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H.-J. Möller, G. Laux, H.-P. Kapfhammer (Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie 3., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage
Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer (Hrsg.)
Psychiatrie und Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie 3., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage
Mit 253, zum Teil farbigen Abbildungen und 151 Tabellen
Prof. Dr. H.-J. Möller Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Prof. Dr. Dipl.-Psych. G. Laux Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg a. Inn · Rosenheim · Freilassing Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn
Prof. Dr. Dr. H.-P. Kapfhammer Klinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich
ISBN-13 978-3-540-24583-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Karen Strehlow, Berlin Dr. Angelika Koggenhorst-Heilig, Leimen Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz Karlheinz Detzner, Speyer SPIN: 11391265 Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
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Vorwort zur 3. Auflage Fünf Jahre nach der 2. Auflage können wir die Neuauflage dieses Handbuches für den Facharzt und die in Weiterbildung stehenden Kollegen vorlegen. Seine Bedeutung als Standardwerk des großen Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapie lässt sich unter anderem daraus ableiten, dass aufgrund der großen Nachfrage vor 2 Jahren ein Nachdruck als Paperback-Sonderausgabe erforderlich wurde. Basierend auf der Tradition der deutschen Psychiatrie im Sinne einer umfassenden Sichtweise für das Gesamtverständnis und den breiten Gesamthorizont von historisch-philosophischen Grundlagen bis zur Neurowissenschaft, hat der Umfang dieses Werkes die Grenzen eines Bandes überschritten und der weitere immense Wissenszuwachs ließ es geboten erscheinen, nunmehr ein 2-bändiges Werk vorzulegen. Es gliedert sich in insgesamt 82 Kapitel, wobei Band I als allgemeiner Teil 42 Kapitel, Band II als spezieller Teil 40 Kapitel umfasst. Formal wurde auf eine stringente, einheitliche Gliederung und Systematik Wert gelegt, um trotz der für eine kompetente Darstellung erforderlichen großen Autorenzahl (100) einen einheitlichen Charakter zu gewährleisten. Durch zahlreiche Tabellen, Abbildungen und typografische Elemente wurde auf Didaktik und Lesefreundlichkeit besonders geachtet. Die inhaltliche Aktualisierung umfasst insbesondere epidemiologische und sozioökonomische Daten, neue Befunde der Genetik und Bildgebung bieten tiefere Einblicke in die Ätiopathogenese, Weiterentwicklungen der Psychopharmakotherapie wurden ebenso berücksichtigt wie neuere, störungsspezifische Psychotherapieverfahren. Als neue Kapitel wurden die Themen Bildgebungsforschung, integrierte Versorgung/Disease-Management, Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie, Qualitätsmanagement, psychische Störungen bei somatischen Erkrankungen, Nikotinabhängigkeit, ADHS im Erwachsenenalter, frauenspezifische Störungen, Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit sowie juristische Aspekte von Aufklärung und Dokumentation und die Frage der Fahrtüchtigkeit aufgenommen. Zudem wurden manche bereits bestehenden Kapitel von neuen Autoren verfasst. Zeitgemäß werden im Sinne der evidenzbasierten Medizin Evidenzgrade der therapiebezogenen Informationen angegeben, besonders wichtige Aussagen in Form einer »EbM-Box«. Alle Autoren von therapiebezogenen Kapiteln wurden gebeten, wenn möglich, Evidenzgrade im Sinne der EbM anzugeben. Dazu wurde folgende Evidenzgraduierung vorgegeben: Level A: Gute studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Dieser Level wird erreicht, wenn die auf Studien basierende Evidenz für die Wirksamkeit aus mindestens 3 mittelgroßen randomisierten kontrollierten (doppelblinden) Studien (randomized controlled trials, RCT) mit positivem Ergebnis stammt. Zusätzlich muss mindestens eine dieser Studien eine nach wissenschaftlichen Kriterien gut durchgeführte, plazebokontrollierte Studie sein. Level B: Mittelmäßige studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Die Wirksamkeit muss nachgewiesen sein in mindestens 2 mittelgroßen randomisierten doppelblinden Studien (das bedeutet mindestens 2 oder mehr Studien gegen andere Substanzen und eine plazebokontrollierte Studie) oder in einer mittelgroßen randomisierten doppelblinden Studie (plazebokontrolliert oder gegen eine andere Substanz) und in mehr als einer prospektiven, mittelgroßen (mehr als 50 Teilnehmer), offenen Studie, die naturalistisch angelegt war. Level C: Minimale studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Dieser Level wird erreicht, wenn in einer randomisiert-doppelblinden Studie gegen eine andere Substanz und in einer prospektiven, offenen Studie/Kasuistikserie (mit mehr als 10 Teilnehmern) oder wenn in mindestens 2 prospektiven, offenen Studien/Kasuistikserien (mit mehr als 10 Teilnehmern) eine Wirkung nachgewiesen wurde. Level D: Basiert auf Expertenmeinung und wird von mindestens einer prospektiven, offenen Studie/Kasuistikserie (mit mehr als 10 Teilnehmern) belegt. Kein Evidenzlevel: Expertenmeinung über allgemeine Behandlungsverfahren und Behandlungsprinzipien.
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Vorwort zur 3. Auflage
Es sei darauf hingewiesen, dass Evidenzgraduierungen derzeit noch arbiträr sind, sodass unterschiedliche Kriteriologien nebeneinander existieren. Bei einigen dieser Kriteriologien wird den metaanalytischen Ergebnissen von Therapiestudien der Vorrang gegeben. Die hier verwendete Graduierung stellt methodisch wichtige und zentrale Einzelstudien ins Zentrum der Evidenzgraduierung. Nicht alle Autoren konnten der Anregung zu einer Evidenzgraduierung folgen, u. a. deshalb, weil im Bereich der psychosozialen Therapie die Evidenzgraduierung noch nicht so eingeführt ist wie im Bereich der Psychopharmakotherapie. Die Herausgeber sind allen Autoren, die ihre Kapitel aufgrund zahlreicher eingetretener Veränderungen häufig komplett neu erstellt haben, zu großem Dank verpflichtet. Gleiches gilt für die kompetente Mitarbeit der Wissenschaftsassistentinnen Frau Jacqueline Klesing und Frau Sindy Lehwald sowie für die bewährte aufwändige Arbeit der Sekretärinnen Frau Christine Hauer, Frau Rosi Riedl, Frau Alexandra Fend und Frau Anne-Maria Burgstaller. Für die hervorragende Arbeit vonseiten des Springer-Verlags danken wir Frau Renate Schulz (Projektmanagement), Frau Dr. Karen Strehlow (Lektorat), Frau Dr. Angelika Koggenhorst-Heilig (Lektorat) und Frau Renate Scheddin (Planung). Wir hoffen, dass auch diese 3. Auflage auf eine hohe Akzeptanz stoßen wird und den Kollegen in Klinik und Praxis mit diesem Buch ein hochkarätig angenehmer Berufsbegleiter offeriert wird. München, Wasserburg a. Inn und Graz, im Herbst 2007 Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer
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Vorwort zur 1. Auflage Die Psychiatrie hat im letzten Jahrzehnt, wie alle medizinischen Fächer, einen außerordentlichen Wissenszuwachs zu verzeichnen, der an den einzelnen Arzt große Anforderungen stellt. Der Zuwachs im psychiatrischen Wissen betrifft die theoretischen Grundlagen unseres Faches, ganz besonders natürlich die ätiopathogenetischen Erklärungsansätze für die einzelnen Erkrankungen, die Untersuchungsmethoden, die Veränderungen der psychiatrischen Diagnostik, wie sie insbesondere durch die Einführung operationalisierter Diagnosesysteme resultieren, und insbesondere die Verbesserungen der therapeutischen Möglichkeiten, sowohl im Bereich der Psychopharmakotherapie als auch im Bereich der psychosozialen Therapiemaßnahmen. Daraus ergeben sich für den Facharzt große Herausforderungen hinsichtlich des Wissens für die alltägliche psychiatrische Praxis und ihrer theoretischen Grundlegung. Das immer mehr spezialisierte Fachwissen, das zu einem Großteil nur in speziellen Fachzeitschriften vermittelt wird, verlangt von dem Arzt einen erheblichen Lese- und Fortbildungsaufwand, um auf dem aktuellen Stand des Wissens zu bleiben. Unter diesem Aspekt ist ein umfangreiches Lehrbuch, das primär auf die Bedürfnisse des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie zugeschnitten ist und ganz besonders auch den in der Weiterbildung zu diesem Facharzt befindlichen Kollegen zugute kommen soll, von besonderer Bedeutung. Es kann den aktuellen Wissensstand in ausreichend umfangreicher Weise, wie es die üblichen für die Studenten geschriebenen Lehrbücher nicht tun können, darstellen. Das hier vorgelegte Buch wurde in dieser Intention konzipiert und von renommierten Fachkollegen unter diesem Aspekt geschrieben. Zu jedem Kapitel wurde die relevante internationale Literatur zitiert, um auf diese Weise dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Richtigkeit der Darstellung zu prüfen und sich noch intensiver in die Thematik zu vertiefen. Das Buch versucht, insbesondere praktisch relevantes Wissen in ausreichend differenzierter und umfassender und gleichzeitig anschaulicher Weise zu vermitteln. Es vermeidet dabei aber jegliche »kochbuchartige« Verkürzung der komplizierten Sachverhalte, sondern versucht, den speziellen Gesamthorizont des Faches, insbesondere in dem allgemeinen Teil des Buches, ausreichend einzubeziehen. Dabei werden u. a. auch historische, konzeptuelle und philosophische Aspekte vermittelt. Insofern bietet das Buch mehr als nur eine praxisrelevante Wissens- und Handlungsanleitung, sondern – gemäß der besten Tradition der deutschen Psychiatrie – eine umfassende Sichtweise, die zum Gesamtverständnis des Faches wichtig ist. Das Buch deckt alle Wissensbereiche eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie ab und ist somit u. a. hervorragend für die Vorbereitung zur Facharzt-Prüfung geeignet. Besonders interessierten Medizin-Studenten bietet es insgesamt oder ausschnittsweise eine sinnvolle Vertiefung zu dem üblichen Lehrbuch-Wissen, dem nicht-psychiatrischen Facharzt bzw. dem im klinischen Feld tätigen Psychologen eröffnet es eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich das psychiatrische Stoffgebiet in umfassender Weise zu erarbeiten. Das Buch gliedert sich in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Für den, der sich bevorzugt der konkreten, praktischen Fragestellung der Diagnostik und Behandlung bestimmter Krankheiten zuwenden will, sind die jeweils speziell auf die einzelnen Erkrankungen bezogenen Kapitel so verfaßt, daß sie für sich – ohne Rückgriff auf die Kapitel im allgemeinen Teil – verständlich sind. Unter dem Aspekt der Gesamtgliederung, der sprachlichen Darstellung, der drucktechnischen Aufbereitung, der Einbeziehung zahlreicher Tabellen und Abbildungen u.a. wurde versucht, das Buch optimal didaktisch zu gestalten. Das ist gerade angesichts eines so umfassenden Werkes von größter Wichtigkeit, damit der Leser sich im Buch zurechtfindet und damit er durch die Lektüre eines gut gegliederten, didaktisch ansprechenden Textes in möglichst einfacher und angenehmer Weise den erwünschten Lernzuwachs erreicht. Insbesondere die drucktechnischen Hervorhebungen wie auch die Randspaltenhinweise sind unter diesem Aspekt von ganz besonderer Bedeutung. Der spezielle Teil zur Darstellung der einzelnen Erkrankungen orientiert sich an der ICD10, also dem Klassifikationssystem, das ab dem Jahre 2000 auch im ambulanten Bereich für
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Vorwort zur 1. Auflage
Deutschland verbindlich wird, nachdem es schon lange im stationären Bereich von vielen Kliniken angewandt wird. Diese Systematik psychischer Erkrankungen bedeutet zum Teil eine erhebliche Veränderung gegenüber der traditionellen psychiatrischen Krankheitslehre wie auch gegenüber der Systematik des psychiatrischen Teils der ICD-9. Auf diese Änderungen wird ausführlich eingegangen, um dem damit noch nicht so Vertrauten eine hilfreiche Einführung zu geben. Gleichzeitig wird auf das neben der ICD-10 insbesondere im internationalen wissenschaftlichen Bereich zunehmend an Bedeutung gewinnende DSM-System, das primär in der amerikanischen Psychiatrie entwickelt wurde, an vielen Stellen hingewiesen, um Ähnlichkeiten und Diskrepanzen zwischen DSM-IV und ICD-10 zu verdeutlichen. Insbesondere für Kollegen, die auch wissenschaftlich tätig sind, ist die Kenntnis beider Systeme heute unerläßlich. Da die bisherige Ausbildung in Psychotherapie, die bisher im Rahmen des Zusatztitels »Psychotherapie« praktiziert wurde, inzwischen in die Weiterbildung des Facharztes für Psychiatrie, der seitdem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie heißt, eingegliedert wurde, war es erforderlich, auch diesem Aspekt besonders Rechnung zu tragen. Der kompetente Psychiater wird in Zukunft nicht nur durch seine diagnostischen, psychopharmakotherapeutischen und soziotherapeutischen Fähigkeiten definiert werden, sondern auch durch gutes psychotherapeutisches Wissen und diesbezügliche Kompetenz. Dabei ist für den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie charakteristisch – dies war eine der Zielvorgaben bei der Erweiterung des Facharztes für Psychiatrie zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie! –, daß die Psychotherapie als eine spezielle Behandlungsmethode sich nicht völlig ablöst von dem Konzept der multifaktoriellen Ätiopathogenese und der mehrdimensionalen Therapie, wie es in der Psychiatrie seit langem gelehrt wird, sondern in dieses Konzept integriert bleibt. Das Idealbild ist ein Psychiater, der alle relevanten psychopharmakologischen und psychosozialen Therapieverfahren, einschließlich mindestens eines speziellen Psychotherapieverfahrens, ausreichend beherrscht und beim individuellen Patienten in sinnvoller Weise einzeln oder, was eher der Regelfall ist, kombiniert, aber mit jeweiligem Focus auf das eine oder andere, einsetzen kann. Ziel des Buches mußte es deshalb sein, auch das erforderliche psychotherapeutische Fachwissen darzustellen. Insgesamt gibt das Lehrbuch einen Einblick in das Selbstverständnis der modernen Psychiatrie als ein komplexes diagnostisches und therapeutisches Fach mit einem hohen Wissens-, Diagnose- und Therapiestandard, das den Vergleich mit den anderen Fächern der Medizin nicht zu scheuen braucht. Es war nicht leicht, ein so umfangreiches Buch zu schaffen, da ein so umfangreiches Buch nicht als das Werk eines einzelnen Autors, sondern nur als das Werk mehrerer Autoren möglich ist. Es wurde aber versucht, die Zahl der Autoren in Grenzen zu halten und gleichzeitig durch differenzierte Rahmenvorgaben sowie intensive editorische Arbeit den einheitlichen Charakter des Buches zu erhalten. Allen Autoren, die sich der Mühe unterzogen haben, an diesem Werk mitzuarbeiten, sei herzlich für ihr Engagement gedankt. Ganz besonders sei auch meiner Mitarbeiterin, Frau Klesing, für ihre Sekretariats- und Lektoratshilfe bei diesem Buch gedankt. Nicht zuletzt danken die Herausgeber dem Springer-Verlag, daß er das Wagnis eines solchen großen Facharzt-Handbuches in unserem Fachgebiet nicht gescheut hat. München, im Oktober 1999 Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer
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Inhaltsverzeichnis Band 1: Allgemeine Psychiatrie Sektion I Geschichte, Krankheitsmodelle, Häufigkeit und Ursachen psychischer Erkrankungen
1 Geschichte der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . P. Hoff 2 Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie . . . . W. Gaebel, J. Zielasek
3
29
3 Psychiatrische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . M. M. Fichter, I. Meller
55
4 Genetik psychischer Störungen . . . . . . . . . . W. Maier, A. Zobel, S. Schwab
71
5 Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . B. Bogerts 6 Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung . . . . . . . . . . . . . P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer 7 Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen . . . . P. Riederer, W. E. Müller, A. Eckert, J. Thome 8 Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . R. Rupprecht, N. Müller
13 Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . M. Schmidt-Degenhard
305
14 Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . W. Machleidt, I. T. Calliess
319
15 Methodik empirischer Forschung . . . . . . . . . H.-J. Möller
345
Sektion II Klassifikation und Diagnostik
16 Traditionelle Klassifikationssysteme . . . . . . . J. Klosterkötter 17 Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . H. J. Freyberger
371
393
109
18 Biografische und Krankheitsanamnese . . . . . P. Hoff
409
129
19 Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung . . . . . . . B. Widder
419
20 Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Saß, P. Hoff
435
21 Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller
455
22 Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik . . . . R. R. Engel, K. Fast
483
23 Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring . . . . . . B. Bondy, M. J. Schwarz
528
24 Neurophysiologische Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . U. Hegerl, O. Pogarell
529
157
185
9 Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . U. Hegerl, S. Karch, C. Mulert
209
10 Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Schüßler, A. Brunnauer
227
11 Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . W. Rössler
265
25 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . E. M. Meisenzahl, H.-P. Volz
12 Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen . . . . . . . . A. M. Möller-Leimkühler
277
26 Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen . . . . . . . . . . W. E. Müller, A. Eckert
553
583
X
Inhaltsverzeichnis
Sektion III Therapeutische Grundlagen
27 Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen . . . . . . . . . . S. Kasper, H.-J. Möller 28 Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien . . . . . S. Kasper
627
691
30 Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen. . . . M. Ermann, B. Waldvogel
703
32 Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . M. Zaudig, R. D. Trautmann, A. Pielsticker 33 Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien . . . . . . A. Retzer
841
35 Soziotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
871
36 Ergotherapie, Kreativtherapie, Körperund Sporttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
883
37 Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . W. Weig
911
669
29 Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung . . . . . . . . . . K. Schonauer
31 Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien . . . . . M. Linden, M. Hautzinger
34 Humanistische Psychotherapieverfahren . . . . W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
743
777
38 Psychoedukation und Angehörigenarbeit . . . R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
923
39 Versorgungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . W. Rössler
937
40 Integrierte Versorgung/ Disease-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Kissling 41 Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller 42 Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung . . . . . . . . . . . . . . M. Philipp, G. Laux
963
971
985
Sachverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 815 Sachverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
XI Inhaltsverzeichnis
Band 2: Spezielle Psychiatrie
Sektion VII Affektive Störungen
Sektion IV Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
54 Affektive Störungen: Einleitung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . G. Laux
43 Organische psychische Störungen. . . . . . . . . A. Kurz
3
44 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Hampel, K. Bürger, S. J. Teipel
391
55 Depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . G. Laux
399
13
56 Bipolare affektive Störungen . . . . . . . . . . . . G. Laux
471
45 Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Kurz
87
46 Organisches amnestisches Syndrom . . . . . . . A. Kurz
93
57 Depressive und Angststörungen bei somatischen Krankheiten . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
47 Andere organische psychische Störungen . . . A. Kurz
99
48 Organische psychische Störungen bei wichtigen somatischen Erkrankungen . . . H.-B. Rothenhäusler
499
Sektion VIII Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 109
Sektion V Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
58 Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
567
59 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
633
49 Störungen durch Alkohol. . . . . . . . . . . . . . . M. Soyka
143
60 Anpassungsstörung, akute und posttraumatische Belastungsstörung . . . H.-P. Kapfhammer
187
61 Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
723
50 Drogen- und Medikamentenabhängigkeit . . . M. Soyka
243
62 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
767
51 Tabakabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Batra, G. Buchkremer
63 Artifizielle Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
903
64 Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Alm, E. Sobanski
Sektion VI Schizophrene Psychosen, schizophrenieähnliche Störungen und nichtorganische Wahnerkrankungen
52 Schizophrene Psychosen . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller, A. Deister, A. Schaub, M. Riedel 53 Schizophrenie-ähnliche Störungen und nichtorganische Wahnerkrankungen . . . . A. Marneros
659
923
253
357
Sektion IX Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
65 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. M. Fichter
949
XII
Inhaltsverzeichnis
66 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Hajak, E. Rüther
971
67 Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 F. Pfäfflin 68 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . 1031 T. Bronisch, V. Habermeyer, S. C. Herpertz 69 Impulskontrollstörungen. . . . . . . . . . . . . . . 1095 T. Bronisch
Sektion X Intelligenzminderung
70 Intelligenzminderungen . . . . . . . . . . . . . . . 1103 H. Remschmidt, G. Niebergall
76 Psychische Störungen im höheren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . 1245 M. Haupt, H. Gutzmann 77 Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie. . . . . . . . . . 1263 H.-P. Kapfhammer 78 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 T. Bronisch 79 Notfallpsychiatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1307 G. Laux, H. Berzewski
Sektion XIII Juristische Aspekte, forensische Psychiatrie
80 Forensische Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . 1339 N. Nedopil 81 Aufklärung und Dokumentation . . . . . . . . . . 1379 C. Cording
Sektion XI Entwicklungsstörungen
82 Fahrtüchtigkeit und psychische Erkrankung . . 1391 A. Brunnauer, G. Laux
71 Umschriebene Entwicklungsstörungen . . . . . 1119 A. Warnke 72 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen . . . . . . 1151 A. Warnke 73 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend . . . . . 1161 A. Warnke, C. Wewetzer, G.-E. Trott, S. Wirth, U. Hemminger
Anhang G. Laux
A1 Übersicht Kliniken, Fachgesellschaften und Dachverbände von Selbsthilfeund Angehörigengruppen. . . . . . . . . . . . . . 1404 A2 Auszüge wichtiger Gesetze . . . . . . . . . . . . . 1409
Sektion XII Sonstige psychiatrische Aspekte
74 Frauenspezifische psychische Störungen in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 A. Rohde 75 Betreuung schwangerer und stillender Patientinnen – Psychopharmakotherapie und psychiatrische Begleitung . . . . . . . . . . . 1235 A. Rohde, C. Schaefer
A3 Verzeichnis wichtiger standardisierter Beurteilungsskalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411 A4 Wichtige Fachzeitschriften des psychiatrisch-psychotherapeutischen Gebietes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413 A5 Psychopharmakaübersicht . . . . . . . . . . . . . 1414
Sachverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417
Sachverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427
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Autorenverzeichnis Alm, B., Frau Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim Batra, A., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 24 72076 Tübingen Becker, T., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg Berzewski, H., Prof. Dr. Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Duisburger Str. 20 10707 Berlin
Broocks, A., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Carl-Friedrich-Flemming-Klinik HELIOS Kliniken Schwerin Wismarsche Str. 393–397 19049 Schwerin Brunnauer, A., Dr. Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Neuropsychologie Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn Buchkremer, G., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 24 72076 Tübingen
Bogerts, B., Prof. Dr. Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg
Bürger, K., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Bondy, B., Frau Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Butollo, W., Prof. Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München
Borbé, R., Dr. Zentrum für Psychiatrie, Die Weissenau Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie Weingartshoferstr. 2 88214 Ravensburg
Calliess, I. T., Frau Dr. Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover
Bronisch, T., Prof. Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Psychiatrische Klinik Kraepelinstr. 10 80804 München
Cording, C., Prof. Dr. Psychiatrische Universitätsklinik Universitätsstr. 84 93053 Regensburg
Deister, A., Prof. Dr. Abteilung für Psychiatrie Krankenhaus Itzehoe Robert-Koch-Str. 2 25524 Itzehoe Eckert, A., Frau Priv.-Doz. Dr. Neurobiologisches Labor Psychiatrische Universitätsklinik Basel Wilhelm Klein-Str. 27 4025 Basel, Schweiz Engel, R. R., Prof. Dr. Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Ermann, M., Prof. Dr. Abteilung für Psychotherapie u. Psychosomatik Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Falkai, P., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen Von-Siebold-Str. 5 37075 Göttingen Fast, K., Frau Dr. Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Fichter, M. M., Prof. Dr. Klinik Roseneck Schön-Kliniken Am Roseneck 6 83209 Prien a. Chiemsee
XIV
Autorenverzeichnis
Freyberger, H. J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Ellernholzstraße 1–2 17475 Greifswald
Hampel, H, Prof. Dr. M. Sc. Discipline of Psychiatry Trinity College Dublin The Adelaide and Meath Hospital Incorporating The National Children‘s Hospital (AMiNCH) Tallaght, Dublin 24, Irland
Gaebel, W., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2 40629 Düsseldorf
Haupt, M., Priv.-Doz. Dr. Praxisschwerpunkt Hirnleistungsstörungen im Neuro-Centrum Düsseldorf Hohenzollernstr. 1–5 40211 Düsseldorf
Gründer, G., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Gutzmann, H., Prof. Dr. Krankenhaus Hedwigshöhe Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie Buntzelstr. 36 12526 Berlin Habermann, C., M.A. Berufsfachschule für Ergotherapie Gießereistr. 43 83022 Rosenheim Habermeyer, V., Frau Dr. Psychiatrische Klinik der Universität Rostock PF 100888 18055 Rostock Hagl, M., Frau Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München Hajak, G., Prof. Dr. MBA Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirkskrankenhaus Regensburg Universitätsstr. 84 93042 Regensburg
Hautzinger, M., Prof. Dr. Psychologisches Institut Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Eberhard Karls Universität Christophstr. 2 72072 Tübingen Hegerl, U., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie Universitätsklinikum Leipzig Johannisallee 20 04317 Leipzig Hemminger, U., Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie der Universität Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg Herpertz, S. C., Frau Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Rostock Gehlsheimer Str. 20 18147 Rostock Hoff, P., Prof. Dr. Dr. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Lenggstrasse 31 Postfach 1931 8032 Zürich, Schweiz Hornung, W.-P., Prof. Dr. Rheinische Kliniken Bonn Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie I Kaiser-Karl-Ring 20 53111 Bonn
Kapfhammer, H.-P., Prof. Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich Karch, S., Frau Dipl.-Psych. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Kasper, S., O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich Kissling, W., Dr. Zentrum für Disease Management Psychiatrische Klinik der TU Möhlstr. 26 81675 München Klosterkötter, J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität zu Köln Kerpener Strasse 62 50924 Köln Krüsmann, M., Frau Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München Kurz, A., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaninger Str. 22 81675 München Laux, G., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn
XV Autorenverzeichnis
Linden, M., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Deutsche Rentenversicherung Reha-Zentrum Seehof Lichterfelder Allee 55 14513 Teltow Machleidt, W., Prof. Dr. Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Maier, W., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Marneros, A., Prof. Dr. Klinikum der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Julius-Kühn-Str. 7 06097 Halle/Saale Meisenzahl, E. M., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Meller, I., Frau Prof. Dr. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Türkenstr. 70 80799 München Möller, H.-J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Möller-Leimkühler, A. M., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Müller, N., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Pogarell, O., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstraße 7 80336 München
Müller, W. E., Prof. Dr. Pharmakologisches Institut für Naturwissenschaftler der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Biozentrum Niederursel Max-von-Laue-Str. 9 60438 Frankfurt
Reker, T., Prof. Dr. Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Friedrich-Wilhelm-Welser-Str. 30 48147 Münster
Mulert, C., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Nedopil, N., Prof. Dr. Abt. für Forensische Psychiatrie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Niebergall, G., Dr. Universitätsklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie Klinikum der Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Str. 4 35039 Marburg
Remschmidt, H., Prof. Dr. Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Hans-Sachs-Str. 4 und 6 35039 Marburg Retzer, A., Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Systemisches Institut Heidelberg (SIH) Bleichstr. 15 69120 Heidelberg Riedel, M., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Riederer, P., Prof. Dr. Psychiatrische Klinik der Universität Klinische Neurochemie Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg
Pfäfflin, F., Prof. Dr. Sektion Forensische Psychotherapie Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätklinikum Ulm Am Hochsträß 8 89081 Ulm
Rössler, W., Prof. Dr. Dipl.-Psch. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Militärstr. 8 Postfach 1931 8021 Zürich, Schweiz
Philipp, M., Prof. Dr. M.A. Bezirkskrankenhaus Landshut Professor-Buchner-Str. 22 84034 Landshut
Rohde, A., Frau Prof. Dr. Gynäkologische Psychosomatik Universitätsfrauenklinik Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Pielsticker, A., Frau Dr. Tal 15 80331 München
XVI
Autorenverzeichnis
Rothenhäusler, H.-B., Univ.-Doz. Dr. Univ.-Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Graz Auenbruggerplatz 31 A 8036 Graz, Österreich Rupprecht, R., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Rüther, E., Prof. Dr. Wielinger Str. 8 b 82340 Feldafing Saß, H., Prof. Dr. Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Schaefer, C., Dr. Pharmakovigilanzund Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie Spandauer Damm 130, Haus 10 14050 Berlin Schaub, A., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Schmidt-Degenhard, M., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Florence Nightingale Krankenhaus der Kaiserwerther Diakonie Zeppenheimer Weg 7 40489 Düsseldorf Schneider, F., Prof. Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
Schonauer, K., Prof. Dr. Dr. Zentrum für Psychiatrie Reichenau Feursteinstr. 55 78479 Reichenau Schüßler, G., O. Univ.-Prof. Dr. Universitätsklinik für Med. Psychologie und Psychotherapie Sonnenburgstr. 9 6020 Innsbruck, Österreich Schwab, S., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Schwarz, M. J., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Sobanski, E., Frau Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim Soyka, M., Prof. Dr. Privatklinik Meiringen Postfach 612 3860 Meiringen, Schweiz Teipel, S. J., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Thome, J., Prof. MD PhD Chair of Psychiatry The School of Medicine University of Wales Sansea Grove Building (113) Singleton Park Swansea, SA2 8PP, United Kingdom Trautmann, R. D., Dr. Vorderer Anger 210 86899 Landsberg Trott, G.-E., Prof. Dr. Luitpoldstr. 2–4 63739 Aschaffenburg
Unterberger, J., Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Ergo- u. Kreativtherapien Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn Volz, H.-P., Prof. Dr. Krankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie Schloss Werneck Balthasar-Neumann-Platz 1 97440 Werneck Waldvogel, B., Dr. Enhuberstraße 1 80333 München Warnke, A., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Würzburg Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg Weig, W., Prof. Dr. Niedersächsisches Landeskrankenhaus Knollstr. 31 49088 Osnabrück Weinmann, S., Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg Wewetzer, C., Prof. Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln-Holweide Florentine-Eichler-Str. 1 51067 Köln Widder, B., Prof. Dr. Dr. Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation des Bezirkskrankenhauses Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg
XVII Autorenverzeichnis
Wirth, S., Frau Dr. Luitpoldstr. 2-4 63739 Aschaffenburg Zaudig, M., Prof. Dr. Psychosomatische Klinik Windach/Ammersee Schützenstraße 100 86949 Windach
Zobel, A., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Zielasek, J., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2 40629 Düsseldorf
I Geschichte, Krankheitsmodelle, Häufigkeit und Ursachen psychischer Erkrankungen 1
Geschichte der Psychiatrie – 3 P. Hoff
2
Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie W. Gaebel, J. Zielasek
3
Psychiatrische Epidemiologie M. Fichter, I. Meller
4
Genetik psychiatrischer Störungen W. Maier
5
Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 109 B. Bogerts
6
Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung – 129 P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer
7
Störungen der Neurotransmission/Transduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen – 157 P. Riederer, J. Thome
8
Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 185 R. Rupprecht, N. Müller
9
Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 209 U. Hegerl, S. Karch, C. Mulert
10
Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 227 G. Schüssler, A. Brunnauer
11
Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen – 265 W. Rössler
12
Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen – 277 A. M. Möller-Leimkühler
13
Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen – 305 M. Schmidt-Degenhard
14
Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen – 319 W. Machleidt, I. T. Calliess
15
Methodik empirischer Forschung in der Psychiatrie H.-J. Möller
– 29
– 55 – 71
– 345
1 1 Geschichte der Psychiatrie P. Hoff
1.1
Antike Medizin – 4
1.8
Psychoanalyse und Behaviorismus
1.2
Mittelalter und Renaissance – 4
1.9
Psychopathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule« – 17
1.3
Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung« und zur französischen Schule des frühen 19. Jahrhunderts – 4
1.10
Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus – 18
1.11
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – 20
1.12
Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – 23
1.13
Zusammenfassende Schlussbetrachtung – 24
1.4
Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie« – 7
1.5
Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«
1.6
Degenerationslehre – 11
1.7
Die Kliniker um die Jahrhundertwende
–9
– 12
Literatur
– 25
> > Psychiatrisches Wissen und Handeln weist die von allen medizinischen Fächern wohl komplexeste Vernetzung mit der Ideen- und Sozialgeschichte auf. Daher birgt eine knappe Darstellung der Psychiatriegeschichte das Risiko unzulässiger Verkürzung: Die folgende Übersicht kann somit nur einer ersten Orientierung dienen und ein vertieftes Literaturstudium nicht ersetzen. Zwar orientiert sich der Aufbau des Beitrags v. a. an der Chronologie der wesentlichen psychiatrischen Konzepte von der Antike bis zur Gegenwart, doch wurde gerade mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert diese zeitliche Strukturierung zugunsten einer mehr thematischen Schwerpunktsetzung aufgelockert. Eine bemerkenswerte Tatsache ist die große Ähnlichkeit psychiatrischer Grundfragestellungen in der antiken, der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Medizin, etwa die Fragen nach dem Verhältnis von psychischer Störung und betroffener Person und deren Biografie, nach der Bedeutung körperlicher Funktionsstörungen für die Genese seelischer Krankheiten und auch die Debatten um das Verständnis psychopathologischer Phänomene als übersteigerter Ausdruck anthropologischer Konstanten (»Urängste«) oder als Metaphern metaphysischer Zusammenhänge. Aus Platzgründen wurde hier auf den ideengeschichtlichen Kontext und den Nachweis seiner Relevanz für klinisches Denken und Handeln größerer Wert gelegt als auf die Nennung möglichst vieler Personen oder Veröffentlichungen.
– 15
4
1
Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
1.1
Antike Medizin
Der wesentliche Schritt, den die griechische Medizin gegenüber ihren Vorläufern machte, ist die Überzeugung, dass Krankheiten als natürliche Phänomene und nicht als Ausdruck unbekannter und unbeeinflussbarer metaphysischer Kräfte anzusehen sind. Natürlich gilt dies nicht für jeden Vertreter der antiken griechischen Medizin, wohl aber für den bedeutendsten, Hippokrates von Kos (460– 377 v. Chr.). Für ihn machte aus eben diesem Grund die damals übliche Benennung der Epilepsie als »Morbus sacer«, als »heilige Krankheit«, keinen Sinn. Er forderte deren empirisch fundierte, sachliche und von Spekulationen soweit wie möglich befreite Erforschung.
Humoralpathologie Eigentliche psychiatrische Lehrtexte wurden in der Antike nicht verfasst. Die Beschreibung dessen, was wir heute seelische Störung nennen, war vielmehr eingebettet in die Darstellung der allgemeinen Medizin, also der in erster Linie körperlichen Krankheiten. Dies hängt mit der damals verbreiteten »Humoralpathologie« zusammen, die auch von Hippokrates vertreten wurde und die ein gestörtes Gleichgewicht zwischen den 4 Körpersäften als Ursache von Krankheiten annahm. Neben Hippokrates sind Galen (130–201 n. Chr.), Soranus von Ephesus, Celsus und Aretäus von Kappadozien (alle im 1. nachchristlichen Jahrhundert) wichtige Vertreter der antiken Medizin, die sich auch zu seelischen Krankheiten geäußert haben.
Andere Bedeutung der Fachtermini Das grundlegende Verständnis dieser Störungen war zumeist ein somatisches, wenn auch das Gehirn selbst noch nicht im Zentrum des Interesses stand. Die damaligen Fachtermini sind, wie etwa derjenige der Phrenitis bei Soranus, heute entweder nicht mehr gebräuchlich oder meinten – wie im Falle der Manie und der Melancholie – psychopathologische Sachverhalte, die von der heutigen Definition stark abweichen. Die von Emil Kraepelin Ende des 19. Jahrhunderts herausgearbeitete Dichotomie psychotischer Erkrankungen in affektive und nichtaffektive, also etwa katatone und paranoid-halluzinatorische Typen, war in der Antike kein Bestandteil ärztlichen Denkens. Bis in das 19. Jahrhunderts hinein meinte Manie vielmehr eine Form der Geisteskrankheit, bei der das Verhalten des Betroffenen von Erregung und Unruhe geprägt war, wohingegen der Melancholiker seine psychotischen Inhalte kaum preisgab und äußerlich ruhig, gehemmt oder sogar stuporös wirkte.
Therapie Entsprechend der stark somatischen Ausrichtung der antiken »Seelenheilkunde« – ein eigenes Fach mit dieser Bezeichnung existierte noch nicht – wiesen auch die therapeutischen Empfehlungen in diese Richtung, etwa
Aderlass, Abführmittel, spezielle Diätvorschriften. Aber auch Verhaltensregeln für den Umgang mit Patienten, die man im weitesten Sinn als psychotherapeutisch bezeichnen könnte, etwa ruhige Atmosphäre im Kontakt und Herausnehmen aus aktuellen Konfliktherden, wurden erörtert.
1.2
Mittelalter und Renaissance
Für diesen Zeitraum gibt es – aus medizinhistorischer Sicht – wenige Fortschritte und viele Rückschritte zu berichten. ! Der wesentliche Fortschritt dieser Epoche, nicht nur in bezug auf die Psychiatrie, war die Entstehung von Kliniken. Von sehr frühen Gründungen von Institutionen zur Behandlung seelischer Störungen wird aus dem arabischen Kulturraum berichtet, in Westeuropa finden sich Vorläufer psychiatrischer Kliniken bzw. – in heutiger Terminologie – psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern etwa ab dem frühen 15. Jahrhundert (Gründung der Abteilung in Valencia/Spanien 1409). Diesem Fortschritt, der nicht zuletzt auf den erwähnten »aufgeklärten«, also einen naturalistischen Standpunkt einnehmenden Grundgedanken der antiken Medizin beruhte, steht aber ein erheblicher Rückschritt gerade im Umgang mit psychischen Störungen gegenüber: Psychotische Menschen, v. a. Frauen, wurden als Besessene, als Hexen bezeichnet, sozial ausgegrenzt und in vielen Fällen unter Berufung auf das 1486 erschienene berüchtigte Werk »Der Hexenhammer« von Heinrich Krämer und Jakob Sprenger hingerichtet, meist durch Verbrennung. Es gab aber auch Gegenstimmen, etwa wenn Paracelsus (1491–1541) – eigentlich Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim – und Johann Weyer (1515–1588), so sehr sie auch in vielerlei Hinsicht noch in mittelalterlichem Denken verhaftet sein mochten, die übernatürliche Genese von seelischen Erkrankungen anzweifelten und, an antike Traditionen anknüpfend, den Blick auf empirisch erkennbare körperliche oder seelische Ursachen lenkten.
1.3
Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung« und zur französischen Schule des frühen 19. Jahrhunderts
Von den Erneuerungsvorschlägen der Renaissanceautoren wurde in der Folgezeit nur wenig aufgegriffen. Zwar ging die Bereitschaft, psychisch Kranke als Besessene und Hexen zu bezeichnen und zu verfolgen, langsam zurück, und es erschienen eine Reihe von kasuistisch und klinisch
5 1.3 · Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung«
interessanten Büchern über psychiatrische Fragen, etwa Felix Platers (1536–1614) »Medizinische Praxis« und Robert Burtons »Anatomy of Melancholy« (1621), jedoch wurde das emanzipatorische Moment etwa im Denken Paracelsus’ zunehmend konterkariert von der sich verstärkenden Tendenz, psychisch Kranke als bloße Randfiguren der Gesellschaft zu verstehen, die ähnlich wie Kriminelle und »Asoziale« auszugrenzen seien. So waren die großen psychiatrischen Kliniken von Paris, Bicêtre und Salpêtrière zunächst eine Mischung aus Armenhaus, Gefängnis, Obdachlosenasyl, Waisenhaus und psychiatrischer Klinik, letzteres aber am wenigsten, und die Hinzuziehung von Ärzten war keineswegs die Regel. Dieser Sachverhalt nimmt in Michel Foucaults primär philosophischer und gesellschaftskritischer und sekundär auch psychiatriekritischer Perspektive einen zentralen, da – im negativen Sinne – identitätsstiftenden Platz ein (Foucault 2005; Abschn. 1.11).
Aufklärung und Rationalismus Erst im 18. Jahrhundert, ideengeschichtlich geprägt von der Aufklärung, kam es zu ernsthaften Bemühungen, die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft zu etablieren, die psychiatrischen Patienten als Personen ernst zu nehmen und sowohl aus dem Dunstkreis von Hexenglaube und Spiritismus als auch aus ihrer Verbannung an den äußersten Rand der Gesellschaft herauszulösen (Leibbrand u. Wettley 1961). Cum grano salis kann der Rationalismus als die tragende Denkweise der Aufklärung angesehen werden. Das Wort »Wissenschaft« bekam einen betont positiven, ja optimistischen Bedeutungshof, gab es doch für die überzeugten Rationalisten des 18. Jahrhunderts nur vorläufig, nicht aber grundsätzlich unlösbare Probleme. Die Vernunft, die Ratio, werde, so die feste Überzeugung dieser Autoren, den gesamten Bereich menschlichen Erkennens und Handelns früher oder später durchdringen. Der Rationalismus schuf geradezu das gedankliche Konstrukt, welches seither Wissenschaft genannt wird und das sich dezidiert an der Mathematik und der empirischen Naturforschung orientiert.
Vermögenspsychologie Eine derart »vernunftlastige« Philosophie konnte natürlich nicht umhin, auch die seelischen Funktionen des Menschen in ihr Konzept einzubeziehen: Es entstand eine, etwa von dem Philosophen Chr. Wolff vertretene, »rationale Psychologie«. Sie wollte sich klar von der sensualistischen Assoziationslehre abgrenzen, wie sie etwa von den Philosophen Hume und Condillac vertreten worden ist (Anm.: Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer neuerlichen Blüte der Assoziationspsychologie, die auch, allerdings in recht unterschiedlichem Kontext, Einfluss auf die Psychiatrie nahm – Vertreter waren Ziehen, Ebbinghaus, Wernicke, Freud). Im Unter-
schied zu diesen beschritt sie nämlich nicht nur den empirisch-induktiven, sondern zunächst den rational-deduktiven Weg: Das Seelenleben sei in verschiedene Funktionen oder »Vermögen« gegliedert, die bei jeder Interpretation empirischer Beobachtungen zugrunde zu legen seien. In der Folge entstanden zahlreiche Spielarten der »Vermögenspsychologie«, denen allerdings zumindest die Unterscheidung von Denken, Fühlen und Wollen gemeinsam war. In der Philosophie hat Immanuel Kant am einflussreichsten diesen psychologischen Ansatz vertreten.
Neues psychiatrisches Selbstverständnis Das große Interesse, das das »aufgeklärte Zeitalter« für das Phänomen seelische Krankheit, insbesondere für die psychotischen Erscheinungsformen, den »Wahnsinn«, aufbrachte, ist ein aussagekräftiges Beispiel für die ebenso notwendige wie enge Vernetzung zwischen Ideengeschichte und Psychiatrie: Der Mensch als Vernunftwesen – dies war das zentrale Postulat aufklärerischen Denkens; und die Psychose beraubt ihn genau dieses Momentes, trifft ihn also an entscheidender Stelle, woraus wiederum die Aufforderung an die Mitmenschen resultiert, zu helfen und den »vernünftigen« Zustand wiederherzustellen. Das Mitleid mit den Kranken, nicht ihre, im wahrsten Sinne, Verteufelung, die Diagnostik und Behandlung der Patienten, nicht deren bloße Ausgrenzung, wurden zunehmend zu Schwerpunkten psychiatrischen Selbstverständnisses. In ganz Europa wurden neue psychiatrische Kliniken errichtet, und in diesen Kliniken setzte sich eine Haltung durch, die schließlich gegen Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu der oft beschriebenen »Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten« führte: Philippe Pinel in Bicêtre in Paris (1793; s. unten), William Tuke in York (1796), Johann Gottfried Langermann in Bayreuth (1805), um nur einige Beispiele zu nennen. Zwei weitere Neuerungen bedürfen im Zusammenhang mit der Psychiatrie der Aufklärungszeit der Erwähnung: Rechtliche Fragen. Zum einen wurde von nun an der
Psychiater systematisch in die Beurteilung rechtlicher Fragen, insbesondere der Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit im Strafrecht und der Urteils- und Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht, einbezogen. Dieses zunächst praktische, also in foro stattfindende Engagement der Psychiater, zog im Laufe der Zeit auch die Entwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen und die Etablierung eines eigenen, wenn auch der klinischen Psychiatrie nahe verwandten Gebietes, der forensischen Psychiatrie, nach sich. Vorbeugung. Zum anderen betonte die Aufklärung erst-
mals den Gesichtspunkt der Vorbeugung seelischer Störungen. Zahlreiche zeitgenössische Arbeiten beschäf-
1
6
1
Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
tigten sich mit der Frage des Verlaufs von psychischen Erkrankungen, ihres Zusammenhangs mit Alkoholmissbrauch und mit ihren psychosozialen Umgebungs- und Entstehungsbedingungen.
Die Animismustheorie von Stahl Das Denken der Medizin war lange Zeit von der »Iatrochemie« und der »Iatrophysik« geprägt gewesen, von Theorien also, die von der problemlosen Übertragbarkeit chemisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Forschungsmethodiken auf die Medizin und von der Vollständigkeit eines solchen Ansatzes ausgingen. Die nachhaltigste Herausforderung für diese Konzeption des (gesunden und kranken) Menschen als physikalische und chemische Maschine ging von dem Hallenser Arzt und Chemiker Georg Ernst Stahl (1660–1734) aus. Er formulierte die Theorie des »Animismus« und ging von der Grundannahme aus, dass chemisch-physikalische Vorgänge allein nicht in der Lage seien, lebendige Prozesse hervorzubringen und aufrechtzuerhalten. Vielmehr sei die Seele, »Anima«, der entscheidende Wirkfaktor, der den anderen, zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden Momenten die Richtung erteile. Konsequent verstand er Krankheit in erster Linie als Ausdruck eines Widerstandes der »Anima« gegen Noxen, die die Funktionen des menschlichen Organismus beeinträchtigen. Zwar hat sich Stahl zu psychiatrischen Fragen im konkret-klinischen Sinne kaum geäussert, doch fiel die von ihm vorgeschlagene Zweiteilung seelischer Störungen in solche, die durch die Erkrankung bestimmter Organe verursacht werden – »sympathische Geisteskrankheiten« – und solche, die ohne eine Organerkrankung auftreten – »pathetische Geisteskrankheiten« – in der psychiatrischen Literatur auf fruchtbaren Boden. Die klinisch immer noch geläufige, wenn auch gerade in jüngster Zeit aus neurobiologischer Perspektive grundsätzlich in Frage gestellte Gegenüberstellung »organischer« vs. »psychogener« oder »funktioneller« seelischer Störungen, hat hier eine ihrer (sehr zahlreichen) Wurzeln.
Bedeutungswandel psychiatrischer Termini Wie sehr klinische Begriffe – gerade die geläufigsten unter ihnen – Produkte komplexer ideengeschichtlicher Prozesse sind und dabei oft ihre Bedeutung verändern, ja ausgewechselt haben, zeigt auch der Terminus »Neurose«: Am verbreitetsten war lange Zeit das psychogenetische und dabei vor allem das psychoanalytische Verständnis, das in der »neurotischen« Symptomatik den indirekten Ausdruck unbewusster, aber eben nachhaltig wirksamer seelischer Prozesse sah. Ursprünglich, nämlich am Ende des 18. Jahrhunderts, geprägt von dem schottischen Kliniker Cullen, bezog sich der Begriff »Neurose« allerdings auf die von Albrecht von Haller entwickelte neurophysiologische Theorie der Sensibilität neuronaler Strukturen und der Irritabilität des Muskel-
gewebes. Er hatte also einen unmittelbar somatischen Hintergrund, insoweit »Neurose« in dieser primären Fassung Ausdruck einer gestörten Erregbarkeit des Nervensystems war. Dem Begriff wird heute, im Rahmen der operationalen psychiatrischen Diagnostik, von vielen Autoren so wenig Konsistenz zugesprochen, dass er – ähnlich wie der Begriff des Endogenen – als hinderlich und wissenschaftlich entbehrlich angesehen wird (Anm.: Man darf nicht verkennen, dass mit der Abschaffung eines Begriffs das von ihm adressierte Problem, so unscharf er es auch erfasst haben mag, nicht zugleich eliminiert ist.). Auch der Begriff »Psychiatrie« taucht in diesem Zeitraum erstmalig auf, und zwar in Arbeiten des Hallenser »Stadtphysikus« und späteren Professors der Medizin an der neugegründeten Universität Berlin Johann Christian Reil (1759–1813).
Barbarische Therapieverfahren Besonderer Hervorhebung bedarf der Umstand, dass die Psychiatrie der Aufklärungszeit bei aller grundsätzlichen Orientierung am Konzept der Vernunft als zentralem Merkmal des Menschen, also an der Rationalität, doch in der Praxis der Patientenbetreuung eine Reihe von aus heutiger Sicht außerordentlich irrational, ja barbarisch anmutenden »Therapieverfahren« entwickelt, propagiert und angewandt hat. Viele dieser »Behandlungen« beruhten auf dem Prinzip, den seelisch Kranken derartig zu erschrecken oder körperlicher Belastung auszusetzen, dass die Erscheinungen der Psychose entweder in den Hintergrund treten oder günstigstenfalls ganz verschwinden: Im Drehstuhl wurden die Patienten herumgeschleudert, beim Überqueren einer Brücke öffnete sich plötzlich eine Falltür, so dass der Patient ins Wasser stürzte, Hungerkuren, selbst Kastrationen wurden durchgeführt.
Philippe Pinel und die »französische Schule« 1801 erschien das Hauptwerk des bereits erwähnten französischen Arztes Philippe Pinel (⊡ Abb. 1.1) mit dem Titel »Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie«. Damit gelangte ein – auch schon von früheren, vorwiegend französischen Autoren verfochtenes – prag⊡ Abb. 1.1. Philippe Pinel (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
7 1.4 · Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie«
matisch-eklektisches, an humanen Grundwerten orientiertes Psychiatrieverständnis zum Durchbruch. Skeptisch bis offen ablehnend äußerte sich Pinel über alle spekulativen Hypothesen über die Genese und v. a. den »Sitz« der Geisteskrankheiten. Zwar übernahm auch er bei seiner nosologischen Einteilung seelischer Störungen in Manie, Melancholie, Demenz und Idiotie viele, z. T. auch wenig begründete Annahmen früherer Autoren, etwa die Zuordnung der Manie zum Abdomen, genauer zu gestörten Funktionen in den viszeralen Gangliengeflechten, doch wird als Grundtenor stets die Forderung nach nüchtern-sachlicher Beschreibung klinischer Sachverhalte in ihrem individuellen biografischen und sozialen Kontext beibehalten. Unausgeglichene Affekte, falsche Erziehungs- und Bildungsmethoden, biografische Krisenzeiten wie Pubertät oder Berentung können für Pinel ebenso in die psychotische Erkrankung münden wie rein somatische Einflüsse. Insofern findet sich bei Pinel wie auch bei Reil ein breites, personenzentriertes und verhältnismäßig undogmatisches Verständnis seelischer Störung – einige Jahrzehnte bevor es im Gefolge des Siegeszuges naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in der Medizin allgemein und in der Psychiatrie im Besonderen zu der bis heute anhaltenden Polarisierung zwischen naturalistischen und personalistischen Ansätzen kam. Darauf wird zurückzukommen sein.
»Befreiung der Irren von den Ketten« Konsequent lehnte Pinel mechanische oder sonstige Zwangsmittel bei der Therapie psychotischer Patienten ab und polemisierte gegen die bereits erwähnten barbarischen Gerätschaften, deren zugrunde liegende theoretische Konzepte er als schlimmere Verirrungen bezeichnete als die Wahngebilde seiner Patienten. Die »Befreiung der Irren von den Ketten«, die er in den beiden von ihm geleiteten Pariser Kliniken – Bicêtre hatte er 1793, Salpêtrière 1795 übernommen – vornahm, umfassend begründete und gegen Angriffe verteidigte, machte seinen Namen international bekannt. Dora Weiner (1980) hat über diese Vorgänge und die Beteiligung von Pinels Mitarbeiter Pussin eingehend berichtet. Wie bereits erwähnt, gab es Bemühungen zur Abschaffung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts in vielen Ländern. Im englischsprachigen Raum war John Conolly (1794–1866) der Vorreiter dieser Bewegung: Er entwickelte das Konzept des »no-restraint« und setzte es ebenfalls konsequent in die Tat um.
Eklektischer Standpunkt In der Synopsis waren Pinel und sein einflussreichster Schüler Jean-Etienne Dominique Esquirol (1772–1861) klinische Pragmatiker, die auf dem Boden eines aufgeklärten Humanismus vieles in der zeitgenössischen Psychiatrie in Bewegung setzten, einen eklektischen Standpunkt vertraten und theoretischen Ansätzen gegenüber Zurück-
haltung übten, insbesondere, wenn diese mit dogmatischem Anspruch auftraten.
Konzept der »moral insanity« Eine wichtige konzeptuelle Neuerung ist hier zu nennen: Die Schaffung der diagnostischen Kategorie »moral insanity« durch den englischen Psychiater James Cowles Prichard (1785–1848). Er bezeichnete damit Personen, die die üblicherweise respektierten, im sozialen Kontakt angewandten Wertmassstäbe missachteten, in rücksichtslos-egoistischer Weise ihre Interessen durchsetzten und zugleich die Kritikwürdigkeit eines solchen Verhaltens, zumindest für ihre eigene Person, nicht anerkannten. Anklänge an diese Konzeption finden sich in späteren Psychopathielehren wieder, und auch die heute in der forensisch-psychiatrischen Literatur viel diskutierte und in ihrem Status als behandlungsbedürftige seelische Störung umstrittene »antisoziale Persönlichkeit« hat viele Gemeinsamkeiten mit Prichards Ansatz.
1.4
Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie«
Franz Anton Mesmer Eine eigenartige Zwischenstellung zwischen dem nüchternen aufklärerischen Rationalismus und der subjektund v. a. affektorientierten, zu spekulativer Naturphilosophie neigenden Romantik nimmt, was den medizinischen und hier besonders den psychiatrischen Bereich anbetrifft, Franz Anton Mesmer (1734–1815) ein. Theoretischer Kern seines Konzepts ist das Postulat, dass der Kosmos aus verschieden feinen, als materiell gedachten »Flutreihen« bestehe. Die feinste dieser Flutreihen sei nicht mehr teilbar. Deren besondere Wirkung im Bereich des Organischen nannte Mesmer »tierischen Magnetismus«. Dabei dachte er aber nicht an eine starre, atomistische Korpuskulartheorie, sondern betonte den allerdings nicht näher erläuterten Aspekt der »Wechselwirkung« der Flutreihen untereinander. Diese begriffliche Unschärfe rief zurecht viele Kritiker auf den Plan und begründete die sehr komplexe Rezeptionsgeschichte des Mesmerismus. Entscheidend ist, dass sich Mesmer selbst als »Aufklärer« sah, als Entdecker einer allgemeinen, keineswegs nur die Medizin betreffenden naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Konsequent – manche Kritiker nannten es übernachhaltig oder gar fanatisch – verfocht er diese These und baute sie, hierin eindeutig über das Ziel hinausschießend, zu einer Theorie der Gesellschaft schlechthin aus. Zwar war eine solche recht unmittelbare Anwendung grundsätzlicher philosophischer Überlegung auf die konkrete Planung von Gemeinwesen und auf die Politik allgemein zur damaligen Zeit nicht unüblich. Man denke an die großen politischen Entwürfe der »deutschen Idealis-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
ten« Kant, Fichte und Hegel. Mesmers Konzeption jedoch stand nach der Einschätzung der meisten Zeitgenossen sowohl in medizinischer als auch in philosophisch-politischer Hinsicht auf so tönernen Füßen, dass sie, abgesehen von einigen hartnäckigen und Mesmer treu ergebenen Verfechtern, von den medizinischen Wissenschaften abgelehnt und von den, in heutiger Terminologie, Gesellschaftswissenschaften nicht rezipiert wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass Mesmer mit dieser – potenziell bedenklichen – Überdehnung medizinisch-psychiatrischer Aspekte auch in der Psychiatrie selbst keineswegs alleine steht: Gleichartige Tendenzen – Stichwort: Psychiatrie als Grundlage für ganze Weltanschauungen – finden sich etwa bei so entscheidenden Autoren wie J. C. A. Heinroth, E. Kraepelin, E. Bleuler und S. Freud.
Mesmerismus Der »Mesmerismus« in populärwissenschaftlicher Form mit seinen – nicht Mesmer selbst anzukreidenden – Übergängen in die Scharlatanerie war über Jahre eine Modeerscheinung in größeren europäischen Städten, v. a. in Paris, Wien und Berlin. Der aktuellen psychiatriehistorischen Forschung stellt sich der Mesmerismus als ein sich selbst der Aufklärung zuordnendes, jedoch weit eher der naturphilosophischen Spekulation zuneigendes System dar, das im Bereich der Behandlung seelischer Störungen durchaus als Vorläufer heute weitverbreiteter auto- und heterosuggestiver Therapiemethoden betrachtet werden kann. Durch sein starres Festhalten am Buchstaben seines ursprünglichen Konzepts hat Mesmer selbst aber die sachliche Erforschung der von ihm beschriebenen Phänomene, letztlich also der Suggestion, behindert (Darnton 1968; Hoff 1989 a).
Zum Begriff der »romantischen Psychiatrie« Eine klare Abgrenzung vom Rationalismus der Aufklärung nahmen Autoren vorwiegend des deutschen Sprachraums vor, die heute als Vertreter der »romantischen Psychiatrie« bezeichnet werden. Auch hier ist, wie bei allen wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Schlagworten, Vorsicht am Platze: Natürlich gab es nicht die romantische Psychiatrie, vertraten nicht alle hierher zu rechnenden Psychiater die gleiche Auffassung, weder theoretisch noch klinisch, natürlich erschöpfte sich die theoretische Debatte in der Psychiatrie des beginnenden 19. Jahrhunderts keineswegs in dem immer wieder verkürzt, ja verfälschend zitierten Streit der beiden Schulen der »Psychiker« und »Somatiker«. Dennoch ist der Begriff der romantischen Psychiatrie grundsätzlich berechtigt und als heuristische Leitlinie für die psychiatriehistorische Forschung sinnvoll (Benzenhöfer 1993; Leibbrand 1956; Marx 1990, 1991). Das romantische Lebensgefühl äußerte sich auf breiter gesellschaftlicher, v. a. künstlerischer Ebene (z. B. romantische Malerei, Musik und Dichtung) und hatte zu-
nächst keine unmittelbaren Berührungspunkte mit der Seelenheilkunde. Diese Verbindung entstand aber gleichsam ganz natürlich, insoweit das Interesse der Romantiker dem Affektiven, dem Unverständlichen und Mysteriösen, der, wie Ricarda Huch (1920) es nannte, »Nachtseite der Seele« galt – und viele der hierzu gerechneten erlebnis- und verhaltensbezogenen Phänomene fanden und finden sich besonders bei Menschen mit gravierenden seelischen Störungen.
Blick auf das Individuum Zentrales Anliegen der psychiatrischen Autoren dieser Zeit war es, die individuelle, v. a. auf den einzelnen Lebenslauf gerichtete Perspektive in die Lehre von Verursachung, klinischem Erscheinungsbild, Verlauf und Behandelbarkeit von seelischen Störungen einzubringen. Dabei wurde dem Bereich der Affekte, der »Leidenschaften«, wie es in den Originaltexten zumeist heißt, großes Gewicht beigemessen. Die wesentliche Kritik am aufklärerischen Rationalismus lautete, dieser habe auf der Suche nach allgemein gültigen »Naturgesetzen« zu sehr die überindividuelle, den einzelnen Menschen eher zufällig betreffende Regel betont und dabei das Individuum in seiner Einzigartigkeit und persönlichen – auch persönlich verantworteten – »Gewordenheit« vernachlässigt.
Psychiker vs. Somatiker Die »Psychiker« unter den romantischen Autoren vertraten die Auffassung, dass die Seele aus sich heraus erkranken könne, dass es also Seelenkrankheiten im engeren Sinne gebe. Genau dies wurde von den »Somatikern«, etwa M. Jacobi (1775–1858) und C. F. Nasse (1778–1851), bestritten. Diese waren aber, im Gegensatz zu einem verbreiteten Missverständnis, keineswegs materialistisch eingestellte Psychiater, sondern hielten – ebenfalls ein typisch romantischer Gedanke – die Seele für etwas ebenso Immaterielles wie Unsterbliches, auch Göttliches, das somit gar nicht selbst erkranken könne; krank werde nur der Körper. Scheinbar seelische Krankheiten seien also in Wahrheit der seelische Ausdruck körperlicher Störungen, die im Übrigen nicht notwendig das Gehirn betreffen müssen, sondern auch im Verdauungs-, Kreislauf- oder Atmungssystem angesiedelt sein können.
