vorschläge kategorisch ab, und ich die ihren. Eines Morgens, bevor wir zur Arbeit gingen, eskalierte der Streit. »Chelsea?«, sagte ich. »Das ist ein grauenhafter M ä d chenname. Jeder Rüde würde eher sterben als Chelsea zu heißen!« »Als ob er das mitbekommen würde«, konterte Jenny. » H u n t e r « , schlug ich vor. » H u n t e r ist perfekt.« »Hunter? Du machst Witze, oder? Was ist los mit dir, bist du auf einem Macho-Trip? Viel zu maskulin. Im Übrigen warst du noch nie in deinem Leben auf der Jagd.« »Er ist ein M ä n n c h e n « , entgegnete ich schäumend vor Wut. » U n d er soll maskulin sein. Mach daraus jetzt keine von deinen feministischen Grundsatzfragen!« Das Ganze drohte zu kippen. U n d ich hatte gerade den Fehdehandschuh geworfen. Als J e n n y zum Gegenschlag ausholte, versuchte ich schnell, meinen Favoriten noch einmal ins Spiel zu bringen. »Was ist falsch an Louie?« »Nichts, wenn du auf einer Tankstelle arbeitest«, schleuderte Jenny mir entgegen. 23

»Hey, jetzt mach mal halblang, das war der N a m e meines Großvaters! W i r sollten ihn wohl nach deinem Großvater nennen, oder? G u t e r H u n d , Bill!« W ä h r e n d wir uns so stritten, wanderte Jenny gedankenlos zur Stereoanlage und drückte die Play-Taste. Das war eine ihrer fiesen Kriegsstrategien. W e n n du zu verlieren drohst, dann lass deinen Gegner einfach auf dem Trockenen sitzen. Aus den Lautsprechern tönte Bob Marley, und das hatte sofort eine beruhigende W i r k u n g auf uns beide. W i r hatten den jamaikanischen Sänger erst entdeckt, als wir von Michigan nach Südflorida gezogen waren. In der Weißbrotidylle des O b e r e n Mittelwestens hatten wir eine strenge Bob-Seger-und-John-Cougar-Mellencamp-Diät genossen. Aber hier in Südflorida, diesem pulsierenden Schmelztiegel, war Bob Marleys Musik auch noch ein Jahrzehnt nach seinem Tod überall zu hören. W i r hörten sie im Autoradio, wenn wir den Biscayne Boulevard hinunterfuhren. W i r hörten sie, wenn wir in Little Havanna Kaffee tranken und in den düsteren Etablissements der Einwandererviertel westlich von F o r t Lauderdale gegrilltes H ü h n c h e n aßen. W i r hatten sie gehört, als wir zum ersten Mal Muscheln auf dem Bahamian G o o m b a y Festival in Miami gegessen und als wir in Key West Kunst aus Haiti gekauft hatten. Je m e h r wir entdeckten, desto mehr verliebten wir uns, in Südflorida und ineinander. U n d im Hintergrund war immer Bob Marley zu hören. Er sang, wenn wir uns am Strand sonnten, als wir die scheußlichen grünen W ä n d e in unserem Haus strichen, als wir im Morgengrauen von den Schreien wilder Papageien aufwachten und uns im ersten Sonnenlicht, das durch den brasilianischen Pfefferbaum vor unserem Fenster fiel, liebten. W i r verliebten uns in seine Musik, um ihrer selbst willen u n d weil sie für den M o m e n t in unserem Leben 24

stand, in dem wir zusammengefunden hatten. Bob Marley war der Soundtrack unseres neuen, gemeinsamen Lebens an diesem seltsamen, exotischen, zügellosen Ort, der sich so sehr von allen anderen Orten unterschied, wo wir bisher gewohnt hatten. U n d jetzt schallte unser Lieblingslied aus den Lautsprechern. Es war unser Lieblingslied, weil es so furchtbar schön war und weil es so deutlich zu uns sprach. Marleys Stimme füllte den Raum aus und wiederholte immer wieder: »Is this love that I'm feeling?« U n d im selben M o m e n t , genau gleichzeitig, so als hätten wir das wochenlang geübt, schrien wir beide: »Marley!« »Das ist es!«, rief ich. »Das ist unser N a m e ! « J e n n y lächelte, ein gutes Zeichen. Ich probierte es sofort aus. »Marley, hierher!«, befahl ich. »Marley, bleib! G u t e r H u n d , M a r ley!« »Hey, ich glaube, das funktioniert«, sagte ich dann. Jenny stimmte mir zu. Unser Streit war beigelegt. W i r hatten einen N a m e n für unseren Welpen. Am nächsten Abend kam ich nach dem Abendessen ins Schlafzimmer, wo Jenny gerade ein Buch las, und sagte: »Ich finde, wir müssen seinen N a m e n ein wenig aufpeppen.« »Wovon redest du eigentlich?«, fragte sie. » E r hat uns doch beiden gefallen.« Ich hatte die Anmeldeformulare vom American Kennel Club gelesen. Als reinrassiger Labrador mit ordentlich eingetragenen Eltern konnte Marley ebenfalls in die AKC-Liste eingetragen werden. Das war zwar nur dann notwendig, wenn man mit seinem H u n d auf Hundeschauen gehen oder züchten wollte, in diesem Fall gab es kein wichtigeres D o k u ment. Für ein Haustier hingegen war es überflüssig. Aber ich hatte große Pläne mit unserem Marley. Dies 25

war das erste Mal, dass ich mit so etwas wie adeliger Abstamm u n g in Berührung kam. Das gilt auch für meine eigene Familie. W i e Saint Shaun, der H u n d meiner Kindheit, war auch ich ein Individuum ungewisser und uninteressanter Abstammung. In meinem Stammbaum rinden sich mehr Nationen als in der Europäischen U n i o n . D u r c h diesen H u n d hatte ich es auf einmal mit Adel zu tun, und ich würde diese Gelegenheit nicht ungenützt verstreichen lassen. Ich gebe zu, ich war ein wenig größenwahnsinnig. » N e h m e n wir einmal an, wir wollen ihn bei Wettbewerben starten lassen«, erklärte ich. »Hast du schon mal von einem C h a m p i o n h u n d mit nur einem N a m e n gehört? Sie haben immer lange Titel, so was wie Sir Dartworth of Chesterham.« » U n d sein Herrchen, Graf Größenwahn von West Palm Beach«, erwiderte Jenny trocken. »Ich meine es ernst!«, entgegnete ich. » W i r könnten ihn Züchtern als Beschäler zur Verfügung stellen. Hast du eine Ahnung, wie viel die Leute für gute Zuchtrüden zahlen? Aber dann braucht er einen tollen N a m e n . « »Lass dich nicht aufhalten, Liebling«, sagte Jenny und wandte sich wieder ihrem Buch zu. N a c h d e m ich eine N a c h t lang darüber gegrübelt hatte, fing ich sie am nächsten M o r g e n neben dem Waschbecken im Badezimmer ab und sagte: »Mir ist der perfekte N a m e eingefallen.« Sie sah mich skeptisch an. »Schieß los!« »Okay, bist du bereit? H i e r k o m m t er.« U n d dann ließ ich mir jeden einzelnen N a m e n auf der Zunge zergehen: » G r o gan's ... Majestic ... Marley ... of... Churchill.« M a n n , dachte ich, das klingt wirklich königlich. » M a n n « , sagte Jenny, »das klingt echt blöd.« Es war mir egal. Ich war derjenige, der sich um den Pa26

pierkram kümmerte, und ich hatte den N a m e n bereits eingetragen. M i t Tinte. J e n n y konnte feixen, so lange sie wollte; wenn Grogan's Majestic Marley of Churchill in ein paar Jahren reihenweise Ehrentitel auf der Westminster-KennelClub-Hundeshow abräumen und ich ihn ruhmvoll vor einem ehrfürchtigen internationalen Fernsehpublikum durch den Ring traben lassen würde, dann würden wir ja sehen, wer zuletzt lachte. »Komm, mein edler Graf G r o g a n « , sagte Jenny. »Lass uns frühstücken.«

DREI

Heimwärts

W

ährend wir die Tage zählten, bis wir Marley nach Hause holen konnten, begann ich mit reichlich Verspätung, Fachliteratur über Labradors zu wälzen. Ich sage mit reichlich Verspätung, weil einem in jedem Buch, das ich las, derselbe eindringliche Rat gegeben wurde: Bevor man sich einen H u n d kauft, sollte man sich eingehend über die Rasse informieren, damit man auch weiß, worauf man sich einlässt. D u m m gelaufen. Jemand, der in einer kleinen W o h n u n g wohnt, sollte sich zum Beispiel keinen Bernhardiner anschaffen. Eine Familie mit kleinen Kindern sollte vielleicht die manchmal unberechenbaren C h o w - C h o w s meiden. Ein Faulpelz, der einen Schoßhund für gemeinsame faule Stunden vor dem Fernseher sucht, wird mit einem Bordercollie wahrscheinlich wahnsinnig, denn der braucht Arbeit und Bewegung, um glücklich zu sein.

Betreten musste ich zugeben, dass Jenny und ich uns so gut wie gar nicht informiert hatten, bevor wir uns für einen Labrador entschieden hatten. Ein einziges Kriterium war für unsere Entscheidung für diese Rasse ausschlaggebend gewesen: die Ausstrahlung. Oft hatten wir Labradors mit ihren Besitzern auf dem Radweg am Ufer bewundert - große, tapsige, verspielte Burschen, die eine Lebensfreude versprühten, wie m a n sie auf dieser Welt nicht oft zu sehen bekommt. N o c h 28

peinlicher war die Tatsache, dass unsere Entscheidung nicht von der Bibel aller Hunderassen, The Complète Dog Book, veröffentlicht vom American Kennel Club, u n d auch nicht von irgendeinem anderen empfehlenswerten W e r k beeinflusst worden war. Unsere Inspirationsquelle war ein ganz anderer Hundeklassiker gewesen: The Far Side von Gary Larson. W i r waren große Fans dieses Comics. Darin taten und sagten kluge, weltgewandte Labradors die unglaublichsten Dinge. Ja, sie konnten reden! Großartig, oder? Labradors waren ungeheuer unterhaltsame T i e r e - zumindest bei G a r y Larson. U n d wer konnte nicht ein bisschen m e h r Spaß im Leben gebrauchen? W i r konnten nicht widerstehen. Als ich jetzt ernsthaftere Literatur zum T h e m a Labradors durcharbeitete, war ich erleichtert, zu erfahren, dass unsere Wahl, wie willkürlich sie auch gewesen war, nicht vollkommen abwegig zu sein schien. Die Bücher waren voll des L o bes über das liebenswerte, ausgeglichene Wesen des Labradors, seine Kinderliebe, seinen Sanftmut und seinen Eifer. Wegen ihrer Intelligenz und Ausdauer wurden diese H u n d e oft im Rettungsdienst und als Blindenhunde eingesetzt. All das klang viel versprechend für einen H u n d , der in einen Haushalt kommen sollte, in dem es früher oder später wahrscheinlich auch Kinder geben würde. Ein Buch schwärmte: » D e r Labrador ist bekannt für seine Klugheit, seine Menschenliebe, Geschicklichkeit und endlose Ausdauer bei jedweder Aufgabe.« Ein anderes Buch pries die große Treue dieser Rasse. All diese Qualitäten hatten den Labrador von einem reinen Jagdhund, der wegen seines Geschicks beim Aufstöbern von abgeschossenen Fasanen und Enten in eiskalten Gewässern vor allem bei der Vogeljagd eingesetzt wurde, zum beliebtesten Haustier Amerikas gemacht. Erst vor einem J a h r hatte der Labrador den Cockerspaniel vom Spitzenplatz der vom American Kennel 29

Club aufgestellten Liste der beliebtesten Hunderassen verdrängt. Keine andere Rasse ist seitdem an den Labrador herangekommen. 2004 stand er mit 146692 registrierten H u n d e n zum fünfzehnten Mal hintereinander auf Platz eins dieser Liste. Weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz lag der Golden Retriever mit 52 550 Exemplaren, und den dritten Platz hielt der Deutsche Schäferhund mit 46046 Exemplaren. G a n z zufällig waren wir also auf eine Rasse gestoßen, von der Amerika gar nicht genug bekommen konnte. U n d all diese glücklichen Hundebesitzer konnten sich doch u n m ö g lich irren, oder? W i r hatten uns für einen sicheren Gewinner entschieden. U n d doch waren die Bücher voll von ominösen Warnhinweisen. Labradors waren als Arbeitshunde gezüchtet worden und hatten meistens unerschöpfliche Energie. Sie waren sehr gesellig u n d sollten nicht zu lange allein gelassen werden. Sie konnten stur und schwer erziehbar sein. Sie brauchten täglich reichlich Auslauf, sonst konnten sie zerstörerische Züge entwickeln. M a n c h e Exemplare waren sehr leicht erregbar und auch für erfahrene Hundebesitzer schwer unter Kontrolle zu halten. Sie genossen eine scheinbar unendliche Welpenphase, die bis zu drei Jahre oder sogar noch länger dauern konnte. Diese lange, überschäumende Jugendzeit erforderte vom Besitzer zusätzliche Geduld. Sie waren kräftig, und man hatte sie über die Jahrhunderte hinweg auf Schmerzunempfindlichkeit gezüchtet, eine Qualität, die ihnen zugutekommt, wenn sie den Fischern im Nordatlantik helfen und in das eisige Wasser tauchen. In ein e m normalen Haushalt jedoch konnte genau diese Eigenschaft aus einem Labrador einen Elefanten im Porzellanladen machen. Diese großen, starken, breitschultrigen Tiere waren sich ihrer eigenen Stärke nicht immer bewusst. Später 30

erzählte mir eine Labradorbesitzerin einmal, sie hätte ihren Rüden an das Gartentor neben der Garage gebunden, damit er dabei sein konnte, wenn sie das Auto in der Einfahrt wusch. Das T i e r entdeckte ein Eichhörnchen u n d machte einen Satz nach vorne, wobei es den großen Eisenrahmen glatt aus der Wand riss. U n d dann las ich einen Satz, der mir Angst machte. » D i e Eltern sind mit die besten Indikatoren für das Temperament, das ihr Welpe einmal entwickeln wird. Ein erstaunlich großer Teil des Benehmens ist erblich bedingt.« Ich hatte wieder dieses schäumende, vor Dreck strotzende U n g e t ü m vor Augen, das an jenem Abend aus dem Wald gerast gekommen war, als wir unseren Welpen aussuchten. Großer Gott, dachte ich. Das Buch empfahl wärmstens, unbedingt darauf zu bestehen, beide Eltern zu besichtigen. Ich erinnerte mich wieder an das kaum merkliche Z ö g e r n der Züchterin, als ich nach dem Vater der Welpen fragte. Oh ... er ist irgendwo draußen unterwegs. U n d wie sie dann schnell das T h e m a gewechselt hatte. Das alles ergab auf einmal einen Sinn. Ein belesener Käufer hätte darauf bestanden, den Vater zu sehen. Und was hätte er zu sehen bekommen? Einen wahnsinnigen Derwisch, der blindlings durch die N a c h t raste, als ob D ä monen ihm am Schwanz hingen. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Marley das G e m ü t seiner M u t t e r geerbt hatte. Abgesehen von individuellem Erbgut haben alle reinrassigen Labradors gewisse vorhersagbare Charaktereigenschaften gemeinsam. D e r American Kennel Club setzt die Standards, welche Qualitäten ein Labrador besitzen sollte. Vom Körperbau her sind sie stämmig und muskulös, mit kurzem, dichtem, wetterfestem Fell. Das Fell kann schwarz oder schokoladenbraun sein oder eine Vielzahl von Goldtönen aufweisen, von hellbeige bis zu einem dunklen Fuchsrot. Eines 31

der Hauptmerkmale des Labradors ist sein dicker, kräftiger Schwanz, der dem eines Otters ähnelt und einen Kaffeetisch mit einem einzigen schnellen Wedeln abräumen kann. Der Kopf ist groß und breit, mit kräftigen Kiefern und hoch angesetzten Schlappohren. Die meisten Labradors haben ein Stockmaß von sechzig Zentimetern vom Boden bis zu den Schultern, und ein durchschnittlich gebautes Männchen wiegt ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Kilo, obwohl manche Exemplare wesentlich schwerer sein können. Aber Aussehen allein ist laut dem AKC bei einem Labrador nicht alles. In den Standards des Clubs heißt es: »Das wahre Labrador-Temperament ist genauso ein Merkmal dieser Rasse wie der so genannte Otterschwanz. Idealerweise ist der Labrador freundlich, von offenem, lenkbarem Wesen, er will gefallen und ist weder gegen Menschen noch gegen andere T i e r e aggressiv. D e r Labrador ist sehr liebenswert. Seine sanfte Art, seine Klugheit und seine Anpassungsfähigkeit machen ihn zu einem idealen H u n d . « Ein idealer H u n d ! Ein größeres L o b konnte man wohl kaum aussprechen. Je m e h r ich las, umso wohler fühlte ich mich mit unserer Entscheidung. N i c h t einmal die Warnungen konnten mich besonders schrecken. Jenny und ich würden uns mit Begeisterung auf unseren neuen H u n d einlassen und ihn mit Aufmerksamkeit und Liebe überschütten. W i r waren beide fest entschlossen, ihn zu Gehorsam und Anstand zu erziehen, egal, wie viel Zeit das in Anspruch n e h m e n würde. W i r gingen beide sehr gerne spazieren und waren beinahe jeden Abend nach der Arbeit, und auch oft morgens, unten am Wasser. Es war nur nahe liegend, unseren neuen H u n d auf unsere ausgedehnten Spaziergänge mitzunehmen. W i r würden den kleinen Racker schon müde kriegen. Jennys Büro war nicht weit von unserem Bungalow entfernt, und sie kam jeden Mittag zum Essen nach Hause. 32

Dann könnte sie ihm im Garten hinter dem H a u s Bälle werfen, damit er noch mehr von seiner ungezügelten Energie verbrennen konnte, vor der uns alle warnten. Eine Woche bevor wir unseren H u n d nach Hause holen sollten, rief Jennys Schwester Susan aus Boston an. Sie, ihr Mann und die zwei Kinder planten in der folgenden W o c h e , nach Disneyland zu fahren. Ob J e n n y nicht auch m i t k o m men und ein paar Tage mit ihnen verbringen wollte? Als vernarrte Tante, die jede Gelegenheit wahrnahm, ihre N i c h t e und ihren Neffen zu sehen, wollte J e n n y unbedingt fahren. Doch sie war hin- und hergerissen. » D a n n bin ich nicht hier, wenn der kleine Marley nach Hause k o m m t « , sagte sie. » D u fahrst«, entschied ich. »Ich hole den H u n d ab und gewöhne ihn hier ein. W i r erwarten dich dann hier, wenn du zurückkommst.« Ich versuchte gleichgültig zu klingen, aber in W a h r h e i t war ich überglücklich bei dem Gedanken, den kleinen W e l pen ein paar Tage ganz für mich alleine zu haben, um eine starke Beziehung unter M ä n n e r n aufzubauen. Natürlich war er unser gemeinsames Projekt, er gehörte uns beiden. Aber ich war der Meinung, dass ein H u n d unmöglich zwei H e r ren dienen konnte, und wenn es nur ein Alphatier in unserem Haushalt geben konnte, dann wollte ich das sein. Diese drei Tage würden mir einen Riesenvorsprung geben. Eine Woche später brach J e n n y nach Orlando auf - eine Fahrt von dreieinhalb Stunden. An diesem Abend, einem Freitag, fuhr ich nach der Arbeit zum H o f der Züchterin, um unser neues Familienmitglied abzuholen. Als Lori mir unseren H u n d herausbrachte, schnappte ich unwillkürlich nach Luft. D e r kleine, wuschelige Welpe, den wir vor drei Wochen ausgesucht hatten, hatte seine G r ö ß e m e h r als verdoppelt. Er kam auf mich zugestürzt und rannte mit dem 33

Kopf voran gegen meine Knöchel, ließ sich dann zu einem Fellhaufen zusammenfallen und rollte auf den Rücken, die Pfoten in die H ö h e , eine Geste, von der ich nur hoffen konnte, dass sie Unterwerfung bedeutete. Lori muss meinen Schock gespürt haben. » E r ist ganz schön gewachsen, nicht wahr?«, sagte sie fröhlich. »Sie sollten mal sehen, wie er das Welpenfutter wegputzt!« Ich beugte mich hinunter, kraulte ihm den Bauch und sagte: » K o m m s t du mit nach Hause, Marley?« Es war das erste Mal, dass ich seinen N a m e n benutzte, und es fühlte sich richtig an. Im Auto baute ich ihm auf dem Beifahrersitz ein gemüdiches N e s t aus Badehandtüchern und setzte ihn hinein. Aber ich war kaum aus der Einfahrt gebogen, als er anfing, sich aus den H a n d t ü c h e r n herauszugraben. Er robbte auf dem Bauch über den Sitz auf mich zu und winselte dabei. Auf der Mittelkonsole traf Marley auf das erste der unendlich vielen Hindernisse, denen er im Laufe seines Lebens begegnen würde: Er saß fest, die Hinterbeine hingen auf der Beifahrerseite herunter und die Vorderpfoten auf der Fahrerseite. Dazwischen lag er bäuchlings auf der Handbremse. Seine kleinen Beine strampelten in alle Richtungen durch die Luft. Er schaukelte u n d wackelte und zappelte, doch er saß fest wie ein gestrandeter Tanker. Ich griff hinüber und streichelte ihm über den Rücken, was ihn nur noch mehr zum Zappeln animierte. M i t den Hinterpfoten versuchte er verzweifelt, H a l t auf dem mit Teppich überzogenen Buckel zwischen den Sitzen zu finden. Langsam arbeitete er sich mit den H i n terpfoten hinauf, sein Hinterteil stieg höher und höher, der Schwanz wedelte wild hin und her, bis schließlich das Gesetz der Schwerkraft eingriff. Er purzelte mit dem Kopf voran auf der anderen Seite der Konsole hinunter, landete auf dem Boden zu meinen Füßen und drehte sich auf das Hinterteil. 34

Von dort aus war es nur noch ein kurzer, einfacher Krabbelweg auf meinen Schoß. Himmel, war er glücklich - nahezu verzweifelt glücklich. Er japste vor Freude, während er den Kopf in meinen M a gen bohrte und an den Knöpfen meines H e m d s herumkaute. Sein Schwanz schlug auf das Lenkrad wie die Nadel eines Metronoms. Ich fand schnell heraus, dass ich die Frequenz seines Schwanzwedeins erhöhen konnte, indem ich ihn berührte. W e n n ich beide H ä n d e am Lenkrad hatte, schlug der Schwanz regelmäßig dreimal pro Sekunde auf. Flap, Aap, Aap. Legte ich auch nur einen Finger auf seinen Kopf, wurde aus diesem Walzer ein Bossa nova. Flap, flap, flap, flap, flap, flap! Zwei Finger, und es wurde ein M a m b o : Flap, flapflap, flap, flapflap! U n d wenn ich ihm meine ganze H a n d auf den Kopf legte und ihn zwischen den O h r e n kraulte, explodierte das Schlagen in ein maschinengewehrartiges flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap! »Wow, du hast es aber im Blut!«, sagte ich zu ihm. » D u bist wirklich ein Reggae-Hund.« Als wir zu Hause ankamen, führte ich ihn hinein und löste seine Leine. Er fing sofort an herumzuschnüffeln u n d hörte erst auf, als er jeden Winkel erkundet hatte. D a n n setzte er sich auf die Hinterbeine und sah mich mit schief gelegtem Kopf an, als wollte er sagen: Nicht schlecht hier, aber wo sind meine Geschwister? Die Realität seines neuen Lebens ging ihm erst auf, als es Zeit zum Schlafengehen war. Bevor ich ihn abgeholt hatte, hatte ich ihm einen Schlafplatz in der kleinen Garage h e r g e richtet, die an das H a u s grenzte. W i r parkten nie darin, sondern nutzten sie als Abstellkammer und Waschraum. Waschmaschine und Trockner standen hier, und unser Bügelbrett. 35

D e r Raum war trocken und gemütlich und hatte eine Hintertür, die in den umzäunten Garten hinausführte. M i t seinem Betonboden und -wänden war er so gut wie unzerstörbar. »Marley«, sagte ich fröhlich, als ich ihn hineinführte, »das ist dein Zimmer.« Ich hatte Kauspielzeug verstreut und den Boden in der Mitte des Raumes mit alten Zeitungen ausgelegt. Außerdem standen eine Schüssel mit Wasser und ein Körbchen aus ein e m Karton mit einem alten Bettlaken darin bereit. » U n d hier wirst du schlafen«, sagte ich und setzte ihn in das Körbchen. Er war eine solche U m g e b u n g gewohnt, hatte sein Lager aber immer mit seinen Geschwistern geteilt. Jetzt schritt er sein Körbchen ab und sah mich verloren an. Ich startete den ersten Versuch, trat ins H a u s zurück und schloss die Tür. D a n n blieb ich stehen und lauschte. Zuerst nichts. D a n n ein leises, kaum hörbares Winseln. U n d dann ein herzzerreißendes Heulen. Es klang, als würde m a n ihn foltern. Ich öffnete die Tür, und sobald er mich sah, war er ruhig. Ich ging hinein und kraulte ihn eine Weile, dann ließ ich ihn wieder allein. Auf der anderen Seite der T ü r begann ich zu zählen. Eins, zwei, drei ... er schaffte es sieben Sekunden, dann fing das Gejaule wieder an. W i r wiederholten diesen Vorgang ein paar Mal, immer mit demselben Ergebnis. Ich war müde und beschloss, dass er sich in den Schlaf jaulen musste. Also ließ ich ihm das Garagenlicht an, schloss die Tür, ging in den hinteren Teil des Hauses und kroch ins Bett. Die Betonmauern filterten sein bemitleidenswertes H e u l e n nur geringfügig. Ich lag da und versuchte ihn zu ignorieren und dachte die ganze Zeit, dass er gleich aufgeben und einschlafen würde. Das Geheul ging weiter. Auch als ich mir das Kopfkissen über den Kopf zog, konnte ich ihn noch hören. Ich dachte daran, dass er zum ersten Mal in seinem 36

Leben allein war, in fremder U m g e b u n g , ohne den H a u c h eines hundeähnlichen Duftes um ihn herum. Er vermisste seine Mutter und seine Geschwister. D e r arme kleine Kerl. W i e würde mir das gefallen? Ich hielt es noch eine weitere halbe Stunde lang aus, dann stand ich auf und ging zu ihm. Sobald er mich sah, hellte sich sein Gesicht auf und er schlug mit dem Schwanz gegen das Körbchen. Es war, als wollte er sagen: Komm schon, spring auch rein, hier ist genug Platz! Stattdessen h o b ich ihn mitsamt dem Körbchen hoch und trug ihn ins Schlafzimmer, wo ich es direkt neben unser Bett auf den Boden stellte. Ich legte mich auf den äußersten Rand der Matratze und ließ einen Arm in das Körbchen hängen. U n d so, mit meiner H a n d auf seiner Flanke, sodass ich spürte, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, schliefen wir schließlich beide ein.

VIER

Mr Wiggles

D

ie folgenden drei Tage widmete ich mich mit größter Begeisterung unserem Welpen. Ich legte mich zu ihm auf den Boden und ließ ihn auf mir herumklettern. Ich raufte mit ihm. W i r spielten Tauziehen mit einem alten H a n d tuch - u n d ich war verwundert, wie stark er schon war. Er folgte mir überall hin - und versuchte alles anzuknabbern, was in Reichweite seiner Zähne kam. Er brauchte genau einen Tag, um das Beste an seinem neuen Zuhause herauszufinden: Toilettenpapier. Er verschwand in der Toilette und kam fünf Sekunden später wieder herausgeschossen, das E n d e der Rolle zwischen den Zähnen, sodass sich das Papier hinter ihm aufrollte, während er durchs H a u s tobte. Es sah aus, als hätten wir für Halloween dekoriert.