Heinroth und Ideler Wesentliche psychiatrische Autoren dieser Epoche, und beide, wenn man sie denn etikettieren will, Psychiker, waren J. C. A. Heinroth (1773–1843) und K. Ideler (1795– 1860). In ihren Schriften finden sich zum einen ausgezeichnete psychopathologische Beschreibungen, getragen von einem genuinen und auch nach fast 200 Jahren dem Text noch anzumerkenden Interesse für das in seelischer Not befindliche Individuum. Heinroth entwarf auch ein der späteren psychoanalytischen Konzeption in Teilen verblüffend ähnliches Instanzenmodell des Seelenlebens,
9 1.5 · Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«
in dem er »Instinkte«, »Bewusstsein« und »Über-Uns« unterschied. Zum anderen wurden psychopathologische Befunde aber oft mit einem spekulativen naturphilosophischen oder moralisch-religiösen Hintergrund verknüpft. Schwere seelische Krankheiten wurden so etwa als Folge eines verfehlten Lebenswandels oder »sündhaften Verhaltens« gedeutet (Cauwenbergh 1991; Heinroth 1818; Schmidt-Degenhard 1985). Der Begriff der »persönlichen Verantwortung« für das eigene Leben und damit bis zu einem gewissen Grad auch für die eigenen Krankheiten spielte eine zentrale Rolle im Denken der romantischen Psychiater. Bei Heinroth hatte dies eine radikal anmutende Konsequenz in forensischer Hinsicht: Wer, so Heinroth, im Zustand schwerer geistiger Störung eine Straftat begehe, habe zwar aktuell nicht gewusst, was er tue, sei aber dennoch für die Tat verantwortlich, da ja das Hineingeraten in die Psychose zurückzuführen sei auf vorwerfbare Fehlverhaltensweisen. Dies erinnert an das in unserem Jahrhundert in der forensischen Literatur kontrovers diskutierte – und zumeist verworfene – Konzept der »Lebensführungsschuld«, das aber eher nicht auf die strafrechtliche Verantwortung von psychotisch Erkrankten angewandt wurde.
Vorreiterfunktion der romantischen Psychiatrie Bei aller – oft wesentlich sprachlich begründeten – Befremdlichkeit mancher Überzeugungen der romantischen Psychiater haben Forschungsarbeiten aus jüngerer Zeit doch eindrucksvoll belegt, dass die früher – v. a. gegen Ende des 19. Jahrhunderts –, aber auch heute noch oft anzutreffende pauschale Disqualifizierung dieser psychiatrischen Epoche unbegründet ist, einmal ganz abgesehen von ihrer, allerdings nicht unbestrittenen, Vorreiterfunktion für spätere psychodynamische und im besonderen psychoanalytische Ansätze (s. unten). Weitere wichtige Autoren dieser Zeit sind Johann Reil (1759–1813), der nicht nur, wie erwähnt, den Begriff »Psychiatrie« – ursprünglich: »Psychiaterie« – einführte, sondern in seiner Lehre von den »Gemeingefühlen« eine auch für den heutigen Blick interessante Grundlage für das Verständnis psychotischer Störungen entwarf, Ernst von Feuchtersleben (1806–1849), der psychotherapeutische und psychoedukative Behandlungsformen entwickelte und Carl Gustav Carus (1789–1869), der das – von ihm selbst, Jahrzehnte vor Freud, bereits so benannte – »Unbewusste« für eine zentrale, zumindest teilweise aber unerkennbare Kraft im menschlichen Seelenleben hielt.
1.5
Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«
Etwa ab den 1930er Jahren setzte eine Gegenbewegung ein, die sich an die erstarkenden »positiven« Naturwis-
senschaften anzulehnen trachtete. Dieser außerordentlich komplexe Vorgang muss im Übrigen deutlich unterschieden werden von der bereits erörterten Kontroverse zwischen den romantischen Schulen der Psychiker und Somatiker. Eine herausragende Erscheinung der damaligen Psychiatrie, Wilhelm Griesinger (1817–1868; ⊡ Abb. 1.2), darf als einflussreichster Vertreter der Forderung in Anspruch genommen werden, die klinische Psychiatrie habe sich dem psychophysischen Problem empirisch und nicht metaphysisch zu stellen, sie habe also psychophysiologische Forschung zu betreiben. Das ebenso bekannte wie oft ohne Zusammenhang und verkürzt wiedergegebene Zitat, wonach Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, stellt die größtmögliche begriffliche Verdichtung des wohldurchdachten Konzepts Griesingers dar, für welches die klinische Diagnostik gerade nicht hinter einer platten »Hirnmythologie« verschwindet.
Psychiatrie als empirische Wissenschaft Griesinger, der nach einem Wort von Ludwig Binswanger der »Psychiatrie ihre Verfassung gegeben« habe, wandte sich gegen jede Art von unkritischer Spekulation, sowohl naturphilosophisch-romantischer als auch materialistischer Orientierung. Sein Hauptziel war die Etablierung der Psychiatrie als eigenständige, empirisch arbeitende Wissenschaft, die ärztlichem Ethos verpflichtet ist, also psychisch Kranke als Kranke ernst nimmt. Seine Psychiatrie war, plakativ gesagt, von ihrem Selbstverständnis her sowohl ein vorwiegend biologisches Forschungsprogramm als auch eine angewandte ärztliche Anthropologie.
Materialismus Es ist zwar nicht völlig falsch, lädt aber zu Missverständnissen ein, wenn man Griesinger unbesehen und unkommentiert einen Materialisten nennt. Der entscheidende Zusatz muss lauten, dass sein Materialismus ein methodischer und mit Sicherheit kein metaphysischer war. Dies verband ihn mit dem damals einflussreichen Philosophen F. A. Lange (1828–1875). Zentraler Gedanke dieses metho⊡ Abb. 1.2. Wilhelm Griesinger (1817–1868) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
dischen Materialismus war die – im Vergleich zu den kompromisslosen Materialisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts geradezu bescheidene – These, dass in der gegebenen Situation eine auf das zerebrale Substrat gerichtete und insoweit von den anzuwendenden Forschungsmethoden her »materialistische« Betrachtungsweise wissenschaftlich, am Weitesten führe. Und wenn Psychisches zwar als »Funktion« des Materiellen, dabei aber sehr wohl als eigenständiges Phänomen angesehen und nicht etwa grundsätzlich geleugnet werde, dann werde – erklärtes Ziel der psychiatrischen Forschung seit Griesinger – auch das Psychische der empirisch-quantifizierenden Forschung zugänglich. Damit bleibe es nicht mehr, wie bei manchen romantischen Psychiatern, gerade den Somatikern unter ihnen, hinter der Qualifizierung als »heilig« oder »göttlich« abgeschottet (Hoff u. Hippius 2001; Verwey 1985; Wahrig-Schmidt 1985)
Verlaufsaspekt des »Irreseins« Nicht nur dieses hier nur grob umrissene Forschungsprogramm, sondern ein psychopathologisches Konzept, nämlich die gemeinsam mit seinem Lehrer Albert Zeller, des Leiters der Anstalt Winnenthal, entwickelte Idee der Einheitspsychose, hat Griesingers Namen vom Erscheinen seines Hauptwerks »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« (1845, 2. Aufl. 1861) an bis in die aktuelle Diskussion (Berrios u. Beer 1995; Crow 1990; Mundt u. Sass 1992; Rennert 1965, 1982) fest mit Grundfragen der psychiatrischen Nosologie verknüpft. Noch vor Kahlbaum und Kraepelin war hier der Verlaufsaspekt als ein Moment gewürdigt worden, das jede bloß symptomatologisch orientierte Nosologie differenzierte und ordnete. Allerdings ging es Griesinger gerade nicht um ein nosografisches Aufspalten in einzelne Krankheitseinheiten, sondern im Gegenteil um die Darstellung des »Irreseins« als eines einzigen Morbus (Einheitspsychose), der gesetzmässig mehrere Stadien durchläuft (Vliegen 1980): Primär die affektive Störung, dann die wahnhafte Entgleisung, die »Verrücktheit«, und schließlich, sofern nicht Stillstand oder Remission eintreten, das schwere und schließlich irreversible Defizit auf der kognitiven und der Handlungsebene, in heutiger Terminologie eine Demenz. Allerdings akzeptierte Griesinger später – auch hier nicht dogmatisch – Snells Beschreibung einer »primären Verrücktheit« (1865), der gerade kein affektives Vorstadium vorauszugehen brauche und widerrief in diesem Punkt seine frühere Konzeption. Auch diese Debatte ist alles andere als »nur« historisch interessant: Die Frage nämlich, mit welchem Typus von Krankheit oder gar Krankheitseinheit wir es in der Psychiatrie zu tun haben, ob wir von distinkten Kategorien oder deutlich überlappenden Dimensionen zu tun haben, ist ein kontroverser Gegenstand der aktuellen und sicherlich ebenso der zukünftigen Diskussion.
Stadtasyle vs. große Kliniken Griesinger beschäftigte sich, was oft übersehen wird, intensiv mit »Sozialpsychiatrie«, um den heutigen Terminus zu gebrauchen. Er grenzte sich klar von der von Roller, dem Leiter der Badischen Anstalt Illenau, vertretenen Auffassung ab. Roller postulierte, psychisch Kranke seien möglichst abgeschieden in ruhigen ländlichen Gebieten und in eigens für diesen Zweck geschaffenen Einrichtungen zu behandeln, also strikt getrennt von allen sonstigen Patienten. Griesinger hingegen forderte die Integration der psychiatrischen in die medizinische Versorgung. Konkret beinhaltete dies v. a. die Errichtung sog. »Stadtasyle« (Griesingers Ausdruck) für die akut Erkrankten, die einer eher kurzen stationären Behandlung bedürfen. Derartige »gemeindenahe« Versorgungseinrichtungen sollten nach Griesingers Vorstellung im Verbund mit den bestehenden allgemeinen Stadtkrankenhäusern betrieben werden, da eine enge Verzahnung zwischen Zuweiser, Klinik, Weiterbehandler und Lebensumfeld entscheidend für die Prognose sei (Bergener 1987; Rössler 1992). Die Mitte und 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit der Gründung zahlreicher großer und, Griesingers Intention ganz entgegengesetzt, meist weit ab von den großen Siedlungsräumen situierter psychiatrischer Kliniken (Jetter 1981). Unabhängig davon etablierten sich in diesem Zeitraum an den meisten medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Psychiatrie bzw. für Nervenkrankheiten.
Fortschritte in den Naturwissenschaften In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Naturwissenschaften, auch die Biologie, rasch weiter. Für die Psychiatrie besonders wichtig wurden die Fortschritte der Neuroanatomie, die Lehre von der zerebralen Lokalisation bestimmter Leistungen wie Motorik und Sensibilität, aber auch Sprache und Gedächtnis. Wesentlich bereichert wurde diese Forschungsrichtung durch die Entwicklung neuer Techniken: Beispielhaft seien das von Bernhard von Gudden (1824–1886) konstruierte Mikrotom zur Fertigung von sehr dünnen Hirnschnitten und spezifischere histologische Färbemethoden wie diejenige von Franz Nissl (1860–1919) genannt (»Nissl-Färbung«).
Unreflektierter Materialismus Jedoch wurde dieser Fortschritt auch von der Neigung mancher Autoren begleitet, das gerade erfolgreich etablierte biologische Paradigma zu überdehnen und einem mehr oder weniger unreflektierten Materialismus das Wort zu reden. Für Autoren wie den Wiener Psychiater Theodor Meynert (1833–1892) waren denn auch seelische, insbesondere psychotische Störungen, nichts anderes als »Erkrankungen des Vorderhirns«, so der bezeichnende Untertitel seines 1884 erschienenen, einflussreichen Lehrbuchs der Psychiatrie. Zeitgenössische und spätere Kritiker haben die (Universitäts-)Psychiatrie des ausgehenden
11 1.6 · Degenerationslehre
19. Jahrhunderts nicht ganz zu unrecht »Gehirnpsychiatrie« genannt, »Psychiatrie ohne Seele« oder spöttisch, so etwa Jaspers, »Hirnmythologie«. Wenn man einmal von der heute oft als eigenartig, ja befremdlich empfundenen psychiatrischen Begrifflichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts absieht, so bleibt doch die Parallele zwischen den damals und heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, drängenden grundsätzlichen Fragen verblüffend, etwa die nach dem Zusammenhang zwischen Subjektivität und Hirnfunktion oder nach dem Begriff, um nicht zu sagen dem »Wesen« der psychischen Krankheit schlechthin. Darauf wird noch mehrfach zurückzukommen sein.
1.6
Degenerationslehre
Bei der »Entartungs-« oder »Degenerationslehre« handelt es sich um nichts weniger als um eine bloß unter psychiatrischen Spezialisten erörterte randständige Theorie. Sie prägte vielmehr über die Literatur, die Naturwissenschaften und nicht zuletzt die Politik das geistige Profil des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entscheidend mit (Chamberlin u. Gilman 1985; Pick 1989; Wettley 1959). Der für die Psychiatrie besonders relevante Teil dieser Lehre nahm entscheidende Impulse aus der französischen Psychopathologie auf, v. a. von B. A. Morel (1857) und V. Magnan (1896). Der Ansatz ging davon aus, dass über viele Generationen hinweg innerhalb einer Familie eine zunehmende »seelische Degeneration« auftreten kann, wobei die Reihe von leichten psychischen Auffälligkeiten wie Nervosität oder geringe Belastbarkeit über markante affektive Störungen und psychotische Episoden bis hin zu schwerster Demenz reicht (Hermle 1986; Liegeois 1991). Die psychiatrischen Degenerationstheoretiker – im deutschen Sprachraum etwa H. Schüle und R. von KrafftEbing – beriefen sich durchaus auf umfangreiche empirische Beobachtungen und hinterstellten ihren Erfahrungen eine teils naturwissenschaftlich (Magnan), teils moralphilosophisch (Morel) ausgerichtete Theorie. Andere Autoren wiederum verknüpften die theoretische Ebene des Entartungsgedankens auf noch viel direktere Weise mit der empirischen: Vor allem die italienische kriminalanthropologische Schule Cesare Lombrosos hob die diagnostische, ja prognostische Wertigkeit somatischer Kennzeichen (»Stigmata«) hervor, aus deren Vorhandensein sowohl auf psychopathologische Zusammenhänge als auch auf das bereits erreichte Niveau der Degeneration rückgeschlossen werden könne.
Degenerationslehre und Rassentheorie Die Grundgedanken der Degenerationslehre finden sich in fast allen psychiatrischen oder nervenheilkundlichen Lehrtexten der Jahrhundertwende in mehr oder weniger klar erkennbarer Form wieder. Als Beispiel sei hier Emil Kraepelin erwähnt, ein besonders einflussreicher psychi-
atrischer Autor, auf den in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein wird. Das Beispiel soll die starke Verbreitung der Degenerationslehre ebenso belegen wie die – für heutige Leser irritierende – Selbstverständlichkeit, mit der die entsprechende Terminologie als wissenschaftlich akzeptabel, ja geboten anerkannt wurde. Hervorzuheben ist die Notwendigkeit, mit dieser psychiatriegeschichtlich besonders wichtigen und emotionsgeladenen Materie sorgfältig und differenziert umzugehen. Nicht jeder Autor der Jahrhundertwende, der sich der Sprache der »Entartungslehre« bedient, kann als unmittelbarer gedanklicher Vorläufer oder gar Befürworter nationalsozialistischen (oder sonstigen) Terrors gegen psychisch Kranke diskreditiert werden. Freilich stehen andererseits – und dies macht die Situation so komplex – die Degenerationslehre und der Nationalsozialismus über die Konzepte des Sozialdarwinismus und der »Rassenhygiene« (s. unten) in einem vielschichtigen ideengeschichtlichen Zusammenhang. Ein einfaches Ursache-Wirkungs-Verhältnis liegt hier zwar mit Sicherheit nicht vor, doch hat es die wissenschaftlich auf tönernen Füssen stehende degenerationstheoretische Lehrmeinung den noch weitaus spekulativeren, ja absurden Rassetheorien der Nationalsozialisten besonders leicht gemacht, ihre ideologischen Verzerrungen wissenschaftlich zu verbrämen.
Verwendung des Degenerationsbegriffes am Beispiel von Kraepelin Viele Psychiater der Jahrhundertwende, so eben auch Emil Kraepelin, haben vom Begriff der Degeneration regen Gebrauch gemacht: Kraepelin, der alles andere als ein unpolitischer Wissenschaftler war (Engstrom 1991), spricht immer wieder von »Entartung«, auch von den »Entarteten«, von »degenerativer Grundlage« und »Minderwertigkeit«. Besonders deutlich wird dies bei seiner Schilderung von – wie wir heute sagen würden – persönlichkeitsgestörten, aber auch dysthymen oder sexuell devianten Patienten. Dennoch wäre der Schluss verfehlt, in der deutschsprachigen Psychiatrie der Jahrhundertwende habe eine vollkommen unkritische Einstellung zur Degenerationstheorie vorgeherrscht. Insbesondere nach der »Wiederentdeckung« der von Mendel beschriebenen Vererbungsgesetze verlor der im Vergleich dazu sehr verschwommene Begriff der »Degeneration« zunehmend an Boden. Bei Kraepelin etwa kontrastiert die umfassende Anwendung der Degenerationstheorie auf eigenartige Weise mit seiner mehrfach geübten Kritik an der begrifflichen Unschärfe des Konzepts. So spricht er von der »unsicheren und schwankenden Umgrenzung« des Begriffs Entartung (Kraepelin 1915, S. 1973). 1918 weist er den von Magnan vertretenen umfassenden Erklärungsanspruch der Theorie zurück: Wenn auch, so Kraepelin, durch dessen »Bestrebungen, die Geistesstörungen der Entarteten
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
grundsätzlich denen der gesund Veranlagten gegenüberzustellen …, die engen Beziehungen gewisser Formen des Irreseins zur erblichen Anlage in helles Licht gesetzt wurden, hat sich doch die schroffe Trennung jener beiden Gruppen als undurchführbar erwiesen« (Kraepelin 1918, S. 253).
Differenzierung zwischen »gesund« und »krank« Auch Kraepelins Verwendung einschlägiger Termini wie »erbliche Entartung«, »krankhafte Veranlagung«, »seelische Entwicklungshemmungen« oder »angeborene Grundzustände« ist alles andere als einheitlich. Dies sehr wohl spürend, beruft er sich bei der Differenzierung zwischen »gesund« und »krank« besonders im Falle der nicht klar psychotischen Krankheitsbilder letztlich auf das quantitative Moment, nämlich den Schweregrad, v. a. im Sinne der psychosozialen Folgen einer seelischen Störung: »Würden wir im strengsten Sinne alle diejenigen angeborenen Eigenschaften als Ausfluss der Entartung betrachten, die der Erreichung allgemeiner Lebenszwecke hinderlich sind, so würden wir deren Spuren nirgends vermissen. Die Bedeutung des Krankhaften können wir aber den persönlichen Abweichungen von der vorgezeichneten Entwicklungsrichtung erst dann zuschreiben, wenn sie eine erhebliche Bedeutung für das körperliche oder psychische Leben gewinnen; die Abgrenzung ist also eine rein gradweise und deswegen in gewissem Spielraume willkürliche« (Kraepelin 1915, S. 1973).
Ethische Erwägungen Andererseits hat Kraepelin mehrfach vor der unbedachten Umsetzung derartiger Konzepte in konkrete Maßnahmen gewarnt. So stand er der von ihm erwähnten amerikanischen Praxis, bei manchen psychischen Störungen eine Sterilisation durchzuführen, unter Hinweis auf das unvermeidliche ethische Dilemma skeptisch gegenüber: »Ohne Zweifel wäre die Massregel wirksam, doch erscheint die Bestimmung darüber schwierig, bei wem sie Halt zu machen hätte.« (Kraepelin 1903, S. 386).
Erbfaktoren vs. Persönlichkeit und Umwelt Auf ein weiteres Beispiel für die durchaus vorhandene Bereitschaft zur kritischen Prüfung der Degenerationslehre hat Heimann (1989) hingewiesen: Als der spätere Tübinger Ordinarius für Psychiatrie und überzeugte Nationalsozialist H. F. Hoffmann im Juli 1920 anlässlich einer Sitzung der von Emil Kraepelin geleiteten (und gegründeten) Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie über seine rassenhygienischen und erbbiologischen Thesen sprach, äusserte Kraepelin bei aller Zustimmung zur genetischen Forschung in der Psychiatrie im allgemeinen doch erhebliche Bedenken gegen die unkritisch-vorschnellen Rückschlüsse von Symptomen auf zugrunde liegende Krankheitsprozesse im besonderen. Er betonte, dass »die Krankheit« eben gerade nicht unmittelbar zu
der klinischen Symptomatik führe, sondern dass Persönlichkeit und Umwelt – also nicht oder nicht entscheidend erbbedingte Faktoren – von grosser Bedeutung seien.
Degenerationstheorie als konzeptueller Hintergrund Für den hier beispielhaft herausgegriffenen Autor Kraepelin gilt also, dass die Degenerationstheorie zu einem umfassenden, aber nicht dogmatisch angewandten Raster wurde, zu einer Art konzeptuellem Hintergrund für das Verständnis zahlreicher seelischer Störungen. Am wenigsten wirkte sich dies hinsichtlich der Dementia praecox aus, am deutlichsten bei der manisch-depressiven Erkrankung, der Paranoia und, wie bereits erwähnt, bei den Persönlichkeitsstörungen. Trotz dieser wenig reflektierten allgemeinen Bejahung des Degenerationsgedankens lehnte Kraepelin biologistische Verkürzungen – etwa im Sinne der »stigmata degenerationis« – klar ab. Seine Einstellung – und auch die anderer wichtiger zeitgenössischer Autoren – bleibt hier auf eine ähnlich merkwürdige Art unscharf wie diejenige zum Leib-Seele-Problem oder zu sonstigen wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen, obwohl Kraepelin, äußerlich betrachtet, in allen Auflagen des Lehrbuchs sowie in einer eigens diesem Thema gewidmeten Studie (Kraepelin 1908) mehrfach ausführlich dazu Stellung genommen hat. Im deutschen Sprachraum wird Bumkes Studie »Über nervöse Entartung« (1912) als die entscheidende und wirksamste Kritik an der tradierten Form der Degenerationslehre angesehen.
1.7
Die Kliniker um die Jahrhundertwende
Klinisch-pragmatische Verlaufsforschung Parallel zur Entwicklung des Degenerationsgedankens und, wie gezeigt wurde, deutlich beeinflusst von ihm, trat in Fortsetzung der Studien von Wilhelm Griesinger und Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899; ⊡ Abb. 1.3) mit Emil Kraepelin (1856–1926) die klinisch-pragmatische Ver⊡ Abb. 1.3. Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
13 1.7 · Die Kliniker um die Jahrhundertwende
laufsforschung in den Vordergrund des Interesses. Vor allem Kahlbaum und Kraepelin empfanden frühere Systematiken besonders deswegen als unbefriedigend, weil dem fluktuierenden klinischen Zustandsbild im Vergleich zum Langstreckenverlauf ein zu großes Gewicht beigemessen worden sei. »Pragmatisch« kann man beide Autoren insoweit nennen, als es ihnen um die möglichst umfassende und detailgenaue klinische Erfassung von Krankheitsverläufen ging, um erst auf dem Boden einer solchen empirischen Kenntnis theoretisch-systematische Überlegungen anzustellen. Dabei schwingt insbesondere bei Kraepelin eine gewisse Skepsis gegenüber vertieften wissenschaftstheoretischen Erwägungen in der Psychiatrie mit. Kahlbaum hingegen entwarf ein recht komplexes, zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geratenes nosologisches System, das hier nicht näher betrachtet werden kann. In klinischer Hinsicht ist Kahlbaums Name v. a. mit der Beschreibung der Katatonie, des »Spannungsirreseins«, wie er es nannte, verbunden (Kahlbaum 1874; Lanczik 1992).
Emil Kraepelin Emil Kraepelin (⊡ Abb. 1.4) setzte in manchen Aspekten das von Griesinger und Kahlbaum begonnene Vorhaben einer klinischen Forschung fort, prägte es aber stark durch seine eigenen Konzepte. Ähnlich wie Kahlbaum äußerte sich Kraepelin immer wieder sehr kritisch über den rein symptomatologischen Zugang zur psychiatrischen Diagnostik, der bei vielen Autoren des 19. Jahrhunderts vorgelegen habe. Zwar verkannte er nicht, dass auch Griesinger den Verlaufsaspekt herausgearbeitet hatte, jedoch konnte dessen bereits erörterte Konzeption einer Einheitspsychose den pragmatischen Kliniker Kraepelin nicht überzeugen. Entscheidend für den bis heute anhaltenden großen Einfluss seines Werkes dürfte gewesen sein, dass Kraepelin der unter der terminologischen Unübersichtlichkeit des 19. Jahrhunderts leidenden Psychiatrie ein sich auf jahrzehntelange klinische Erfahrung berufendes und damit »innerpsychiatrisch« – also eben nicht philosophisch oder neuroanatomisch – legitimiertes und zudem noch prognostisch und damit pragmatisch ⊡ Abb. 1.4. Emil Kraepelin (1856–1926) (Quelle: Psychiatrische Klinik der LMU München, Psychiatriehistorische Sammlung)
orientiertes nosologisches Bezugssystem zur Verfügung stellte.
Konzept der »natürlichen Krankheitseinheiten« Vor dem Hintergrund der von ihm, wie oben ausgeführt, in hohem Masse, aber nicht kritiklos akzeptierten und angewandten Degenerationslehre waren psychophysischer Parallelismus, strikter, wenn auch kaum thematisierter philosophischer Realismus sowie eine unbedingte Orientierung an der beobachtbaren klinischen Realität die Grundpfeiler, die es Kraepelin ermöglichten, in ungemein wirksamer Art unterschiedliche methodische Ansätze auf ein gemeinsames Forschungsziel hin auszurichten, nämlich die Erkennung dessen, was er »natürliche Krankheitseinheiten« nannte. Der zentrale Gedanke dieses Ansatzes ist die Hypothese, dass es in der Psychiatrie, wie in anderen medizinischen Fächern auch, von der Natur vorgegebene – in heutiger Terminologie: biologische – Krankheitseinheiten gibt, die in genau dieser Weise existieren, ganz unabhängig davon, ob sich die Forschung mit ihnen beschäftigt oder nicht. Diese Einheiten werden also nach Kraepelins Auffassung keineswegs von den Psychiatern »konstruiert«, sind keineswegs bloße psychopathologische Konventionen, sondern existente und voneinander eindeutig trennbare Entitäten, ähnlich wie dies bei Gegenständen der Außenwelt, etwa verschiedenen Arten von Pflanzen, möglich ist. Das von Kraepelin vertretene, sehr weitgehende Postulat lautete nun, dass der Forscher sich unabhängig von der von ihm angewandten Forschungsmethodik – pathologische Anatomie, ätiologisch-pathogenetische Forschung oder Symptomatologie einschließlich des Verlaufs – bei hinreichend ausgearbeiteter Technik notwendigerweise auf die Entdeckung immer derselben psychiatrischen Einheiten hinbewegen wird, eben den ja schon vor jeder Forschung festliegenden »natürlichen Krankheitseinheiten«.
Psychiatrische Forschung und Wissenschaftstheorie Freilich war Kraepelin bewusst, und er hat dies auch geäußert, welch hohen Anspruch an die psychiatrische Forschung er hier stellte. Weit weniger klar hingegen brachte er die von ihm explizit oder häufiger implizit eingeführten wissenschaftstheoretischen Konzepte zur Sprache, nämlich Realismus (Anm.: Hier im wissenschaftstheoretischen Sinne, also im Gegensatz zu Idealismus, gemeint), Parallelismus, Naturalismus und die methodische Ausrichtung der Psychiatrie an der experimentellen Psychologie Wundtscher Prägung. Durchaus kritisch diskutierte er aber die Tatsache, dass sich in der klinischen Realität die Grenzen zwischen den einzelnen psychischen Erkrankungen oft kaum ziehen lassen, obwohl sein Modell genau dies fordern müsste. Diesem von ihm selbst, aber auch von zahlreichen an-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
deren Autoren geäußerten Einwand versuchte er in den späten programmatischen Arbeiten aus den Jahren 1918– 1920 Rechnung zu tragen. Hier finden sich Formulierungen, die ein graduelles Aufweichen der früher kompromisslosen Konzeption natürlicher und prinzipiell erkennbarer Krankheitseinheiten anzeigen und die v. a. die von Birnbaum (1923) »pathoplastisch« genannten Faktoren deutlich mehr berücksichtigen, etwa die Persönlichkeit des Erkrankten, seine Lebensbedingungen und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Dennoch ist, wenn man Kraepelins Texte sehr genau auf diesen Punkt hin untersucht, über die 5 Jahrzehnte seiner aktiven psychiatrischen Forschung »kein grundsätzliches Abrücken« von der Leitidee der natürlichen Krankheitseinheit festzustellen (Hoff 1994). Die wesentlich auf Verlaufsmerkmale gestützte Dichotomie endogener Psychosen (Dementia praecox vs. manisch-depressive Erkrankung) ist nur eines unter vielen Resultaten seiner diagnostischen Forschung, wenn auch ohne Zweifel ein besonders nachhaltig, nämlich bis hin zu den aktuellen operationalen Diagnosemanualen wirksames (s. unten).
Alfred Erich Hoche Ein nicht grundsätzlicher, aber doch deutlicher Gegenentwurf zu Kraepelins Psychiatrieverständnis kam von Alfred Erich Hoche (1865–1943), eine aus psychiatriegeschichtlicher Sicht in mehrfacher Hinsicht wichtige Figur. Im jetzigen Zusammenhang geht es um Hoches hartnäckig vorgetragene Kritik an Kraepelins Konzept der »natürlichen Krankheitseinheiten«, das Hoche für zu spekulativ, mindestens aber für weitaus verfrüht hielt. Er sprach von der »Jagd nach dem Phantom« Krankheitseinheit und spottete in unverkennbarer Anspielung auf Kraepelins zahlreiche kleine und große Änderungen der nosologischen Grenzen, dass man eine trübe Flüssigkeit – nämlich das klinische Bild und den Verlauf seelischer Störungen – nicht dadurch klarer mache, dass man sie von einem Gefäß in das andere giesse – also den Störungen bloß neue Namen gebe (zusammengefasst dargestellt in Hoche 1912). Hoche schlug vor, die Frage der natürlichen Krankheitsentitäten als – vorläufig oder grundsätzlich – unbeantwortbar zurückzustellen und sich der Erarbeitung empirisch abgesicherter, den Belangen von Praxis und Forschung vollauf genügender Symptomenkomplexe zu widmen. Dieser später »syndromal« genannte Ansatz hat sich weitgehend durchgesetzt, was freilich die Existenz von »hinter« den Syndromen stehenden Krankheitseinheiten nicht prinzipiell ausschließt. Erwähnenswert ist aber bereits hier, dass derselbe Autor, Hoche, einer von 2 Autoren eines 1920 erschienenen Buches war, in dem die »Tötung lebensunwerten Lebens« aus juristischer und psychiatrischer Sicht erörtert und definitiv gutgeheißen wird. Darauf wird zurückzukommen sein.
Robert Gaupp und Ernst Kretschmer Einige weitere wichtige konzeptuelle Beiträge, die zu Beginn dieses Jahrhunderts erschienen, seien erwähnt: Robert Gaupp (1870–1953), bis 1906 Kraepelins Oberarzt in München, und Ernst Kretschmer (1888–1964), beide in Tübingen, entwarfen einen psychopathologisch fundierten Ansatz, mit dem sie sich in mancherlei Hinsicht, wenn auch nicht grundsätzlich, von Kraepelins Denken entfernten.
Verstehender Zugang zum »Unverständlichen« des Wahns Gaupp ging es v. a. um die Frage, inwieweit es einem verstehenden, Biografie und Persönlichkeitsentwicklung betonenden Zugang zumindest in Einzelfällen möglich sein könnte, das »Unverständliche« des Wahns aufzulösen, den Wahn somit als psychologisch verständliche, wenn auch ungewöhnliche Reaktion auf eine ganz bestimmte Konstellation vorwiegend seelischer und sozialer, aber auch körperlicher Bedingungen aufzufassen. In meisterhafter Weise hat Gaupp diese Thematik anhand des Falles des von ihm begutachteten »Hauptlehrers Wagner« entwickelt, der aus wahnhaftem Erleben heraus 1913 seine Familie und mehrere ganz unbeteiligte Personen getötet sowie verschiedene Brände gelegt hatte. Gaupp hielt bis zu Wagners Tod im Jahre 1938 mit ihm Kontakt und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu diesem Fall (Gaupp 1920). Neuzner und Brandstätter (1996) haben die Krankengeschichte Wagners unter besonderer Berücksichtigung seiner langjährigen Beziehung zu Gaupp und der von ihm verfassten Theaterstücke und sonstigen literarischen Texte umfassend aufgearbeitet.
Konstitutionsbiologischer Ansatz Ergänzt und wesentlich erweitert wurde diese Forschungsrichtung durch Gaupps Schüler Ernst Kretschmer (Anm.: In diesem Zusammenhang ist vor allem Kretschmers Monografie über den »Sensitiven Beziehungswahn« (1918) zu erwähnen, auf die später noch eingegangen wird.), der einen konstitutionsbiologischen Ansatz verfolgte, also versuchte, bestimmte körperliche Merkmale, v. a. den Körperbau, mit seelischen Eigenschaften und Störungen in Verbindung zu bringen. Kretschmer forderte in heute sehr aktuell anmutender Weise eine »mehrdimensionale« Diagnostik und damit auch Befunderhebung.
Carl Wernicke, Karl Kleist und Karl Leonhard Der bedeutende Kliniker und Forscher Carl Wernicke (1848–1905) entwarf eine psychiatrische Systematik, die in den endogenen Psychosen in mancherlei Hinsicht Analoga der neurologischen Systemerkrankungen sah. Er beschäftigte sich intensiv mit der psychotisch gestörten Ausdrucksmotorik, insbesondere mit den katatonen Symptomen. Die von ihm begründete Schule wurde von
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Karl Kleist (1879–1960) und Karl Leonhard (1904–1988) fortgeführt. Diese Autoren definierten – weit über die als zu grob empfundene Einteilung Kraepelins hinaus, v. a. unter Ablehnung seiner nosologischen Dichotomie endogener Psychosen – distinkte psychische Krankheitseinheiten, die bezüglich ihrer Genese, familiären Belastung, Symptomatik, Verlauf und Therapie scharf zu trennen seien. Am prägnantesten hat diesen Gedanken Karl Leonhard in seiner »Einteilung der endogenen Psychosen« (1980) herausgearbeitet. Dieser Ansatz stellt den Gegenpol zum einheitspsychotischen Konzept Griesingers dar (Beckmann u. Franzek 1995).
Karl Bonhoeffer Karl Bonhoeffer (1868–1948), nach seiner Breslauer Zeit von 1912–1938 26 Jahre lang Direktor der Klinik für psychische und Nervenkrankheiten an der Berliner Charité, postulierte die »nosologische Unspezifität« psychopathologischer Symptome, indem er die bis heute akzeptierte These aufstellte, dass dem Gehirn nur eine begrenzte Anzahl von Reaktionsmöglichkeiten auf die theoretisch unbegrenzte Zahl von Noxen zur Verfügung stünden. Damit werde jeder unmittelbare Schluss vom Symptom auf die Ursache hinfällig (Bonhoeffer 1910).
Eugen Bleuler Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939; ⊡ Abb. 1.5) versuchte als einer der ganz wenigen Universitätspsychiater, Freuds Psychoanalyse in die klinische Psychiatrie zu integrieren. Später allerdings, nachdem sich zunehmende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Bleulers und Freuds Grundüberzeugungen gezeigt hatten, entfernte er sich wieder von dieser Position, wenn auch keineswegs vollständig (Bleuler 1913; Küchenhoff 2001). Nach einer kritischen Zusammenfassung der vorliegenden Forschungsergebnisse schlug Bleuler (1911) vor, nicht mehr, wie Kraepelin, von der Dementia praecox, sondern in Anbetracht der symptomatologischen, möglicherweise aber auch ätiologisch-pathogenetischen Heterogenität dieser Erkrankungen von der »Gruppe der
⊡ Abb. 1.5. Eugen Bleuler (1857–1939) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
Schizophrenien« zu sprechen, ein Vorschlag, der sich weithin durchsetzte. Für die systematische Erfassung psychopathologischer Phänomene bedeutsam wurden Bleulers Unterscheidungen zwischen Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen sowie zwischen primären und sekundären Symptomen: Grundsymptome sind bei jeder schizophrenen Erkrankung vorhanden, akzessorische hingegen können, müssen aber nicht hinzutreten. Ganz anders, nämlich ätiologisch, ist die zweite Unterscheidung gedacht: Primäre Symptome resultieren nach Bleuler unmittelbar aus dem von ihm vermuteten neurobiologischen Krankheitsprozess, während die sekundären Symptome bereits psychische Reaktionen des Betroffenen auf die Krankheit darstellen. Richtungweisend wurde auch Bleulers Beitrag zum Verlauf schizophrener Erkrankungen, insoweit er die ausgesprochen pessimistische Kraepelinsche Auffassung vom notwendig schlechten Verlauf der »Dementia praecox« verließ und die Gruppen der teilweise oder sogar vollständig remittierten Patienten beschrieb. Jüngst hat Christian Scharfetter (2006) Bleulers Werk aus psychopathologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive einer umfassenden und kritischen Würdigung unterzogen. Der Band enthält auch einen psychiatriehistorisch bemerkenswerten Text von Manfred Bleuler (1903–1994), Sohn und Nachfolger Eugen Bleulers in der Leitung der Zürcher Universitätsklinik »Burghölzli«.
1.8
Psychoanalyse und Behaviorismus
Das Forschungsinteresse Sigmund Freuds (1856–1939; ⊡ Abb. 1.6) bezog sich zunächst vorwiegend, später mehr implizit auf neurophysiologische Zusammenhänge (Hirschmüller 1991; Hoffmann-Richter 1994; Miller u. Katz 1989; Sulloway 1983). Nach einer Phase der Zusammenarbeit mit Brücke und Meynert in Wien beeindruckte ihn die in Paris bei J. M. Charcot (1825–1893) erlebte Beeinflussbarkeit seelischer Phänomene, insbesondere
⊡ Abb. 1.6. Sigmund Freud (1856–1939) ((Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
hysterischer Symptome, durch Suggestion und Hypnose. Zusammen mit J. Breuer (1842–1925) entwickelte Freud in der Folgezeit eine Behandlungsstrategie für hysterische Störungen, die als Vorläuferin für die später beschriebene »psychoanalytische Kur« im engeren Sinne verstanden werden kann.
Theorie der psychoanalytischen Behandlung Deren Kerngedanke ist die Annahme eines unbewussten seelischen Bereichs, der aber starken Einfluss auf das bewusste Seelenleben habe. Dies könne sich v. a. dann negativ auswirken, wenn ungelöste Konflikte, zentraler Punkt der psychoanalytischen Neurosekonzeption, übermächtig werden und durch ihr Drängen an die Oberfläche zu Leidensdruck, zu Symptomen führen. Durch den, wie Freud es nannte, »Königsweg« der Traumdeutung, könne man im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung Zugang zu den unbewussten Inhalten bekommen. Durch das Wiedererleben der konflikthaften Momente in der therapeutischen Beziehung zum Analytiker, in der »Übertragung«, durch einen kathartischen Prozess also, könne man den Konflikt bewusst machen und einer Lösung näher bringen bzw. im Idealfall ganz auflösen.
Seelische Instanzen Später ergänzte Freud dieses therapieorientierte Modell durch die auch und gerade auf die ungestörte Psyche bezogene Vorstellung der Existenz unterschiedlicher seelischer Instanzen, des »Es«, das die Instinkte und Triebe beinhalte, des »Über-Ich«, das alle Arten von Normen repräsentiere sowie des »Ich«, das die für das Individuum jeweils erlebens- und handlungsrelevante Schnittstelle darstelle.
Ablehnung durch die akademische Psychiatrie Die zeitgenössische akademische Psychiatrie hat mit wenigen Ausnahmen, etwa Eugen Bleuler, die Psychoanalyse nicht akzeptiert, weder als Therapiemethode noch als Menschenbild. Ein besonders drastisches Beispiel für die bissig-polemische Ablehnung der Psychoanalyse ist der bereits mehrfach erwähnte Münchner Psychiater Emil Kraepelin, der in der Psychoanalyse lediglich eine sich in individueller Beliebigkeit verlierende und dem sexuellen Bereich zu starkes Gewicht beimessende psychologische Spekulation sah. Diese krasse Ablehnung gerade durch biologisch orientierte Autoren ist insoweit bemerkenswert, als Freud sich selbst ja durchaus – und zwar zeitlebens – als Naturwissenschaftler sah. Er hatte wie die meisten forschenden Psychiater der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das charakteristische Fernziel eines physiologischen oder biochemischen Verständnisses seelischer Phänomene. Er kam aber, völlig zu Recht, zu dem Schluss, dass mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln diese Frage nicht zu beantworten sei, es somit zunächst eines psychologischen Zugangs bedürfe.
Psychoanalyse und »romantische Psychiatrie« Es trägt viel zur Unübersichtlichkeit der Literatur zur wissenschaftstheoretischen Einordnung der Psychoanalyse bei, dass zum einen Freuds naturwissenschaftlicher Impetus nicht erkannt oder anerkannt wurde, dass aber zum anderen tatsächlich Parallelen bestehen zwischen dem psychoanalytischen und dem Menschenbild der bereits beschriebenen »romantischen Psychiatrie«. Dies gilt insbesondere für die Betonung der individuellen Lebensgeschichte sowie der affektiven Seite des Seelischen. Immer wieder wurde auf die geistige Verwandtschaft zwischen dem Denken Heinroths und Freuds verwiesen, ja Heinroth und der spätromantische Autor Carl Gustav Carus (1789–1869) gar als – verkannte – Vorläufer der Psychoanalyse bezeichnet.
Diskrepanz durch verschiedene Sprachen Der psychoanalytische Krankheitsbegriff rückte den Gesichtspunkt individueller psychischer Entwicklung, die auf jeder Stufe gehemmt werden oder scheitern könne, in den Vordergrund. Dies schloss aber die Bedeutung somatischer Bedingungsfaktoren keineswegs aus. Die zunehmende Diskrepanz zur akademisch-psychiatrischen Lehrmeinung resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass »psychodynamische Sprachen« entstanden, die weder auf der Ebene einzelner Termini noch in bezug auf die vorwiegend entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Vorannahmen mit einer klinischen Psychiatrie etwa Kraepelinscher Prägung kompatibel erschienen (Hoff 2006 a). Die Nachfolger Kraepelins auf dem Münchner Lehrstuhl, O. Bumke und K. Kolle – beide im Übrigen keineswegs befangen in unkritisch-positiver Beurteilung von Kraepelins Psychiatrieverständnis – setzten dessen Tradition einer weitgehend kompromisslosen Psychoanalysekritik fort. Dabei meldete Bumke (1926) in einer begrifflich ausgefeilten Argumentation nachhaltige Bedenken am Konstrukt des »Unterbewusstseins« an. Diese Arbeit ist gerade für die aktuelle, v. a. von A. Grünbaum (1987) angestoßene Debatte um den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse von Interesse.
Behaviorismus Die der psychoanalytischen Perspektive in vielerlei Hinsicht entgegengesetzte Position vertrat der von J. Watson zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete Behaviorismus. Hier steht das beobachtbare Verhalten und dessen Veränderung durch Psychotherapie im Vordergrund und nicht der unbewusste, erst durch Interpretation subjektiv und intersubjektiv zugänglich werdende Konflikt. Watson sah etwa die phobische Störung als konditioniert an, als »gelernt«, und schlug das Verfahren der Desensibilisierung gegenüber dem phobischen Stimulus vor. Weitere wichtige Autoren, die die behavioristische und – um den späteren, im deutschsprachigen Raum eingebürgerten Terminus zu verwenden – verhaltenstherapeutische
17 1.9 ·Psychoipathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule«
Tradition begründeten, waren E. L. Thorndike und B. F. Skinner.
1.9
Psychopathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule«
Erklären und Verstehen Hatten bei Kraepelin die philosophischen Vorannahmen psychiatrischen Handelns noch ein eher unbeachtetes Dasein gefristet, besannen sich andere zeitgenössische Autoren ganz entschieden methodischer und wissenschaftstheoretischer Probleme der Psychiatrie. Dafür wegbereitend war der Umstand, dass die psychiatrische Literatur der Jahrhundertwende die von dem deutschen Philosophen W. Dilthey betonte, sich auf Arbeiten des Historikers Droysen stützende Unterscheidung von Erklären und Verstehen intensiv zu rezipieren begann. Unter den gedanklich dichten Monografien, die sich mit dieser speziellen Thematik, aber auch mit der systematischen Darstellung begrifflicher Grundlagen der gesamten Psychiatrie beschäftigen, sind beispielhaft Karl Jaspers’ »Allgemeine Psychopathologie« (1913), Ernst Kretschmers »Der sensitive Beziehungswahn« (1918) und Arthur Kronfelds »Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis« (1920) zu nennen, so verschieden die 3 Werke sonst auch sein mögen. Nur auf Jaspers’ Buch, das einen besonders starken und langanhaltenden Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion genommen hat (und nimmt), kann hier näher eingegangen werden.
Jaspers Karl Jaspers’ (⊡ Abb. 1.7) Ziel war es, die von ihm als, wie Janzarik (1979) es später nennen sollte, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie verstandene Psychopathologie auf eine solide methodische Grundlage zu stellen, insbesondere rein spekulativen und dogmatischen Ansätzen ihren Kredit zu entziehen. In seinem Buch beschrieb er zum einen die einzelnen psychopathologischen Phänomene mit großer klinischer Prägnanz, oft ergänzt durch Kasuistiken, zum anderen aber auch die Grundlagen des gesunden Seelenlebens. ⊡ Abb. 1.7. Karl Jaspers (1883–1969) (Quelle: Psychiatrische Klinik der LMU München, Psychiatriehistorische Sammlung)
Nichterfassbarkeit der Ganzheit Er beharrte darauf, dass die Erfassung der Ganzheit des seelisch gesunden oder gestörten Menschen gerade in seiner biografisch gewordenen Einzigartigkeit, seiner Personalität, keiner wissenschaftlichen Methode abschließend möglich sein könne. Eine Methode müsse nicht nur ihre Möglichkeiten, sondern genauso sicher auch ihre Begrenztheit erkennen. Überdehnungen hätten unweigerlich dogmatische Erstarrung zur Folge, was Jaspers anhand verschiedener Typen psychiatrischer Vorurteile meisterhaft exemplifizierte (Hoff 1989 b). Dabei hatte er die als »Hirnmythologien« gebrandmarkte unreflektierte Identifizierung neuroanatomischer oder neurophysiologischer Befunde mit seelischem Erleben ebenso im Auge wie klinisch nicht überzeugende metaphysische Spekulationen über Entstehung und Wesen psychischer Störungen.
Beobachtbarkeit des Seelischen Er hielt daran fest, dass Seelisches nie unmittelbar als solches beobachtet werden kann, wie dies bei vielen physikalischen Naturvorgängen (zumindest in erster Näherung) möglich ist, sondern nur über den Ausdruck des Erlebenden, über dessen Sprache, Mimik und Gestik, kurz in der intersubjektiven Begegnung, auch im künstlerischen Produkt. Von großer Bedeutung wurde seine, über Dilthey hinausgehende Abgrenzung des statischen und genetischen Verstehens vom naturwissenschaftlichen Erklären. Jaspers hat sein Werk mehrfach, zuletzt während des Zweiten Weltkriegs, umfassend überarbeitet und erweitert, ohne dass er an den Grundlagen wesentliche Änderungen vorgenommen hätte. Nicht zu Unrecht sehen viele Autoren in Jaspers’ Buch den eigentlichen Beginn einer methodisch reflektierten psychopathologischen Forschung; es ist einer der wegweisenden psychiatrischen Texte überhaupt. Auf Karl Jaspers’ Bedeutung als Psychiatriehistoriker, Pathograph und Existenzphilosoph kann hier nur hingewiesen werden. Über Jaspers’ kritisch-ablehnende Position gegenüber der Psychoanalyse und über deren kulturhistorische Einordnung informiert Bormuth (2002).
Heidelberger Psychiatrie In der Tradition der Heidelberger Psychiatrie, prägnant repräsentiert im IX. (Schizophrenie-)Band des Bumkeschen Handbuches (1932), wird man noch am ehesten die Fortsetzung von Kraepelins Gedankengut sehen können. So etwa hob W. Gruhle in seinem historischen Beitrag zu diesem Band anerkennend hervor, dass die in der »Kraepelinschen Tradition der reinen Beobachtung« stehende »rein funktionale Betrachtung des Seelenlebens … in der Geschichte der Psychiatrie keine Präcedenz« habe (Gruhle 1932). Diese rein funktionale Psychopathologie (Anm.: der Begriff »funktionale Psychopathologie« wird heute
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
zumeist in einem anderen Sinne gebraucht, s. unten) stelle im Gegensatz zu Bleulers Schizophreniebegriff weit weniger auf den Inhalt (das »So-Sein«) als auf die faktische Existenz des Wahnes (das »Da-Sein«) ab. Trotz aller ausgewogenen und nuancierten Methodendiskussion stellte Gruhle klar, »dass in diesem Bande an der Schizophrenie als einem Destruktionsprozess ebenso wenig gezweifelt wird wie am manisch-depressiven Irresein nicht als einem Symptomenkomplex, sondern als einer Krankheitseinheit« (Gruhle 1932).
Kurt Schneider In dieser Tradition der Heidelberger Psychiatrie steht auch Kurt Schneider (1887–1967; ⊡ Abb. 1.8; Anm.: Um eine Verwechslung mit Carl Schneider, einer der zentralen Figuren in der Psychiatrie des Nationalsozialismus, zu vermeiden, sollte bei Kurt Schneider stets der Vorname mitgenannt werden), ja er stellt selbst einen wesentlichen Teil eben dieser Tradition dar (Huber 1997, Janzarik 1984). Bezüglich der Pathogenese vertrat K. Schneider die in der deutschsprachigen Psychiatrie seit langem fest verankerte Auffassung, dass es sich bei den endogenen Psychosen letztlich um organische Störungen des Zentralnervensystems handle. Dieser Standpunkt wird als »Somatosepostulat« bezeichnet. Aber schon hier hob er, für seinen von Methodenkritik und wissenschaftlichem Purismus geprägten Stil sehr charakteristisch, hervor, dass es sich eben um eine Modellvorstellung, ein Postulat, ein, wie er es nannte, »heuristisches Prinzip«, handle, das andere Entstehungsmodi seelischer, auch psychotischer Störungen keineswegs ausschließe. Er erkannte ausdrücklich »die neben dem Somatogenen und Psychogenen bleibende dritte Denkbarkeit des Metagenen an, ein Ver’irr’en der Seele ohne somatische oder psychologische Ursache«, ohne hierauf allerdings näher einzugehen.
Deskriptive Psychopathologie Methodenkritik und Selbstbeschränkung waren auch die Leitideen von K. Schneiders Hauptwerk »Klinische Psychopathologie«, 1992 in der 14. Auflage erschienen. Dieser Text ist hinsichtlich seiner gedanklichen Stringenz und des Einflusses, der von ihm auf die weitere Diskussion ausging, trotz aller Unterschiede im theoretischen Ansatz ⊡ Abb. 1.8. Kurt Schneider (1887–1967) (Quelle: Psychiatriehistorisches Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie München)
und in der Zielsetzung durchaus mit Jaspers’ »Allgemeine Psychopathologie« vergleichbar. K. Schneider entwarf eine vorwiegend deskriptive, jedoch das Seelenleben gerade nicht atomisierende, sondern den klinisch sinnvollen, verstehenden Gesamtzusammenhang wahrende Psychopathologie. Kennzeichnend ist das Ringen um eine präzise psychopathologische Begrifflichkeit, was u. a. zur Herausarbeitung der »Symptome ersten Ranges« führte, bei deren Vorliegen in Abwesenheit greifbarer hirnorganischer Störung K. Schneider »in aller Bescheidenheit« von Schizophrenie zu sprechen empfahl.
Psychiatrische Diagnosen als wandlungsfähige Konstrukte Psychiatrische Diagnosen waren für ihn alles andere als die bloße Abbildung dessen, was Kraepelin unter »natürlichen Krankheitseinheiten« verstanden hatte. Er sah in ihnen vorläufige psychopathologisch fundierte begriffliche Konstrukte, die sich einem ständigen, durch empirisches Wissen und konzeptuelle Weiterentwicklung gesteuerten Anpassungs- und Erneuerungsprozess zu stellen hätten. Diese – in markantem Gegensatz zu Kraepelins Streben nach Realdefinitionen stehende – nominaldefinitorische Auffassung psychiatrischer Diagnosen sowie die Forderung, für die Psychiatrie möglichst eindeutige und allgemein akzeptierte diagnostische Kriterien zu schaffen, lassen K. Schneider als entscheidenden Vorläufer der heutigen operationalisierten psychiatrischen Diagnostik erscheinen – also der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1991) und des DSM-IV der American Psychiatric Association (APA 2000; s. unten).
1.10
Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus
Nachdem am Ende des letzten Abschnitts bereits die Verbindung mit der aktuellen Situation psychiatrischer Forschung hergestellt wurde, ist jetzt ein zeitlicher Schritt zurück erforderlich, um den Hintergrund des dunkelsten Kapitels deutscher Psychiatriegeschichte, der nationalsozialistischen Pervertierung neuropsychiatrischer Theorie und Praxis, deutlich werden zu lassen.
Sozialdarwinistisches Gedankengut Schon lange vor 1933 hatten sich bestimmte rassistische, sozialpolitische und ideologische Auseinandersetzungen sowie Polarisierungen angebahnt. Es gab, worauf bereits eingegangen wurde, seit Ende des 19. Jahrhunderts in allen europäischen Gesellschaften einen breiten Konsens darüber, dass ein Teil der Bevölkerung minderwertig, degeneriert und erblich belastet sei, als sozialer Ballast der
19 1.10 · Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus
übrigen Gesellschaft zur Last falle, keinen Nutzwert habe, sich aber mehr als die Eliten vermehre. Dieser eng mit der Degenerationslehre verknüpfte sozialdarwinistische Gedanke führte schließlich auch zu der Überlegung, durch »Auslese« der einen und »Ausmerzung« der anderen Bevölkerungsgruppe die Gesellschaft nachhaltig zu fördern, ja zu »retten«. Der Begriff der »Rassenhygiene« war 1895 von Alfred Ploetz geprägt worden. Zu diesem Umfeld gehört auch der Terminus »Eugenik«, worunter die gesteuerte Fortpflanzung nach erbbiologischen Hypothesen verstanden wurde. Dass sich dieses Gedankengut mit antisemitischem vermischte, mussten die jüdischen Kollegen am eigenen Leibe erfahren: So etwa musste der Genetiker und Psychiater F. J. Kallmann aus Berlin Deutschland verlassen (1936) und gründete am Institute of Psychiatry in New York eine genetische Abteilung.
Kein Konsens unter den Psychiatern Am 1. Januar 1934 trat das bereits am 14. Juli 1933 verabschiedete Erbgesundheitsgesetz in Kraft, auf das noch einzugehen sein wird. Von einer allgemein anerkannten psychiatrischen Systematik konnte trotz der gegenteiligen Thesen der Erbforscher und Rassenhygieniker nicht die Rede sein. Die Erbforschung stand auf schwachen Beinen, insbesondere die diagnostische Zuordnung der Krankheitsbilder. Das Wissen um die vielfältigen Ursachen des angeborenen Schwachsinns war mangelhaft, er wurde damals fälschlicherweise zumeist mit dem erblichen Schwachsinn gleichgesetzt. Bei den zahlreichen Epilepsieformen und -ursachen gab es ähnliche Fehlschlüsse, einmal ganz abgesehen von der brutalen Folgerung, durch »Ausmerze« und Zwangssterilisation dieser und anderer Krankheiten Herr zu werden (Holdorff u. Hoff 1997; Weber 1993). Es gab aus dem psychiatrischen Bereich Widerstände gegen die von den Nationalsozialisten erlassenen Bestimmungen, u. a. von K. Kleist und O. Bumke, indem an den psychiatrischen Abteilungen tunlichst Diagnosen vermieden wurden, die unter die Sterilisationsgesetzgebung fielen, oder indem keine Meldung an die Ämter erfolgte.
Sterilisation, Euthanasie und Menschenversuche Von der freiwilligen Sterilisation, die von vielen in den 1920er Jahren propagiert und die am Anfang der 1930er Jahre als Gesetzesvorlage eingebracht worden war, gingen die Nationalsozialisten auf die Zwangssterilisation und, mit Kriegsbeginn, nahtlos auf die »Euthanasieaktion« über. Was ursprünglich bei unheilbar Kranken den Gedanken an Sterbehilfe aus Mitleid nahelegte, leitete später über in den ganz anderen Aspekt der Tötung von »Minderwertigen«, von »Ballastexistenzen«, die die Gesellschaft nur belasteten, wobei aber der scheinheilige Begriff des »Gnadentodes« beibehalten wurde. Eine Medizin mit
sehr engem biologistischen Selbstverständnis, die den Menschen zum Objekt machte und unter rassistischem Vorzeichen Fremde, Homosexuelle, psychisch Kranke, körperlich und geistig Behinderte und andere vermeintliche Randgruppen zu »Minderwertigen« stempelte, machte dann auch keinen Halt mehr vor Menschenversuchen, die nicht nur in der extremsten Form in den Konzentrationslagern, sondern auch in manchen »normalen Kliniken« in Form von Experimenten am Patienten durchgeführt wurden (Finzen 1996; Lifton 1986; Seidel u. Werner 1991).
Oppositionelle Ärzte Kritische Strömungen gegen derartige extreme Tendenzen waren in der Zeit der Weimarer Republik noch zahlreich. Sie formten sich im Bereich der Ambulatorien, der Vorsorge und Fürsorge, der Sozialhygiene, der Beratungsstellen für Sexualkunde und Geschlechtskrankheiten und in Gruppierungen wie dem Verein sozialistischer Ärzte, der auch zahlreiche jüdische Kollegen wie K. Goldstein angehörten. Dieser oppositionelle Teil der Ärzteschaft hatte ab dem Jahr 1933 keine Möglichkeit der Einflussnahme mehr und wurde ausgeschaltet, verfolgt, vertrieben oder vernichtet (Peters 1992). Auch der Bereich der Psychotherapie, in dem eine biologistische Verkürzung argumentativ schwerer fallen dürfte als im Hinblick auf die Ätiologie und Behandelbarkeit schwer psychotischer Krankheitsverläufe, wurde während des Nationalsozialismus in die »Gleichschaltung« aller medizinischen Disziplinen einbezogen, worüber Cocks (1985) umfassend informiert hat.
Erbgesundheitsgesetz Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« bestimmte, dass alle approbierten Ärzte zur Meldung der folgenden, als Erbkrankheiten bezeichneten Krankheitsbilder verpflichtet waren: »angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, Huntingtonsche Chorea, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere körperliche Missbildung und schwerer Alkoholismus«. Trotz z. T. erheblicher Widerstände auf seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen wurden nach diesem Gesetz zwischen 1934 und Kriegsende etwa 360.000 Menschen sterilisiert. In Hitlers »Mein Kampf« (Auflage von 1935) wurde auch diese besondere Thematik ganz klar angesprochen: Die Sterilisation sei in derartigen Fällen »die humanste Tat der Menschheit …. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdientes Leiden ersparen …. Der vorübergehende Schmerz eines Jahrhunderts kann und wird Jahrtausende von Leid erlösen.« (S. 279 f.)
Behinderte Kinder Auch Kinder gerieten ins Visier dieser zerstörerischen Ideologie: Im August 1939 verfügte das Reichsinnenmi-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
nisterium in einem geheimen Erlass die Meldepflicht für Kinder mit schweren Missbildungen und für solche mit Trisomie 21 (»Mongolismus«). Nach Aktenlage – diese bestand in aller Regel nur aus den dürftigen Meldebögen – hatten 3 Gutachter über das weitere Schicksal des jeweiligen Kindes, also auch über seine eventuelle Tötung, zu entscheiden. Von 1940 an wurden etwa 30 »Kinderfachabteilungen« gegründet, in denen nach naturgemäss unsicheren Schätzungen insgesamt 5000 Kinder durch Gaben von Morphium, Barbituraten oder durch Nahrungsentzug vorsätzlich ums Leben gebracht wurden.
nicht strafbar, sondern geradezu geboten, um weiteres individuelles Leid abzuwenden und – dieser Aspekt hat hohes Gewicht – die Gesellschaft von »nutzlosen«, also »lebensunwerten« Mitgliedern zu entlasten. Es hat zu dieser Schrift innerhalb der psychiatrischen Fachwelt der Weimarer Zeit bemerkenswerter-, besser bestürzenderweise keine umfassende Debatte gegeben (Meyer 1988). Heute hingegen wird die kontroverse Diskussion um Leben und Werk Hoches von dieser Thematik geradezu dominiert (Schimmelpenning 1980; Seidler 1986).
Widerstand Ermordung psychisch Kranker und geistig Behinderter Mit Kriegsbeginn ging die Sterilisationswelle fast nahtlos in die nach der Berliner Tiergartenstrasse 4, dem Ort wesentlicher Entscheidungen in der Planungsphase, benannte »T4-Aktion« über. Sie stellt die schlimmste Verstrickung der Neuropsychiatrie in die nationalsozialistischen Verbrechen dar: Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden während des »Dritten Reiches«, und hier v. a. 1940 und 1941, zwischen 80.000 und 130.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte von ihren Kliniken in spezielle Vernichtungslager transportiert und dort, meist in der Gaskammer, getötet. Im Rahmen der »T4Aktion« waren sämtliche Patienten zu melden, die nicht arbeitsfähig waren oder nur einfache mechanische Tätigkeiten verrichten konnten, weil sie an folgenden Krankheiten litten: Schizophrenie, Epilepsie, senile Erkrankungen, therapierefraktäre Paralyse und andere Lueserkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Enzephalitis, Chorea Huntington und vergleichbare neurologische Endzustände und schließlich solche, die sich seit mehr als 5 Jahren dauernd in Anstalten befanden.
Strafrechtliches Konzept des »geistig Toten« Die Nationalsozialisten konnten sich zur Begründung ihres Handelns unter anderem auf ein 1920 erschienenes Buch berufen, das von dem Strafrechtler K. Binding und dem – in ganz anderem, nämlich theoretisch-nosologischen Zusammenhang bereits erwähnten – Psychiater Alfred E. Hoche verfasst worden war und den Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« trug. Hier wird, knapp 2 Jahrzehnte vor den nationalsozialistischen Tötungsaktionen, die These vertreten, dass schwer chronisch Kranke unter bestimmten Bedingungen gar nicht mehr als Menschen, als Personen zu betrachten seien, sondern vielmehr als bereits gestorben, als, wie es im Text heißt, »geistig tot«. Eine solche Un-Person, so der entscheidende Schritt in der Argumentation, könne zwar biologisch getötet werden, doch sei dies keineswegs mit dem strafrechtlichen Tatbestand des Totschlags oder gar des Mordes in Verbindung zu bringen. Eine solche Tötung eines bereits »geistig Toten« sei vielmehr nicht nur
Widerstände gegen die Tötungsaktionen gab es sowohl von Psychiatern, etwa von Walther von Baeyer, Karl Kleist und Kurt Schneider, als auch aus den Reihen der betroffenen Familien, der übrigen Bevölkerung und der Kirchen; hier ist v. a. Kardinal Graf Galen aus Münster zu nennen. Nicht zuletzt aufgrund dieses weder ganz zu unterdrückenden noch zu verheimlichenden Widerstandes wurden im August 1941 die Tötungen in Gaskammern eingestellt, dafür aber die unorganisierte »Euthanasie« im Rahmen pseudowissenschaftlicher Experimente – Hungern, Medikamentengabe, künstlich herbeigeführte schwere Infektionen – fortgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die EuthanasieObergutachter in den Nürnberger Prozessen vor Gericht gestellt, sofern sie sich nicht durch Selbstmord (de Crinis 1945; Carl Schneider 1946) oder durch Flucht in die anonyme Illegalität (Heyde) der gerichtlichen Verfolgung entzogen hatten.
Notwendigkeit der Forschung Erfreulicherweise ist zu dem dunkelsten Abschnitt deutscher Psychiatriegeschichte, der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in jüngerer Zeit bereits viel Forschungsarbeit geleistet, ja nachgeholt worden. Aber gerade hier bedarf es auch weiterhin der sorgfältigen Analyse der Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 bzw. 1945, v. a. hinsichtlich der Entstehung und Ausdifferenzierung von Degenerationslehre, Sozialdarwinismus und Eugenik. Auch gilt es, in viel größerem Umfang als bisher die Krankenblattarchive der psychiatrischen Kliniken und die Archive anderer Institutionen auf Daten hin zu untersuchen, die ein umfassenderes und präziseres Bild von den historischen Tatsachen entstehen lassen werden.
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Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Historische Aufarbeitung Die Pervertierung psychiatrischer Theorie und Praxis durch die Nationalsozialisten stellte für die Psychiatrie im Nachkriegsdeutschland eine sehr schwerwiegende Hypo-
21 1.11· Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
thek dar. Zunächst entstand das Bedürfnis, das Geschehene, das später oft mit den Bezeichnungen »unfassbar« und »unverständlich« etikettiert wurde, festzuhalten, also die historischen Fakten zu veröffentlichen und wissenschaftlicher Forschung zugänglich zu machen. Dieser Prozess lief mehr als schleppend an und gewann erst in den letzten Jahrzehnten an Dynamik in Gestalt einer ganzen Reihe von Forschungsprojekten, wissenschaftlichen Symposien und Publikationen. Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass ganze Forschungsrichtungen, insbesondere die psychiatrische Genetik, auf Jahrzehnte hinaus in prinzipiellen Misskredit gerieten und wissenschaftlich im deutschsprachigen Raum praktisch nicht existierten. Auch dies hat sich in den letzten Jahren geändert, wobei natürlich das Bewusstsein um die historischen Hintergründe auch in der aktuellen Forschung stets präsent bleiben sollte.
Anthropologische Psychiatrie In den 1950er Jahren hatte eine psychiatrische Richtung starken Einfluss, die »anthropologische Psychiatrie«, die sich – ganz im Gegensatz zu vielen früheren Konzepten, die sich eher ungern mit ihren philosophischen Prämissen auseinandersetzten – offen auf eine bestimmte philosophische Theorie, nämlich die Existenzialontologie Martin Heideggers, bezog. Die von Ludwig Binswanger begründete Daseinsanalyse arbeitete den existenzphilosophisch und gerade nicht psychologisch gemeinten Aspekt des Individuellen an Genese, Ausgestaltung und Therapie seelischen Gestörtseins heraus. Hier findet sich bei strikter Ablehnung elementaristischer Psychologie eine Hinwendung zur Ganzheit seelischer Akte und zu deren Struktur. Psychose, v. a. in ihrer wahnhaften Ausgestaltung, ist eine besondere, von einer Einschränkung der Freiheitsgrade im Erleben und Handeln, vom »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit«, von der »Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel« gekennzeichnete Störung im Lebensvollzug des Menschen (Binswanger 1965; Blankenburg 1971).
Von der Gestaltpsychologie zur Strukturdynamik In der Psychologie gab es schon eine längere, sich durchaus als empirischen Ansatz verstehende Tradition, die sich ebenfalls entschieden gegen ein elementaristisches Verständnis psychischer Phänomene wandte. Unter dem Schlagwort, das Ganze sei eben mehr als die bloße Summe seiner Teile, ging es hier um eine Perspektive, die einerseits die personale Ganzheit betonte, andererseits aber diese Ganzheit sehr wohl binnendifferenzierte, nun aber gerade nicht in additive Elemente, sondern in komplexe und an den Rändern nicht scharf voneinander abgetrennte Strukturen. Diese ursprünglich aus der Wahrnehmungsforschung stammende »Gestaltpsychologie« gelangte vor allem über das Werk Klaus Conrads (1905–1961)
in die Psychiatrie. Conrad hatte mit einer explizit der Gestaltpsychologie entlehnten Methodik eine neue psychopathologische und verlaufsorientierte Sichtweise der schizophrenen Psychose entwickelt, die dem Fach bis heute zahlreiche Impulse gegeben hat. Sein Kerngedanke war dabei, die gestaltanalytische Methode als »dritten Weg« zwischen die zwar weiterhin wichtigen, aber je zu kurz greifenden klassischen Wege der Deskription einerseits (zu statisch und zu wenig differenziert) und Hermeneutik bzw. Deutung andererseits (zu wenig überprüfbar und zu spekulativ) zu positionieren (Conrad 1958). Ebenfalls gestalt- und strukturpsychologisch fundiert ist der über Jahrzehnte weiterentwickelte psychopathologische Entwurf des Heidelberger Psychiaters Werner Janzarik: Für ihn gestalten sich normale und pathologisch verformte psychische Vorgänge auf zwei Ebenen, der strukturellen und der dynamischen. Dynamik steht dabei vor allem für Affektivität und Antrieb, Struktur für überdauernde Charakteristika der Person, etwa Werthaltung, Persönlichkeitszüge, Interaktionsmuster (Janzarik 1988). In fruchtbarer Weise wurde dieser theoretische Rahmen auf so verschiedene psychopathologische Gebiete wie die psychotischen Syndrome (schizophrener und affektiver Prägung), die Persönlichkeitsstörungen und, diagnosenunabhängig, die Beurteilung der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Gutachten angewandt. Der ebenso originelle, differenzierte und psychopathologisch noch lange nicht völlig ausgelotete Ansatz der »Strukturdynamik« erschließt sich allerdings schon aus sprachlichen Gründen nicht leicht und steht zudem noch gleichsam quer zu der seit Jahren vorherrschenden Tendenz zu einer besonders einfachen und operationalisierbaren psychiatrischen Terminologie.
»Antipsychiatrie« Charakteristisch für die Sonderstellung von Psychiatrie und Psychotherapie, was die Praxisrelevanz von grundsätzlichen Fragen wie den Krankheits- und Diagnosenbegriff anbetrifft, sind die Entstehung und der nicht unbeträchtliche Einfluss fundamental »antipsychiatrischer« Positionen. Vergleichbare Debatten wird man in anderen medizinischen Disziplinen kaum antreffen. Denn schließlich ging es den theoretisch heterogen argumentierenden Psychiatriekritikern der 1960er und 1970er Jahre um nichts weniger als das »Entlarven« der vermeintlich wissenschaftlich fundierten Krankheitskonzepte der akademischen Psychiatrie als Ausgrenzungsinstrumente der bürgerlichen Gesellschaft gegen Personen, die in ihrer Lebensführung zwar andersartig, »auffällig«, aber aus der Sicht dieser Autoren nicht krank und behandlungsbedürftig waren (Szasz 1972). Keineswegs darf im Übrigen die Antipsychiatrie als skurrile Minderheitenmeinung abgetan werden: Nur zu berechtigt waren nämlich viele ihrer Kritikpunkte mit Blick auf die damalige psychiatrische Versorgungssituation vor allem in den Großkrankenhäu-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
sern. Und auch aus heutiger Perspektive haben die von der Antipsychiatrie aufgeworfenen Fragen sehr wohl ihre Bedeutung, auch wenn man die radikalen Antworten etwa von Thomas Szasz nicht mittragen mag.
Biologischer Forschungsansatz Der biologische Forschungsansatz erlebte seit den späten 1950er Jahren einen starken und bis heute andauernden Aufschwung, der zunächst durch die Entdeckung der psychotropen Wirkung zahlreicher Substanzen generiert wurde. Zum einen ging es um die wissenschaftliche Erfassung der therapeutischen Wirksamkeit von neuroleptischen, antidepressiven, anxiolytischen und phasenprophylaktischen Substanzen. Zum anderen entstanden aus den Kenntnissen über die vermuteten oder gesicherten pharmakologischen Mechanismen auch Hypothesen zur Ätiologie, v. a. aber zur Pathogenese seelischer, insbesondere psychotischer Störungen. In praxi führte dieser Argumentationsweg, etwa in Gestalt der Dopaminhypothese der Schizophrenie oder der Noradrenalinhypothese der Depression, zur »Diagnostik ex juvantibus«, bei der aus dem Ansprechen oder Nichtansprechen auf ein ganz bestimmtes Psychopharmakon auf die (biologische) Natur der vorliegenden seelischen Störung rückgeschlossen wird (Helmchen 1990). Neben der Evaluation der Psychopharmakawirkungen entstand der biologischen Richtung durch die Entwicklung neuer diagnostischer Techniken ganz wesentlicher Zuwachs: Beispielhaft zu nennen sind die bildgebenden Verfahren, die neurophysiologischen, neurochemischen und molekulargenetischen Forschungsansätze. Auch psychiatriehistorisch interessant ist die von biologischpsychiatrischer Seite jüngst wiederholt erhobene Forderung, sich bei der Planung von Studien nicht mehr von der herkömmlichen, die Kraepelinsche Dichotomie endogener Psychosen widerspiegelnden Nosologie leiten zu lassen, sondern syndrom-, symptom- oder an seelischen Funktionen orientiert zu forschen. Diese Strategie wird auch als »Denosologisierung« der psychiatrischen Forschung bezeichnet und nennt eine »funktionale Psychopathologie« als Ziel, der es um die krankheitsunabhängige Erfassung biologischer Korrelate bestimmter – gestörter oder ungestörter – seelischer Funktionen geht, etwa Affektregulation, kognitive Prozesse und Gedächtnis (Benkert 1990; van Praag et al. 1987).
Neue therapeutische Wege Neben den klassischen, deutlich den historischen Wurzeln gleichenden Psychotherapieverfahren – also in erster Linie der an Freud orientierten Psychoanalyse und der sich auf Grundsätze des Behaviorismus berufenden Verhaltenstherapie – sind in den letzten Jahren vermehrt therapeutische wie Forschungsbemühungen erkennbar, zu integrativen Modellen zu gelangen. Diese nehmen je nach Art und Schweregrad der vorliegenden Störung Aspekte
ganz unterschiedlicher therapeutischer Richtungen auf, etwa im Sinne einer sowohl medikamentösen als auch verhaltensmodifizierenden und das soziale Umfeld einbeziehenden Behandlung von Angststörungen. Für diese Krankheitsgruppe konnte die Überlegenheit eines solchen kombinierten Vorgehens bereits mehrfach schlüssig gezeigt werden. Der Bereich der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten weit aufgefächert: Als Beispiele seien genannt Gesprächspsychotherapie, kognitive Therapie, Gestalttherapie, Ergotherapie, Musik- und Tanztherapie.
Sozialpsychiatrie Einen weiteren Schwerpunkt psychiatrischer Forschung der letzten Jahrzehnte stellt die Sozialpsychiatrie dar, die sich mit der komplexen Interaktion zwischen dem unmittelbaren, also familiären und beruflichen, und dem weiterem, also dem gesellschaftlichen Umfeld des psychisch Kranken beschäftigt. Dies bezieht sich auf die Genese, die symptomatische Ausgestaltung, das therapeutische Ansprechen und vor allem den Langstreckenverlauf seelischer Störungen unter besonderer Berücksichtigung rehabilitativer Aspekte (Rössler 2004). Einige zentrale, durch die bundesdeutsche Psychiatrie-Enquete (1975) nachhaltig unterstützte sozialpsychiatrische Ziele, etwa eine gemeindenahe Psychiatrie nach dem Prinzip »ambulant vor stationär«, konnten zwischenzeitlich durch die Regionalisierung und die Etablierung integrativer Versorgungsmodelle teilweise realisiert werden.
Operationalisierung Psychopathologie und psychiatrische Diagnostik haben in den letzten Jahren eine starke Tendenz zur Kodifizierung und Operationalisierung erfahren, obwohl komplexere Entwürfe, etwa Janzariks über Jahrzehnte immer weiter ausgearbeiteter und bereits erwähnter strukturdynamischer Ansatz, ein markantes Gegengewicht bilden. Den wissenschaftstheoretischen und -historischen Hintergrund der operationalisierten Diagnosesysteme ICD10 und DSM-IV bildet die »analytische Philosophie« (Anm.: der hier verwandte Begriff »analytisch« hat keine Gemeinsamkeiten mit dem Begriff »psychoanalytisch«), die in Fortsetzung neopositivistischer Traditionen des logischen Empirismus v. a. im angloamerikanischen, seit einiger Zeit aber auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung gefunden hat. Als »Analytische Philosophie des Geistes« (Bieri 1981) stellt diese Richtung das – keineswegs einheitliche – gedankliche Gerüst des facettenreichen Forschungsunternehmens dar, welches zumeist als »cognitive science« bezeichnet wird.
Unterschiedliche psychiatrische »Sprachen« Während die oft mit dem Namen des Philosophen Ludwig Wittgenstein verbundene »linguistische Wende« in der Philosophie lange Zeit keinen wesentlichen Einfluss auf
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die Psychiatrie nahm, setzte etwa ab den 1960er Jahren eine Rückbesinnung auf grundlegende methodische Probleme der psychopathologischen Befunderhebung und Diagnostik ein. Internationale Studien über die Vergleichbarkeit psychiatrischer Diagnosen wirkten erheblich desillusionierend, indem sie die Unvereinbarkeit psychiatrischer »Sprachen« in ihrem ganzen Umfang offenlegten. Die daraus resultierende Unzufriedenheit verband sich mit der praktischen Notwendigkeit, für die therapeutische Evaluation neuentwickelter Psychopharmaka auf Messinstrumente zurückzugreifen, die statistischen Normen genügten. Die »gemeinsame Endstrecke« dieser ineinander verwobenen Entwicklungsstränge ist die aktuelle operationalisierte psychiatrische Diagnostik. In Anlehnung an die Grundvorstellungen der »analytischen Philosophie des Geistes« wird die psychiatrische »Sprache« einer rigorosen Kritik unterzogen. Ambiguitäten und Widersprüche sollen aufgedeckt werden, um durch klare Definitionen von Symptomen, durch Kriterienkataloge und Verknüpfungsregeln, kurz durch operationalisierte Entscheidungsprozesse, eine reliable Diagnostik zu schaffen.
Keine eindimensionalen Erklärungsmodelle. Die Befürch-
Vor- und Nachteile der Operationalisierung
Neurophilosophie. Als markantes und eigenständiges
Eindeutige Vorteile einer solchen Operationalisierung sind die erhöhte Reliabilität, die deskriptive Anwendbarkeit vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher ätiopathogenetischer Hypothesen, die einfache rechnergestützte Auswertbarkeit und nicht zuletzt die Funktion als überschaubares terminologisches Gerüst für die Aus- und Weiterbildung. Aber auch die potenziell problematischen Aspekte eines operationalen, kriteriengeleiteten Vorgehens wird man im Auge behalten müssen, etwa die Tendenz zu sekundärer, aus der Praxis erwachsender »Reifizierung« ursprünglich deskriptiv gemeinter Entitäten, eine implizit unreflektierte Diskreditierung nichtoperationaler Ansätze oder die Gefahr, komplexe psychopathologische Sachverhalte, die sich möglicherweise erst in wiederholter Exploration oder gar völlig außerhalb derselben erschließen, auf »noch am ehesten passende« operationale Kriterien zu reduzieren oder, da kriteriologisch kaum fassbar, für wissenschaftlich unwesentlich zu halten. So aber würde Psychopathologie über Gebühr eingeengt und vereinfacht (Sass 1990; Schwartz u. Wiggins 1986).
Beispiel für das soeben erwähnte neue Interesse an theoretischen Fragen kann das Schlagwort »Neurophilosophie« gelten: In den letzten Jahrzehnen entstand eine bemerkenswerte Koalition zwischen den empirischen Neurowissenschaften einerseits und der »Analytischen Philosophie des Geistes« andererseits, eben die Neurophilosophie. Die analytische Philosophie des Geistes wiederum war um einiges früher im 20. Jahrhundert aus der Unzufriedenheit mit den klassischen dualistischen Theorien zum Leib-Seele-Problem entstanden und forderte, vor einer Feststellung von Tatsachen oder gar Wahrheiten zunächst einmal die Sprache zu untersuchen, in der diese Feststellungen getroffen werden. Anders ausgedrückt: Zunächst kommt die Fokussierung auf die Aussagen über ein Phänomen und erst dann auf das Phänomen selbst. Dieser Grundgedanke wird in der Philosophiegeschichte meist als »Linguistische Wende« (»Linguistic Turn«) bezeichnet. Für die Psychiatrie interessante Aspekte dieser sehr facettenreichen Debatte drehen sich um den Funktionalismus (z. B. Davidson 1980; Fodor 1981), die Intentionalität (Dennett 1987; Searle 1983), um qualitative seelische Phänomene (»Qualia«; Kripke 1980; Nagel 1974), um den besonders radikalen eliminativen Materialismus (Churchland 1986) und um die Emergenzbehauptung (Popper u. Eccles 1977; Hastedt 1988; Carrier u. Mittelstrass 1989). Nun sind dies alles andere als praxisferne philosophische Überlegungen. Vielmehr sind sie – neben den klassischen philosophischen Positionen – wesentliche Bausteine für ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Psychiatrie zwischen Neurowissenschaft, Sozialwissenschaft und Sub-
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Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich in Fortsetzung sowohl der älteren Psychiatriegeschichte als auch der Entwicklungen nach 1970 eine Reihe von wichtigen und kontroversen Debatten ergeben. Wesentliche Beispiele sind nachfolgend aufgeführt.
tungen mancher Autoren, wissenschaftstheoretische Themen könnten in der Psychiatrie unter dem Eindruck der rasant anwachsenden empirischen Daten immer mehr an den Rand gedrängt werden, scheinen sich nicht zu bewahrheiten. Im Gegenteil lässt sich in den letzten Jahren eine verstärkte Bereitschaft erkennen, den theoretischen Rahmen des klinischen wie wissenschaftlichen Faches Psychiatrie auf dem Hintergrund jüngerer Forschungsergebnisse neu zu überdenken. Mittlerweile besteht weitgehend Konsens dahingehend, dass eindimensionale Erklärungsmodelle für psychische Störungen unangemessen sind, ja sein müssen. Aber auch die Tragfähigkeit des biopsychosozialen Modells als größtem gemeinsamen Nenner der unterschiedlichsten psychiatrischen Richtungen wird kritisch diskutiert. Die entscheidende Frage dabei ist, wie man verhindert, dass dieses auf den ersten Blick überzeugende Modell zu einem bloß oberflächlichen Kompromiss wird, der keine kreativen Impulse für Forschung und Praxis mehr zu setzen vermag und im schlimmsten Fall sogar dogmatische Einzelpositionen unfreiwillig wieder erstarken lässt (Ghaemi 2006).
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
jektivität (Northoff et al. 2006; Synofzik et al. 2004). Noch konkreter (und kontroverser) wird es, wenn so grundlegende Konzepte wie die Entscheidungsfreiheit, personale Autonomie und Verantwortung des Menschen auf dem Hintergrund moderner Hirnforschung neurophilosophisch hinterfragt, mitunter auch negiert werden. Beispielhaft ist hier das vieldiskutierte »neurowissenschaftliche Manifest« von Elger et al. (2004) zu nennen. Stärkung der Patientenrolle und -verantwortung. Ange-
stoßen, wenn auch sicherlich nicht erfunden von der antipsychiatrischen Kritik der 1960er und 1970er Jahre, wird die Rollendistribution von Arzt und psychiatrischem Patienten zum Gegenstand von differenzierten (also nicht nur von platt-polemischen) Diskussionen. Analog allen anderen medizinischen Disziplinen gewinnt nun auch in der Psychiatrie der Gedanke des »empowerment« an Bedeutung, also der Stärkung der Patientenrolle allgemein, speziell aber auch der Patientenverantwortung durch aktive Einbeziehung der Betroffenen in Therapieplanung und -durchführung. Dies beinhaltet eine kritische Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Psychiatrie und Zwang ebenso wie den Abschied vom oft unreflektierten ärztlichen Paternalismus früherer Zeiten. Ein besonders interessanter, noch nicht hinreichend ausgeleuchteter Aspekt im Spannungsfeld von Paternalismus und Patientenautonomie ist die Erkenntnis, dass es mit der bloßen »Übergabe« der Letztverantwortung an den Patienten im Sinne einer zu kurz gedachten gemeinsamen klinischen Entscheidungsfindung (»shared clinical decision making«) nicht getan sein kann. Vielmehr muss die spezielle Situation der psychisch kranken Person berücksichtigt werden, deren kognitive, affektive und Bewertungskompetenzen oft ja gerade durch die Erkrankung selbst eingeschränkt, wenn auch nur selten völlig aufgehoben sind. Ethische Maximen müssen hier einen hohen und psychiatriespezifischen Differenzierungsgrad erreichen. Dieses hochgesteckte Ziel wird allerdings nicht nur mit formalen (juristischen) oder sozialwissenschaftlichen Mitteln zu erreichen sein, sondern erfordert den systematischen Einbezug psychopathologischen Wissens. Stellenwert der Psychopathologie. Dies leitet über zu der
Frage, welcher Stellenwert der Psychopathologie in der Weiterentwicklung der Psychiatrie zukommen wird. Neben vielen eher pessimistischen Einschätzungen seit etwa 1970 wird heute auch wieder auf die Option eines erweiterten Verständnisses von Psychopathologie verwiesen. Dieses könnte günstigstenfalls sogar ihrem früheren Anspruch, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie zu sein, wieder Gehör verschaffen. Allerdings müsste eine solche Psychopathologie nicht nur eine operationale Deskription der Phänomene bereitstellen, sondern auch eine »offene« Deskription, die einzelfallorientiert psychopathologische Sachverhalte zwischen den bzw. jenseits der Krite-
rienkataloge erfasst. Ein kritisches Methodenbewusstsein hätte integraler Bestandteil der Psychopathologie zu sein. Und diese müsste das notwendig schwierige und interdisziplinäre methodische Umfeld, in dem sie sich nun einmal bewegt, stets auch unter dem Gesichtspunkt der Grenzen der jeweiligen wissenschaftlichen Methode prüfen. Schließlich sollte eine zukünftige Psychopathologie in der psychiatrischen Ideengeschichte verankert sein und die grundsätzlichen Fragen unseres Faches bewusst so lange wie nötig offen halten. Gemeint sind etwa das Leib-Seeleund das Subjekt-Objekt-Problem sowie der Status von Personalität und hier vor allem von personaler Verantwortung (verkürzend und irreführend oft »Problem des freien Willens« genannt). Ein solches Offenhalten ist nun gerade nicht Ausdruck unentschlossenen Zögerns, sondern des Respekts vor einer noch nicht definitiv entscheidbaren zentralen Frage. Derartige Überlegungen zur Psychopathologie sind nun durchaus praxisrelevant für die gesamte Psychiatrie. Denn diese muss sich gerade in ihrer aktuellen angefochtenen Lage nicht nur ihrer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein, sondern auch das Spannungsfeld der neurowissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, subjektzentrierten und neuerdings neurophilosophischen Perspektiven nicht nur akzeptieren, sondern aktiv mitgestalten. In diesem für die Zukunft der Psychiatrie entscheidenden Prozess könnte die Psychopathologie in der hier umrissenen Gestalt die Funktion einer Richtschnur übernehmen. Dies freilich ist ein sehr hoher Anspruch, den es erst noch einzulösen gilt (Hoff 2006 b, 2006 c). Im selben Kontext steht eine Initiative der World Psychiatric Association (WPA), die ein personzentriertes Verständnis psychischer Störungen anstrebt (IPPP; International Program for Psychiatry of the Person). Auch hier spielt die Psychopathologie eine wesentliche Rolle (Mezzich 2006). Psychiatriegeschichte. Als letztes Beispiel sei das Fach
Psychiatriegeschichte selbst erwähnt. Der hier zu beobachtende Prozess zunehmender Professionalisierung äußert sich nicht nur in konkreten Forschungsprojekten innerhalb der engen Grenzen einzelner psychiatrischer Institutionen, sondern auch in erfolgreichen Bemühungen um internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit (Engstrom 2006; Hoff et al. 2006).
1.13
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Es mag unzeitgemäß wirken, so kurz nach der »Dekade des Gehirns« auf die genuine Bedeutung der Psychiatriegeschichte hinzuweisen, und doch ist es nötig. Denn das Selbstverständnis der Psychiatrie bleibt theoretisch wie
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praktisch, in Forschung und Klinik, ebenso unübersichtlich wie die zahlreichen konkurrierenden psychiatrischen Forschungs- und Behandlungskonzepte. Ob man nun bloss von postmoderner Theorienvielfalt – manche sagen, weniger freundlich: postmoderner Beliebigkeit – sprechen will oder eine Identitätskrise des Faches diagnostiziert, bleibt letztlich irrelevant. Entscheidend ist, dass die grundsätzlichen Fragen, was denn Psychiatrie, was psychische Gesundheit und Krankheit, was Diagnose und Therapie seien, ganz unabhängig vom jeweiligen wissenschaftstheoretischen Standpunkt eines Autors nicht ignoriert und nur unter Einbeziehung und Nutzbarmachung des bestehenden und in Zukunft zu erarbeitenden Wissens über ihre Geschichte beantwortet werden können. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Psychiatrie, wie sie hier in den Grundzügen dargestellt worden ist, kann den Nachweis führen, wie sehr jede psychiatrische Konzeption – sei ihr Selbstverständnis realwissenschaftlich-naturalistisch, deskriptiv, hermeneutisch, anthropologisch oder sozialwissenschaftlich – notwendigerweise mit ganz bestimmten theoretischen Vorannahmen, v. a. zum Menschenbild, verknüpft ist. Genau dies – die ideengeschichtliche Perspektive in praktischer Absicht – macht den eigentlichen Wert psychiatriehistorischen Arbeitens für den heutigen Psychiater in Klinik, Praxis und Forschung aus. Erst durch die überzeugende wissenschaftliche Durchdringung der beiden Schwerpunkte Institutionsgeschichte und Ideengeschichte wird die psychiatriehistorische Forschung als das aktuelle und praxisrelevante Arbeitsgebiet wahrgenommen werden können, das sie aufgrund ihres Forschungsgegenstandes ist.
Literatur (Wegen des umfassenden Themas kann hier nur eine kleine Auswahl wiedergegeben werden; aus diesem Grund konnte auch die sonst übliche eindeutige Zuordnung von Literaturzitaten und Textstellen nicht konsequent durchgeführt werden.)
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
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1
2 2 Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie W. Gaebel, J. Zielasek
2.1
Standortbestimmung ätiopathogenetischer Konzepte – 30
2.2
2.2.2 2.2.3
Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie – 30 Allgemeine Charakteristik von Krankheits-/Gesundheitsmodellen – 31 Psychische Gesundheit – 33 Psychische Krankheit – 35
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Ätiopathogenese – 39 Ätiologische Grundkonzepte – 39 Pathogenetische Grundkonzepte – 40 Integrative Modelle – 41 Modulare Modelle – 43
2.2.1
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Dimensionen der Störungsdiagnostik – 44 Verlaufsdiagnostik – 44 Psychopathologische Funktionsdiagnostik – 45 Soziale Funktionsdiagnostik – 47 Biologische Funktionsdiagnostik – 48
2.5 2.5.1 2.5.2
Forschungskonsequenzen – 49 Terminologischer Exkurs – 49 Forschungsstrategien – 50
2.6
Ausblick
– 52
Literatur
– 53
> > Psychische Krankheit ist kein Mythos, sondern – jenseits kultureller, politischer und weltanschaulicher Perspektiven – nachweisliche Realität. In ihrem Übergangsbereich sind psychische Krankheit und Gesundheit nicht scharf abgrenzbar, definitorisch sind sie aufeinander bezogen. Psychische Krankheit wird in ihren Erscheinungs- und Verlaufsformen, ihren Ursachen und Bedingungen mehrdimensional konzipiert und diagnostiziert. Pathobiologische, -psychologische und -soziale Aspekte sind komplementär, objektive Indikatoren allerdings teilweise noch unzureichend entwickelt. Eindimensionale oder monokausale Theoriebildung ist überholt; in der Forschung ist zwecks Hypothesenprüfung oft ein reduktionistischer Ansatz, in der klinischen Praxis jedoch durchgehend eine integrative Sichtweise erforderlich. Grundsätzlich ist eine funktionale, auf normale Funktionsweisen und ihre Störungen ausgerichtete Betrachtungsweise anzustreben, die deskriptive Operationalisierungen moderner Klassifikationssysteme ergänzt und rein nosologische Konzeptionen kontrastiert. Valide, empirisch geprüfte oder prüfbare ätiopathogenetische Rahmenkonzepte und Krankheitsmodelle sind die Voraussetzung zur Entwicklung und Anwendung rationaler Therapie. Als allgemeines Modell zur integrativen Konzeptualisierung von Ätiopathogenese, Disposition, auslösenden, aufrechterhaltenden und chronifizierenden sowie protektiven und therapeutischen Faktoren für Krankheitsmanifestation und Verlauf kann heute das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell gelten. Es besitzt heuristischen Wert für die individuelle Psychoedukation und Therapieplanung wie für die Ursachen-/Bedingungs- und Therapieforschung. Psychiatrische Forschung ist – in einem klar bestimmten begrifflichen Feld und unter Berücksichtigung strategischer wie methodischer Erfordernisse – multidisziplinär orientiert. Dies rückt die Psychiatrie – im Kontext eines naturwissenschaftlich orientierten Weltbildes – näher an Psychologie, Sozialwissenschaften und Medizin; letzteres ist auch ein Beitrag zur immer noch unvollständigen sozialen Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken.
30
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
2.1
2
Standortbestimmung ätiopathogenetischer Konzepte
Grundlage einer rationalen Therapie in der Psychiatrie müssen – wie auch sonst in der Medizin – klare ätiologische und pathogenetische Vorstellungen sein. Eine in diesem Sinne valide Krankheitstheorie mit entsprechenden Modellvorstellungen sollte Basis einer kohärenten Therapietheorie sein, aus der nicht nur allgemeine, sondern störungsspezifische therapeutische Handlungsanweisungen ableitbar sind, deren Einsatz zu einer spezifischen und wissenschaftlich überprüfbaren Wirkung führt. Aus in diesem Sinne gültigen Krankheitsmodellen müssen aber auch Aussagen über den Übergangsbereich zwischen Krankheit und Gesundheit ableitbar sein. In dieser Anwendungsbreite kommt derartigen Modellen eine Bedeutung über die therapeutische Nutzanwendung hinaus zu. Sie dienen dem Selbstverständnis der in der Psychiatrie Tätigen, der interprofessionellen und Arzt-Patient-Verständigung, der Öffentlichkeitsarbeit, der Lehre, der Forschung. Derart umfassende Modelle liegen bisher erst in Ansätzen vor. Allerdings vollzieht sich eine Entwicklung hin zu integrativen Modellen, die verschiedene Aspekte und Perspektiven integrieren und auf diese Weise unfruchtbare Dualismen zu überwinden suchen. Sie sind in ihrer Komplexität zwar schwieriger zu evaluieren, kommen aber dem nahe, was in der therapeutischen Praxis ohnehin unverzichtbar ist: die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, um dem Kranken in den verschiedenen Dimensionen seines Krankseins wie seiner Person gerecht zu werden.
2.2
Krankheitsund Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
Krankheit und Gesundheit sind nicht scharf abgrenzbar – dies gilt besonders für die Psychiatrie. Ein Blick in die Geschichte der Psychiatrie, aber auch ein Kulturvergleich, zeigen (Ackerknecht 1985), dass Krankheitskonzeptionen mit den politischen, kulturellen und weltanschaulichen Normen und Werten einer historischen Epoche oder einer Gesellschaftsform variieren. Daraus ist abgeleitet worden, die Psychiatrie schaffe sich erst durch Etikettierung ihre Klientel, die sie zu heilen vorgebe. Dieser Vorwurf, der in der sog. »Labeling-Theorie« der Antipsychiatriebewegung kulminierte, ist wissenschaftlich nicht haltbar (van Praag 1978).
Andererseits sind die Gefahren eines politischen Missbrauchs der Psychiatrie zur Ausgrenzung missliebiger Individuen oder Gruppen auch heute nicht von der Hand zu weisen. Grundsätzlich hat die kritische Auseinandersetzung mit der ordnungspolizeilichen Funktion der Psychiatrie zu einer Sensibilisierung für die Gefahren sozialer Stigmatisierung beigetragen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, »dass wahrscheinlich hinter der Vielfalt der Symptome in allen Gesellschaften dieselbe biologische Krankhaftigkeit, eine absolute Abnormalität, steckt. Die Schwierigkeit besteht nur darin, dass uns für die verbreitetsten Psychosen und Neurosen solche absoluten biologischen Kriterien fehlen, und wir Geisteskrankheiten darum in der Hauptsache nur anhand von Symptomen und der grundlegenden Unfähigkeit zur Einordnung diagnostizieren können« (Ackerknecht 1985).
Ähnlich äußert sich Berrios (1994): »The demonstration of culture-related variations in the presentation of a symptom, however, does not necessarily mean that this has no biologic basis or that, if it has, it is irrelevant to its understanding.« (Der Nachweis kulturabhängiger Unterschiede bei der Präsentation eines Symptoms bedeutet nicht zwingend, dass es keine biologische Basis hat oder dass diese, sofern vorhanden, für sein Verstehen irrelevant ist). Diese Aussagen sind insofern zu relativieren, als z. B. ein abnorm hoher Blutdruck nicht per se aufgrund einer »absoluten« Norm »zu hoch« ist, sondern weil diese Devianz empirisch mit bestimmten Gesundheitsrisiken verknüpft ist (van Praag 1978). Die Definition von »krank« erfordert eine Vorstellung darüber, was »gesund« ist – und umgekehrt. Insofern ergibt sich eine wechselseitige Konzeptualisierung, die allerdings nicht in Zirkelschlüsse münden darf: krank ist, was nicht gesund ist – und vice versa. Zirkuläre Definitionen lassen sich nur vermeiden, wenn konkret auf eine definierte »Lebensfunktion« eingegrenzt wird, deren »physiologische« Gesetzmäßigkeit bekannt ist, so dass sich Abweichungen der »Normalfunktion« quantitativ und/oder qualitativ beschreiben und für eine Definition der »Pathofunktion« verwenden lassen. Funktionsstörungen in der Psychiatrie sind oft identisch mit Handlungsstörungen: »In physical medicine … where scientifically derived disease-theories are important, failure of function is a prominent concept … But in psychiatry the concept of failure of action, though not always recognizable for what it is, is, in many contexts, at least as prominent as that of failure of function … Function and action, although distinct concepts, are of course not unrelated« (Fulford 1991). (Übersetzung: »In der somatischen Medizin, … in der wissenschaftlich gewonnene Krankheitstheorien wichtig sind, ist die Funktionsstörung ein vorherrschendes Konzept … In der Psychiatrie ist das Konzept der Handlungsstörung, wenngleich nicht immer als solche erkennbar, mindestens so bedeutsam wie das der Funktionsstörung … Funktion und Handlung, wenngleich unterschiedliche Konzepte, sind natürlich nicht unabhängig«.)
31 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
Der Zusammenhang erklärt sich daraus, dass Handlungsstörungen auch als Funktionsstörungen eines »Handlungsapparats« konzipiert werden können; die konzeptuelle Unterscheidung von »Nichtfunktionieren« und »Nichtkönnen« (Blankenburg 1989) hat allerdings auch ethische Implikationen (Fulford 1991). Wo Indikatoren für »gesund« und »krank« vorliegen, ist eine Abgrenzung empirisch-statistisch möglich, sofern eine normative Grenzziehung unter Angabe eines gewissen Toleranzbereichs erfolgt ist. Das heißt, »gesund« und »krank« sind in der Natur nicht einfach als diskrete Merkmale vorfindbar, sondern sie müssen auf der Grundlage verfügbarer Indikatoren operational definiert werden. Dabei gibt es »Grenzfälle« oder subklinische »Übergangsformen«, deren korrekte Zuordnung oft erst nach einer längeren Verlaufsbeobachtung möglich ist.
ein störungsübergreifendes psychobiologisches Funktionsmodell erforderlich. Die notwendigerweise hohe Komplexität eines derartigen Modells und der noch ungenügende wissenschaftliche Kenntnisstand stehen allerdings einer Ausformulierung derzeit entgegen. Umschriebene Modelle und Forschungsansätze sind zu bevorzugen, wenn unter Kontrolle von »Störvariablen« falsifizierbare Hypothesen geprüft werden sollen. Allerdings darf der Vorteil der experimentellen Überschaubarkeit auf Dauer nicht zu Lasten einer eingeschränkten theoretischen Perspektive und klinischen Repräsentanz gehen (vgl. Lipowski 1986). In der wissenschaftlichen Theoriebildung ist eine integrative Sichtweise unverzichtbar, wenn sich Forschung nicht dauerhaft im Detail verlieren, sondern klinisch relevant werden soll.
Wissenschaftstheoretische Grundlagen 2.2.1
Allgemeine Charakteristik von Krankheits-/Gesundheitsmodellen
Subjektive bzw. implizite Krankheitsmodelle Allgemein kann zwischen wissenschaftlichen (expliziten) und subjektiven (impliziten) Modellen unterschieden werden. Die Relevanz subjektiver bzw. impliziter Modelle für den Krankheits- und Behandlungsverlauf darf nicht unterschätzt werden. Laientheoretische Krankheitsmodelle bei Patienten und Angehörigen können (therapie)verlaufsbeeinflussende Bedeutung gewinnen, indem sie einerseits in der Krankheitsverarbeitung, andererseits in der Therapiemotivation und Lebensführung mehr oder weniger günstige Erlebens- und Verhaltensmuster beisteuern. Sie sind daher im diagnostischen Prozess zu berücksichtigen und in die Behandlungsplanung und -gestaltung einzubeziehen. Sie sind darüber hinaus aber auch von theoretischem Interesse, insofern als ihre genauere Analyse Einsichten in verlaufsstabilisierende wie -destabilisierende psychologische Einflussfaktoren geben kann, die therapeutisch systematischer zu nutzen wären.
Die Suche insbesondere nach den biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen impliziert auch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Rahmenkonzept zum Leib-Seele-Problem (»mind-brain«), das diesem Forschungsansatz zugrundeliegt. Die Problematik gründet u. a. darin, dass sich ein wesentlicher Teil der Symptome bzw. Syndrome psychischer Störungen auf der Ebene der für den Beobachter nur indirekt zugänglichen Subjektivität des individuellen Seelenlebens abspielt, andererseits das Gehirn frühzeitig als »Seelenorgan« erkannt wurde und demnach psychische Symptome mit gestörten Hirnfunktionen in Einklang zu bringen waren.
Historische Entwicklung Historisch lassen sich im Wesentlichen 4 grundlegende Theorien unterscheiden (Goodman 1991). Psychophysischer Parallelismus. Nach dem von Leibniz
begründeten psychophysischen Parallelismus sind Körper und Seele/Geist grundsätzlich verschiedene Seinsformen, die sich nicht beeinflussen.
Wissenschaftliche bzw. explizite Modelle
Psychophysischer Dualismus. Die als psychophysischer
Wissenschaftliche Modelle werden unterteilt in: krankheits- bzw. störungsorientierte und gesundheitsorientierte Konzepte.
Dualismus bezeichnete Auffassung Descartes’ postuliert demgegenüber eine Interaktion und gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Physis, die aber unterschiedlicher Natur sind. Descartes sah mentale Vorgänge als Ausdruck der göttlichen Natur, die dem Menschen in unteilbarer Einheit innewohnt und nicht mit wissenschaftlichen Methoden untersuchbar ist. Die nach seiner Vorstellung in der Epiphyse lokalisierten mentalen Prozesse sollten einen Körper steuern, der gleich einer Maschine funktioniert und dessen Prinzipien wissenschaftlichen Methoden zugänglich sein sollten. Die dualistische Sichtweise ist historisch gesehen für die Entwicklung der Naturwissenschaften insofern fruchtbar gewesen, als sie die isolierte wissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Orga-
In der Regel lassen sich aus gesundheitsorientierten Modellen keine Vorhersagen über krankhafte Abweichungen treffen, während störungsorientierte Modelle selten klare Gesundheitskonzepte aufweisen (Tamm 1993). Andererseits fokussieren gesundheitsorientierte Modelle insbesondere auf protektive Faktoren und sind damit hinsichtlich präventiver Konzepte von Bedeutung. Um die komplementären Prozesse Gesundheit und Krankheit konzeptuell integrieren und ihren mannigfaltigen Überschneidungen gerecht werden zu können, wäre
2
32
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
nismus unter Ausklammerung des Leib-Seele-Problems ermöglichte.
2
Materialismus. Die Theorie des Materialismus nach Hob-
bes hat 3 Arten des Verständnisses mentaler Phänomene hervorgebracht, wonach mentale Prozesse auf Physisches reduzierbar und vollständig durch zugrundeliegende physische Prozesse erklärbar sind, Epiphänomene, d. h. sekundäre bzw. »zufällige« Effekte darstellen, oder sich aus der Interaktion physischer Prozesse ergeben. Identitätslehre. Als vierter Ansatz zur Lösung des Leib-
Seele-Problems ist die Identitätslehre nach Spinoza zu nennen. Danach sind Gehirnprozesse und mentale Zustände ein und dasselbe bzw. unterschiedliche Weisen des Verständnisses derselben Sache. Der monistische Standpunkt vermeidet das Leib-Seele-Problem, da es sich unter dieser Prämisse gar nicht erst stellt. Die auf philosophischer Ebene letztlich unbefriedigende Lösung des Leib-Seele-Problems stellt allerdings kein prinzipielles Hindernis für die Entwicklung ätiopathogenetischer Modelle dar. Zunehmend setzt sich die Einsicht durch (Davidson 1980; Searle 1984; Quine 1987; Lewis 1989), dass in diesem Problem 2 verschiedene Probleme enthalten sind: das unlösbare (sprach-)philosophische Problem der Inkommensurabilität (Unvergleichbarkeit) zwischen 2 konzeptuellen Ebenen (einer mentalistischen und einer die somatischen Bedingungen repräsentierenden Sprachebene) und das bearbeitbare und lösbare empirische Problem der »Realisierung« psychischer Phänomene in neurobiologisch definierten Systemen. Die Subjektivität mentaler Phänomene stellt für die empirische Seite des Problems kein grundsätzliches Hindernis dar, sofern eine konzeptuelle Konfundierung mentaler und somatischer Termini strikt vermieden (Goodman 1991) und eine intersubjektive Verifizierung mentaler Gegebenheiten angestrengt wird (Hempel 1965). In diesem Zusammenhang wird häufig die Frage nach der Kompatibilität der Perspektiven von 1. und 3. Person aufgeworfen. In Ablehnung eines ontologisch-reduktionistischen Ansatzes (Searle 2004) wird hier die Position vertreten, dass in Diagnostik und Therapie psychischer Störungen Erlebensinhalte aus der subjektiven 1. PersonPerspektive über Zwischenschritte einer interaktionell vermittelten intersubjektiven 2. Person-Perspektive gemeinsam in den objektiven Bezugsrahmen einer 3. Person-Perspektive eingeordnet und damit gestörte Erlebensformen prinzipiell auch einer hirnphysiologischen Betrachtung zugänglich gemacht werden können. Biographisches Verstehen der Gründe und Motivlagen bestimmter Erlebens- und Verhaltensweisen und deren metapsychologische Einordnung finden dabei ebenso
Anwendung, wie kausal-orientiertes Erklären des formalen Auftretens bestimmter Symptombildungen auf der Ebene involvierter Hirnmechanismen. Ohne Intersubjektivität des Verstehens kann es, um mit Habermas (2004) zu sprechen, keine Objektivität des Wissens geben.
Anomaler bzw. pragmatischer Monismus Die als »anomaler«, nicht durchgehend gesetzmäßigen psychophysischen Zusammenhängen genügender (vgl. Davidson 1980) oder »pragmatischer« (Pöppel 1988) Monismus bezeichnete wissenschaftstheoretische Grundposition biologisch-psychiatrischer Forschung betrachtet psychische Phänomene und die sie fundierenden neuronalen Funktionen unter einem phylogenetisch und ontogenetisch evolutionären Blickwinkel. Sie impliziert eine Erweiterung des Kausalitätsprinzips insofern, als hierunter neben der sukzessiven Ursache-Wirkungs-Beziehung auch die simultane »Realisierung« einer Struktur auf der Makroebene durch ein komplexes System auf der Mikroebene subsumiert wird. Für die Formulierung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen beiden Funktionsebenen stellt die Objektivierung psychischer Phänomene eine wichtige Voraussetzung dar, die die Kompatibilität mit der neurobiologischen Beschreibungsebene gewährleistet und die Prüfung von Hypothesen über regelhafte Zusammenhänge zwischen definierten Funktionszuständen auf beiden Ebenen erlaubt. Die Sonderstellung der Psychiatrie in der Medizin ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mehr als andere klinische Fächer im konzeptuell-methodologischen Dualismus nomothetischer und ideographischer Erfahrung bewegt (Heimann 1991). Im naturwissenschaftlichen Forschungskontext ist die Anwendung einer objektiven Beobachtungssprache allerdings unverzichtbar. Mentale Vorgänge, die in dieser Sprache nicht abbildbar sind, bleiben der biologischen Forschung vorerst verschlossen. Dieser notwendige Reduktionismus ist legitim, solange er auf den genannten Anwendungsbereich beschränkt bleibt: »We need to practise reductionism in research, but endorse the integrative approach to theory, clinical work, and teaching« (Lipowski 1986). (In der Forschung ist ein reduktionistischer Ansatz gerechtfertigt, in Theorie, Klinik und Lehre hingegen muss ein integrativer Zugang gewährleistet sein.)
Mehrdimensionales biopsychosoziales Krankheitsmodell In der Psychiatrie haben systemtheoretische Überlegungen (von Bertalanffy 1974) zur Ablösung eines eindimensionalen biomedizinischen durch ein mehrdimensionales biopsychosoziales Krankheitsmodell (Engel 1980) geführt, anhand dessen die Bedingungen und Manifestationsformen von Krankheit (und Gesundheit) auf ver-
33 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
schiedenen Ebenen konzeptualisiert und analysiert werden können (⊡ Abb. 2.1). Eine »biologisch« orientierte Psychiatrie erhebt in diesem Kontext den Anspruch, »Forschungsergebnisse aus allen Bereichen der Psychiatrie zu subsumieren, die mit naturwissenschaftlich-biologischen Methoden gewonnen werden« (Hippius u. Matussek 1978), nicht hingegen, dass psychische Störungen als primäre Hirnkrankheiten zu konzipieren seien (vgl. McLaren 1992). Ein multifaktorielles systemisches Funktionsmodell (Marmor
1983) vermag sowohl biologische als auch psychosoziale Bedingungen neuronaler Veränderungen als Substrat devianten Verhaltens zu integrieren. »Anlage« und »Umwelt« sind in diesem Modell komplementäre Aspekte, deren Auswirkungen am – sich entwickelnden – neuronalen Substrat erst durch adäquate biotechnologische Untersuchungsmethoden der Forschung zugänglich werden. Der Wissenszuwachs über Funktionszustände von und Interaktionen zwischen Nervenzellen und die daraus erwachsene Theorie »neuronaler Netzwerke« (Wieding u. Schönle 1991) lassen in Zukunft eine problemadäquate Formulierung neurobiologischer Funktionszustände und korrespondierender psychischer Zustände erwarten.
2.2.2
⊡ Abb. 2.1. Hierarchische Organisationsstruktur biopsychosozialer Systeme. (Nach Engel 1980; Goodman 1991)
Psychische Gesundheit
Die Satzung der WHO definiert in ihrer Präambel Gesundheit allgemein als »Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur (als) das Freisein von Krankheit oder Gebrechen«. Die Definition verweist auf die notwendige Mehrdimensionalität einer Konzeption von Gesundheit – und Krankheit –, indem sie sich an ein biopsychosoziales Konzept (s. unten) anlehnt. Die Orientierung an der subjektiven Befindlichkeit ist allerdings hilfreich, um objektivierbare funktionale Kriterien zu erweitern. Darüber hinaus erscheint der Einbezug der sozialen Dimension als Gesundheitskriterium problematisch, sofern er nicht auf sozial-kommunikative und instrumentelle Kompetenzen beschränkt wird, sondern auch einen normativen sozialen »Lebensstandard« umfasst. Ohne ein Funktionsmodell »gesunder« Lebensvorgänge – körperlich wie seelisch oder sozial – sind Kriterien weder für Gesundheit noch Krankheit angebbar. Reduziert man Gesundheit im Sinne des medizinischen Modells auf die Funktionsfähigkeit einzelner Organe oder Organsysteme, lassen sich anhand der empirisch-statistischen Verteilung von Funktionsparametern Normbereiche mit Hilfe kritischer Indikatoren definieren. Wie die Beispiele Blutdruck oder Blutzuckerkonzentration zeigen, sind entsprechende Meßwerte außerhalb des Normbereichs noch kein Krankheitsbeleg; sie sind eher Indikatoren für eine Regulationsstörung unterschiedlicher Ursache, deren Folgen zeitabhängig Krankheitscharakter gewinnen können. In gleicher Weise ist die pathologische Ausprägung eines Tumormarkers als Hinweis auf ein Malignom zu werten; auch wenn das Vorliegen eines Malignoms selbst – abgesehen von seiner Stadiendifferenzierung – keine Ausprägungsfrage ist, kann seine Entstehung als zellbiologische Gleichgewichtsverschiebung zwischen Entartungs- und Abwehrvorgängen verstanden werden.
2
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
Demnach wäre »Gesundheit« als das anhand bestimmter Funktionsgrößen normierte »Funktionieren« definierter Organsysteme und nicht nur als das Fehlen von Krankheitsindikatoren aufzufassen. Das nach dieser Vorstellung gegenüber dem Anspruch einer »ganzheitlichen« Erfassung zwar reduktionistische statistische Gesundheitsmodell ist Grundlage beispielsweise körperlicher Vorsorgeuntersuchungen (»Organ-Check«), lässt sich aber durchaus auf mentale (z. B. Intelligenztest, Gedächtnisprüfung), prinzipiell auch auf sozial-kommunikative Funktionen (z. B. Einstellungstests) erweitern. Im klinischen Alltag dienen »Routineuntersuchungen« eben diesem Zweck. »Pathologische« Laborwerte können Krankheitswert haben oder auch nicht – hierüber entscheidet weniger das subjektive Wohlbefinden, das durchaus erhalten sein kann, als die gesamte Befundkonstellation: Erst sie gibt – im Kontext eines funktionalen Krankheitsmodells – Aufschluss über den pathologischen Stellenwert eines oder mehrerer Befunde. Psychische Gesundheit wäre in diesem Kontext analog funktionsspezifisch am psychischen »Apparat« oder »Funktionssystem« zu definieren. Aber auf welcher Beschreibungsebene, in welchem Modell, anhand welcher Indikatoren ist das möglich? Ein valides psychisches Funktionsmodell – besonders wichtig für präventive Aufgabenstellungen – sowie daraus abgeleitete Störungsmodelle sind derzeit nicht verfügbar. Während die somatische Medizin über die genannten – in der Regel dimensionalen – Funktionsindikatoren verfügt, gibt es in der Psychiatrie bisher keine objektiven funktionalen Kriterien für psychische Gesundheit oder Krankheit. An metapsychologischen Konstrukten orientierte Störungs- und Therapietheorien (Lipowski 1986; Blankenburg 1989; Tamm 1993) besitzen zwar auch Vorstellungen über psychische Gesundheit, explizieren diese aber unzureichend oder in keiner empirisch überprüfbaren Weise (s. unten). In epidemiologischen Untersuchungen wie in der klinischen Routine werden zur Fallidentifikation bzw. Diagnostik ganz wesentlich psychopathologische Auffälligkeiten herangezogen, die bei definierter Qualität, Schwere und Verlaufscharakteristik »Krankheitswert« besitzen. Die Entscheidung hierüber und damit eine etwaige therapeutische Indikationsstellung beziehen wesentlich das Ausmaß der (subjektiven und objektiven) Alltagsbeeinträchtigung, gestörte Rollenfunktionen etc. – kurz, die Beeinträchtigung von Lebensvollzügen –, aber auch die Wirksamkeit von Bewältigungsstrategien mit ein.
Gesundheitsmodelle
! Psychische Gesundheit wird daher in praxi als Fehlen definierter pathologischer Merkmale und – im Rahmen individueller Möglichkeiten und Lebensumstände – als subjektiv und objektiv weitgehend ungestörter Lebensvollzug operationalisiert.
toren gewinnt in der Psychiatrie zunehmend an Bedeutung. Das Salutogenese-Konzept (Antonovsky 1985) beinhaltet eine Beschreibung der Bedingungen, unter denen sich Gesundheit entwickelt und gefördert werden kann. Krankheit ist weniger Folge gesundheitsbeeinträchtigender Einflüsse, als Konsequenz unzulänglicher gesundheitserhaltender oder wiederherstellender Ressourcen.
Einige wenige Gesundheitsmodelle, die allenfalls bedingt einen wissenschaftlichen Anspruch reklamieren können, sind zu nennen (Tamm 1993). Religiöses Modell. Eines der ältesten ist das religiöse Mo-
dell, von so mannigfaltiger Gestalt wie es Religionen, Völker und Kulturen gibt. Geprägt von magisch-religiösen Begriffen und moralischen Aspekten wird Gesundheit als Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele, Krankheit entsprechend als Ungleichgewicht zwischen Mensch und Natur oder zwischen Mensch und Göttern aufgefasst. Es findet sich nur noch innerhalb verschiedener Naturreligionen, bildet andererseits mit seinem Niederschlag in der christlichen Tradition auch heute noch eine Art philosophisches Grundkonzept unserer westlichen Kultur. Humanistisches Modell. Im Gegensatz hierzu erhebt das
humanistische Modell einen wissenschaftlichen Anspruch. Es entwickelte sich in Gegenbewegung zur traditionell psychopathologischen Orientierung der Psychoanalyse und zu einem mechanistisch geprägten Behaviorismus. Dieser insbesondere auf Maslow zurückgehende »holistische« Ansatz begreift den Menschen als biologischen und psychologischen Organismus in Interaktion mit seiner Umwelt, Gesundheit als gelungenen Interaktionsprozess. Phänomenologische Vorgehensweisen und qualitative Forschungsmethoden kennzeichnen das Modell. Transpersonales Modell. Aus der Weiterentwicklung hu-
manistischer (und existentieller) Modelle sowie deren Amalgamierung mit Theorien des Bewusstseins und fernöstlicher Religion entstand das transpersonale Modell. Das Interesse dieses Ansatzes gilt transzendentalen Erfahrungen. Als Protagonisten sind hier z. B. Maslow, Watts und Ornstein zu nennen. Einsicht und »mindfullness« werden als primäre Gesundheitsfaktoren angesehen. Menschliches Bewusstsein wird als ein sich selbst regulierendes, hierarchisch organisiertes System verstanden. »Ungesunde« mentale Faktoren sind u. a. Agitation und Sorge, die zum Zustand der Angst als Hauptmerkmal vieler psychischer Störungen führen. Als therapeutische Methode der Wahl gilt die Meditation. Das Modell ist wissenschaftlich nicht belegt. Salutogenese-Konzept. Die Betrachtung protektiver Fak-
35 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
Die Sichtweise, »dass eine Stärkung gesundheitsfördernder Kompetenzen mehr zur Überwindung einer Krankheit beitragen kann, als die alleinige Behandlung der Symptomatik« (Haltenhof u. Vossler 1994), stellt allerdings eine nicht belegte Überschätzung protektiver Faktoren dar.
2.2.3
Psychische Krankheit
Begriffsbestimmung In Anlehnung an die WHO-Definition von Gesundheit wäre Krankheit als »Abwesenheit« körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens zu definieren. Ausschließlich subjektive Mißbefindlichkeit mit Krankheit gleichzusetzen, führte allerdings nicht nur zu weit ( Abschn. 2.2.2), sondern würde auch dem Anspruch auf ein mehrdimensionales Krankheitsverständnis zuwiderlaufen. Es ist daher entsprechend obiger Ausführungen – unabhängig von der Ätiopathogenese – auch das Vorliegen einer objektivierbaren Störung zu fordern. Das Sozialgesetzbuch V (SGB V) definiert – ebenso wie früher die Reichsversicherungsordnung (RVO) – Krankheit nicht explizit. Der §27 SGB V garantiert Versicherten den Anspruch auf Krankenbehandlung, »wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern«; dabei ist »den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation«. Die Beurteilung einer »Regelwidrigkeit« geht vom »Leitbild« des gesunden Menschen aus, d. h. inwieweit die naturgegebenen körperlichen und geistigen Funktionen so ausgeübt werden können, wie das bei gesunden Menschen möglich ist; dabei können objektive und/oder subjektive Abweichungen vom Regelzustand auftreten, wobei aber eine Störung erst dann eine Leistungspflicht auslöst, wenn die Funktionseinschränkung so weit über eine bestimmte »Bandbreite individueller Verschiedenheiten« hinausgeht, dass sie nur durch Mithilfe des Arztes wiederhergestellt werden kann (Heinze 1989). Vor diesem Hintergrund sind die Behandlungs- und Versorgungserfordernisse psychisch Kranker einzuordnen. Während nach dem sog. realistischen Ansatz der objektive Behandlungs- und Versorgungsbedarf psychisch Kranker die Wirksamkeit, Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit einer Behandlungsmethode mit einbezieht, orientiert sich der sog. humanitäre Versorgungsansatz am subjektiven Behandlungsbedürfnis leidender Menschen. Diese Unterscheidung verdeutlicht, dass in der konkreten Versorgungspraxis die Differenzierung von Gesundheit und behandlungsbedürftiger Erkrankung nicht ausschliesslich auf die subjektive Bewertung zurückgeführt werden kann. Eine ausführliche Diskussion der Proble-
matik des Gegenübers von (objektiv) diagnostizierendem Arzt und subjektiv seine Krankheit erleidendem Patienten findet sich bei Helmchen (2005) gewidmet. Diese Problematik ist in der Psychiatrie auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, insofern als subjektives Krankheitsgefühl bzw. Krankheitseinsicht und objektive Behandlungsnotwendigkeit gerade bei schweren Störungen auseinanderklaffen können.