Jede halbe Stunde ließ ich ihn in den Garten hinaus. W e n n ihm mal ein Unglück im H a u s passierte, schimpfte ich ihn aus. W e n n er draußen pinkelte, legte ich meine Wange an seine u n d lobte ihn überschwänglich. U n d wenn er einen Haufen in den Garten gesetzt hatte, führte ich mich auf, als hätte er für mich sechs Richtige im L o t t o gewonnen. Als J e n n y nach Hause kam, warf sie sich ebenfalls mit Begeisterung auf ihn. Es war erstaunlich. Im Laufe der Tage entdeckte ich an meiner Frau eine sanfte, fürsorgliche Seite, die ich bisher nicht gekannt hatte. Sie trug ihn auf dem Arm, streichelte ihn, sie spielte mit ihm, sie war immer um ihn 38

herum. Sie kämmte auf der Suche nach Flöhen und Zecken jedes Haar seines Fells einzeln durch. U n d jede N a c h t stand sie alle paar Stunden auf, um ihn hinauszulassen. Es war ihr Verdienst, dass er schon nach wenigen Wochen stubenrein wurde. Hauptsächlich futterte sie ihn. W i r folgten genau den Anweisungen auf der Futtertüte und gaben Marley drei große Schüsseln Welpenfutter pro Tag. Er schlang alles bis zum letzten Krümel in wenigen Sekunden hinunter. Was wir hineinfüllten, musste natürlich auch wieder heraus, und so glich unser Garten bald einem Minenfeld. W i r mussten bei jedem Schritt auf der H u t sein. Marleys Appetit war groß, aber seine Haufen waren riesig, und sie sahen nicht viel anders aus als das, was er gefressen hatte. Verdaute er das Z e u g überhaupt? Offensichtlich schon. Marley wuchs beängstigend schnell. W i e eine dieser faszinierenden Dschungelpflanzen, die ein Haus in wenigen Stunden überwuchern können, breitete er sich exponentiell in alle Richtungen aus. Jeden Tag war er ein bisschen länger, dicker, größer und schwerer. Als ich ihn abgeholt hatte, hatte er neuneinhalb Kilo gewogen, nach wenigen Wochen brachte er schon zweiundzwanzig auf die Waage. Sein süßer kleiner Welpenkopf, der auf unserer Heimfahrt damals so gut in meine H a n d gepasst hatte, hatte rasend schnell die G r ö ß e und F o r m eines Amboss angenommen. Seine Pfoten waren enorm, seine Flanken bereits gut bemuskelt und seine Brust beinahe so breit wie ein Bulldozer. U n d wie die Bücher es vorausgesagt hatten, wurde sein dünner Welpenschwanz bald so dick und kräftig wie der eines Otters. Was war das für eine Rute. Jeder Gegenstand in unserem Haus, der sich auf Kniehöhe oder darunter befand, wurde von Marleys wild wedelnder Waffe niedergemäht. Er räumte Kaffeetische ab, verteilte Zeitungen über den Boden, 39

stieß gerahmte Fotos von Regalen, schleuderte Bierflaschen und Weingläser durch die Gegend. Er schaffte sogar eine Scheibe in der Fenstertür. Allmählich wanderten alle Gegenstände, die er nicht hinunterwarf, auf eine höhere Ebene, wo sie vor ihm sicher waren. W e n n uns Freunde mit kleinen Kindern besuchten, wunderten sie sich: »Euer Haus ist ja schon babysicher!« Marley wedelte eigentlich nicht mit dem Schwanz. Er wedelte mit seinem ganzen Körper. Die Bewegung fing vorne an den Schultern an und pflanzte sich dann nach hinten fort. Er schien keine Knochen zu haben, sein Körper war ein einziger elastischer Muskel. J e n n y fing an, ihn Mr W g g l e s zu nennen. Am allermeisten wedelte er, wenn er etwas im Maul hatte. Es war immer dasselbe Spiel: Er packte den nächstliegenden Gegenstand, einen Schuh, ein Kissen oder einen Stift - ganz egal - und rannte damit davon. Eine kleine Stimme in sein e m Kopf schien ihm zuzuflüstern: »Los! Schnapp es dir! Sabber es voll! Lauf!« M a n c h e Gegenstände waren klein genug, um sie ganz ins Maul zu nehmen, und das machte ihm besonders großen Spaß - er schien dann zu denken, er hätte uns übers O h r gehauen. Aber Marley war ein miserabler Pokerspieler. W e n n er etwas ausgefressen hatte, konnte er seine Freude nicht verbergen. Lebhaft war er immer, in solchen M o m e n t e n jedoch explodierte er förmlich in einem wahnsinnigen Anfall von Bewegungsdrang, als hätte ihn etwas gebissen. Sein Körper bebte, sein Kopf wackelte hin und her, und sein ganzes H i n terteil wiegte sich in einer Art spastischem Tanz. W i r nannten das den Marley-Mambo. »Okay, was ist es diesmal?«, fragte ich ihn dann immer, und wenn ich dann auf ihn zukam, wich er aus, wedelte mit tänzelnden Hüften durchs Z i m m e r und warf den Kopf wie 40

ein wieherndes Fohlen. Er war so überglücklich über seine verbotene Beute, dass er sich kaum halten konnte. W e n n ich ihn endlich in eine Ecke getrieben hatte u n d ihm das Maul öffinete, verließ ich das Feld nie mit leeren H ä n d e n . Irgendetwas hatte er immer aus dem Müll gezogen oder auf dem Boden gefunden oder, als er größer wurde, direkt v o m Esstisch geklaut. Papiertaschentücher, Kassenzettel, W e i n korken, Lesezeichen, Schachfiguren, Schraubverschlüsse unser H u n d war wie ein Wertstoffhof. Eines Tages drückte ich seine Kiefer auseinander, spähte hinein und fand meinen Gehaltszettel an seinem G a u m e n kleben. Schon nach wenigen W o c h e n konnten wir uns nicht m e h r daran erinnern, wie das Leben ohne unseren neuen M i t bewohner ausgesehen hatte. W i r hatten schnell zu einer Routine gefunden. Jeden M o r g e n nahm ich ihn noch vor der ersten Tasse Kaffee auf einen kleinen Spaziergang mit hinunter zum Wasser. Zwischen Frühstück u n d Duschen durchstreifte ich unseren Garten mit einer Schaufel u n d vergrub seine Tretminen im Sand am hinteren E n d e des Grundstücks. Jenny ging vor n e u n U h r zur Arbeit, ich verließ das Haus selten vor zehn, nachdem ich Marley mit einer Schüssel frischem Wasser und einem Berg Spielzeuge in die Garage gesperrt und ihm mein obligatorisches »Sei ein braver Junge, Marley« mit auf den W e g gegeben hatte. Um halb eins kam Jenny in ihrer Mittagspause nach H a u se, fütterte Marley und warf ihm im Garten seinen Ball, bis er müde war. Am Anfang fuhr sie sogar nachmittags noch einmal kurz nach Hause, um ihn hinauszulassen. N a c h dem Abendessen machten wir meistens zusammen einen Spaziergang ans Wasser, wo wir am Strand hin und her wanderten, während die Yachten von Palm Beach im Sonnenuntergang vorbeizogen. 41

Wandern ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Marley wanderte ungefähr so wie eine Lokomotive auf der Flucht. Er rannte voraus, zerrte wie wild an der Leine und hustete sich dabei die Seele aus dem Leib. W i r zogen ihn zurück, er zog uns vorwärts. W i r zerrten, er zerrte und hustete dabei wie ein Kettenraucher, weil ihm das Halsband die Luft abschnürte. Er sprang nach links und rechts, zu jedem Briefkasten und jedem Busch, schnüffelte, hechelte und markierte ununterbrochen, wobei er meistens mehr sich selbst traf als das angepeilte Ziel. Er lief im Kreis und war auf einmal hinter uns, sodass sich die Leine um unsere Knöchel wickelte, um dann wieder nach vorne zu springen und uns dabei fast umzureißen. W e n n uns jemand mit einem anderen H u n d entgegenkam, warf sich Marley den beiden fröhlich entgegen und stellte sich, sobald die Leine gespannt war, auf die Hinterbeine. Er wollte unbedingt Freundschaft schließen. » D e r sprüht ja vor Lebensfreude«, fasste ein Hundebesitzer es einmal treffend zusammen. Marley war immer noch klein genug, dass wir dieses Leinentauziehen gewinnen konnten, doch mit jeder Woche änderte sich das Machtverhältnis. Er wurde immer größer und stärker. Es war klar, dass er uns irgendwann kräftemäßig überlegen sein würde. W i r wussten, dass wir ihn an die Kandare n e h m e n und ihm beibringen mussten, ordentlich bei Fuß zu gehen, wenn er uns nicht eines Tages zu einem unrühmlichen E n d e unter die Räder eines vorbeifahrenden Autos schleifen sollte. Freunde von uns, selbst erfahrene Hundebesitzer, rieten uns, das mit der Erziehung nicht zu überstürzen. »Es ist noch zu früh«, sagte einer. »Genießt seine Welpenzeit, solange es geht. Sie ist schnell genug vorbei, und dann könnt ihr immer noch mit der Erziehung Ernst machen.« Genau das taten wir auch, was nicht heißt, dass wir ihm 42

vollkommen seinen Willen ließen. W i r setzten durchaus Grenzen und versuchten sie auch konsequent einzufordern. Betten und Möbel waren tabu. Aus der Toilette trinken, M e n schen im Schritt herumschnüffeln und Stuhlbeine ankauen waren strafbare Taten, obwohl sie eine Standpauke wert zu sein schienen. Nein wurde zu unserem Lieblingswort. W i r brachten ihm die üblichen K o m m a n d o s bei - Hierher, Bleib, Sitz, Platz -, wenn auch mit begrenztem Erfolg. Marley war jung und ungestüm und legte die Aufmerksamkeit einer Z i m merpflanze und die Unbeständigkeit von Nitroglyzerin an den Tag. Er war so leicht erregbar, dass der kleinste Anlass ihn in Fahrt bringen konnte, so als hätte er einen dreifachen Espresso getrunken. Erst Jahre später wurde es uns klar, aber er zeigte genau jene Verhaltensmerkmale, die später bei schwer erziehbaren Kindern definiert wurden. Unser Welpe war ein klassischer Fall von A D H S / A D S , einer »Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität«. U n d doch, trotz all seines jugendlichen Ü b e r m u t s , spielte Marley eine wichtige Rolle in unserem Haushalt und in u n serer Beziehung. Durch seine völlige Hilflosigkeit gab er Jenny das Gefühl, der Aufgabe, andere Lebewesen zu versorgen, gewachsen zu sein. Er war n u n schon mehrere W o c h e n in ihrer Obhut, und sie hatte ihn noch nicht zur Strecke gebracht. Ganz im Gegenteil, er entwickelte sich prächtig. W i r scherzten schon, dass wir vielleicht aufhören sollten, ihn zu füttern, um sein Wachstum zu bremsen u n d seinen Energielevel niedrig zu halten. Jennys Verwandlung von kaltblütiger Pflanzenmörderin zur liebevollen H u n d e m a m a verblüffte mich zunehmend. Ich glaube, sie war selbst erstaunt. Sie war ein Naturtalent. Eines Tages begann Marley auf einmal heftig zu würgen. Ehe ich noch wirklich begriffen hatte, was eigentlich los war, war Jenny bereits aufgesprungen. Sie stürzte sich auf ihn u n d 43

zwang seine Kiefer mit einer H a n d auseinander. M i t der anderen griff sie tief in seinen Rachen hinein und brachte eine große, vollgesabberte Zellophankugel zu Tage. Einfach so. Marley hustete noch einmal, schlug mit dem Schwanz gegen die W a n d und sah zu ihr auf, als wollte er fragen: Können wir das noch mal machen? Je wohler wir uns mit unserem neuen Familienmitglied fühlten, desto wohler fühlten wir uns auch beim T h e m a Nachwuchs. Wenige Wochen nachdem wir Marley geholt hatten, setzten wir alle Verhütungsmethoden ab. Das bedeutete nicht, dass wir uns dafür entschieden hatten, schwanger zu werden. Für zwei Leute, die ihr Leben der Unentschlossenheit geweiht hatten, wäre das zu viel verlangt gewesen. W i r gingen die Frage indirekt an, indem wir uns dafür entschieden, nicht m e h r zu verhüten. Das war nicht ganz logisch, das war uns klar, aber irgendwie fühlten wir uns beide besser damit. Kein Druck. Ü b e r h a u p t kein Druck. W i r legten es nicht darauf an, ein Baby zu bekommen, wir ließen den Dingen einfach nur ihren Lauf. Que serd, serd und so. Ehrlich gesagt hatten wir furchtbare Angst. W i r waren mit m e h r e r e n Pärchen befreundet, die monate- und jahrelang erfolglos versucht hatten, Nachwuchs zu bekommen, u n d ihre bemitleidenswerte Verzweiflung nach und nach öffentlich zur Schau trugen. Bei Dinnerpartys redeten sie zwanghaft von Arztbesuchen, Spermienzählen und genau berechneten Menstruationszyklen, meistens zum großen U n behagen der übrigen Anwesenden. Ich meine, was soll man denn dazu sagen? »Ich finde, deine Spermienzahl klingt sehr vielversprechend!«? Es war beinahe unerträglich. W i r hatten schreckliche Angst, so zu werden wie sie. J e n n y hatte vor unserer Heirat ernste Probleme mit E n d o metriose gehabt und sich einem laparoskopischen Eingriff 44

unterziehen müssen, bei dem Narbengewebe von ihren Eileitern entfernt wurde. All das ließ nichts Gutes über ihre Fruchtbarkeit vermuten. N o c h beunruhigender war ein kleines Geheimnis aus unserer Vergangenheit. In den ersten blinden, leidenschaftlichen Tagen unserer Beziehung, als das Verlangen alles, was mit einem klaren Verstand zu tun hatte, ausgeschaltet hatte, hatten wir jegliche Vorsicht zusammen mit unseren Kleidern in die Ecke geworfen u n d hemmungslosen Sex gehabt, ohne auch n u r einen Gedanken an Verhütung zu verschwenden. N i c h t nur einmal, sondern oft. Das war unglaublich d u m m gewesen, und wenn m a n nun nach einigen Jahren darauf zurückblickte, dann sollten wir eigentlich vor Dankbarkeit den Boden küssen, dass wir einer ungewollten Schwangerschaft entgangen waren. Stattdessen dachten wir beide: Was stimmt nicht mit uns? Kein normales Paar hätte ohne Folgen so hemmungslos ungeschützten Sex haben können. W i r waren beide davon überzeugt, dass das nicht einfach werden würde. D a h e r schwiegen wir, als unsere Freunde uns ihren Kinderwunsch eröffneten. J e n n y verstaute einfach ihre Pillenpackung im Arzneischrank u n d dachte nicht mehr daran. W e n n sie schwanger würde, fantastisch. W e n n nicht, nun, wir hatten uns ja schließlich sowieso nicht aktiv darum bemüht, oder? Der Winter in West Palm Beach ist eine wunderbare Jahreszeit, mit kalten Nächten und warmen, trockenen, sonnigen Tagen. Nach dem unerträglich langen, betäubend heißen Sommer, den man zum Großteil in klimatisierten Räumen verbrachte oder wo man vom Schatten eines Baumes in den des nächsten flüchtete, um der prallen Sonne zu entgehen, konnten wir das subtropische Klima im W i n t e r voll genießen. W i r aßen jede Mahlzeit auf unserer Veranda, pressten jeden Morgen Orangen aus dem eigenen Garten aus, legten einen 45

kleinen Kräutergarten an, setzten ein paar Tomatenpflanzen am Haus, pflückten riesige Hibiskusblüten und ließen sie in Wasserschüsseln auf dem Esstisch schwimmen. Nachts schliefen wir bei offenem Fenster, während der Duft der Blumen hereinströmte. An einem wunderschönen Tag Ende M ä r z lud Jenny eine Arbeitskollegin mit ihrem Basset Buddy zu einem H u n d e treffen ein. Buddy war ein ehemaliger Tierheimbewohner und hatte das traurigste Gesicht, das ich je gesehen habe. W i r ließen die beiden H u n d e in den Garten, und sie rasten sofort los. D e r alte Buddy wusste allerdings offensichtlich nicht so recht, was er mit diesem hyperaktiven hellbraunen Jungspund anfangen sollte, der im Kreis um ihn herumtobte. D o c h er nahm es gelassen, und die zwei spielten über eine Stunde zusammen, bevor sie beide erschöpft unter dem M a n g o b a u m niedersanken. Ein paar Tage später fing Marley auf einmal an sich zu kratzen und wollte gar nicht m e h r aufhören. W i r hatten schon Angst, dass er sich blutig kratzen würde. Jenny kniete sich hin u n d begann mit einer ihrer Routineuntersuchungen. Sie arbeitete sich mit den Fingern durch sein Fell, wobei sie jedes H a a r einzeln umdrehte, um die H a u t darunter zu sehen. Schon nach wenigen Sekunden rief sie: »Verdammt! Schau dir das an!« Ich schielte ihr über die Schulter auf die Stelle, wo sie Marleys Fell auseinandergekämmt hatte, und sah gerade noch einen schwarzen Punkt, der sich schnell in Sicherheit zu bringen versuchte. W i r legten Marley flach auf den Boden u n d prüften jeden Millimeter seines Fells. Marley war ganz aus dem Häuschen ob dieser außerordentlichen Zuwend u n g und hechelte glücklich. Sein Schwanz schlug auf den Boden. W i r fanden sie überall. Flöhe! Ganze Schwärme. Sie waren zwischen seinen Z e h e n und in seinem Nackenfell, sogar in seinen Schlappohren. Auch wenn sie langsam genug 46

gewesen wären, dass man sie hätte fangen können, was nicht der Fall war, es waren viel zu viele. W i r hatten schon von den legendären Floh- und Zeckenplagen in Florida gehört. Es gab nie Frost, und so konnten Insektenpopulationen im warmen, feuchten Klima ungehindert gedeihen. H i e r gab es sogar in den Villen der Millionäre am Strand Küchenschaben. J e n n y war außer sich. Ihr Welpe wimmelte nur so von Ungeziefer! Natürlich beschuldigten wir sofort Buddy, ohne es beweisen zu können. J e n n y hatte außerdem die Wahnvorstellung, dass nicht n u r unser H u n d , sondern unser ganzes H a u s von der Plage befallen war. Sie schnappte sich ihre Autoschlüssel und rannte aus der Tür. Eine halbe Stunde später kam sie mit einer T ü t e zurück, in der genug Chemikalien waren, um unser eigenes Forschungslabor für Umweltschäden aufzumachen. Flohbäder und Flohpuder und Flohsprays und Flohschaum und Flohgels. Sie hatte ein Gift für den Rasen gekauft, zu dessen Einsatz ihr der Verkäufer geraten hatte, wenn wir des U n g e ziefers jemals H e r r werden wollten. Außerdem hatte J e n n y noch einen speziellen Kamm gekauft, um die Eier der T i e r chen auszubürsten. Ich griff in die T ü t e und holte den Kassenbon heraus. » U m Gottes willen, Liebling«, rief ich aus, »dafür hätten wir uns ein Sprühflugzeug kaufen können!« Das war meiner Frau egal. Sie war auf Angriff programmiert - diesmal um ihre Liebsten zu schützen -, u n d sie meinte es ernst. M i t aller M a c h t warf sie sich in den Kampf. Sie schrubbte Marley in der Badewanne mit einer Spezialseife ab. D a n n mischte sie die Spülung zusammen, die, wie mir auffiel, die gleichen Inhaltsstoffe hatte wie das Rasengift, und übergoss ihn damit, bis jeder Zentimeter von ihm eingeweicht war. W ä h r e n d er in der Garage trocknete und dabei roch wie ein kleines Chemielabor, bearbeitete J e n n y alles wie verrückt mit dem Staubsauger - Fußboden, W ä n d e , 47

Teppiche, Vorhänge, Sofapolster. U n d dann sprayte sie. U n d während sie das H a u s von innen mit Flohkiller tränkte, tat ich dasselbe von außen. »Glaubst du, wir haben die kleinen Drecksäcke fertig gemacht?«, fragte ich, als wir endlich fertig waren. »Ich glaube schon«, antwortete sie. U n s e r groß angelegter Angriff auf die Flohpopulation in der Churchill Road 345 war ein Riesenerfolg. W i r untersuchten Marley täglich, suchten zwischen seinen Zehen, unter seinen O h r e n , dem Schwanz, auf seinem Bauch und überall sonst, wo wir hinkamen. N i r g e n d w o fanden wir auch nur die Spur eines Flohs. W i r untersuchten die Teppiche, die Sofas, die Vorhangsäume, das Gras - nichts. W i r hatten den Feind vernichtend geschlagen.

FÜNF

Der Teststreifen

W

enige Wochen später lagen wir gerade im Bett und lasen, als Jenny auf einmal ihr Buch zuklappte und sagte: »Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten.« »Was hat nichts zu bedeuten?«, fragte ich abwesend, o h n e von meinem Buch aufzuschauen. »Meine Periode ist zu spät.« Damit hatte sie meine Aufmerksamkeit. » D e i n e Periode? Wirklich?« Ich wandte mich zu ihr um. »Das passiert schon mal. Aber sie ist jetzt schon eine W o che überfällig. U n d ich fühle mich auch komisch.« »Komisch? W i e komisch?« »So als hätte ich eine kleine Magenverstimmung oder so was. Ich habe neulich zum Abendessen einen Schluck Wein getrunken, und ich dachte, ich müsste mich gleich übergeben.«

»Das sieht dir gar nicht ähnlich.« »Wenn ich nur an Alkohol denke, wird mir schon schlecht.« Ich hatte nicht vor, das zur Sprache zu bringen, aber sie war in letzter Zeit auch ziemlich schlecht gelaunt gewesen. »Glaubst du - « , fing ich an. »Ich weiß nicht. Du?« »Woher sollte ich das denn wissen?« 49

»Ich wollte eigentlich gar nichts sagen«, meinte Jenny. » N u r für den Fall - weißt du, ich will es nicht beschreien.« In diesem Augenblick merkte ich erst, wie wichtig das T h e m a für sie war - und für mich auch. Das Elternsein hatte sich an uns herangeschlichen, wir waren bereit für ein Baby. Lange lagen wir so nebeneinander, ohne etwas zu sagen, und starrten vor uns hin. » W i r werden nie einschlafen«, sagte ich schließlich. »Diese Ungewissheit bringt mich noch u m « , gab sie zu. »Los, zieh dich an«, forderte ich sie auf, »wir fahren los und kaufen einen Schwangerschaftstest.« W i r zogen schnell Shorts und T-Shirt an und öffneten die Haustür. Marley rannte uns voraus, außer sich vor Freude bei der Aussicht auf eine nächtliche Autofahrt. Als er unseren kleinen Toyota erreicht hatte, stellte er sich auf die H i n terbeine, sprang auf und ab und warf sich herum, dass ihm der Sabber n u r so von den Lefzen spritzte. Er hechelte laut u n d war ganz aus dem Häuschen in Erwartung des großen M o m e n t s , wo ich die H i n t e r t ü r öffnen würde. » M a n könnte meinen, er wäre der Vater, so wie er sich aufführt!«, sagte ich. Als ich die H i n t e r t ü r öffnete, sprang er mit einem Riesensatz hinein, sodass er auf dem Sitz daneben landete und mit dem Kopf hörbar gegen die Heckscheibe schlug, offenbar aber o h n e sich wehzutun. Die Apotheke hatte bis Mitternacht geöffnet und ich blieb mit Marley im Auto sitzen, während Jenny hineinrannte. M a n c h e Dinge sollten M ä n n e r einfach nicht kaufen, und ein Schwangerschaftsschnelltest steht auf dieser Liste ganz weit oben. D e r H u n d lief unruhig auf dem Rücksitz hin und her u n d jaulte, die Augen fest auf den Eingang der Apotheke gerichtet. W i e immer, wenn er aufgeregt war, und das war 50

im Wachzustand bei ihm eigentlich grundsätzlich der Fall, hechelte er und sabberte dabei gewaltig. »Mann, nun beruhige dich mal«, sagte ich zu ihm. »Was glaubst du denn, was sie tut? D u r c h die H i n t e r t ü r verschwinden?« Er antwortete, indem er sich schüttelte und dabei einen Sabber- und Haarregen auf mich niedergehen ließ. W i r kannten diese Gewohnheit von ihm inzwischen u n d hatten deshalb immer ein altes Badehandtuch für den Notfall auf dem Beifahrersitz. Damit wischte ich mich und das Auto ab. »Bleib locker«, sagte ich. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie zurückkommt.« Fünf Minuten später kam Jenny mit einer kleinen T ü t e in der H a n d aus der Apotheke. Als wir vom Parkplatz fuhren, quetschte Marley seine Schultern zwischen den Rückenlehnen unserer Sitze hindurch und balancierte mit den Vorderpfoten auf der Mittelkonsole, die Nase am Rückspiegel. Bei jeder Kurve landete er mit dem Bauch auf der H a n d b r e m s e . U n d jedes Mal rappelte er sich wieder auf und n a h m völlig unbeeindruckt und noch fröhlicher als vorher seine Position wieder ein. Wenig später waren wir in unserem Badezimmer u n d packten das Päckchen für $ 8,99 neben dem Waschbecken aus. Ich las die Gebrauchsanweisung laut vor. »Okay«, sagte ich. » H i e r steht, dass der Test zu n e u n u n d neunzig Prozent zuverlässig ist. Als Erstes musst du in diesen Becher pinkeln.« Dann musste man einen schmalen Teststreifen aus Plastik in den Urin halten und diesen dann in eine Phiole mit einer Lösung tauchen, die mitgeliefert war. »Jetzt müssen wir fünf M i n u t e n warten«, sagte ich. » D a n n tauchen wir ihn fünfzehn M i n u t e n in die andere L ö sung. W e n n er dann blau wird, bist du offiziell schwanger, Baby!« 51

W i r stoppten die ersten fünf Minuten. D a n n tauchte Jenny den Streifen in die zweite Lösung und sagte: »Ich kann nicht daneben stehen und zuschauen.« W i r gingen also ins Wohnzimmer, unterhielten uns über banale Dinge und taten so, als würden wir nur warten, bis der Teekessel zu pfeifen anfangen würde. »Schönes Wetter heute«, witzelte ich. Aber mein H e r z schlug wild und ich fühlte eine nervöse Angst aus dem M a g e n aufsteigen. W e n n der Test positiv war, wow, dann würde sich unser Leben für immer verändern. W e n n er negativ war, würde Jenny am Boden zerstört sein. Langsam ging mir auf, dass es mir genauso gehen würde. Eine Ewigkeit später piepte die Stoppuhr. »Also los«, sagte ich. »Egal, wie es ausgeht, du weißt, dass ich dich liebe.« Ich ging ins Bad und fischte den Teststreifen aus der Phiole. Kein Zweifel, er war blau. So blau wie der tiefste Ozean. Ein tiefes, kräftiges Marineblau. Ein Blau, das mit keiner anderen Farbe zu verwechseln war. »Herzlichen Glückwunsch, Liebling«, sagte ich. »O mein G o t t « , war alles, was sie herausbrachte, dann warf sie sich in meine Arme. Als wir so eng umschlungen vor dem Waschbecken standen, die Augen geschlossen, fühlte ich auf einmal eine Bewegung an meinen Füßen. Ich sah hinunter, und da war Marley, schwänzelnd und mit dem Kopf wackelnd; sein Schwanz schlug so fest gegen die Badezimmertür, dass ich schon Angst hatte, er würde Dellen hineinmachen. Als ich mich hinunterbeugte, um ihn zu streicheln, wich er aus. O h oh. Da war er, der Marley-Mambo. Das konnte nur eines bedeuten. »Was hast du diesmal?«, fragte ich und rannte hinter ihm her. Er raste ins W o h n z i m m e r und entkam mir nur knapp. Als ich ihn schließlich in die Ecke getrieben hatte und sein 52

Maul öffnete, sah ich zuerst gar nichts. D a n n entdeckte ich etwas ganz hinten auf seiner Zunge, am Rande des Abgrunds. Es war schmal und lang und flach. U n d so blau wie der tiefste Ozean. Ich griff hinein und zog unseren positiven Teststreifen heraus. »Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, mein Freund«, sagte ich. »Aber das hier k o m m t ins Fotoalbum.« Jenny und ich fingen an zu lachen. W i r lachten eine ganze Weile. Es machte uns großen Spaß, uns zu überlegen, was wohl in seinem großen, breiten Kopf vor sich ging. Hmm, wenn ich das Beweisstück zerstöre, dann vergessen sie diese ganze unglückliche Geschichte vielleicht, und ich muss mein Zuhause nicht mit irgendeinem Eindringling teilen. Dann packte Jenny Marley bei den Vorderpfoten, zog ihn auf die Hinterbeine hoch und tanzte mit ihm durch das Z i m mer. » D u wirst Onkel!«, sang sie. Marley antwortete in der für ihn typischen Weise: Er leckte ihr mit seiner großen, nassen Zunge über den M u n d . Am nächsten Tag rief mich J e n n y in der Arbeit an. Sie war gerade beim Arzt gewesen, und dieser hatte das Testergebnis offiziell bestätigt. » E r sagt, es ist alles in Ordnung!«, sprudelte sie hervor. Am Vorabend hatten wir die Tage im Kalender zurückgerechnet, um den Zeitpunkt der Empfängnis nachzuvollziehen. Sie machte sich Sorgen, dass sie vielleicht bei unserer hysterischen Flohsprühaktion vor ein paar W o c h e n schon schwanger gewesen war. Sich all diesen Giften auszusetzen, war doch sicher schädlich, oder? Sie fragte ihren Arzt danach und er meinte, dass das wahrscheinlich kein Problem sei. Benützen Sie die Mittel einfach nicht mehr, riet er ihr. Er gab ihr ein Rezept für ein Vitaminpräparat für Schwangere und sagte, sie solle in drei W o c h e n zu einem Ultraschalltermin wiederkommen. D a n n würden wir das erste Mal einen flüch53

tigen Blick auf den kleinen Fötus werfen können, der in J e n nys Bauch heranwuchs. » W i r sollen eine Videokassette mitbringen«, sagte Jenny. » D a m i t wir eine Kopie davon für die Nachwelt aufheben können.« Ich vermerkte den Termin in meinem Kalender.