Krankheit vs. Störung: Die Krise nosologischer Konzepte Nosologie bedeutet Krankheitslehre. Die aus der Pathologie stammende Bezeichnung beinhaltet zum einen die Bestimmung und symptomatologische Beschreibung der Krankheiten (Nosographie), zum anderen deren systematische Ordnung zu Krankheitsgruppen (nosologische Klassifikation). Ziel einer nosologischen Klassifikation psychischer Krankheiten ist ein »natürliches« Klassifikationssystem, welches »Krankheitseinheiten« mit definiertem klinischem Bild, bekannter Verlaufscharakteristik, umrissener Ätiopathogenese und Therapieansprechbarkeit widerspiegelt. Psychiatrische Nosologie zielt demnach darauf ab, ausgehend von klinischen Phänomenen »transphänomenale« ätiopathogenetische und/ oder pathofunktionale Entitäten zu erfassen.
Historischer Überblick Nosologische Klassifikation, die »Aufstellung der ganzen Gruppe psychischer Krankheiten … aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise« (Griesinger 1845) war das besondere Anliegen einer hirnpathologisch orientierten Psychiatrie im 19. Jahrhundert. »Die so durch Zusammenfassung der häufigsten coincidierend vorkommenden Symptome und durch rein empirische Abgrenzung sich ergebenden Gruppen von Krankheitsgestaltungen« – geordnet »nach der Methode der klinischen Pathologie« – sollten nicht nur valide prognostische Aussagen im Einzelfall ermöglichen, sondern schließlich auch klinischer Ausgangspunkt »für die anatomische Begründung der einzelnen Krankheitsformen« sein (Kahlbaum 1874). Kahlbaum (1874) vertrat die Auffassung, dass »der Psychiater sich ja mit der Symptomatologie erst die rechte, für ihn brauchbare Psychologie« geschaffen habe und die »psychischen Erscheinungen« – anders als in der deduktiv vorgehenden Psychologie – »zunächst ganz vorurtheilslos betrachtet und angesammelt werden« sollten. Die in diesem Zeitgeist entwickelte Nosologie hatte zum Ziel, »der Natur entsprechende Krankheitsbilder« aufzufinden (Kraepelin 1920). Sie hat bis heute im Wesentlichen ihre Gültigkeit behalten. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte eine Krise des nosologischen Konzepts ein. Hoche (1912) äußerte sich kritisch, später auch Kraepelin (1920) selbst. Die »Erscheinungsformen des Irreseins« – so Kraepelin (1920) – seien »die natürliche Antwort der menschlichen Maschine«, die
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
»auf das Spiel vorgebildeter Einrichtungen unseres Organismus« durch Beeinträchtigung »gleicher Gebiete« zurückgehe. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es funktionell-anatomisch vorgebildete überindividuelle Reaktionsweisen geben müsse, die sich als »Grundstörungen« durch Abbauvorgänge im evolutiven »schichtmäßigen Aufbau der Seelengrundlagen« äußerten und am angemessensten durch Methoden der »vergleichenden Psychiatrie« zu studieren seien. Mit den im Wesentlichen durch Freud, später durch A. Meyer (biographischer Ansatz) und Menninger (Störungen der Ich-Funktion), durch lerntheoretisch-behaviorale und systemisch-interaktionelle Ansätze platzgreifenden psychodynamisch-psychologischen Konzeptionen entstand allmählich ein »antinosologisches« Klima (Akiskal 1978), in dem metapsychologisch-interpretative (deduktive, s. Kahlbaum 1874) gegenüber deskriptiv-empirischen (induktiven) Konzepten dominierten. Eine »dynamisch« orientierte Psychopathologie versuchte, Inhalt, Form und Mechanismus in einem theoretischen Modell unterzubringen (Berrios 1994). Das Unbehagen an einer symptomorientierten Diagnostik aufgrund geringer Reliabilität und prädiktiver Kraft sowie die Bevorzugung psychodynamischen »Verstehens« anstatt eines als sozial-schädlich angesehenen »Labeling« (Akiskal 1978) förderten die Ablehnung nosologischer Konzepte und gaben einer antipsychiatrischen Bewegung Auftrieb.
Moderne Klassifikationssysteme Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung ist der konzeptuelle Standort moderner Klassifikationssysteme zu sehen. Sie dienen nicht nur klinisch-pragmatischen Zwecken, sondern definieren das Feld der Störungen, mit dem sich das Fachgebiet der Psychiatrie beschäftigen soll (Mezzich u. Berganza 2005). Insofern geht die Etablierung eines Diagnose- und Klassifikationssystems in der Psychiatrie weit über das in den übrigen klinischen Fächern übliche hinaus. Ohne Krankheitskonzeption kann es eine solche weitreichende diagnostische Klassifikation nicht geben (Berganza et al. 2005). Insbesondere von Seiten der World Psychiatric Association (WPA) wird derzeit auf die Bedeutung eines personalen Ansatzes in Diagnostik und Klassifikation verstärkt hingewiesen. ICD-10. So weist ICD-10 (Dilling et al. 2000) darauf hin, dass der Begriff Störung (»Disorder«) den »problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ und/ oder ›Erkrankung‹ weitgehend vermeiden soll«. Dabei soll vermieden werden, mit »Krankheit« assoziierte nosologische Konzepte beizubehalten, da der nosologische Status psychischer »Störungen« unklar sei. Störung soll in diesem Kontext »einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen,
der immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist, sich aber nicht auf der sozialen Ebene allein darstellt«. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat die Weltgesundheitsvollversammlung 2001 die »International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)« (Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) verabschiedet. Ihr liegt ein Konzept der funktionalen Gesundheit auf Grundlage eines biopsychosozialen Modells der Gesundheitskomponenten zugrunde, es ist ressourcen- und defizitorientiert, wobei die soziale Dimension und ihre Beeinträchtigung als ›Partizipation‹ i. S. der Wechselwirkung zwischen dem gesundheitlichen Problem (ICD) einer Person und ihren Umweltfaktoren definiert wird. DSM-IV. DSM-IV (Saß et al. 2000) weist zunächst kritisch
darauf hin, dass der Begriff »psychische Störung« »leider eine Unterscheidung zwischen ›psychischer‹ und ›körperlicher‹ Störung« impliziere, und betont, dass trotz dieses aus der Zeit des Leib-Seele-Dualismus stammenden »reduktionistischen Anachronismus« und der Tatsache, »dass psychische Störungen viel ›Körperliches‹ und körperliche Störungen viel ›Psychisches‹ enthalten«, der Begriff beibehalten werde, »da sich kein angemessener Ersatz fand«. DSM-IV führt weiter aus, dass es keine allgemeingültige, situationsübergreifend gültige operationale und zwischen gesund und krank grenzziehende Definition psychischer Störungen gibt. Ähnlich wie in der somatischen Medizin, wo krankhafte Zustände auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau – wie der strukturellen Pathologie (z. B. Colitis ulcerosa), der Symptomatik (z. B. Migräne), der Abweichung von einer physiologischen Norm (z.B. Bluthochdruck) und der Ätiologie (z. B. Pneumokokkenpneumonie) – beschrieben werden, werden psychische Störungen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte definiert, wie z. B. Leiden, Kontrollstörung, Benachteiligung, Behinderung, mangelnde Flexibilität, Irrationalität, Syndrommuster, Ätiologie oder statistische Abweichung. Trotz dieser Vorbehalte wird eine allgemeine Definition psychischer Störungen beibehalten, die aufgefasst werden »als ein klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Muster, das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden (z. B. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (z. B. Einschränkung in einem oder mehreren wichtigen Funktionsbereichen) oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung oder einen tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu erleiden«. Darüber hinaus darf es sich nicht um »eine verständliche oder kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis« handeln, und es muss – unabhängig von dem »ursprünglichen Auslöser« – eine »verhaltensmäßige,
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psychische oder biologische Funktionsstörung« zu beobachten sein. Normabweichendes Verhalten (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) oder Konflikte des einzelnen mit der Gesellschaft werden explizit von psychischen Störungen abgegrenzt, sofern es sich hierbei nicht um ein Symptom einer der genannten Funktionsstörungen bei der betroffenen Person handelt. Die hier ausführlicher dargestellte Definition des DSM-IV geht also von einer objektivierbaren psychobiologischen Funktionsstörung aus, die mit subjektivem Leiden oder einer bereits bestehenden oder drohenden Funktionseinschränkung bis hin zum Verlust von (innerer) Freiheit oder Leben verbunden ist. Dabei »wird nicht angenommen, dass jede Kategorie einer psychischen Störung eine diskrete Entität mit absoluten Grenzen ist, die sie von anderen Störungen und von der Normalität trennt«. Auch DSM-IV verzichtet damit auf ein nosologisches Konzept.
Validierungskriterien nosologischer Klassifikationen Trotz dieser historischen Entwicklung und des aktuellen Kenntnisstandes ist die Hoffnung auf eine nosologische Klassifikation psychischer Störungen nie aufgegeben worden. Im Gegenteil ist als Voraussetzung für eine derartige Entwicklung die Notwendigkeit einer streng deskriptiven Phänomenologie bekräftigt worden. Reliabilität der klinischen Syndrombeschreibung ist die Voraussetzung ihrer Validität: »There is no guarantee that a reliable system is valid, but assuredly an unreliable system must be invalid« (Spitzer u. Fleiss 1974; ein reliables System ist nicht notwendigerweise valide, aber ein unreliables System kann nicht valide sein). Als erforderliche Schritte eines Validierungsprozesses gelten (Robins u. Guze 1970; Guze 1992): klinische Deskription (Einschlusskriterien), Laborbefunde, Abgrenzung gegenüber anderen Störungen (Ausschlusskriterien), Follow-up-Studien, Familienstudien. In einer Weiterentwicklung unter Einbezug biologischer Validierungskriterien wurde folgende diagnostische Systematik vorgeschlagen (Akiskal 1978): klinische Phänomenologie, Verlauf, Heredität, pharmakologische Response, biochemische Korrelate, neuro-/psychophysiologische Korrelate. Heute wäre hier sicher das gesamte Inventar neurobiologischer Forschungsmethoden zu nennen. Die verschie-
denen Validierungssysteme lassen allerdings den Bezug zu externen »Goldstandards«, die für eine Konstruktvalidierung entscheidend sind, vermissen. Allerdings sind Wege vorgeschlagen worden, wie auch ohne »Goldstandard« eine Valdierung der Konzeption psychischer Störungen möglich ist (Faraone u. Tsuang 1994).
Operationale Diagnostik und Klassifikation Bereits die Einführung von DSM-III brachte wichtige Neuerungen mit sich, etwa die Einführung expliziter und operational definierter diagnostischer Kriterien sowie ein multiaxiales Beschreibungssystem. Der deskriptive Ansatz unterstreicht das Bemühen um eine weitgehende Neutralität hinsichtlich ätiologischer Vorannahmen, der multiaxiale Ansatz dient einer systematischen Beurteilung psychischer Störungen unter Berücksichtigung medizinischer Krankheitsfaktoren, psychosozialer Probleme und des allgemeinen Funktionsniveaus. Neben einer besseren Organisation der Information sowie der Erfassung von klinischer Komplexität und Heterogenität fördert ein multiaxiales Klassifikationssystem die Anwendung eines biopsychosozialen Modells in Klinik, Ausbildung und Forschung. DSM-IV hält folgende 5 Achsen vor: Achse I klinische Störungen, andere klinisch relevante Probleme; Achse II Persönlichkeitsstörungen, geistige Behinderung; Achse III medizinische Krankheitsfaktoren; Achse IV psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme; Achse V globale Beurteilung des Funktionsniveaus. Die unabhängige Beurteilung der Achsen ermöglicht die breitgefächerte Dokumentation krankheitsassoziierter Merkmale ohne Hypostasierung kausaler Zusammenhänge. Auch mit der operationalen Klassifikation kann allerdings aufgrund einer polythetischen Kriteriologie der Systeme die Heterogenität der klassifizierten Individuen nicht völlig vermieden werden. Das heißt, unter dem »Etikett« der gleichen Diagnose können sich durchaus Personen mit heterogenen Symptombildern verbergen. Andererseits wäre selbst eine phänomenologisch homogene Klassifizierung aufgrund möglicher pleomorpher Syndromgestaltungen noch keine Garantie für eine homogene Nosologie (s. unten). Eine kategoriale – anstatt einer dimensionalen – Ordnung psychischer Störungen ist möglicherweise der Realität ohnehin nicht angemessen, hat sich aber in der Praxis bewährt. Von Fragen der Praktikabilität abgesehen ist beispielsweise unklar, welche Dimensionen als konstituierend herangezogen werden sollten. Aus wissenschafts-
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
theoretischer Sicht wird allerdings für die Taxonomie psychischer Störungen eine Entwicklung dimensionaler Funktionsmodelle antizipiert (Hempel 1965):
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»The development of taxonomic concepts in the study of mental disorder will probably show two trends: First, a continuation of the shift from systems defined by reference to observable characteristics to systems based on theoretical concepts; and second, a gradual shift from classificatory concepts and methods to ordering concepts and procedures, both of the non-quantitative and of the quantitative varieties«. (Übersetzung: »Die Entwicklung taxonomischer Konzepte psychischer Störungen wird sich wahrscheinlich auf zwei Wegen vollziehen: einerseits in einem weiteren Übergang von beobachtungsbasierten zu theoriebasierten Konzepten und andererseits in einem schrittweisen Wandel von klassifikatorischen hin zu dimensionalen Konzepten und Methoden, beide sowohl qualitativer wie quantitativer Natur«.)
Auf dem Weg zu ICD-11 und DSM-V Gegenwärtig sind von der American Psychiatric Association (APA) ausgehend Bestrebungen zur Neufassung der US-amerikanischen Diagnosekriterien in Gang, die etwa im Jahre 2011 mit der Publikation von DSM-V zum Abschluss kommen sollen. Bereits im Jahre 2002 wurde eine »Forschungsagenda« publiziert, die die wesentlichen Forschungsfelder absteckte, die zur Etablierung der DSM-V zunächst »abgearbeitet« werden müssen (Kupfer et al. 2002). Die Neufassung der WHO-Klassifikation (ICD-11) dürfte sich diesem Forschungs- und Reklassifizierungsprozess anschließen, und im Sinne einer Vereinheitlichung der Diagnosekriterien ist zu hoffen, dass hier ein Konsens möglich wird. Optionen für eine künftige Neuklassifikation bedienen sich entweder einer kategorialen Typologie, dimensionaler Modelle, oder empirisch ermittelter Prototypen (Jablensky 2005). Der Ruf nach einer ätiologisch basierten anstelle einer symptombasierten DSM-V-Klassifikation wird lauter (Phillips u. Frank 2006). Die klassifikatorische Diskussion wird besonders geprägt von den Fortschritten in der Genetik psychischer Störungen, z. B. von der Frage, inwiefern das klinischpsychopathologische »Psychose«-Konzept »dekonstruiert« werden muss. Diese Diskussion erfolgt auf dem Hintergrund der Erforschung genetischer Risikofaktoren von Schizophrenie und affektiven Störungen, wobei rasch klar wurde, dass die Genetik dieser Erkrankungen komplex ist, dass bisweilen dieselben Risikogene in beiden Erkrankungsgruppen verändert sind, dass bestimmte genetische Faktoren nur einen Teil des Erkrankungsrisikos vermitteln, und dass die Aufklärung der genetischen Risikomarker noch nicht zu einer klaren Kausalkette vom Gen zum Phänotyp geführt hat. Einige Genotyp-Phänotyp-Korrelationen kristallisieren sich jedoch heraus (Craddock et al. 2006) und Aspekte einer Gen-Umwelt-Interaktion, die theoretisch in der Psychiatrie schon immer eine große Rolle gespielt haben, finden hier eine völlig neue Betrach-
tungsebene, die Neurowissenschaftler, Genetiker, und psychiatrische Epidemiologen zusammenbringt (Cospi u. Moffitt 2006). Allerdings: Während man auf Vereinfachung hoffte, zeigte sich eine hochgradige Komplexität auf allen Untersuchungsebenen. Diskussionen um eine möglicherweise notwendig werdende Aufgabe der Kraepelin-Dichotomie schizophrener und (bipolarer) affektiver Störungen zeigen (Craddock et al. 2006), dass die Neurogenetik die Grundlagen der psychiatrischen Nosologie in Frage zu stellen beginnt. Selbstkritische Neurogenetiker, sowie einige Psychiater und Philosophen bezweifeln allerdings, dass genetische Untersuchungen allein überhaupt in der Lage sind, die komplexen Probleme der psychiatrischen Nosologie zu lösen (Kendler 2006; Robert u. Plantikow 2005). Neben den sicher erforderlichen klinisch-empirischen Forschungsbemühungen, die eine Konkretisierung der neurowissenschaftlichen Grundlagen der Pathophysiologie psychischer Störungen zur Aufgabe haben, ist daher dringend eine Vertiefung und Fortführung des Diskurses über die philosophischen Grundlagen psychopathologischer Phänomene und ihrer Interpretation im Rahmen psychiatrischer Klassifikationssysteme notwendig (Graham u. Stephens 1994; Heinze 2006). Die Zeit für einen Paradigmenwechsel hin zu ätiopathogenetisch fundierten psychiatrischen Klassifikationssystemen ist zumindest im Jahre 2006 noch nicht gekommen. Wichtiger erscheint derzeit die Erarbeitung von kurz-, mittel- und längerfristigen Forschungsstrategien. Dies geschieht im Rahmen des DSM-V-Entwicklungsprozesses noch bis 2007 in einer Serie von Forschungskonferenzen zu praktisch allen psychiatrischen Störungsgruppen. Hierbei deutet sich bereits an, dass aufgrund der Komplexität der Störungsbilder und ihrer möglichen Ätiopathogenesen trotz des gegenwärtig rasanten Erkenntniszuwaches in der Neurobiologie psychischer Störungen keine schnellen Fortschritte zu erwarten sind.
Störungsmodelle Hinsichtlich ihres konzeptuellen Ansatzes lassen sich 3 Arten von Störungsmodellen unterscheiden (Lipowski 1986): biologische (somatische, organische), psychische (psychologische, psychodynamische, psychosoziale), biopsychosoziale. Während die beiden erstgenannten Ansätze vorrangig nur eine Klasse putativer Ätiologiefaktoren betrachten (und deshalb auch als reduktionistisch bezeichnet werden), gelten die an dritter Stelle aufgeführten Ansätze aufgrund ihrer Mehrdimensionalität als integrativ oder holistisch. Die hier gewählte Einteilung erscheint sinnvoller als die Unterscheidungen in biomedizinisch, existentiell und psychosomatisch (Tamm 1993) oder die in naturwissen-
39 2.3 · Ätiopathogenese
schaftlich, individualpsychologisch, interaktional und integriert (Alanen 1984), da sie aus den 3 möglichen konzeptuellen Ansätzen bereits spezifische Modellvorstellungen herausgreifen. Im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts standen »Psychiker« wie Heinroth oder Ideler den »Somatikern« wie Griesinger kontrovers gegenüber (Ackerknecht 1985). Der englische Psychiater Bucknill (vgl. Lipowski 1986) hat schon Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen somatischen, psychischen und somatopsychischen Theorien unterschieden und letzteren den Vorzug gegeben. Eine adäquate Formulierung eines »psychobiologischen« Ansatzes erfolgte aber erst ein halbes Jahrhundert später durch A. Meyer, der den Patienten als mit der Umwelt interagierendes integriertes Ganzes – als Geist/Seele-Körper-Komplex – auffasste.
nale und kommunikationstheoretische Vorstellungen angelehnte psychosoziale Modelle einzubeziehen. Psychosomatisches Modell. Als Vorläufer biopsychosozi-
aler Modelle sei hier das in den 1930er Jahren entwickelte psychosomatische Modell erwähnt. Nach der Grundthese dieses insbesondere auf Helen Flanders Dunbar zurückgehenden Ansatzes gibt es keine somatische Erkrankung ohne emotionale und/oder soziale Antezedentien und psychische Erkrankung ohne somatische Symptome; Krankheit entsteht durch das Zusammenspiel physischer und psychischer Faktoren.
2.3
Ätiopathogenese
2.3.1
Ätiologische Grundkonzepte
Biomedizinisches Modell. Das biomedizinische Modell als
somatischer Ansatz mit Wurzeln in der altgriechischen Philosophie und Medizin beansprucht eine empirische, rationale und systematische, d. h. naturwissenschaftliche Grundlage seiner Krankheitsvorstellungen. Die Annahme, physikochemische Prozesse des Gehirns könnten schlussendlich alle mentalen Prozesse und deren Störungen erklären, schien bei entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Gehirns am ehesten erfolgreich. Prototyp einer hirnorganischen Erkrankung mit bekannter Ätiologie war die progressive Paralyse. Bei den sog. »endogenen«, v. a. aber bei den »psychogenen« Störungen konnte das biomedizinische Modell jedoch zunächst nicht den gleichen Erfolg aufweisen. Psychisches Modell. Nach Annahme des psychischen Mo-
dells sind mentale Phänomene und ihre Störungen nicht auf Gehirnprozesse reduzierbar, aber mit den Methoden und Konzepten der Verhaltenswissenschaften untersuchbar und erklärbar. Betrachtet wurden zunächst alle, später v. a. sog. psychogene oder funktionelle Störungen, deren Auftreten und Merkmale – je nach Zeitgeist – als Konsequenz unmoralischen Lebenswandels, gestörten Sexuallebens und/oder gestörter interpersonaler Beziehungen, insbesondere während früher individueller Entwicklungsstadien, aufgefasst wurden. Ein hermeneutischer, psychologisch-«verstehender« Zugang zur Psychopathologie hat das wissenschaftliche und therapeutische Denken in der Psychiatrie entscheidend geprägt. Erst dort, wo dieser Zugang nicht weiterführte, wo krankes Seelenleben nicht aus gesundem ableitbar erschien, wurden körperliche Ursachen angenommen und somatische Therapieverfahren einbezogen. In diese Konzeption sind auf Struktur- und Trieblehre Freuds aufbauende psychodynamische, an die Existenzphilosophie angelehnte daseinsanalytische, aus der Lernund Verhaltenstheorie abgeleitete behaviorale bzw. behavioral-kognitive sowie an systemtheoretische interaktio-
Bereits Griesinger (1845) hatte in seinem Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten« deren »Ätiologie und Pathogenese« ein eigenes Kapitel gewidmet. In der »Ätiologie des Irreseins«, die »in der außerordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrerer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente« ist, unterschied er eine allgemeine (z. B. Geschlecht, Alter) und individuelle Prädisposition (Erblichkeit, Erziehung, psychische und somatische Konstitution) sowie psychische, somatische und gemischte Ursachen. In Überschneidung mit den vorgenannten Krankheitsmodellen können allgemein als wissenschaftliche ätiologische Modelle herausgestellt werden (Zubin u. Spring 1977): feldtheoretische Modelle (ökologische Faktoren), sozialpsychologische Modelle (Entwicklung, Lernen), biologische Modelle (Gene, Hirnfunktionen, »milieu interne«). Einfach-kausale Zusammenhänge, bei denen einer einzelnen Ursache eine allein entscheidende Wirkung zukäme, kommen – z. B. als monogene Erkrankungen – sowohl in der somatischen Medizin als auch in der Psychiatrie selten vor. Auch bei Infektionskrankheiten mit weitgehend aufgeklärtem pathogenetischem Mechanismus kommt Faktoren wie der Disposition, Immunitätslage, peristatischen Faktoren etc. eine manifestationsbestimmende und verlaufsbeeinflussende Bedeutung zu. Eine alleinige somatische »Ursache« (Gendefekt, Infektion, Perinataltrauma etc.) reicht in der Regel nicht aus, um die (oft mit Latenz auftretende und individuell geprägte) Krankheitsmanifestation schlüssig zu erklären. Während eine akute (primäre oder sekundäre) somatische Schädigung zu entsprechenden neuropsychiatrischen Irritationen oder Ausfallserscheinungen führen
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
kann (unmittelbare Ursache-Wirkungs-Beziehung), ist für die meisten psychischen Störungen eine unmittelbare somatische Noxe nicht erkennbar, sondern muss entweder durch zeitliche Summierung (chronischer Einfluss, Sensitivierung), neu aufgetretene bzw. dispositionell angelegte Fehlsteuerung (Demenz) oder zurückliegende Einwirkung (z. B. Perinatalschaden) mit konsekutiver Fehlentwicklung und/oder dispositioneller »Schwäche« unterstellt werden. In den letztgenannten Fällen bleibt das »freie Intervall« bis zur Krankheitsmanifestation zu erklären; hier werden z. B. Reifung sensibler Hirnregionen, Stressoren in kritischen Entwicklungsphasen oder vorzeitige Alterungsvorgänge als pathogenetische Zwischenglieder herangezogen. Erklärungsbedürftig ist weiterhin, warum einzelne Individuen trotz gleicher Exposition nicht oder weniger schwer erkranken bzw. ein besseres Regenerationspotenzial aufweisen. Derartige Beobachtungen widersprechen dem Konzept einfacher linearer Zusammenhänge zwischen Ätiologie, Pathogenese und Manifestation und erfordern die Einführung u. a. folgender Moderatorgrößen: Disposition (Vulnerabilität, Suszeptibilität), Art und Ausmaß der primären Noxe(n), Einwirkungszeitpunkt (sensible Phase) und -dauer, kritische Schädigungsregion(en), kompensatorische (regenerative, reparative) Funktionen, manifestationsfördernde/-hemmende Bedingungen (Risikofaktoren, protektive Faktoren), verlaufsgestaltende (interne/externe) Faktoren. Psychosoziale Faktoren. Damit Modellelemente wie »Dis-
position« nicht nur »leere Worte für eine ganz unbekannte Sache« bleiben (Griesinger 1845), müssen entsprechende Indikatoren entwickelt werden (s. unten). Psychosoziale Faktoren können ebenfalls Noxencharakter haben. Der Einfluss von Umgebungsfaktoren bzw. Erfahrung auf das neuronale Substrat ist belegt (Kandel 1998; Hyman 2000), hier sind daher prinzipiell die gleichen Modellvorstellungen mit früher, später, akuter oder chronischer Schädigung anwendbar. Allerdings bedarf es der Berücksichtigung, dass an sich neutrale oder durchschnittlich belastende Lebensereignisse/-konstellationen erst aufgrund ihrer individuell-biographischen (symbolischen) Konnotation pathogene Bedeutung bekommen. Auch in diesem Denkansatz steht das biologische Modell im Zentrum. Therapiemöglichkeiten. Therapie kann allgemein auf al-
len Ebenen des biopsychosozialen Modells angreifen – dabei kann auf der psychosozialen Ebene unterschieden werden zwischen Therapie zur Konfliktbehebung, zum Konfliktmanagement oder zur Mitigierung »biologischer« Konfliktfolgen mit der Konsequenz einer besseren
Konfliktbewältigung. »Kausal« im eigentlichen Sinne wäre das Ausschalten oder Neutralisieren primärer Noxe(n) – d. h. Prävention. Alle anderen Therapieprinzipien können durch Eingriff in das komplexe Bedingungsgefüge Funktionsstörungen ausgleichend, modulierend oder kompensatorisch wirken.
2.3.2
Pathogenetische Grundkonzepte
Die Aufklärung der Pathogenese – auf Symptom- oder Syndromebene – ist nicht minder bedeutsam. Sie erlaubt ihrerseits Rückschlüsse auf Ätiologien, ermöglicht aber auch näher an der Krankheitsentstehung orientierte Therapieformen. Ohne Kenntnis des pathogenetischen Mechanismus sind letztlich die Wirkungen verschiedener Ätiologien und ihr Zusammenspiel bei Krankheitsmanifestation und -verlauf nicht verstehbar. Diese Aufklärung steht vor der Anforderung, zwischen verschiedenen Konzept- und Beschreibungsebenen zu vermitteln. Um diesen Brückenschlag zu ermöglichen, müssen zunächst die relevanten Ebenen, und auf diesen die krankheitsspezifischen Indikatoren definiert werden (s. unten). Dabei können der Einfachheit halber als Beschreibungsebenen Ätiologie, Pathogenese und klinische Symptomatik unterschieden werden, wobei 2 Prämissen zu beachten sind: zeitlich/kausale Priorität von Ätiologieindikatoren, definierte Assoziationsmodi zwischen den einzelnen Indikatorebenen. Auch wenn logischerweise Krankheitsursachen der Krankheitsmanifestation zeitlich vorangehen müssen, ist das zeitliche »vorher« noch kein ätiologischer Beweis. Oft schwere Abgrenzbarkeit des Krankheitsbeginns, Kausalitätsbedürfnis von Patient und Angehörigen etc. müssen bei der Hypothesenbildung berücksichtigt werden. Zu den Assoziationsmodi unterscheiden Tsuang et al. (1990) am Beispiel schizophrener Störungen die folgenden Modelle: Homogenitätsmodell; Heterogenitätsmodelle mit a) spezifischen Beziehungen zwischen den Ebenen, b) unspezifischen Beziehungen zwischen den Ebenen. Ausgehend von der Ebene der klinischen Symptomatik ist zu fragen, ob hinter einzelnen Symptomen oder Syndromen ein oder mehrere Pathomechanismen stehen, ob diese sich überlappen und jeweils für bestimmte Symptome/Syndrome spezifisch sind oder nicht. Ähnlich lässt sich fragen, ob zwischen Pathomechanismen und Ätiologie(n) spezifische oder unspezifische Zusammenhänge bestehen. Das Homogenitätsmodell geht von einer nosologischen Krankheitseinheit aus, während das Hete-
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41 2.3 · Ätiopathogenese
rogenitätsmodell je nach Spezifität unterstellt, dass ein Symptommuster auf einen Pathomechanismus, aber mehrere Ätiologien (»common final pathway«), oder aber dass einzelne Bestandteile eines Symptommusters auf mehrere (teilweise überlappende) Pathomechanismen mit jeweils spezifischen Ätiologien zurückgehen. Ein Spezialfall sind symptomatisch unspezifische Pathomechanismen, die zum klinisch gleichen Bild führen können (Phänokopie). Natürlich gibt es hier verschiedene Übergangsmöglichkeiten zwischen den genannten Prägnanztypen. Empirisch zu überprüfen wäre, ob die Beziehung zwischen der Ebene biologischer Pathomechanismen und Symptomatik direkt hergestellt werden kann, oder ob dies nur für elementare Symptome möglich ist, während bei komplexeren Symptomen eine psychologische Erklärungsebene einbezogen werden muss. Gleichermaßen wäre zu prüfen, ob primär soziale Ätiologien über eine psychologische Zwischenebene zur direkten Krankheitsmanifestation führen können, oder ob dies nur über eine biologische Ebene möglich ist.
2.3.3
sitzt allgemeine Gültigkeit für die ätiopathogenetische Konzeption psychischer Störungen. Vulnerabilität und Stress werden als zentrale komplementäre ätiopathogenetische Faktoren bei der Krankheitsmanifestation aufgefasst (⊡ Abb. 2.2). Dabei ist Vulnerabilität die subklinische angeborene und/oder erworbene, d. h. ihrerseits multifaktoriell vermittelte Krankheitsdisposition (Erkrankungswahrscheinlichkeit), die in interindividuell und möglicherweise auch intraindividuell variierender Ausprägung vorliegt und erst durch das Hinzutreten zusätzlicher Faktoren (individuell kritische Ereignisse/Belastungen/Konflikte aus dem psychosozialen Umfeld, aber auch biologische »Stressoren«) die Störung über die Manifestationsschwelle treten lässt. Es wird eine kontinuierlich abgestufte Disposition (Diathese, Vulnerabilität) angenommen, die durch eine Kombination von Indikatoren psychophysiologischer, kognitiver und sozialer Auffälligkeiten definiert wird (s. unten), die gehäuft bei sog. »high-risk«-Kindern gefunden werden. Die Disposition ist nicht notwendig zeitstabil; insbesondere Personen mit einer ausgeprägten Disposition neigen beim Auftreten von Stressoren zur Fehlanpassung und schließlich zur psychophysiologischen Dekompensation, die über »intermediäre« Stadien (Nuechterlein 1987) bzw. pathogenetische Zwischenglieder zu einer zunehmenden Pathologisierung bereits prämorbid defizitärer psychophysiologischer und neuropsychologischer Funktionen (als Korrelate neurobiochemischer Entgleisungen) bis hin zur manifesten Krankheitsepisode führen. Pathogenetische Präkursoren bzw. Determinanten der Episodenmanifestation wären von solchen Veränderungen zu differenzieren, die erst als Folge einer Krankheitsepisode auftreten.
Integrative Modelle
Um neben Bedingungsfaktoren und Betrachtungsebenen im Querschnitt auch Manifestationsbedingungen und Verlaufsdynamik einer Erkrankung im Längsschnitt zu berücksichtigen, bedarf es eines Modells mit Prozesscharakteristik.
Vulnerabilitäts-Stress-Modell Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, zunächst für schizophrene Störungen entwickelt (Zubin u. Spring 1977), be-
⊡ Abb. 2.2. Funktionaler
Stressintensität
Zusammenhang zwischen Vulnerabilität, Stressintensität und protektivem Niveau (P). P1/P2 niedriges/hohes protektives Niveau. a/b niedrige/hohe Ausprägung der Vulnerabilität. Bei niedrig/hoch ausgeprägter Vulnerabilität führt eine hohe/ geringe Stressintensität zum Überschreiten der Grenze gesund/krank; dieser Zusammenhang wird durch das Ausmaß des protektiven Niveaus entsprechend beeinflusst. (In Anlehnung an Zubin u. Spring 1977)
P1 P2
gesund
a
krank
b
Vulnerabilität
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
Familiär vermittelte Vulnerabilität. Neuere Versionen
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dieses Modells betonen die familiär vermittelte Vulnerabilität (»liability«). Zeitlich stabile Indikatoren dieses Aspekts werden auch als »true vulnerability-markers« bezeichnet (Steinhauer et al. 1991). Eine erhöhte »liability« weisen alle Angehörigen Erkrankter auf, gleichgültig, ob sie z. B. den hypothetischen disponierenden Gentyp tragen oder nicht, und gleichgültig, ob sie später eine schizophrene Episode (oder andere Störungen) entwickeln oder nicht. Dieses Vulnerabilitätskonzept ist umfassender und zugleich unspezifischer als das Konzept der prämorbiden Disposition, die nur denen zukommt, die später manifest erkranken. Vulnerabilitätsmarker können auch eine subklinische Variante der Erkrankung darstellen.
Hypothetisches System »Patient« In regeltechnischer Konzeption und Begriffsbildung spielt die adaptive Kapazität des hypothetischen Systems »Patient« oder »Patient-Umwelt« eine Rolle, das je nach Ausgangszustand (prämorbides Niveau), Auslenkbarkeit (Labilität) und Rückstellkräften (Elastizität) nach einem auslenkenden Ereignis oder unter einer Dauerbelastung wieder einem Gleichgewichtszustand zustrebt. Die Homöostase des Systems kann entsprechend einem vorgegebenen Sollwert auf vorherigem, durch Sollwertverstellung auch auf neuem Niveau hergestellt werden – ihre Einstellung kann aber auch mißlingen. Hohe Systemlabilität (häufige Rezidive) oder geringe Systemelastizität bzw. Dauerbelastung (schubförmiger Verlauf, primär chronischer Verlauf) könnten z. B. einige Verlaufsformen erklären (vgl. Zubin et al. 1992), sofern die hypothetischen Systemeigenschaften in überprüfbare Modellkonzepte überführt werden können (⊡ Abb. 2.3 a–f). Bei der Konzeptualisierung adaptiver Systemeigenschaften (vgl. Zubin u. Spring 1977) können in Anlehnung an Piaget akkomodative und assimilative Verhaltensweisen unterschieden werden. Ihnen wiederum können reflex- oder instinkthafte Mechanismen sowie aktive Bewältigungsmechanismen auf dem Boden angeborener oder erworbener Bewältigungskompetenz (intellektuelle Ausstattung, Problemlösefähigkeit, prämorbide soziale Kompetenz etc.) zugrundeliegen. Protektive Faktoren können – wie Stressfaktoren – grundsätzlich psychobiologisch konzipiert werden; dabei spielen erfolgreiches Coping sowie positive Umgebungsfaktoren eine besondere Rolle (Nuechterlein 1987). Neben pathogenetischen sind demnach auch salutogenetische Aspekte in allen Phasen des Krankheitsprozesses stärker zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung im Verlauf variierender Konstellationen der Einflussfaktoren dürfte eine bessere Verlaufsprädiktion (Gaebel 1996) und individuelle Abstimmung präventiver, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen erlauben (⊡ Abb. 2.4).
⊡ Abb. 2.3 a–f. Verschiedene Verlaufsformen psychischer Störungen mit unterschiedlicher klinischer Ausprägung als Resultante von subklinischer Vulnerabilität (V), Stressoren (S) und protektiven Faktoren (P), a, b Bei gegebener Vulnerabilität hängt die Verlaufsform vom Gleichgewicht P/S ab; es kommt zu keiner oder nur einer kurzen subklinischen Episode. c–e Bei Ungleichgewicht P/S mit unterschiedlich lang nachwirkenden/persistierenden Stressoren (und/oder unzureichenden protektiven Mechanismen) resultieren klinisch ausgeprägte Episoden mit (un-)vollständiger Remission oder primär chronischem Verlauf. f Bei fehlenden protektiven Faktoren oder verminderter »Systemelastizität« kann ebenfalls ein primär chronischer Verlauf resultieren
43 2.3 · Ätiopathogenese
G
G
G
⊡ Abb. 2.4. Vereinfachtes Vulnerabilitäts-Stress-Modell mit potenziellen Verlaufsprädiktoren und therapeutischen Angriffspunkten
Das Modell stellt ein heuristisches Rahmenkonzept für die Aufstellung präziser Prüfhypothesen, u. a. zum neuronalen Substrat der postulierten Diathese, dar. Bisher nur partiell empirisch validiert, begründet es die Notwendigkeit prospektiver Mehrebenenuntersuchungen an initial gesunden Risikopopulationen.
2.3.4
Modulare Modelle
Grundlegende Funktionen der menschlichen Geistestätigkeit – angefangen von den elementaren Sinneseindrücken über die komplexe Verarbeitung von Wahrnehmungen im Gehirn bis zu den motorischen Äußerungen – sind in vielerlei Hinsicht modular aufgebaut, wobei der Grundgedanke des modularen Aufbaus der menschlichen Gehirnaktivität von Fodor erstmals systematisch untersucht wurde (Fodor 1983). Während Fodor einen modularen Aufbau in erster Linie für die »peripheren« Module postulierte, gingen in den folgenden Jahren insbesondere Vertreter der »evolutionären Psychologie« dazu über, auch »zentralen« Organisations- und Funktionseinheiten des Gehirns einen Modul-Charakter zuzusprechen. Dies ist die Hypothese der »massiven Modularität«: Das Gehirn besteht aus einer großen Zahl distinkter, jedoch miteinander verbundener Informationsprozessoren, die im Laufe der Evolution einen Anpassungsprozess erfuhren (bisweilen in diesem Kontext auch als »Darwin’sche Module« bezeichnet, da sie in ihrer Grundausstattung von den ursprünglichen Fodor-Modulen abweichen). In Anlehnung an die »Klinische Psychopathologie« von Kurt Schneider müssen dabei »seelische Funktionen« beeinträchtigt werden, aus deren Fehlfunktion sich psychiatrische Diagnosen aufbauen:
1. Arten des Erlebens: Empfinden und Wahrnehmen, Vorstellen und Denken, Fühlen und Werten, Streben und Wollen. 2. Grundeigenschaften des Erlebens: Ich-Erlebnis, Zeiterlebnis, Gedächtnis, seelische Reaktionsfähigkeit. 3. Umgreifungen des Erlebens: Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Intelligenz, Persönlichkeit. Murphy und Stich haben die grundlegenden Überlegungen dazu vorgestellt, wie ein solches evolutionär-psychologisch geprägtes modulares Konzept der Gehirnaktivität als Grundlage für eine Klassifikation psychischer Störungen dienen könnte (Murphy u. Stich 2000). Interessanterweise korrespondiert dieses Modell in vielen Grundzügen mit den heutigen neurobiologischen Vorstellungen von Funktionsmodulen des Gehirns, sodass es als Grundlage für eine Hypothesenbildung zur Dysfunktion solcher Module bei psychischen Störungen herangezogen werden kann (Gaebel et al. 2006). Neben den »basalen« Modulen, wie z. B. den sensorischen oder motorischen Modulen, werden z. B. Module für »höhere« Hirnfunktionen wie das »Spracherwerbsmodul« oder Module für die soziale Kognition und die Wahngenerierung postuliert. Eine Erkrankung würde dann entstehen, wenn eine »schädliche Dysfunktion« (im Sinne Wakefields; Wakefield 1992) eines oder mehrerer solcher Module
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
auftritt. Dabei kann die Störung das Modul selbst beeinträchtigen, es können aber auch vor- oder nachgelagerte Module (Input-Module, Output-Module) gestört sein, was dann trotz normaler Funktion des zwischengeschalteten Moduls zu einer »Modulstörung« führen würde (»garbage in – garbage out«). Module können sogar ganz normal funktionieren und die ihnen von der Evolution zugedachten Aufgaben korrekt erfüllen. Das Ergebnis mag jedoch – wenn sich die Umwelt nur hinreichend rasch geändert hat, seit das Modul entstanden ist – nicht mehr in die Umwelt passen und daher »Symptomwert« bekommen. Die heutigen Diskussionen gehen in der Psychiatrie bei der Anwendung des Modulbegriffs weit über die klassischen »basalen« oder »peripheren« Module hinaus, sie umfassen immer mehr auch zentrale, hochkomplexe Funktionen. Allerdings muss die Hypothese der »Modularität« der menschlichen Gehirnaktivität in ihrer möglichen Bedeutung für die Nosologie und Taxonomie psychischer Störungen noch durch eingehende klinischwie experimentell-psychopathologische und neurobiologische Untersuchungen verifiziert werden.
2.4
Dimensionen der Störungsdiagnostik
Operational-deskriptive Diagnosesysteme können eine funktionsorientierte und empirisch validierte Krankheits- und Therapietheorie nicht ersetzen. Bisher sind allerdings die konzeptuellen und methodischen Voraussetzungen zur mehrdimensionalen Charakterisierung psychischer Erkrankungen nicht hinreichend entwickelt, um sie als empirischen Ausgangspunkt einer naturwissenschaftlich orientierten Ursachen-, Pathogenese- und Therapieforschung voll nutzen zu können. Dementsprechend sollen hier neben den Beschreibungskategorien des multiaxialen Ansatzes weitere Charakteristika psychischer Störungen einschließlich ihres Verlaufs und Verlaufsausgangs dargestellt werden, die einen systematischeren Zugang zur Störungsphänomenologie erlauben.
mehreren Beschreibungsebenen – z. B. intrinsischer Krankheitsprozess, Krankheitsverarbeitung, soziales Umfeld – adäquat zu erfassen sind. Allgemein lassen sich – je nach Weite oder Enge des angelegten Zeitrasters – makro- und mikrozeitliche formale Verlaufsaspekte unterscheiden: makrozeitliche Verlaufsaspekte: – Verlaufsform (phasisch, schubförmig, chronisch), – Interepisodendauer, – Episodenfrequenz, – Verlaufsgesetzmäßigkeit (mono-, bipolar), – Richtungsprognose; mikrozeitliche Verlaufsaspekte: – Krankheitsbeginn (akut, blande, primär chronisch), – Episodendauer, – Streckenprognose, – Tagesschwankungen. Krankheitsbeginn. Der eigentliche Krankheitsbeginn ist oft nicht sicher abgrenzbar, insbesondere bei sog. blandem oder primär chronischem Verlauf, v. a. aber bei einer (gleichzeitig bestehenden) Persönlichkeitsstörung. In diesen Fällen kann die Abgrenzung von »Krankheit« gegenüber einer prämorbid devianten Persönlichkeit schwierig sein, die ihrerseits eine gewisse Störungsspezifität aufweisen kann. Oft gehen der eigentlichen Krankheitsepisode unspezifische Prodromalsymptome voraus. Akuter Beginn mit zeitlich steilem psychopathologischem Gradienten – Ausdruck eines rasch de- wie restabilisierbaren »Systems« – prognostiziert in der Regel eine eher günstige Streckenprognose. Episode. Als Episode wird die zeitlich begrenzte psycho-
pathologische Dekompensation bezeichnet, die mit Restitution (Phase) oder Residualsymptomatik (Schub) abklingen, aber auch in einen chronischen Verlauf übergehen kann. Remission. Ist die Restitution vollständig, was bei gleich-
2.4.1
Verlaufsdiagnostik
Psychische Störungen entfalten sich im zeitlichen Verlauf und sind oft von lebenslanger Dauer. Dabei ist die enge Verflechtung mit dem Lebenszyklus des sich entwickelnden Individuums zu beachten. Die Verlaufscharakteristik einzelner Störungen, d. h. die spontane Verlaufsprognose, ist selbst als nosologisches Unterscheidungsmerkmal betrachtet worden (Dementia praecox vs. manischdepressive Erkrankung); unzweifelhaft muss aber der individuelle Verlauf als das Resultat einer Fülle von Einflussfaktoren aufgefasst werden, die ihrerseits nur auf
zeitig bestehender Persönlichkeitsstörung schwierig beurteilbar sein kann, wird von Remission gesprochen. Nicht immer ist eine Episode als zeitlich zusammenhängende Störung zu identifizieren; rasche Symptomwechsel, Symptomspitzen im Intervall oder zeitlich gehäufte Symptomcluster mit zwischenzeitlicher Symptomfreiheit oder verarbeitungsbedingtem Fehlverhalten sind weitere Muster akuter Symptomverläufe. Postakutes Verlaufsstadium. Mit Abklingen einer Episode beginnt das postakute Verlaufsstadium. Neben monoepisodischen werden v. a. rezidivierende Verlaufsformen beobachtet – mit unterschiedlich langem und mehr oder
45 2.4 · Dimensionen der Störungsdiagnostik
weniger symptomfreien interepisodischen Intervall, variierender Episodenfrequenz, wechselnder (affektiver) Polarität der einzelnen Episoden und unterschiedlicher Richtungsprognose über mehrere Episoden hinweg. Durch simultane oder sequenzielle Kombination verschiedener psychopathologischer Syndrome im Sinne der Komorbidität kann sich die Verlaufscharakteristik weiter komplizieren. Verlaufsausgang. Der Verlaufsausgang (»outcome«) ist
allgemein der zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasste Status auf verschiedenen, insbesondere psychopathologischen und psychosozialen Beurteilungsebenen. Mit zunehmender Verlaufsdauer reflektiert er das Ergebnis des spontanen Krankheitsverlaufs und damit die durchschnittliche Richtungsprognose. Globale Beurteilungskriterien, wie »geheilt«, »gebessert« oder »verschlechtert«, werden der Komplexität des Verlaufsausgangs nicht gerecht, zumal die einzelnen »outcome«-Bereiche im Sinne offener teilverbundener Systeme (»open-linked systems«; Strauss et al. 1974) im Querschnitt nur locker assoziiert sind. Im übrigen erscheint das Konzept der »Heilung« in Anbetracht des rezidivierenden Verlaufs vieler psychischer Störungen nur insofern angebracht, als damit die dauerhafte – spontan einsetzende oder therapeutisch induzierte – Inaktivierung eines hypothetischen Krankheitsprozesses, eine (z. B. durch Entwicklungs- oder Lernprozesse bedingte) Reaktionsveränderung des psychobiologischen »Resonanzbodens« oder die (aktive bzw. passive) Mobilisierung hypothetischer »Gegenkräfte« verstanden wird (s. oben). Das Ergebnis ist häufig keine Restitutio ad integrum, sondern mit der Entwicklung maladaptiver Verhaltensmuster verbunden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Frage nach den ätiopathogenetischen Modellen, die die verschiedenen Verlaufsfiguren erklären können, vorerst kaum zu beantworten ist. Ein deterministisches Modell, wonach mit einem bestimmten Krankheitsbild ein definierter Krankheitsverlauf verbunden ist, ist in der Regel nicht angemessen; gleichwohl gibt es krankheitsspezifische Verlaufsbesonderheiten, die – bei aller interindividuellen Heterogenität – auf nosologisch relativ homogene Zustands-Verlaufs-Einheiten verweisen.
2.4.2
Psychopathologische Funktionsdiagnostik
Funktionsdiagnostik ist hier im Sinne eines funktionalen, d. h. auf die zugrunde liegenden Funktionsstörungen zielenden, ätiopathogenetischen Verständnisses deskriptiver psychopathologischer Auffälligkeiten zu verstehen. Dieses zielt nicht primär auf nosologische Entitäten, son-
dern auf nosologieübergreifende Funktionsstörungen psycho-neurobiologisch determinierter Systeme, die bei ähnlichen Syndromen im Rahmen verschiedener Erkrankungen involviert sein können (van Praag et al. 1987). Die noch heute verwendete psychopathologische »Sprache« mit einem Kanon von Konzepten, Begriffen sowie grammatischen und syntaktischen Regeln zur Beschreibung psychischer Störungen bildete sich im Wesentlichen in der französischen und deutschen Psychiatrie zwischen 1815 und 1880 heraus (Berrios 1994). Der Symptomkatalog, der sich bei »vorurtheilloser Betrachtung« (Kahlbaum s. oben) in elementarer Form aus der Natur quasi von selbst ergab, hat bis heute Gültigkeit behalten. Formal kann die Grundstruktur psychopathologischer Symptome folgendermaßen definiert werden: »Symptoms are no more than systematic variations in the form and content of the patients‹ speech and habitual motility patterns« (Berrios 1994; Übersetzung: »Symptome sind nichts anderes als systematische Variationen von Form und Inhalt, von Sprache und Bewegungsmustern der Patienten.«).
Selten erfolgt allerdings in der Praxis eine rein phänomenologische Deskription – Voraussetzung einer funktionalen Korrelation –, sondern zumeist sind interpretative Anteile im Gefolge subjektiver oder interaktioneller Verarbeitung beigemengt: »Psychopathologic symptoms have two components: a biologic source (a dysfunction) that engenders a dislocation of behavior (›signal‹) and a psychosocial aspect (›noise‹) that relates to the interpretation of the behavioral dislocation by the patient or others« (Berrios 1994). [Übersetzung: »Psychopathologische Symptome haben 2 Komponenten: eine biologische Quelle (eine Dysfunktion), die eine Verhaltensstörung hervorruft (»Signal«) und einen psychosozialen Aspekt (»Geräusch«), der sich aus der Interpretation der Verhaltensänderung durch den Patienten und andere ergibt«.]
In diesem Sinne wird die Erfassung auf der Beobachterseite z. B. durch implizite nosologische Theorien (Sulz u. Gigerenzer 1982) oder durch implizite Plausibilitätskontrollen mit »Zurückweisungs«- und »Transformations«-Regeln (Berrios 1994) mitbestimmt. Dementsprechend kann von einer »vorurteilslosen« Erfassung nur bedingt die Rede sein. Als Konsequenz wird ein in Frage stehendes Symptom/Syndrom unterschiedlichen Grundprozessen attribuiert: Ein stärker »idiographisch« eingestellter Untersucher wird eher dazu neigen, psychopathologische Auffälligkeiten als Konsequenz der individuellen Lebens- und Lerngeschichte zu »verstehen«, während bei einer querschnittsbezogenen »nomothetischen« Sichtweise eher die Abweichung von einer überindividuellen Norm als »Erklärung« herangezogen werden dürfte. Hier ist Jaspers’ Unterscheidung von Form und Inhalt eines Symptoms von Bedeutung:
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
»Mental content is derived from contexts, symbolization, drives and cortical structures involved; the form of a symptom complex … is determined by etiologically-related antecedents. Thus form and content are applicable to different clinical operations; only form is relevant to diagnosis« (Akiskal 1978). (Übersetzung: »Mentale Inhalte leiten sich aus Kontext, Symbolisierung, Antrieben und involvierten kortikalen Strukturen ab; die Form eines Symptomkomplexes … wird von Voraussetzungen bestimmt, die mit der Ätiologie zusammenhängen. Form und Inhalt sind demnach auf unterschiedliche klinische Vorgänge bezogen; nur die Form ist für die Diagnosestellung von Bedeutung«.)
Die beiden Sichtweisen sind komplementär, erfordern aber beide zunächst eine möglichst vorannahmefreie deskriptive Erfassung des (formalen) Symptoms, bevor eine (inhaltliche) »Interpretation« oder »Erklärung« seines Auftretens angestrengt wird. »The demonstration that patients have psychodynamics, that they suffer with them, and that they deal with them ineffectively, does not necessarily tell us what is the matter with them, that is, why they are patients« (Meehl 1973). (Der Nachweis, dass Patienten eine Psychodynamik aufweisen, dass sie unter ihr leiden und sie unzureichend bewältigen, sagt noch nichts darüber aus, was ihnen fehlt, d. h. warum sie Patienten sind.)
Psychologische Kategorien Die geläufigen psychopathologischen Systeme und Skalen projizieren den gesamten Merkmalsraum auf ein kategoriales Koordinatennetz, das einer traditionellen Elementenpsychologie entlehnt ist. Die theoretischen Vorannahmen bestehen darin, dass Funktionen wie z. B. »Bewusstsein«, »Denken«, »Wahrnehmung«, »Affekt« etc. psychologische Kategorien darstellen, die unterscheidbar, operational beschreibbar und in ihrem jeweiligen Störungsgrad gegenüber der Norm abgrenzbar sind und auf der Störung einer identifizierbaren elementaren Funktion beruhen. Diese Annahmen sind nur bedingt erfüllt. So fehlt z. B. eine empirisch begründete operationale Definition und gegenseitige Abgrenzung normaler Funktionen, so dass eine klinisch eindeutige Zuordnung von Störungen zu den einzelnen Kategorien häufig unmöglich ist und zur Doppelkodierung von Merkmalen führt (z. B. AMDP 1997). Ebenso sind krankhafte von normalen Funktionen häufig nicht klar abgrenzbar. Rein theoretisch ist eine Abgrenzung qualitativ und/ oder quantitativ denkbar, wenn die Normalfunktion anhand spezifischer Indikatoren eindeutig definiert und in ihrem Normbereich umrissen ist (s. oben).
Psychopathologische Kategorien Interaktioneller Prozess Das Spektrum psychopathologischer Auffälligkeiten wird erst im interaktionellen Prozess unmittelbar oder mittelbar zugänglich. Eine Abweichung psychischer Funktionen wird vom Interaktionspartner entweder aus der direkten Verhaltensbeobachtung oder aus der Selbstschilderung des Patienten anhand mehr oder weniger expliziter formaler, inhaltlicher und zeitlicher Beurteilungskriterien erschlossen. Kommunikation ist in jedem Fall Voraussetzung einer adäquaten Erfassung und Abbildung psychopathologischer Merkmale: Verbales und nonverbales Wahrnehmungs- und Mitteilungsvermögen, d. h. die kommunikative Kompetenz auf beiden Seiten entscheidet über die Qualität der Kommunikation und ihre methodische Eignung als psychopathologisches Untersuchungsinstrument. Verzerrungen können – je nach Betrachtungsperspektive – auf allen Wahrnehmungskanälen bzw. durch deren Interferenz (Polzer u. Gaebel 1993) z. B. aufgrund unterschiedlicher »sozialer Codes«, durch individuelle Einstellungen und psychodynamisch begründete »Widerstände«, dyskommunikative soziokulturelle »Darbietungsregeln« sowie durch einen die Enkodierungs- und Dekodierungsleistungen direkt beeinträchtigenden pathologischen Prozess hervorgerufen werden. Eine Differenzierung der verschiedenen möglichen Determinanten eines (gestörten) kommunikativen Prozesses ist Voraussetzung für die formale Identifizierung eines psychopathologischen Merkmals.
Quantitative Normabweichungen wären dann als Hypooder Hyperfunktion, qualitative Abweichungen als Dysfunktion zu charakterisieren. Schließlich muss die Annahme, dass den unterschiedlichen psychopathologischen Kategorien (neuropsychologisch) definierte Funktionen korrespondieren, zumindest so lange in Frage gestellt werden, als nicht eine hinter den klinischen »Rohdaten« stehende Störung psychologischer »Grundfunktionen« identifiziert ist (Gaebel 1996). Auch kann eine Alteration psychischer Grundfunktionen mittels entsprechender Indikatoren noch nicht als primär oder sekundär identifiziert werden, da derartige Funktionsstörungen Ausdruck sowohl primär dysregulativer wie sekundär gegenregulatorischer Prozesse sein können. Hinzu kommt, dass einzelne Symptome oder Symptomkomplexe aufgrund unvollständiger, subklinischer oder atypischer Ausprägung, Maskierung und Kombination nicht oder fehlerhaft identifiziert werden, was zu diagnostischen Irrtümern Anlass geben kann. Psychopathologische Symptome/Syndrome erlauben beim gegenwärtigen Stand ihrer Erfassung noch keine sicheren Rückschlüsse auf die Pathophysiologie involvierter Funktionssysteme. Laborbefunde in der somatischen Medizin verweisen demgegenüber zwar bereits auf organübergreifende oder –spezifische Funktionszustände, sind aber in aller Regel ebenfalls mehrdeutig. Auch hier hilft erst eine bestimmte Befundkonstellation vor dem Hintergrund von Regelwissen bei der diagnostischen Differenzierung weiter. »Latente« Funktionsstö-
47 2.4 · Dimensionen der Störungsdiagnostik
rungen können oft erst durch funktionsspezifische Belastungstests aufgedeckt werden. Die Mehrdeutigkeit des pathologischen Ausfalls häufig hochkomplexer behavioraler Funktionstests (z. B. Wisconsin Card Sorting Test) muss hier allerdings gleichermaßen durch Berücksichtigung der Befundkonstellation wie hypothesengeleitete Analyse der Untersuchungsbedingungen und involvierten Teilfunktionen differenziert werden.
Bestandsaufnahme psychischer Grundfunktionen Ansätze zu einer experimentellen Reduktion klinischpsychopathologischer Phänomene auf deren »psychologischen« Kern bedürfen zunächst einer Bestandsaufnahme psychischer »Grundfunktionen« (vgl. Pöppel 1988). Eine Taxonomie derartiger Funktionen unter Berücksichtigung ihrer Interdependenz (z. B. ubiquitär intervenierende Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse) gilt es erst zu entwickeln. Verhaltensbesonderheiten, die zunächst möglichst theorieneutral deskriptiv erfasst werden, sind nur durch Berücksichtigung der externen und internen Stimulusbedingungen etc. »erklärbar« und damit »verstehbar«. Eine weitere Differenzierung ist durch Berücksichtigung longitudinaler (anamnestischer) Informationen sowie durch standardisierte Untersuchungsbedingungen bezüglich des im explorativen Screening herausgehobenen Merkmals möglich. Dabei müssen die verschiedenen Informationsquellen (subjektiv-verbal, motorisch, physiologisch) und methodischen Zugangsweisen (Selbst-, Fremdbeurteilung, Verhaltensbeobachtung, Verhaltenstest) der Psychopathologie voll genutzt werden (Gaebel u. Wölwer 1996). Mit Hilfe ergänzend durchgeführter biologischer Funktionstests wäre eine funktionale Klassifikation zu entwickeln, die von definierten Störungen psycho-neurobiologischer Systeme ausgeht. Derartige Überlegungen machen eine psychodynamische Perspektive nicht überflüssig, sondern bilden ihre Grundlage. Die diagnostische wie therapeutische Vernachlässigung der subjektiven Krankheitsbedeutung würde einem Sinnverlust in der therapeutischen Beziehung und subjektiven Krankheitsbewältigung Vorschub leisten (Gabbard 1992). Bei einer – vor dem Hintergrund traditioneller Diagnostik – stärker an psychodynamischen Fragestellungen interessierten operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) wird neuerdings versucht, auch zentrale psychodynamische Konstrukte wie Krankheitserleben, Beziehung, Konflikt und Struktur operational zu erfassen (Arbeitskreis OPD 2001).
2.4.3
Soziale Funktionsdiagnostik
ICD-10 und DSM-IV unterscheiden sich wesentlich in der Gewichtung psychosozialer Kriterien (Saß et al. 1998). Während DSM-IV bei nahezu jeder Störung als Eingangskriterium klinisch bedeutsame »Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen« aufführt, versucht ICD-10 psychosoziale Kriterien bei der Diagnosestellung zu vermeiden und trägt damit der Ansicht Rechnung, dass die psychosozialen Auswirkungen psychischer Störungen auf einer gesonderten Klassifikationsachse in Form von Behinderung, Einschränkung und Funktionsstörung kodiert werden sollten. Psychosoziale Aspekte werden im Rahmen der klinischen Befunderhebung explizit berücksichtigt (z. B. Sozialanamnese), sozial-kommunikative Aspekte sind zumindest impliziter Bestandteil der psychopathologischen Befunderhebung. Sie sind zentraler Bestandteil einer psychodynamisch orientierten Beziehungsanalyse und stellen andererseits ein wesentliches »OutcomeKriterium« dar.
Einfluss sozialer Faktoren Zum Einfluss sozialer Faktoren auf Entstehung und Verlauf psychischer Störungen gibt es eine Reihe sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, die im Kontext unterschiedlicher soziologischer Theorien (Eaton 1994) die Bedeutung von Schichtmerkmalen, »life events«, sozialem Netzwerk oder emotionalem Familienklima mit Hilfe entsprechender Erhebungsinstrumente überprüft haben, allerdings nur teilweise belegen konnten. Interkulturelle epidemiologische Vergleichsstudien weisen für Krankheitsverläufe eine beachtliche Umweltplastizität aus. Gesellschaftliche Einflüsse überformen die klinische Ausprägung von Symptomen psychischer Störungen in erheblichem Ausmaß (Kirmayer 2005). Trotz unbestrittenen Einflusses von Umgebungsfaktoren auf die strukturelle und funktionelle Hirnentwicklung (Eisenberg 1995), wird das Ausmaß von Umwelteinflüssen in der Ätiopathogenese psychischer Störungen kontrovers diskutiert. Während für die Manifestation schizophrener Störungen – aufgrund von Zwillingsbefunden Paradebeispiel für eine Anlage-Umwelt-Interaktion – auch die Möglichkeit einer rein genetischen Ursache diskutiert wird (McGuffin et al. 1994), wird für affektive Störungen die Möglichkeit einer – über Genexpression vermittelten – neurobiologischen Sensitivierung durch psychosoziale Stressoren (Verlustereignisse) wie durch biochemische Begleitwirkungen einer stattgefundenen Krankheitsepisode als Rezidivmechanismus erwogen (Post 1992). Umwelt-Gen-Interaktionen sind vermutlich die Grundlage langfristiger neurobiologischer Adaptationsvorgänge (neuronale Plastizität), die für (psycho- wie somato-)therapeutische Langzeiteffekte verantwortlich
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
sind (Hyman 2000). Wissenssoziologische Grundlagen sind von Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung von Wissenssystemen, wie z. B. psychiatrischen Klassifikationssystemen (Eaton 1994). Bei multiaxialer Diagnostik mit dem DSM-IV werden deskriptiv auf Achse IV psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme, auf Achse V das globale Funktionsniveau erhoben. Die multiaxial konzipierte OPD (s. oben) erfasst auf Achse II das vom Patienten erlebte »habituelle« wie das in der diagnostischen Situation aktuelle Beziehungsverhalten, auf Achse III das Konfliktmuster mit weiteren interpersonellen Konfliktkonstellationen. Ethologische Konzeptionen haben jüngst zu der Forderung beigetragen, soziobiologische Aspekte als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie stärker zu berücksichtigen (Gardner 1996). Zu dieser Forderung scheinen u. a. Befunde zur sozialkommunikativen Bedeutsamkeit basolateraler Hirnstrukturen (»social brain«) zu berechtigen (Deakin 1994). Gerade diese letztere Entwicklung hat in jüngster Zeit enorme Forschungsanstrengungen zur Folge gehabt. Die »soziale Kognition« als Fähigkeit des Menschen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, aber auch im sozialen Kontakt »normal« zu funktionieren, ist mittlerweile eine durch viele neurowissenschaftliche Untersuchungen gut etablierte Grundfunktion des menschlichen Gehirns. Dabei interagieren in der »sozialen Kognition« psychologische und neurobiologische Prozesse (vgl. Übersicht in der Sonderausgabe der Zeitschrift »Brain Research«, Vol. 1079, 2006). Die Implikationen dieser neuen Sichtweise auf soziale Vorgänge für die Psychiatrie sind erheblich, weisen in ihrer ethisch-moralischen Dimension (Stichwort: Wie frei ist der Mensch bei sozial relevanten Entscheidungen?) jedoch weit über die Psychiatrie hinaus. Auch für die Ursachenforschung der Stigmatisierung psychisch Kranker bieten sich hier ganz neue Ansätze; so konnten beispielsweise neurophysiologische Grundlagen für Stereotypien und Vorurteile gefunden werden (Mitchell et al. 2006). Da Störungen der sozialen Kognition aber auch als wichtige Grundlagen für die Symptombildung psychischer Störungen anzusehen sind, gibt es bereits erste therapeutische Ansätze, die sich speziell mit einer psychotherapeutischen Verbesserung der sozialen Kognition bei psychischen Störungen beschäftigen (Wölwer et al. 2005; Choi u. Kwon 2006; Gevers et al. 2006).
2.4.4
Biologische Funktionsdiagnostik
Hier geht es um die Identifikation normabweichender Befunde bei psychischen Störungen auf verschiedenen Ebenen »unterhalb« des beobachtbaren Verhaltens (Neuropsychologie, Psychophysiologie, Neurophysiologie,
Hirnstoffwechsel/-durchblutung, Neurobiochemie, Hirnmorphologie, Molekularbiologie). Dabei muss differenziert werden, ob die entsprechenden Merkmale das Auftreten einer Krankheitsepisode, prämorbide Krankheitsbedingungen oder residuale Krankheitsfolgen charakterisieren bzw. auch bei klinisch gesunden Mitgliedern von Risikopopulationen beobachtbar sind (s. unten). Die Suche nach den neurobiologischen Determinanten psychischer Störungen zielt letztlich darauf ab, zwei konzeptuell und methodisch weit voneinander »entfernte« Beobachtungsebenen miteinander in Beziehung zu setzen: Die klinisch-phänomenologische Beschreibungsebene einerseits und die Ebene der als ätiologisch relevant postulierten Determinanten andererseits (z. B. genetische Faktoren). Dazwischen ist vermittelnd eine Reihe pathogenetisch relevanter Ebenen eingeschoben, deren Interrelation durch sog. Mehrebenenuntersuchungen unter standardisierten Bedingungen zu klären ist (Gaebel u. Maier 1993; Lopez-Ibor et al. 2002): die Ebene der neuropsychologischen Leistung; neurophysiologische und psychophysiologische Auffälligkeiten (z. B. evozierte Potenziale, autonomes Erregungsniveau, Augenfolgebewegungen); neurobiochemische Abweichungen (z. B. Neurotransmitterstörungen, neuroendokrinologische, immunologische Befunde); hirnfunktional mit bildgebenden Verfahren (SPECT, PET, fMRT) in vivo nachweisbare Auffälligkeiten (z. B. regionale Mangeldurchblutung, regionaler Hypometabolismus); hirnmorphologisch mit bildgebenden Verfahren (CT, NMR) in vivo oder neuropathologisch post mortem feststellbare Normabweichungen (z. B. Ventrikelweite, Größe bestimmter Nuklei und Hirnregionen, Hemisphärenasymmetrien etc.); molekularbiologische Analysen (z. B. Assoziationsund Kopplungsstudien, Genprodukte, postsynaptische Signaltransduktion, neuronale Plastizität). Als Ausgangspunkt korrelativer Studien (s. unten) ist allerdings noch unklar, ob der psychopathologische Phänotyp nicht durch einen neurobiologisch definierten Phänotyp (Endophänotyp; Gottesman et al. 1987) ersetzt bzw. ergänzt werden sollte, der z. B. mit dem familiären Auftreten der Störung assoziiert ist und eine größere Spezifität für den angenommenen Genotyp aufweist. Jenseits genetischer Forschung eröffnet sich im Aufsuchen neurobiologischer Krankheitskorrelate und in der Charakterisierung ihres Zusammenhangs untereinander sowie mit dem zeitlichen Verlauf bzw. Stadium der Erkrankung (Risikofaktor, Vulnerabilitätsmarker, Residualmarker etc.; s. unten) ein indirekter Weg zur Aufklärung der (Ätio-) Pathogenese.
49 2.5 · Forschungskonsequenzen
2.5
Forschungskonsequenzen
Die Umsetzung der genannten Konzepte in ein konkretes Forschungsdesign zur Ätiopathogenese psychischer Störungen erfordert forschungsstrategische Vorüberlegungen, ohne die Forschungsziele nicht erreicht und Forschungsressourcen verschwendet werden. Zunächst sollen einige begriffliche Klärungen vorangestellt werden, bevor 2 komplementäre Forschungsstrategien vorgestellt werden (vgl. Gaebel u. Maier 1993).
2.5.1
Terminologischer Exkurs
tig definiert. Einerseits wird darunter ein prämorbid feststellbarer Risikofaktor verstanden, der auch nach Erstmanifestation der Erkrankung persistiert; bei bereits manifest Erkrankten kann die Ausprägung dieses Merkmals u. U. die Rezidivneigung bzw. Neigung zur Chronifizierung voraussagen. Andererseits wird unter Vulnerabilitätsmarker ein Risikoindikator verstanden, dessen Validität durch die Differenzierung zwischen gesunden Angehörigen von Erkrankten und gesunden, familiär nicht belasteten Kontrollen belegt wird (»true vulnerability«-Marker; Steinhauer et al. 1991). Vulnerabilitätsindikatoren müssen nicht notwendig direkter Ausdruck der Ätiopathogenese des Krankheitsprozesses sein, sie können auch lediglich mit einem Risikofaktor assoziiert sein.
Korrelate – Indikatoren/Marker – Determinanten. Korre-
late sind zunächst statistisch assoziierte Merkmale psychischer Störungen, deren potenzielle ätiopathogenetische Bedeutung offenbleibt, sofern nicht forschungsstrategische Voraussetzungen (s. unten) eine nähere Charakterisierung des Zusammenhangs erlauben. Akiskal (1978) unterscheidet ätiologische, epiphänomenale und kovariierende Korrelate. Näher spezifizierte Indikatoren oder Marker (s. unten) haben über einen korrelativen Zusammenhang hinaus bereits einen gerichteten indikativen Status; sie fungieren als objektive transphänomenale, d. h. auf einen hypothetischen Krankheitsprozess bzw. dessen dispositionelle Grundlagen verweisende Zeichen, ohne dass ihnen selbst notwendig eine pathogenetische Bedeutung zukommt. Sie können auch lediglich mit einem Risikofaktor für die Erkrankung assoziiert sein. Zufriedenstellende Spezifität und Sensitivität vorausgesetzt, wären sie als eine Art diagnostischer Test einsetzbar. Determinanten schließlich sind konzeptuell und empirisch am weitesten entwickelte Merkmale; in einem pathophysiologischen Kontext käme ihnen die Bedeutung definierter (ätio-)pathogenetischer Bedingungskonstellationen zu. Risikofaktoren und Risikoindikatoren. Risikofaktoren zei-
gen bei Personen, die bisher nicht erkrankt sind, ein erhöhtes Manifestationsrisiko an. Risikoindikatoren kennzeichnen dagegen lediglich die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, ohne dass jeder Träger dieser Eigenschaft ein tatsächlich erhöhtes Risiko für die Krankheitsmanifestation aufweisen muss; z. B. stellt die Verwandtschaft zu einem Erkrankten bei familiärer Häufung der Erkrankung einen Risikoindikator dar, obwohl bei monogener genetischer Übertragung nur eine Teilgruppe der Angehörigen tatsächlich Träger des Genotyps ist. Vulnerabilitätsmarker. Entsprechend der Mehrdeutigkeit
des Vulnerabilitätsbegriffs ist dieser Begriff nicht eindeu-
Genetische und andere ätiologische Marker. Diese Indi-
katoren kennzeichnen das Vorliegen eines Ursachenfaktors der Erkrankung. Indikatoren des prämorbiden Zustands bzw. dessen unspezifischer Folgezustände (z. B. reduziertes Ausbildungsniveau oder lediger Familienstatus, die häufig im Rahmen eines »vorauslaufenden Defekts« auftreten) oder Indikatoren der mangelnden Verfügbarkeit protektiver Mechanismen (z. B. Fehlen ausgeprägter Intelligenz) können zwar Risikofaktoren oder Vulnerabilitätsmarker, nicht aber ätiologische Marker darstellen. Ätiologische Marker sind demgegenüber Indikatoren von Determinanten der hypothetischen Vulnerabilität, d. h. »true vulnerability«-Marker. Von Markern im genetischen Sinn wird zudem gefordert, dass sie auf dem Genom lokalisierbar sind (z. B. DNA-Marker, Blutgruppen, Rot-Grün-Blindheit). Episoden- bzw. Verlaufsindikatoren. Treten Normabwei-
chungen eines Indikators nur bei manifest Erkrankten während der Episode auf, so handelt es sich um Episodenindikatoren. Um diesen Markertyp zu identifizieren, ist eine operationalisierte psychopathologische Episodendefinition erforderlich, wie sie z. B. für affektive Störungen entwickelt wurde (Frank et al. 1991). Das hierbei definitorisch zu berücksichtigende Gegenstück der Episode wäre die (Teil-)Remissionsphase. Da zu verschiedenen Verlaufszeitpunkten unterschiedliche Aspekte der Krankheitsphänomenologie im Vordergrund stehen, die nur partiell korrelieren und nicht synchron variieren, muss die Operationalisierung einzelner Verlaufsstadien mehrere Symptomdimensionen berücksichtigen. Residualmarker zeigen eine postepisodisch persistierende Symptomatik an; hier wären auch Folgezustände der Erkrankung zu subsumieren. Verlaufsindikatoren markieren ein bestimmtes Verlaufsstadium oder sagen den weiteren Verlauf, z. B. eine
2
50
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
erhöhte Rezidivneigung, voraus; sie wären somit für den weiteren Verlauf von prognostischer Relevanz (Prädiktoren).
2
Akuitäts- bzw. Beeinträchtigungsindikatoren. Hier sind
Indikatoren zu subsumieren, die in Abhängigkeit von der Akuität der psychopathologischen Symptomatik (Zeitgradient) oder vom Schweregrad der damit einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigung variieren und teilweise mit Episodenindikatoren überlappen. Insbesondere beim internosologischen Vergleich eines neurobiologischen Merkmals müssen Gruppenunterschiede hinsichtlich Beeinträchtigung und/oder Akuität kontrolliert werden, damit Ausprägungsunterschiede des untersuchten Merkmals nicht als Ausdruck nosologischer Spezifität fehlinterpretiert werden. State- bzw. Traitmarker. Diese Differenzierung betrifft die
zeitliche Variabilität der Ausprägung einer Indikatorvariablen. Besteht bei manifest Erkrankten oder bereits vor Auftreten der Erkrankung eine Normabweichung bezüglich der Indikatorvariablen, bleibt diese trotz Variation bzw. Remission der Symptomatik bestehen und ist nicht auf peristatische Faktoren (z. B. Medikation) zurückzuführen, so liegt ein zeitinvarianter Trait-Marker vor. Besteht die Normabweichung – krankheits- oder behandlungsbedingt – nur während der Krankheitsepisoden, so liegt ein State-Marker (nicht synonym mit Episodenmarker) vor. Die Trait-Qualität eines Indikators kann indirekt auch durch dessen deviante Ausprägungen bei gesunden Angehörigen erhärtet werden. Eine Trait-Variable sollte bereits im prämorbiden Stadium nachweisbar sein. State-Trait-Kontinuum. Häufig zeigen Indikatoren sowohl
State- als auch Trait-Eigenschaften (»mediating vulnerability factor«; Nuechterlein u. Dawson 1984): Es besteht eine zeitlich (auch außerhalb von Krankheitsepisoden) überdauernde Normabweichung bei Erkrankten, die beim Auftreten von Krankheitsepisoden ausgeprägter wird. Daher erscheint es (auch unter funktionalem Aspekt, Abschn. 2.5.2) angemessener, von einem StateTrait-Kontinuum, anstatt von einer Dichotomie auszugehen. Jener Teil der zeitlichen Varianz der Indikatorausprägung über verschiedene Meßzeitpunkte, der nicht durch die synchrone Fluktuation der psychopathologischen Symptomatik erklärt werden kann, könnte als Maß für die »Trait«-Qualität eines Indikators angesehen werden.
2.5.2
Forschungsstrategien
Assoziationsstudien In einem ätiopathogenetisch orientierten Forschungsmodell werden die eingangs skizzierten »vertikal« organisierten Untersuchungsebenen (Helmchen 1988) im Sinne einer Mehrebenenanalyse im Querschnitt zueinander in Beziehung gesetzt. Zielsetzung dieser Forschungsstrategie ist zunächst das Auffinden von Krankheitskorrelaten über verschiedene Untersuchungsebenen hinweg. Zeitliche Dimension. Messzeitgleichheit mit neurobiolo-
gischen Merkmalen ist allerdings durch den in der Regel zeitversetzt stattfindenden und verschiedene Transformationsstufen durchlaufenden Erhebungsprozess psychopathologischer Merkmale nicht gewährleistet. Bisher fehlt der Erfassung psychopathologischer Merkmale die angemessene Berücksichtigung der zeitlichen Dimension (vgl. Berrios 1994). Tatsächlich werden Befunde mit versetzten Zeitkoordinaten unter der – unbewiesenen – Annahme in Beziehung gesetzt, dass die zum Zeitpunkt t1 bzw. t2 gemessenen Größen mindestens für den beide Messzeitpunkte umfassenden Zeitraum t1–t2 repräsentativ sind. Zur besseren Synchronisierung im Mikrobereich, insbesondere bei Verwendung zeitlich hochauflösender psychophysiologischer Untersuchungsmethoden (z. B. evozierte Potentiale), spielt der Einsatz behavioraler Indikatoren eine besondere Rolle. Konzeptuell ist zwar keine Untersuchungsebene einer anderen »epiphänomenal« untergeordnet, eine Aussage über die Validität biologischer Indikatoren im Sinne von Krankheitsdeterminanten oder -ursachen erlaubt dieser Ansatz aber zunächst nicht. Dem Vorwurf einer heuristischen »fishing-expedition« (Palm 1990) entgeht dieser Ansatz allerdings nur durch Berücksichtigung »horizontaler« Aspekte (Helmchen 1988) im Sinne einer prospektiv angelegten Verlaufsforschung im makro- und mikrozeitlichen Bereich. Sie erst erlaubt Aussagen über pathogenetisch oder ätiologisch relevante Prozesse, die der Episodenmanifestation vorauslaufen, sie begleiten oder überdauern. Dies wiederum setzt präzise Episodenindikatoren voraus. Eine Differenzierung zwischen dispositions- und zustandsgebundenen Krankheitskorrelaten erfordert deren longitudinale Untersuchung in prä-, intra- und postmorbiden Krankheitsstadien unter adäquater Berücksichtigung der fluktuierenden Psychopathologie. Vergleich neurobiologischer Parameter. Aberrationen neurobiologischer Parameter sind nur vergleichend zu identifizieren und interpretieren. Während intraindividuelle Vergleiche Aussagen zur State- bzw. Trait-Spezifität ermöglichen, erlauben erst interindividuelle Vergleiche Aussagen zur Krankheitsspezifität (krank vs. gesund),
51 2.5 · Forschungskonsequenzen
Syndromspezifität (z. B. Positiv- vs. Negativsymptomatik), Spektrumspezifität (z. B. Schizophrenie vs. schizotypische Persönlichkeit) oder Nosologiespezifität (z. B. Schizophrenie vs. Affektpsychose) eines Befundes. In Umkehrung dieses Ansatzes kann auch eine nosologieübergreifende »select-by-marker«-Strategie (Buchsbaum et al. 1976) angewandt werden, bei der homogene Gruppen anhand der Ausprägung neurobiologischer Merkmale gebildet und psychopathologische oder diagnostische Charakteristika als abhängige Variablen betrachtet werden. Dieses Vorgehen empfiehlt sich insbesondere in Zusammenhang mit dem unten diskutierten funktionalen Ansatz. Unterscheidung primärer vs. sekundärer Störungen.
Schwierig bis unmöglich ist derzeit die Unterscheidung primärer (krankheitsprozessabhängiger) Störungen von sekundären (reaktiven, kompensatorischen, reparativen etc.) Veränderungen auf den jeweiligen Untersuchungsebenen. Rückschlüsse auf eine quantitativ und/oder qualitativ gestörte Funktionscharakteristik psychobiologischer Systeme (Hypo-, Hyper-, Dysfunktion) aufgrund singulärer und einmalig erhobener Funktionsparameter scheinen ohne Kenntnis von deren normaler Regulationsdynamik verfrüht. Nur die vergleichende experimentelle Untersuchung einer mutmaßlich gestörten Funktion im Tiermodell, an gesunden Kontrollpersonen sowie an Patienten mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern kann hier künftig zum Ziel führen. Tiermodelle. Die Krankheitsmodellierung am Tier stellt eine Basismethode dar, mit deren Hilfe die Kausalität einzelner Faktoren hinsichtlich ätiopathogenetischer Fragestellungen empirisch evaluiert werden kann. Nur das Tiermodell erlaubt die experimentelle Variation von Faktoren, deren Untersuchung am Menschen lediglich in prospektiven Studien oder retrospektiven Analysen in konfundierter Form mit nur vergleichsweise schlecht zu kontrollierenden anderen Faktoren möglich ist. Trotz der eingeschränkten Übertragbarkeit von tierexperimentellen Befunden auf den Menschen sind auf der Ebene der Neurowissenschaften wesentliche Ergebnisse erzielt worden. Gleichwohl wird selbst nach Aufklärung der biologischen Prozesse und Mechanismen die Frage nach der Beziehung derselben zur Phänomenologie der Symptomatik sowohl auf der subjektiven Ebene des Erlebens als auch auf der Ebene des Verhaltens offenbleiben. Statistisches Modell der Korrelation. Bei der Wahl des
Auswertungsverfahrens ist zu berücksichtigen, dass das statistische Modell der linearen Korrelation dem Sachverhalt durchaus nicht angemessen sein muss, da Prozesse auf verschiedenen Ebenen jeweils eigenen, nichtlinearen Gesetzmäßigkeiten folgen können (z. B. kurvilineare Arousal-Leistungs-Beziehung).
Darüber hinaus ist mit Schwellenphänomenen zu rechnen, d. h. Funktionsstörungen auf einer Ebene treten möglicherweise erst nach Überschreiten der homöostatischen Regelbreite aus der Latenz und manifestieren sich dann auch auf anderen Ebenen. Pathologische Befunde sind hier erst unter nicht mehr kompensierbaren Belastungsbedingungen zu erwarten.
Funktionaler Ansatz Zielsetzung der oben geforderten Denosologisierung und funktionalen Orientierung der Diagnostik ist die Entwicklung der klinischen Psychopathologie zu einer pathopsychophysiologischen Funktionsdiagnostik. Ähnlich dem bisherigen Vorgehen in der Medizin muss der pathophysiologisch unspezifische Allgemeinbefund durch normierte Funktionsindikatoren ergänzt bzw. ersetzt werden, die über den Funktionszustand einzelner Organsysteme im zeitlichen Verlauf Auskunft geben. ! Wenn die Funktion zerebraler (Sub-)Systeme (neuronale Module, Transmittersysteme etc.) in der Gewährleistung bestimmter psychischer (Anpassungs-)Leistungen besteht, sind vorläufig, d. h. bis zur Entwicklung direkter neurobiologischer Indikatoren, Verhaltensindikatoren in standardisierten Untersuchungssituationen als Funktionsindikatoren heranzuziehen. Psychopathologische Syndrome/Symptome sind dementsprechend auf deviante verhaltenskorrelierte psychische Grundfunktionen zurückzuführen, deren Normabweichung insofern »unspezifisch« ist, als sie jenseits nosologischer Konzepte bei verschiedenen psychischen Erkrankungen vorkommen kann, bei denen die entsprechenden Grundfunktionen involviert sind. Als forschungsstrategische Konsequenz ergibt sich, neurobiologische Analysen des Krankheitsgeschehens im Kontext übergreifender psychobiologischer Funktionsmodelle anzusiedeln, die sowohl für krankhaftes wie gesundes Verhalten Gültigkeit haben. Homöostasemodell. Beispielsweise geht das Homöosta-
semodell (Bertalanffy 1974) davon aus, dass psychobiologische Funktionen innerhalb deren adaptiver Regelbreite der Anpassungsleistung des Organismus dienen. Informationsverarbeitung, Kommunikation, Problemlösung, Trieb- und Affektkontrolle etc. wären demnach funktionale Teilaspekte einer situativ differenzierten individuellen Anpassungsleistung (»Lebenstest«), deren Qualität unter gesunden wie krankhaften Bedingungen aus verschiedensten konzeptuellen und methodischen Perspektiven untersuchbar ist. In der klinischen Routinediagnostik werden derartige Aspekte aus anamnestischen Angaben erschlossen (z. B. »Knick in der Lebenslinie«), bei der Leistungsbewertung müssen die individuelle psychobiologische Entwicklungs-
2
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2
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
phase und soziokulturelle Einbettung ebenso wie bestimmte Moderatorvariablen (z. B. Geschlecht) als pathoplastische Faktoren berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt allerdings, dass teleologische Gesichtspunkte bei der Analyse gesunden und kranken Verhaltens (»Fehlanpassung«) die eingehende (induktive) empirische Analyse von Teilfunktionen nicht ersetzen können (Hartmann 1959). Dementsprechend ist der Einsatz umschriebener funktionsdynamischer Forschungsmodelle erforderlich, die unter definierten Stimulusbedingungen die Integrität/ Störung von psychischen Elementarfunktionen (z. B. Informationsverarbeitung) und deren neurobiologischer Korrelate mittels funktionsadäquater Indikatoren untersuchen. Zunehmend werden z. B. hirnregional differenzierende neuropsychologische »Belastungstests« unter simultaner Hirnfunktionsmessung (z. B. rCBF, fMRI) eingesetzt (Berman 1987), die am ehesten eine wechselseitige Validierung gestörter psychischer und neuronaler Funktionen ermöglichen. Experimentelle Forschungsansätze mit pharmakologischen Belastungsprozeduren (z. B. Apomorphin-»Challenge«, Testdosismodell) können ebenfalls Auskunft über die Ansprechbarkeit definierter psychobiologischer Systeme im Sinne einer Funktionsdiagnostik geben. Hier werden künftig auch genetische Untersuchungen zur Stratifizierung von Probandenkollektiven eingesetzt werden, Beispiele aus der experimentellen Psychopathologie hierzu gibt es bereits (Cospi u. Moffitt 2006). Ganz neue Aspekte ergeben sich auch durch den Einsatz der funktionellen Kernspintomographie. So konnte beispielsweise bei Phobien und Zwangserkrankungen gezeigt werden, dass medikamentöse und psychotherapeutische Ansätze in ähnlicher Weise auf dieselben Hirnareale einwirken. Dies kann nun nicht nur der Objektivierung einer therapeutischen Wirksamkeit dienen, sondern eröffnet gerade der Psychotherapieforschung ganz neue Möglichkeiten der Validierung von Behandlungskonzepten und der Psychopathologieforschung neue Wege der Überprüfung von neurobiologischen Effekten bestimmter Belastungsprozeduren. Hierdurch wird eine Funktionsdiagnostik möglich, die über die klinische Phänomenologie hinausweist und zukünftig für die Diagnostik, die Prognoseeinschätzung und die Auswahl der geeignetsten Therapiemethode eine Rolle spielen dürfte (Linden 2006). Hieraus ergeben sich jedoch auch neue ethische Problemstellungen. So wird gegenwärtig diskutiert und untersucht, inwiefern aus der Aktivitätsmessung bestimmter Gehirnareale Rückschlüsse auf unbewusste oder nicht explizierte Denkinhalte möglich sind (Übersicht bei Haynes u. Rees 2006). Während dies künftig faszinierende neue Einblicke in bisher der objektiven Untersuchung unzugängliche mentale Prozesse erlauben dürfte (und zumindest für visuelle Informationen auch bereits möglich ist), sind die möglichen
ethischen Implikationen noch nicht abzusehen. Für die psychiatrische Nosologie stellt sich die Frage, ob damit ein erster Schritt getan ist, die rein subjektive psychopathologische Phänomenologie durch eine objektive »Gehirnmessung« zumindest ansatzweise zu komplementieren. Die hier angesprochenen Untersuchungsmöglichkeiten gehen dabei wesentlich über die reine Darstellung von aktivierten Hirnarealen, beispielsweise bei akustischen Halluzinationen, hinaus, da damit erstmals Rückschlüsse auf Denkinhalte der betroffenen Person möglich sind. Die bislang gültige Grenzziehung zwischen dem diagnostizierenden Psychiater und dem sein Erleben kommunizierenden Patienten, zwischen Krankheit und Kranksein werden durchlässig. Zwischen Neurobiologen, die in einem viel beachteten Manifest der Hirnforschung im 21. Jahrhundert ein neurobiologisch determiniertes Menschenbild skizzieren, und klinisch tätigen Psychiatern, die dem Menschen noch Raum für Subjektivität und Willensfreiheit einräumen, hat sich eine längst überfällige Diskussion um das Menschenbild im 21. Jahrhundert entwickelt (Maier et al. 2005), das Grundlage aller Konzepte über psychische Gesundheit und Krankheit ist.
2.6
Ausblick
Die vorstehenden Ausführungen zur Ätiopathogenese psychischer Störungen bilden einen konzeptuellen Rahmen, der durch empirische Untersuchungen weiter ausgefüllt werden muss. Die skizzierten Störungsdimensionen und ihre Indikatoren sowie die verfügbaren forschungsstrategischen wie untersuchungsmethodischen Möglichkeiten verweisen auf ein bisher nur unvollständig und kaum systematisch genutztes Forschungsinventar, durch dessen Einsatz die Aufklärung der ätiopathogenetischen Grundlagen psychischer Störungen voranzutreiben wäre. Störungsübergreifende heuristische Rahmenkonzepte müssen in empirisch überprüfbare Teilhypothesen übersetzt und auf ihre störungsspezifische Gültigkeit geprüft werden. Die Komplexität psychischer Störungen erfordert interdisziplinäres Denken und Handeln. Dabei kommt der Psychiatrie ein ihr eigenes ausgeprägtes Methodenbewusstsein zugute, das für die adäquate Formulierung und Umsetzung von Fragestellungen unerlässlich ist. Die damit verbundene Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschungskooperation und -koordination rückt die Psychiatrie wieder näher an die Medizin. Im Zentrum klinisch-psychiatrischer Tätigkeit steht die Begegnung mit dem Kranken; sie bildet nicht nur Grundlage und Ausgangspunkt wissenschaftlichen Fragens, ihr gelten auch die Antworten.
53 Literatur
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
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3 3 Psychiatrische Epidemiologie M. M. Fichter, I. Meller
3.1
Einleitung
– 56
3.2
Historische Aspekte
3.3
3.5.3
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie – 57 Deskriptive Epidemiologie – 57 Analytische Epidemiologie – 57 Experimentelle Epidemiologie – 57
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
Methodik der Epidemiologie – 58 Stichproben und Grundgesamtheit – 58 Konzepte und Indizes – 59 Instrumente – 60 Falldefinition und Diagnose – 61
3.6
– 56
3.5 3.5.1 3.5.2
3.5.4
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5
Ergebnisse von Feldstudien – 62 Frühe Feldstudien – 62 Große psychiatrisch-epidemiologische Studien der 3. Generation – 63 Gegenwärtige Entwicklungen in der psychiatrischen Epidemiologie – 65 Fragen und Probleme in der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart – 66 Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren – 67 Schizophrenie – 67 Depressive Erkrankungen – 67 Demenzielle Erkrankungen – 68 Angststörungen – 68 Substanzmissbrauch/-abhängigkeit Literatur
– 69
> > Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Verteilung einer Krankheit in Zeit und Raum sowie mit Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen (Cooper u. Morgan 1977). Seit ihren Anfängen als eigenständige Disziplin hat sie die Rolle einer Grundlagenwissenschaft des öffentlichen Lebens gespielt, da ihr Interesse traditionell der Bevölkerung gilt. Nach Gruenberg (1980) ist die Epidemiologie durch die Art ihrer Fragestellungen definiert, nicht durch ihre Methoden, darauf Antworten zu finden. Bei seinen Fragen geht der Epidemiologe von Modellen aus, welche die Bedingungen für Gesundheit und Krankheit im Kontext einer Wechselwirkung von Wirt, Agens und Umgebung betrachten. In den letzten Jahrzehnten sind diese Modelle durch Konzepte der klinischen Forschung, der Genetik, der Molekularbiologie, der Ökologie, der Psychologie und der Soziologie ergänzt worden. Die moderne Epidemiologie versucht somit, Untersuchungsansätze und Ergebnisse aus unterschiedlichen Forschungsgebieten in einen einheitlichen Bezugsrahmen zu integrieren. Die klinische Epidemiologie konnte mit dem Konzept begründet werden, definierte Populationen zu untersuchen.
– 68
56
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
3.1
3
Einleitung
Die psychiatrische Epidemiologie ist ein Zweig der allgemeinen Epidemiologie. Als solche ist sie eine medizinische Disziplin. Sie ist eine der Grundlagenwissenschaften desjenigen Fachgebietes, das den Inhalt ihrer Fragestellungen und das jeweilige Wissen um die zu untersuchenden Krankheitsbilder bereitstellt: der Psychiatrie. Vergleichbar den anderen Grundlagenwissenschaften der Psychiatrie, steht die psychiatrische Epidemiologie bezüglich ihres Erkenntnisfortschritts in Abhängigkeitsbeziehung zur Mutterdisziplin. Die Bearbeitung des größten Teils ihrer praktisch-relevanten Fragestellungen setzt Forschungsergebnisse der klinischen Psychiatrie voraus (Häfner 1978). In früheren Jahrzehnten wurde die psychiatrische Epidemiologie in enger Assoziation mit der Sozialpsychiatrie gesehen. In jüngster Zeit haben sich hier die Perspektiven der psychiatrischen Epidemiologie erweitert. Durch eine Zusammenführung genetischer Methodik (Zwillings-, Familienstudien, Molekulargenetik) und epidemiologischer Methodik wurde z. B. die genetische Epidemiologie begründet. Eine Verbesserung der psychiatrischen epidemiologischen Forschung ist in den letzten Jahren durch methodische Verbesserungen (z. B. explizite diagnostische Kriterien für psychische Erkrankungen, neue Untersuchungsinstrumente, Verfeinerung statistischer Analysetechniken) erfolgt. Epidemiologische Studien können entweder als Primärerhebungen neuer Daten oder auch als Sekundärerhebungen an bereits vorliegenden Daten durchgeführt werden. Sie können 3 wesentliche Arten von Information über Störungen liefern: Raten (Prävalenz und Inzidenz), Veränderungen dieser Raten über Person, Zeit und Ort, Identifizierung von Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen.
3.2
Historische Aspekte
Die Geschichte der Epidemiologie reicht mehr als 2000 Jahre zurück. Hippokrates hat den Begriff Epidemie im Titel mehrerer medizinischer Werke verwendet und eine Reihe interessanter Überlegungen über die Beziehung zwischen Umweltfaktoren wie Lüfte, Gewässer, Orte und Krankheiten angestellt. Im Mittelalter erstellte der Astronom Halley 1693 die ersten Sterbetafeln für die Stadt Breslau. 1662 hatte der Kurzwarenhändler Graunt bereits aus den wöchentlichen Sterberegistern der Londoner Pfarreien die regionalen
Pest- und Pockenmortalitätsunterschiede ermittelt und sie als Hinweise für die frühzeitige Evakuierung der gefährdeten Bezirke benutzt (Häfner 1978). Choleraepidemie. Ein klassisches Beispiel dafür, wie epi-
demiologische Überlegungen zur Lösung von öffentlichen Gesundheitsproblemen beitragen können, sind die Beobachtungen von John Snow über die Choleraepidemie in London 1854. Sie hatten eine berühmtgewordene präventive Maßnahme zur Folge, die in der Entfernung des Handgriffs an der Wasserpumpe in der Broadstreet bestand (Jablensky 1989). Snow hatte während des Choleraausbruchs 1848 die Choleramortalität der Versorgungsgebiete der beiden Wasserwerke Southwark und Vauxhall und Lamberth im Süden Londons verglichen. Beide wiesen relativ hohe Mortalitätsraten auf. Zum nächsten Choleraausbruch 1853 war das Wasserwerk Lamberth weiter flusswärts verlegt worden, so dass sein Quellgebiet nunmehr vom Abwasser Londons frei blieb. Die Choleramortalität des Versorgungsgebietes von Lamberth war in der Epidemie des Jahres 1853 stark gesunken, während die Versorgungsgebiete von Southwark und Vauxhall hohe Raten behielten. Zur weiteren Prüfung der auf Gebietsebene vorgefundenen Beziehungen von Wasserversorgung und Erkrankungshäufigkeit gliederte Snow die Haushalte nach ihrer Versorgung der Wasserwerke und konnte mit dieser Feldstudie den epidemiologischen Beweis eines noch unbekannten krankheitserzeugenden Agens durch abwasserverseuchtes Trinkwasser erbringen. Dies führte vor Entdeckung der Choleravibrionen zur erfolgreichen Bekämpfung durch Trinkwassersanierung.
Anfänge der psychiatrischen Epidemiologie Der Beginn der psychiatrischen Epidemiologie im engeren Sinne lässt sich kaum auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen. In den Anfängen galt das Bemühen der Sammlung und Auswertung von Sekundärdaten aus administrativen Quellen, z. B. Krankenhaus- und Mortalitätsstatistiken (Esquirol in Frankreich 1838, Griesinger in Berlin 1867, Maudsley in London 1872, zitiert nach Häfner 1978). Die Geschichte der Prävention psychischer Erkrankungen kann bisher keine spektakulären Erfolge aufweisen; allerdings gibt es eine Reihe historisch interessanter bzw. für die Zukunft vielversprechender Ansätze. Eine der bedeutendsten Errungenschaften ist die durch Goldberger während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte Entdeckung der Ernährungsmängel, die zur Pellagra und der mit ihr verbundenen schweren Psychose und Demenz führen (Goldberger 1914, nach Jablensky 1989). Zu erwähnen ist auch die Arbeit von Gajdusek. Sie führte zu der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Entdeckung, dass die Kuru-Krankheit durch eine Infektion (später als
57 3.3 · Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie
Prionen identifiziert) hervorgerufen wird und bereitete so den Weg für die Aufklärung übertragbarer Demenzerkrankungen durch eine geniale Verbindung von klinischen, anthropologischen und labortechnischen Methoden, die alle von einer epidemiologischen Analyse geleitet waren (Gajdusek u. Zigas 1959, zitiert nach Jablensky 1989).
3.3
Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie
Morris (1957) hat 7 Anwendungsmöglichkeiten der Epidemiologie zusammengefasst: Historische Untersuchungen über Gesundheit und Krankheit, Diagnostik im unmittelbaren Lebensumfeld, Untersuchung der Wirksamkeit von Gesundheitsdiensten, Bestimmung von individuellen Chancen und Risiken, Erkennung von Syndromen, Vervollständigung des klinischen Erscheinungsbildes von Krankheiten, Ermittlung von Krankheitsursachen. Jedes dieser Anwendungsgebiete steht in einem mehr oder weniger deutlichen Zusammenhang mit der Prävention als letztlichem Ziel epidemiologischen Denkens und Wissens. Generell lassen sich für diese Anwendungsmöglichkeiten folgende 3 epidemiologische Betrachtungsebenen unterscheiden: 1. Deskriptive Ebene, 2. analytische Ebene, 3. experimentelle Ebene.
3.3.1
Deskriptive Epidemiologie
Sie stellt Zusammenhänge beschreibend dar. Unter deskriptiven Studien sind Gemeindestudien einzuordnen. Diese versuchen Anwort zu geben auf die Fragen, wie viele Personen in der Gemeinde psychische Erkrankungen aufweisen, welche Störungen am häufigsten vorkommen, inwieweit die Versorgungssituation gewährleistet ist. Die deskriptive Epidemiologie dient zur Vervollständigung des klinischen Bildes psychischer Erkrankungen. Manche Aspekte psychischer Erkrankungen sind nicht zu beantworten, so lange nur in Behandlung befindliche Patienten gesehen werden. Manche psychische Erkrankungen wie z. B. die Agoraphobie oder die soziale Phobie sind kaum in stationär-psychiatrischen Einrichtungen zu finden. Fragen der Komorbidität und der familiären Be-
lastung können am besten durch epidemiologische Studien beantwortet werden. Sie können Aussagen zur Ausprägung, zum Schweregrad psychischer Erkrankungen und zur Definition eines Falles anhand der Ausprägung treffen. Die deskriptive Epidemiologie kann auch zur Identifizierung neuer Syndrome beitragen, somit klinische diagnostische Kriterien erweitern.
3.3.2
Analytische Epidemiologie
Die analytische Epidemiologie arbeitet Risikofaktoren für eine spätere Erkrankung oder für eine Zustandsveränderung heraus, indem sie verschiedene Gruppen vergleicht. Als Risikofaktoren können sowohl soziodemografische Merkmale, Lebensereignisse als auch biologische, genetische und weitere Faktoren berücksichtigt werden. Statistische Techniken können das Ausmaß des Risikos abschätzen, verschiedene Risikofaktoren gewichten. Auf der Suche nach Risikofaktoren hat sich die analytische Epidemiologie mit historischen Trends beschäftigt: Zum Beispiel ergaben Studien, dass depressive Erkrankungen häufiger in der jüngeren Generation vorkommen oder möglicherweise in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts früher beginnen (Klerman u. Weissman 1989). Um die Zunahme von Drogen und Suiziden in den letzten Jahrzehnten unter Jugendlichen zu erhellen, werden unter historischen Gesichtspunkten Risikofaktoren mittels der analytischen Epidemiologie untersucht.
3.3.3
Experimentelle Epidemiologie
Die experimentelle Epidemiologie beschäftigt sich mit der Einschätzung der Effektivität von präventiven und therapeutischen Gesundheitsmaßnahmen. Falls ein möglicher Risikofaktor identifiziert wurde und die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung angenommen wird, ist es möglich, Interventionen vorzunehmen und zu überprüfen, wie effektiv die Intervention ist. Unter experimentellen Aspekten können therapeutische Maßnahmen, z. B. Medikation und Psychotherapie, hinsichtlich ihrer Effektivität überprüft werden. Innerhalb der Psychiatrie sind 2 Störungen, nämlich depressive Erkrankungen und Drogenmissbrauch für präventive Interventionen besonders geeignet. Die Methoden für präventive Maßnahmen entsprechen den therapeutischen Interventionen. Neben diesen Aspekten der klinischen Epidemiologie entwickelte sich analog die Evaluation von Gesundheitsdiensten, um zu bestimmen, ob Interventionen wie z. B. die Errichtung der Liaison-Psychiatrie oder der Einsatz von Selbstbeurteilungsbögen zur Erfassung von Depressionen in der Allgemeinpraxis die Qualität der Versorgung verbessern.
3
58
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
3.4
Methodik der Epidemiologie
3.4.1
Stichproben und Grundgesamtheit
Eine Besonderheit der epidemiologischen Konzeption ist, dass sie nicht primär von Individuen, sondern von (in der Regel größeren) Populationen ausgeht. Um eine Aussage zu der Frage machen zu können »Wie verbreitet ist Schizophrenie in Deutschland?« ist erforderlich, die Grundgesamtheit (Population) genau zu definieren (deutsche Staatsbürger, lange in Deutschland lebende Zuwanderer, kurzfristig in Deutschland sich aufhaltende Personen). Die Grundgesamtheit (Population) stellt die Summe aller Individuen dar, über die es quantitative Aussagen über die Verteilung psychischer Erkrankungen zu machen gilt. Weil es aus praktischen und kostenbedingten Gründen zumeist nicht möglich ist, die Grundgesamtheit insgesamt zu untersuchen, beschränkt man sich in der Regel auf die Auswahl einer für die Grundgesamtheit repräsentativen Stichprobe. Das Konzept der repräsentativen Stichprobe ist von eminenter Bedeutung und findet auch heute noch in wissenschaftlichen Untersuchungen in der Medizin nicht ausreichend Berücksichtigung. In sehr vielen Projekten will der Untersucher letztlich zu möglichst repräsentativen Aussagen gelangen. Eine Untersuchung jedes 10. konsekutiv in einer bestimmten Klinik aufgenommenen Patienten mit einer Schizophrenie kann letztlich nur für die Grundgesamtheit aller Schizophrenen, die in dem definierten Zeitraum in dieser Klinik behandelt wurden, repräsentativ sein; die Untersuchung wird kaum für alle (auch unbehandelte) Schizophrenen repräsentativ sein können. Ist die Grundgesamtheit groß genug, kann aus dieser nach dem Zufallsprinzip eine Stichprobe gezogen werden, die dann näher untersucht wird. Wenn bei der Erhebung an dieser Stichprobe hohe Ausfallquoten z. B. durch Nichtauffindung oder Verweigerung der Teilnahme vorliegen, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse für die Stichprobe und damit die Grundgesamtheit repräsentativ sind. Ergebnisse, die keine Generalisierung auf die Grundgesamtheit zulassen, sind aus epidemiologischer Sicht wertlos. Bei der Festlegung einer Stichprobe muss gewährleistet sein, dass jede Person der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe zu kommen. Untersuchungen an ausgelesenen Stichproben, deren Individuen leicht erreichbar und kooperativ sind (»samples of convenience«), erlauben keine Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit. In die Grundgesamtheit einzubeziehen sind auch jene, die schwer erreichbar oder schwer für die Teilnahme an einer Untersuchung zu gewinnen sind. Stichprobenbeziehung. Die Erstellung einer kompletten
Liste der Personen der Grundgesamtheit und eine darauf aufbauende Stichprobenziehung ist in den meisten euro-
päischen Ländern durch das Vorliegen von Gemeinderegistern erheblich einfacher, als in nordamerikanischen Ländern. Haushaltsstichproben. In den meisten nordamerikanischen epidemiologischen Untersuchungen wurde deshalb meist von sog. Haushaltsstichproben (»household samples«) ausgegangen; nach bestimmten Festlegungen werden dabei bestimmte Personen eines Haushalts ausgewählt und dann näher untersucht. Hier kann es zu Verzerrungen kommen (Auswahlregeln, Haushaltsgrenzen und -größe). Auch sind bestimmte Personenkreise (Patienten in Kliniken, Heimbewohner, Gefängnisinsassen) dabei in der Regel nicht erfasst. Stratifizierte Stichprobe. Bei einer stratifizierten Stich-
probe können Personen einer bestimmten Strata (z. B. Männer im sehr hohen Alter) mit einer höheren Quote für die Stichprobe gezogen werden, so dass eine größere Datenbasis für diese sonst nur gering in der Stichprobe repräsentierten »Minoritätengruppe« vorliegt. Dies muss später bei der Berechnung von Morbiditätsraten durch entsprechende Gewichtung wieder berücksichtigt werden. Cluster-Sampling. Eine weitere Art der Stichprobenzie-
hung ist das Cluster-Sampling, das z. B. bei Multicenterstudien eingesetzt wird. Diese Technik ist vergleichsweise ökonomischer, doch ist sie meist weniger genau. Nicht selten werden Kombinationen dieser Methoden, z. B. stratifizierte Stichprobe und Cluster-Sampling, in der Epidemiologie eingesetzt.
Analytische Epidemiologie In der analytischen Epidemiologie, die sich u. a. mit der Identifizierung von Risikofaktoren beschäftigt, werden prospektive longitudinale Studien sowie sog. Case-control-Untersuchungen bevorzugt. Letztere beinhaltet eine retrospektiv aus dem Querschnitt erfolgende Datenerhebung bei mindestens 2 Stichproben. Eine davon besteht aus Fällen einer bestimmten Krankheit, die andere aus Personen, die von dieser Krankheit nicht betroffen sind. Die beiden Stichproben sollen im Hinblick auf eine Reihe von spezifischen Merkmalen vergleichbar sein, die bekanntermaßen das Auftreten oder den Verlauf der betreffenden Erkrankung beeinflussen. Sie sollen sich aber andererseits voneinander unterscheiden in bezug auf andere Variablen, deren Wirkung auf die Krankheit im Voraus nicht bekannt ist. Die Methode eignet sich besonders zur Prüfung von Hypothesen über Risikofaktoren. Bisweilen sind komplexe Gewichtungen einzelner Untergruppen der Stichprobe oder Fehlerkorrekturen durch die Art der Stichprobenbildung vorzunehmen, wofür statistische Softwareprogramme (z. B. SUDAAN) entwickelt wurden. Bei
59 3.4 · Methodik der Epidemiologie
Erhebungen an Geburtskohorten wird die Teilnahme an der Untersuchung durch das Geburtsjahr (oder durch ein Zeitintervall bis zu einem Jahrzehnt) bestimmt. Sie eignet sich beispielsweise zur prospektiven Prüfung von Hypothesen über die Auswirkung von Einflussfaktoren in aufeinanderfolgenden Lebensstadien.
Experimentelle Epidemiologie Die experimentelle Epidemiologie setzt klinische Prüfungen und Interventionsstudien ein. Diese Technik kann man als eine prospektive Erweiterung des Typs der Fallkontrollstudien betrachten. Die Krankheitsfälle und die Kontrollpersonen sollen im Hinblick auf das Vorhandensein einer bestimmten Krankheit und einiger weiterer Merkmale, die den Verlauf und den Ausgang beeinflussen können, übereinstimmen. Idealerweise ist die einzige Variable, welche die beiden Gruppen unterscheidet, die zu evaluierende Intervention. Durch eine gezielte Variation der therapeutischen Maßnahmen ist es möglich, kausale Hypothesen zu testen. Das natürliche Experiment in Form von Veränderungen der Umwelt (z. B. Naturkatastrophen), die eine große Zahl von Menschen betreffen, kann einzigartige Möglichkeiten für die experimentelle epidemiologische Beobachtung und Messung der Wirkung verschiedener Einflussgrößen auf die psychische Morbidität öffnen.
3.4.2
Konzepte und Indizes
Prävalenz (Häufigkeit einer Erkrankung) Mit dem Begriff Prävalenz bezeichnet man die Häufigkeit einer Erkrankung in einer definierten Stichprobe oder Population. Wegen der unterschiedlichen Verlaufstypen verschiedener Erkrankungen hat man mehrere Prävalenzarten im Hinblick auf den Zeitraum, im dem der Krankheitsfall zumindest kurz vorgelegen haben muss, definiert. Punktprävalenz. Sie ist das Verhältnis zwischen symptomatischen Fällen und der gesamten mit einem Risiko behafteten Bevölkerung an einem bestimmten Stichtag. Dies ist ein nützliches Maß für den Bedarf an Gesundheitsmaßnahmen, eignet sich aber weniger zur Identifikation von Risikofaktoren und zur Feststellung des Ergebnisses von Interventionen, weil sie sehr stark durch chronische Fälle mit einer langen Dauer geprägt wird, weil sie Erkrankungen mit intermittierendem, episodischem Verlauf unzureichend erfasst und weil sie gegenüber demografischen Vorgängen wie differenzielle Mortalität und Migration anfällig ist.
time«)prävalenz (Anzahl aller an einem bestimmten
Stichtag lebenden Personen, bei denen mindestens eine Episode psychischen Krankseins zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben aufgetreten ist), umfassen größere Zeitintervalle. Dieser Index berücksichtigt die episodischen Störungen, ist aber im Übrigen denselben verfälschenden Einflüssen ausgesetzt, wie die Punktprävalenz. Prävalenzraten sollten mit der Information des Konfidenzintervalls oder der Standardabweichung versehen werden, um Signifikantstests für Unterschiede zwischen Prävalenzraten zu ermöglichen.
Inzidenz (Neuerkrankungen in definiertem Zeitraum) Das letztliche Ziel ärztlichen und wissenschaftlichen Handelns sollte darin liegen, das Vorkommen von Krankheiten so erfolgreich zu verhindern, dass sie gar nicht mehr auftreten (primäre Prävention) oder sie im Frühstadium des Auftretens zu heilen (sekundäre Prävention). Für diese Zielsetzung ist es sehr hilfreich, alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzraten verfügbar zu haben. Die Anzahl von neu in einem definierten Zeitraum (z. B. 12 Monate) auftretenden Fällen (z. B. pro 1000 Personen) geben uns ein Maß für das Krankheitsrisiko. Die Inzidenzrate ergibt sich aus der Anzahl der innerhalb einer bestimmten Zeitperiode neuerkrankten Personen zu der ursprünglichen Risikopopulation, die frei von dieser Erkrankung ist. Eine Veränderung dieser »wahren« Inzididenz nach einer bestimmten Intervention kann (wenn repliziert) als Ausdruck der Auswirkung dieser Intervention auf die der Krankheit zugrundeliegenden Ursachen und Mechanismen gesehen werden. Da es in der Praxis kaum möglich ist, dass Personen exakt nach 12 Monaten nachuntersucht werden, sind kompliziertere Maße als die Inzidenzrate erforderlich, nämlich die Inzidenzdensität, die die Risikozeit berücksichtigt. Innerhalb des beobachteten Zeitraums ist die krankheitsfreie Zeit eines Individuums die »person time at risk«. Die Summe der individuellen »person time at risk« repräsentiert die »total person time at risk« (»population time at risk«) des beobachteten Zeitraums. Die Inzidenzdensität berechnet sich aus der Anzahl der Neuerkrankungen zu der »population time at risk«.
Morbiditätsrisiko (Krankheitserwartung) Die Krankheitserwartung steht in einer Beziehung zur Inzidenz und wird manchmal aus Inzidenzraten abgeleitet. Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Person in einer gegebenen Population eine bestimmte Krankheit erwerben wird, unter der Voraussetzung, dass sie ein definiertes Alter erreicht.
Periodenprävalenz. Die Periodenprävalenz (Zahl der Fäl-
Risikomaße
le), die zu irgendeiner Zeit innerhalb eines bestimmten Intervalls symptomatisch waren und die Lebenszeit(»life
Drei weitere eng miteinander zusammenhängende Indizes sind besonders nützlich für das Vorhaben zur Identi-
3
60
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
fizierung von Risikofaktoren oder zur Evaluation der Wirkung von Interventionen: Mit Odds-Ratio wird die Auswirkung einer Exposition gegenüber einem vermuteten Risikofaktor geschätzt. ⊡ Tab. 3.1 gibt ein Beispiel für die Berechnung der Odds-Ratio. Das Maß gibt anschaulich an, wieviel häufiger das Erkrankungsrisiko im Vergleich zu einer Referenzstichprobe ist. Der Index des relativen Risikos gibt das Ausmaß an, in dem ein Risikofaktor die Inzidenz der Krankheit beeinflusst. Mit dem Index des Attributable-Risk wird der Anteil von Krankheitsfällen in einer bestimmten Population abgeschätzt, der einem spezifischen Risikofaktor zugeordnet werden kann. Dieses Maß ist besonders geeignet für die Untersuchung von multifaktoriellen Erkrankungen, bei denen die Auspartialisierung von Einzelrisiken eine Grundlage für Präventionsversuche bilden kann.
3.4.3
Instrumente
Drei Arten von Messinstrumenten haben eine besondere Bedeutung in der Epidemiologie: 1. Screeninginstrumente, 2. diagnostische Instrumente, 3. Instrumente zur Beurteilung von Verlauf und Ausgang.
Screeninginstrumente Der Zweck eines Screeninginstruments ist die rasche Erkennung von Personen, die mit Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Erkrankung aufweisen. Jedes Screeningverfahren in der Medizin sollte folgende Bedingungen erfüllen, die von Wilson u. Jungner (1968) zusammengefasst wurden: Reliabilität (die dem Instrument selbst oder ihrem Anwender zuzuschreibende Variation), Validität (die Fähigkeit eines Tests, Personen mit der gesuchten Erkrankung von den nicht davon betroffenen zu trennen), Ausschöpfung (der Anteil vorher unerkannter Krankheitfälle, die durch das Screeningverfahren entdeckt werden), Kosten (Aufwand an Zeit, Personal), Akzeptanz (durch die dem Screeningverfahren unterworfenen Personen) und Verfügbarkeit nachfolgender Behandlungsangebote. ⊡ Tab. 3.1. Berechnung der Odds-Ratio Risikofaktor
Fall
Nichtfall
Vorhanden
a = 45
b = 80
Nicht vorhanden
c = 65
d = 230
Odds-Ratio =
a c a d (45) (230) : = = = 1,99 b d b c (80) (65)
Reliabilität. Der diagnostische Prozess sollte dazu in der
Lage sein, bei gleichartigen Phänomenen konsistente Ergebnisse anlässlich gleicher Phänomene sowohl durch verschiedene Untersucher als auch zu verschiedenen Gelegenheiten zu produzieren (Reliabilität). Ein Maß für diese Konsistenz ist die Inter-Rater-Reliabilität (mehrere unabhängige Untersucher kommen zu übereinstimmenden Ergebnissen). Ein weiteres wichtiges Konsistenzmaß ist die Re-Test-Reliabilität (kurzfristige Wiederholung der Untersuchung am selben Probanden führt zu übereinstimmenden Ergebnissen). Ein zur Darstellung der Reliabilität in der Diagnostik häufig eingesetztes Maß ist der Kappakoeffizient. Ein κ-Koeffizient von über 0,75 gilt in der Regel als gut, ein geringerer als mäßig oder schlecht. Validität. Mit dem Begriff Validität wird das Ausmaß der
Gültigkeit einer diagnostischen Untersuchung bezeichnet, mit der diese auch das erfasst (z. B. Depression), was sie zu erfassen vorgibt. Man unterscheidet verschiedene Formen der Validität: Mit »face-validity« bezeichnet man die Augenscheinvalidität, die in der Regel von Experten beurteilte Übereinstimmung des Testergebnisses mit dem, was augenscheinlich Sache ist; mit »content-validity« wird die inhaltliche Übereinstimmung und ausreichende inhaltliche Abdeckung eines Bereiches (meist mit Expertenurteilen) bezeichnet; mit »Kriteriumvalidität« bezeichnet man das Ausmaß der Übereinstimmung einer (Test-)Untersuchung mit einer ähnlichen bekannten Untersuchung und Tests (= Kriterium); mit »predictive-validity« ist die Übereinstimmung eines (Test-)Untersuchungsergebnisses mit dem weiteren Verlauf bezeichnet. Sensitivität und Spezifität. Wichtige Begriffe für die Eignung eines Untersuchungsverfahrens sind die Sensitivität (Fähigkeit des Tests, die Personen mit der Erkrankung als positiv zu klassifizieren) und die Spezifität (Fähigkeit des Tests, die Personen ohne die Erkrankung als negativ zu klassifizieren). ⊡ Tab. 3.2 gibt ein Beispiel für die Berechnung von Sensitivität und Spezifität. In dem gegebenen Fall liegt sowohl eine ausreichende Sensitivität als auch eine ausreichende Spezifität vor, so dass sich dieses Untersuchungsverfahren (z. B. ein Screeningfragebogen im Rahmen einer zweistufigen Erhebung) eignen würde, Risikopersonen herauszufiltern, die im nächsten Schritt genauer untersucht werden könnten.
! Eine hohe Sensitivität beinhaltet eine geringe Rate falsch-negativer Fallzuordnungen; eine hohe Spezifität beinhaltet eine niedrige Rate falschpositiver Fallzuordnungen. Die Anwendung dieser Indizes auf Screeningintrumente für psychische Erkrankungen ist in der Regel an die Diagnose als Validitätskriterium gebunden. Ein auf Sensitivität und Spezifität aufbauender Quotient ist der »positive predictive value« (PPV). Dieses Maß eignet sich besonders für
61 3.4 · Methodik der Epidemiologie
⊡ Tab. 3.2. Sensitivität und Spezifität Zuordnung nach Ergebnissen eines zu evaluierenden Screeningfragebogens
»Wahre Ordnung z. B. aufgrund eines detailierten psychiatrischen Interviews«
Erkrankt
Nicht erkrankt
Mutmaßlich erkrankt (positiv)
a = 71
b = 15
a+b = 86
Mutmaßlich nicht erkrankt (negativ)
c=9 a+c = 80
d = 105 b+d = 120
c+d = 114 n = 200
Sensitivität =
Spezifität =
a 71 = = 0,887 a + c 80 d b+d
=
105
= 0,875
120
die Beurteilung, ob ein bestimmtes Untersuchungsverfahren (z. B. Screeningfragebogen) sinnvoll ist.