SECHS

Herzensangelegenheiten

E

inheimische werden Ihnen erzählen, dass es in Südflorida vier Jahreszeiten gibt. Die Unterschiede wären nur fein, geben sie zu, aber es gibt dennoch vier verschiedene Jahreszeiten. Glauben Sie das nicht. Es gibt nur zwei - die warme, trockene Jahreszeit und die heiße, feuchte. Ungefähr um diese Zeit, als über N a c h t die tropische Hitze wiederkam, wachten wir eines Morgens auf und entdeckten, dass unser Welpe kein Welpe m e h r war. So schnell, wie sich der Winter in einen heißen Sommer verwandelt hatte, war aus Marley ein schlaksiger junger H u n d geworden. N a c h fünf Monaten füllte sein Körper nun die vielen Falten seines vormals viel zu großen hellbraunen Fells aus. Seine riesigen Pfoten wirkten nicht mehr so überdimensioniert. Seine spitzen Babyzähne waren imponierenden H a u e r n gewichen, die ein Frisbee - oder einen nagelneuen Lederschuh - mit ein paar schnellen Bissen zerstören konnten. Das T i m b r e seines Bellens hatte sich in ein einschüchterndes D r ö h n e n verwandelt. W e n n er auf den Hinterbeinen stand und wie ein russischer Zirkusbär herumtapste, was er oft tat, konnte er mir seine Vorderpfoten auf die Schultern legen und mir in die Augen sehen. Als der Tierarzt ihn zum ersten Mal sah, stieß er einen leisen Pfiff aus und sagte: » D a haben Sie sich aber einen Riesenkerl ausgesucht.« W i e Recht er hatte. Marley war zu 55

einem hübschen H u n d geworden, und ich fühlte mich bemüßigt, J e n n y freundlich darauf hinzuweisen, dass mein hochtrabender N a m e für ihn gar nicht so abwegig war. Grogan's Majestic Marley of Churchill, der übrigens in der Churchill Road residierte, war in der Tat majestätisch. Jedenfalls dann, wenn er gerade nicht versuchte, seinen Schwanz zu fangen. Manchmal, wenn er sich auch den letzten Rest nervöser Energie aus dem Leib gerannt hatte, lag er gerne auf dem persischen Teppich im W o h n z i m m e r und sonnte sich in den Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien fielen. M i t erhoben e m Kopf, schimmernder Nase und gekreuzten Vorderpfoten erinnerte er uns dann an eine ägyptische Sphinx. W i r waren nicht die Einzigen, die die Verwandlung bemerkten. An der Art, wie Fremde ihm aus dem Weg gingen und zurückwichen, wenn er auf sie zukam, merkten wir, dass sie ihn nicht länger als harmlosen Welpen ansahen. In ihren Augen musste m a n sich n u n vor ihm fürchten. Unsere Haustür hatte auf Augenhöhe ein kleines längliches Fenster. Marley liebte Besuch, und jedes Mal, wenn es an der T ü r klingelte, schoss er durchs Haus, machte in der Diele eine Vollbremsung, schlitterte über den Holzboden, schleuderte dabei die kleinen Dielenteppiche durch die Luft, und kam erst mit einem lauten Aufprall gegen die T ü r zum Stehen. D a n n stellte er sich auf die Hinterbeine, bellte laut, u n d sein großer Kopf füllte das ganze Türfenster aus, sodass er demjenigen, der vor der T ü r stand, direkt in die Augen sah. Für Marley, der sich als unser Begrüßungspersonal ansah, war das ein fröhliches Ritual. Für Vertreter, Postboten und alle anderen, die ihn nicht kannten, jedoch war es, als wäre Cujo direkt aus dem Stephen-King-Roman gesprungen, u n d nun stand n u r noch eine Holztür zwischen ihnen und der erbarmungslosen Bestie. Viele Fremde traten überstürzt den Rückzug auf die Einfahrt an, wenn sie Marleys 56

kläffende Fratze im Fenster sahen, und warteten dort, bis einer von uns zur T ü r kam. Das war eigentlich gar nicht so schlecht. Stadtplaner würden unser Viertel wahrscheinlich eine Wohngegend im U m b r u c h nennen. Es war in den 1940er und 1950er Jahren entstanden, und zuerst hatten hier vor allem Pensionäre und Leute gewohnt, die den W i n t e r im Süden der USA verbringen wollten. Als die ursprünglichen Hausbesitzer starben, zog eine bunte Mischung von Rentnern und Arbeiterfamilien hierher und gaben dem Viertel einen neuen Charakter. Als wir einzogen, veränderte es sich gerade wieder, diesmal kamen vor allem Homosexuelle, Künstler und junge Selbstständige, die von der Lage nahe am Wasser und der schrägen Deko-Style-Architektur angezogen wurden. Unser Wohnblock diente als Puffer zwischen dem wenig einladenden South Dixie Highway und den noblen Villen unten am Wasser. D e r Dixie Highway war die frühere US 1, die an Floridas östlicher Küste entlangführte und als H a u p t verbindungsstrecke nach Miami diente, bevor die Interstate gebaut wurde. Sie war fünfspurig, zwei Spuren in jede Richtung, mit einem gemeinsamen Mittelstreifen, und gesäumt von leicht heruntergekommenen, unansehnlichen Supermärkten, Tankstellen, Obstständen, Poststationen, Schnellrestaurants und zwielichtigen Motels aus einer längst vergangenen Zeit. An der Kreuzung von Dixie Highway und Churchill Road gab es einen Schnapsladen, einen R u n d - u m - d i e - U h r Supermarkt, einen Importshop mit dicken Gittern vor den Fenstern und eine Wäscherei, in der die ganze N a c h t über Leute waren und oft braune T ü t e n mit leeren Flaschen hinterließen. Unser H a u s stand in der Mitte dieses Blocks, acht Türen von jener Kreuzung entfernt. 57

Das Viertel schien uns ungefährlich, doch man erzählte sich auch so manche Geschichte. Gegenstände, die man im Garten stehen ließ, verschwanden, und einmal stahl jemand während einer längeren Kälteperiode unser Brennholz, das ich an der Hauswand aufgestapelt hatte. Eines Sonntags frühstückten wir in unserem Lieblingscafe und saßen dabei an unserem üblichen Tisch am Fenster, als Jenny auf ein Einschussloch in der Fensterscheibe deutete, auf Kopfhöhe, und trocken bemerkte: »Das war letztes Mal noch nicht da.« Als ich eines M o r g e n s zur Arbeit fahren wollte und aus unserer Einfahrt bog, sah ich einen M a n n im Rinnstein liegen, Gesicht und H ä n d e voller Blut. Ich parkte das Auto und rannte zu ihm, weil ich dachte, er sei angefahren worden. D o c h als ich neben ihm niederkniete, stieg mir der Gestank von Alkohol und U r i n in die Nase, und als er anfing zu reden, war mir klar, dass er betrunken war. Ich rief den N o t arzt und wartete auf ihn, doch als die Sanitäter da waren, verweigerte der M a n n sich jeder Behandlung. Während die Arzte und ich ungläubig zusahen, rappelte er sich auf und wankte zum Schnapsladen. U n d dann der Abend, als ein ziemlich verzweifelter M a n n an meiner T ü r klingelte und erzählte, er wolle Freunde in der N ä h e besuchen und ihm sei das Benzin ausgegangen. Ob ich ihm fünf Dollar leihen könnte? Er würde sie mir gleich am nächsten M o r g e n zurückzahlen. Na klar, Kumpel, dachte ich. Als ich ihm stattdessen anbot, für ihn die Polizei zu rufen, murmelte er eine lahme Ausrede und verschwand. Am beunruhigendsten war, was wir über das Haus schräg gegenüber hörten. N u r wenige M o n a t e vor unserem Einzug war dort ein M o r d passiert. U n d nicht irgendein Raubmord, sondern eine scheußlich grausame Geschichte mit einer invaliden W i t w e und einer Kettensäge. Die Sache war durch 58

alle Zeitungen gegangen, und noch ehe wir einzogen, waren uns alle Einzelheiten bekannt gewesen - alle Einzelheiten, bis auf den O r t des Geschehens. U n d jetzt lebten wir also schräg gegenüber vom Tatort. Das Opfer war eine pensionierte Lehrerin namens Ruth Ann Nedermier gewesen. Sie hatte allein in dem H a u s gewohnt und gehörte noch zur ursprünglichen Generation der hier Ansässigen. N a c h einer Hüftoperation hatte sie eine Krankenschwester angestellt, eine fatale Entscheidung, wie sich herausstellte. W i e die Polizei später beweisen konnte, hatte die Schwester der alten D a m e Schecks gestohlen u n d ihre Unterschrift gefälscht. Die alte D a m e war gebrechlich, aber geistig noch fit gewesen, und sie hatte die Krankenschwester auf die fehlenden Schecks und die unerklärlichen Abbuchungen auf ihrem Konto angesprochen. Die Schwester geriet in Panik u n d erschlug die alte D a m e , dann rief sie ihren Freund an, der mit einer Kettensäge anrückte und ihr half, die Leiche in der Badewanne zu zerstückeln. Z u s a m m e n packten sie dann die Leichenteile in einen großen Koffer, spülten das Blut der Frau aus der Badewanne und fuhren davon. Mehrere Tage lang blieb das Verschwinden von M r s Nedermier ein Rätsel, wie uns unsere N a c h b a r n später erzählten. Das Geheimnis konnte erst gelüftet werden, als ein M a n n bei der Polizei anrief und von einem furchtbaren G e stank in seiner Garage berichtete. Die Beamten entdeckten daraufhin den Koffer und seinen grausigen Inhalt. Als die Polizei ihn fragte, wie der Koffer in seine Garage gekommen war, sagte er den Beamten die Wahrheit: Seine Tochter hatte ihn gefragt, ob sie ihn bei ihm unterstellen könnte. Obwohl der grausame M o r d an M r s N e d e r m i e r das Spektakulärste war, was je in unserem Viertel passiert war, hatte niemand uns gegenüber auch n u r ein W o r t davon erwähnt, 59

als wir uns anschickten, unser H a u s zu kaufen. Weder der Makler noch der Vorbesitzer, weder der N o t a r noch der Gutachter. In unserer ersten Woche im neuen Haus kamen die N a c h b a r n mit Keksen und einem Schmorbraten vorbei u n d erzählten uns alles. Als wir an diesem Abend in unserem Bett lagen, konnten wir gar nicht anders, als daran zu denken, dass n u r wenige hundert M e t e r von unserem Schlafzimmerfenster entfernt eine wehrlose W i t w e in Stücke gesägt worden war. Es war ein Unglück, sagten wir uns, etwas, das uns niemals passieren konnte. Trotzdem konnten wir nicht an dem H a u s vorbeigehen oder auch n u r aus unserem Fenster schauen, ohne daran zu denken, was dort geschehen war. Irgendwie vermittelte es uns eine gewisse Sicherheit, Marley bei uns zu haben und zu sehen, wie viel Respekt die Leute vor ihm hatten. Er war ein großer, liebenswerter Tollpatsch von einem H u n d , dessen Verteidigungsstrategie gegen alle Eindringlinge sicher darin bestanden hätte, sie zu Tode zu lecken. D o c h das brauchten die Herumtreiber und Räuber da draußen ja nicht zu wissen. Für sie war er groß, er war stark und er war auf unberechenbare Weise fast verrückt. U n d das gefiel uns. Die Schwangerschaft bekam J e n n y gut. Sie fing an, in der M o r g e n d ä m m e r u n g aufzustehen und mit Marley spazieren zu gehen. Sie kochte vollwertige, gesunde Mahlzeiten aus frischem Gemüse und Obst. Außerdem schwor sie Koffein, Diätlimonade und natürlich jeder Art von Alkohol ab. Sie erlaubte mir noch nicht einmal, einen Teelöffel Kochsherry in den Topf zu rühren. W r hatten uns fest vorgenommen, die Schwangerschaft so lange geheim zu halten, bis wir sicher sein konnten, dass der Fötus lebensfähig und außer Gefahr einer Fehlgeburt war, aber keiner von uns hielt das durch. W i r waren so aus 60

dem Häuschen, dass wir uns einer Vertrauensperson nach der anderen anvertrauten und jedem Stillschweigen auferlegten, bis unser Geheimnis gar kein Geheimnis m e h r war. Zuerst erzählten wir es unseren Eltern, dann unseren G e schwistern, danach unseren engsten Freunden, schließlich unseren Arbeitskollegen und Nachbarn. N a c h zehn W o c h e n wurde Jennys Bauch ganz allmählich runder. Es war tatsächlich wahr, wir bekamen ein Baby! W a r u m sollten wir unsere Freude nicht mit der ganzen Welt teilen? Als die nächste Ultraschalluntersuchung anstand, hätten wir es genauso gut auf eine Litfaßsäule schreiben können: J o h n und J e n n y bekommen Nachwuchs. An diesem Tag nahm ich mir vormittags frei und brachte, wie der Arzt es empfohlen hatte, eine Videokassette mit, um die ersten unscharfen Bilder von unserem Baby festzuhalten. D e r Termin sollte zur Hälfte Vorsorge und zur anderen Hälfte ein Informationsgespräch sein. Eine H e b a m m e würde all unsere Fragen beantworten, Jennys Bauchumfang messen, den Herzschlag des Babys abhören und uns natürlich auch ein paar Bilder von ihm zeigen. Schrecklich aufgeregt standen wir um n e u n U h r in der Praxis. Die H e b a m m e , eine freundliche ältere D a m e mit britischem Akzent, führte uns in ein kleines Sprechzimmer und fragte ohne Umschweife: » W ü r d e n Sie gerne den H e r z schlag Ihres Babys hören?« Aber natürlich. W i r lauschten gespannt, als sie mit einer Art M i k r o p h o n über Jennys Bauch strich. W i r saßen ganz still da, mit eingefrorenem Lächeln, und bemühten uns, den schwachen Herzschlag zu hören, doch aus dem Lautsprecher kam nur ein Rauschen. Die H e b a m m e erklärte uns, dass das nichts U n g e w ö h n l i ches war. »Es hängt davon ab, wie das Baby liegt. Manchmal kann man nichts hören. Vielleicht ist es auch noch ein bisschen zu früh.« Sie bot uns an, gleich mit dem Ultraschall 61

weiterzumachen. » D a n n schauen wir uns Ihr Baby doch mal an!«, meinte sie fröhlich. »Unser erster Blick auf Baby Grogie«, sagte Jenny und sah mich strahlend an. Die H e b a m m e führte uns in einen anderen Raum und bat Jenny, sich auf eine Liege mit einem M o n i t o r daneben zu legen. »Ich habe eine Videokassette dabei«, sagte ich und wedelte damit vor ihr herum. »Lassen Sie die erst noch mal beiseite«, meinte sie, während sie Jennys T-Shirt hochschob und begann, mit einem Gerät, das aussah wie ein kleiner Hockeyschläger, über ihren Bauch zu fahren. W i r starrten auf den Monitor, sahen aber nur eine graue, unscharfe Fläche. » H m , mit diesem Gerät kann m a n nichts erkennen«, sagte sie in vollkommen neutralem Ton. » W i r versuchen es mit einem vaginalen Ultraschall. Da sehen Sie viel mehr.« Sie verließ den Raum u n d kehrte wenig später mit einer anderen H e b a m m e zurück, einer großen Blondine mit lackierten Fingernägeln. Sie hieß Essie und bat Jenny, ihre H o sen auszuziehen, dann führte sie eine latexbezogene Sonde in ihre Vagina ein. Die H e b a m m e hatte Recht: Die Auflösung war wesentlich besser als vorher. Sie zoomte auf etwas, was wie ein kleines Säckchen in der Mitte der grauen Fläche aussah, und vergrößerte es mit einem Mausklick. Dann vergrößerte sie es n o c h einmal. U n d noch einmal. Aber statt schärfere K o n t u r e n zu bekommen, sah das Säckchen eher wie eine leere, formlose Socke aus. Wo waren die kleinen Arme und Beine, von denen die Bücher über Schwangerschaft in der zehnten W o c h e schrieben? Wo war der kleine Kopf? Wo das schlagende Herz? Jenny brannte immer noch vor N e u g i e r und reckte den Kopf zur Seite zum Bildschirm hin. Sie fragte die Schwestern mit einem nervösen Lachen: »Ist da irgendwas drin?« 62

Ich blickte auf, sah Essies Miene und wusste, dass wir die Antwort nicht hören wollten. Plötzlich wusste ich, warum sie nichts gesagt hatte, während sie das Bild vergrößert hatte. Sie antwortete Jenny in sachlichem Ton: » N i c h t das, was man nach zehn W o c h e n erwarten würde.« Ich legte J e n n y meine H a n d aufs Knie. W i r starrten beide weiter auf das Gebilde auf dem Bildschirm, als ob wir es so zum L e b e n erwecken könnten. »Jenny, ich glaube, wir haben hier ein Problem«, sagte Essie. »Ich hole Dr. Sherman.« Während wir schweigend warteten, begriff ich, was Leute mit den Schmetterlingen meinen, die sie kurz vor einer O h n macht zu spüren behaupten. M i r rauschte das Blut in den Ohren. Wenn ich mich nicht hinsetze, kippe ich um, dachte ich. W i e peinlich wäre das denn? M e i n e starke Frau, die die N e u igkeit stoisch erträgt, und ihr M a n n liegt ohnmächtig am Boden, während die Schwestern versuchen, ihn mit Riechsalz wiederzubeleben. Ich hockte mich auf den Rand der Liege, hielt Jennys H a n d und streichelte ihr den Nacken. In ihren Augen standen Tränen, aber sie weinte nicht. Doktor Sherman, ein großer, ansehnlicher M a n n mit r u p pigem, aber leutseligem Auftreten, bestätigte uns, dass der Fötus tot war. » W i r würden sonst zweifellos einen H e r z schlag sehen«, sagte er. D a n n erklärte er uns ruhig, was wir Schönaus den Büchern wussten. Dass eine von sechs Schwangerschaften mit einer Fehlgeburt endet. Dass die N a t u r auf diese Weise schwache, zurückgebliebene und schwer missgebildete Föten aussortiert. Offensichtlich erinnerte er sich an Jennys Sorge wegen der Flohsprays, denn er versicherte uns, dass wir nichts dafür konnten. Er strich J e n n y über die Wange und beugte sich zu ihr, als wollte er ihr einen Kuss geben. »Es tut mir leid«, sagte er. »Sie können es in ein paar Monaten wieder versuchen.« 63

W i r saßen beide schweigend da. Die leere Videokassette lag auf der Liege neben uns, und ihr Anblick war mit einem Mal unerträglich, ein grausames Zeugnis unseres blinden, naiven Optimismus. Ich wollte sie wegwerfen. Ich wollte sie verstecken. Ich fragte den Arzt: » W i e geht es jetzt weiter?« » W i r müssen die Plazenta entfernen«, antwortete er. »Vor ein paar Jahren hätten Sie gar nichts von einer Fehlgeburt gemerkt, bis Sie Blutungen bekommen hätten.« Er bot uns an, das W o c h e n e n d e abzuwarten und erst am M o n t a g wiederzukommen und die Prozedur vornehmen zu lassen - eine Abtreibung, also die Entfernung des Fötus und der Plazenta. Aber J e n n y wollte es schnell hinter sich bringen, u n d ich stimmte ihr zu. »Je eher, desto besser«, sagte sie. »Einverstanden«, sagte Dr. Sherman. Er gab Jenny etwas, um ihren M u t t e r m u n d zu weiten, und ging aus dem Zimmer. W i r hörten, wie er in ein anderes Sprechzimmer ging u n d dort mit fröhlichem Geplänkel eine werdende Mutter begrüßte. Als wir allein waren, fielen Jenny und ich uns verzweifelt in die Arme und verharrten so, bis wir ein leises Klopfen an der T ü r hörten. Es war eine ältere Frau, die wir noch nie gesehen hatten. Sie hatte ein Bündel Papiere in der H a n d . »Es tut mir leid, Liebes«, sagte sie zu Jenny. »Es tut mir so leid.« U n d dann gab sie ihr die Einverständniserklärung, auf der die Risiken eines solchen Eingriffs aufgelistet waren, u n d zeigte ihr, wo sie unterschreiben musste. Als Dr. Sherman zurückkam, war er ganz geschäftlich. Er spritzte J e n n y zuerst Valium und dann Demerol; die P r o zedur danach war schnell vorüber, aber strapaziös. Er war bereits fertig, noch ehe die Medikamente ihre volle Wirkung entfaltet hatten. Als es vorbei war, lag Jenny beinahe 64

bewusstlos da, die Beruhigungsmittel setzten sie außer G e fecht. »Passen Sie auf, dass sie nicht aufhört zu a t m e n « , sagte der Doktor und ging aus d e m Zimmer. Ich konnte es nicht fassen. W a r es nicht eigentlich seine Aufgabe, aufzupassen, dass sie nicht aufhörte zu atmen? Auf d e m F o r m u lar, das sie unterschrieben hatte, stand nichts von »der P a tient könnte aufgrund einer Uberdosis Beruhigungsmittel aufhören zu atmen«. Ich tat wie mir geheißen und redete laut mit Jenny, rieb ihren Arm, strich ihr leicht über die Wange und sagte Dinge wie »Hey, Jenny! W i e heiße ich?« Sie lag da wie tot. Nach einigen Minuten steckte Essie ihren Kopf zur T ü r herein, um nach uns zu sehen. Sie sah Jennys aschfahles Gesicht und war sofort wieder verschwunden. Einen Augenblick später kam sie wieder hereingeeilt, einen nassen Waschlappen und Riechsalz in der H a n d , das sie J e n n y u n ter die Nase hielt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe Jenny sich rührte, und auch dann war es nur eine schwache Bewegung. Ich redete weiter mit lauter Stimme auf sie ein und befahl ihr, tief zu atmen, damit ich es auf meiner H a n d spüren konnte. Ihre H a u t war immer noch aschfahl, und ich fühlte ihren Puls bei sechzig Schlägen pro M i n u t e . Nervös wischte ich ihr mit dem nassen Waschlappen über die Stirn, die Wangen und den Hals. Schließlich kam sie zu sich, war aber noch völlig benommen. » D u hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte ich. Sie sah mich mit leerem Blick an, als müsse sie sich erst vergegenwärtigen, womit sie mir einen Schrecken eingejagt haben könnte. D a n n wurden ihre Augen wieder glasig. Eine halbe Stunde später half ihr die Schwester beim Anziehen, und ich führte sie aus der Praxis, wobei m a n mir folgende Anweisungen mitgab: Zwei W o c h e n lang kein Voll65

bad, nicht schwimmen, keine Vaginalspülungen, keine Tampons, kein Sex. Im Auto blieb J e n n y bei ihrem eisernen Schweigen, drückte sich gegen die Beifahrertür und starrte aus dem Fenster. Ihre Augen waren rot, doch sie weinte nicht. Erfolglos suchte ich nach tröstenden W o r t e n . Was konnte ich auch sagen? Wr hatten unser Baby verloren. Sicher, ich konnte ihr sagen, dass wir es wieder versuchen könnten. Ich konnte ihr sagen, dass viele Pärchen dasselbe durchmachten. Aber sie würde es nicht hören wollen, und ich wollte es nicht sagen. Irgendwann würden wir mit Abstand auf das Ganze zurückblicken können. Aber nicht jetzt. Ich fuhr eine landschaftlich schönere Strecke nach Hause, am Strand von West Palm Beach entlang. Die Sonne wanderte über das Wasser, die Palmen wiegten sich sanft unter einem wolkenlosen H i m m e l . Es war ein Tag zum Fröhlichsein, aber nicht für uns. Schweigend fuhren wir nach Hause. Als wir daheim ankamen, half ich Jenny ins Haus, bettete sie auf die Couch und ging dann in die Garage, wo Marley wie immer unsere Rückkehr mit atemloser Ungeduld erwartete. Sobald er mich sah, tauchte er nach seinem riesigen Rohlederknochen und stolzierte damit durch den Raum. Sein ganzer Körper bebte und sein Schwanz schlug gegen die Waschmaschine wie ein Knüppel auf eine Trommel. Er wollte unbedingt, dass ich versuchte, ihm den Knochen abzujagen. » H e u t e nicht, Kumpel«, sagte ich und ließ ihn zur H i n tertür in den Garten hinaus. Er machte sein Geschäft unter dem Mispelbaum und kam ins H a u s zurückgerast, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Wasserschüssel, spritzte alles um ihn h e r u m voll und sauste dann den Flur hinunter, um J e n n y zu suchen. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, um 66

die Hintertür abzuschließen, das verschüttete Wasser aufzuwischen und ihm ins W o h n z i m m e r zu folgen. Als ich um die Ecke kam, blieb ich abrupt stehen. Ich hätte einen Monatslohn darauf verwettet, dass eine solche Szene niemals möglich wäre. Unser wilder, ungestümer H u n d stand mit den Schultern zwischen Jennys Knien, sein großer, schwerer Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Sein Schwanz hing zwischen seinen Beinen herunter. Es war das erste Mal, dass er nicht wedelte, wenn er einen von uns berührte. Er sah zu ihr auf und winselte leise. Sie streichelte ein paar Mal seinen Kopf, verbarg dann unvermittelt ihr Gesicht in seinem dicken Nackenfell und fing an zu schluchzen. Ein heftiges, haltloses Schluchzen aus tiefster Seele. Sie verharrten lange so. Marley stand still wie eine Statue, und Jenny umarmte ihn wie eine übergroße P u p p e . Ich stand abseits und fühlte mich wie ein ungebetener Z u schauer einer sehr privaten Szene. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. U n d dann, ohne aufzusehen, hob sie einen Arm in meine Richtung, und ich setzte mich neben sie aufs Sofa und schlang die Arme um sie. Da saßen wir drei, in stiller, gemeinsamer Trauer.