Diagnostische Instrumente Die Psychiatrie hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte in der reliablen Erfassung von Diagnosen gemacht. Nachdem Diagnosen früher oft nur vage definiert oder sehr untersucherspezifisch waren, wurden detaillierte Kriterien für eine operationale Diagnose entwickelt. Frühe Entwicklungen dazu gehen zurück auf Wing et al. (1974) mit der Entwicklung des Present State Examination (PSE). Etwa parallel dazu entwickelte eine Arbeitsgruppe an der Washington University in St. Louis, USA, operationale Diagnosekriterien, die nach dem Erstautor als Feighner-Kriterien bezeichnet wurden (Feighner et al. 1972). Beide Ansätze gingen Mitte der 1970er Jahre in die Entwicklung der Research Diagnostic Criteria (RDC) und des in diesem Zusammenhang entwickelten Interviews Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (SADS) ein (Endicott u. Spitzer 1978). Mit der Formulierung der DSM-III-Kriterien (American Psychiatric Association 1980) wurde das NIMH-Diagnostic Interview Schedule (DIS) als standardisiertes Interview zur psychiatrischen Diagnostik speziell für den Einsatz in großen epidemiologischen Untersuchungen entwickelt, das auch von geschulten Laien angewandt werden kann (Robins et al. 1981). Mit Entwicklung der ICD-10 und DSM-III-R-/DSM-IV-Kriterien wurde das Composite International Diagnostic Interview (CIDI) entwickelt, das ebenfalls von geschulten Laien angewendet werden kann (Robins et al. 1988; Wittchen et al. 1991). Für die Verwendung durch entsprechend geschulte Fachleute wurde das Schedule for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN) für DSM-III-R-/DSM-IV- und ICD10-Diagnosen entwikkelt (Wing et al. 1990). Zu dem gleichen Zweck, allerdings beschränkt auf DSM-III-R- bzw. DSM-IV-Diagnosen entwickelten Spitzer et al. (1992) das
Structured Clinical Interview (SCID). Einige dieser Instrumente können per Hand ausgewertet werden, für andere stehen Computeralgorithmen für die Auswertung zur Verfügung. Gegenwärtig ist eine Vielzahl von standardisierten Instrumenten verfügbar, von relativ einfachen bis zu systematischen, klinischen Interviews, die alle wichtigen psychopathologischen Bereiche abdecken. Hinsichtlich dieser diagnostischen Instrumente ist folgendes wesentlich: Mit dem Einsatz geeigneter Interviews ist auch in großen Studien eine reliable psychiatrische Diagnostik möglich. Auch sind die Ergebnisse zwischen einzelnen Untersuchungen bei Einsatz desselben Instrumentes sehr viel besser vergleichbar. Erst damit macht es wirklich Sinn, Morbiditätsraten für einzelne psychische Erkrankungen zwischen verschiedenen Ländern und Kulturkreisen zu vergleichen.
Instrumente zur Erfassung von Verlauf und Ausgang (Outcome) Zusätzlich zu einer oder mehreren Querschnittserhebungen des psychischen Gesundheitszustandes ist es erforderlich, den longitudinalen Aspekt der Krankheit und den Endzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt messen zu können. Zu den Beispielen für solche Maße gehören Verlaufsmuster (z. B. chronisch, periodisch, remittierend). Wenn möglich sollte die Beurteilung mehr als eine Dimension der Krankheit berücksichtigen. So spielen neben dem Schweregrad der Symptomatik auch der Grad der Beeinträchtigung und das Ausmaß an sozialer Unterstützung eine Rolle.
3.4.4
Falldefinition und Diagnose
Der Begriff »Fall« hat in der Epidemiologie mehrere Bedeutungen. Als »Fall« bezeichnet man zum einen das Individuum, das eine bestimmte Krankheit oder eine vergleichbare Merkmalsgruppe aufweist (im Unterschied zu all jenen, die sie nicht aufweisen). Diese Definition liegt in der Regel bei Untersuchungen zugrunde, die sich mit der wahren Morbidität (Inzidenz, Prävalenz) – also bevölkerungsbezogen – befassen. Zum anderen wird der Begriff »Fall« auch für behandelte Fälle verwendet, da Krankheit in unterschiedlichen administrativen Systemen verschiedene Bedeutung haben kann (z. B. hinsichtlich Arbeitsunfähigkeit); man spricht hier von administrativer Prävalenz bzw. Inzidenz – sie ist nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Es ist notwendig, den Definitionsmerkmalen des Falles in verschiedenen Statistiken sorgfältige Beachtung zu schenken. Ganz allgemein bezeichnet »Fall« schließlich diejenige Person, die wegen einer bestimmten Krankheit Hilfe bedarf oder bereits Hilfe erhält, im Unterschied zu den Gesunden oder Leichterkrankten, die keiner Hilfe bedürfen.
3
62
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
Die letztgenannte Definition hat eine enge Beziehung zur Bestimmung des Bedarfs an medizinischen, sozialen und pädagogischen Einrichtungen. Die Ermittlung der einer Behandlung oder anderweitigen Versorgung bedürftigen Fälle ist unter den aufgezählten Aufgaben der Epidemiologie eine der wichtigsten. Wenn Untersuchungsergebnisse, die auf Fallzahlen oder Raten basieren, zuverlässig und vergleichbar sein sollen, dann ist eine exakte Falldefinition die erste unerlässliche Bedingung epidemiologischer Forschung. Die Anforderungen an eine zureichende Falldefinition sind nach Cooper u. Morgan (1977) an 3 Voraussetzungen gebunden: 1. Sie muss adäquat für die geplante Untersuchung sein. Darunter ist zu verstehen, dass sie für die Fragestellung relevant ist und ihre Merkmale mit den Mitteln des Projekts objektiv zuverlässig fassbar sind. 2. Die Definition muss reliabel so präzise sein, dass dem Untersucher klar ist, welche Merkmale vorhanden sein müssen, oder nicht vorhanden sein dürfen, um einen Fall positiv zu identifizieren. 3. Für alle Krankheitszustände, die fließend in den gesunden Bereich übergehen, ist die Festlegung einer Grenze oder Schwelle für die Kategorisierung als Fall aus operationalen Gründen erforderlich. Tatsächlich wirft die scheinbar einfache Frage »Was ist ein Fall?« auch heute noch – nicht nur in der Psychiatrie – beträchtliche Schwierigkeiten auf. Die Entwicklung standardisierter oder strukturierter Interviewinstrumente mit spezifizierten Kriterien machte es möglich, einen neuen Standard variabler Diagnostik zu schaffen. Einen weiteren Fortschritt stellt besonders bei Studien mit großen Stichproben die computergestützte Diagnostik dar.
3.5
Ergebnisse von Feldstudien
3.5.1
Frühe Feldstudien
Europa Da die wahre Prävalenz bedeutend höher ist als die behandelte Prävalenz, sind reliable Daten über psychische Erkrankungen allein über Untersuchungen in repräsentativen Bevölkerungstichproben möglich. Cooper u. Morgan (1977) beschrieben eine frühe norwegische Untersuchung, die von gemeindebediensteten Pfarrern und Lehrern durchgeführt wurde. Sie kamen zu sehr niedrigen Morbiditätsraten (2,65‰ in städtischen und 3,03‰ in ländlichen Regionen). Allerdings richtete sich das Interesse im Wesentlichen auf psychotisch gestörte Personen. Eschenburg (1885) berichtete ebenfalls über Morbiditätsraten von ca. 3‰ für Geisteskranke in Lübeck (zitiert nach Fichter et al. 1990). Brugger berichtete 1931 über eine Geisteskrankenzählung in Thüringen und 1933 im Allgäu. Außerdem beschrieb er 1937 Ergebnisse einer Feldstudie
im Landkreis Rosenheim. Er berichtete eine psychiatrische Morbiditätsrate von 3,5%. Ein Großteil der Studien in früheren Jahren verließ sich auf Schlüsselinformanten, mehr als auf intensive Fallfindungstechniken. Daraus folgte, dass nur schwer gestörte, sichtbar sozial auffällige Personen als Fälle identifiziert wurden und die Morbiditätsraten für psychische Erkrankungen mit 3% angegeben wurden (Dohrenwend 1972). Die durchschnittliche Prävalenz für psychische Erkrankungen liegt nach Dohrenwend (1972) aufgrund von 33 Feldstudien, die nach 1950 durchgeführt wurden und auch leichtere psychische Störungen berücksichtigen, mit ungefähr 18% deutlich höher. Essen-Möller führte 1947 eine Feldstudie in Lundby durch (Essen-Möller 1956). In dieser Studie wurden so gut wie alle Einwohner eines umschriebenen Gebietes in Südschweden persönlich untersucht. Die Lundby-Studie wurde von Hagnell (n = 2550) fortgeführt (Hagnell 1966; Hagnell et al. 1982). Die Arbeitsgruppe von Schepank untersuchte im Rahmen einer repräsentativen Kohortenfeldstudie für die Altersjahrgänge 1935, 1945 und 1955 eine Stichprobe deutscher Erwachsener in der Stadt Mannheim. Es wurde über eine Morbiditätsrate von 25% für psychosomatische, neurotische und andere überwiegend psychogene Erkrankungen berichtet (Schepank 1982, 1987). Die Arbeitsgruppe um Angst untersuchte eine repräsentative Kohorte von 20-Jährigen im Kanton Zürich (Angst u. Dobler-Mikola 1984 a–c). Im Jahre 1978 wurde eine Stichprobe von 2201 Männern und 2346 Frauen in einem 2-stufigen Vorgehen untersucht. Basierend auf den Ergebnissen der Hopkins-Symptom-Checklist (SCL90) wurden 292 Männern und 299 Frauen mit besonders hohen bzw. niedrigen Werten auf der Skala für ein nachfolgendes halbstrukturiertes Interview ausgewählt. Die Studie wurde als Verlaufsuntersuchung fortgesetzt. Dilling u. Weyerer (1984) führten in den Jahren 1974– 1979 in einer Stichprobe von 1668 Probanden im Alter von 15 Jahren und älter eine epidemiologische Studie bei einer ländlichen Bevölkerungsstichprobe im Landkreis Traunstein durch. Fichter et al. (1990, 1996 a) nahmen dies als
Basis für eine longitudinale Bevölkerungsstudie (Upper Bavarian Study – UBS). Zur Schätzung der Prävalenzraten der 1980er Jahre wurde eine neue Stichprobe (Prävalenzstichprobe der 1980er Jahre) zusammengestellt (Fichter 1990). Die Prävalenzstichprobe der 1980er Jahre bestand aus 1979 Personen im Alter von 15 Jahren und älter; davon konnten 84,2% untersucht werden. Die Prävalenzrate (7Tage-Punktprävalenz/ICD-9) für psychische Erkrankungen für Personen ab 20 Jahren blieb konstant und betrug für die erste Querschnittsstichprobe 20,4%, für die zweite der 1980er Jahre 20,8%. Die höchsten Prävalenzraten fanden sich in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen. Deutliche Unterschiede über die Zeit ergaben sich beim Vergleich von einzelnen diagnostischen Gruppen
63 3.5 · Ergebnisse von Feldstudien
psychischer Erkrankungen. Eine Zunahme war hauptsächlich bei Alkoholabhängigkeit zu verzeichnen, affektive Störungen zeigten eine deutliche Abnahme.
Nordamerika Durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wurde das Interesse in Nordamerika geweckt, mit relativ einfachen Mitteln die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung erfassen zu können - nicht zuletzt, um künftige Musterungsprozesse bei Kriegseinsätzen effektiver zu gestalten. Heute aus historischen Gründen sind folgende amerikanische Studien aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung: In der klassischen Midtown-Manhattan-Studie wurde eine Stichprobe von 1660 Erwachsenen interviewt. Bei 23,4% der Bevölkerung wurde eine bedeutsame Beeinträchtigung durch psychische Erkrankungen festgestellt. Wurden leichtere Behinderungen durch psychische Symptome mit einbezogen, erhöhte sich die Morbiditätsrate gar auf 81,5% (Srole et al. 1962). Die Studie wurde wegen der weiten »inflationären« Fallidentifikation (»Manhattan Madness«) und der Tatsache, dass sie zwischen einzelnen psychiatrischen Diagnosen nicht unterschied, kritisiert. In der Baltimore-Morbidity-Studie (Commission on Chronic Illness 1957) wurden 809 Personen einer Stichprobe aus Haushalten in Baltimore von Ärzten untersucht. In der Studie wurden alle Altersgruppen nichtinstitutionalisierter Personen in der Stadt erfasst. Psychiatrische Diagnosen wurden mit dem internationalen Diagnoseschlüssel ICD gestellt und eine Prävalenzrate von 10,9% berichtet. In der Stirling-County-Studie untersuchte Leighton et al. (1963) 1010 erwachsene Bürger eines ländlichen Bezirks in Kanada. Auf der Basis ihrer Ergebnisse kamen sie zu der Schätzung, dass 20% der erwachsenen Bevölkerung eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung aufweist. Hervorzuheben ist hierbei der Versuch, implizite Kriterien des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-I) der American Psychiatric Association explizit in Itemformulierungen für das psychiatrische Interview zu fassen. Nach Reanalyse der Daten der Stirling-County-Studie ermittelte Murphy (1980) eine Prävalenzrate von 4,1% nach DSM-III-Kriterien für Major Depression.
3.5.2
Große psychiatrischepidemiologische Studien der 3. Generation
Die früheren Untersuchungen in Europa und USA wurden hinsichtlich der Fallidentifikation sehr kritisch in Frage gestellt, die auf einfache Rating-Skalen oder subjektive Einschätzung des Untersuchers auf der Basis eines wenig reliablen diagnostischen Systems beruhen. Über
Jahre erfolgte eine sehr bedeutsame Entwicklung operationalisierter diagnostischer Systeme, beginnend mit einer Arbeitsgruppe in St. Louis [USA (Feighner et al. 1972)]. In derselben Zeit wurden von Lee Robins et al. (1991) in St. Louis und getrennt davon am Institut of Psychiatry in London durch John Wing (Wing et al. 1974) versucht, reliable Interviews für die Erfassung operationalisierter psychiatrischer Diagnosen zu entwickeln. Dies führte zur Entwicklung der Present State Examination (PSE), von Wing später weiterentwickelt zum SCAN. Parallel entwickelten Lee Robins et al. das Diagnostic Interview Schedule DIS, das später zum Composit International Diagnostic Interview (CIDI) weiterentwickelt wurde. Die in ⊡ Tab. 3.3 dargestellten Ergebnisse mehrerer amerikanischer und deutscher epidemiologischer Untersuchungen an repräsentativen Bevölkerungsstichproben beruhen auf der operationalen Diagnostik nach DSM-III (American Psychiatric Association 1980) bzw. späteren Versionen des DSM sowie der Erfassung der Psychopathologie durch strukturierte Interviews. Man spricht von den psychiatrischen epidemiologischen Studien der ersten Generation (erste Krankenzählung) bis zum Ersten Weltkrieg. Studien nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Midtown-Manhattan-Studie und die Stirling-County-Studie, bezeichnet man als Studien der zweiten Generation. Psychiatrische epidemiologische Studien der dritten Generation basieren auf den operationalen Kriterien von DSM-III und folgenden Ausgaben oder ICD-10 sowie auf reliablen diagnostischen Interviews, deren Fragen zu einem Algorithmus führen, aus dem sich die Diagnosen ergeben.
Epidemiologic Catchment Area (ECA) Ende der 1970er Jahre wurde die groß angelegte Epidemiologic Catchment Area (ECA) des National Institute of Mental Health durchgeführt (Regier et al. 1984, 1988; Regier u. Kaelber 1995). Die Studie wurde multizentrisch in 5 Zentren durchgeführt. Ziele waren die Beschaffung von Informationen über die Morbiditätsraten einzelner psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung, die Abschätzung des Versorgungsbedarfs für psychisch Kranke und die Erarbeitung von Inzidenzraten und Ausarbeitung von Risikofaktoren. Bei der Stichprobenziehung wurde sowohl von Haushalten, als auch von Personen in Heimen, Gefängnissen und Kliniken ausgegangen und als Interview den Diagnostic Interview Schedule (DIS) von Robins et al. (1991) verwendet, ein in hohem Maße strukturiertes Interview für relinierte Laieninterviewer. In 5 über die USA verstreuten Zentren wurden insgesamt 18.572 Personen untersucht. Aufgrund der Art der Stichprobenziehung, die mangels eines Gemeinderegisters erforderlich war (stratifizierte Household-Samples und Stichproben aus Institutionen), mussten (unter Berücksichtigung des US-Zensus für nichtinstitutionalisierte Personen von 1980) korrigierende Gewichtungen vorgenommen werden.
3
64
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
⊡ Tab. 3.3. Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen nach DSM-III/-III-R/-IV in größeren US-amerikanischen und deutschen epidemiologischen Untersuchungen in der Bevölkerung Land
BRD
USA
USA
USA
BRD
Studie
UBS Upper Bavarian Studyb
E CA Epidemiologic Catchment Area Study
NCS National Comorbidity Study
NCS Replication
GHS German Health Survey
DSM-III
DSM-III, 3 sites
DSM-III-R
DSM-IV
DSM-IV
Goldberg Interview
DIS
UM-CIDI
WHO-CIDI
M-CIDI
3 Interview Autoren
Fichter u. Elton (1990)
Regier et al. (1998)
Kessler et al. (1994)
Kessler et al. (2005)
Jacobi et al. (2004)
%
%
(SE)
%
%
(SE)
%
(SE)
Affective (Mood) Störungen gesamt
8,7
9,3
(0,4)
19,3
20,8
(0,6)
18,6
(0,6)
– Majore-depressive Episode
1,7
7,2
(0,3)
17,1
(0,7)
16,6
(0,5)
17,1
(0,6)
– Manische Episode
–
–
1,6
(0,3)
–
– –
(SE)
– Dysthymia
5,9
3,6
(0,2)
6,4
(0,4)
2,5
(0,2)
– Bipolare I–II-Störung
0,2
–
–
3,9
(0,2)
1,0
(0,1)
Angststörungen gesamt
5,6
14,2
(0,4)
24,9
(0,8)
28,8
(0,9)
–
– Panikstörung
0,4
1,9
(0,2)
3,5
(0,3)
4,7
(0,2)
3,9
– Agoraphobie ohne Panikstörung – Soziale Phobie i y – Einfache Phobie t
–
–
5,3
(0,4)
1,4
(0,1)
–
1,6
(0,1)
13,3
(0,7)
12,1
(0,4)
–
11,3
(0,6)
12,5
(0,4)
–
(0,3)
5,7
(0,3)
–
–
– Generalisierte Angststörung
1,3 –
– –
5,1
– Posttraumatische Belastungsstörung
–
–
–
6,8
(0,4)
– Zwangsstörung
0,1
–
–
1,6
(0,3)
–
– Trennungsangststörung
–
–
–
5,2
(0,4)
–
– Somatoforme Störung
1,4
–
–
–
16,2
(0,7)
Substanzmissbrauch/-abhängigkeit gesamt i – Alkoholmissbrauch y – Alkoholabhängigkeit t i – Drogenmissbrauch y – Drogenabhängigkeit t
7,3
19,9
(0,5)
26,6
(1,0)
14,6
(0,6)
9,9
–
–
9,4
(0,5)
13,2
(0,6)
8,6
(0,4)
14,1
(0,7)
5,4
(0,3)
i y 8,5 t i y 2,1 t
5,9 1,4
–
–
4,4
(0,3)
7,9
(0,4)
4,8
(0,3)
7,5
(0,4)
3,0
(0,2)
(0,3)
(0,6)
(0,5) (0,2)
Sonstige – Anpassungsstörung
4,9
–
–
–
–
– Schmerzstörung
–
–
–
–
12,7
– Antisoziale Persönlichkeit
–
–
3,5
(0,3)
–
–
– Nonaffektive Psychosec
0,8
1,5
0,7
(0,1)
–
– Psychische Störung mit Einfluss auf körperlichen Zustand
11,5
–
–
–
2,3
(0,2)
Störungen der Impulskontrolle gesamt
–
–
–
24,8
(1,1)
–
(0,5)
– Oppositions- & Aufsässigkeitsstörung
–
–
–
8,5
(0,7)
–
– Verhaltensstörung
–
–
–
9,5
(8,8)
–
– AD(H)S
–
–
–
8,1
(0,6)
–
– Intermittierende explosive Störung
–
–
–
5,2
(0,3)
–
Mindestens eine der UBS-Störungen
42,1
–
–
–
–
36,1
(0,6)
–
–
–
Mindestens eine der NCS-Störungen
48,0
(1,1)
–
–
Mindestens eine der NCS-ReplicationStörungen
–
46,4
(1,1)
–
Mindestens eine der GHS-Störungen
–
–
42,6
(0,8)
Mindestens eine der ECA-Störungen
4,5a
(0,5)
– Nicht näher untersucht; a Möglicherweise psychotische Störung; b 5-Jahres-Prävalenz, alle Schweregrade s ≤1; c Beinhaltet Schizophrenie, schizophreniforme Störung, schizoaffektive Störung, Wahnstörung und atypische Psychose.
65 3.5 · Ergebnisse von Feldstudien
Nach den aus den 5 Zentren zusammengefassten Ergebnissen der ECA-Studien hatte jeder 5. Proband (19,1%) zum Zeitpunkt der Untersuchung (Sechsmonatsprävalenz) eine psychische Erkrankung nach DSM-III. Die vergleichsweise höchsten Sechsmonatsmorbiditätsraten zeigten sich für Angstsyndrome (8,9%), hauptsächlich bedingt durch phobische Erkrankungen (7,7%). Die zweithäufigste diagnostische Gruppierung waren Suchterkrankungen: 4,7% wiesen Alkoholmissbrauch oder Abhängigkeit und 2% Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit auf. Affektive Erkrankungen waren in 5,8% der Fälle zu finden. Die Sechsmonatsprävalenzrate für bipolare affektive Störungen wurde mit 0,5%, für Dysthymie mit 3,3%, für Schizophrenie mit 0,8%, für schizophrenieforme Störungen mit 0,1%, für somatoforme Störungen mit 0,1%, für antisoziale Persönlichkeit mit 0,8%, für schwere kognitive Störungen mit 1,3%, für die gesamte Population, zunehmend mit dem Alter (3% für 65- bis 79Jährige, 7% für 75- bis 80-Jährige und fast 16% für über 85-Jährige) angegeben. Nur ein Viertel der Betroffenen erhielten eine Behandlung.
ner großen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe Deutschlands (n = 4181) mit Hilfe des vollstrukturierten computerassistierten klinischen Interviews (M-CIDI) durch. Die Ergebnisse basieren auf diagnostischen Klassifikationen nach DSM-IV (⊡ Tab. 3.3). Wittchen et al. (1998) führten auch eine weitere relevante epidemiologische Bevölkerungsstudie mit wiederholten Erfassungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Etwa zeitgleich mit der ECA-Studie in den USA führte die Arbeitsgruppe von Manfred Fichter die oberbayerische Verlaufsuntersuchung bei einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe von 1979 Personen im Alter von 15 Jahren und älter durch. Die höchsten Prävalenzraten fanden sich in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen (⊡ Tab. 3.3). Die Studie wurde als Langzeitverlaufsuntersuchung bei denselben Probanden 20 Jahre später erneut implementiert (Fichter 2006).
3.5.3
Gegenwärtige Entwicklungen in der psychiatrischen Epidemiologie
National Comorbidity Survey (NCS) Als weitere wichtige US-amerikanische Studie ist der National Comorbidity Survey (NCS) zu erwähnen (Kessler et al. 1994). Ergebnisse dieser Studie basieren auf dem Composite International Diagnostic Interview (UM-CIDI) für DSM-III-R-Diagnosen. Insgesamt 8098 Probanden zwischen 15 und 54 Jahren (nationale Stichprobe der USA) wurden untersucht. Davon berichteten 50% eine »life time disorder«, beinahe 30% litten innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Die häufigsten Erkrankungen waren Major Depression und Alkoholabhängigkeit, gefolgt von sozialer bzw. einfacher Phobie (Kessler et al. 1994). Wie bereits in der ECA-Studie (Robins u. Regier 1991), die bei 75% aller Probanden mit einer »life time depressive episode« noch eine weitere psychische Störung feststellt, fanden Kessler et al. (1996), dass 61,8% aller Probanden mit einer Life-time-Major-Depression vor dem Beginn der Depression eine andere psychische Störung aufwiesen, vornehmlich Angststörungen und Substanzmissbrauch. Die NCS-Replikationsstudie, ebenfalls von Kessler et al. (2005) durchgeführt und veröffentlicht, beruht auf den DSM-IV-Kriterien, und Interviews erfolgten durch einen leicht veränderten CIDI (WHO-CIDI). Darüber hinaus wurden Störungen der Impulskontrolle erstmals detailliert erfasst.
Weitere Studien Die Arbeitsgruppe um Hans-Ulrich Wittchen (Jacobi et al. 2004) führte in Deutschland im Rahmen des »German National Health Interview and Examination Survey (GHS)«
eine psychiatrische epidemiologische Untersuchung ei-
Gegenwärtige Konzeptualisierungen und Untersuchungen in der psychiatrischen Epidemiologie gehen dahin, das Fundament in verschiedene Richtungen zu verbreitern. WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule. Zwar
ist eine klar formulierte operationale reliable und valide Diagnosestellung sehr wichtig, doch sagt sie nur begrenzt etwas über die durch die Störung bzw. Erkrankung bedingten Einschränkungen (z. B. Arbeitsunfähigkeit) und erforderlichen Behandlungen aus. Sie helfen dafür nur begrenzt für konkrete Planungen des Gesundheitswesens. Dies führte zur Entwicklung darüber hinausgehender Konzepte und Instrumente. Vor diesem Hintergrund wurde das »WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule« (WHO-DAS II) entwickelt, in dem Einschränkungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen erfasst werden, die für die Einschätzung des Behandlungsbedarfs und für eine Quantifizierung des »Outcomes« relevant sind. International Classification of Functioning, Disabilities and Health. Ein weiterer Ansatz in diese Richtung ist die
Entwicklung der »International Classification of Functioning, Disabilities and Health« (ICF), eine Weiterentwicklung der »International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps« (ICIDH). Die ICF geht von einer Interaktion zwischen Erkrankung, Person und sozialer Umwelt aus, und Einschränkungen (Disability) beinhalten Disfunktionen auf dem körperlichen, persönlichen und sozialen Level (Üstün et al. 2003; World Health Organisation 2001).
3
66
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
WHO Quality of Life Assessment. Ein weiterer Ansatz ist
3
tersuchen (World Mental Health Survey Consortium – Demyttenaere et al. 2004). ⊡ Tab. 3.4 gibt eine Übersicht über einen Teil der relevanten Ergebnisse zur Prävalenz psychischer Störungen nach DSM-IV in verschiedenen Ländern und Kontinenten auf der Basis von WHO-CIDIInterviews – eine Herausforderung für die Zukunft. Wie ⊡ Tab. 3.4 zeigt, sind die Prävalenzraten zum Teil sehr unterschiedlich. Für Amerika und Asien lässt sich ein Nord-Süd-Gefälle (mehr Sonnenlicht im Süden) aus den Daten herauslesen. Die niedrigsten Prävalenzraten fanden sich für Nigeria (Afrika) und Shanghai (China), die höchsten für USA, Frankreich und Deutschland. Künftige Untersuchungen werden zeigen müssen, inwieweit diese Ergebnisse Untersuchungsartefakte (in den USA entwickelte Instrumente in weltweitem Einsatz) oder wirkliche Unterschiede darstellen und wodurch diese bedingt sind (Genetik, Gesundheitssystem, soziokulturelle Bedingungen).
die Einbeziehung der Lebensqualität der mit Störung oder Krankheit betroffenen Personen, die z. B. erfasst werden mit dem WHO Quality of Life Assessment (Kuyken u. Orley 1995). Die Quantifizierung beruht in der Regel auf subjektiven Angaben der Betroffenen, was durch die Nichtberücksichtigung des eigenen Anspruchs zu Verzerrungen führen kann. Psychisch zu einem hohen Anteil erkrankte Obdachlose waren »im Großen und Ganzen mit ihrem Gesundheitszustand zufriedener« als Personen einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der UBS (Fichter u. Quadflieg 2001). Global burden of disease. Die Auswirkung in einer Er-
krankung kann über die individuelle Ebene auch erweitert werden. Psychische Erkrankungen können nicht nur auf den Betroffenen, sondern auch auf Angehörige kommen, die auf das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft Auswirkungen haben. Es kann nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsleistung durch funktionale Einschränkungen verloren gehen. Dieser »Global burden of disease« (Üstün u. Mezzich 2002) hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
Fragen und Probleme in der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart
3.5.4
Einige wichtige Fragen und Probleme der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart lassen sich aus ⊡ Tab. 3.3 und ⊡ Tab. 3.4 ersehen. ⊡ Tab. 3.3 enthält Ergebnisse von zwei mit moderner Methodologie durchgeführten nordamerikanischen Studien der 1980er Jahre (ECA-Programm) und der in den 1990er Jahren durchgeführten
World Mental Health Survey Consortium. In den letzten
Jahren hat man es auch unternommen, große Bevölkerungsstichproben in verschiedenen Ländern, Kontinenten und Kulturen mit derselben zeitgemäßen Erhebungsmethodik, koordiniert durch die WHO, zu un-
⊡ Tab. 3.4. Prävalenz psychischer Störungen nach DSM-IV, erfasst mit einheitlichem Interview (WHO-CIDI) in verschiedenen Ländern und Kontinenten (World Mental Health Survey Consortium: Demyttenaere et al. 2004) – gekürzt Kontinente/ Länder
12-MonatsPrävalenz
Lebenszeitprävalenz Angststörungen
Affektive (Mood) Störungen
Störungen der Impulskontrolle
Alkoholmissbrauch/ -abhängigkeit
Mindestens eine der genannten Störungen
Mindestens eine der genannten Störungen
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
14,1
(1,3)
10,9
(0,8)
2,3
(0,7)
6,2
(0,8)
25,0
(1,6)
8,6
(0,9)
22,0 10,9 10,0
(1,5) (0,9) (1,0)
23,3 10,2 11,6
(1,3) (0,6) (0,6)
3,4 1,1 1,2
(0,5) (0,3) (0,3)
5,8 1,2 2,9
(0,8) (0,3) (0,7)
37,9 18,1 19,7
(2,0) (1,1) (1,4)
14,3 7,2 8,4
(1,2) (0,7) (0,6)
Nordamerika (USA)
28,6
(0,9)
21,4
(0,8)
17,8
(0,7)
14,6
(0,6)
47,3
(1,1)
26,1
(0,9)
Mittelamerika (Mexiko)
11,9
(0,7)
10,0
(0,7)
5,0
(0,5)
8,0
(0,6)
25,3
(1,1)
12,5
(0,9)
Afrika (Nigeria)
5,8
(0,7)
3,2
(0,3)
0,2
(0,1)
4,2
(0,5)
11,8
(0,7)
4,9
(0,5)
8,4 5,9
(0,9) (1,2)
8,5 4,6
(0,7) (0,6)
3,2 4,1
(0,7) (1,2)
4,9 7,5
(0,9) (1,2)
19,8 17,4
(1,7) (2,4)
8,3 9,3
(1,1) (1,6)
3,9
(1,0)
3,7
(0,8)
0,9
(0,3)
1,9
(0,4)
8,6
(1,3)
4,5
(0,9)
Europa – Deutschland – Frankreich – Italien – Spanien
Asien – Japan – Peking (China) – Shanghai (China)
67 3.6 · Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren
National Comorbity Survey (NCS). Die Gesamtprävalenz betrug in der ECA-Studie 36,1% und in der NCS-Studie 48,0%. Diese sehr unterschiedlichen Ergebnisse hochsophistizierter psychiatrischer epidemiologischer Studien im selben Land führten zu Konfusionen und Diskussionen (Regier et al. 1998). Die Unterschiede ließen sich nicht wesentlich durch unterschiedliche Stichproben (keine Personen ≥55 Jahre in der NCS) oder durch die Veränderung des diagnostischen Manuals (DSM-III in der ECA-Studie und DSM-II-R in der NCS) erklären. Ein wesentlicher Unterschied schien nach genaueren Recherchen bedingt zu sein durch unterschiedliche ScreeningFragen (»Stem-Questions«), was Regier et al. (1998) im Detail ausführten. Dieser Befund ist sehr bemerkenswert, denn die verwendeten Interviews in beiden Studien waren sich ansonsten sehr ähnlich (DIS in der ECA, UM-CIDI in der NCS) und wurden beide von derselben Person (Lee Robins) federführend entwickelt, wobei das CIDI eine Weiterentwicklung der DIS darstellt. Es wurde gefolgert, dass Interviews zur Fallidentifikation noch zu einem sehr viel höheren Grad standardisiert werden müssten. Es stellt sich aber die Frage, ob die für die US-Bürger standardisierten Fragen in dieser hochstandardisierten Form in anderen Kontinenten und Kulturen wirklich das erfassen können, was sie erfassen sollen. ⊡ Tab. 3.3 zeigt auch, wie bereits in dem kurzen Zeitraum, in dem die aufgeführten Studien durchgeführt wurden, die diagnostischen Kriterien Änderungen erfuhren. Die simple Frage, ob eine bestimmte Erkrankung (z. B. Depression) in den letzten Jahrhunderten zu- oder abgenommen hat, ist fast unmöglich zu beantworten, da die diagnostischen Konzepte und Kriterien im Jahr 1930 andere waren als 1950, 1980 oder 1998. Die an sich sinnvolle Entwicklung der Fortentwicklung diagnostischer Konzepte erschwert den Vergleich von Studien über die Zeit und den Vergleich bei derselben Stichprobe in LangzeitLongitudinalstudien, wie der Upper Bavarian Study UBS (Fichter 2006). Bei der Interpretation der Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen (z. B. Prävalenz, Inzidenz) ist somit immer der Kontext aufs Engste zu berücksichtigen. Das wird komplex und schwierig, wenn wir Fachleute dieses medizinischen Laien, wie z. B. Politikern, für Planungen im Gesundheitswesen und gesamtökonomische Planungen vermitteln wollen. Auch hier gilt es, den wesentlichen Kontext mitzuvermitteln, da die Zahlen für sich nur begrenzt etwas aussagen.
3.6
Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren
3.6.1
Schizophrenie
Rössler et al. (2005) haben den Kenntnisstand zusammengefasst. Bei einer engen Definition von Schizophrenie
(im Wesentlichen Symptome ersten Ranges bei Ersterkrankung) ist die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) recht gleich über die Welt verteilt (0,7–4,2 Fälle pro 10.000 Population/Jahr). Die Lifetime-Prävalenzrate liegt zwischen 0,5 und 1,6%. Das kumulative Lebenszeitrisiko für Männer und Frauen an Schizophrenie zu erkranken, ist nahezu gleich, wenngleich Männer häufiger in jüngerem Alter unter 40 Jahren erkranken. Obschon nicht häufig, ist Schizophrenie doch eine Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen für die Betroffenen, die Angehörigen und die Gesellschaft. Die Lebenserwartung ist um ca. 10 Jahre reduziert, häufige Folge ist Suizid. Nach dem WHO World Health Report (2001) ist Schizophrenie aufgeführt als die achthäufigste Ursache für »Disability Adjusted Life Years (DALYs)« für die Altersgruppe 15–44 Jahre.
3.6.2
Depressive Erkrankungen
Paykel et al. (2005) fassten die Literatur zur majoren Depression für Europa zusammen und danach liegt die 1-Jahres-Prävalenz für majore Depression bei ca. 5%. Es zeigen sich erhöhte Prävalenzraten für Frauen, Menschen im mittleren Alter, weniger privilegierte Schichten und für jene mit »social adversity«. Es besteht eine hohe Komorbiditätsrate mit anderen psychischen und insbesondere auch körperlichen Erkrankungen. Depression ist eine wesentliche Ursache für Beeinträchtigung (Disability). Es bedarf z. B. in »Public Health Programs« besonderer Anstrengungen, um Häufigkeitsrate und Folgen depressiver Störungen zu senken. Weltweit schwanken die Prävalenzraten für affektive (mood) Störungen erheblich zwischen 3,2% in Nigeria und 23,2% in Frankreich (World Mental Health Survey Consortium: Demytthenaere et al. 2004; Andrade et al. 2003). Neue Ergebnisse zu bipolaren Störungen in Europa wurden von Pini et al. (2005) zusammengefasst: Die 12Monats-Prävalenz liegt bei 0,5–1,1% und ist (anders als andere depressive Störungen) bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig zu finden. Der Krankheitsbeginn liegt in der Regel in der Spätadoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter. Komorbidität mit anderen psychischen und körperlichen Erkrankungen ist relativ häufig. Die meisten Studien basieren auf einer mindestens so hohen Einschränkung (Disability) und Behinderung (Impairment) durch eine bipolare Störung im Vergleich zu majorer Depression und Schizophrenie. Depression im hohen Alter ist relativ weit verbreitet. Nach der Münchener Hochbetagten-Studie (Meller et al. 1996) haben 18,7% der über 85-Jährigen eine depressive Störung (17,6% der Frauen, 22,2% der Männer).
3
68
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
3.6.3
3
Demenzielle Erkrankungen
Erst in den letzten 40 Jahren wurde mit Zunahme der Lebenserwartung und damit verbundenen demenziellen Erkrankungen mit großer Intensität gerontopsychiatrische epidemiologische Forschung betrieben. Abhängig von der Stichprobe, den eingesetzten Instrumenten und der Falldefinition schwanken Prävalenzraten für demenzielle Erkrankungen zwischen 6,8% (Schoenberg et al. 1985) und 47,2% (Evans et al. 1989). Gerade die Anzahl leichterer demenzieller Störungen dürfte für die Schwankungsbreite verantwortlich sein. Nach Häfner u. Löffler (1991) zeigt die Prävalenz von mittleren bis schweren Fällen einen Anstieg von 2–3% bei den 65- bis 70-Jährigen, über 20% bei den 80- bis 90-Jährigen und über 30% bei über 90-Jährigen. Fratiglioni et al. (2000) zeigten auf der Basis von 8 Studien der EURODEM-Gruppe eine exponentielle Zunahme der Inzidenz und Demenz vom Alzheimertyp ab dem 65. Lebensjahr auf. In der Münchener HochbetagtenStudie litten 25,4% der befragten über 85-jährigen Probanden nach der GMSA-AGECAT-Computerdiagnose an einer Demenz (25,7% der Frauen, 24,4% der Männer). Bei 64,8% der hochbetagten dementen Probanden wurde eine leichte, bei 26,1% eine mittlere und bei 9,1% eine schwere Demenz diagnostiziert (Fichter et al. 1995; 1996 b). In den meisten europäischen und nordamerikanischen epidemiologischen Studien wird die AlzheimerDemenz als häufigste Form der Demenz angegeben.
3.6.4
Angststörungen
Die generalisierte Angststörung findet sich nach einer Übersichtsarbeit von Lieb et al. (2005) bei etwa 2% der erwachsenen Bevölkerung (12-Monats-Prävalenz). Bis zu 10% der Patienten in der Allgemeinmedizin weisen eine generalisierte Angststörung auf und werden dort aber als solche oft nicht erkannt. Wenig ist bekannt über den natürlichen Verlauf in unselektierten Stichproben, Risikofaktoren und Kosten für Betroffene und Gesellschaft. Nach den Daten einer großen amerikanischen Untersuchung (Grant et al. 2005) fand sich eine 12-Monats-Prävalenz von 2,1% für generalisierte Angststörung mit höheren Prävalenzwerten für Frauen, Menschen mittleren Alters, verwitweten, getrenntlebenden und geschiedenen Menschen und Menschen mit niedrigem Einkommen. Bei Amerikanern asiatischen, spanischen oder schwarzafrikanischen Ursprungs fanden sich niedrigere Prävalenzraten. Soziale Phobie findet sich in einer Übersichtsarbeit von Fehm et al. (2005) bei ca. 2% der Bevölkerung (12Monats-Prävalenz) mit höheren Raten für jüngere Menschen sowie Frauen im Vergleich zu Männern. Goodwin
et al. (2005) gaben eine Übersicht über 13 neuere europäische Studien zu Panikstörung und Agoraphobie. Die 12Monats-Prävalenz für Panikstörung war 1,8% (Range 0,7–2,2%) und für Agoraphobie ohne Panikstörung betrug sie 1,3% (Range 0,7–2,0%). Diese Erkrankungen waren gehäuft bei Frauen und der Erkrankungsbeginn lag in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter. Panikstörungen werden in der allgemeinärztlichen Versorgung häufig nicht als solche erkannt und behandelt.
3.6.5
Substanzmissbrauch/ -abhängigkeit
Eine Übersicht zur Alkoholabhängigkeit auf der Basis der DSM-III-R, DSM-IV oder ICD-10-Kriterien findet sich bei Rehm et al. (2005 a): Der gewichtetere, geschätzte Median für die 12-Monats-Prävalenz für Alkoholabhängigkeit lag für Männer (6,1%) deutlich höher als für Frauen (1,1%). Keine klaren Aussagen waren möglich hinsichtlich des Erkrankungsrisikos für verschiedene Altersgruppen sowie Unterschieden zwischen Stadt und Land. Diese Daten lassen Alkoholmissbrauch und seine Folgen noch unberücksichtigt. In einer anderen Übersichtsarbeit folgerten Rehm et al. (2005 b), basierend auf Bevölkerungsstudien und direkten Schätzungen, dass Missbrauch oder Abhängigkeit von Opioiden, Kokain und Amphetaminen in Bevölkerungsstichproben im Vergleich zu indirekten Methoden deutlich unterschätzt wird. In Europa lag nach indirekten Schätzungen die Häufigkeit des genannten Drogenmissbrauchs/-abhängigkeit bei 0,3–0,9%. Die Häufigkeit ist höher bei Männern im Vergleich zu Frauen im jüngeren Alter (18–25 Jahre).
Fazit Da die Verbesserungen der psychiatrischen Diagnostik und diagnostischen Klassifikation in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte machten, haben sie auch die psychiatrische Epidemiologie verändert und zu präziseren Ergebnissen geführt. Nachdem große Feldstudien das deskriptive Wissen über die Verteilung spezifischer psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung belegt haben, ergeben sich für die Zukunft darüber hinausgehende Fragestellungen. Die Identifizierung von Risikofaktoren, daraus sich ergebende präventive Bemühungen sowie die Bedarfsanalyse notwendiger zu planender Gesundheitsdienste, machen die psychiatrische Epidemiologie zu einem wesentlichen Bestandteil der psychiatrischen Forschung für die Zukunft.
69 Literatur
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3
70
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
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4 4 Genetik psychischer Störungen W. Maier, A. Zobel, S. Schwab
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Konzepte – 73 Warum Genetik und genetische Forschung in der Psychiatrie? – 73 Phänotypen – 73 Gene und genetische Variabilität – 74 Monogene und komplexe Störungen – 74 Genetische Heterogenität, Moderatorgene – 75 Intermediäre Phänotypen bzw. Endophänotypen – 75 Gen-Umgebungs-Interaktion und genetisch vermittelte Vulnerabilität – 76 Epigenetik – 77 Genetik spezifischer psychischer Störungen – 77 Untersuchungen bei Schizophrenie – 77 Untersuchungen bei affektiven Störungen – 83 Fortschritte in der molekulargenetischen Analyse von Schizophrenie und affektiven Störungen – 87
4.2.4 4.2.5 4.2.6
Untersuchungen bei Angsterkrankungen Untersuchungen bei Alkoholismus und Drogenabhängigkeit – 90 Untersuchungen zu Demenzen – 93
– 87
4.3
Diagnostische Spezifität und Unspezifität genetischer Einflussfaktoren – 95
4.4
Perspektiven
4.5
Zusammenfassung
4.6
Anhang – Methoden genetischer Forschung in der Psychiatrie – 98 Analyse der familiären Ähnlichkeit – 98 Suche nach molekular-genetischen Einflussfaktoren (DNA-Sequenzvarianten) – 100
4.6.1 4.6.2
Literatur
– 96 – 98
– 103
> > Die genetische Forschung hat in der Psychiatrie seit über 100 Jahren eine sehr wechselhafte Geschichte. So wurde über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Psychologie und Psychiatrie eine heftige, teilweise verbitterte Diskussion über »Gen oder Umwelt?« (»nature versus nurture«) bei psychischen Erkrankungen und Eigenschaften geführt: Sind Verhaltensdispositionen, psychische Anlagen und Eigenschaften, psychische Beschwerden und Störungen auf genetisch-konstitutionelle Faktoren oder psychosoziale Belastungen und andere Umwelteinflüsse zurückführbar? Diese Frage hat sich als nicht entscheidbar herausgestellt, solange nur die Analyse von familiären Ähnlichkeitsmustern von äußerlichen Merkmalen (Phänotypen) möglich war. Heute ist allgemein anerkannt, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist unstreitig: Verhaltensdispositionen und insbesondere psychische Störungen und zugrunde liegende Persönlichkeitseigenschaften und Reaktionsbereitschaften werden sowohl von genetischen Anlagen als auch von Umweltbedingungen und Erfahrungen beeinflusst; offene Forschungsfragen sind die Mechanismen der Interaktion beider Ebenen. Entscheidend haben zu den erreichten Erkenntnissen die technischen Möglichkeiten zur direkten Untersuchung der genetischen Information auf DNA-Ebene beigetragen. Eine Serie überraschender, nicht antizipierbarer Ergebnisse sind in Bezug auf psychische Störungen dabei erarbeiten worden ( Abschn. 4.2.1–4.2.6). Das gesamte Feld der psychiatrischen Genetik hat sich folgerichtig von der Analyse familiärer Ähnlichkeitsmuster in Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien von Merkmalen (inkl. Störungen) auf die molekulargenetische Analyse psychischer Störungen und Eigenschaften verschoben. Merkmalsunterschiede (Phänotypen; z. B. Auftreten einer Störung oder Ausprägungsunterschiede in Messweiten) werden dabei auf unter-
schiedliche Ausprägungen in der DNA-Sequenz (Genotypen) zurückgeführt oder zumindest damit in Relation gesetzt. Dieser rasch vollzogene Methodenwandel kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Analyse familiärer Ähnlichkeitsmuster eine entscheidende Voraussetzung für die Anwendung molekulargenetischer Methoden in der Ursachenanalyse psychischer Störungen war und auch weiterhin bleibt (z. B. in Bezug auf die Definition und Priorisierung molekulargenetisch zu untersuchender Phänotypen). Der vollzogene methodische »Paradigmenwechsel« hat gleichwohl das Interesse an dem klinischen Forschungsfeld der psychiatrischen Genetik massiv gesteigert, da über diesen Weg die molekularen Bausteine seelischer und geistiger Prozesse und Abweichungen sichtbar werden. Die molekulargenetische Analyse ist zudem mittlerweile zu einer wesentlichen Erkenntnisquelle der Pathophysiologie und Neurobiologie psychischer Störungen und auch der Epidemiologie (z. B. in Form der molekularen und genetischen Epidemiologie und Gen-Umwelt-Interaktion) geworden.
73 4.1 · Konzepte
4.1
Konzepte
4.1.1
Warum Genetik und genetische Forschung in der Psychiatrie?
Ausgangspunkt der genetischen Analyse von äußerlichen Merkmalen ist der Nachweis familiärer Ähnlichkeit in Familienstudien. Intrafamiliäre Ähnlichkeit kann auf sozialen und psychologischen Lebensbedingungen beruhen, die Familienangehörige teilen, oder in der genetisch begründeten biologischen Ähnlichkeit. Liegt Familiarität (d. h. familiäre Ähnlichkeit) vor, ist zunächst abzuklären, ob genetische Faktoren die Ähnlichkeit vermitteln. Diese Aufgabe kann auf phänotypischer Ebene erfolgen, ohne molekulargenetische Mittel. Hierfür sind 2 Studienformen geeignet: 1. Zwillingsstudien (Nachweis genetischer Einflüsse durch systematische Variation genetischer Ähnlichkeit) und 2. Adoptionsstudien (Nachweis genetischer Einflüsse über systematische Variation von Sozialisationsbedingungen). Zwillingsstudien. Sie erlauben bei varianzanalytischen Modellannahmen die Abschätzung des relativen Anteils genetischer Einflüsse (Heritabilität) an der Gesamtmasse ätiologischer Einflussfaktoren. Eine Vielzahl solcher Studien hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher belegen können, dass alle häufigen psychischen Störungen genetisch beeinflusst sind, wobei stets auch nichtgenetische Faktoren ätiologisch relevant sind. Analoges gilt für alle psychischen Eigenschaften (z. B. Persönlichkeitsdimensionen) und für das Ausmaß der psychischen Sensitivität in Bezug auf belastende oder traumatische Ereignisse.
relativen Risiko als jeder andere nichtfamiliäre Risikofaktor verbunden (z. B. Schizophrenie oder bipolare Erkrankung). Diese globalen Kennzeichen teilen psychische Störungen mit allen häufigen Störungen in der Medizin (wie beispielsweise Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus, Morbus Crohn, Allergien). Polymorphismen. Genetische Einflüsse sind auf Polymor-
phismen (d. h. auf Positionen in der DNA, die interindividuell unterschiedlich ausgeprägt sein können) in der DNA-Sequenz spezifischer Gene zurückzuführen. Die Entdeckung dieser störungsrelevanten Gene und ihrer pathogenen Varianten ist durch molekulargenetische Methoden zunehmend möglich geworden. Das Feld der »psychiatrischen Genetik« ist mittlerweile durch molekulargenetische Methoden geprägt. Angriffspunkt für Therapeutika. Die Entdeckung von
krankheitsrelevanten Genen und die nachfolgende Aufdeckung zugrunde liegender krankheitsfördernder molekularer Mechanismen leisten nicht nur substanzielle Beiträge zur bisher weitgehend unbekannten Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen. Die dabei aufgedeckten krankheitsrelevanten Strukturen und Funktionskreise stellen vor allem Angriffspunkte für neu zu entwickelnde Therapeutika dar; diese versprechen effizientere Therapiestrategien, da sie an kausalen Mechanismen und nicht nur am symptomatischen Endprodukt ansetzen. Die Notwendigkeit der Aufdeckung solcher kausalorientierter möglicher Wirkmechanismen und ihre Umsetzung in die Medikamentenentwicklung ist angesichts der relativ hohen Chronifizierungsrate bei allen psychischen Störungen (trotz Behandlung) und der jeweils nur begrenzten therapeutischen Wirksamkeit derzeit verfügbarer Behandlungsstrategien offenkundig.
Komorbidität. Genetische krankheitsbezogene Forschung
kann bei der Aufdeckung der Ursachen für wichtige klinische Phänome gelten. Beispielhaft soll die Komorbidität, das überzufällig häufige Auftreten mehrerer häufiger Erkrankungen beim selben Individuum, betrachtet werden. Diese Konstellation ist bei allen psychischen Störungen untereinander gegeben. Eine Ursache für Komorbidität können genetische Ursachenfaktoren sein, die beiden komorbiden Störungen gemeinsam sind. Diese Konstellation wird auch tatsächlich oft angetroffen ( Abschn. 4.3). Eine Konsequenz gemeinsamer genetischer Ursachenfaktoren wäre z. B. das oft beobachtete, überzufällig häufige gemeinsame Auftreten beider Störungen in derselben biologen Familie (Kosegregation). Relatives Risiko. Bei psychischen Störungen stellt dieselbe Erkrankung bei einem monozygoten Zwillingspartner den stärksten Risikofaktor dar (Stärke definiert über relatives Risiko; Shih et al. 2004); sehr häufig ist auch bereits die Erkrankung eines Geschwisters mit einem höheren
4.1.2
Phänotypen
Genetisch beeinflusste bzw. determinierte, äußerlich beobachtete oder feststellbare Merkmale heißen Phänotypen; diese können vorübergehender (»state«) oder überdauernder (»trait«) qualitativer oder quantitativer Natur sein. Genetisch beeinflusste Phänotypen häufen sich in biologisch definierten Familien, die stets eine überzufällige Ähnlichkeit von DNA-Sequenz-Varianten zeigen. Eine zentrale Fragestellung der medizinischen Genetik ist der assoziative und der kausale (direkte) Zusammenhang zwischen DNA-Sequenzvarianten bzw. Genotypen und Phänotypen. Qualitative Phänotypen werden dabei in Fall-Kontroll-Studien untersucht, für quantitative Phänotypen sind zwei Strategien möglich: durch Vergleich der Genotyp-Verteilung zwischen Extremgruppen in der Phänotypausprägung (definiert über obere/untere Quantile des Phänotyps) oder
4
74
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Vergleich der Ausprägungen zwischen verschiedenen Genotypen.
4
Die am häufigsten verwendeten Phänotypen in der medizinischen Genetik sind Krankheitsdiagnosen, (qualitative Phänotypen) bzw. Risikofaktoren wie z. B. Persönlichkeitsfaktoren (quantitative Phänotypen). In der Psychiatrie sind diese Phänotypen in der Regel psychopathologisch oder psychologisch definiert. Phänotypen, die nicht unmittelbar beobachtbar sind, sondern zugrunde liegende, nur experimentell oder indirekt abbildbare Prozesse abbilden, heißen »intermediäre Phänotypen«. Diese sind in der Regel quantitativer Natur ( Abschn. 4.1.6). Verschiedene familiäre, genetisch beeinflusste Phänotypen können gemeinsame genetische Wurzeln haben: entweder vollständige (Phänotypen) oder teilweise Übereinstimmung (Überlappung) in den genetisch einflussreichen DNA-Sequenz-Varianten. In beiden Fällen kommt es zu einer (teilweisen) gemeinsamen familiären Übertragung (Kosegregation).
4.1.3
Gene und genetische Variabilität
Mendel postulierte bereits 1865 das hypothetische Konzept der Übertragung phänotypischer Eigenschaften zwischen Generationen über materiale Strukturen, die wir heute »Gene« nennen. Craig und Watson haben vor ca. 50 Jahren die in den Zellkernen lokalisierte DNA (auch Nukleotide genannt) als reales Substrat genetischer Information entdeckt. Die Gesamtheit der DNA-Sequenzen heißt heute Genom. Das menschliche Genom umfasst ca. 3,2×109 Basenpaare auf autosomalen 22 Chromosomen und 2 Geschlechtschromosomen. Der Chromosomensatz ist paarig aufgebaut: von jedem autosomalen Gen liegen 2 Kopien, und zusätzlich 2 Geschlechtschromosomen in jedem Zellkern vor. Das Genom ist in ca. 30.000 Genen organisiert. Gene werden als Proteine exprimiert. Gene nehmen aber nur ca. 3% des Genoms ein. Die Funktion des verbleibenden Rests (97%) ist weitgehend unbekannt; jedenfalls enthält er sog. regulatorische Sequenzen, die die Genexpression steuern (⊡ Abb. 4.1). Gene untergliedern sich in exonische Bereiche (Exone), intronische und regulatorische Bereiche (u. a. Promotorbereich). Nur Exone werden in Proteine exprimiert; es resultieren durch Mechanismen der translatio-
⊡ Abb. 4.1. Prototypischer Aufbau eines Gens
nalen Modifikation mehr als 100.000 Proteine. Die Genexpression erfolgt in 2 Stufen: die Überschreibung (Transkription) der DNA-Sequenz in die MessengerRNA; diese wird dann in Proteine transformiert (Translation) oder bleiben »unübersetzt«. Verschiedene modifizierende Prozesse (z. B. Splicing) ermöglichen, dass die Anzahl der resultierenden Proteine um ein Mehrfaches über der Anzahl der Gene liegt. Im sog. »Humangenom«-Projekt wurde die menschliche DNA-Sequenz vollständig »entziffert«. Die Erforschung der genetischen Ursprünge häufiger Erkrankungen hat damit einen enormen Aufschwung erhalten. Die Basenpaarsequenz (DNA-Sequenz) ist zwischen zwei Menschen nur dann gleich, wenn beide ein monozygotes Zwillingspaar darstellen; die DNA-Sequenz-Variabilität ist also enorm und prägt die menschliche Individualität: Variabilität bedeutet dabei das Vorliegen verschiedener Ausprägungen (Allele) in der DNA-Sequenz. Liegen 2 oder mehr Allele mit einer jeweiligen Häufigkeit 1% vor, spricht man von einem Polymorphismus. Die Kartierung von DNA-Sequenzen einer Person wird mit Genotypisierung bezeichnet; hierfür werden immer effizientere molekulargenetische Techniken entwickelt (z. B. Hochdurchsatzverfahren auf Chip-Basis). Mit dem Abschluss des Großprojektes »Hap-Map« liegt heute eine umfassende Kenntnis über die Variabilität des menschlichen Genoms vor. Insgesamt 99,9% des Genoms sind zwischen den Menschen identisch und nur 0,1% sind zwischen Menschen variabel, was immerhin 3×106 variablen Positionen entspricht. Auf diese Orte im Genom lassen sich alle genetisch begründeten Unterschiede zwischen Menschen zurückführen – dazu gehören auch Anfälligkeiten (Vulnerabilität) für Krankheiten. Nur diese 0,1% der Orte auf dem Genom können auf genetischem Weg erklären, warum manche Menschen erkranken und andere gesund bleiben. Struktur und Funktion von Genen können hier nicht näher ausgeführt werden, hierfür sei auf Lehrbücher der Humangenetik verwiesen.
4.1.4
Monogene und komplexe Störungen
Die dominanten und rezessiven Erbgänge werden heute als »einfach« benannt. Dabei muss aber nicht jeder Anlageträger den Phänotyp in vollem Umfang zeigen: die »Penetranz« kann auch unvollständig sein. Genetisch beeinflusste oder verursachte Erkrankungen, denen kein einfacher Erbgang zugrunde liegt (in Form einer rezessiven oder dominanten Übertragung mit voll- oder unvollständiger Penetranz), werden heute »komplex« genannt. »Einfache« Erbgänge werden durch Mutationen in einem Krankheitsgen verursacht; folglich spricht man von kausalen Genen. Komplexen Störungen liegen dagegen in der
75 4.1 · Konzepte
Regel mehrere Gene, meist zusammen mit nichtgenetischen Ursachenfaktoren zugrunde. In genetischer Hinsicht handelt es sich also um so genannte poly- oder oligogene Störungen. Dabei sind stets nicht nur mehrere beeinflussende Gene, sondern auch zahlreiche begünstigende Umweltfaktoren anzunehmen. Dieses Krankheitsmodell heißt auch »multifaktoriell«. Die nicht-genetischen Einflussfaktoren werden meist unter dem globalen Begriff »Umgebungsfaktoren« zusammengefasst. Diese Konstellation von »komplexer« Störung ist bei allen häufigen Erkrankungen in der Medizin gegeben: einerseits zeigen Zwillingsstudien genetische Einflüsse, andererseits fehlt (von seltenen Unterformen abgesehen) die Evidenz für einen einfachen Erbgang. Eine einzelne krankheitsassoziierte Variante in einem Gen ist bei »komplexen« Störungen nicht hinreichend, um die Störung auszulösen; andererseits können sich die zahlreichen Einfluss- bzw. Ursachenfaktoren auch gegenseitig in ihrer krankheitsinduzierenden Wirkung vertreten, sodass auch Mutationen in einem spezifischen Gen für die Krankheitsauslösung nicht notwendig sind. Die zu komplexen Störungen beitragenden Gene können über ihre pathogenen Varianten die Krankheit nicht verursachen, sondern lediglich das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Solche risikomodulierenden Gene werden (in Abgrenzung zu kausalen Genen) Suszeptibilitäts- oder Dispositionsgene genannt.
4.1.5
Genetische Heterogenität, Moderatorgene
»Genetische Heterogenität« kennzeichnet den Einfluss verschiedener genetischer Varianten auf dieselbe klinisch definierte Erkrankung. Der Begriff ist bei monogenen Erkrankungen entwickelt worden. Bei monogenen Störungen verursachen alternativ verschiedene kausale Gene über ihre Mutanten die Störung. Beispielsweise können früh beginnende Varianten der Alzheimer-Erkrankung – im Gegensatz zur spät beginnenden, häufigen Form – durch ein einzelnes Gen verursacht sein (d. h. sind monogen verursacht). Die früh beginnende ( Das vorliegende Kapitel fasst Beiträge aus der Bildgebungsforschung zusammen, die mittlerweile zu einem konsistenten Wissen gereift sind. Hierbei werden Aspekte der strukturellen, aber auch funktionellen Bildgebung berücksichtigt, um dem Leser zu ermöglichen, die Fülle an Literatur, die in den letzten Jahren entstanden ist, bzgl. ihrer Relevanz für die Ätiopathogeneseforschung psychiatrischer Erkrankungen zu bewerten. Selbstverständlich ist Wissenschaft im Fluss, trotzdem wurde versucht, darauf hinzuweisen, welche Befunde gut repliziert werden können und welche Befunde im Fluss sind oder möglicherweise im Folgenden nicht mehr repliziert werden können.