SIEBEN

Hund und Herrchen

A

m nächsten M o r g e n , einem Sonntag, wachte ich bei Sonnenaufgang auf und merkte, dass Jenny neben mir leise weinte. Sie hatte mir den Rücken zugedreht. Marley war auch schon wach, sein Kopf ruhte auf der Matratze, und wieder trauerte er mit seinem Frauchen. Ich stand auf und kochte Kaffee, presste frischen Orangensaft aus, holte die Zeitung herein und machte Toast. Als J e n n y wenig später im Bademantel in die Küche kam, waren ihre Augen trocken und sie schenkte mir ein tapferes Lächeln, wie um zu sagen, dass es ihr besser ginge. N a c h dem Frühstück beschlossen wir, mit Marley zum Schwimmen an den Strand hinunterzugehen. Von unserem Viertel aus versperrten ein großer Wellenbrecher aus Beton und viele Steinblöcke den W e g zum Wasser, aber sechs Blocks weiter südlich verliefen die Wellenbrecher weiter oben und ließen einen kleinen weißen Strand frei, wo Treibholz herumlag - ein perfekter Hundespielplatz. Als wir den Strand erreichten, wedelte ich mit einem Stöckchen vor Marleys Nase h e r u m und ließ ihn von der Leine. Er starrte den Ast an, als hielte ich einen saftigen Knochen in der Hand; er ließ ihn nicht aus den Augen. » H o l den Stock!«, rief ich und warf das H o l z so weit ich konnte ins Wasser. Marley sprang mit einem spektakulären Satz über die Betonmauer, galoppierte den Strand hinunter und sprang ins kalte Wasser, dass es nur 68

so spritzte. Genau dazu sind Labradors geboren. Es ist in ihren Genen angelegt und steht in ihrer Jobbeschreibung. Niemand weiß genau, woher der Labrador eigentlich stammt, aber so viel ist bekannt: Er stammt nicht aus L a b rador. Diese muskulösen, kurzhaarigen H u n d e , die das Wasser so sehr lieben, wurden das erste Mal im 17. J a h r h u n d e r t ein paar H u n d e r t Meilen südlich von Labrador gesichtet, in Neufundland. Frühe Geschichtsschreiber berichten, dass die Fischer dort die H u n d e auf ihren Booten mit hinaus aufs Meer nahmen, wo sie ihnen beibrachten, Leinen und N e t z e einzuholen und Fische von den Angelhaken zu bergen. Das dicke, ölige Fell der H u n d e machte sie unempfindlich gegen das eisige Wasser, und ihre Schwimmkünste machten sie zusammen mit ihrer grenzenlosen Ausdauer und der Fähigkeit, Fische vorsichtig im Maul zu tragen, ohne das Fleisch zu beschädigen, zu einem idealen Arbeitshund unter den harten Bedingungen im Nordatlantik. Wie diese H u n d e nach Neufundland kamen, darüber streiten sich die Geister. Sie stammen nicht ursprünglich von der Insel, und es gibt keine Belege, dass die Eskimos, die als Erste dieses Gebiet besiedelten, H u n d e mitbrachten. Am glaubwürdigsten ist die Version, dass die ältesten Vorfahren der Retriever von Fischern aus Europa und England nach Neufundland mitgebracht wurden. Viele von ihnen heuerten ab, ließen sich an der Küste nieder und gründeten Familien. Von da an hat sich der Labrador wohl zufällig und willkürlich weiter vermehrt. Er hat wahrscheinlich die gleichen Vorfahren wie der größere, langhaarigere Neufundländer. Wie auch immer es dazu kam, diese erstaunlich begabten H u n d e wurden bald von den Jägern auf der Insel für ihre Zwecke eingesetzt und dienten als Jagdhunde bei der Vogeljagd. 1662 wanderte ein M a n n namens W. E. Cormack aus St. John, Neufundland, über die Insel und bemerkte die 69

große Zahl der einheimischen H u n d e , die seiner Meinung nach »bewundernswert gut zu Jagdhunden erzogen und auch ... auf andere Weise nützlich sind«. Schließlich wurde der Englische Landadel auf die H u n d e aufmerksam, und im frühen 19. J a h r h u n d e r t importierten sie die H u n d e als Jagdhunde für die Jagd auf Fasane, M o o r - und Rebhühner nach England. L a u t dem Labrador Retriever Club, einer nationalen Laienorganisation, die 1931 gegründet wurde und sich der Bewahrung der Reinheit dieser Rasse verschrieben hat, kam der N a m e Labrador irgendwann in den 18 3 Oer Jahren versehentlich auf, als der offenbar geographisch wenig gebildete Dritte Earl von Malmesbury einen Brief an den Sechsten D u k e von Buccleuch schrieb und darin mit seinen erstklassigen Retrievern prahlte. » W i r nennen meine H u n d e immer Labradors«, schrieb er. Von da an blieb dieser N a m e . D e r gute Earl vermerkte, dass er stets alle Anstrengungen unternahm, um »die Rasse von Anfang an so rein wie möglich« zu erhalten. Andere jedoch n a h m e n es mit dem Stammbaum nicht so genau und kreuzten Labradors mit anderen Retrievern, in der Hoffnung, dass sich ihre hervorragenden Eigenschaften weitervererben würden. Die G e n e der Labradors erwiesen sich als unbezwingbar, und die Labrador-Retriever-Linie blieb einzigartig und wurde am 7. Juli 1903 vom Kennel Club von England als eigene Rasse anerkannt. B.W. Ziessow, ein enthusiastischer, langjähriger Züchter, schrieb für den Labrador Retriever Club: »Die amerikanischen Sportler übernahmen die Rasse von England und entwickelten und trainierten mit der Zeit einen H u n d , der optimal für den Jagdsport in diesem Land geeignet war. Heute wie damals wird jeder Labrador gerne in Minnesota ins eiskalte Wasser springen, um einen abgeschossenen Vogel herauszuholen; und er wird den ganzen Tag in der Hitze des 70

Südwestens Tauben jagen - als D a n k für seine gute Arbeit genügt ihm eine Streicheleinheit.« Das also war Marleys stolzes Erbe, und er schien zumindest einen Teil davon mitbekommen zu haben. Er war ein Meister im Beuteaufspüren. N u r die Sache mit dem Zurückbringen der Beute hatte er nicht ganz verstanden. Er schien zu denken: Wenn du deinen Stock unbedingt -wiederhaben willst, dann kannst DU ja danach tauchen. Mit seiner Beute zwischen den Z ä h n e n kam er an den Strand zurück. »Bring's her!«, schrie ich und klatschte in die Hände. » K o m m schon, Junge, bring es mir!« Er kam angetänzelt, sein ganzer Körper bebte vor Aufregung, und dann schüttelte er sich und ließ Wasser und Sand auf mich niederregnen. Zu meiner Überraschung ließ er danach den Stock vor meine Füße fallen. Wow!, dachte ich. Nicht schlecht! Ich sah zu Jenny zurück, die auf einer Bank unter einer australischen Pinie saß, und zeigte ihr den nach oben gereckten Daumen. Doch als ich mich bückte, um den Stock aufzuheben, war Marley schon zur Stelle. Er tauchte ab, packte den Stock und raste dann wild Haken schlagend den Strand hinunter. D a n n warf er sich herum, prallte beinahe mit mir zusammen und forderte mich auf, ihn zu verfolgen. Ich rannte ein paar Schritte in seine Richtung, doch es war klar, dass er mir an Schnelligkeit und Beweglichkeit weit überlegen war. » D u bist ein Labrador«, brüllte ich ihm nach. » D i r liegt das Apportieren im Blut!« Aber im Gegensatz zu meinem H u n d hatte ich ein weiter entwickeltes Gehirn, das zumindest ein klein wenig m e h r hermachte als meine Muskelkraft. Ich griff nach einem zweiten Stock und machte ein Riesentheater darum, hob ihn über den Kopf und warf ihn von einer H a n d in die andere und ließ ihn hin und her schwingen. U n d ich konnte sehen, wie Marleys Entschlossenheit langsam nachließ. Plötzlich hatte 71

der Stock in seinem Maul, der vor wenigen Augenblicken noch sein größter Schatz gewesen war, seinen Reiz verloren. M e i n Stock dagegen zog ihn magisch an. Er schlich näher und näher, bis er n u r noch wenige M e t e r von mir entfernt war. »Tja, d u m m das, nicht wahr, Marley?« Ich kicherte, als ich ihm den Stock vor die Augen hielt und er anfing zu schielen, um ihn im Blick zu behalten. Ich konnte sehen, wie die kleinen grauen Zellen in seinem Kopf arbeiteten und er krampfhaft überlegte, wie er den neuen Stock erhaschen könnte, ohne den alten loszulassen. Seine Oberlippe zitterte, als er die Chancen abzuschätzen versuchte, mit einem H a p s beide Stöcke zu packen. Ich griff schnell mit meiner freien H a n d nach dem Stock in seinem Maul und zog. Er zog knurrend zurück. Ich hielt ihm den zweiten Stock gegen die Nasenlöcher. » D u weißt, dass du nicht widerstehen kannst«, flüsterte ich. U n d tatsächlich, die Versuchung war zu groß. Ich spürte, wie sein Griff sich lockerte. U n d dann handelte er. Er öffnete das Maul und versuchte, den zweiten Stock zu fassen, ohne den ersten loszulassen. Blitzschnell zog ich beide Stöcke weg und hielt sie über meinen Kopf. Er sprang in die Luft, bellte und wirbelte herum, offensichtlich verstört darüber, dass sein so klug ersonnener Plan nicht aufgegangen war. »Siehst du, deswegen bin ich das H e r r c h e n und du der H u n d « , erklärte ich ihm. Als Reaktion schüttelte er sich und schleuderte mir noch m e h r Sand und Wasser ins Gesicht. Ich warf einen der Stöcke ins Wasser und er rannte wild bellend hinterher. Als er zurückkam, schien er gerüstet. Diesmal war er vorsichtiger u n d weigerte sich, auch nur in meine N ä h e zu k o m m e n . Er blieb ein paar M e t e r vor mir stehen, seinen Stock im Maul und den Blick fest auf meinen Stock, das neue und zugleich alte Objekt seiner Begierde, gerichtet. Ich hielt den Stock hoch über meinen Kopf. U n d wieder sah 72

ich seine grauen Zellen arbeiten. Er dachte: Diesmal warte ich so lange hier, bis er ihn wirft. Und dann hat er keinen Stock mehr und ich zwei. » D u denkst, ich bin blöd, nicht wahr, H u n d ? « , sagte ich zu ihm. Ich holte aus und warf den Stock mit einem lauten Ächzen so weit ich konnte. Klar, Marley rannte hinterher, sprang mit seinem Stock im Maul ins Wasser - das D u m m e war nur, dass ich meinen Stock nicht losgelassen hatte. Aber merkte Marley das? Nein, er schwamm halb bis Palm Beach, ehe ihm auffiel, dass ich den Stock immer n o c h in der H a n d hatte. » D u bist gemein!«, schimpfte J e n n y von ihrer Bank aus, und als ich zu ihr zurückblickte, sah ich, dass sie lachte. Als Marley schließlich wieder an Land kam, ließ er sich vollkommen erschöpft in den Sand fallen, war aber immer noch wild entschlossen, seinen Stock nicht herzugeben. Ich zeigte ihm meinen Stock, erzählte ihm wieder, wie viel toller dieser im Gegensatz zu seinem war, u n d befahl: »Lass los!« Wieder holte ich aus, als ob ich werfen wollte, u n d der dumme H u n d sprang auf die Beine und rannte zurück zum Wasser. »Lass los!«, wiederholte ich, als er zurückkam. W i r spielten dieses Spielchen noch ein paar Mal, aber schließlich ließ er ihn tatsächlich fallen. U n d im selben M o m e n t , als sein Stock den Boden berührte, warf ich meinen für ihn in die Luft. W i r wiederholten das immer wieder, und jedes Mal schien ihm das Prinzip ein wenig klarer zu werden. Langsam sickerte die Lektion in seinen dicken Schädel ein. W e n n er mir den Stock zurückbrachte, würde ich immer wieder einen neuen für ihn werfen. »Das ist wie ein Geschäftsabschluss«, erklärte ich ihm. » D u musst etwas hergeben, um etwas zu bekommen.« Er sprang an mir hoch und gab mir einen dicken Schmatz mit seinem sandigen H u n d e m a u l , was ich als Zustimmung wertete. Als Jenny und ich nach Hause gingen, zog Marley zum ers73

ten Mal nicht an der Leine. Er war erschöpft. Ich war sehr stolz auf unseren Lernerfolg. Wochenlang hatten Jenny und ich schon versucht, ihm ein paar grundlegende soziale Verhaltensregeln beizubringen, doch er hatte nur sehr kleine Fortschritte gemacht. Es war, als würden wir einem wilden H e n g s t beibringen wollen, aus einer Tasse Tee zu trinken. Manchmal kam ich mir vor wie Anne Sullivan, und Marley war H e l e n Keller. Insgeheim dachte ich an Saint Shaun zurück und wie schnell ich, damals selbst noch ein Junge von zehn Jahren, ihm alles hatte beibringen können, was notwendig war, um aus ihm einen tollen H u n d zu machen. Ich fragte mich, was ich diesmal falsch machte. Aber unser kleines Apportierspiel war so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. »Weißt du«, sagte ich zu Jenny, »ich glaube wirklich, langsam kapiert er es.« Sie sah auf ihn hinunter, wie er neben uns hertrottete. Er war klitschnass, sein Fell war voll Sand und an seinen Lefzen hing Schaum. Sein hart erkämpfter Stock klemmte immer noch zwischen seinen Kiefern. » D a wäre ich mir nicht so sicher«, sagte sie. Am nächsten M o r g e n wachte ich wieder bei Tagesanbruch davon auf, dass J e n n y leise neben mir weinte. »Hey«, sagte ich und schlang meinen Arm um sie. Sie drückte ihr Gesicht gegen meine Brust und ich fühlte, wie ihre Tränen mein TShirt durchnässten. »Alles okay«, sagte sie, »es ist nur - du weißt schon.« Ich wusste es. Ich versuchte, den tapferen Soldaten zu spielen, aber ich spürte es auch, dieses dumpfe Gefühl von Verlust und Versagen. Es war seltsam. N o c h vor zwei Tagen waren wir vor N e u g i e r auf unser Baby beinahe geplatzt. Und jetzt war es, als hätte es diese Schwangerschaft nie gegeben. Als wäre das alles n u r ein Traum gewesen, aus dem zu erwa74

chen uns schwerfiel. Später nahm ich Marley mit zum E i n kaufen. W i r fuhren zum Supermarkt, u n d J e n n y brauchte ein paar Sachen aus der Apotheke. Auf dem Rückweg hielt ich an einem Blumenladen und kaufte einen riesigen F r ü h lingsblumenstrauß samt Vase, in der Hoffnung, er würde Jenny aufheitern. D a m i t die Vase nicht umkippte, gurtete ich sie auf dem Rücksitz neben Marley an. Als wir an einer Zoohandlung vorbeikamen, dachte ich spontan, dass Marley auch eine kleine Aufheiterung gebrauchen könnte. I m m e r hin hatte er unserer untröstlichen J e n n y besser Trost spenden können als ich. »Sei ein guter J u n g e « , sagte ich. »Ich bin gleich zurück.« Ich eilte in das Geschäft und kaufte schnell einen riesigen Kauknochen für ihn. Zu Hause kam uns J e n n y vor dem H a u s entgegen, u n d Marley sprang aus dem Auto, um sie zu begrüßen. » W i r haben eine kleine Überraschung für dich«, sagte ich. D o c h als ich die Blumen vom Rücksitz holen wollte, war die Ü b e r r a schung auf meiner Seite. Ich hatte einen Frühlingsstrauß mit weißen Gänseblümchen, gelben Chrysanthemen, verschiedenfarbigen Lilien und leuchtend roten Nelken gekauft. Jetzt waren die Nelken verschwunden. Ich sah genauer hin und entdeckte die geköpften Stiele, die vor wenigen M i n u ten noch Blüten getragen hatten. Sonst fehlte d e m Strauß nichts. Ich starrte Marley an, der wild herumtanzte. » K o m m hierher!«, schrie ich, und als ich ihn endlich erwischte und ihm das Maul aufstemmte, fand ich den Beweis seiner Schuld. Tief in seinem Rachen, zu einer formlosen Masse zerkaut, die an Kautabak erinnerte, steckte eine einzige rote Nelke. Die anderen waren offenbar schon in seinen Schlund gewandert. Ich hätte ihn umbringen können. Ich sah J e n n y an. Tränen strömten über ihr Gesicht. Aber diesmal lachte sie Tränen. Sie hätte sich nicht m e h r gefreut, wenn ich eigens ein kleines Orchester für eine abendliche 75

Serenade eingeflogen hätte. M i r blieb nichts anderes übrig, als in ihr Lachen einzustimmen. »Dieser H u n d ! « , murmelte ich. »Ich hab mir ohnehin noch nie viel aus Nelken gemacht«, sagte sie. Marley war so glücklich, uns wieder lachen zu sehen, dass er sich auf die Hinterbeine stellte und einen Freudentanz aufführte. Als ich am nächsten M o r g e n aufwachte, flutete Sonnenlicht durch die Aste des brasilianischen Pfefferbaums auf unser Bett. Ich warf einen Blick auf die U h r ; es war fast acht. Dann sah ich hinüber zu meiner Frau, die friedlich schlief. Ihre Brust h o b und senkte sich in langsamen, tiefen Atemzügen. Ich küsste sie aufs Haar, legte ihr einen Arm um die Taille und schloss wieder die Augen.

ACHT

Die Machtprobe

A

ls Marley knapp sechs M o n a t e alt war, meldeten wir ihn in einer Hundeschule an. Das war m e h r als notwendig. Trotz seiner Fortschritte mit dem Stock an jenem Tag am Strand erwies er sich als äußerst schwieriger Schüler, schwer von Begriff, wild, leicht abzulenken, ein Opfer seiner unerschöpflichen Energie. Allmählich begannen wir zu ahnen, dass er nicht wie andere H u n d e war. M e i n Vater fasste es treffend zusammen, als Marley versuchte, sein Knie zu begatten: »Dieser H u n d hat eine Schraube locker.« W i r brauchten professionelle Hilfe. Unser Tierarzt empfahl uns einen H u n d e - C l u b im Ort, der jeden Dienstagabend auf dem Parkplatz hinter dem Zeughaus einen Gehorsamkeits-Grundkurs anbot. Er wurde von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Clubs abgehalten, engagierte Amateure, die zweifelsohne ihren eigenen H u n den bereits die höheren Weihen guten Benehmens beigebracht hatten. D e r Kurs dauerte acht Stunden und kostete fünfzig Dollar, für unsere Begriffe eine lächerliche Summe, wenn man daran dachte, dass Marley den W e r t von fünfzig Dollar in Form von einem Paar Schuhe innerhalb von dreißig Sekunden vernichten konnte. U n d der Kurs versprach, dass wir nach der Abschlussprüfung mit Lassie der Zweiten nach Hause gehen würden. Bei der Anmeldung trafen wir die Dame, die unseren Kurs leiten würde. Sie war eine stren77

ge, ernsthafte Hundetrainerin, die die M e i n u n g vertrat, dass es keine unerziehbaren H u n d e gab, sondern nur inkonsequente, unfähige Besitzer. Die erste Stunde schien ihren Standpunkt zu untermauern. N o c h ehe wir aus dem Auto gestiegen waren, entdeckte Marley die anderen H u n d e , die mit ihren Besitzern über den Asphalt liefen. Eine Party! Er sprang über uns hinweg aus dem Auto, und weg war er, die Leine hinter sich herziehend. D a n n schoss er von einem H u n d zum nächsten, beschnüffelte sie an allen unziemlichen Stellen, markierte und schleuderte große Sabberflocken durch die Luft. Für Marley war das Ganze ein Fest der Düfte - so viele Geschlechtsteile, so wenig Zeit und er nutzte die Gunst der Stunde, wobei er sich immer genau außerhalb meiner Reichweite hielt, während ich hinter ihm herjagte. I m m e r wenn ich ihn beinahe erwischt hatte, machte er wieder einen Satz nach vorne. Schließlich kam ich nahe genug heran, um mit einem gigantischen Sprung mit beiden Füßen auf seiner Leine zu landen. Das brachte ihn so ruckartig zum Stehen, dass ich im ersten M o m e n t dachte, ich hätte ihm das Genick gebrochen. Er wurde umgerissen, landete auf dem Hinterteil, warf sich h e r u m und sah mich völlig entgeistert an. Inzwischen starrte uns die Hundetrainerin mit einem Blick an, der vernichtender nicht hätte sein können, wenn ich mir die Kleider v o m Leib gerissen hätte u n d nackt über den Parkplatz getanzt wäre. »Bitte begeben Sie sich auf Ihren Platz«, sagte sie förmlich, und als sie sah, wie Jenny und ich gemeinsam versuchten, Marley an seinen Platz zu zerren, fügte sie hinzu: »Sie müssen sich entscheiden, wer von Ihnen beiden die Funktion des Trainers übernimmt.« Ich setzte zu der Erklär u n g an, dass wir beide teilnehmen wollten, damit wir beide zu H a u s e mit ihm üben konnten, aber sie unterbrach mich. »Ein H u n d kann nur einem H e r r n gehorchen«, sagte sie 78

bestimmt. Ich wollte protestieren, doch sie brachte mich mit einem strengen Blick zum Schweigen - wahrscheinlich schüchterte sie damit auch die H u n d e ein -, und ich zog wie ein begossener Pudel mit eingezogenem Schwanz vom Feld und überließ Trainerin Jenny das K o m m a n d o . Wahrscheinlich war das ein Fehler. Marley war inzwischen beträchtlich stärker als Jenny, und das wusste er. Miss D o minatrix hatte gerade zu ihrer Einfuhrungsrede angesetzt, in der sie erklärte, wie wichtig es sei, gegenüber Haustieren eine Führungsposition einzunehmen, da beschloss Marley, dass der Pudel auf der anderen Seite der Klasse einen n ä h e ren Blick wert war. M i t Jenny an der Leine stürzte er los. Alle anderen H u n d e saßen brav neben ihren H e r r c h e n und Frauchen, hielten gebührend Abstand voneinander und warteten auf weitere Befehle. Jenny kämpfte verzweifelt um festen Halt unter den Füßen, um Marley zu stoppen, doch er galoppierte unbeeindruckt weiter und zog sie, versessen aufs Pudelschnüffeln, quer über den Parkplatz. M e i n e Frau hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit einer Wasserskiläuferin, die von einem M o t o r b o o t gezogen wird. Alle starrten sie an. Einige kicherten. Ich hielt mir die Augen zu. Marley war kein Freund von langwierigen Höflichkeiten. Er rannte die Pudeldame um und klemmte sofort seine Nase zwischen ihre Beine. Das war wohl die Art und Weise, wie ein H u n d fragt: » H i , bist du öfter hier?« Nachdem Marley den Pudel ausführlich untersucht hatte, gelang es Jenny endlich, ihn an seinen Platz zurückzuziehen. Miss Dominatrix gab mit ruhiger Stimme bekannt: »Dies, meine D a m e n und H e r r e n , ist ein hervorragendes Beispiel für einen H u n d , dem man gestattet hat, zu denken, er sei das Alphatier seines Rudels. Im M o m e n t hat er das Sagen.« Wie um das zu bestätigen, begann Marley wie wild seinen Schwanz zu jagen, drehte sich dabei um die eigene Achse, 79

schnappte in die Luft und wickelte die Leine so um Jennys Knöchel, bis sie sich nicht m e h r rühren konnte. Ich litt mit Jenny u n d war trotzdem froh, dass ich nicht an ihrer Stelle war. Die Trainerin begann mit den Lektionen »Sitz!« und »Platz!«. J e n n y befahl Marley mit strenger Stimme: »Sitz!« U n d Marley sprang auf und legte ihr die Pfoten auf die Schultern. Sie drückte sein Hinterteil auf den Boden, und er rollte sich herum, damit sie ihn am Bauch kraulen konnte. Sie versuchte ihn an seinen Platz zu ziehen, und er schnappte sich die Leine mit den Z ä h n e n und schüttelte den Kopf wild hin u n d her, als würde er mit einer Python kämpfen. Ich konnte es nicht mit ansehen. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, wie J e n n y bäuchlings auf dem Boden lag. Marley stand über ihr und hechelte fröhlich. Später erklärte sie mir, sie hätte ihm zeigen wollen, wie man das K o m m a n d o »Platz« korrekt ausführt. Als die Stunde zu E n d e war und J e n n y mit Marley zu m i r kam, fing Miss Dominatrix uns ab. »Sie müssen dieses T i e r wirklich u n t e r Kontrolle bringen«, sagte sie spöttisch. Oh, vielen Dank für diesen wertvollen Rat. Und dabei hatten wir uns eigentlich nur angemeldet, damit die anderen Teilnehmer etwas zu lachen haben! Keiner von uns sagte ein Wort. W i r gingen n u r niedergeschlagen zu unserem Auto und fuhren schweigend nach Hause. N u r Marleys lautes Hecheln war zu hören, als er versuchte, sich von der Aufregung sein e r ersten Erfahrung m i t einer Hundeschule zu erholen. Schließlich sagte ich: »Eines ist sicher: Er geht gern zur Schule.« Eine W o c h e später waren Marley und ich wieder dort, diesmal ohne Jenny. Als ich angedeutet hatte, dass ich wahrscheinlich noch am ehesten Marleys Vorstellung von einem 80

Alphatier entsprach, hatte sie ihren vorläufigen Titel als Frauchen und Befehlshaberin mit Freuden aufgegeben und geschworen, sich nie wieder in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Bevor wir das H a u s verließen, schubste ich Marley auf den Rücken, stellte mich über ihn und knurrte mit meiner einschüchterndsten Stimme: »Ich bin der Boss! Du bist nicht der Boss! Ich bin der Boss! Verstanden, Alphahund?« Er schlug mit dem Schwanz auf den Boden und versuchte, meine Handgelenke anzuknabbern. Diesmal stand der Befehl »Bei F u ß « auf d e m Plan, eine Lektion, die mir besonders wichtig war. Ich war es leid, auf jedem Spaziergang bei jedem Schritt mit Marley zu k ä m p fen. Er hatte Jenny schon einmal zu Boden gerissen, als er einer Katze hinterherjagen wollte, dabei hatte sie sich die Knie aufgeschlagen. Es war höchste Zeit, dass er lernte, anständig an unserer Seite zu laufen. Ich zerrte ihn an allen anderen H u n d e n vorbei an unseren Platz. Miss Dominatrix gab jedem von uns eine kurze Kette mit je einem Ring an beiden Enden. Das wären spezielle Halsbänder, erklärte sie uns, mit denen wir unsere H u n d e dazu bringen würden, brav bei Fuß zu gehen. Das Halsband war genial einfach konstruiert. W e n n sich der H u n d gut b e n a h m und an der Seite seines Herrchens blieb, sodass die Leine Spiel hatte, dann hing ihm die Kette einfach nur locker um den Hals. W e n n er jedoch einen Satz nach vorne machte oder zur Seite zerrte, dann zog sich die Kette wie eine Schlinge zu und brachte den H u n d so dazu, zu gehorchen. Unsere Trainerin versprach, dass die H u n d e schnell lernen würden, dass ihnen bei Ungehorsam die Luft knapp wurde. Nicht ganz fair, aber eine tolle Erfindung, dachte ich. Ich wollte die Kette über Marleys Kopf ziehen, aber er war schneller und schnappte mit den Zähnen danach. Ich zwang ihm die Kiefer auseinander, um das Halsband heraus81

zuziehen. W i e d e r schnappte er danach. Alle anderen H u n d e hatten bereits ihre Halsbänder um; alle warteten. Ich packte Marleys Schnauze mit einer H a n d und versuchte mit der anderen, ihm die Kette überzuwerfen. Er sprang wieder zurück und wand sich, um sein Maul wieder frei zu bekommen und diese geheimnisvolle silberne Schlange erneut anzugreifen. Endlich schaffte ich es, ihm die Kette über den Kopf zu ziehen. Er ließ sich zu Boden fallen, schnappte wild um sich, streckte die Pfoten in die Luft und warf den Kopf hin und her, bis es ihm wieder gelang, die Kette zwischen die Zähne zu bekommen. Ich sah die Trainerin an. » E r mag die Kette«, sagte ich. W i e befohlen ließ ich Marley aufstehen und nahm ihm die Kette aus dem Maul. D a n n drückte ich ihm wie befohlen das Hinterteil auf den Boden und stellte mich neben ihn, mein linkes Bein an seiner rechte Schulter. W e n n die Trainerin bis drei gezählt hatte, sollte ich den Befehl »Marley, bei Fuß!« geben und einen Schritt mit dem linken - auf gar keinen Fall mit dem rechten - Fuß machen. W e n n er vom Kurs abwich, würden ihn kleine Korrekturen - in Form von einem festen, kurzen Ziehen an der Leine - wieder in die richtige Position bringen. Miss Dominatrix gab das Kommando: »Eins ... zwei ...« Marley zitterte vor Erregung. Das glänzende fremde D i n g um seinen Hals brachte ihn auf H o c h t o u r e n »... drei!« »Marley, bei Fuß!«, befahl ich. Sobald ich den ersten Schritt machte, startete er durch wie ein Kampfflugzeug vom Flugzeugträger. Ich zog ihn fest an der Leine zurück, und er gab ein furchtbares, hustendes Japsen von sich, als sich die Kette um seinen Hals enger zog. Er sprang kurz zurück, doch sobald sich die Kette wieder lockerte, hatte er das W ü r g e n schon wieder vergessen. D e r winzige Teil seines G e hirns, der dafür zuständig war, aus Erfahrung zu lernen, hat82

te mit dieser Episode längst abgeschlossen. W i e d e r sprang er nach vorne. Ich zog an der Leine, und er japste wieder. So arbeiteten wir uns langsam über den ganzen Parkplatz vor; Marley zerrte nach vorne, ich zerrte ihn zurück, jedes Mal ein wenig heftiger. Er hustete und hechelte, ich ächzte u n d schwitzte. »Halten Sie den H u n d zurück!«, rief die Trainerin. Ich versuchte es mit aller Kraft, aber die Botschaft kam einfach nicht bei Marley an, und ich hatte Angst, er würde sich strangulieren, ehe er das Prinzip verstanden hatte. Inzwischen liefen die anderen H u n d e schon brav an der Seite ihrer H e r r chen und Frauchen und reagierten bereits auf feine Hilfen, genau wie die Trainerin es vorausgesagt hatte. »Verdammt noch mal, Marley!«, zischte ich. »Unsere Familienehre steht auf dem Spiel!« Die Trainerin befahl den Teilnehmern, sich in einer Reihe aufzustellen und es noch einmal zu versuchen. U n d wieder taumelte Marley wie betrunken über den Parkplatz, die Augen weit aufgerissen und nach Luft ringend. Am anderen Ende des Parkplatzes nannte uns die Trainerin ein gutes Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. » K o m m e n Sie«, sagte sie ungeduldig. »Ich zeige es Ihnen.« Ich gab ihr die Leine, und sie zerrte Marley erfolgreich in die Startposition. Als sie ihm den Befehl zum Hinsetzen gab, zog sie fest am Halsband. Tatsächlich sank er auf seine Hinterbeine und sah konzentriert zu ihr auf. Verdammt! M i t einem Ruck an der Leine setzte sich Miss Dominatrix in Bewegung. Doch fast augenblicklich jagte Marley los, als würde er den führenden Schlitten in einem H u n d e r e n n e n ziehen. Die Trainerin nahm ihn hart zurück und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht; er stolperte, keuchte u n d machte dann einen weiteren Satz nach vorne. Es sah aus, als würde er ihr den Arm ausreißen. Eigentlich hätte es mir pein83

lieh sein sollen, aber irgendwie empfand ich eine gewisse G e n u g t u u n g . Sie hatte kein bisschen m e h r Erfolg als ich. M e i n e Klassenkameraden kicherten, und ich strahlte vor perversem Stolz. Schaut her, mein Hund benimmt sich bei jedem so daneben, nicht nur bei mir! Jetzt, wo nicht ich, sondern jemand anders sich lächerlich machte, musste ich zugeben, dass die Szene ziemlich witzig war. Als die beiden endlich das andere Ende des Parkplatzes erreicht hatten und zu uns zurückgetaumelt kamen, kochte Miss Dominatrix verständlicherweise vor W u t . Marley war außer sich vor Freude. Die Trainerin zog wütend an der Leine und Marley, mit Schaum vor dem Maul, sprang noch wilder vorwärts; ganz offensichtlich machte ihm dieses neue Tauziehen-Spiel Spaß, zu dem ihn diese fremde D a m e aufforderte. Als er mich sah, trat er aufs Gaspedal. Mit ein e m beinahe übernatürlichen Adrenalinstoß warf er sich in meine Richtung und zwang Miss Dominatrix so zu einem ordentlichen Spurt, wenn sie nicht den Boden unter den Füßen verlieren wollte. Marley hielt erst an, als er sich voller Begeisterung auf mich warf. Miss Dominatrix sah mich mit einem vernichtenden Blick an. Es war klar, dass ich eine G r e n z e überschritten hatte und dass es kein Zurück mehr gab. Marley hatte alles, was sie über H u n d e und Disziplin gesagt hatte, lächerlich gemacht; er hatte sie in aller Öffentlichkeit blamiert. Sie gab mir die Leine zurück und wandte sich wieder an die übrigen Teilnehmer, als hätte diese unglückliche kleine Episode niemals stattgefunden: »Okay, Leute, auf d r e i . . . « Als die Stunde vorbei war, bat sie mich, noch einen M o m e n t zu bleiben. Ich wartete mit Marley, während sie geduldig Fragen von anderen Teilnehmern beantwortete. Als der letzte gegangen war, wandte sie sich an mich und sagte in erstaunlich versöhnlichem Ton: »Ich glaube, Ihr H u n d 84

ist noch ein bisschen zu jung für strukturierten Gehorsamsunterricht.« »Ja, er ist wirklich nicht einfach, nicht wahr?«, sagte ich und fühlte mich wie ihr Bündnispartner; jetzt, wo wir dieselbe peinliche Erfahrung gemacht hatten. » E r ist einfach noch nicht so weit«, sagte sie. » E r muss erst noch ein wenig erwachsen werden.« Langsam ahnte ich, was sie mir damit sagen wollte. »Wollen Sie etwa sagen ...« » E r stört die anderen H u n d e . « »... dass Sie ...« » E r ist einfach zu leicht erregbar.« »... uns aus dem Kurs werfen?« »Sie können in sechs bis acht M o n a t e n gerne wiederkommen.« »Sie werfen uns also raus?« »Ich zahle Ihnen gerne Ihre Kursgebühren zurück.« »Sie werfen uns raus.« »Ja«, sagte sie endlich. »Ich werfe Sie raus.« Als ob er sie verstanden hätte, hob Marley das Bein u n d verfehlte den Schuh seiner geliebten Trainerin n u r um wenige Zentimeter. Manchmal muss man erst wütend werden, ehe m a n etwas ernsthaft angeht. Miss Dominatrix hatte mich wütend gemacht. Ich besaß einen wunderschönen, reinrassigen L a b rador, ein stolzes Exemplar jener Rasse, die b e r ü h m t war für ihre Fähigkeit, Blinde zu führen, Katastrophenopfer zu retten, mit Jägern zu arbeiten und Fische aus schäumenden Wellen zu fangen, und all das mit Gelassenheit und Klugheit. W i e konnte sie es wagen, ihn nach nur zwei U n t e r richtsstunden aus dem Kurs zu werfen? Auch wenn er etwas lebhafter war, er meinte es doch nur gut. Ich würde dieser 85

unerträglichen, aufgeblasenen Person beweisen, dass G r o gan's Majestic Marley of Churchill kein Versager war. W i r würden uns in Westminster wiedersehen. Schon am nächsten M o r g e n n a h m ich Marley mit in unseren Garten. » N i e m a n d schmeißt die Grogan-Jungs aus dem Kurs!«, erklärte ich ihm. »Unerziehbar? W i r werden ja sehen, wer hier unerziehbar ist. H a b ich Recht?« Er sprang auf und ab. » W i r schaffen das, Marley, oder?« Er wedelte mit dem Schwanz. »Ich kann dich nicht hören. Schaffen wir das?« Er bellte. »Das klingt schon besser. An die Arbeit!« W i r fingen mit dem K o m m a n d o »Sitz!« an. Ich hatte das seit seinem frühen Welpenalter mit ihm geübt, und er war schon ganz gut darin. Ich baute mich vor ihm auf und starrte ihn an, wie n u r Alphatiere es tun, dann befahl ich ihm mit ruhiger, aber fester Stimme, sich hinzusetzen. Er setzte sich hin. Ich lobte ihn. W i r wiederholten diese Ü b u n g einige Male. D a n n gingen wir zu dem Befehl »Platz!« über. Auch das hatte ich schon mit ihm geübt. Er starrte mich aufmerksam an, reckte in freudiger Erwartung meines Befehls den Kopf vor. Ich h o b langsam die H a n d und behielt sie oben, während er auf den Befehl wartete. D a n n deutete ich in einer scharfen Bewegung auf den Boden, schnippte gleichzeitig mit den Fingern und sagte: »Platz!« Marley fiel in sich zusammen und landete mit einem Plumps auf dem Boden. Er hätte sich vermutlich nicht vehementer auf den Boden geworfen, wenn hinter ihm eine Granate hochgegangen wäre. Jenny, die mit ihrem Kaffee auf der Veranda saß, hatte uns zugesehen und rief: »Bravo!« N a c h d e m wir auch diese Ü b u n g ein paar Mal wiederholt hatten, beschloss ich, die nächste Herausforderung anzugehen: auf K o m m a n d o herkommen. Das war schwierig für Marley. Das Problem war nicht das K o m m e n . Er konnte einfach nicht auf seinem Platz warten, bis wir ihn riefen. Unser 86

konzentrationsschwacher H u n d war so ängstlich darauf bedacht, nicht von unserer Seite zu weichen, dass er nicht still sitzen konnte, wenn wir uns von ihm entfernten. Ich befahl ihm, sich vor mich hinzusetzen, und sah ihm in die Augen. Als wir uns so anstarrten, hob ich meine Handfläche und hielt sie vor mich wie ein Schülerlotse seine Kelle. »Bleib!«, sagte ich und machte einen Schritt zurück. Er erstarrte, sah mich ängstlich an und wartete auf das kleinste Zeichen, dass er mir folgen durfte. Als ich vier Schritte gegangen war, hielt er es nicht länger aus. Er sprang los und stürzte sich auf mich. Ich ermahnte ihn und versuchte es noch einmal. U n d noch einmal und noch einmal. Jedes Mal ließ er mich ein wenig weiter fortgehen, ehe er losstürzte. Schließlich stand ich ungefähr zehn M e t e r von ihm entfernt, die H a n d vor mir ausgestreckt. Ich wartete. Er saß wie angewachsen auf seinem Platz und bebte vor Erwartung am ganzen Körper. Ich konnte sehen, wie seine Nervosität wuchs, er glich einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Aber er hielt durch. Ich zählte bis zehn. Er rührte sich nicht. Sein Blick war starr auf mich gerichtet, seine Muskeln angespannt. Okay, genug der Quälerei, dachte ich. Ich ließ meine H a n d fallen und rief: »Marley, hierher!« Als er nach vorne schoss, ging ich in die H o c k e und klatschte in die H ä n d e , um ihn anzufeuern. Ich dachte, er würde einfach nur wie wild durch den Garten jagen, doch er kam direkt auf mich zu. Perfekt!, dachte ich. » N a los, J u n ge!«, rief ich. » K o m m her!« U n d er kam. Er raste direkt auf mich zu. »Langsam, Junge!«, rief ich. Er raste weiter auf mich zu. »Langsam!« Er hatte wieder diesen leeren, verrückten Ausdruck im Gesicht, und in dem Augenblick vor dem Zusammenprall wurde mir klar, dass der Lotse die Brücke verlassen hatte. Er glich einer Büffelherde. Ich hatte gerade noch Zeit für einen letzten Befehl. »Stopp!«, brüllte ich. 87

B U M ! Er r a m m t e mich mit unverminderter Geschwindigkeit und warf mich zu Boden. Ich schlug hart auf. Als ich meine Augen ein paar Sekunden später wieder öffnete, stand er über mir, Brust an Brust, und leckte mir wild das Gesicht ab. Wie war ich, Boss?, schien er zu fragen. Eigentlich hatte er n u r genau meine Anweisung befolgt. Schließlich hatte ich nichts davon gesagt, dass er stehen bleiben sollte, wenn er bei mir ankam. »Auftrag ausgeführt«, stöhnte ich. J e n n y hatte uns vom Küchenfenster aus beobachtet und rief: »Ich muss los. W e n n ihr zwei da draußen fertig seid, vergiss nicht, die Fenster zuzumachen. Es soll heute Nachmittag regnen.« Ich gab meinem Rugby-Hund einen kleinen Imbiss, dann duschte ich u n d ging zur Arbeit. Als ich am Abend nach Hause kam, wartete Jenny an der H a u s t ü r auf mich, u n d ich konnte sehen, dass sie sauer war. »Schau mal in die Garage«, sagte sie. Als ich die T ü r öffnete, sah ich zuerst Marley, der zerknirscht auf dem Boden lag. Ich bemerkte auf den ersten Blick, dass etwas mit seiner Schnauze und seinen Pfoten nicht stimmte. Sie waren dunkelbraun, voll angetrocknetem Blut. D a n n sah ich mich weiter um, und mir stockte der Atem. Die Garage - unser unzerstörbarer Bunker - war ein einziges Chaos. D e r Teppich war zerfetzt, die Farbe von den Betonwänden gekratzt und das Bügelbrett umgeworfen, sein Bezug hing in Fetzen herunter. Auch die Tür, in der ich n u n stand, hatte es übel erwischt, sie sah aus, als hätte man sie mit einem Häcksler bearbeitet. Im Umkreis von zwei M e tern lagen Holzsplitter auf dem Boden. Marley hatte sich durch die halbe T ü r gefressen, am unteren Ende klaffte ein Loch. An der W a n d klebte Blut, wo Marley sich Schnauze und Pfoten wund gerieben hatte. »Verdammt«, murmelte 88

ich, mehr erschrocken als ärgerlich. Unwillkürlich musste ich an die arme M r s N e d e r m i e r und den Kettensägenmord gegenüber denken. Ich hatte das Gefühl, mitten am Tatort zu stehen. H i n t e r mir hörte ich Jennys Stimme. »Als ich heute Mittag zum Essen nach Hause kam, war noch alles in O r d nung«, sagte sie. »Aber es hat schon nach Regen ausgesehen.« N a c h d e m sie wieder in die Arbeit gefahren war, war ein furchtbares Gewitter mit Regen, Blitz u n d Donner, der einem durch Mark und Bein ging, losgebrochen. Als sie ein paar Stunden später nach Hause gekommen war, hatte sie Marley inmitten dieses Massakers gefunden, das er bei seinem verzweifelten Fluchtversuch veranstaltet hatte. Er war vollkommen panisch gewesen, mit Schaum vor dem Maul. Sein Anblick war so herzergreifend gewesen, dass sie es nicht über sich gebracht hatte, mit ihm zu schimpfen. Außerdem war der Vorfall ja bereits vorbei gewesen; er hätte keine Ahnung gehabt, wofür sie ihn bestrafte. Trotzdem war sie so erschüttert über die Zerstörung unseres neuen H a u ses, an dem wir so hart gearbeitet hatten, dass sie nicht fähig gewesen war, sich um Marley zu k ü m m e r n oder aufzuräumen. »Warte nur, bis H e r r c h e n nach Hause kommt!«, hatte sie ihm gedroht und die T ü r zugeschlagen. Beim Abendessen versuchten wir, den Vorfall nüchtern zu betrachten. Was war passiert? W i r konnten es uns n u r so erklären: Marley, allein und schrecklich verängstigt wegen des Gewitters, hatte beschlossen, dass seine größte Ü b e r l e benschance darin lag, sich durch die T ü r ins H a u s zu graben. Wahrscheinlich hörte er dabei auf irgendeinen uralten Instinkt, den er von seinem U r a h n , dem Wolf, geerbt hatte. Er hatte dieses Ziel mit verzweifeltem Eifer und solcher Effizienz verfolgt, wie ich es ohne die Zuhilfenahme von schweren Maschinen nie für möglich gehalten hätte. 89

N a c h dem Abwasch gingen J e n n y und ich wieder zu Marley in die Garage. Er war wieder ganz der Alte, schnappte sich ein Spielzeug und sprang um uns herum, um uns zum Tauziehen zu animieren. Ich hielt ihn fest, während Jenny ihm mit einem Schwamm das Blut aus dem Fell wusch. D a n n sah er schwanzwedelnd zu, wie wir das von ihm verursachte Chaos aufräumten. W i r warfen die Teppichfetzen und den kaputten Bügelbrettbezug weg, kehrten die Reste unserer T ü r zusammen, wischten das Blut von den Wänden und stellten eine Einkaufsliste für den Baumarkt zusamm e n - im Laufe von Marleys Leben würde ich noch viele solche Listen schreiben. Marley war außer sich vor Glück, dass wir bei ihm waren und ihm bei seinen Umbaumaßnahmen zur H a n d gingen. » D u brauchst dich gar nicht so darüber zu freuen!«, schimpfte ich und brachte ihn für die N a c h t ins H a u s .

NEUN

Der Stoff, aus dem die Männchen sind

J

eder H u n d braucht einen guten Tierarzt, einen gut ausgebildeten Fachmann, der ihn gesund und kräftig erhält und gegen Krankheiten schützt. Auch jeder frischgebackene Hundebesitzer braucht so jemanden, vor allem wegen der guten Ratschläge, Rückversicherungen und unentgeltlichen Beratung, mit der Tierärzte den größten Teil ihrer Zeit verbringen. W i r brauchten mehrere Anläufe, um den richtigen Tierarzt zu finden. Einer war so beschäftigt, dass wir immer nur seinen jungen Assistenten zu Gesicht bekamen, ein anderer war so alt, dass ich dachte, er könne keinen Chihuahua mehr von einer Katze unterscheiden. Ein dritter fühlte sich offensichtlich nur wohlhabenden D a m e n aus Palm Beach mit ihren handtaschengroßen Schoßhündchen verpflichtet. U n d dann stolperten wir über den Tierarzt unserer Träume. Sein N a m e war Jay Butan - alle nannten ihn Dr. Jay -, und er war jung, intelligent, auf der H ö h e der Zeit und überaus freundlich. Dr. Jay konnte H u n d e verstehen wie gute Mechaniker ihre Autos - nämlich intuitiv. Er liebte T i e r e , hatte aber gleichzeitig eine gesunde Einstellung dazu, welchen Stellenwert sie im Leben eines Menschen einnehmen sollten. In diesen ersten M o n a t e n hatten wir praktisch eine Standleitung zu ihm und fragten ihn wegen jeder Kleinigkeit. Als Marley raue, schuppige Stellen an den Ellbogen bekam, hatte ich Angst, er könnte an einer seltenen und si91

cherlich ansteckenden Hautkrankheit leiden. Keine Sorge, sagte Dr. Jay, das seien nur Schwielen vom Liegen auf dem Boden. Eines Tages gähnte Marley mit weit aufgesperrtem Maul, und ich entdeckte eine eigenartige, dunkelrote Verfärbung hinten auf seiner Zunge. Oh Gott!, dachte ich. Er hat Krebs! Zungenkrebs! Keine Sorge, sagte Dr. Jay, das sei bloß ein Muttermal. An diesem N a c h m i t t a g standen Jenny und ich mit Marley im Behandlungszimmer und diskutierten über Marleys zun e h m e n d e neurotische Gewitterangst. W i r hatten gehofft, die Verwüstungsaktion in der Garage sei eine einmalige Sache gewesen, aber wie sich herausstellen sollte, war es nur der Anfang einer lebenslangen Phobie. Obwohl Labradors doch eigentlich den Ruf genossen, hervorragende Jagdhunde zu sein, erschrak unser H u n d bei jedem Geräusch, das lauter war als ein knallender Sektkorken, zu Tode. Feuerwerkskörper, Fehlzündungen und Schüsse jagten ihm schreckliche Angst ein. D o n n e r war das Allerschlimmste. Schon die ersten Anzeichen eines nahenden Gewitters führten bei Marley zur Kernschmelze. W e n n wir zu Hause waren, drängte er sich haidos zitternd und sabbernd an uns und sah sich mit zurückgelegten O h r e n und eingezogenem Schwanz nervös u m . W a r er allein, schlug seine Angst in Zerstörungswut um, und er machte alles platt, was zwischen ihm und der vermeintlichen Rettung lag. Eines Tages kam Jenny nach Hause, als sich draußen ein Gewitter zusammenbraute, und fand Marley mit vor Angst geweiteten Augen auf der Waschmaschine stehend vor, wo er nervös herumtänzelte. W i e er dort hinaufgekommen war und was er sich davon versprochen hatte, fanden wir nie heraus. Menschen spielten schließlich auch manchmal verrückt, warum sollte es bei H u n d e n anders sein? Dr. Jay drückte mir ein Gläschen mit gelben Tabletten 92

in die H a n d und sagte: » D i e können Sie bedenkenlos anwenden.« Es handelte sich um ein Beruhigungsmittel, das, wie er sich ausdrückte, »Marley die größte Angst n e h m e n würde«. Die Strategie dabei war, dass Marley mithilfe des Beruhigungsmittels ruhiger mit einem Gewitter fertig werden und so einsehen könnte, dass es sich dabei nur um h a r m losen Krach handelte. Angst vor D o n n e r war nichts U n g e wöhnliches für einen H u n d , versicherte er uns, vor allem in Florida, wo in den heißen Sommermonaten beinahe jeden Nachmittag dicke Gewitterwolken über die Halbinsel rollten. Marley beschnüffelte das Glas in meiner H a n d , offensichtlich konnte er es kaum erwarten, seine Drogenkarriere zu beginnen. Dr. Jay kraulte Marleys Hals und druckste h e r u m , als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. » U n d Sie sollten langsam ernsthaft darüber nachdenken, ihn kastrieren zu lassen«, meinte er schließlich. »Kastrieren lassen?«, wiederholte ich ungläubig. »Sie meinen . . . « I c h sah auf Marleys imponierende H o d e n hinunter, die zwischen seinen Hinterbeinen hin und her schwangen. Sie waren beinahe grotesk groß. Dr. Jay sah ebenfalls hinunter und nickte. Ich muss wohl geseufzt haben, vielleicht habe ich mir sogar selbst an die entsprechende Stelle gegriffen, denn er fügte hinzu: »Es ist ganz schmerzlos, und er wird danach wesentlich entspannter sein.« Dr. Jay wusste, was für eine Herausforderung Marley für uns darstellte. Er war so etwas wie unser Kummerkasten. Er wusste von der katastrophalen Episode in der H u n d e s c h u le, von Marleys d u m m e n Streichen, seiner Zerstörungswut, seiner Hyperaktivität. U n d in letzter Zeit hatte Marley mit seinen sieben M o n a t e n angefangen, alles zu bespringen, was sich bewegte, einschließlich unserer Gäste. »Das wird einfach nur diese ganze nervöse sexuelle Energie beseitigen 93

und einen glücklicheren, ruhigeren H u n d aus ihm machen«, sagte er. Er versprach, dass der Eingriff Marleys sonnige Ausgelassenheit nicht dämpfen würde. » G r o ß e r Gott, ich weiß nicht . . . « , antwortete ich. »Das ist so ... so endgültig.« J e n n y dagegen hatte keinerlei solche Einwände. »Dann schneiden wir die Dinger eben ab!«, sagte sie nur. »Aber dann können wir nicht m e h r mit ihm züchten«, warf ich ein. »Wollen wir denn seine Linie nicht fortführen?« Ich hatte die beeindruckenden Zuchtprämien vor Augen. W i e d e r schien Dr. Jay sich seine W o r t e genau zu überlegen. »Ich glaube, Sie sollten das realistisch sehen«, sagte er. »Marley ist ein toller Familienhund, aber ich bezweifle, dass er die nötigen Kriterien für einen Zuchtrüden erfüllen würde.« Er versuchte, so diplomatisch wie möglich zu sein, aber sein Gesichtsausdruck verriet ihn. Auf seiner Stirn stand in großen Lettern: Guter Mann, um der kommenden Generationen willen müssen wir diesen genetischen Fehlgriff unter allen Umständen isolieren! Ich sagte, wir würden es uns überlegen, dann gingen wir mit unserem neuen Drogenvorrat nach Hause. W ä h r e n d wir also erwogen, Marleys Männlichkeit wegzuoperieren, zeigte J e n n y auf einmal ungewöhnlich großes Interesse an meiner. Dr. Sherman hatte seine Zustimmung zu einem erneuten Schwangerschaftsversuch gegeben. U n d n u n verfolgte sie dieses Ziel mit der Entschlossenheit eines Olympiateilnehmers. Die Zeiten, als wir einfach nur die Pille weggelassen und den Dingen ihren Lauf gelassen hatten, waren vorbei. Im Kampf um die Befruchtung ging J e n n y n u n in die Offensive. U n d dazu brauchte sie mich als Verbündeten, der den Munitionsnachschub sicherte. W i e 94

die meisten M ä n n c h e n hatte ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr jeden wachen M o m e n t darauf verwendet, das andere Geschlecht davon zu überzeugen, dass ich ein geeigneter Geschlechtspartner war. Endlich hatte ich jemanden gefunden, der dem zustimmte. Ich hätte begeistert sein sollen. Z u m ersten Mal in meinem Leben begehrte mich eine Frau m e h r als ich sie. D e r Traum jedes Mannes. Kein Betteln mehr, keine Schmeicheleien. Ich war begehrt wie ein bewährter Zuchtrüde. Ich hätte außer mir sein sollen. Aber plötzlich artete das Ganze in Arbeit aus, noch dazu in anstrengende Arbeit. Jenny wollte keine fröhliche, ausgelassene N u m m e r von mir, sie wollte ein Baby. U n d das hieß, dass ich Leistung bringen musste. Das war kein Spaß mehr. Die schönste aller Nebensachen wurde über N a c h t zu einer klinischen Zwangssituation einschließlich Temperaturmessung, Menstruationskalender und Eisprunglisten. Ich hatte das Gefühl, in Diensten der Q u e e n zu stehen. Das Ganze war ungefähr so erhebend wie der Besuch bei einem Steuerberater. J e n n y war gewöhnt, dass ich auf die kleinste Aufforderung ihrerseits freudig reagierte, und sie dachte, dass das immer noch der Fall war. Ich war zum Beispiel gerade dabei, den Abfallzerkleinerer zu reparieren, und sie kam mit ihrem Kalender in der H a n d herein und sagte: »Ich hatte meine letzte Periode am Siebzehnten, was bedeutet ...« - sie zählte von diesem D a t u m an vorwärts -, »dass wir es J E T Z T versuchen müssen.« Die Grogans konnten noch nie gut unter Druck arbeiten, und ich war dabei keine Ausnahme. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mir die ultimative D e m ü t i g u n g widerfuhr: Ich konnte nicht. U n d als das einmal geschehen war, war das Spiel gelaufen. Mein Selbstvertrauen war dahin, meine Nerven lagen bloß. Ich wusste: W e n n es einmal passiert war, dann konnte es immer wieder passieren. M e i n Versagen wur95

de zu einem Selbstläufer. Je m e h r ich mich bemühte, meinen ehelichen Pflichten nachzukommen, desto weniger konnte ich mich entspannen. Ich vermied jede Art von körperlicher Zuwendung, damit J e n n y nicht auf falsche Gedanken kam. Ich entwickelte Todesangst vor dem M o m e n t , wo meine Frau mich bitten würde, ihr die Kleider vom Leib zu reißen u n d mit ihr zu schlafen. So weit war es gekommen. Ich fing schon an mir vorzustellen, dass ein Leben in der zölibatären Abgeschiedenheit eines abgelegenen Klosters vielleicht gar kein so schlechter Zukunftsentwurf war. Aber J e n n y gab nicht so leicht auf. Sie war der Jäger, ich war die Beute. Als ich eines M o r g e n s in meiner Zeitungsredaktion saß, die n u r zehn M i n u t e n von zu Hause entfernt war, rief J e n n y mich von der Arbeit aus an. Ob ich mich zu H a u s e mit ihr zum Mittagessen treffen wollte? Du meinst, ganz alleine? Ohne Aufpasser? » W i r könnten uns auch irgendwo in einem netten Restaurant treffen«, entgegnete ich. Ein sehr gut besuchtes Restaurant. Am besten mit ein paar Kollegen. U n d beiden Schwiegermüttern. »Ach, k o m m schon«, schmollte sie. »Das wird lustig!« D a n n senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. » H e u t e ist ein ... guter Tag. Ich glaube, ich ... habe einen Eisprung.« Eine jähe Welle der Angst überrollte mich. O Gott, nein. Nicht das E- Wort! D e r Druck war wieder da. Es war Zeit, sich zu beweisen oder ruhmlos unterzugehen. Sieg oder Niederlage, im wahrsten Sinne des Wortes. Bitte, zwing mich nicht dazu, wollte ich ins Telefon flehen. Stattdessen sagte ich so cool wie möglich: »Natürlich. Ist halb eins okay?« Als ich die H a u s t ü r öffnete, war Marley wie immer zur Stelle, um mich zu begrüßen. J e n n y dagegen war nirgends zu sehen. Ich rief nach ihr. »Ich bin im Bad«, antwortete sie. 96