130
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
6.1
Strukturelle Bildgebung P. Falkai
6.1.1
6
Strukturbildgebung in der Psychiatrie: Von der Pneumenzophalografie zur hochauflösenden Magnetresonanztomografie
Der Wunsch des Menschen, psychische Vorgänge am menschlichen Gehirn direkt zu untersuchen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Erste systematische Untersuchungen der Hirnstruktur wurden durch die Pneumenzephalografie möglich (Jacobi u. Winkler 1927). Aber erst Huber und Mitarbeiter (Huber et al. 1961) führten mit Hilfe dieser Methode systematische Untersuchungen durch. Mit dieser sehr aufwendigen und für den Patienten sehr belastenden Untersuchung gelang es ihnen, nicht nur eine Erweiterung der Seitenventrikel − insbesondere des 3. Ventrikels − nachzuweisen, sondern einen Zusammenhang zwischen klinischem Verlauf und neuroradiologischen Befunden herzustellen. Mit der Einführung der Computertomografie (CT) in die Psychiatrie (Johnstone et al. 1976) wurde ein neues Kapitel der nichtinvasiven strukturellen Bildgebung bei psychiatrischen Krankheitsbildern eröffnet. Ihre Arbeitsgruppe konnte ebenfalls eine Erweiterung der Seitenventrikel bei Patienten mit einer chronischen Schizophrenie bestätigen (Johnstone et al. 1976). Erste Metaanalysen mit dieser Methodik (Raz u. Raz 1990) bestätigten eine für affektive und schizophrene Psychosen im gleichen Maße vorhandene Erweiterung der temporalen und peripheren Liquorräume. Mit der Einführung der strukturellen Kernspintomografie eröffnete sich die Möglichkeit, subkortikale Strukturen und hier insbesondere tempolimbische Areale zu untersuchen. Sie berechtigte die Hoffnung, das morphologische Substrat psychischer Erkrankungen besser lokalisieren zu können (z. B. Andreasen et al. 1986). Die parallel entwickelten Funktionsverfahren wie XenonCT und Positronenemissionstomografie (PET) bestätigten Dysfunktionen in umschriebenen Regionen wie z. B. dem Frontallappen bei schizophrenen Psychosen, und trugen entscheidend zur Aufklärung der Wirkungsweise von Neuroleptika auf das dopaminerge System bei (z. B. Farde et al. 1992). Die Einführung der funktionellen Kernspintomografie (fMRT) schließlich gestattete eine neue Sicht auf die funktionellen Zusammenhänge bei gesunden Probanden, aber auch Menschen mit psychischen Erkrankungen (zur Übersicht s. Schneider u. Fink 2007). Dennoch hatte auch dieses Verfahren seine methodischen Grenzen, z. B. durch die eingeschränkte Darstellbarkeit psychischer Phänomene auf der Grundlage des Blockdesigns. Dies ist zwar für umschriebene Aufgaben kognitiver oder motorischer Art unproblematisch, für chro-
nische psychische Phänomene, die sich nicht auf Abruf aktivieren lassen, jedoch schwierig. Mit der Einführung des Diffusions Tensor Imagings (DTI) gelang es, Faserverbindungen zu untersuchen und festzustellen, ob die Qualität oder Verteilung von Fasersystemen bei psychischen Erkrankungen gestört ist. Die Einführung der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) schließlich eröffnete die Möglichkeit, die zellulären Bestandteile einer gegebenen Hirnvolumeneinheit anhand von biochemischen Markern zu charakterisieren. Nach dieser Einführung in zentrale Befunde mit Hilfe des strukturellen MRTs (s-MRT), des fMRT und weitere Funktionsverfahren wie des PET sollen im Folgenden sowohl die Evidenz für die wesentlichen Befunde dargestellt und parallel die Frage erörtert werden, welche Bedeutung sie für das Verständnis der Ätiopathogenese psychischer Erkrankungen haben.
Schizophrenie Durch die mehr als 20-jährige Anwendung der strukturellen Kernspintomografie (s-MRT) in der psychiatrischen Forschung als auch Routinediagnostik verfügen wir besonders auf dem Gebiet der Schizophrenie über eine komfortable Datenlage. Zunächst sollen hier die Befunde anhand der klassischen »Region of interest«-basierten Morphometrie (ROT) dargestellt werden, um sie anschließend mit den hypothesenfreien Messmethoden [z. B. der voxelbasierten Morphometrie (VBM)] abzugleichen.
Umfassende Metaanalyse bei längerem Krankheitsverlauf Eine umfassende Metaanalyse (Wright et al. 2000) führte 58 Studien mit 1588 an einer Schizophrenie leidenden Patienten zusammen. Sie brachte eine 2%ige Reduktion des Gesamthirnvolumens bei einer gleichzeitigen 26%igen Erweiterung des Volumens der Seitenventrikel zutage. Betrachtet man regionsspezifische Befunde, so fand sich eine 6%ige bilaterale Volumenreduktion des Mandelkerns, eine 6%ige Reduktion des linken, eine 5%ige des rechten Hippokampus-Mandelkern-Komplexes sowie eine 7%ige bzw. 5%ige Reduktion des Volumens des Gyrus parahippocampalis. Die hier genannte Metaanalyse berücksichtigte insbesondere Patienten mit einem längeren Krankheitsverlauf.
Metaanalysen bei ersterkrankten Patienten In einer Metaanalyse an ersterkrankten Patienten mit einer Schizophrenie zeigte sich auf der Grundlage von 52 Querschnitts- und 16 Längsschnittsstudien bei insgesamt 465 eingeschlossenen Personen eine Reduktion des Gesamthirn- und des Hippokampusvolumens bei einer Erweiterung der Seitenventrikel (Steen et al. 2006). In einer weiteren Metaanalyse, ebenfalls an Ersterkrankten, die sich aber auf 6 Hirnregionen beschränkte, zeigte sich eine Erweiterung der Seiten- bzw. 3. Ventrikel sowie eine Vo-
131 6.1 · Strukturelle Bildgebung
lumenreduktion des Gesamthirns und des Hippokampus bei unveränderten Volumina der Temporallappen, des Mandelkerns sowie des gesamten intrakranialen Volumens (Vita et al. 2006).
Hippokampusvolumen reduziert Die sowohl bei Erst- als auch Mehrfacherkrankten somit gut replizierte bilaterale Volumenreduktion des Hippokampus wird durch eine gezielte Metaanalyse des Hippokampusvolumens selbst unterstützt (Nelson et al. 1998). Hier fand sich nämlich bei insgesamt 426 Patienten eine bilaterale 4%ige Volumenreduktion des Hippokampus, die durch den Einschluss des Mandelkerns in die Metaanalyse noch verstärkt wurde. Zieht man den hypothesenfreien Untersuchungsansatz der voxelbasierten Morphometrie (VBM) in Betracht, so zeigen sich in einer Metaanalyse von 15 Studien bei 390 eingeschlossenen Patienten Defizite der grauen und weißen Substanz in insgesamt 50 verschiedenen Regionen. Als konsistenteste Befunde erwiesen sich ein relatives Volumendefizit des linken Gyrus temporalis superior sowie des linken Temporallappens (Honea et al. 2005). Im Vergleich der regional basierten mit der voxelbasierten Morphometrie stellt sich hinsichtlich letzterer die Frage, wieso nicht der metaanalytisch gut gesicherte Befund der Ventrikelerweiterungen bzw. bilateralen Hippokampusreduktion ebenfalls nachgewiesen werden kann. Tatsächlich zeigt die voxelbasierte Morphometrie zwar am ehesten Veränderungen im Bereich des Kortex an, vermag dies allerdings nur mit einer geringeren Sensitivität auch im Bereich subkortikaler Strukturen. Für diese sind dann eher deformationsbasierte Verfahren geeignet (Gaser et al. 2001). Da die voxelbasierten Verfahren im Sinne einer Suchstrategie zu werten sind, stellt sich die Frage, inwiefern solche Befunde auch mit regionenspezifischer Morphometrie nachvollzogen werden können.
Hypothese zur gestörten Lateralisierung bekräftigen würde (Shapleske et al. 1999).
Hypothesen zur Ätiopathogenese Hinsichtlich eben dieser strukturellen Veränderungen rückt zurzeit kausal die Kombination aus 2 Prozessen − nämlich zum einen eine gestörte Hirnentwicklung, zum anderen mit Beginn der Prodromalphase der Schizophrenie ein atypisch degenerativer Prozess − als ätiopathogenetische Grundlage in den Fokus der Aufmerksamkeit: Gestörte Hirnentwicklung. Der erste Prozess ist Ausdruck
einer gestörten Hirnentwicklung, der in regionsspezifisch subtil ausgeprägte Malformationen mündet. Dies wird unterstützt durch Befunde einer unterbrochenen frontalen Kortikalisation (z. B. Falkai et al. 2006) oder einer gestörten Gyrifizierung (z. B. Vogeley et al. 2001; Falkai et al. 2006). Letztere ist dahingehend bemerkenswert, dass die Gyrifizierung ca. mit dem ersten Lebensjahr abgeschlossen ist und sich danach nicht mehr verändert. Veränderungen der Gyrifizierung führen zu einer Malkonnektion mit entsprechenden Dysfunktionen, wie das für das Williams-Syndrom oder das DeGeorge-Syndrom nachgewiesen wurde. Atypisch degenerativer Prozess. Der zweite Prozess
scheint mit den Prodromalphasen der Erkrankung, aber spätestens mit Manifestation des Vollbildes zu beginnen und in eine quasi progressive kontinuierliche Reduktion der grauen Substanz zu münden. Interessanterweise betrifft er schwerpunktmäßig frontotemporale Regionen (z. B. Falkai et al. 2004; van Haren et al. 2003). Die Vermutung ist gerechtfertigt, dass es sich hierbei um mindestens 2 unabhängige Prozesse handelt, die im Sinne einer »Double-hit-Hypothese« miteinander in Interaktion treten.
Gyrus-temporalis-superior-Volumenreduktion
»Dismaturationsprozess«. Alternativ böte sich die Hypo-
Betrachtet man nun den Befund einer Volumenreduktion des Gyrus temporalis superior mit VBM, so zeigte ein systematischer Review der Studien zwischen 1994 und 2000 neben einer Erweiterung des Ventrikelsystems eine signifikante Reduktion der grauen Substanz. Letztere war besonders ausgeprägt im Bereich des Temporallappens, des Frontallappens, des Thalamus und des Zerebellums. Im Bereich des Temporallappens waren der Hippokampus und der Gyrus temporalis superior besonders von dieser Volumenreduktion betroffen (Schmitt et al. 2001). Eine Beteiligung des Gyrus temporalis superior unterstützt ebenfalls ein quantitativer Review zum Planum temporale, einer Struktur, die ein zentraler Bestandteil dieser Region ist. Es ergab sich eine deutliche Reduktion der linksgerichteten Asymmetrie des Planum temporale bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen, was die seit vielen Jahren von Tim Crow vorgebrachte
these von einer Art Dismaturationsprozess an, der mit der Hirnentwicklung begänne und aufgrund der Defizienz relevanter Proteine die Regenerationsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigte (»Pandysmaturations-Hypothese«). Da Hinweise auf einen klassischen neurodegenerativen Prozess mit Zellverlust und einer reaktiven Gliose fehlen, käme eine Reduktion synaptischer Elemente durchaus in Frage. Eine solche Datenlage ließe sich am ehesten mit einer gestörten Synaptogenese in Verbindung bringen.
Diffusionsbildgebung und Magnetresonanzspektroskopie Neben der hier, vor allen Dingen auf Metaanalysen beruhenden Literaturlage bei der strukturellen Bildgebung, sei abschließend auf jüngst erschienene Publikationen im Bereich der Diffusionsbildgebung hingewiesen. Eine systematische Übersicht aus 19 Studien ergab diesbezüglich
6
132
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
allerdings eine noch sehr inkonsistente Datenlage, die unter anderem auf den kleinen Fallzahlen der Untersuchungsstichproben als auch methodischen Unterschieden beruht (Kanaan et al. 2005). Ähnlich stellt sich die Literatur zur Magnetresonanzspektroskopie für die Schizophrenie dar, wobei es hier einige sehr interessante Befunde zum Einfluss der neuroleptischen Medikation gibt (Braus et al. 2001).
Affektive Störungen
6
In einer systematischen Übersicht der jüngsten Veröffentlichungen zu lokalen Hirnvolumenabweichungen im Rahmen affektiver Störungen (Campbell u. McQueen 2006) fand sich bei Patienten mit einer rezidivierenden depressiven Störung eine bilaterale Hippokampusvolumenreduktion. Die Autoren bemängeln allerdings die in der Literatur inkonsistent beschriebenen Veränderungen des Mandelkerns, darüber hinaus gebe es nur wenige Literaturstellen, die Veränderungen des Frontallappens und des Striatums beschrieben. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass das Alter der Patienten, der Zeitpunkt des Krankheitsbeginns, der Verlauf der Erkrankung und die aktuelle psychotrope Medikation wichtige Einflussfaktoren auf regionale Hirnvolumenveränderungen bei Menschen mit affektiven Erkrankungen seien. In einer systematischen Literatursichtung anhand 30 relevanter Publikationen (Hajek et al. 2005) erwiesen sich für Patienten mit bipolaren Störungen Veränderungen im Bereich des Hippokampus, der weißen Substanz, der linken Hemisphäre, des Thalamus als auch des vorderen Zingulums. Darüber hinaus verfestigten sich Hinweise auf vermehrte MRI-Signalhyperintensitäten bei Patienten mit bipolaren Erkrankungen, aber auch ihren erstgradigen Angehörigen. Bereits Personen in den frühen Phasen der Erkrankung wiesen Veränderungen der Ventrikel, der weißen Substanz, des Striatums, des Mandelkerns, des Hippokampus und des subgenualen präfrontalen Kortex auf. Eine Reduktion des Volumens des subgenualen präfrontalen Kortex konnte bei Patienten mit einer familiären bipolaren Erkrankung in 3 von 4 Studien bestätigt werden. Somit scheinen sich volumetrische Veränderungen im Bereich des subgenualen präfrontalen Kortex, des Striatums, der weißen Substanz, möglicherweise auch im Bereich des Hippokampus und Mandelkerns als Vulnerabilitätsfaktoren zu qualifizieren (Hajek et al. 2005). In einer Metaanalyse zu 26 Studien mit 404 Patienten mit einer bipolaren Erkrankung fand sich eine Erweiterung des rechten Seitenventrikels, aber keine Volumenabweichung in einem anderen Areal. Ein hohes Maß an Heterogenität bestand andererseits für verschiedene Areale, darunter dem 3. Ventrikel, im linken subgenualen Anteil des präfrontalen Kortex, im Mandelkern bilateral und dem Thalamus (McDonald et al. 2004).
Hippokampusvolumen bei Depression reduziert Eine weitere Metaanalyse, die sich spezifisch dem Hippokampusvolumen bei Patienten mit Depressionen und bipolaren Störungen widmete, fand unter Berücksichtigung von 12 Studien mit insgesamt 351 Patienten eine Reduktion des Hippokampusvolumens, und zwar links um 8 und rechts um 10%, allerdings nur bei Patienten mit einer Depression und nicht bei solchen mit einer bipolaren Störung. Interessanterweise korrelierte die Anzahl depressiver Episoden signifikant mit der Volumenreduktion des rechten aber nicht linken Hippokampus (Videbech u. Ravnkilde 2004).
Weitere Veränderungen Bei Zusammenfassung der Befunde struktureller Bildgebung bei depressiven Erkrankungen und bipolaren Störungen fällt im Vergleich zur Schizophrenie eine viel dürftigere Datenlage auf, die entsprechend − auch im Rahmen von Metaanalysen − zu einem inhomogeneren Bild führt. Bislang lässt sich lediglich für unipolare Depression der Nachweis einer bilateralen Hippokampusvolumenreduktion führen, der möglicherweise mit der Zahl von Rezidiven korreliert. Eine Region, die als interessanter Kandidat gewertet werden kann, ist der subgenuale präfrontale Kortex. Inwiefern andere kortikale Areale, das Striatum oder Veränderungen des Ventrikelsystems, längerfristig eine stabile Datenlage entwickeln werden, bleibt abzuwarten. In Abgrenzung zu unipolaren Depressionen scheinen bipolare Störungen – zumindest im überwiegenden Teil der Studien – eine Vergrößerung des Mandelkerns aufzuweisen. Veränderungen des Hippokampus sind eher unwahrscheinlich, Veränderungen des Striatums bzw. vorderen Zingulums fraglich. Aber auch bei bipolaren Störungen ist der subgenuale Anteil des präfrontalen Kortex ein heißer Kandidat. Bei affektiven Erkrankungen generell finden sich Veränderungen im Mandelkern und Hippokampus, die beide zentral an der Affektmodulation beteiligt sind. Bemerkenswert ist die Korrelation der Volumenreduktion bei der unipolaren Depression mit der Zahl der Rezidive. Dies wiederum würde am besten zu denjenigen Daten passen, die eine Entkopplung der CRH-Achse bei depressiven Störungen nahelegen (z. B. Holsboer 2000), wonach die Volumenreduktion Folge eines Gewebestresses und durch die kontinuierlich hohe Anwesenheit von Kortisol zu erklären wäre. Einen abweichenden ätiopathogenetischen Ansatz scheinen die Signalhyperintensitäten sowohl bei der unipolaren Depression als auch bei bipolaren Störungen zu signalisieren. Obwohl ihre Bedeutung bislang weitgehend ungeklärt ist, gibt es Hinweise, dass Patienten mit einer überdurchschnittlichen Häufung dieser Signalhyperintensitäten ein deutlich höheres Risiko aufweisen, eine Demenz zu entwickeln. Dies passt durchaus zu einer der gegenwärtigen Diskussionen, derzufolge depressive Syndrome einen Vulnerabilitätsmarker für die spätere Ent-
133 6.1 · Strukturelle Bildgebung
wicklung eines demenzellen Syndroms darstellen können.
Demenzen In einer Metaanalyse über 125 Studien aus dem Zeitraum von 1984–2000 zu 3543 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung fand sich über alle funktionellen und strukturellen Maße, dass der Temporallappen besonders hilfreich zur Differenzierung zwischen einem demenziellen Bild und dem normalem Alterungsprozess ist (Poulin u. Zakzanis 2002). Im Bereich des Temporallappens handelt es sich hierbei schwerpunktmäßig um den Mandelkern, den Hippokampus und den inferioren Anteil des temporalen Kortex. In die gleiche Richtung tendieren strukturelle Maße des vorderen Zingulums. Eine Metaanalyse von 121 Studien zwischen 1984 und 2000 über 3511 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung konnte diesen Befund bestätigen (Zakzanis et al. 2003). Schließlich bestätigte eine Übersichtsarbeit zu Studien mit voxelbasierter Morphometrie nicht nur den Schwerpunkt von Volumenreduktionen im Bereich des Temporallappens für die Alzheimer-Erkrankung, sondern gestattet zudem eine Differenzierung degenerativer Erkrankungen vom frontotemporalen Typ (»frontotemporal lobar degeneration« = FTD; Whitwell u. Jack 2005).
Frontotemporale Demenzen Eine quantitative Metaanalyse zu frontotemporalen Demenzen zwischen den Jahren 1980 und 2005 umfasste 9 funktionelle bzw. strukturelle Studien mit 132 Patienten. Hieraus ergab sich eine spezifische Beeinträchtigung des frontomedialen Netzwerkes, außerdem waren der rechte vordere Anteil der Inselregion und der mediale Thalamus betroffen. Die Autoren schlossen, dass die Datenlage die frontotemporale Demenz im Sinne einer frontomedialen Variante der frontotemporalen lobaren Degeneration zuordnet. Diese Erkrankung scheint speziell Netzwerke zu betreffen, die mit Selbstreflexion, Theory-of-Mind-Fähigkeiten, mildem Verständnis und der Evaluation innerer mentaler Zustände, der Wahrnehmung von Schmerz und Emotionen und der Aufrechterhaltung von Persönlichkeit und Selbstwahrnehmung verbunden sind (Schröter et al. 2006).
Relevanz von Bildgebung bei der Alzheimer-Demenz Die Frage nach der Relevanz von Bildgebung in der Diagnostik der Alzheimer-Erkrankung bearbeiten folgende interessante Arbeiten. So beispielsweise eine umfassende Übersichtsarbeit zu mehr als 400 Publikationen, worin die Autoren unter Anwendung evidenzbasierter Techniken feststellten, dass die große Varianz eingesetzter Methoden zur Untersuchung des Gehirns eine konklusive, systematische Aussage erschwere. Dessen ungeachtet ergab sich aus der Literatursichtung, dass die Atrophie
des Hippokampus Patienten mit der Alzheimer-Erkrankung von gesunden Personen unterscheidet. Eine Evidenz für eine Atrophie von mediotemporalen Strukturen als diagnostischer Marker z. B. in der Untersuchung von Bevölkerungsstichproben ergaben die Daten jedoch nicht (Wahlund et al. 2005). Das Konsensuspapier der British Association for Psychopharmacology (Burns et al. 2006), die für alle gängigen Therapieverfahren Evidenzkriterien recherchiert hat, misst der Bildgebung eine Evidenz vom Grad II in dem Sinne bei, dass sie die Genauigkeit der klinischen Diagnose zu verbessern vermag. Von einer Evidenz zweiten Grades ist auszugehen, wenn in der Literatur mindestens eine methodisch saubere Studie oder eine quasi-experimentelle Untersuchung zu diesem Thema zu finden ist. Den Evidenzgrad I könnten solche Untersuchungen mangels Vorhandenseins randomisierter, kontrollierter Studien nicht erreichen. Dies wiederum würde nämlich bedeuten, dass man im diagnostischen Prozess Probanden ungeachtet der Durchführung bildgebender Untersuchungen randomisiert zuordnete. Dies ist nach dem heutigen Stand der Technik ethisch sicher nicht vertretbar. Populationsbasierte Untersuchung in Rochester. Eine
weitere Studie zum Einfluss von einer zerebrovaskulären Erkrankung auf die Ausbildung demenzieller Syndrome unterstreicht die Bedeutung der Bildgebung: Eine populationsbasierte Untersuchung zwischen den Jahren 1985 und 1989 in Rochester, Minnesota, USA sollte die Beteiligung zerebrovaskulärer Erkrankungen an der Demenz ermitteln. Es fand sich, dass 10% der identifizierten Patienten mit einer Demenz eine Verschlechterung ihres Krankheitsbildes innerhalb von 3 Monaten nach einem Schlaganfall aufwiesen, 11% der mit einer Demenz identifizierten Personen hatten eine bilaterale Läsion der grauen Substanz, die in der Bildgebung als kritisch bewertet wurde. Nur 4% der Patienten wiesen parallel beide Veränderungen auf. ! Das heißt, bei 25% der innerhalb einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe identifizierten Personen mit einer Demenz fanden sich relevante vaskuläre und nichtvaskuläre Läsionen, die zur weiteren Progression des Krankheitsbildes beitrugen (Knopman et al. 2002).
Alkoholabhängigkeit In einer sehr sorgfältigen Übersichtsarbeit, die funktionelle und auch strukturelle Bildgebung zusammenfasst, wurden die fronto-zerebellären Netzwerke als kritisch für die Alkoholabhängigkeit bewertet. Eine Schädigung dieser Netzwerke durch chronischen exzessiven Alkoholgenuss führt zur Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten, insbesondere im Bereich der Exekutivfunktionen des
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6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses. Darüber hinaus fanden sich zahlreiche motorische Defizite, schwerpunktmäßig mit ataktischem Bild (Sullivan u. Pfefferbaum 2005). Diese Auffassung bestätigt eine Untersuchung auf Grundlage der strukturell bildgebenden Verfahren, inklusive der voxelbasierten Morphometrie bei Alkoholismus und anderen Substanzabhängigkeiten. Hierin wurde ersichtlich, dass Stimulanzien bzw. der Opiatmissbrauch eher zu einer globalen Veränderung des Gehirns führen, wobei Alkoholabhängigkeit spezifisch den Frontallappen und das Kleinhirn betrifft (Lingford-Hughes et al. 2003). Eine nach wie vor aktuelle Übersichtsarbeit zur neuropathologischen Basis dieser Veränderungen setzt die Volumenreduktion des Frontallappens in Verbindung zu Veränderungen in der weißen, insbesondere aber auch der grauen Substanz. In der grauen Substanz des frontalen Kortex gibt es Hinweise auf eine Reduzierung der Neuronenzahl, aber auch eine Schrumpfung des Neuronenkörpers. Letzteres reflektiert einen Rückzug des neuronalen Dendritenbaums, der eine zentrale Rolle in der zellulären Kommunikation spielt. Darüber hinaus zeigen auch die Neurone des Zerebellums eine besondere Vulnerabilität, was mit nährstoffbedingten Defizienzen in Verbindung zu stehen scheint (Harper und Kril 1990).
kampus links um 6,9% und rechts um 6,6%. Diese Volumenunterschiede waren geringer beim Vergleich von PTSD-Patienten mit Kontrollpersonen, die im gleichen Ausmaß traumatisiert wurden, größer hingegen im Vergleich mit Kontrollen ohne Traumatisierung (Smith 2005). Zwei systematische Reviews verdeutlichen die Veränderungen bei PTSD im Bereich des Hippokampus, des Mandelkerns und verschiedener kortikaler Areale, insbesondere des vorderen Zingulums (Hull 2002; Jatzko et al. 2005). Sala und Arbeitsgruppe diskutierten in einer Übersichtsarbeit die möglichen Ursachen der Hippokampusatrophie bei depressiven Syndromen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Sala et al. 2004). Die Autoren folgerten, dass der Hippokampus eine zentrale Rolle in der Stressregulation des Menschen spiele und dabei selbst sehr empfindlich auf die neurotoxischen Effekte wiederholter stressreicher Lebensabschnitte reagiere. Tierexperimentelle Untersuchungen mit Glukokortikoiden am Hippokampus bestätigen diese Auffassung einer erhöhten Vulnerabilität von Hippokampusneuronen auf Glukokortikoide (Sapolsky 2000).
Posttraumatische Belastungsstörungen
6.1.2
In einer Serie von Metaanalysen auf der Basis von Studien mit struktur- und bildgebenden Verfahren bei Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung (»post traumatic stress disorder« = PTSD) fand sich eine bilaterale Volumenreduktion des Hippokampus im Vergleich zu Kontrollpersonen mit und ohne Traumatisierung. Personen ohne posttraumatische Belastungsstörung, die aber ein signifikantes Trauma erlitten hatten, zeigten ihrerseits im Vergleich zu Kontrollpersonen eine bilaterale Verkleinerung des Hippokampus. Des Weiteren fand sich bei Personen mit PTSD eine Volumenreduktion des linken Mandelkerns sowie des vorderen Zingulums bei Personen mit PTSD im Vergleich zu traumatisierten und nichttraumatisierten Kontrollpersonen. Untersuchungspopulationen von Kindern mit PTSD wiesen bei ihnen ein signifikant kleineres Corpus callosum sowie reduzierte Frontallappenvolumina im Vergleich zu Kontrollen nach, wohingegen sich keine Unterschiede im Volumen des Hippokampus ergaben. Die Autoren kamen zu folgenden Schlüssen: 1. Die Hippokampusvolumendifferenzen variieren mit der Schwere der PTSD, 2. Die Volumenreduktion des Hippokampus wird erst mit dem Erwachsenenalter nachweisbar, 3. PTSD führt zu Abnormalitäten in verschiedenen fronto-limbischen Strukturen (Karl et al. 2006). Ein systematischer Review und eine Metaanalyse zu 13 Studien über 215 Patienten fand bei Patienten mit PTSD eine durchschnittliche Volumenreduktion des Hippo-
Bedeutung struktureller Veränderungen bei psychischen Erkrankungen
Obwohl hirnstrukturelle Abweichungen für die Schizophrenie als auch für demenzielle Erkrankungen nach genetischen und neuropsychologischen Befunden zu den am besten replizierten neurobiologischen Resultaten gehören, werden sie von der wissenschaftlichen Gemeinde häufig als Folge der Erkrankungsbilder und somit als irrelevant für die Ätiopathogenese betrachtet. Tatsächlich gibt es für strukturelle, aber auch für funktionelle, genetische und neuropsychologische Befunde gleichermaßen intervenierende Variablen. Die Darstellung einiger wesentlicher intervenierender Variablen zur strukturellen Bildgebung soll im Folgenden die Einordnung der oben genannten Befunde erleichtern. Neben dem Alter und dem Geschlecht sind der sozioökonomische bzw. Bildungsstatus der Probanden sowie ihrer Eltern von Bedeutung. Zudem hat in den letzten Jahren unter molekularen Aspekten der Genotyp als intervenierende Variable an Gewicht gewonnen. So existiert ein beachtlicher Einfluss einzelner Genotypen wie z. B. COMTbzw. 5-HTT-Genotypen auf die Hirnstruktur, aber auch auf die Hirnfunktion bei Gesunden oder Patienten (z. B. Pezawas et al. 2005). Darüber hinaus finden sich zahlreich nichtgenetisch vermittelte umweltbedingte Faktoren, wie z. B. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, die einen additiven Effekt ausüben (z. B. McNeil et al. 2000). Auch der Krankheitsprozess selber beeinflusst z. B. bei
135 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
schizophrenen Psychosen die Gehirnmorphologie (Pantelis et al. 2005; van Haren et al. 2007), welchen aber noch weitere Noxen wie Alkohol oder Zigarettenkonsum (Gallinat et al. 2006) sowie der Einsatz von Neuroleptika (z. B. Scherk und Falkai 2004) modifizieren. Unter Berücksichtigung all dieser Variablen sollte ein Großteil der Literatur sicherlich anders bewertet werden. In den vorherigen Abschnitten galt es vor allen Dingen, metaanalytisch oder
durch systematische Übersichtsarbeiten offengelegte Befunde herauszuarbeiten. Die substanziellen Fallzahlen widerlegen Vermutungen, es handele sich hierbei um reine Artefakte der Bildgebung (z. B. Marenco u. Weinberger 2000). Zur Vermeidung falscher Schlussfolgerungen ist nichtsdestotrotz ein kritischer Umgang mit allen Befunden aus bildgebenden Verfahren angebracht, die ggf. ganze Forschungsrichtungen in die Irre leiten können.
Fazit Fasst man die Befundlage für die Schizophrenie, für affektive Störungen, Demenzen, die Alkoholabhängigkeit und für posttraumatische Belastungsstörungen zusammen, ergibt sich eine Konvergenz für tempolimbische Strukturen, namentlich den Hippokampus, den Mandelkern, den orbitofrontalen Kortex und das anteriore Zingulum. Die Fokussierung auf solche tempolimbischen Strukturen ist unter funktionellen Aspekten nachvollziehbar, da sie essenziell für die Integration des sensorischen Inputs und den damit verbundenen Abgleich bekannt abgelegter Informationen sind. Differenzielle Analysen des Läsionsmusters bei frontotemporalen Demenzen z. B. belegen, dass hierbei keineswegs nur Teilbereiche der Kognition oder Affektivität, sondern umfassende Prozesse der Selbstwahrnehmung, der Theory-ofMind-Fähigkeiten, des Monitorings innerer Zustände und der Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit betroffen sind (z. B. Schroeter et al. 2006). Metaana-
Ausblick Ist eine bessere klinische Charakterisierung der untersuchten Krankheitsbilder die Antwort auf eine Vielzahl der unzureichend zuzuordnenden Befunde? Die Verbesserung des Phänotyps könnte sicherlich einige anstehende Fragen klären. Trotzdem erscheint der klinische Phänotyp zu weit entfernt von den neurobiologischen Grundlagen, sodass seit vielen Jahren ein sog. intermediärer Phänotyp (sog. Endophänotypen, z. B. Zobel u. Maier 2004) zur Anwendung kommt. Hierbei handelt es sich um biologische Variablen, die eine pathogenetische Relevanz für das zu untersuchende Krankheitsbild haben, eine Heretabilität aufweisen, von Alters- und Krankheitsverlaufseffekten weitgehend unberührt sind und bei erstgradigen Angehörigen Werte zwischen Kontrollpersonen und den Patienten aufweisen. Eine diesbezügliche Verfeinerung des neurobiologischen Phänotyps sollte es uns erlauben, Subsyndrome biologisch besser zu definieren und mit ihren molekularen Grundlagen zu verbinden. Darüber hinaus bedarf es der Kombination verschiedener bildgebender Verfahren, um konsistente Befunde wie die
lysen lassen allerdings interessante, potenziell wegweisende Befunde statistisch gesehen als unbedeutend erscheinen. So sind Strukturen wie der Thalamus oder das Zerebellum bei der Schizophrenie von zentraler Bedeutung, bei affektiven Störungen ergibt sich im Bereich des Hypothalamus eine zunehmend interessante und mit der Endokrinologie sehr gut kompatible Datenlage (z. B. Baumann u. Bogerts 2001) und schließlich sollte bei demenziellen Erkrankungen der phasenhafte Verlauf in Betracht gezogen werden, der zu verschiedenen Zeitpunkten der Erkrankung unterschiedliche Kortikalregionen trifft (Braak et al. 2006). Die Aufdeckung einzelner klinischer Charakteristika wie des Cravings bei der Alkoholabhängigkeit (Heinz et al. 2005) oder dem Defizit bei der PTSD, traumaassoziierte Stimuli zu unterdrücken (Rauch et al. 2006), haben zu einem deutlich besseren Verständnis der Pathophysiologie und somit auch der Behandlungsoptionen dieser Krankheitsbilder geführt.
Volumenreduktion eines bestimmten Areals ätiopathogenetisch aufzuklären. Die Anwendung hochauflösender Strukturverfahren auf der Basis großer Feldstärken gestattet zum einen die reliable Untersuchung kleiner Hirnstrukturen, die ergänzt werden durch MRS- und DTI-Sequenzen. Auf diese Weise können strukturelle Veränderungen bis auf die zelluläre und Faserebene aufgeklärt werden.
6.2
Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie F. Schneider
Unter funktionell bildgebenden Verfahren versteht man allgemein Methoden, die die Aktivierung von Gehirnregionen bei bestimmten Funktionen darstellen können. Diese Funktionen können beispielsweise Motorik (z. B. Handbewegungen), Sensorik (z. B. Berührungen), Kog-
6
136
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
nitionen (z. B. Rechenaufgaben) oder Emotionen (z. B. Emotionserkennung) umfassen. Als funktionell bildgebende Methoden stehen im Wesentlichen zur Auswahl die Magnetenzephalografie (MEG), die Magnetresonanztomografie (MRT) und die Positronenemissionstomografie (PET, vgl. Kap. 6.3).
6
Jedes dieser funktionellen Verfahren hat sein spezifisches Profil im Hinblick auf Invasivität sowie räumliche und zeitliche Auflösung der Darstellung (vgl. ⊡ Tab. 6.1). Das Verfahren der Wahl ist deshalb immer in enger Abhängigkeit von der konkreten Fragestellung zu wählen. Zur Abbildung der Hirnaktivität mit einer besonders hohen zeitlichen Auflösung wäre MEG die Methode der Wahl, die PET hingegen bei dem Wunsch nach einer starken quantitativen Aussage. Gemeinsam ist diesen Methoden unter anderem, dass den Probanden standardisierte Aufgaben gegeben werden und die damit korrelierten Änderungen der Aktivität im Gehirn aufgezeichnet werden. Zum Nachweis eines statistisch signifikanten Zusammenhangs zwischen der Aufgabenbearbeitung und der spezifischen Hirnaktivität müssen die Aufgaben in der Regel mit vielen Wiederholungen präsentiert werden. Anschließend wird mit spezieller Software – für fMRT beispielsweise SPM oder BrainVoyager – die Korrelation zwischen der Aufgabenbearbeitung und den Aktivitätsänderungen im Gehirn ermittelt. Das bedeutet, dass die hier dargestellten Verfahren nicht in der Lage sind, kausale Zusammenhänge zwischen neuronalen Aktivierungen und Erleben und Verhalten nachzuweisen, sondern sich auf korrelative Aussagen beschränken. Alle hier dargestellten Verfahren werden sowohl für die Untersuchung gesunder Probanden als auch für die Untersuchung von Patienten unter anderem mit psychischen Erkrankungen eingesetzt. Der klinische Einsatz funktionell bildgebender Methoden in der klinischen Praxis ist in der Psychiatrie und Psychotherapie im Moment nur sehr begrenzt. Erste Ansätze mit klinischer Relevanz richten sich auf die Untersuchung der prognostischen Qualität neuronaler Auffälligkeiten für den Krankheitsverlauf oder für therapeutische Interventionen. ⊡ Tab. 6.1. Übersicht über die spezifischen Profile der zur Verfügung stehenden funktionell bildgebenden Verfahren
6.2.1
Magnetenzephalografie
Jede neuronale Aktivität im Gehirn geht mit Strömen einher, die Magnetfelder induzieren. Magnetenzephalografie ist die Technik, mit der die durch Hirnströme induzierten neuromagnetischen Felder gemessen werden. Da die Hirnströme und die induzierten Magnetfelder einzelner Neurone sehr klein sind, erfordert die Abbildung ihrer Aktivität eine Vielzahl hoch empfindlicher Sensoren. Zur Erfassung der Magnetfelder des ganzen Gehirns sitzen oder liegen die Probanden in einem Ganzkopf-MEG (⊡ Abb. 6.1) und werden vorrangig visuell, taktil oder auditorisch stimuliert. Aufgrund besonderer technischer Beschränkungen der Methode hat sich gezeigt, dass nicht alle Hirnareale und somit nicht alle Funktionen gleich geeignet für die Untersuchung mit MEG sind. ! Insbesondere das auditorische und taktile System lassen sich aber sehr gut erfassen. So kommt die MEG in der Psychiatrie vor allem bei der Untersuchung zur Wahrnehmung von Tönen und Sprache bei psychiatrischen Patienten zum Einsatz. Studie mit schizophrenen Patienten. Es gibt aber im All-
gemeinen eher wenige Studien mit der Methode der MEG bei psychisch Kranken. Beispielhaft sei hier eine neuere Studie von Rockstroh und Mitarbeitern mit schizophrenen Patienten erwähnt (2006). Untersucht hat die Arbeitsgruppe die schnelle Verarbeitung emotionaler vs. neutraler Stimuli. Den Probanden wurden emotionale und neutrale Bilder aus dem International Affective Picture System (Center for the Study of Emotion and Attention 1995) präsentiert. Bei den Patienten mit Schizophrenie zeigten sich geringere Unterschiede in der Veränderung der Hirnaktivität zwischen neutralen und emotionalen Reizen als bei den gesunden Probanden. Die Autoren diskutieren diese Befunde als einen Hinweis auf eine Störung der automatisierten Verarbeitung der emotionalen Bedeutung von Stimuli.
Studien mit Kombination verschiedener bildgebender Methoden In einem Versuch, die Beschränkungen der einzelnen Methoden zu überwinden, werden zunehmend Studien mit einer Kombination verschiedener bildgebender Methoden an einer einheitlichen Stichprobe mit aufeinander abgestimmten Paradigmen durchgeführt.
Verfahren
Räuml. Auflösung
Zeitl. Auflösung
Invasivität
MEG
–
++
0
Kombination von MEG und fMRT. So haben Kircher und
fMRT
+
0
0
PET
++
–
–
Kollegen (2004) MEG und fMRT in einer Untersuchung zur Mismatch Negativity bei schizophrenen Patienten kombiniert. Unter »Mismatch Negativity« versteht man die nachweisenbare Negativierung in der MEG-Aufzeich-
+ = gut; 0 = neutral; - = schlecht
137 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
⊡ Abb. 6.1a, b. a Proband in einem Ganzkopf-MEG, b schematische Darstellung der Anordnung der Sensoren im Ganzkopf-MEG. (The CTF MEG system from VSM MedTech Ltd.)
a
b
nung, wenn in einer auditorischen Präsentation vieler gleichartiger Töne einzelne Töne abweichen. Die Negativierung ist somit eine Reaktion auf die von der Norm abweichenden Stimuli. Um diese Untersuchung in MEG und fMRT vergleichbar durchführen zu können, hat die Arbeitsgruppe als Tonstimulus die Gradientengeräusche des MR-Scanners verwendet und einzelne dieser Töne in Amplitude oder Dauer von den anderen Tönen abweichen lassen. Diese Tonsequenz wurde im MR-Scanner erzeugt und den Probanden in der MEG-Untersuchung als Aufzeichnung vorgespielt. Kircher und Mitarbeiter konnten in diesem Ansatz zeigen, dass bei dem MismatchParadigma bei Patienten mit Schizophrenie nicht nur eine geringere Aktivierung auftrat, auch die übliche Hemisphärenspezialisierung war aufgehoben (⊡ Abb. 6.2). Die
Autoren deuten die gefundenen Unterschiede unter anderem in der Interaktion zwischen den Hemisphären als Korrelate von sprachbezogenen kognitiven (z. B. verbales Gedächtnis) oder psychopathologischer (Halluzinationen, formale Denkstörungen) Symptome der Schizophrenie. MEG und fMRT lassen sich allerdings nicht technisch miteinander kombinieren, sodass eine Kombination dieser Verfahren immer eine Anwendung paralleler Paradigmen mit beiden Methoden bei einer einheitlichen Stichprobe bedeutet. Unterschiede zwischen den Befunden der fMRT und der MEG können somit nicht nur den spezifischen Profilen der Methode, sondern unter Umständen zufälligen Schwankungen innerhalb der Versuchspersonen zugeschrieben werden.
6
138
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
6
a
b
c
⊡ Abb. 6.2a–d. a Design der Mismatch Negativity Studie von Kircher et al. 2004. Den Probanden wurden gleichförmige Gradientengeräusche präsentiert von denen einzelne in Amplitude oder Dauer abwichen; b bei schizophrenen Patienten (n = 11) zeigt sich als Reaktion
d
auf in der Amplitude abweichende Töne eine verringerte Aktivität verglichen mit Gesunden (c, n = 12); d zeigt die Differenz der Aktivierungen der beiden Gruppen
139 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
6.2.2
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist eine spezielle Anwendung der Magnetresonanztomografie, die anderweitig detaillerter dargestellt wird ( Kap. 25; Schneider u. Fink 2007). Die Besonderheit der funktionellen Magnetresonanztomografie besteht darin, dass sie auf der Basis der magnetischen Eigenschaften des Blutes eine Aussage über zerebrale Aktivierungen ohne die Applikation von Kontrastmitteln ermöglicht. Aus diesem Grund ist die funktionelle Magnetresonanztomografie derzeit in vielen Veröffentlichungen zu funktionellen Auffälligkeiten psychischer Störungen die Methode der ersten Wahl. Die fMRT ist ein nichtinvasives Verfahren. Die wenigen vorhandenen Kontraindikationen sind überwiegend aus dem starken Magnetfeld erklärbar. So sollten Probanden mit metallischen Implantaten nicht in diese Untersuchungen eingeschlossen werden, da das Magnetfeld die Implantate im schlimmsten Fall in ihrer Lage verändern kann, aber vor allem Implantate das Magnetfeld verändern, sodass die hier erhobenen Daten in der Regel nicht sinnvoll auswertbar sind. Die möglichen Studienparadigmen sind vielfältig und umfassen im einfachsten Fall nahezu das gesamte Spektrum der etablierten neuropsychologischen Konstrukte.
fMRT verschiedener Störungsbilder fMRT bei Schizophrenie Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe von Störungen mit unterschiedlicher Prognose. Das psychopathologische Bild ist bestimmt durch in der Regel mehrere akute Episoden, die durch chronisch residuale Zustände unterschiedlichen Ausmaßes unterbrochen werden. Für fMRT-Studien wie auch für andere funktionell bildgebende Untersuchungen, bedeutet das, dass das Studiendesign nach Möglichkeit immer eine hinsichtlich der aktuellen Phase homogene Patientenstichprobe voraussetzt und das andererseits funktionelle Befunde in aller Regel nur Aussagen über eng umgrenzte Erscheinungsbilder der schizophrenen Störung erlauben. Schizophrene Störungen führen zu Beeinträchtigungen des Affektes, der Wahrnehmung, des Denkens, des Antriebs sowie der Psychomotorik. Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen können ebenfalls betroffen sein. Das bedeutet, dass sich für funktionell bildgebende Untersuchungen eine Vielzahl von Ansatzpunkten für die Auswahl geeigneter Paradigmen ergeben. Aufmerksamkeit. Im Bereich der Aufmerksamkeit haben
beispielsweise Perlstein et al. (2003) Dysfunktionen bei Patienten im Vergleich zu Gesunden in 2 Versionen des Continuous Performance Tests untersucht. Die Patienten
wiesen hier eine auffällige Minderaktivierung des dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFK) auf. Während Gesunde jeweils eine Zunahme der Aktivierung des DLPFK mit Zunahme der Aufgabenschwierigkeit zeigten, war bei den Patienten keine Zunahme der Aktivierung zu beobachten. Nach Perlstein et al. führen somit gesteigerte Anforderungen an Arbeitsgedächtniskapazitäten nur bei Gesunden zu einer Zunahme der Aktivierung des DLPFK, nicht jedoch bei schizophrenen Patienten. Emotionsdiskrimination. Aus der Psychopathologie schi-
zophrener Erkrankungen lässt sich eine besondere Bedeutung negativer Emotionen wie Trauer, Angst und Furcht ableiten. Bei schizophrenen Patienten scheint die Fähigkeit, negative Emotionen expressiv darzustellen oder erfolgreich von neutralen oder positiven Ausdrücken zu diskriminieren, beeinträchtigt. So wiesen verschiedene Studien Beeinträchtigungen schizophrener Patienten bei der Diskriminierung emotionaler Gesichter nach (z. B. Schneider et al. 2006 a). Die neurobiologischen Grundlagen dieser vielfältigen affektiven Auffälligkeiten werden seit einigen Jahren mit zunehmender Häufigkeit untersucht. Paradigmen zur Emotionsdiskrimination werden dabei vielfältig genutzt, um emotionale Prozesse schizophrener Patienten zu untersuchen. Während fMRT-Messungen konnten konsistent Hypoaktivierungen Schizophrener während Aufgaben zur Emotionsdiskrimination vor allem in Bereichen des anterioren zingulären Kortex (Hempel et al. 2003) sowie des Amygdala-Hippokampus-Komplexes (Gur et al. 2002) demonstriert werden. Insbesondere in subkortikalen Bereichen treten allerdings methodisch bedingt unter Umständen Artefakte auf. Methodische Ansätze zur Überwindung dieser Problematik, zum Beispiel durch spezifische Anpassung der Messparamter für unterschiedliche Bereiche des Gehirns, werden mittlerweile erfolgreich eingesetzt (Stöcker et al. 2006) und verbessern somit die Abbildung von funktionellen Auffälligkeiten z. B. in der Amygdala. Auch die Bilder des International Affective Picture System (IAPS 1999) werden inzwischen vielfach zur Induktion von Emotionen genutzt. Eine Untersuchung von Takahashi et al. (2004) beschreibt auf Basis eines Paradigmas mit den Bildern der IAPS eine Minderaktivierung der Amygdala-Hippokampus-Region (⊡ Abb. 6.3) bei schizophrenen Patienten, und dies, obwohl wie bei Schneider et al. (1998) keine signifikanten Unterschiede im subjektiven Erleben zwischen Patienten und Gesunden zu beobachten waren.
fMRT bei affektiven Erkrankungen Auch bei affektiven Erkankungen stehen Beeinträchtigungen des emotionalen Erlebens und Verhaltens im Vordergrund des Krankheitsbildes. Depressive weisen häufig eine beeinträchtigte Produktion und Erkennung emotionaler Gesichtsausdrücke auf. Nach Präsentation
6
140
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
⊡ Abb. 6.3. Regionen mit
6
relativer Hypoaktivierung bei 15 schizophrenen Patienten im Vergleich zu 15 gesunden Probanden bei der Induktion von negativen Emotionen. Bei einer Studie von Takahashi et al. (2004) zeigte sich in einer Emotionsinduktion mit unangenehmen Bildern eine Minderaktivierung bei 15 schizophrenen Patienten im Vergleich zu 15 gesunden Probanden. Die Zahlen unter den Abbildungen bezeichnen die z-Koordinaten der Schnittebene nach dem Montreal Neurological Institute (MNI) Gehirn
furchtsamer Gesichter zeigen bereits junge Erkrankte im Vergleich zu gesunden Kindern eine reduzierte Aktivierung der Amygdala (Thomas et al. 2001; ⊡ Abb. 6.4). Die besondere Bedeutung der Amygdala für die Verarbeitung emotionaler Stimuli verdeutlicht ein von Aufmerksamkeit und bewusster Wahrnehmung autonomes Verarbeiten emotionaler Reize durch die Amygdala. Während bei Gesunden zunehmend fröhliche Reize zu einer linearen Aktivitätszunahme im Bereich des bilateralen fusiformen Gyrus und des rechten Putamens führen, zeigen Depressive ein nahezu gegenteiliges Muster: hier führen zunehmend traurige Reize zu zunehmend stärkeren Aktivierungen im rechten fusiformen Gyrus,
linken Putamen, sowie der linken Amygdala (Surguladze et al. 2005). Dieser Befund deutet auf ein mögliches physiologisches Korrelat negativer Kognitionen und sozialer Dysfunktion bei depressiven Patienten hin. Neben medio-temporalen Strukturen finden sich vor allem Auffälligkeiten zingulärer und orbitofrontaler Areale. Die Dysfunktion des anterioren zingulären Kortex ist als Korrelat stimmungsabhängiger Antworttendenzen depressiver Patienten interpretiert worden (George et al. 1995). Patienten weisen zudem eine deutlich verringerte Aktivität im ventralen und subgenualen zingulären Kortex während der Präsentation emotional besetzter Wörter auf. ! Bemerkenswerterweise kommt es im Bereich des anterio-medialen Frontalkortex bei Gesunden während der Präsentation fröhlicher Wörter, bei Depressiven hingegen während der Präsentation trauriger Worte zu einer Aktivitätszunahme (Elliott et al. 1995).
⊡ Abb. 6.4. Hypoaktivierung der linken Amygdala bei Patienten mit Depression bei der Präsentation furchtsamer Gesichter. (Nach Thomas et al. 2001)
Erhöhte Aktivität vor allem rechts-orbitofrontaler Areale sowie des bilateralen anterioren Temporalkortex tritt besonders bei als traurig klassifizierten emotionalen Distraktionsreizen auf. Da Patienten im Vergleich zu Gesunden häufig keine Verhaltensauffälligkeiten bei der Erkennung emotionaler Stimuli aufweisen, scheinen emotional negative Distraktoren bei Depressiven einen höheren kognitiven »Aufwand« zu erfordern, beispielsweise um falsche Antworten zu unterdrücken. Die beobachteten Aktivitätsmuster scheinen somit ein physiologisches Korrelat der häufig berichteten Schwierigkeiten dieser Patienten zu reflektieren, negativ emotionale Stimuli adäquat zu verarbeiten.
141 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
fMRT therapeutischer Interventionen Zu Beginn wurden funktionelle Bildgebung und damit auch die fMRT vornehmlich zur Charakterisierung einer funktionellen Auffälligkeit zu einem bestimmten Messzeitpunkt eingesetzt. In letzter Zeit werden zunehmend Studiendesigns präsentiert, die durch eine oder mehrere Wiederholungsmessungen eine Beurteilung einer therapeutischen Intervention oder sogar eine differenzielle Beurteilung therapeutischer Interventionen im Längsschnitt erlauben (⊡ Abb. 6.5). Im Vergleich z. B. zu der PET ist die fMRT hier vermutlich besonders geeignet, da sie nichtinvasiv ist und keine Strahlenbelastung mit sich bringt. Wiederholungsmessungen ggf. auch in großer Anzahl und relativ engen zeitlichen Abständen (z. B. 1 Woche) sind somit zumutbar. Alkoholabhängige Patienten. In einem Design mit Prä-
und Post-Messung wurde von Schneider und Mitarbeitern die Wirkung von Verhaltenstherapie und Doxepin bei alkoholabhängigen Patienten untersucht (2001). Die Patienten wurden in einer fMRT-Untersuchung mit einem alkoholischen Duft konfrontiert. Diese Duftreize,
die Craving (Suchtdruck) induzierten, führten zu einer signifikanten Hyperaktivierung der Amygdala und des Zerebellums. Diese Regionen sind beteiligt an dem aktuellen emotionalen Erleben und am emotionalen Gedächtnis (hier: Erinnerung an Konsum von Alkohol mit starker emotionaler Konnotation). In Anschluss an eine 3-wöchige Kombinationstherapie (kognitive Therapie und Gabe von Doxepin) waren bei der erneuten Induktion von Craving diese Hyperaktivierungen nicht mehr nachweisbar (⊡ Abb. 6.6). Dies kann als ein Korrelat des von den Probanden subjektiv geschilderten vermindertem Verlangen nach Alkohol während der Induktion interpretiert werden. Schizophrene Patienten. Auch bei schizophrenen Pati-
enten wurden entsprechende Therapiestudien durchgeführt. So untersuchten beispielsweise Wykes und Kollegen (2002) eine Stichprobe von Patienten mit Schizophrenie vor und nach einem 12-wöchigen kognitiven Training. Es wurden speziell exekutive Funktionen, kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis und planerische Funktionen getestet. Dazu wurden 3 Gruppen untersucht: Patienten
⊡ Abb. 6.5. Beispiel für ein mögliches Design einer Therapiestudie. In diesem Beispiel wird die Wirksamkeit eines Pharmakons in Kombination mit Verhaltenstherapie überprüft. Aus ethischen Gründen ist hier eine Kombination aus Plazebo und unspezifischer Therapie nicht indiziert
⊡ Abb. 6.6a, b. Hirnfunktionelle Aktivierungen bei alkoholabhängigen Patienten a vor und b nach einer 3-wöchigen Therapie. Das zum ersten Zeitpunkt stärkere Verlangen nach Alkohol während der Stimulation mit alkoholischen Duftreizen ist von einer Amygdala- und Zerebellumaktivierung begleitet, die zum zweiten Zeitpunkt nicht mehr nachweisbar ist. (Schneider et al. 2001)
a
b
6
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Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
mit Training, Patienten ohne Training und gesunde Personen. Bei der Patientengruppe, die das kognitive Training erhielt, war eine Verbesserung der Leistung insbesondere in Gedächtnistests feststellbar. Funktionell zeigte sich bei den Patienten eine Zunahme der Aktivierung rechts inferior frontal und bilateral okzipital vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt. Da diese Studie mit einer recht geringen Stichprobengrösse von 6 Probanden pro Gruppe durchgeführt wurde, ist eine Replizierung der Untersuchung sicher notwendig. Depressive Patienten. Zur Untersuchung des Effektes von
6
selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern haben Fu et al. (2004) depressive Patienten vor und nach einer medikamentösen Therapie mit einer emotionalen Klassifikationsaufgabe verglichen. Die Aufgabe bestand darin, das Geschlecht von präsentierten Gesichtern zu bestimmen. Diese Gesichter zeigten unterschiedliche Emotionen, sodass dieses Paradigma der Untersuchung impliziter affektiver Verarbeitung diente. Es konnte bereits in früheren Untersuchungen gezeigt werden, dass eine emotionale Verarbeitung schon zu Aktivierungen emotionaler Netzwerke im Gehirn führt, bevor eine explizite Aussage zu der Emotionalität erfolgt. Bei den Patienten in der genannten Studie zeigte sich eine verringerte Aktivierung im Bereich der linken Amygdala, des ventralen Striatums und des frontoparietalen Kortex sowie eine Aktivitätssteigerung links präfrontal. Nach erfolgreicher medikamentöser Therapie korrelierte die affektspezifische Aktivität insbesondere im prägenualen zingulären Kortex und ventralen Striatum mit dem Ausmaß des Behandlungseffektes. Ausgehend von diesen Befunden ist es eine lohnenswerte Frage für zukünftige Untersuchungen, in-
⊡ Abb. 6.7. Aufbau und Datenfluss eines fMRI Brain-ComputerInterface. Die in einem MR-Scanner gemessene hämodynamische Reaktion wird mit einer speziellen Software schnell verarbeitet und mit äußerst geringer Verzögerung dem Probanden visuell präsentiert.
wiefern neuronale Aktivierungsmuster prädiktive Qualität für das Ansprechen auf medikamentöse oder psychotherapeutische Intervention haben kann.
Therapeutische Interventionen mit Neurofeedback Es erscheint somit möglich, zerebrale Korrelate neuropsychiatrischer Erkrankungen therapeutisch zu beeinflussen. Ein recht innovativer Ansatz, der zurzeit von verschiedenen Arbeitsgruppen verfolgt wird, ist auf Basis dieser Erkenntnis die Etablierung von therapeutischen Interventionen mit Neurofeedback. In Analogie zu Biofeedback-Ansätzen wird hier Patienten mit der Methode der fMRT die neuronale Aktivität zurückgemeldet und die Patienten haben die Aufgabe mit mehr oder weniger Hilfestellung seitens des Experimentators oder Therapeuten ihre neuronale Aktivität bewusst zu manipulieren. Der Patient lernt so, Kontrolle auszuüben über unwillkürlich ablaufende, unbewusste körperliche Prozesse in Richtung eines experimentell oder therapeutisch gewünschten Ziels. Während das klassische Biofeedback zum Beispiel mit EEG recht etabliert ist, ist die Übertragung dieses Ansatzes auf die fMRT mithilfe von Echtzeitverarbeitung noch neuartig. Ein in diesem Zusammenhang häufig genannter Begriff ist die Schaffung eines Brain-Computer-Interfaces, also einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer, die hier für das Neurofeedback genutzt wird, von der man sich aber für die Zukunft noch vielfältige Anwendungsoptionen z. B. bei Personen mit körperlichen Behinderungen erhofft. Eine ausführliche technische Darstellung dieses methodischen Ansatzes findet sich z. B. bei Weiskopf et al. (2004; ⊡ Abb. 6.7).
Die Aufgabe des Probanden kann darin bestehen, die visuell zurückgemeldete lokale Aktivität hoch- oder herunterzuregulieren. (Nach Weiskopf et al. 2004)
143 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
Schwierig bei dieser Vorgehensweise ist immer die Abgrenzung zwischen therapeutischen Effekten und normalen Schwankungen zwischen den Messwiederholungen. Hierfür sollte man, soweit dies ethisch vertretbar ist, eine unbehandelte Kontrollgruppe mit entsprechender Wartezeit zwischen den Wiederholungsmessungen untersuchen.
fMRT in multizentrischen Studien Aufgrund der vielfältigen Ein- und Ausschlusskriterien hinsichtlich Komorbiditäten, Metallen im Körper etc. ist es oft schwierig, an einem einzelnen Zentrum innerhalb einer überschaubaren Zeit eine größere Anzahl an Probanden erfolgreich zu messen. Insbesondere in therapeutischen Studien mit mehreren Therapiearmen werden sehr schnell 50 oder mehr geeignete psychiatrische Patienten benötigt. Nicht zu vergessen sind die beson-ders bei dieser Studienpopulation immer wieder auftretenden Drop-outs während einer Messung und auch, z. B. aufgrund von Rückfällen, zwischen den Messzeitpunkten. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist die Durchführung von multizentrischen fMRT-Studien die es erlauben, aus verschiedenen Zentren zu rekrutieren, an verschiedenen Zentren zu messen und so die notwendige Stichprobengrösse innerhalb einer vertretbaren Zeit von beispielsweise 2 Jahren zu erreichen. Die Voraussetzung hierfür ist eine recht gute Übereinstimmung und Stabilität der Scanner-Ergebnisse, die z. B. mittels Wasserphantomen überprüft werden kann und im Allgemeinen gegeben ist. Automatisierte Qualitätssicherung. Ein Ansatz zur automatisierten Qualitätssicherung bei fMRT-Untersuchungen wurde von Stöcker et al. im Jahr 2005 beschrieben. Die Methode basiert auf einer automatischen Klassifikation der Datenqualität und der Detektion von Artefakten. Entwickelt wurde der Algorithmus anhand von Wasserphantomen, konnte dann aber auch erfolgreich an In-vivo-Daten angewendet werden. Die vorgestellte Vorgehensweise basiert auf Daten, die bereits einen standardisierten Verarbeitungsschritt hinter sich haben (Realignment) und erlaubt deshalb, für Multi-CenterStudien unverzichtbar, auch den automatisierten Vergleich von Daten, die auf Kernspintomografen unterschiedlicher Hersteller erhoben wurden. Diese Methode wurde im Rahmen eines fMRT-Teilprojektes des Kompetenznetzes Schizophrenie entwickelt. Es wurden ersterkrankte schizophrene Patienten über eine Zeitspanne von 2 Jahren therapeutisch begleitet und wiederholt unter Verwendung eines Continuous Performance Tests (CPT) kernspintomografisch untersucht (Schneider et al. 2006 b). Im Rahmen des Kompetenznetzes sollte multizentrisch eine möglichst große und homogene (Ersterkrankte Schizophrene nach Abschluss der Akutbehandlung) Stichprobe rekrutiert werden und anhand der Beobachtung des Erkankungsverlaufs eine Rückfallprädiktion anhand der funktionell magnetresonanztomo-
a
b ⊡ Abb. 6.8a, b. Neuronale Aktivität a bei gesunden Kontrollprobanden und b schizophrenen Patienten in einer Arbeitsgedächtnisaufgabe. Bei den Patienten zeigte sich eine geringere Aktivitätszunahme im Prekuneus bei der Erhöhung der Aufgabenschwierigkeit. (Schneider et al. 2006 b)
grafischen Untersuchungen entwickelt werden. Die in dieser Studie vorgestellten Patienten wiesen vor allem Hypoaktivierungen im Precuneus und Hyperaktivierungen in inferior frontalen Bereichen auf (⊡ Abb. 6.8). Somit konnte in dieser groß angelegten Stichprobe der Hinweis auf eine nicht allgemein vorliegende Minderaktivierung frontaler Areale erhärtet werden.