»Bin gleich da!« Also sah ich die Post durch, um die Zeit totzuschlagen. Ich war in Weltuntergangsstimmung. U n g e fähr so mussten sich Menschen fühlen, wenn sie auf eine niederschmetternde Diagnose warteten. »Hallo, Schatz«, sagte da eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, stand Jenny in einem H a u c h aus Seide vor mir. D u r c h das Top, das an zwei unglaublich dünnen Trägern von ihren Schultern hing, konnte ich ihren flachen Bauch sehen. Ihre Beine hatten noch nie länger gewirkt. » W i e sehe ich aus?«, fragte sie und stemmte kokett die H ä n d e in die Hüften. Sie sah u n glaublich aus. In Sachen Nachtwäsche war J e n n y sonst ein großer Fan von Sleepshirts, u n d ich war mir sicher, dass sie sich in diesem verführerischen Outfit albern vorkam. D o c h es hatte den gewünschten Effekt. Sie huschte ins Schlafzimmer, mit mir im Schlepptau. Einen M o m e n t später lagen wir uns auch schon in den Armen. Ich schloss die Augen und konnte fühlen, wie sich mein alter, verloren geglaubter Freund meldete. D e r Zauber kehrte zurück. Du schaffst das, John. Ich versuchte, mir die schmutzigsten Dinge vorzustellen. Diesmal klappt es! M e i n e Finger fummelten an den dünnen Trägerchen herum. Spiel mit, John. Kein Druck. Jetzt konnte ich ihren Atem feucht und warm auf meinem Gesicht fühlen. Mmmmh, sexy. Aber was war das? Irgendetwas roch komisch. Ihr Atem. Irgendwie vertraut und fremd zugleich, nicht unangenehm, aber auch nicht besonders verlockend. Ich kannte diesen Geruch, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Ich zögerte. Was tust du da, du Idiot? Vergiss diesen Geruch. Konzentrier dich, Mann! Konzentrier dich! Aber dieser Geruch - ich bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf. Du lässt dich ablenken, John. Tu das nicht. Was war das nur? Bleib bei der Sache! M e i n e N e u gier war stärker. Lass es, Junge, lass es! Ich schnupperte. E t was zu essen, ja, das war es. Cracker? N e i n . Chips waren es 97

auch nicht. Auch kein Thunfisch. Ich war nah dran. H u n d e kuchen?! Das war es! Ihr Atem roch nach Hundekuchen. Aber warum? Ich überlegte, ich hörte tatsächlich eine kleine Stimme in meinem Kopf, die fragte: Warum hat Jenny Hundekuchen gegessen? U n d gleichzeitig fühlte ich ihre Lippen auf meinem Hals ... W i e konnte sie meinen Hals küssen und mir gleichzeitig ins Gesicht atmen? Das ging doch gar ... 0 ... mein ... Gott! Ich öffnete die Augen. Da, wenige Zentimeter von mein e m Gesicht entfernt, ragte Marleys riesiger Kopf auf. Sein Kinn ruhte auf der Matratze und er hechelte mit seiner Sabberschnauze in die Laken. Seine Augen waren halb geschlossen, und er sah viel zu verliebt aus. »Böser H u n d ! « , schrie ich und fuhr auf dem Bett zurück. »Nein! N e i n ! Raus mit dir!«, befahl ich ihm schrill. »Los! Ab mit dir!« D o c h es war zu spät. D e r Zauber war verflogen. Das Kloster war wieder da. Wegtreten, Soldat. Am nächsten M o r g e n vereinbarte ich einen Termin, um Marley kastrieren zu lassen. Ich sagte mir, wenn ich schon für den Rest meines Lebens keinen Sex mehr haben würde, dann sollte es ihm nicht besser ergehen. Dr. Jay sagte, wir könnten Marley in der Praxis abgeben, bevor wir zur Arbeit fuhren, und ihn danach auf dem H e i m w e g wieder abholen. Eine W o c h e später war es so weit. Als J e n n y und ich zum G e h e n bereit waren, sprang Marley fröhlich herum, weil er spürte, dass ein Ausflug bevorstand. Für Marley war jeder Ausflug schön, es spielte keine Rolle, wohin wir gingen oder wie lange wir blieben. D e n Müll raustragen? Toll! Um die Ecke zum Supermarkt, um Milch zu kaufen? Ich bin dabei! Ich fühlte, wie sich mein schlechtes Gewissen regte. D e r arme Kerl hatte keine Ahnung, was ihn 98

erwartete. Er vertraute uns blind, und wir planten heimlich, ihn entmannen zu lassen! Konnte es einen gemeineren Verrat geben? » K o m m her!«, sagte ich zu ihm und warf ihn spielerisch zu Boden, wo ich ihm fest den Bauch kraulte. »Es wird nicht schlimm, keine Sorge. Sex wird völlig überbewertet.« Aber nicht einmal ich, der ich in den letzten W o c h e n so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, konnte das wirklich glauben. W e m log ich etwas vor? Sex war toll. Sex war unglaublich. W i r würden den armen H u n d um das größte Vergnügen bringen, das das Leben zu bieten hat. D e r arme Kerl. Ich fühlte mich furchtbar. Und ich fühlte mich noch viel schlechter, als ich nach ihm pfiff und er aus der T ü r galoppiert kam und ins Auto sprang, voller Vertrauen, dass ich ihm nichts Böses wollte. Er war aufgedreht und bereit, jedes Abenteuer mitzumachen, zu dem ich ihn mitnehmen würde. J e n n y fuhr, ich saß auf d e m Beifahrersitz. W i e immer balancierte Marley mit den Vorderpfoten auf der Mittelkonsole; seine Schnauze berührte den Rückspiegel. Jedes Mal, wenn J e n n y bremste, krachte er gegen die Windschutzscheibe, doch das war Marley egal. Er durfte bei seinen beiden besten Freunden vorne im Auto mitfahren. Gab es etwas Schöneres im Leben? Ich kurbelte mein Fenster herunter, und Marley lehnte sich zu mir herüber und versuchte, etwas von den Gerüchen draußen zu erhaschen. Bald hatte er sich ganz auf meinen Schoß geschoben und seine Nase so fest in den schmalen Fensterspalt geklemmt, dass er bei jedem Atemzug schnarchte. Warum auch nicht?, dachte ich. Dies war seine letzte Autofahrt als voll ausgerüstetes Mitglied des männlichen Geschlechts, da war ein wenig frische Luft das Mindeste, was ich i h m gewähren konnte. Ich kurbelte das Fenster weit genug h e r u n ter, dass er die Schnauze hinausstrecken konnte. Er genoss 99

den W i n d um die Nase sichtlich, und ich kurbelte das Fenster noch ein wenig weiter herunter, sodass er den ganzen Kopf hinausstrecken konnte. Seine O h r e n flogen im Fahrtwind und seine Z u n g e hing ihm weit aus dem Maul, als sei er von all den Gerüchen der Stadt ganz berauscht. Mein Gott, war er glücklich. Als wir den Dixie Highway hinunterfuhren, sagte ich Jenny, wie elend mir bei dem Gedanken zumute war, was wir mit ihm vorhatten. Sie wollte gerade etwas zweifelsfrei höchst Herablassendes zu meinen Bedenken sagen, als ich bemerkte, dass Marley beide Vorderpfoten auf den Rand des halb offenen Fensters gestellt hatte. Zunächst sah ich ihm n u r neugierig zu, ohne größere Bedenken zu haben. Im nächsten M o m e n t hing er schon bis zu den Schultern aus dem Fenster. Es fehlten nur noch Fliegerbrille und Schal, dann hätte er ausgesehen wie ein Weltkriegspilot. »John, er macht mich nervös«, sagte Jenny. »Keine Sorge«, gab ich zurück, »er will nur ein wenig frische Luft -« In diesem M o m e n t schob er seine Vorderbeine aus dem Fenster, bis seine Achselhöhlen auf dem Fensterrand ruhten. »John, halt ihn fest! H a l t ihn fest!« D o c h ehe ich irgendetwas tun konnte, war Marley dabei, von meinem Schoß aus dem offenen Fenster unseres Autos zu klettern, und das bei voller Fahrt. Sein Hinterteil hing in der Luft, mit den Hinterpfoten suchte er verzweifelt nach Halt. D a n n passierte es. Als sein Körper an mir vorbeirutschte, griff ich nach ihm und erwischte ihn gerade noch mit der linken H a n d am Schwanz. J e n n y trat mitten im starken Verkehr auf die Bremse; Marley hing n u n ganz aus dem Fenster des fahrenden Autos. Ich hielt ihn mit eisernem Griff am Schwanz fest, saß aber so verdreht auf dem Beifahrer100

sitz, dass ich nicht mit der anderen H a n d nach ihm greifen konnte. Marley trabte wie ein Irrer mit den Vorderpfoten auf dem Gehsteig neben dem Auto her. Jenny blieb schließlich auf der Abbiegerspur stehen. H i n ter uns stauten sich die Autos und hupten. » U n d jetzt?«, schrie ich. Ich steckte in der Klemme. Ich konnte ihn ja nicht einfach wieder durch das Fenster hereinziehen. Ich konnte auch die T ü r nicht öffnen oder auch nur meinen anderen Arm bewegen. U n d ich wagte es auch nicht, ihn loszulassen, denn dann wäre er sicher einem der Autofahrer, die n u n wütend hinter uns ausschwenkten, vor die Kühlerhaube gelaufen. Ich klammerte mich an Marleys Schwanz, als ginge es um mein Leben, das Gesicht an das Fenster gepresst, n u r wenige Zentimeter von seinem wild hin und her schwingenden Hodensack entfernt. Jenny schaltete den Warnblinker ein und rannte um das Auto herum auf meine Seite, wo sie ihn packte u n d so lange am Halsband festhielt, bis ich ausgestiegen war und ihr half, ihn wieder ins Auto zu manövrieren. Unser kleines D r a m a hatte sich direkt vor einer Autowerkstatt abgespielt, und als Jenny den M o t o r wieder anließ, sah ich, dass alle M e c h a n i ker herausgekommen waren, um dem Schauspiel zuzusehen. Sie lachten so sehr, dass ich dachte, sie würden sich in die Hosen machen. »Danke, Jungs!«, rief ich. »Schön, dass wir euch den Morgen versüßen konnten!« Als wir bei der Klinik ankamen, führte ich Marley an der kurzen Leine hinein, nur für den Fall, dass er wieder auf irgendwelche D u m m h e i t e n kam. Meine Schuldgefühle waren wie weggeblasen, mein Entschluss stand fest. »Diesmal kommst du mir nicht davon, Eunuch!«, erklärte ich ihm. Er zerrte wild an der Leine, um all die Gerüche der anderen Tiere aufzunehmen. Im W a r t e r a u m versetzte er ein paar Katzen in Todesangst und warf ein Gestell mit Informations101

broschüren u m . Ich übergab ihn Dr. Jays Assistenten und sagte: »Tun Sie es.« Als ich Marley an diesem Abend abholte, war er ein anderer H u n d . Er war noch schwach von der Operation und bewegte sich sehr vorsichtig. Seine Augen waren blutunterlaufen und glasig von der Narkose, und er war immer noch b e n o m m e n . U n d wo vorher so stolz seine Kronjuwelen gebaumelt hatten, war j e t z t . . . nichts. N u r eine kleine, verschrumpelte Hautfalte. Die unverwüstliche Marley-Linie war damit offiziell und unwiderruflich zu Ende.

ZEHN

Ein irischer Segen

U

nser Leben wurde immer m e h r von Arbeit bestimmt. Die Arbeit bei der Zeitung. Die Arbeit am H a u s . Im Garten. Selbst unsere Bemühungen, schwanger zu werden, arteten in Arbeit aus. U n d dann noch der Vollzeitjob, Marley zu erziehen. In vielem war er wie ein Kind, und er beanspruchte die gleiche Aufmerksamkeit und Zeit wie ein Kind. So bekamen wir eine A h n u n g davon, was für eine Verantwortung uns erwartete, sollten wir jemals eine Familie haben. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. D e n n wenn wir auch nicht viel vom Elternsein verstanden, so wussten wir doch, dass wir unsere Kinder nicht einfach mit einer Schüssel W a s ser in die Garage sperren konnten, wenn wir morgens aus dem Haus mussten.

W i r waren noch nicht einmal zwei Jahre verheiratet u n d fühlten doch schon die Last der Verantwortung eines erwachsenen, verheirateten Lebens. W i r mussten da raus. W i r brauchten Urlaub, nur wir zwei, weit weg von all den täglichen Verpflichtungen. Eines Abends überraschte ich J e n n y mit zwei Tickets nach Irland. W i r würden drei W o c h e n weg sein. Keine feste Reiseroute, keine Besichtigungstouren, keine Sehenswürdigkeiten. N u r ein Mietauto, eine Landkarte und ein Bed-and-Breakfast-Führer. Schon das Gefühl, die Tickets in der H a n d zu haben, n a h m uns eine Zentnerlast von den Schultern. Zuerst jedoch mussten wir uns noch um 103

ein paar Dinge kümmern, in erster Linie um Marley. Eine H u n d e p e n s i o n schied von vorneherein aus. Er war zu jung, zu verrückt, zu wild, um dreiundzwanzig Stunden am Tag in einem Zwinger eingesperrt zu sein. W i e Dr. Jay es vorausgesagt hatte, hatte die Kastration Marleys ausgelassenes W e sen nicht im Geringsten beeinflusst. Genauso wenig seine unendliche Energie oder seine Verrücktheiten. Außer dass er kein Interesse m e h r daran zeigte, leblose Gegenstände zu besteigen, war er ganz der Alte. Er war viel zu wild - und zu unberechenbar, wenn er in Panik geriet -, um ihn bei F r e u n d e n abzugeben. O d e r bei Feinden. W i r brauchten ein e n Hundesitter, der bei uns im H a u s wohnte. Natürlich konnte das nicht einfach irgendjemand sein, denn Marley stellte einiges an Herausforderungen dar. W i r brauchten jemanden, der verantwortungsvoll, verlässlich, sehr geduldig u n d stark genug war, um gute dreißig Kilo durchgehenden Labrador zu halten. W i r machten eine Liste mit den N a m e n aller Freunde, N a c h b a r n u n d Kollegen, die uns einfielen, und strichen dann einen nach dem anderen aus. Partytyp. Fällt weg. Zu zerstreut. Fällt weg. Hasst Hundesabber. Fällt auch weg. Zu schüchtern, um auf einen Dackel aufzupassen, geschweige denn auf einen Labrador. Fällt weg. Allergisch. Fällt weg. N i c h t bereit, H u n d e d r e c k wegzuräumen. Fällt weg. Schließlich stand n u r noch ein einziger N a m e auf der Liste. Kathy arbeitete in meinem Büro und war Single und ungebunden. Sie liebte T i e r e und träumte davon, eines Tages ihre W o h n u n g gegen ein H a u s mit Garten einzutauschen. Sie war sportlich und ging gerne spazieren. Zugegeben, sie war schüchtern und hatte ein sanftes Wesen, was es ihr wahrscheinlich schwer machen würde, unserem Alpha-Marley ihren Willen aufzuzwingen, ansonsten jedoch war sie perfekt. U n d das Beste war, dass sie zustimmte. 104

Ich schrieb ihr eine Liste mit Anweisungen, die nicht sorgfältiger und ausgefeilter hätte sein können, wenn wir ihr ein schwer krankes Kind anvertraut hätten. Das M a r l e y - M e m o war sechs Seiten lang und lautete folgendermaßen: F Ü T T E R N : Marley bekommt dreimal am Tag jeweils zwei Messbecher Futter. D e r Messbecher ist in der T ü t e . Bitte füttere ihn morgens, wenn du aufgestanden bist, und abends, wenn du nach Hause kommst. Die Fütterung mittags übernehmen die Nachbarn. Das bedeutet sechs Messbecher pro Tag, aber wenn er sehr hungrig wirkt, gib i h m bitte einen Messbecher mehr. D e n k daran, dass alles, was hineinkommt, auch wieder hinaus muss. Siehe » G A S S I G E H E N « weiter unten. V I T A M I N E : Marley bekommt jeden M o r g e n eine Vitamintablette. Am besten lässt du sie auf den Boden fallen und tust so, als ob er sie auf keinen Fall haben dürfe. W e n n er meint, dass es verboten ist, wird er die Tablette hinunterschlingen. W e n n das aus irgendeinem G r u n d nicht funktioniert, kannst du versuchen, die Tablette in einem H u n d e k u c h e n zu verstecken. W A S S E R : Bei heißem W e t t e r muss ihm immer genug Wasser zur Verfügung stehen. W i r wechseln das Wasser in seiner Schüssel neben dem Fressnapf einmal täglich aus und füllen es wenn nötig auf. Vorsicht: Marley liebt es, die Schnauze in die Wasserschüssel zu tauchen u n d U - B o o t zu spielen. Das gibt immer eine ziemliche Schweinerei. Er kann auch erstaunlich viel Wasser in seinen Lefzen tragen, das er dann überall verteilt, wenn er losläuft. W e n n du es nicht verhinderst, wird er seine Schnauze an deiner Kleidung und am Sofa abwischen. Ein Letztes noch: N a c h einem ordentlichen Schluck Wasser schüttelt er sich gern, sodass der Sabber an den W ä n d e n , auf Lampenschirmen etc. landet. W i r versuchen das immer abzuwischen, bevor 105

es antrocknet, denn dann bekommt man es praktisch gar nicht m e h r ab. F L Ö H E U N D Z E C K E N : W e n n du Ungeziefer an ihm entdeckst, kannst du ihn mit dem Spray einsprühen, das wir bereitgestellt haben. W i r haben auch ein Insektenspray, mit dem du gegebenenfalls den Teppich etc. bearbeiten kannst. Flöhe sind klein, schnell und schwer zu fangen, aber sie gehen unserer Erfahrung nach n u r selten auf Menschen über, mach dir also keine Sorgen. Zecken sind größer und langsam, manchmal entdecken wir eine in seinem Fell. W e n n du eine entdeckst und es dir zutraust, dann fang sie und zerdrücke sie in einem Taschentuch (eventuell brauchst du dazu sogar die Fingernägel, sie sind erstaunlich zäh), oder spüle sie ins Waschbecken oder in die Toilette (falls die Zecke sich mit Blut voll gesogen hat, ist das die beste Entsorgungsmöglichkeit). Wahrscheinlich hast du davon gehört, dass Zecken gefährliche Krankheiten mit schweren Folgeschäden auf den M e n s c h e n übertragen können, aber mehrere Tierärzte haben uns versichert, dass eine Ansteckungsgefahr hier in Florida sehr gering ist. Um sicherzugehen, solltest du dir i m m e r gründlich die H ä n d e waschen, wenn du eine Zecke entfernt hast. Willst du eine Zecke aus Marleys Fell holen, dann gib ihm am besten zur Ablenkung ein Spielzeug ins Maul. D a n n nimmst du die betroffene Stelle Fell mit der einen H a n d und benutzt die Fingernägel der anderen als Pinzette. U n d wenn Marley zu sehr stinkt und du es dir zutraust, kannst du ihn im Planschbecken im Garten baden (wir haben es extra zu diesem Zweck angeschafft), aber zieh vorher einen Badeanzug an. Du wirst sicher nass! O H R E N : Marley hat immer viel Ohrenschmalz in den O h ren. W e n n man das nicht behandelt, kann es zu Infektionen k o m m e n . Wasch ihm in unserer Abwesenheit bitte zweimal mit einem Wattebausch und der blauen Waschlösung so viel 106

Schmalz wie möglich aus den O h r e n . Das ist eine ziemlich eklige Angelegenheit, am besten trägst du deshalb alte Sachen. G A S S I G E H E N : W e n n man ihn morgens nicht hinauslässt, stellt Marley in der Garage alles Mögliche an. D a m i t du deine Ruhe hast, solltest du ihn auch abends vor dem Schlafengehen noch einmal hinauslassen, aber das ist nicht unbedingt notwendig. Wahrscheinlich musst du i h m zum Spazierengehen das Kettenhalsband anlegen, n i m m es ihm danach aber immer gleich wieder ab! Er könnte sich damit strangulieren, und wie ich Marley kenne, würde er das auch schaffen. E I N F A C H E K O M M A N D O S : Marley sollte beim Spazierengehen bei Fuß gehen. Stell dich dazu rechts neben ihn, dann gibst du das K o m m a n d o : »Marley, bei Fuß!« u n d machst einen Schritt mit dem linken Fuß. Gleichzeitig ziehst du einmal stark an der Leine. Das klappt normalerweise ganz gut (er war sogar auf der Hundeschule!). W e n n er nicht an der Leine ist, folgt er normalerweise gut auf das K o m m a n d o : »Marley, hierher!« Wichtig: W e n n du ihn rufst, solltest du aufrecht stehen, nicht hocken! G E W I T T E R : Marley verliert bei Gewittern oder starken Regengüssen manchmal ein bisschen die Nerven. Seine Beruhigungstabletten sind im Arzneischrank. G i b ihm eine halbe Stunde, bevor das Gewitter über euch ist, eine Tablette (du wirst sehen, bald bist du perfekt im Wettervorhersagen!). Es ist nicht ganz einfach, Marley eine Tablette zu verabreichen. Er frisst sie nicht wie die Vitamintabletten, selbst wenn du sie auf den Boden fallen lässt und so tust, als dürfte er sie auf keinen Fall haben. Die erfolgreichste M e t h o d e besteht darin, sich über ihn zu stellen und ihm mit einer H a n d das Maul aufzustemmen. M i t der anderen schiebst du ihm die Tablette so weit wie möglich in den Rachen. Du musst es 107

bis weit in den Rachen schaffen, sonst hustet er sie wieder heraus. D a n n streich ihm so lange über die Kehle, bis er schluckt. Wahrscheinlich musst du danach aufwischen. H A U F E N E I N S A M M E L N : Unter dem Mangobaum liegt eine kleine Schaufel, mit der ich Marleys Haufen einsammle. Ob und wie oft du das tust, bleibt dir überlassen, je nachdem, wie oft du den Garten nutzen möchtest. Pass auf, wo du hintrittst! V E R B O T E N : Die folgenden Dinge erlauben wir Marley NICHT:

- Auf Möbel springen - Möbel, Schuhe, Kissen etc. ankauen - Aus der Toilette trinken (am besten lässt man den D e ckel immer unten, aber Vorsicht: Er kann ihn mit der Schnauze hochklappen!) - D e n Garten umgraben oder irgendwelche Pflanzen ausgraben. Das macht er oft, wenn er findet, dass er zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. - Mülleimer ausleeren (wahrscheinlich musst du ihn auf den Küchentisch stellen) - Leute anspringen, Menschen oder Tiere an unfeinen Stellen beschnüffeln oder sonst wie belästigen. W i r haben auch versucht, ihm abzugewöhnen, Leute in den Arm zu kneifen, denn das k o m m t meistens ganz schlecht an, wie du dir sicher vorstellen kannst. Aber er tut es manchmal trotzdem noch. Gib ihm einfach einen Klaps aufs Hinterteil und weise ihn mit einem strengen »Nein!« zurecht. - Bei Tisch betteln - Gegen die Eingangstür oder eine der Verandatüren drücken (wie du siehst, mussten wir sie schon teilweise ersetzen)

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Vielen Dank noch einmal, dass du das alles für uns übernimmst, Kathy. Du tust uns einen riesigen Gefallen. Ich weiß nicht, wie wir das Problem sonst gelöst hätten. Ich hoffe, du und Marley werdet gute Freunde, und du hast mit ihm genauso viel Spaß wie wir. Ich zeigte Jenny meine Aufzeichnungen und fragte sie, ob ich etwas vergessen hätte. Sie las sie sich genau durch und sagte dann: »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Das kannst du ihr unmöglich geben.« Sie wedelte mir mit den Blättern vor der Nase herum. »Zeig ihr das, und du kannst Irland vergessen. Sie ist die Einzige, die sich bereit erklärt hat, das für uns zu tun. W e n n sie das hier liest, ist alles gelaufen. Sie wird davonrennen und erst in Key West wieder stehen bleiben.« Für den Fall, dass ich es immer noch nicht verstanden hatte, wiederholte sie: »Was hast du dir n u r dabei gedacht?« » D u meinst also, es ist zu viel?« Aber ich war schon immer ein Freund von Ehrlichkeit und zeigte Kathy meine Liste trotzdem. Kathy zuckte zwar ein paar Mal zusammen, besonders bei dem Absatz über die Zeckenentfernung, aber sie behielt alle Befürchtungen für sich. Sie sah zwar ein wenig eingeschüchtert aus, war jedoch viel zu freundlich, um ihr Angebot zurückzunehmen. » G u t e Reise!«, sagte sie. » W i r schaffen das schon.« Irland war genau so, wie wir es uns erträumt hatten. W u n derschön, ländlich, entspannend. Das W e t t e r war die meiste Zeit herrlich sonnig, was die Einheimischen zu großer Sorge wegen einer drohenden D ü r r e bewog. W i e wir es uns vorgenommen hatten, planten wir überhaupt nichts und buchten keine einzige Rundfahrt. W i r ließen uns einfach treiben, fuhren an der Küste entlang, machten halt, um 109

einzukaufen oder zu wandern oder ein Guinness zu trinken oder einfach n u r aufs M e e r hinauszuschauen. W i r hielten an, um mit Bauern zu plaudern, die gerade ihr H e u einholten, oder um uns gegenseitig mit Schafen auf der Straße zu fotografieren. W e n n wir an einer interessanten Wegkreuzung vorbeikamen, bogen wir ab. W i r konnten uns gar nicht verfahren, weil wir ja kein festes Ziel hatten. All unsere Pflichten und Verantwortungen zu Hause waren in weite Ferne gerückt. Jeden Abend suchten wir uns eine Übernachtungsmöglichkeit. Es waren immer Zimmer, die von Privadeuten angeboten wurden, freundlichen Witwen, die uns verhätschelten, uns Tee servierten, unsere Betten machten und uns die imm e r gleiche Frage zu stellen schienen: »Wollen Sie nicht bald eine Familie gründen?« U n d dann ließen sie uns in u n serem Z i m m e r allein, nicht ohne uns vorher ein wissendes, seltsam hintergründiges Lächeln zuzuwerfen, bevor sie die T ü r hinter sich schlossen. J e n n y und ich kamen allmählich zu der Überzeugung, dass es in Irland gesetzlich vorgeschrieben war, über jedes Gästebett eine lebensgroße Abbildung des Papstes oder der Jungfrau Maria zu hängen. Manchmal auch beides. Einmal fanden wir sogar einen überdimensionalen Rosenkranz über dem Kopfende. Das Irische Keuschheitsgesetz für Reisende schrieb weiterhin vor, dass alle Betten besonders laut knarzen mussten, sobald sich einer der Übernachtungsgäste auch n u r umdrehte. Die U m g e b u n g war für amouröse Abenteuer ungefähr so geeignet wie ein Kloster. W i r waren im Haus fremder Leute - sehr katholischer Leute -, mit dünnen W ä n den, einem knarzenden Bett und Heiligen- und Marienstatuen überall, und dazu noch einer neugierigen Vermieterin, die höchstwahrscheinlich im N e b e n z i m m e r ihr O h r an die W a n d drückte. Es war wirklich der letzte O r t der Welt, um 110

Sex zu haben. Was mein Verlangen nach meiner Frau natürlich ins Unermessliche steigerte. Abends löschten wir das Licht und krochen ins Bett, die Bettfedern knarzten unter uns, und sofort schob ich meine H a n d unter Jennys Shirt. »Auf gar keinen Fall!«, flüsterte sie dann. »Warum nicht?«, flüsterte ich zurück. »Bist du verrückt? M r s O'Flaherty schläft genau auf der anderen Seite dieser Wand!« » N a und?« »Das geht nicht!« »Natürlich geht das.« »Sie wird alles hören.« »Wir sind ganz leise.« »Ja, klar!« »Ich verspreche es. W i r bewegen uns nur.« »Aber zuerst musst du ein T-Shirt über den Papst hängen«, gab sie schließlich nach. » W e n n der uns die ganze Zeit anstarrt, mache ich gar nichts.« Sex hatte plötzlich so etwas ... Verbotenes. Es war, als wäre ich wieder auf der Highschool und würde mich unter den misstrauischen Augen meiner M u t t e r davonschleichen. W e n n man in dieser U m g e b u n g Sex hatte, dann ging m a n das Risiko ein, am nächsten M o r g e n am gemeinsamen F r ü h stückstisch in eine peinliche Situation zu kommen, wenn Mrs O'Flaherty mit hochgezogenen Augenbrauen Eier und gebratene Tomaten servierte und mit einem anzüglichen Lächeln fragte: » U n d , hat das Bett Ihnen zugesagt?« Irland war von Küste zu Küste eine N o - S e x - Z o n e . U n d das war für mich Anreiz genug. W i r trieben es wie die Karnickel. Dabei machte sich J e n n y ständig Sorgen um ihr großes Baby zu Hause. Alle paar Tage fütterte sie ein Telefon mit 111

einer Handvoll Münzen, um sich bei Kathy nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ich stand dabei draußen vor der Telefonzelle und hörte Jennys Teil des Gesprächs. »Wirklich? ... Im Ernst? ... M i t t e n im Verkehr? ... Aber dir ist doch nichts passiert, oder? ... G o t t sei Dank ... Ja, ich hätte auch geschrien ... Was? Deine Schuhe? ... O nein! U n d deine Geldbörse? ... Natürlich bezahlen wir die Reparatur ... G a r nichts m e h r übrig? ... Natürlich, wir bestehen darauf, sie dir zu ersetzen ... Er hat was? ... Nasser Zement, sagst du? W i e kann denn so was passieren?« U n d so weiter und so weiter. Jeder Anruf war eine Litanei von Marleys Missetaten, eine schlimmer als die andere, viele davon überraschten sogar uns, die wir doch inzwischen leidgeprüfte Welpenbesitzer waren. Marley war der unverbesserliche Schüler u n d Kathy die unerfahrene Aushilfslehrerin. Er hatte freie Bahn. Als wir wieder zu Hause ankamen, schoss Marley aus dem Haus, um uns zu begrüßen. Kathy stand in der Tür, sie sah m ü d e und abgespannt aus. Sie hatte den leeren Blick eines erschöpften Soldaten nach einer besonders verlustreichen Schlacht. Ihre Tasche stand fertig gepackt auf der vorderen Veranda. Sie hielt ihre Autoschlüssel schon in der Hand, als könne sie es gar nicht erwarten, zu entkommen. W i r überreichten ihr unsere mitgebrachten Geschenke, dankten ihr überschwänglich und sagten, sie solle sich nur keine Gedanken wegen der kaputten T ü r e n und anderer Schäden machen. D a n n entschuldigte sie sich höflich und war fort. Soweit wir es nachvollziehen konnten, war es Kathy überhaupt nicht gelungen, Marley etwas zu befehlen oder ihn gar in den Griff zu bekommen. U n d mit jedem Sieg war er kühner geworden. Er hatte alles Bei-Fuß-Gehen vergessen und sie hingezerrt, wo er wollte. Er hatte sich geweigert, zu ihr zu kommen. Er hatte sich alles geschnappt, was ihm 112

gefiel - Schuhe, Geldbeutel, Kissen -, und es nicht wieder hergegeben. Er hatte ihr Essen vom Teller gestohlen. D e n Abfall auseinandergepflückt. Er hatte sogar versucht, ihr ihr Bett streitig zu machen. Er hatte beschlossen, dass er tun und lassen konnte, was er wollte, jetzt, wo er sturmfreie Bude hatte. U n d er würde sich von seiner sanftmütigen M i t bewohnerin nicht den Spaß verderben lassen. »Arme Kathy«, sagte Jenny. »Sie sah ziemlich geschafft aus, nicht wahr?« »Am Ende ihrer Kräfte trifft es besser.« »Wahrscheinlich sollten wir sie nicht noch einmal fragen, ob sie auf unseren H u n d aufpasst.« »Nein«, antwortete ich. »Das wäre wahrscheinlich keine gute Idee.« D a n n wandte ich mich an Marley und sagte: »Die Flitterwochen sind vorbei, Chef. Ab morgen bist du wieder im Training.« Am nächsten M o r g e n mussten wir beide wieder zur Arbeit. Aber vorher legte ich Marley das Kettenhalsband an und ging mit ihm eine Runde spazieren. Er zog sofort ab und tat nicht einmal so, als wolle er bei Fuß gehen. » W i r sind wohl ein wenig übermütig, was?«, fragte ich und riss mit aller Kraft an der Leine, sodass er das Gleichgewicht verlor. Er richtete sich wieder auf, hustete und sah mich mit einem gekränkten Gesichtsausdruck an, als wollte er sagen: Deswegen musst du nicht gleich grob werden. Kathy war es egal, wenn ich an der Leine gezogen habe. »Gewöhn dich lieber wieder daran«, sagte ich u n d ließ ihn sich hinsetzen. Ich rückte die Kette zurecht, sodass sie weit oben am Hals saß, wo sie meiner Erfahrung nach die größte Wirkung hatte. »Okay, versuchen wir es n o c h einmal«, sagte ich. Er sah mich skeptisch an. »Marley, bei Fuß!«, befahl ich und machte einen entschie113

denen Schritt mit meinem linken Fuß. Ich hielt die Leine so kurz, dass meine linke H a n d an der Kette lag. Er zerrte, und ich riss ihn scharf zurück, sodass sich das Halsband fester zuzog. »Eine arme Frau so auszunützen«, murmelte ich. »Du solltest dich schämen.« Gegen Ende unseres Spaziergangs hielt ich die Leine so fest in der H a n d , dass meine Knöchel weiß hervortraten, aber ich hatte ihn endlich so weit, dass er keinen Unsinn m e h r machte. Das war kein Spiel, sondern vielmehr eine Lektion fürs Leben darüber, was für Folgen manche Handlungen haben konnten. W e n n er losrasen wollte, blieb ihm die Luft weg. Jedes Mal, ohne Ausnahme. W e n n er aber mitmachte und an meiner Seite blieb, ließ ich locker und das Halsband hing lose um seinen Hals. Ziehen, gewürgt werden; bei Fuß gehen, atmen. Das konnte sogar Marley verstehen. W i r wiederholten diese Ü b u n g immer wieder, als wir den Fahrradweg auf und ab gingen. Langsam schien ihm zu dämmern, dass ich der H e r r und er der H u n d war, und so sollte es auch bleiben. Als wir wieder in unsere Einfahrt bogen, trabte mein widerspenstiger H u n d brav neben mir her, nicht perfekt, aber annehmbar. Z u m ersten Mal in seinem Leben ging er wirklich bei Fuß, oder zumindest etwas Ahnliches. »O ja«, sang ich fröhlich, »der Boss ist wieder da.« Ein paar Tage später rief mich Jenny im Büro an. Sie war gerade bei Dr. Sherman gewesen. »Irischer Segen«, sagte sie. »Nächster Versuch.«

ELF

Man ist, was man frisst

D

iese Schwangerschaft war anders. W i r hatten einiges aus unserer Fehlgeburt gelernt, und diesmal wollten wir nicht wieder dieselben Fehler machen. Vor allem hielten wir die Schwangerschaft diesmal besser geheim als jedes Staatsgeheimnis. Außer Jennys Ärzten u n d den Arzthelferinnen wusste niemand davon, nicht einmal unsere Eltern. W e n n Freunde zu Besuch waren, trank J e n n y Grapefruitsaft aus einem Weinglas, um keinen Verdacht zu erregen. D u r c h diese Geheimhaltung blieb natürlich auch unsere Vorfreude gedämpft, auch wenn wir unter uns waren. W i r begannen unsere Sätze mit Einschränkungen wie: » W e n n alles gut g e h t . . . « und »Angenommen, alles geht gut . . . « E s war, als könnten wir einen Fluch über die Schwangerschaft bringen, bloß indem wir darüber jubelten. W i r wollten unsere Freude beherrschen, damit sie nicht ins Gegenteil umschlagen und uns zerschmettern konnte. W i r schlossen alle chemischen Reinigungsmittel und Insektensprays weg. Das würde uns diesmal nicht wieder passieren. Jenny wurde eine überzeugte Anhängerin der natürlichen Putzkraft von Essig, womit sie sogar Marleys angetrockneten Speichel von den W ä n d e n bekam. W i r fanden heraus, dass wir Marley und sein Körbchen mit Borsäure, einem weißen Pulver, das für Insekten tödlich, für Menschen jedoch harmlos war, flohfrei halten konnten. U n d wenn er 115

wirklich einmal eine gründliche Flohbehandlung brauchte, dann würden wir das Profis überlassen. J e n n y stand jeden M o r g e n in aller Frühe auf und ging mit Marley eine Runde am Wasser spazieren. W e n n sie zurückkamen, wachte ich gerade erst auf. Sie dufteten dann nach salziger Meerluft. Meine Frau war die Gesundheit in Person - mir einer Ausnahme: Ihr war ständig übel. Doch sie beschwerte sich nicht; sie begrüßte vielmehr jeden neuen Anfall von Übelkeit mit freudigem Einverständnis, denn er war ein Zeichen dafür, dass das zerbrechliche kleine Experim e n t in ihr friedlich seinen Lauf nahm. U n d das tat es. Diesmal nahm Essie meine Videokassette und zeichnete die ersten blassen, verschwommenen Bilder von unserem Baby auf. W i r konnten das kleine H e r z schlagen sehen, die vier K a m m e r n pulsierten. W i r konnten die Umrisse des kleinen Kopfes erkennen und alle vier Gliedmaßen sehen. Dr. Sherman steckte den Kopf durch die T ü r des Sprechzimmers, um zu verkünden, dass alles in O r d n u n g war. D a n n sah er Jenny an und sagte mit seiner tiefen Stimme: » W a r u m weinen Sie denn, Kind? Sie sollten sich freuen.« Essie gab ihm einen leichten Schlag mit dem Clipboard und schimpfte: » N u n lassen Sie sie mal in Ruhe«, dann sah sie J e n n y an und verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: »Männer! Sie haben einfach keine Ahnung!« Hinsichtlich des U m g a n g s mit schwangeren Ehefrauen hatte ich tatsächlich keine Ahnung. Ich ließ Jenny ihre Ruhe, litt mit ihr, wenn ihr schlecht war oder sie Schmerzen hatte, und versuchte, meine Mimik im Griff zu behalten, wenn sie darauf bestand, mir laut aus ihrem Buch mit dem Titel Was Sie bei einer Schwangerschaft erwartet vorzulesen. Als ihr Bauch dicker wurde, machte ich ihr Komplimente zu ihrer Figur und sagte Dinge wie: » D u siehst toll aus, wirklich. W i e ein schlanker, kleiner Ladendieb, der gerade einen Basket116

ball unter sein T-Shirt geschoben hat.« Ich tat mein Bestes, ihr immer absurder und irrationaler werdendes Benehmen auszuhalten. Bald hatte ich Freundschaft mit dem N a c h t schichtpersonal des Supermarktes geschlossen, weil ich zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeikam, um Eiscreme, Apfel, Sellerie oder Kaugummi in Geschmacksrichtungen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, zu kaufen. »Sind Sie sicher, dass das Nelke ist?«, fragte ich den Verkäufer an der Kasse zum Beispiel. »Sie besteht auf Nelkenkaugummis.« Eines Abends, als Jenny ungefähr im fünften M o n a t war, bildete sie sich auf einmal ein, dass wir unbedingt Babysocken brauchten. Na klar, stimmte ich zu, und wir würden uns eine ganze Batterie von Babysocken zulegen, bevor das Baby kam. Aber sie meinte nicht, dass wir sie irgendwann später brauchten. Sie meinte, dass wir sie sofort brauchten. »Wir haben überhaupt nichts, was wir dem Baby über die Füße ziehen können, wenn wir aus dem Krankenhaus nach Hause kommen!«, sagte sie mit zitternder Stimme. Wen interessierte es schon, dass es bis zum errechneten Termin noch vier M o n a t e waren? U n d dass die A u ß e n t e m p e ratur bis dahin frostige fünfunddreißig Grad erreicht haben würde? Jeder noch so unerfahrene werdende Vater wusste, dass die Babys von Kopf bis Fuß in ein Tuch gewickelt wurden, ehe sie aus der Wochenstation entlassen wurden. D o c h wen interessierte das? »Liebling, k o m m schon, sei doch vernünftig«, versuchte ich es. »Es ist Sonntagabend, wo soll ich denn jetzt Babysocken herbekommen?« »Wir brauchen Socken!«, wiederholte sie. »Wir haben doch noch wochenlang Zeit, Socken zu kaufen!«, gab ich zurück. »Sogar Monate!« »Ich sehe immer diese winzig kleinen Z e h e n vor mir«, schniefte sie. 117

Es hatte keinen Sinn, ich setzte mich ins Auto und irrte schimpfend herum, bis ich einen großen Supermarkt fand, der offen hatte. Ich wählte ein Sockenpaket in fröhlichen Farben, so lächerlich klein, dass sie aussahen wie Daumenwärmer. Als ich nach Hause kam und sie vor Jenny aus der T ü t e leerte, war sie endlich zufrieden. Endlich hatten wir Socken. U n d G o t t sei D a n k hatten wir gerade noch die letzten Exemplare aufgetrieben, ehe der nationale Sockennotstand ausgerufen wurde, was jeden M o m e n t ohne Vorwarnung geschehen konnte. Die zerbrechlichen kleinen Zehen unseres Babys waren n u n sicher. W i r konnten ins Bett gehen und beruhigt schlafen. W ä h r e n d die Schwangerschaft voranschritt, machte auch Marleys Training Fortschritte. Ich arbeitete jeden Tag mit ihm und unterhielt unsere Freunde damit, dass ich »Platz!« rief u n d Marley sich auf den Boden fallen ließ, alle viere von sich gestreckt. Er kam verlässlich auf K o m m a n d o (außer irgendetwas lenkte seine Aufmerksamkeit ab, etwas wie ein anderer H u n d , eine Katze, ein Eichhörnchen, ein Schmetterling, der Postbote oder ein fliegender Löwenzahnsamen). Er setzte sich auf K o m m a n d o hin (außer er verspürte den starken Drang, zu stehen) und lief verlässlich bei Fuß (außer er sah etwas so Verführerisches, dass er bereit war, sich dafür zu strangulieren - andere H u n d e , Katzen, Eichhörnchen etc. s. o.). Er machte Fortschritte, aber deswegen verwandelte er sich keineswegs in einen ruhigen, wohl erzogenen H u n d . W e n n ich mich über ihn stellte und ihm strenge Befehle gab, gehorchte er, manchmal sogar ganz eifrig. Aber im Grunde war und blieb er einfach unverbesserlich. Er entwickelte einen unstillbaren Appetit auf Mangos, die massenweise in unserem Garten hinter dem Haus auf den Boden fielen. Sie wogen reichlich ein Pfund und waren so 118

süß, dass einem die Z ä h n e wehtaten. Marley streckte sich mit Vorliebe im Gras aus, nahm eine M a n g o zwischen seine Vorderpfoten und löste minutiös jedes G r a m m Fruchtfleisch von der Schale ab. Er lutschte darauf herum wie auf einem Hustenbonbon, und wenn er die Schale wieder ausspuckte, war sie so blank, als hätte man sie in eine Säure getaucht. Manchmal verbrachte er Stunden da draußen, versunken in seinem Mangoparadies. W i e bei jedem anderen, der zu viel Obst isst, hatte Marleys übermäßiger M a n g o k o n s u m Auswirkungen auf seine Verdauung. Bald war unser Garten mit großen, auffällig gefärbten Hundehaufen übersät. Einen Vorteil hatte das: M a n musste schon wirklich blind sein, um aus Versehen hineinzutreten. W ä h r e n d der Mangoernte waren sie weithin sichtbar, wie orangefarbene Verkehrskegel. Natürlich fraß er auch andere Dinge. U n d die fanden ebenso ihren W e g hinaus. Jeden M o r g e n , wenn ich seine Haufen aufsammelte, sah ich das Ergebnis. H i e r ein kleiner Plastikspielzeugsoldat, dort ein G u m m i b a n d . In einem H a u fen fand ich den zerbissenen Verschluss einer Limonadenflasche. In einem anderen die zerkauten Uberreste eines Kugelschreibers. »Hier ist also mein K a m m gelandet!«, rief ich eines Morgens aus. Er fraß Handtücher, Badeschwämme, Socken, gebrauchte Taschentücher. Besonders gerne mochte er Geschirrspüllappen. W e n n die am anderen E n d e wieder herauskamen, sahen sie auf den orangefarbenen Haufen aus wie kleine blaue Fahnen. Nicht alles war so leicht zu verdauen. Marley kotzte wie ein Bulimiekranker. Oft hörten wir aus dem N e b e n z i m mer ein herzhaftes Gaaaaargl, und wenn wir dann hineingestürmt kamen, fanden wir wieder irgendeinen Gegenstand, inmitten eines Haufens halb verdauter M a n g o und H u n d e 119

futter. Umsichtigerweise kotzte Marley niemals auf die Dielen oder auf das Linoleum in der Küche, wenn er es verhindern konnte. Er zielte immer auf den Perserteppich. J e n n y und ich hatten den verwegenen Gedanken, dass es doch schön wäre, einen H u n d zu haben, den man für kurze Zeit auch mal alleine zu Hause lassen könnte, ohne dass er das ganze H a u s auseinander nahm. W i r waren es allmählich leid, Marley jedes Mal in die Garage zu sperren, wenn wir weggingen, und wie J e n n y es so schön ausdrückte: »Wozu hat man einen H u n d , wenn er nicht einmal an die T ü r komm e n kann, um einen beim H e i m k o m m e n zu begrüßen?« Es war klar, dass wir ihn niemals alleine zu Hause lassen durften, wenn ein Gewitter im Anzug war. Selbst unter Hundedrogen erwies er sich noch als äußerst ausdauernd, wenn es darum ging, sich bei Gefahr energisch nach China durchzugraben. Bei schönem Wetter jedoch wollten wir ihn nicht jedes Mal in die Garage sperren müssen, wenn wir kurz mal das Haus verließen. W i r fingen zunächst damit an, ihn kurz allein zu lassen, wenn wir zum Einkaufen fuhren oder bei den Nachbarn vorbeischauten. Manchmal war er guter Dinge und wir fanden das H a u s bei unserer Rückkehr unbeschadet vor. An solchen Tagen konnten wir sehen, wie er sich seine schwarze H u n deschnauze an der Scheibe hinter den kleinen Jalousien im W o h n z i m m e r platt drückte, während er nach uns Ausschau hielt. An anderen Tagen lief es nicht so gut. W i r sahen schon von weitem, dass etwas nicht in O r d n u n g war, weil Marley uns nicht am Fenster erwartete, sondern sich irgendwo versteckte. Als J e n n y im sechsten M o n a t schwanger war, kamen wir eines Tages nach Hause und fanden Marley unter dem Bett - was bei seiner G r ö ß e nicht einfach war. Er sah so 120

schuldbewusst aus, als hätte er gerade den Postboten u m g e bracht. Aus jeder Pore strömte uns Schuldbewusstsein entgegen. Das Haus sah in O r d n u n g aus, aber wir wussten, dass er ein dunkles Geheimnis hatte, also gingen wir auf der Suche nach den Spuren seiner Missetat von Z i m m e r zu Zimmer. Dann sah ich, dass der Schutzüberzug einer der Boxen unserer Stereoanlage fehlte. W i r suchten überall danach. Er war spurlos verschwunden. Marley wäre vielleicht ungeschoren davongekommen, hätte ich nicht am nächsten M o r g e n in einem seiner Hundehaufen untrügliche Beweise gefunden. N o c h tagelang fand ich Reste des Überzugs im Garten. Als wir das nächste Mal außer H a u s waren, entfernte Marley sorgfältig das Lautsprechergehäuse. D e r Lautsprecher war nicht umgeworfen oder anderweitig beschädigt, es fehlte nur das Gehäuse, als hätte jemand es mit einer Rasierklinge weggeschnitten. Schließlich n a h m er sich auch den zweiten Lautsprecher vor. Ein anderes Mal kamen wir nach Hause und stellten fest, dass unser ehemals vierbeiniger H o cker nun dreibeinig war. D o c h nirgends war auch n u r ein Span des fehlenden Beins zu finden. W i r hätten schwören können, dass es in Südflorida niemals schneit, eines Tages jedoch öffneten wir die T ü r zum Wohnzimmer und fanden einen wahren Schneesturm vor. Überall flogen weiße Federn herum. D u r c h das Gestöber hindurch konnten wir Marley entdecken, der mitten in einer Feder-Wehe vor dem Kamin stand und wild ein riesiges Kissen schüttelte, als hätte er gerade einen Strauß erlegt. Meistens versuchten wir, den Schaden gelassen zu n e h men. Im Leben eines jeden Hundebesitzers gibt es früher oder später den Verlust des einen oder anderen geliebten Erbstückes zu beklagen. N u r ein einziges Mal war ich kurz davor, ihn aufzuschlitzen, um mir wiederzuholen, was mir gehörte. 121

Ich hatte J e n n y zum Geburtstag eine achtzehnkarätige Goldkette geschenkt, feingliedrig, mit einem zarten Verschluss. Sie hatte sie sofort angelegt. N u r wenige Stunden später griff sie sich entsetzt an den Hals und rief: »Meine Kette! Sie ist weg!« D e r Verschluss musste aufgegangen sein, vielleicht hatte sie ihn auch nicht richtig geschlossen. »Keine Panik!«, sagte ich zu ihr. » W i r haben das Haus nicht verlassen. Sie muss hier irgendwo sein.« U n d wir durchkämmten das Haus, Z i m m e r um Zimmer. Während wir suchten, fiel mir auf, dass Marley wilder war als sonst. Ich richtete mich auf und sah ihn an. Er krümmte sich wie ein Tausendfüßler. Als er merkte, dass ich ihn fixierte, versuchte er mir auszuweichen. 0 nein!, dachte ich - der Marley-Mambo! Das konnte nur eines bedeuten. »Was hängt ihm da aus dem Maul?«, fragte Jenny mit wachsender Panik in der Stimme. Etwas Dünnes, Feingliedriges. U n d golden. » O h , verdammt!«, sagte ich. »Keine plötzlichen Bewegungen!«, befahl sie im Flüsterton. W i r erstarrten an O r t und Stelle. »Okay, Junge, alles in O r d n u n g « , schmeichelte ich ihm. Ich klang wie ein Versicherungsvertreter. »Wir sind gar nicht böse auf dich. K o m m einfach her. W i r wollen nur die Kette zurück.« Instinktiv versuchten Jenny und ich, ihn mit vorsichtigen Bewegungen von zwei Seiten einzukreisen. W i r benahmen uns, als wäre er komplett vermint und eine falsche Bewegung könnte ihn zur Explosion bringen. »Braver Marley«, sagte J e n n y in ihrem freundlichsten Ton, »braver H u n d . Lass einfach die Kette fallen, dann ist alles in Ordnung.« Marley sah uns misstrauisch an und warf den Kopf hin und her. W i r hatten ihn in die Ecke getrieben, doch er wusste, dass er etwas hatte, was wir haben wollten. Ich konnte sehen, wie er seine Chancen abwog, gleichsam eine Lösegeldforde122

rung entwarf. Liefert mir zweihundert unregistrierte Hundekuchen in einer unauffälligen Papiertüte, sonst seht ihr eure kostbare kleine Kette nie wieder! »Marley, gib das her«, flüsterte ich und machte einen kleinen Schritt auf ihn zu. Sein ganzer Körper wackelte hin u n d her. Ich schlich mich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Beinahe unmerklich schob sich Jenny von der Seite dichter an ihn heran. W i r waren schon nah genug, um ihn zu berühren. Dann sahen wir uns an und wussten; ohne es zu sagen, was zu tun war. W i r hatten das P r o g r a m m zur W i e d e r b e schaffung entwendeten Eigentums schon oft genug durchgespielt. Sie würde sich von hinten auf ihn werfen und ihn an den Hinterbeinen festhalten, damit er nicht e n t k o m m e n konnte. Ich würde mich auf seinen Kopf stürzen, ihm die Kiefer aufstemmen und die W a r e retten. M i t ein bisschen Glück war alles in wenigen Sekunden vorbei. Das war unser Plan, und Marley ahnte es. W i r waren n u r noch einen halben M e t e r von ihm entfernt. Ich nickte J e n n y zu und formte mit den Lippen die Worte: »Auf drei!« D o c h noch ehe wir uns auf ihn stürzen konnten, warf er den Kopf zurück und schluckte hörbar. Das Ende der Goldkette, das ihm noch aus dem Maul gehangen hatte, war verschwunden. » E r frisst sie auf!«, schrie Jenny. W i r warfen uns auf ihn, Jenny auf seine Hinterbeine und ich auf seinen Kopf. Ich sperrte ihm den Kiefer auf und schob meine H a n d weit in seinen Rachen. Ich suchte jede Hautfalte ab, erfolglos. » Z u spät«, sagte ich. » E r hat sie runtergeschluckt.« Jenny fing an, ihm fest auf den Rücken zu klopfen und zu schreien: »Spuck sie aus, verdammt noch mal!« Aber es war zwecklos. Sie bekam nicht m e h r aus ihm heraus als einen zufriedenen Rülpser. Marley mochte zwar diese Runde gewonnen haben, aber wir wussten, dass es n u r eine Frage der Zeit war, bis wir zu 123

unserem Recht k o m m e n würden. D e r Lauf der N a t u r war auf unserer Seite. Früher oder später musste alles wieder herauskommen. So eklig der Gedanke auch war: Irgendwann würde ich in seinen Haufen fündig werden. W ä r e es eine silberne oder eine vergoldete Kette gewesen, irgendetwas, das nicht ganz so wertvoll war, dann hätte ich mich wohl nicht dazu durchringen können. Aber diese Kette war aus purem Gold gewesen und hatte mich ein kleines Vermögen gekostet. Eklig oder nicht, ich würde die Kette suchen. U n d so bereitete ich Marley sein liebstes Abführmittel zu - eine riesige Schüssel mit überreifen, in Scheiben geschnittenen Mangos - und wartete ab. Drei Tage lang blieb ich ihm dicht auf den Fersen, wenn ich ihn hinausließ, imm e r mit einer einsatzbereiten Schaufel. Anstatt seine H a u fen über den Zaun zu werfen, lud ich jeden einzelnen auf einem großen Brett im Gras ab, rührte mit einem Ast darin h e r u m und spritzte ihn mit einem Gartenschlauch ab, sodass allmählich alle Verdauungsreste im Gras landeten und nur die fremden Objekte übrig blieben. Ich kam mir vor wie ein Goldgräber, der an einer Rinne arbeitete und einen beachtlichen F u n d von heruntergeschluckten Abfällen machte, von Schnürsenkeln bis zu Gitarrenplektren. Aber keine Goldkette. Wo zum Teufel war sie? H ä t t e sie nicht inzwischen schon herauskommen müssen? Ich fragte mich allmählich, ob ich sie übersehen und versehentlich ins Gras gespült hatte, wo sie für immer verschollen bleiben würde. Aber wie hätte ich eine zwanzigkarätige Goldkette übersehen sollen? J e n n y verfolgte meine Suchaktion von der Terrasse aus mit gespanntem Interesse. »Hey, Goldgräber, schon Glück gehabt?«, rief sie laut. Am vierten Tag schließlich zahlte sich meine Ausdauer aus. Ich rührte gerade in Marleys letztem Haufen und murmelte mein obligatorisches »Ich kann nicht glauben, was 124

ich hier tue«, spülte die stinkende Masse weg und suchte nach einer Spur der Kette. Nichts. Ich wollte schon aufgeben, als ich etwas Seltsames entdeckte: einen kleinen braunen Klumpen, etwa so groß wie eine weiße Bohne. Er war kaum groß genug, um darin den verschwundenen Schatz zu vermuten, dennoch schien er irgendwie nicht in diesen H a u fen zu gehören. Ich hielt ihn mit meinem Ast, den ich offiziell »Shit-Stick« getauft hatte, fest und richtete den Strahl des Gartenschlauchs darauf. Als das Wasser den K l u m p e n sauber gewaschen hatte, erkannte ich den Schimmer von etwas außerordentlich Glänzendem und Funkelndem. H e u reka! Ich war auf Gold gestoßen. Die Kette war zu einem u n kenntlichen Haufen zusammengepresst, viel kleiner, als ich es jemals für möglich gehalten hatte. Es war, als hätte eine fremde außerirdische Macht, vielleicht ein schwarzes Loch, die Kette in eine geheimnisvolle Zeit-Raum-Dimension gesogen, ehe sie sie wieder ausgespuckt hatte. U n d irgendwie stimmte das ja auch. D e r Wasserstrahl wusch Schicht um Schicht Dreck ab, und allmählich gewann der Goldklumpen seine ursprüngliche F o r m zurück, die Kette schien vollkommen unbeschadet. So gut wie neu. Nein, besser als neu. Ich trug sie ins H a u s und zeigte sie Jenny. Sie war außer sich vor Freude, trotz des zweifelhaften Abenteuers, das das Schmuckstück hinter sich hatte. W i r wunderten uns beide, wie unglaublich die Kette glänzte, viel auffälliger als bei ihrem Abgang. Marleys Magensäure hatte eine erstaunliche Wirkung gezeigt. Es war das glänzendste Gold, das ich je gesehen hatte. » M a n n « , rief ich aus und pfiff anerkennend. »Wir sollten eine Schmucksäuberungs-Firma eröffnen!« »Wir könnten ein Mordsgeschäft mit den alten W i t w e n in Palm Beach machen!«, stimmte J e n n y mir zu. »Ja, Ladys«, verkündete ich in meiner überzeugendsten Vertreterstimme, »unser Geheimpatent finden Sie in kei125

n e m Fachhandel! Die eingetragene Marley-Methode wird Ihren geschätzten Schmuckstücken eine Brillanz verleihen, die Sie niemals für möglich gehalten hätten!« » D a steckt Potential drin, G r o g a n « , sagte Jenny und ging ins H a u s , um ihr wiedergefundenes Geburtstagsgeschenk zu desinfizieren. Sie trug diese Kette jahrelang, und jedes Mal, wenn mein Blick darauf fiel, kam die Erinnerung an meine kurze, extrem erfolgreiche Goldgräberkarriere wieder hoch. Ich und mein treuer Shit-Stick hatten dort gesucht, wo noch kein Mensch zuvor gesucht hatte. U n d wo gewiss auch nie wieder jemand suchen würde.

ZWÖLF

Das Notbett

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an bekommt schließlich nicht jeden Tag sein erstes Kind, darum n a h m e n wir die Gelegenheit sofort wahr, als uns das St. Mary's Hospital von Palm Beach das Angebot machte, gegen Aufpreis ein luxuriöses Gebärzimmer zu mieten. Die Räume glichen teuren Hotelzimmern, groß, hell und mit Holzmöbeln ausgestattet, an den W ä n d e n Blumentapeten, passende Vorhänge, eine große Badewanne und für Papa eine gemütliche Schlafcouch. Statt des üblichen Krankenhausessens konnten die »Gäste« zwischen verschiedenen Gourmetgerichten wählen. M a n konnte sogar eine Flasche Champagner bestellen, aber die mussten die Väter dann meistens alleine austrinken, da m a n den stillenden M ü t t e r n nahelegte, nicht m e h r als einen Schluck zum Anstoßen auf das große Ereignis zu trinken.

»Mann, das ist ja wie in den Ferien!«, rief ich aus und ließ mich auf die Couch fallen, als wir ein paar W o c h e n vor J e n nys errechnetem Termin eine Besichtigungstour machten. Die Suiten waren auf Yuppies zugeschnitten und stellten für das Krankenhaus eine wichtige zusätzliche E i n n a h m e quelle dar. Paare mit Geld erkauften sich hier einen Standard, der über die üblichen Leistungen der Krankenkassen in der Geburtshilfe hinausging. Das war natürlich ein L u xus, aber warum nicht? Als Jennys großer Tag schließlich da war und wir mit unse127

rer gepackten Tasche im Krankenhaus ankamen, sagte man uns, dass es da ein kleines Problem gäbe. »Ein Problem?«, fragte ich. » H e u t e muss ein guter Tag zum Kinderkriegen sein«, erklärte die D a m e am Empfang fröhlich. »Alle Gebärsuiten sind bereits belegt.« Belegt? Dies war der wichtigste Tag in unserem Leben. Was war mit dem bequemen Sofa und dem romantischen D i n n e r mit Champagner? » M o m e n t mal«, beschwerte ich mich. » W i r haben schon vor W o c h e n reserviert!« »Tut mir leid«, erwiderte die Dame, sichdich ohne besonderes Mitgefühl. » W i r haben es leider nicht in der Hand, wann bei den Frauen die W e h e n einsetzen.« Da hatte sie allerdings Recht. Sie konnte ja niemanden zur Eile antreiben. Sie schickte uns auf ein anderes Stockwerk, wo m a n uns ein normales Krankenzimmer zuwies. Doch als wir auf der Geburtsstation ankamen, hatte die Schwester dort noch eine schlechte Nachricht für uns. »Können Sie sich vorstellen, dass kein einziges Z i m m e r mehr frei ist?« N e i n , das konnten wir nicht. Jenny schien das Ganze locker zu nehmen, aber ich reagierte langsam etwas gereizt. »Was schlagen Sie vor, den Parkplatz?«, fragte ich. Die Schwester lächelte mich gelassen an, offensichdich war sie solche Sprüche von nervösen werdenden Vätern gewohnt. Sie sagte nur: »Keine Sorge. W i r finden schon einen Platz für Sie.« N a c h m e h r e r e n Telefonaten schickte sie uns einen langen G a n g hinunter. W i r gingen durch zahlreiche Glastüren und standen schließlich wieder in einer Geburtsstation, ganz ähnlich der, die wir gerade verlassen hatten, aber mit einem offensichtlichen Unterschied - die Patienten hier waren eindeutig alles andere als die reichen Yuppiepaare, die wir im Geburtsvorbereitungskurs getroffen hatten. W i r hörten, wie die Schwestern Spanisch mit den Frauen sprachen. 128

Im Gang vor den Z i m m e r n warteten dunkelhäutige M ä n ner und spielten nervös mit ihren Strohhüten. Palm Beach County ist als Spielwiese für die Reichen bekannt, weit weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, dass es dort auch riesige Farmen gibt, die sich über die trockengelegten Sümpfe der Everglades westlich der Stadt erstrecken. Tausende von eingewanderten Arbeitern, die meisten aus Mexiko u n d M i t telamerika, pilgern jedes J a h r zur Erntezeit nach Südflorida, um dort Paprika, Tomaten, Salat und Sellerie zu ernten u n d damit den Wintervorrat an Gemüse für die Ostküste zu sichern. Offenbar hatten wir herausgefunden, wo die Gastarbeiter ihre Babys bekamen. I m m e r wieder durchschnitt der qualvolle Schrei einer Frau die Luft, gefolgt von furchtbarem Stöhnen und lauten »Mi madre!«-Ruien. Es war wie im Horrorkabinett. J e n n y war weiß wie die Wand. Die Schwester führte uns in eine kleine Kammer, in der ein Bett, ein Stuhl und eine Reihe elektronischer M o n i t o r e standen. D a n n reichte sie J e n n y ein H e m d . »Na, dann kann es ja losgehen!«, rief Dr. Sherman fröhlich, als er ein paar M i n u t e n später hereinstürmte. »Lassen Sie sich von der kargen Einrichtung hier nicht abschrecken«, sagte er. Diese Station verfüge über eine hervorragende m e dizinische Ausstattung, und die Schwestern wären bestens ausgebildet. Da arme Frauen meist nicht die Möglichkeit hatten, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, hatten sie oft Risikoschwangerschaften. W i r wären also in den besten Händen, versicherte Dr. Sherman, als er Jennys Fruchtblase sprengte. D a n n verschwand er wieder so schnell, wie er gekommen war. Tatsächlich stellten wir fest, dass wir gut aufgehoben waren, als der Vormittag voranschritt und J e n n y sich durch schreckliche W e h e n kämpfte. Die Schwestern waren erfahrene H e b a m m e n , die eine Atmosphäre von Vertrauen und 129

W ä r m e verbreiteten. Sie wachten aufmerksam über Jenny, überprüften den Herzschlag des Babys und gaben ihr Anweisungen. Ich stand hilflos daneben und versuchte irgendwie von N u t z e n zu sein, aber es war sinnlos. Irgendwann knurrte mich Jenny mit zusammengebissenen Zähnen an: » W e n n du mich noch ein einziges Mal fragst, wie es mir geht, REISSE I C H D I R D E N K O P F AB!« Ich muss verletzt ausgesehen haben, denn eine der Schwestern kam auf meine Seite des Bettes, drückte mir mitfühlend die Schulter und sagte: »Willkommen bei der Geburt, Dad. Das gehört alles dazu.« Ich schlich mich aus dem Z i m m e r und gesellte mich zu den anderen wartenden M ä n n e r n auf dem Gang. Jeder lehnte an der W a n d neben der entsprechenden Tür, während unsere Frauen schrien und stöhnten. Ich kam mir ein wenig lächerlich vor in meinem Poloshirt, den Khakishorts und den Segelschuhen, aber die Farmarbeiter schienen meinen Aufzug nicht zu bemerken. Bald lächelten und nickten wir uns wissend zu. Sie konnten kein Englisch und ich konnte kein Spanisch, doch das spielte keine Rolle. W i r saßen im selben Boot. O d e r beinahe. An diesem Tag lernte ich, dass Schmerzmittel in Amerika ein Luxus und keine Notwendigkeit sind. F ü r diejenigen, die es sich leisten konnten oder deren Krankenkasse es bezahlte, wie das bei unserer der Fall war, bot das Krankenhaus Peridualanästhesien an, bei denen das Schmerzmittel direkt ins Rückenmark gespritzt wird. N a c h dem J e n n y ungefähr vier Stunden in den W e h e n gelegen hatte, kam ein Anästhesist, setzte ihr eine lange Nadel an der Wirbelsäule und schloss eine Infusion an. N a c h wenigen M i n u t e n war J e n n y von der Taille abwärts taub und konnte sich entspannen und ausruhen. Die mexikanischen Frauen nebenan hatten nicht so viel Glück. Sie mussten das Gan130

ze wie früher bis zum Ende durchstehen, und ihre Schreie durchschnitten die Luft. Die Stunden vergingen. J e n n y presste, u n d ich feuerte sie an. Als es dunkel wurde, trat ich mit einem winzigen, verschnürten Paket in den G a n g hinaus. Ich hob meinen n e u g e borenen Sohn über den Kopf, damit meine neuen Freunde ihn sehen konnten, und rief: »Es el nino!« Die anderen Väter lachten fröhlich und reckten in international verständlicher Geste ihre D a u m e n nach oben. Anders als bei unserem hitzigen Streit um den N a m e n für unseren H u n d waren wir uns schnell einig, wie wir unseren ersten Sohn n e n n e n wollten. Als erster Spross der aus dem irischen C o u n t y L i m e rick nach Amerika eingewanderten Familie G r o g a n würde er Patrick heißen. Eine H e b a m m e kam in unsere K a m m e r und verkündete, jetzt wäre eine Geburtssuite frei. Es war unsinnig, jetzt noch das Z i m m e r zu wechseln, aber sie half Jenny in einen Rollstuhl, legte ihr unseren Sohn in den A r m und rauschte mit uns davon. Das G o u r m e t - D i n n e r wurde seinem N a m e n nicht gerecht. In den Wochen vor dem Geburtstermin hatten J e n n y und ich lange strategische Diskussionen darüber geführt, wie wir Marley am besten auf die Ankunft unseres neuen Familienmitglieds vorbereiten könnten. D e n n zweifelsohne würde unser Kind ihm seinen Ehrenplatz in unserer Familie streitig machen. W i r wollten ihm das schonend beibringen. W i r hatten Geschichten über H u n d e gehört, die schrecklich eifersüchtig auf den Familiennachwuchs reagiert und sich u n möglich b e n o m m e n hatten - die U n t a t e n reichten von dem Markieren wertvoller Gegenstände über das Umwerfen von Babybadewannen bis hin zu regelrechten Angriffen -, und schließlich im Tierheim gelandet waren. Als wir das leer stehende Schlafzimmer in ein Kinderzimmer verwandelten, 131

ließen wir Marley sämtliche Ausstattung gründlich beschnüffeln, einschließlich der Wiege, dem Kinderbett und verschiedenen anderen Utensilien zur Babypflege. Er schnüffelte u n d sabberte und schleckte so lange, bis seine Neugier gestillt war. In den sechsunddreißig Stunden, die Jenny sich nach der G e b u r t im Krankenhaus erholte, fuhr ich regelmäßig nach Hause zu Marley, ausgerüstet mit Leintüchern und allem anderen, das den Geruch unseres Babys an sich trug. Einmal brachte ich sogar eine winzige gebrauchte W i n del mit nach Hause, an der Marley so begeistert schnüffelte, dass ich schon Angst hatte, er würde sie durch die Nasenlöcher aufsaugen und teure medizinische Hilfe brauchen. Als ich schließlich M u t t e r und Kind mit nach Hause brachte, ließ sich Marley nicht weiter stören. Jenny stellte den schlafenden Patrick in seinem Autositz in die Mitte unseres Bettes und folgte mir dann zu Marley in die Garage, um ihn zu begrüßen. W i r feierten ein überschwängliches Wiedersehen. Als Marley nicht mehr verrückt und wild vor Freude, sondern nur noch verzweifelt glücklich war, nahmen wir ihn mit ins Haus. W i r hatten vor, einfach zur Tagesordn u n g überzugehen und ihm das Baby gar nicht ausdrücklich zu zeigen. W i r würden immer in seiner N ä h e bleiben und ihn die Anwesenheit des Neuankömmlings allmählich selbst entdecken lassen. Marley folgte Jenny ins Schlafzimmer und-vergrub seine Nase tief in ihrer Tasche, während sie auspackte. Er hatte ganz offensichdich keine Ahnung, dass da ein lebendiges Wesen auf unserem Bett saß. D a n n bewegte sich Patrick und stieß einen leisen, vogelartigen Ton aus. Marleys Ohren schössen nach vorne und er erstarrte. Was war das? Patrick fiepte noch einmal, u n d Marley hob eine Pfote in die Luft, wie ein Jagdhund auf Vogeljagd. Mein Gott, er stand auf unser Baby an wie ein Jagdhund auf seine Beute! In diesem M o 132

ment kam mir das Federkissen in den Sinn, das er so wild geschüttelt hatte. Er war doch wohl nicht so beschränkt, unser Baby mit einem Fasan zu verwechseln? U n d dann sprang er. Es war kein »Töte den F e i n d e Sprung, keine gebleckten Zähne, kein Knurren. Aber es war auch kein »Hallo, Kleiner, willkommen daheim!«-Sprung. Er prallte so hart mit der Brust gegen die Matratze, dass das ganze Bett über den Boden rutschte. Patrick war inzwischen hellwach und machte große Augen. Marley prallte zurück und sprang wieder vor, diesmal berührte er mit der Schnauze beinahe die Zehen unseres Babys. J e n n y stürzte auf das Baby zu, ich stürzte auf den H u n d zu und zog ihn mit beiden Händen am Nackenfell zurück. Marley war außer sich u n d zerrte verzweifelt, um an dieses kleine Geschöpf heranzukommen, das sich da klammheimlich eingeschlichen hatte. Er stellte sich auf die Hinterbeine und ich zog ihn am H a l s band zurück. Ich kam mir vor wie L o n e Ranger mit Silver. » N a « , sagte ich, »das hat ja toll geklappt.« Jenny befreite Patrick aus dem Autositz, und ich klemmte Marley zwischen meine Knie und hielt ihn mit beiden H ä n den fest. Sogar Jenny konnte erkennen, dass Marley es nicht böse meinte. Er hechelte mit seinem typischen trotteligen Grinsen, seine Augen leuchteten und er wedelte mit dem Schwanz. W ä h r e n d ich ihn festhielt, kam sie langsam näher und ließ ihn zuerst die Zehen unseres Babys beschnüffeln, dann die Füße, schließlich die Oberschenkel. Das arme Kind war gerade mal eineinhalb Tage alt und wurde schon von einem Staubsauger attackiert. Als Marley an die Windel kam, schien er einen anderen Bewusstseinszustand zu erreichen, eine Art Pampers-Nirwana. Er war im Paradies angekommen. Der H u n d war vollkommen euphorisch. »Eine falsche Bewegung, Marley, und dein letztes Stündlein hat geschlagen«, warnte Jenny, und das meinte sie ernst. 133

W e n n er auch n u r das kleinste Anzeichen von Aggressivität gegenüber dem Baby gezeigt hätte, wäre es um ihn geschehen gewesen. D o c h er tat nichts dergleichen. W i r begriffen bald, dass unser Problem nicht darin bestand, Marley davon abzuhalten, unserem Baby etwas zu Leide zu tun. Unser Problem lag darin, ihn vom Windeleimer fernzuhalten. Die Zeit verging, und nach einigen M o n a t e n war klar, dass Marley in Patrick seinen neuen besten Freund gefunden hatte. Eines Abends, als ich das Licht im H a u s löschen und ins Bett gehen wollte, konnte ich Marley nirgends finden. Schließlich kam ich auf die Idee, im Kinderzimmer zu suchen. Da lag er, am Boden ausgestreckt neben Patricks W i e ge. Die beiden schnarchten seligum die Wette. W e n n Patrick in der N ä h e war, verwandelte sich unser wilder, ungestümer H u n d in ein sanftes L a m m . Er schien verstanden zu haben, dass es sich hier um ein zerbrechliches, schutzloses kleines Menschenkind handelte. Er bewegte sich in Patricks N ä h e ganz vorsichtig, leckte ihm zart das Gesicht und die Ohren. Als Patrick anfing zu krabbeln, lag Marley regungslos auf dem Boden u n d ließ den Kleinen auf sich herumklettern, an seinen O h r e n ziehen, ihm in die Augen drücken und ihm kleine Fäuste voll Fell ausreißen. Es schien ihn alles nicht zu stören, er lag da wie eine Statue. Er war ein freundlicher Riese neben Patrick, und er akzeptierte seine Zurückstufung in der Familienhierarchie mit gutmütiger Resignation. N i c h t alle waren damit einverstanden, dass wir unserem H u n d so blind vertrauten. M a n c h e sahen in ihm nur ein wildes, unberechenbares und starkes T i e r - inzwischen hatte er ungefähr fünfundvierzig Kilo erreicht - und waren der Meinung, dass wir uns verantwortungslos verhielten, wenn wir i h m unser schutzloses Kind anvertrauten. Meine Mutter war die Sprecherin dieser Fraktion und ließ uns keine Minute lang im Unklaren über ihre Meinung. Es tat ihr weh, wenn 134

sie sah, dass Marley ihren Enkelsohn ableckte. »Wisst ihr eigentlich, wo diese Zunge schon überall war?«, fragte sie mit sarkastischem U n t e r t o n . Sie warnte uns eindringlich davor, einen H u n d und ein Baby jemals alleine in einem Z i m m e r zu lassen. D e r angeborene Jagdtrieb könne ohne Vorwarnung wieder durchbrechen. W e n n es nach ihr ginge, dann hätten wir für alle Zeiten eine Betonmauer zwischen Marley und Patrick errichten müssen. Eines Tages, als sie aus Michigan zu Besuch bei uns war, hörte ich plötzlich ihren Schrei aus dem Wohnzimmer. »John, schnell!«, schrie sie. » D e r H u n d beißt das Baby!« Ich stürzte halb angezogen aus dem Schlafzimmer u n d fand Patrick fröhlich in seiner Schaukel sitzend, Marley lag u n ter ihm auf dem Boden. Tatsächlich schnappte der H u n d nach dem Baby, aber nicht so, wie meine panische M u t t e r es befürchtete. Marley hatte sich direkt in Patricks Flugbahn positioniert, den Kopf auf der H ö h e , wo das in eine Stoffbahn verpackte Hinterteil unseres Babys bei jedem Schwung vorbeikam, ehe es wieder in die entgegengesetzte Pachtung schwang. Jedes Mal, wenn Patricks W i n d e l p o in erreichbare N ä h e kam, schnappte Marley spielerisch danach und schubste ihn damit an. Patrick quietschte vor Vergnügen. »Ach, M o m , keine Angst«, sagte ich. »Marley hat n u r eine Schwäche für Patricks Windeln.« Jenny und ich entwickelten bald eine Routine. Nachts stand sie alle paar Stunden auf, um ihn zu stillen, und ich übernahm die 6-Uhr-Mahlzeit, damit sie länger schlafen konnte. N o c h im Halbschlaf n a h m ich ihn dann aus seiner Wiege, wickelte ihn und machte ihm sein Fläschchen warm. D a n n kam die Belohnung: Ich setzte mich mit ihm auf die Veranda, und er nuckelte an der Flasche, den kleinen, warmen Körper an meinen Bauch geschmiegt. Manchmal ließ ich 135

mein Gesicht auf seinen Kopf sinken und schlummerte ein, während er genüsslich weitertrank. Manchmal hörte ich auch Radio und sah zu, wie der H i m m e l in der Morgendämm e r u n g allmählich von Dunkelrot in Pink und schließlich in Blau überging. W e n n Patrick satt war und ich einen ordentlichen Rülpser aus ihm herausbekommen hatte, zog ich uns beide an, pfiff nach Marley und wir machten einen Morgenspaziergang zum Wasser hinunter. W i r leisteten uns einen Sportkinderwagen mit drei breiten Reifen, mit dem m a n beinahe überall fahren konnte, auch über Sand und Randsteine. W i r drei müssen jeden M o r g e n ein Bild für die G ö t t e r abgegeben haben. Marley allen voran wie ein Schlittenhund, ich am Steuer, wie ich um unser Leben bremste, und in der Mitte Patrick, der fröhlich mit den Armen winkte wie ein Verkehrspolizist. W e n n wir nach Hause kamen, war J e n n y schon auf und hatte Kaffee gekocht. W i r setzten Patrick in seinen Hochstuhl und schütteten ein paar Cheerios vor ihm auf das Tablett, die sich Marley im nächsten unbewachten Augenblick schnappte. Einem. Baby das Essen zu klauen, dachten wir, wie tief kann dieser Hund noch sinken? Patrick jedoch schien dieses Spielchen ungeheuren Spaß zu machen, und sehr bald hatte er herausgefunden, wie er die Cheerios vom Tablett schubsen musste, sodass er zusehen konnte, wie Marley aufsprang und sie am Boden zerkaute. Er fand auch heraus, dass er die Cheerios nur auf seinen Schoß fallen lassen musste, damit Marley seinen Kopf unter dem Tablett durchschob und ihm auf der Suche nach den Leckereien in den Bauch schnoberte, was Patrick in Lachsalven ausbrechen ließ. W i r fanden, dass das Elternsein gut zu uns passte. W i r gewöhnten uns an den Tagesablauf, freuten uns über kleine Dinge und fanden uns zähneknirschend mit dem einen oder anderen Rückschlag ab. U n s war klar, dass auch die schlech136

ten Tage bald zu lieben Erinnerungen werden würden. W i r hatten alles, was wir uns n u r wünschen konnten. W i r hatten unser wundervolles Baby. W i r hatten unseren tollpatschigen Hund. W i r hatten unser kleines H a u s am Wasser. U n d natürlich hatten wir einander. In diesem N o v e m b e r beförderte mich mein Verlag zum Kolumnisten, eine begehrte Stellung. So bekam ich dreimal wöchentlich die Möglichkeit, mich auf Seite eins über ein beliebiges T h e m a auszulassen. Das Leben war schön. Als Patrick neun M o n a t e alt war, brachte Jenny das T h e m a auf, wann wir über ein zweites Baby nachdenken wollten. »Puh, ich weiß nicht«, antwortete ich. W i r hatten i m m e r mehrere Kinder gewollt, aber über den Zeitplan hatte ich noch nicht konkret nachgedacht. All das gleich noch einmal durchmachen? Darüber mussten wir genau nachdenken. » W i r könnten ja einfach wieder die Verhütung weglassen und abwarten, was passiert«, schlug ich vor. »Ah«, erwiderte Jenny, »die gute alte >Que serd, serd