Ausblick: fMRT und Konnektivität Es ist unstrittig, dass die Vorgänge im Gehirn nicht isoliert zu betrachten sind, sondern immer eine räumliche
6
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6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
und zeitliche Interaktion verschiedener Gehirnareale darstellen. Insbesondere bei der Betrachtung der Schizophrenie herrscht zunehmend ein Modell einer Störung der dynamischen Interaktion verschiedener Hirnareale vor. Neue Ansätze mit der fMRT sind Konnektivitätsanalysen und das Diffusion Tensor Imaging (DTI). Man unterscheidet hier effektive und funktionelle Konnektivität. Während die effektive Konnektivität den expliziten Einfluss, den eine Hirnregion auf eine andere hat, beschreibt, versteht man unter funktioneller Konnektivität die beobachtbare Korrelation von Hirnaktivität in unterschiedlichen umschriebenen Hirnregionen (möglich bei fMRT und PET). Diese Untersuchungen zu der Konnektivität verschiedener Hirnareale wurden ursprünglich vor allem bei motorischen und sensorischen Systemen eingesetzt, da hier die interessierenden Bahnen besonders gut zu identifizieren sind. In letzter Zeit werden diese Methoden aber auch zunehmend bei psychischen Störungen eingesetzt. So fanden Schlösser und Kollegen (2006) Unterschiede in der Konnektivität bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden. Auffällig war unter anderem eine von der Art der eingesetzten Antipsychotika abhängige Veränderung der interhemisphärischen Konnektivität (⊡ Abb. 6.9), so wiesen Patienten mit atypischen Antipsychotika eine verstärkte interhemisphärische Konnektivität auf im Vergleich zu Patienten mit klassichen Neuroleptika.
Die DTI bietet die Möglichkeit, auf Basis der zufälligen Bewegung von Wassermolekülen (= Diffusion) entlang der Nervenfasern Verbindungen zwischen Hirnregionen darzustellen (= Anisotropie). Dieser Ansatz bildet speziell die weiße Substanz des Gehirns ab und erlaubt somit die Darstellung des Verlaufes von Nervernfasern. Die vergleichende Untersuchung von Gesunden und psychiatrischen Patienten kann so Aufschlüsse über spezifische Störungen der Konnektivität liefern. Die Nutzung dieser Methode bietet sich bislang vor allem bei der Betrachtung demenzieller Prozesse an. Die Zerstörung der Nervenfasern infolge demenzieller Prozesse lässt sich hier direkt nachweisen. In letzter Zeit wurde DTI-Untersuchungen z. B. aber auch bei der Schizophrenie eingesetzt. So ergibt sich auf Basis der Beobachtung, dass bei langjährig an Schizophrenie erkrankten Patienten stärkere Auffälligkeiten mittels DTI nachgewiesen werden konnten als bei ersterkrankten Patienten (Price et al. 2005) die Vermutung, dass sich eine Konnektivitätsstörung bei der Schizophrenie zumindest zum Teil erst im Laufe der Erkrankung entwickelt. Es ist aber auf jeden Fall zu beachten, dass bislang erst sehr wenige Studien mit dieser Methode zu psychiatrischen Fragestellungen vorliegen. Besondere Relevanz dürften DTI-Studien durch eine Kombination mit funktionellen Untersuchungen der an dem in Frage stehenden Netzwerk beteiligten Arealen gewinnen.
Fazit Das Forschungsbemühen mit funktionell bildgebenden Methoden in der Psychiatrie, insbesondere der fMRT, ist in den letzten Jahren massiv angestiegen. Im Interesse einer Qualitätssicherung bei dem Einsatz dieses Verfahren haben zahlreiche neurowissenschaftliche Fachgesellschaften, darunter die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) ein Curriculum fMRT herausgegeben (Schneider u. Dietrich 2005). Dieses Curriculum definiert, welche Ausbildung jemand, der selbständig fMRT-Untersuchung durchführen will, durchlaufen haben sollte und sieht nach standardisierten Prüfungen bei zertifizierten Ausbildern eine Bescheinigung über die Qualifikation vor. Für weitere bildgebende Verfahren sollen analoge Curricula in Zukunft folgen. Die hier vorgestellten Methoden sind überwiegend noch nicht sehr lange allgemein für Forschungszwecke verfügbar. Deshalb ist zu beobachten, dass die meisten bis jetzt vorgestellten Studien sehr isolierte und spezifische Fragestellungen untersucht haben. In der Zukunft ist zu erwarten, dass der Einsatz der funktionell bildgebenden Methoden verstärkt der Testung konkreter Störungsmodelle dient und dass auch metho-
denübergreifende Metaanalysen sich verstärkt auf die Entwicklung übergreifender Modelle konzentrieren. In einem derartigen Ansatz haben Phan und Mitarbeiter (2002) versucht, die Ergebnisse aus 55 Studien mit PET und fMRT zum emotionalen Erleben und Verhalten zu integrieren. Als vielfältig bei emotionalen Prozessen involviert, konnte die Arbeitsgruppe vor allem den medialen Präfrontalkortex identifizieren. Möglicherweise ist diese Struktur unabhängig von der spezifischen Aufgabe (Emotionsinduktion, Emotionsdiskrimination, emotionales Gedächtnis) von einer generellen Bedeutung für emotionale Prozesse. In der Zukunft wird sicherlich die kombinierte Untersuchung von funktionellen und strukturellen Befunden, in Zusammenhang mit Konnektivitätsanalysen und/oder genetischen Analysen zunehmen und – so ist zu hoffen – ein besseres Verständnis psychischer Störungen ermöglichen. Es ist im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich, den spezifischen Gegebenheiten des Einsatzes der fMRT in speziellen psychiatrischen Fragestellungen den ausreichenden Raum zu geben. Eine ausführlichere Darstellung findet sich beispielsweise bei Schneider u. Fink (2007).
145 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
DLPFC
DLPFC
VLPFC
VLPFC
THAL
PAR
PAR
CB
CB
Patienten > Kontrolle Patienten < Kontrolle
⊡ Abb. 6.9. Pfadmodell kortikal-subkortikal-zerebellärer Interaktionen während einer Arbeitsgedächtnisaufgabe. Patienten mit Schizophrenie und atypischen Neuroleptika weisen eine verstärkte interhemisphärische Konnektivität (grau) im Vergleich zu Patienten mit typischen Neuroleptika auf. DLPFC: dorsolateral präfrontaler Kortex; VLPFC: ventrolateral präfrontaler Kortex; PAR: parietaler Kortex; CB: Cerebellum; THAL: Thalamus. (Schlösser et al. 2006)
6.3
dung finden, haben in der Regel eine kurze Halbwertszeit (Kohlenstoff-11: 20,4 min, Sauerstoff-15: 2,07 min, Fluor18: 109,7 min). Diese Isotope eignen sich besonders zum Studium natürlicher Systeme, weil ihre stabilen Analoga Grundbausteine nahezu aller Biomoleküle und vieler Pharmaka sind. Während mit Fluor-18 markierte Radioliganden auch in PET-Zentren, die nicht über ein Zyklotron verfügen, appliziert werden können, macht die Verwendung von Tracern, die mit kurzlebigen Isotopen markiert sind, ein Zyklotron am Ort der Applikation notwendig. Demgegenüber ist wegen der langen Halbwertszeit der verwendeten Photonenstrahler (z. B. 13,22 h für Iod-131) für die Anwendung im Rahmen der SPECT ein Teilchenbeschleuniger vor Ort nicht notwendig. Auch dies macht die SPECT logistisch erheblich leichter handhabbar als die PET. Der wesentliche Vorteil, der die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren vor allen anderen modernen Methoden der funktionellen Bildgebung auszeichnet, ist ihre außerordentlich hohe Sensitivität. So erlauben PET und SPECT die Quantifizierung von Stoffmengen in einer Konzentration von 10-9 M bis 10-12 M (M = Molar; ⊡ Abb. 6.10). Damit sind sie um viele Größenordnungen sensitiver als magnetresonanztomografische Verfahren. So kann Gadolinium mit der MRT lediglich in einer Konzentration von bis zu 10-4 M quantifiziert werden. Die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) erlaubt die Bestimmung von GABA oder Glutamin sogar nur in Konzentrationen bis zu 10-3 M. Damit sind nuklearmedizinische Verfahren auf nicht absehbare Zeit die wichtigsten Werkzeuge für die neurochemische und pharmakologische
Positronenemissionstomografie und Single-Photon-EmissionsComputertomografie G. Gründer
Die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren ermöglichen die Untersuchung biochemischer und physiologischer Prozesse im lebenden Gehirn des Menschen. Dabei hat die Positronenemissionstomografie (PET) gegenüber der Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) die Vorteile der besseren räumlichen Auflösung, der besseren (absoluten) Quantifizierbarkeit sowie der wesentlich breiteren Palette an verfügbaren Radioliganden. Demgegenüber ist die SPECT wegen des geringeren apparativen und logistischen Aufwandes und der demzufolge niedrigeren Kosten breiter verfügbar. Beide Verfahren haben die Verwendung von mit einem radioaktiven Isotop markierten Radiopharmakon (»Tracer«, »Radiotracer«) gemein, die die nichtinvasive Quantifizierung von Proteinen (Rezeptoren, Transporter) bzw. deren Aktivitäten (Enzyme) im lebenden Organismus erlaubt. Radionuklide, die im Rahmen der PET Verwen-
⊡ Abb. 6.10a–f. PET-Untersuchungen gesunder menschlicher Probanden mit 2 Liganden für D2- und D3-Dopaminrezeptoren unterschiedlicher Affinität. Desmethoxyfallyprid (a–c) weist eine Ki von ca. 15 nM auf. Es erlaubt eine reliable Quantifizierung des Zielrezeptors nur im Striatum (b). Demgegenüber ermöglicht das Analogon Fallyprid (Ki = 38 pM, d–f) die Quantifizierung von D2/D3-Rezeptoren selbst in Hirnregionen mit sehr niedriger Rezeptordichte, z. B. im temporalen Kortex (d)
6
146
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
Forschung am Menschen in vivo. Darüber hinaus bieten sich mit den sich entwickelnden Möglichkeiten der Visualisierung und Quantifizierung von Signaltransduktion und Genexpression außerordentlich zukunftsweisende neue Anwendungsfelder dieser Methoden. Im Rahmen dieses Kapitels soll die Darstellung einiger Anwendungen in den Neurowissenschaften im Vordergrund stehen. Eine detailliertere Übersicht über die methodischen Grundlagen der nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren sowie umfangreichere Literaturangaben finden sich in Gründer 2008.
6.3.1
6
Untersuchungsparadigmen
Quantifizierung metabolischer Prozesse Die ersten Anwendungen der PET am Menschen waren die Quantifizierung des Glukosestoffwechsels mit radioaktiv markierter Glukose ([18F]Fluorodesoxyglukose, FDG) und die Messung des Dopaminmetabolismus mit radioaktiv markiertem DOPA (6-[18F]Fluoro-DOPA, 6[18F]FDOPA). Diese Liganden – insbesondere das für die Onkologie besonders wichtige [18F]FDG – stellen noch heute weltweit die am häufigsten verwendeten PET-Tracer dar. [18F]FDG ist ein Glukoseanalogon, das von Zellen aufgenommen wird, die Glukose verbrauchen. In den Zellen wird es durch das Enzym Hexokinase phosphoriliert. Der phosphorilierte Radioligand akkumuliert in allen stoffwechselaktiven Zellen, d. h. v. a. in der Leber, in Tumoren und im Gehirn, und hier vor allem in den Neuronen der grauen Substanz. Er eignet sich damit nicht nur für diagnostische Maßnahmen (z. B. im Rahmen der Demenzdiagnostik), sondern auch für Aktivierungstudien, die keine hohe zeitliche Auflösung erfordern. Die Quantität des Dopaminmetabolismus, gemessen mit 6-[18F]FDOPA, gilt als Maß für die Funktion und Integrität dopaminerger Neurone. 6-[18F]FDOPA wird von den dopaminergen Neuronen im Nucleus caudatus und im Putamen aufgenommen und nach rascher Umsetzung durch das Enzym Dopa-Dekarboxylase als Fluorodopamin gespeichert. Das Ausmaß der striatalen Speicherung des Liganden gilt daher auch als Maß für die Aktivität der Dopa-Dekarboxylase. PET mit 6-[18F]FDOPA wird in erster Linie genutzt, um den Verlust nigrostriataler dopaminerger Neurone im Rahmen eines Morbus Parkinson zu quantifizieren. Mit dieser Methode können sehr frühe und sogar präklinische Krankheitsstadien erkannt werden, wobei der Nucleus caudatus deutlich weniger und erst später betroffen ist als das Putamen. In der Diagnostik von Bewegungsstörungen haben allerdings in den letzten Jahren Liganden für den Dopamintransporter zunehmende Bedeutung erlangt, da die Quantifizierung des Dopamintransporters den Verlust dopaminerger Neurone mit noch höherer Sensitivität anzeigt. Zudem sind
für den Transporter SPECT-Liganden verfügbar, was ihren breiten klinischen Einsatz erheblich erleichtert. 6[18F]FDOPA wurde in den letzten Jahren in verschiedenen Arbeitsgruppen genutzt, um den Dopaminmetabolismus bei verschiedenen neuropsychiatrischen Störungen (schizophrene Störungen, Substanzabhängigkeit) zu quantifizieren (s. unten). Eine modernere Entwicklungslinie stellen Radioliganden für die Monoaminoxydase (MAO) dar. Studien an Rauchern zeigen, dass beide Isoformen der MAO bei diesen in erheblichem Umfang gehemmt werden. Studien zum Monoaminkatabolismus bei psychischen Störungen stellen interessante, bisher in keiner Weise ausgeschöpfte Anwendungsmöglichkeiten dieser Liganden dar.
Quantifizierung von Neurotransmitterrezeptoren und -transportern Bis heute wurden mehrere Hundert Radioliganden für eine Vielzahl von Rezeptoren und Transportern beschrieben. Nur die wenigsten wurden bis zur Anwendung am Menschen weiterentwickelt, und noch weniger wurden in klinischen Studien an psychiatrischen Patientenkollektiven verwendet. Die ersten PET-Liganden für Neurotransmitterrezeptoren waren im Jahre 1983 Liganden für D2-artige Dopaminrezeptoren. Neben Studien an gesunden Probanden, die eine altersabhängige Abnahme der D2-Rezeptordichte zeigten, waren Patienten mit schizophrenen Störungen die ersten Patientengruppen, die mit diesen Liganden untersucht wurden. Während eine einzelne PET-Untersuchung lediglich die Messung des sog. »Bindungspotenzials« (oder Rezeptorverfügbarkeit) erlaubt, sind für die Bestimmung von Rezeptordichte Bmax und -affinität KD mindestens 2 Untersuchungen (mit unterschiedlicher spezifischer Aktivität des Radioliganden) notwendig. Heute gilt jedoch die einfache Quantifizierung von Rezeptorverfügbarkeiten oder -dichten als wenig aufschlussreich, da sie lediglich ein statisches Bild des untersuchten Systems vermitteln. Als aussichtsreicher gelten Untersuchungen mit physiologischer, psychologischer oder pharmakologischer Stimulation, da sie Erkenntnisse über die Ansprechbarkeit des Systems liefern. Von dort ausgehend hat auch die Quantifizierung endogener Neurotransmitterkonzentrationen eine sehr große Bedeutung in der neurobiologischen PET-Forschung erlangt.
Neurotransmitterkonzentrationen Mit PET und SPECT können nicht nur die Dichten spezifischer Target-Moleküle quantifiziert werden. Diese Methoden eignen sich auch, um Neurotransmitterkonzentrationen zumindest semiquantitativ zu messen. So kann ein Rezeptorligand nicht nur dazu verwendet werden, die Dichte dieses Rezeptors zu quantifizieren, sondern auch, um die Kompetition des endogenen Neurotransmitters mit dem Liganden um die Bindung am Rezeptor zu erfassen. Der D2-artige Dopaminrezeptor gilt auch hier als pro-
147 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
totypisches System, an dem die Prinzipien der wesentlichen Untersuchungsparadigmen, die heute in den Neurowissenschaften zur Anwendung kommen, entwickelt wurden. Erwägungen, dass selektive Radioliganden für Neurotransmitterrezeptoren durch den endogenen Neurotransmitter aus ihrer Bindung an den Rezeptor verdrängt werden können, spielen schon seit Anfang der 1990er Jahre eine wesentliche Rolle bei der Interpretation der Ergebnisse von PET-Studien. Studien mit dem D2/D3-selektiven [11C]Racloprid am Menschen konnten zeigen, dass Stimulanzien wie Amphetamin oder Methylphenidat durch die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen die Bindung des Liganden reduzieren (⊡ Abb. 6.11). Diese Stimulierbarkeit dopaminerger Systeme nimmt mit dem Alter ab. In Studien an Pavianen konnte die striatale Bindung von [11C]Racloprid auch durch Pharmaka, die synaptische Dopaminkonzentrationen auf anderem Wege erhöhen, z. B. Dopaminrückaufnahmehemmer, deutlich reduziert werden (Dewey et al. 1993 a). Umgekehrt führt die Applikation von Substanzen, die synaptische Speichervesikel entleeren und damit das synaptische Dopamin vermindern, wie z. B. Reserpin, zu einer erhöhten [11C]Racloprid-Bindung. Gleiches gilt, wenn man die Dopaminsynthese durch die Gabe von α-Methyl-para-Tyrosin (AMPT) vermindert (Abi-Dargham et al. 2000). Die indirekte Messung der Veränderung synaptischer Transmitterkonzentrationen durch pharmakologische Stimulation führte schließlich in den letzten Jahren auch zu bedeutsamen Einblicken in die Pathophysiologie schizophrener Störungen (s. unten). Fast alle derartigen Untersuchungen (und auch die im folgenden Abschnitt beschriebenen) sind mit BenzamidRadioliganden durchgeführt worden. Viele andere Liganden auch für andere Neurotransmittersysteme sind nicht sensitiv gegenüber Veränderungen synaptischer Transmitterkonzentrationen. Es ist gegenwärtig unklar, welche ⊡ Abb. 6.11a, b. Inzwischen klassisches Untersuchungsparadigma zur Quantifizierung der Dopaminfreisetzung auf einen pharmakologischen Stimulus. a SPECT-Baseline-Untersuchung eines Probanden mit dem D2/D3-selektiven Radioliganden [123I]Iodobenzamid (IBZM), b nach Applikation von Amphetamin. Das Stimulans führt zu einer ausgeprägten Dopaminfreisetzung. Erhöhtes synaptisches Dopamin verdrängt den Radioliganden aus seiner Bindung am Rezeptor. Die Abnahme der Bindung des Radioliganden gilt daher als Maß für die amphetamin-induzierete Dopaminfreisetzung. (Nach Abi-Dargham et al. 1998)
a
Eigenschaften ein Radioligand aufweisen muss, um ihn für derartige Untersuchungsansätze geeignet zu machen.
Neurotransmitterinteraktionen Es sind wahrscheinlich nicht gestörte Funktionen isolierter Neurotransmittersysteme, die psychischen Störungen zugrunde liegen, sondern eher komplexe Dysregulationen verschiedener Systeme. Mit der PET können diese Interaktionen in vivo untersucht werden. Besonders intensiv studiert wurde der Einfluss von serotonergen, cholinergen, GABAergen und glutamatergen Systemen auf die dopaminerge Neurotransmission. Der muskarinische Azetylcholinrezeptorantagonist Scopolamin führt bei gesunden Probanden zu einer signifikanten Reduktion der striatalen [11C]Racloprid-Bindung (Dewey et al. 1993b). Dies wird mit einer Verminderung des exzitatorischen cholinergen Inputs auf hemmende striatale GABAerge Interneurone erklärt, was wiederum zu eine verstärkten Dopaminfreisetzung führt. Der Befund einer Erhöhung der striatalen [11C]Racloprid-Bindung durch GABAerge Substanzen wie Vigabatrin oder Lorazepam ist allerdings nicht unumstritten. Zur Verminderung der striatalen [11C]Racloprid-Bindung durch Glutamatantagonisten s. unten. Diese und andere Untersuchungen wurden auf der Grundlage der Hypothese, dass die Bindung von [11C]Racloprid und anderer Radioliganden direkt durch synaptische Transmitterkonzentrationen beeinflusst wird, interpretiert. Diese zentrale Annahme wurde kürzlich durch eine aufwändige Untersuchungsserie einer japanischen Arbeitsgruppe in Frage gestellt. Hier führte Scopolamin bei Affen nicht zu einer Veränderung striataler Dopaminkonzentrationen, wenn diese durch Mikrodialyse gemessen wurden (Tsukada et al. 2000). Dennoch wurde die striatale [11C]Racloprid-Bindung vermindert, was jedoch auf eine verminderte Affinität des D2-Rezeptors nach Gabe von Scopolamin zurückzuführen war. Dies illustriert, dass die Interpretation derartiger PET-
b
6
148
6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
Studien spezifischer psychischer Störungen
Studien zahlreichen Einflussgrößen unterliegt, die sorgfältig studiert werden müssen.
6.3.2
Arzneimittelentwicklung
Schizophrene Störungen
PET und SPECT sind zu außerordentlich wertvollen Werkzeugen in der Arzneimittelentwicklung insbesondere von Neuropsychopharmaka geworden. Sie haben zudem wesentliche Erkenntnisse über die Wirkmechanismen dieser Substanzen geliefert. Wenn Radioligand und therapeutische Substanz kompetitiv an der gleichen Zielstruktur (z. B. einem Rezeptor) binden, so liefern diese Methoden direkte Informationen über das Ausmaß der Bindung sowie über die Kinetik des Pharmakons im Zielgewebe bzw. am Zielmolekül (⊡ Abb. 6.12). Zudem können von einem Liganden zu markierende Zielmoleküle (z. B. Amyloid bei Alzheimer-Demenz) als Surrogatmarker für den Erfolg einer Therapie dienen. Als besonders wertvoll hat sich die PET bei der quantitativen Erfassung der Besetzung D2-artiger Dopaminrezeptoren durch Antipsychotika erwiesen. Das Monitoring der antipsychotischen Therapie durch Korrelation von Rezeptorbesetzungen und Dosierungen bzw. Plasmaspiegeln einerseits und klinischen Wirkungen und Nebenwirkungen andererseits hat nicht nur wertvolle Informationen über die Pharmakokinetik dieser Substanzgruppe geliefert, sondern auch ganz wesentlich zum Verständnis ihrer Wirkungsweise beigetragen (Gründer et al. 2003 a). Der Ansatz wurde in den letzten Jahren auch auf andere, insbesondere serotonerge Rezeptorsysteme, ausgedehnt. Er ist heute aus einer rationalen Arzneimittelentwicklung nicht mehr wegzudenken.
Gegenwärtige Konzeptionen zur Neurochemie schizophrener Störungen gehen davon aus, dass ein wesentlicher Anteil ihrer Phänomenologie (d. h. insbesondere Negativsymptome und kognitive Störungen) auf eine Verminderung der dopaminergen Neurotransmission in mesokortikalen dopaminergen Projektionen zurückzuführen ist und dass der hypostasierte Exzess der dopaminergen Neurotransmission in mesolimbischen Projektionen lediglich als Folge dieses basaleren Prozesses zu betrachten ist (Weinberger 1987). PET-Untersuchungen der letzten Jahre konnten dieses Konzept in wesentlichen Teilen stützen. Dabei sind jedoch die in subkortikalen Kerngebieten ablaufenden Veränderungen erheblich besser charakterisiert als die funktionalen Veränderungen im (präfrontalen) Kortex. So konnte gezeigt werden, dass Patienten mit der akuten Exazerbation einer schizophrenen Störung auf einen Amphetaminstimulus mit einer stärkeren Dopaminfreisetzung im Striatum reagieren als gesunde Kontrollprobanden (Abi-Dargham et al. 1998). Mehrere voneinander unabhängige Gruppen konnten zeigen, dass die Dopaminsynthesekapazität – gemessen mit [18F]FDOPA-PET – bei Patienten mit schizophrenen Störungen gesteigert ist (z. B. Reith et al. 1994). Die mehrwöchige Behandlung von Patienten mit einer schizophrenen Störung mit Haloperidol führt zu einer Abnahme des Dopaminmetabolismus (⊡ Abb. 6.13; Gründer et al. 2003).
⊡ Abb. 6.12a-d. PET-Untersuchung eines gesunden Probanden mit [11C]N-Methylspiperon ([11C]NMSP) zur Bestimmung der zeitlichen Dynamik der 5-HT2-Rezeptorbesetzung durch den selektiven 5-HT2Antagonisten M100907. [11C]NMSP bindet nichtselektiv sowohl an D2artige Dopaminrezeptoren als auch an 5-HT2-Rezeptoren (und in geringem Umfang auch an α1-Rezeptoren). Dabei repräsentiert die Bindung im Striatum die Bindung an D2-artige Rezeptoren, die Bindung im Kortex die Bindung an 5-HT2(und α1-)Rezeptoren (a Baseline). Nach der Baseline-Untersuchung wurde der Proband mit einer M100907-Einzeldosis behandelt und seriellen PET-Scans b nach 2, c nach 8 und d nach 24 h unterzogen. Während der gesamten Dauer bleiben die kortikalen 5-HT2-Rezeptoren zu mehr als 80% blockiert. (Nach Gründer et al. 1997)
a
b
2h
8h c
d
24 h
Baseline
149 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
⊡ Abb. 6.13a, b. PET-Untersuchungen mit dem Liganden 6-[18F]FDOPA bei Patienten mit einer schizophrenen Störung a vor und b nach 4- bis 6-wöchiger Behandlung mit Haloperidol. Dargestellt sind gemittelte Bilder der Dopaminsynthesekapazität bei 9 Patienten. Die subchronische antipsychotische Behandlung führt zu einer Reduktion des Dopaminmetabolismus. (Nach Gründer et al. 2003 b)
a
Präfrontal-subkortikale Dysregulation. In den letzten
Jahren gelang es der Gruppe um Weinberger, in tierexperimentellen Studien den in diesen Untersuchungen belegten Exzess in mesolimbischen dopaminergen Projektionen auf basalere pathophysiologische Prozesse zurückzuführen. So weisen Affen, deren medialer temporaler Kortex neonatal geschädigt wird, im Erwachsenenalter eine im Vergleich zu gesunden Tieren erhöhte Dopaminfreisetzung auf einen Amphetaminstimulus auf (Saunders et al. 1998). Tiere, denen erst im Erwachsenenalter die Läsion gesetzt wird, verhalten sich in dieser Beziehung wie gesunde Tiere. Bei Patienten mit schizophrenen Störungen korreliert die Konzentration von N-Azetylaspartat als Marker für die neuronale Integrität negativ mit der amphetamininduzierten Dopaminfreisetzung, wobei dieser Zusammenhang lediglich im dorsolateralen präfrontalen Kortex besteht (Bertolino et al. 2000). Zuletzt legen die Arbeiten von Abi-Dargham et al. (2002) einen direkten Zusammenhang zwischen kognitiven Störungen und einer verminderten dopaminergen Neurotransmission in mesokortikalen Projektionen nahe. So ist bei Patienten mit einer schizophrenen Störung, nicht jedoch bei gesunden Probanden, die Arbeitsgedächtnisleistung negativ mit der D1-Rezeptorverfügbarkeit im dorsolateralen präfrontalen Kortex korreliert (Abi-Dargham et al. 2002). Die Heraufregulation von D1-Rezeptoren wird hier als kompensatorischer, bei Schizophrenien aber insuffizienter Mechanismus für eine verminderte mesokortikale dopaminerge Neurotransmission betrachtet. Ketaminpsychose. Die Applikation des NMDA-Antago-
nisten Ketamin führt zu einer Psychose, die sich vor allem durch Negativsymptome und kognitive Störungen auszeichnet. Die Ketaminpsychose gilt daher als ein Modell für schizophrene Störungen, das vor allem dadurch be-
b
sonders attraktiv ist, dass es durch ein Transmittersystem modelliert wird, das ganz wesentlich in die Pathophysiologie schizophrener Störungen involviert zu sein scheint. Mehrere Arbeitsgruppen konnten unabhängig voneinander zeigen, dass hohe subanästhetische Dosen von Ketamin zu einer Dopaminfreisetzung im Striatum gesunder Probanden führen. Besonders interessant ist, dass die amphetaminduzierte Dopaminfreisetzung bei gesunden Probanden, denen zusätzlich Ketamin infundiert wird, ein Ausmaß erreicht, das dem bei Patienten mit schizophrenen Störungen entspricht, die lediglich Amphetamin erhalten (Kegeles et al. 2000). Man betrachtet daher die Ketaminstimulation als pharmakologisches Modell für das bei schizophrenen Störungen vermutete glutamaterge Defizit, das sekundär für die oben beschriebenen Störungen der subkortikalen dopaminergen Neurotransmission verantwortlich gemacht wird.
Affektive Störungen Ganz im Zentrum der Studien zu affektiven Störungen stand – entsprechend der immer noch in weiten Teilen akzeptierten »Monoaminhypothese« affektiver Störungen – die monoaminerge Neurotransmission. Hier liegen die meisten Studien zur Funktion serotonerger Systeme vor. Untersucht wurden vor allem 5-HT1A- und 5-HT2-Rezeptoren sowie der Serotonintransporter. Auch die Rolle dopaminerger Systeme bei depressiven Störungen wurde recht gut untersucht. In Ermangelung guter Liganden fehlen Studien zu noradrenergen Systemen fast vollständig. Besonders interessant erscheinen jedoch die jüngst publizierten Untersuchungen zur Aktivität der Monoaminoxidase A (MAO-A). Der in Post-mortem-Untersuchungen an Patienten mit depressiven Störungen und an Suizidopfern erhobene Befund einer erhöhten kortikalen 5-HT2-Rezeptordichte
6
150
6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
konnte in den vorliegenden PET- und SPECT-Untersuchungen nicht konsistent bestätigt werden. Die Mehrzahl der Studien zeigt Verminderungen oder keine Veränderung der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit, nur einzelne Studien bestätigten die vermuteten Erhöhungen der Rezeptordichte, die bei reduzierten synaptischen Serotoninkonzentrationen zu erwarten sein sollten. Während eine erniedrigte 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit in mehreren Studien durch eine erst kurz zuvor durchgeführte Behandlung mit serotonergen Antidepressiva erklärt werden kann, zeigen selbst die Studien mit einem medikationsfreien Intervall von mehr als 6 Monaten nicht konsistent Erhöhungen der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit. Meyer und Mitarbeiter haben nun vorgeschlagen, dass es nicht die Störung an sich ist, die mit der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit in Verbindung steht, sondern bestimmte psychopathologische Charakteristika (Meyer et al. 2003). Sie fanden eine hochsignifikante positive Korrelation zwischen kortikaler 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit und dysfunktionalen Einstellungen der Patienten; Patienten mit dem höchsten Grad an Pessimismus wiesen die höchste 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit, insbesondere im präfrontalen Kortex (Brodman Area 9) auf. Ähnliche Befunde fand die gleiche Arbeitsgruppe auch hinsichtlich der Verfügbarkeit des Serotonintransporters. Während sich in einem Gruppenvergleich kein Unterschied zwischen depressiven Patienten und gesunden Kontrollen fand, wiesen die Patienten mit den ausgeprägtesten dysfunktionalen Einstellungen die höchste Serotonintransporterverfügbarkeit auf (Meyer et al. 2004). Damit ist nicht nur widerlegt, dass ein bei depressiven Störungen vermutetes serotonerges Defizit auf eine Degeneration serotonerger Neurone zurückzuführen ist; die Befunde legen eher nahe, dass die Überexpression von Serotonintransportern einem solchen Defizit zugrunde liegen könnte. Auch Befunde zur dopaminergen Neurotransmission legen nahe, dass die gestörte Neurochemie bei depressiven Störungen weniger mit der nosologischen Entität »Depression« in Beziehung zu setzen ist als vielmehr mit bestimmten Charakteristika dieser Erkrankungen. So weisen depressive Patienten mit einer motorischen Hemmung eine erhöhte D2-Rezeptorverfügbarkeit im Putamen auf, was nach heutigen Modellen auf verminderte synaptische Dopaminkonzentrationen in dieser Hirnstruktur hinweist (Meyer et al. 2006 a). Besonders interessant erscheint der jüngst publizierte Befund einer erhöhten Verfügbarkeit der MAO-A bei Patienten mit einer depressiven Störung (Meyer et al. 2006 b; ⊡ Abb. 6.14). Für die Autoren könnte dieser Befund die Haupterklärung für ein vermutetes monoaminerges Defizit bei depressiven Störungen sein. Gegen so monokausale und mechanistische Erklärungsmodelle allerdings spricht z. B. der Befund, dass Nikotin zu einer ausgeprägten Hemmung der MAO-A führt.
Suchterkrankungen Substanzabhängigkeiten stellen die Gruppe von Störungen dar, in deren Neurobiologie nuklearmedizinische bildgebende Verfahren in den letzten Jahren besonders tiefe Einblicke ermöglicht haben. Zentraler Mechanismus aller Substanzen, die zu einer Sucht führen können, ist die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen im Belohnungssystem des Gehirns, d. h. insbesondere in temporolimbischen Hirnstrukturen. Während man früher den Neurotransmitter Dopamin lediglich als Vermittler von Belohnung (»reward«) ansah, gilt er heute als Modulator der Bedeutung (»salience«) von Reizen, der auch in Phänomene wie Motivation, die Prädiktion von Belohnung bzw. deren Ausbleibens sowie die Gedächtnisbildung salienter Ereignisse involviert ist. Zudem weiß man heute, dass auch präfrontal-kortikale Strukturen, der insuläre Kortex sowie der Thalamus die langfristigen Substanzwirkungen modulieren. Präklinische Befunde, die zeigen, dass abhängigkeitserzeugende Substanzen zu einer sehr ausgeprägten Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens, einer zentralen Struktur des zerebralen Belohungssystems, führen, konnten durch PET-Studien am Menschen sehr klar bestätigt werden (⊡ Abb. 6.11). So korreliert die durch (dopaminomimetische) Stimulanzien wie Kokain induzierte Dopaminfreisetzung mit dem von gesunden Probanden erlebten »High« nach Applikation der Substanz und dem Ausmaß der Dopamintransporterbesetzung durch die Droge (Volkow et al. 1997). Unabhängig von der missbrauchten Substanz ist bei Patienten mit einer Substanzabhängigkeit die D2-Rezeptorverfügbarkeit im ventralen Striatum vermindert. Gleichzeitig ist bei diesen Patienten – und auch das offenbar unabhängig von der Substanz – die Dopaminfreisetzung auf ein Stimulans deutlich vermindert bzw. sogar aufgehoben (Martinez et al. 2005). Beide Veränderungen zusammen werden als neurobiologisches Substrat einer verminderten Sensitivität gegenüber verstärkenden Substanzen aufgefasst. Dabei scheint das Verlangen nach Alkohol (»Craving«) das subjektiv erlebte Korrelat dieser reduzierten dopaminergen Sensitivität zu sein (Heinz et al. 2004). Zudem weisen Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit eine erhöhte μ-Opiatrezeptorverfügbarkeit auf, die bei jenen Patienten mit dem ausgeprägtesten Craving am deutlichsten ist (⊡ Abb. 6.15; Heinz et al. 2005). Andere Studien weisen auf komplexe Interaktionen auch mit weiteren, insbesondere GABAergen und glutamatergen, Transmittersystemen hin. Die Aktivität dopaminerger Systeme könnte auch einen Teil der Vulnerabilität für Substanzabhängigkeiten darstellen. So erleben gesunde Probanden mit der niedrigsten striatalen D2-Rezeptorverfügbarkeit die stärksten positiven Wirkungen nach Applikation von Methylphenidat. Neueste Befunde deuten an, dass die Söhne alkoholabhängiger Väter ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit haben, wenn sie eine hohe stria-
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151 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
Präfrontaler Kortex
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35 30
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Aktivität [kBq/ml]
Aktivität [kBq/ml]
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Thalamus
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0
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Zeit [min]
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100
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Aktivität [kBq/ml]
Aktivität [kBq/ml]
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Temporaler Kortex
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5
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Zeit [min]
Anterior Cingulärer Kortex
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20
15
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60
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Zeit [min]
⊡ Abb. 6.14. PET-Untersuchungen mit dem Liganden [11C]Harmin, mit dem die Verfügbarkeit der MAO-A quantifiziert werden kann. Typische, die Gesamtkollektive gut repräsentierende Zeit-Aktivitäts-Kurven eines depressiven Patienten (geschlossene Kreise) und eines gesunden Pro-
tale D2-Rezeptorverfügbarkeit aufweisen (Volkow et al. 2006). Studien zur Modulation der D2-Rezeptorverfügbarkeit durch Stress oder die Stellung in der sozialen Hierarchie zeigen, dass sich die Interaktion zwischen biologischer, genetisch determinierter Vulnerabilität und verschiedenen Umweltfaktoren auch mit nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren darstellen lässt. Schließlich wurde die PET in den letzten Jahren auch eingesetzt, um die biologischen Wirkungen von Entwöhnungs- und Anti-Craving-Substanzen zu untersuchen. Dies ist ein sich entwickelndes Feld, das wahrscheinlich in Zukunft erhebliche Bedeutung erlangen wird.
Demenzielle Syndrome Im Unterschied zu allen bisher diskutierten Störungen stellt die PET bei demenziellen Syndromen bisher nicht
0
0
20
40
60
Zeit [min] banden (offene Kreise) in verschiedenen, repräsentativen Hirnregionen. Der Befund illustriert die ubiquitär erhöhte Verfügbarkeit des Enzyms. (Nach Meyer et al. 2006 b)
ausschließlich ein Forschungs-, sondern auch und in erster Linie ein diagnostisches Werkzeug dar. Dabei ist die PET mit [18F]FDG eine klassische Anwendung mit hoher Sensitivität und Spezifität in der Früh- und Differenzialdiagnostik demenzieller Syndrome. So findet sich z. B. bei der Demenz vom Alzheimer-Typ der klassische Befund einer Reduktion des Glukosemetabolismus in parietookzipitalen Hirnregionen. In den letzten Jahren wurden Radioliganden entwickelt, die spezifisch an Amyloid-β-Peptid binden. Unter den verschiedenen Entwicklungsstrategien hat sich die radioaktive Markierung der Farbstoffe Kongorot oder Thioflavin als derzeit am aussichtsreichsten erwiesen. Bei Patienten mit Demenz vom AlzheimerTyp und mit leichter kognitiver Störung (MCI) wurden [18F]FDDNP und [11C]PIB evaluiert. Dabei finden sich erheblich höhere Anreicherungen bei Patienten mit Alzhei-
152
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
Die Untersuchung der endogenen Genexpression, wie sie in der neuropsychiatrischen Forschung besonders wichtig wäre, wird daher noch viele Jahre experimenteller Vorarbeiten erfordern.
Literatur Zu Abschn. 6.1 a
b
c
d
6
⊡ Abb. 6.15a–d. PET-Untersuchungen von a/c Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit im Vergleich zu b/d gesunden Probanden mit dem Radioliganden [11C]Carfentanil. Dieser Ligand bindet selektiv an μ-Opiatrezeptoren. Sowohl der a transversale als auch der c koronare Schnitt zeigt deutlich die erhöhte μ-Opiatrezeptorverfügbarkeit bei der Patientengruppe im Vergleich zu den gesunden Probanden (b, d). (Nach Heinz et al. 2005)
mer-Demenz, Patienten mit MCI weisen intermediäre Werte auf. Dabei bietet das Amyoid-Imaging eine höhere Trennschärfe zwischen den diagnostischen Gruppen als die PET mit [18F]FDG und die MRT (Small et al. 2006). Diese Methoden wird man in der Zukunft zum Monitoring prophylaktischer und insbesondere pharmakotherapeutischer Maßnahmen nutzen.
6.3.3
Ausblick
Im Zentrum nahezu aller bisher durchgeführten PETbzw. SPECT-Untersuchungen stand die Quantifizierung synaptischer Moleküle und Prozesse. Diese Untersuchungen können jedoch wahrscheinlich nur oberflächliche Phänomene der Neurochemie psychischer Störungen beschreiben. Daher gehen wesentliche Entwicklungen der nächsten Jahre in die Richtung der Beschreibung von Signaltransduktionskaskaden und noch einen Schritt darüber hinaus, zur Quantifizierung der Genexpression. Die existierenden Methoden wurden in der onkologischen Forschung entwickelt. Die in der Onkologie mit großem Erfolg eingesetzten Strategien sind in den Neurowissenschaften allerdings nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten umsetzbar, weil die Blut-Hirn-Schranke einen Übertritt der Radiotracer in das ZNS vielfach verhindert.
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6
154
6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
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6
7 7 Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen P. Riederer, W. E. Müller, A. Eckert, J. Thome
7.1
Einleitung
– 158
7.2
Grundprinzipien der Neurotransmission – 158
7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren – 159 Neurotransmitter – 159 Rezeptoren – 162 Neurotransmitterrezeptorsysteme – 164 Signaltransduktion – 170 Transkriptionskopplung – 174
7.4
Neuroanatomische Aspekte – 177
7.5
7.5.3 7.5.4 7.5.5
Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen – 177 Demenz vom Alzheimer-Typ – 179 Depressionen (manisch-depressive Erkrankungen) – 179 Schizophrene Psychosen – 180 Angsterkrankungen – 181 Persönlichkeitseigenschaften – 181
7.6
Probleme der Forschung – 182
7.5.1 7.5.2
Literatur
– 183
> > Die Rolle von Neurotransmittersystemen in der Physiologie der Gehirnfunktionen ist ebenso unbestritten wie deren Beteiligung an pathologischen Veränderungen, die letztlich zu den Symptomen psychischer Krankheiten führen. Neurotransmitterhypothesen psychischer Störungen sind sowohl in der Pathogeneseforschung als auch in der Psychopharmakotherapie Ausgangspunkte der wissenschaftlichen Bemühungen um ein besseres Verständnis der neurobiochemischen Grundlagen psychischer Erkrankungen. Einfache Monotransmitterhypothesen haben adäquateren Gleichgewichtstheorien weichen müssen, die von einer komplizierten Interaktion der verschiedensten Neurotransmitter ausgehen, neuroanatomische Strukturierungen (»funktionelle Systeme«) berücksichtigen und auch Effekte in die Überlegungen miteinbeziehen, die über die reine Synapsenwirkung hinausgehen (Signaltransduktoren, Transkriptionsfaktoren etc.). Die Neurotransmittersysteme des Gehirns sind so komplex, dass bislang nur die Grundzüge ihrer Funktionsweisen bekannt sind. Es wäre vermessen anzunehmen, dass aus der Kenntnis dieser Prozesse ein Verständnis der menschlichen Psyche erwachsen könnte. Die Tatsache, dass Störungen der Neurotransmittersysteme eine Grundlage psychischer Erkrankungen darstellen können, darf nicht dazu führen, hierin die alleinige Ursache psychischer Störungen zu erblicken. Ein solcher einseitiger reduktionistischer und simplifizierender Biologismus wird weder im wissenschaftlichen Sinn dem komplexen System der menschlichen Psyche noch im ärztlichen Sinn den Bedürfnissen psychisch kranker Patienten gerecht. Erst in der interdisziplinären Verbindung mit neuroanatomischen, neuropsychologischen und klassisch-klinischen, psychopathologischen Bemühungen können neurobiochemische Hypothesen wie die Neurotransmittertheorien dazu beitragen, psychische Störungen besser zu verstehen und optimierte therapeutische Strategien zu entwickeln.
158
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
7.1
Einleitung
Die Neurotransmission ist innerhalb der biologischen Psychiatrie in zweierlei Hinsicht von Interesse: Einerseits bietet sie Zugang zu einem tieferen Einblick in die ätiopathogenetischen Bedingungen, die zum Entstehen psychischer Erkrankungen führen, andererseits bildet sie einen wichtigen Ansatzpunkt für pharmakotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung dieser Krankheiten.
Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem
7
Das menschliche Gehirn besteht schätzungsweise aus über 100 Mrd. Zellen (Neuronen und Gliazellen) mit unterschiedlicher und außerordentlich vielgestaltiger Morphologie, Biochemie und Funktion. Die Hauptaufgabe des Zentralnervensystems (ZNS) besteht in der Rezeption sensorischer Eindrücke, ihrer Speicherung, Auswertung und Analyse, der Generierung von Denkinhalten sowie der Initiation von aktiven Handlungsabläufen und Reaktionen, denen der menschliche Geist auf vielfältige Art und Weise Ausdruck verleihen kann. Grundvoraussetzung für diese komplizierten und komplexen zentralnervösen Prozesse ist die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung. Diese findet an umschriebenen Orten des Neuronengeflechts statt, den Synapsen, wobei jede Nervenzelle etwa 10.000 unterschiedliche Synapsen trägt, sodass jede Nervenzelle von sehr vielen unterschiedlichen Neurotransmittern erreicht, aber auch die Aktivität eines einzelnen Neurons über seine Synapsen auf sehr viele andere Neurone weitergegeben wird. Diese komplexe Verschaltung der einzelnen Neurone gilt schon für den früher angenommenen Fall, dass jedes Neuron an seinen Synapsen nur einen einzigen Transmitter freisetzt (Dale-Prinzip). Die Komplexität wird aber noch dadurch vergrößert, dass viele Neurone nicht nur einen einzigen Transmitter freisetzen, sondern an ihren Synapsen neben einem primären Transmitter auch noch unter bestimmten Bedingungen einen sekundären Transmitter freisetzen können. Diese Nervenzellkonnektionen ermöglichen die interneuronale Kommunikation mittels chemischer Substanzen, den spezifisch an Rezeptoren bindenden Neurotransmittern. Jedes Neuron kann Tausende von Synapsen bilden. Daher wird die Gesamtzahl der Synapsen im ZNS auf mehrere hundert Billionen geschätzt.
Störungen der Informationsverarbeitung Störungen der Informationsverarbeitungsprozesse des ZNS, wie sie in typischer Weise bei psychischen Erkrankungen auftreten, müssen in enger Beziehung zu Alterationen der synaptischen Einheiten als morphologische und funktionelle Elemente der interneuronalen Kommunikation stehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass
synaptische Veränderungen unbedingt auch ursächlich für die klinischen Erscheinungsformen neuropsychiatrischer Störungen verantwortlich sind. Eine gestörte Neurotransmission kann durchaus auch ein untergeordnetes Phänomen innerhalb einer pathogenetischen Kaskade sein, die ihren Ursprung an ganz anderer Stelle nimmt (z. B. Keimbahn bei hereditären Erkrankungen, extrazerebrale Lokalisation bei sog. exogenen Reaktionstypen etc.). Dennoch stellt das Verständnis der bei neuropsychiatrischen Erkrankungen auftretenden Veränderungen der synaptischen Neurotransmission einen wesentlichen Fortschritt in der Erkenntnis der Ätiopathogenese dieser Krankheiten dar. Darüber hinaus bildet es den Ausgangspunkt für bereits praktizierte und zukünftig mögliche pharmakotherapeutische Behandlungsstrategien.
Grundlagenforschung Die moderne biologische Psychiatrie als Grundlagenwissenschaft hat von der Untersuchung synaptischer Prozesse ihren Ausgang genommen und über die Entwicklung modifizierender Substanzen – Psychopharmaka – erheblichen Einfluss auf die klinisch-psychiatrische Praxis genommen. Derzeit jedoch erweitert sich das Spektrum der Forschungsbemühungen und in das Zentrum des Interesses rücken immer mehr auch intrazelluläre Signaltransduktionsmechanismen diesseits und jenseits der Synapse. Die moderne Molekularbiologie liefert die Werkzeuge zur Erforschung dieser bislang unzugänglichen Bereiche zentralnervöser Funktionssysteme. Hieraus werden sich in den nächsten Jahren vermutlich neue Erkenntnisse hinsichtlich Pathophysiologie, Diagnostik und möglicher Therapiestrategien neuropsychiatrischer Erkrankungen ergeben.
7.2
Grundprinzipien der Neurotransmission
Der Grundaufbau eines Neurons besteht aus dem Zellkörper (Soma), seinen Fortsätzen (Dendriten) sowie dem Axon. Die meist mehrfach vorhandenen Dendriten vermitteln in der Regel afferente Signale (»input«), während das üblicherweise singuläre, oft extrem lange Axon für die Signalefferenz verantwortlich ist (»output«) und an seiner Endigung (Axonterminal) die Information synaptisch auf die nächste Nervenzelle überträgt. Typisches Merkmal der Neurone ist ihre elektrische Erregbarkeit, die ihnen Kommunikation und Informationsverarbeitung erst ermöglicht. Transmembranäre Ionenseparationsvorgänge sorgen dafür, dass Nervenzellen auf ihrer Membraninnenseite negativ geladen sind. Ionenkanäle und Ionenpumpen ermöglichen die Aufrechterhaltung dieses Ruhepotenzials. Neurotransmitter können dieses elektrische Potenzial verändern: Exzitato-
7
159 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
rische Transmitter lösen eine Depolarisation aus; ab einem bestimmten Schwellenwert wird das sog. Aktionspotenzial erreicht. Inhibitorische Transmitter führen im Gegensatz dazu zu einer Hyperpolarisation der Neuronenmembran. Das Aktionspotenzial wandert am Axon entlang und depolarisiert die Plasmamembran an den präsynaptischen Terminalen. Dies wiederum ermöglicht die Freisetzung von Neurotransmittern und damit über deren postsynaptische Rezeptorbindung die Kommunikation mit dem nächsten Neuron (⊡ Abb. 7.1). Rezeptoren besitzen 2 Hauptaufgaben: Bindung und Erkennung des jeweils spezifischen Transmitters, Aktivierung des Effektorneurons. Durch die Transmitter-Rezeptor-Interaktion kommt es zu Konformationsveränderungen des Rezeptors, die in der Regel zu einer Alteration des Ionenstroms führen. Hieraus resultieren Potenzialveränderungen am Effektorneuron. Sogenannte »second-messenger«-gekoppelte Rezeptoren lösen nach Transmitterbindung eine Signaltransduktionskaskade aus, durch die einerseits indirekt ebenfalls Ionenkanäle gesteuert werden können, die aber andererseits auch eine Aktivierung von Transkriptionsfaktoren verursachen kann, die ihrerseits die Expression bestimmter Proteine modulieren.
7.3
Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Man schätzt, dass 50–100 verschiedene Moleküle Neurotransmittereigenschaften besitzen und zur chemischen Signalübertragung an Synapsen beitragen. Klassischerweise erfolgen diese Nervenzellkontakte von einem Axon (präsynaptisch) auf einen Dendriten oder das Soma eines nachgeschalteten Neurons (postsynaptisch): axodendritisch oder axosomatisch. Es kommen aber auch axoaxonische, dendroaxonische und dendrodendritische Synapsen sowie Autorezeptoren vor. Letztere sorgen für »retrograden« Informa-
⊡ Abb. 7.1. Grundprinzipien der Neurotransmission (stark vereinfachtes Schema)
tionsfluss und stellen wichtige Feedback-Mechanismen dar. Darüber hinaus kommen bei einem Neuron auch Kombinationen verschiedener Synapsentypen vor. Die Synapsentransmission erfolgt meist chemisch, d. h. durch Vermittlung von Neurotransmittern. Es gibt allerdings auch eine elektrische Neurotransmission, die ohne Intervention eines Transmitters funktioniert. Die Depolarisationswelle des Aktionspotenzials kann in solchen Fällen über sog. »gap junctions« direkt von Neuron zu Neuron wandern. Zunächst nahm man an, dass solche elektrischen Synapsen relativ selten sind und eher eine Ausnahme darstellen. Gegenwärtig häufen sich jedoch die Hinweise darauf, dass sie im ZNS sehr viel häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. Die Rolle elektrischer Synapsen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen ist bislang nicht zuletzt auch aufgrund methodischer Probleme kaum erforscht. In diesem Kapitel soll ausschließlich auf chemische Synapsen mit ihren Neurotransmittern und Rezeptoren näher eingegangen werden.
7.3.1
Neurotransmitter
Ein Neurotransmitter ist definiert als chemische Substanz, die in einem Neuron synthetisiert und von ihm als Antwort auf einen elektrischen Impuls freigesetzt wird. Er wirkt an einem anderen Neuron, indem er dessen elektrische Eigenschaften verändert (de- oder hyperpolarisiert). Die Neurotransmission wird demnach durch folgende wesentliche Faktoren charakterisiert: Synthese des Neurotransmitters in der Zelle, Speicherung, Freisetzung, Rezeptorwirkung, Entfernung aus dem synaptischen Spalt durch Wiederaufnahme bzw. Abbau. In ⊡ Tab. 7.1 werden die wichtigsten Neurotransmitter zusammengefasst. Aminosäuren. Zu den wichtigsten und häufigsten Neuro-
transmittern des ZNS zählen Aminosäuren wie Glutamat (depolarisierend-exzitatorisch) oder Glyzin und GABA (Gamma-Aminobuttersäure, hyperpolarisierend-inhibitorisch). Diese 3 Neurotransmitter kommen schätzungs-
Aktionspotenzial Potenzialveränderungen
160
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 7.1. Eigenschaften genau umschriebener Neurotransmittersysteme
7
Neurotransmitter
Vorstufen
Synthetische Enzyme
Mittel zur Beendigung der Wirkung
Rezeptoren
Agonisten
Antagonisten
Azetylcholin
Cholin; Azetat
Cholin-Azetyltransferase
Azetylcholinesterase
Nikotinisch; muskarinisch M1, M2, M3
Karbamoylcholin; Nikotin (nikotinisch); Muskarin (nikotinisch); Oxotremorin (muskarinisch)
α-Bungarotoxin (nikotinisch); Tubokurarin (nikotinisch); Atropin (muskarinisch); Pirenzepin (M1); Scopolamin (muskarinisch)
Dopamin
Tyrosin
Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Dekarboxylase
Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyd-dehydrogenase; Katechol-O-Methyltransferase
D1; D2
Apomorphin; 6,7-Dihydroxyaminotetralin (ADTN)
SCH23390 (D1); Domperidon (D2); Sulpirid (D2)
Exzitatorische Aminosäuren (Glutamat, Aspartat)
Glutamin; 2-Oxoglutarat
Glutaminase; Aspertataminound Ornithinaminotransferasen
Aufnahme; Glutaminsynthetase (glial); Oxidation (neuronal)
NMDA; AMPA; KA; L-AP4; ACPD
NMDA; AMPA, Quisqualat (AMPA); KA (KA); L-AP4 (L-AP4); Quisqualat; ACPD (ACPD)
MK801 (NMDA); CPP (NMDA); CNQX (AMPA und KA)
GABA
Glutamat
Glutaminsäuredekarboxylase
Aufnahme; GABA Aminotransferase; BernsteinsäureSemialdehyddehydrogenase
GABAA; GABAB
Muscimol (GABAA); Baclofen (GABAB); Benzodiazepine (modulieren GABAA)
Bicucullin (GABAA)
Glyzin
Serin
Serinhydroxymethyltransferase
Aufnahme
Glyzin
Glyzin
Strychnin
Histamin
Histidin
Histidindekarboxylase
Histaminmethyltransferase; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase
H1; H2; H3
2-Methylhistamin (H1); 4-Methylhistamin (H2); Dimaprit (H2); N-Methylhistamin (H3)
Mepyramin (H1); Cimetidin (H2); Ranitidin (H2); Thioperamid (H3)
5-Hydroxytryptamine
Tryptophan
Tryptophan-5Hydroxylase; aromatische L-AminosäureDekarboxylase
Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase
5-HT1; Untergruppen; A–D; 5-HT2; 5-HT3
80H-DPAT und Spiroxatrin (5-HT1A); Sumatriptan (5-HT1D); LSD (5-HT1C und 5HT2)
Spiperon (5-HT1A und 5-HT2); Cyanopindolol (5-HT1B); Ketanserin, Mianserin und Mesulergin (5-HT1C und 5-HT2); Ondansetron (5-HT3)
NoradrenaIin/Adrenalin
Tyrosin
Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase; Dopamin-β-Hydroxylase (Noradrenalin) (NMethyltransferase; Adrenalin)
Aufnahme; Monoaminoxidase; Katechol-O-Methyltransferase; Aldehyddehydrogenase
α1; α2; β1; β2
Isoprenalin (β); Methoxamm (α); Clonidin (α2)
Prazosin (α1); Idazoxan (α2); Propranolol (β)
Enkephalin/ Endorphin, Dynorphin
–
Enzyme der Eiweißsynthese
Neuropeptidasen
κ, μ, δ
Enkephaline (δ); β-Endorphin (μ, δ); Dynorphin (κ); Morphin (μ)
Naloxon
Die Informationen sind keineswegs erschöpfend, insbesondere in Anbetracht der Anzahl von Agonisten, Antagonisten und Rezeptoruntergruppen. Die aufgeführten Agonisten sind, soweit möglich, selektiv für die angegebene Rezeptoruntergruppe, ansonsten kann angenommen werden, dass sie nicht selektiv sind. Für jede Rezeptorunterklasse kann angenommen werden, dass der natürliche Agonist wirksam ist. ACPD 1-Aminocyclopentyl-1,3-Dicarboxylat; AMPA α-Amino-3-Hydroxy-5-Methylisoxazol-4-Propionat; CNQX 6-Cyano-7-Nitroquinoxalin-2,3Dion; CPP 3,3(2-Carboxypiperazin-4yl)Propyl-l-Phosphat; KA Kainin (Kainate); LAP4 L-2-Amino-4-Phosphonobutyrat; LSD Lysergsäurediäthylamid; MK801 Dibenzocycloheptenimin; NMDA N-Methyl-D-Aspartat; 80H-DPAT 8-Hydroxy-2-(Dipropyl)Aminotetralin; SCH23390 7-Chloro2,3,4,5-tetrahydro-3-methyl-5-phenyl-1H-3-benzazepin-7-ol.
161 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
weise bei 75–90% aller Neurone des Gehirns und Rückenmarks vor. Allerdings kann aus einer solchen rein quantitativen Analyse nicht auf die physiologische und pathophysiologische Relevanz eines Neurotransmitters geschlossen werden. Eine Störung eines Transmitters, der relativ selten und in niedriger Konzentration vorkommt, kann erhebliche Funktionseinbußen des betroffenen Individuums zur Folge haben. Umgekehrt kann eine massive Reduktion eines bestimmten Transmitters häufig sehr lange toleriert werden, ohne dass es zu krankheitsrelevanten Ausfällen kommt.
mitter gehören zur Gruppe der Monoamine: die Katecholamine Dopamin und Noradrenalin sowie die Indolamine Serotonin und Melatonin. Diese Systeme sind möglicherweise bei schizophrenen bzw. affektiven Psychosen alteriert.
rotransmitters in den synaptischen Spalt. Dabei handelt es sich um einen Ca2+-getriggerten Mechanismus. Die freigesetzten Neurotransmittermoleküle binden dann an prä- und postsynaptische Rezeptoren. Die Neurotransmitterwirkung wird durch enzymatischen Abbau und/ oder Rücktransport in die Nervenendigung (ReuptakeMechanismen) beendet. Ursprünglich bestand in der Neurobiologie das Dogma, dass ein bestimmtes Neuron stets einen spezifischen Neurotransmitter benutzt. Entsprechend wurden cholinerge, dopaminerge, serotoninerge, noradrenerge Neurone etc. unterschieden. Heute weiß man, dass dieses sog. Dale-Gesetz keine universelle Gültigkeit besitzt. Einige Forscher vermuten sogar, dass das Phänomen, dass verschiedene Neurotransmitter in einem einzigen Neuron des ZNS angetroffen werden können, eher die Regel als die Ausnahme ist. Meist findet man als Neurotransmitter eine Aminosäure, ein Monoamin oder Azetylcholin in Kombination mit einem Neuropeptid. Diese Kolokalisation von niedermolekularen Neurotransmittern mit einem Peptid könnte darauf hinweisen, dass Neuropeptide eine wichtige modulierende Rolle neben ihrer Hauptfunktion der Transmission des jeweils anderen »klassischen« Neurotransmitters spielen (z. B. Verlängerung und/oder Verstärkung des Neurotransmittersignals).
Peptide. Eine andere wichtige Gruppe stellen die Peptide
Angriffspunkte für Psychopharmaka
dar. Ganz bestimmte Neuropeptide besitzen spezielle Neurotransmitterfunktionen für spezifische Neuronensubtypen des ZNS. Während kleine Neurotransmittermoleküle enzymatisch synthetisiert werden, erfolgt die Neuropeptidsynthese (wie bei allen Proteinen) durch Gentranskription und Translation. Aus einem Vorläuferprotein entsteht schließlich nach Modifikationsprozessen der aktive Neurotransmitter. Diese molekularbiologischen Prozesse werden nach Entwicklung wichtiger Schlüsseltechniken (z. B. PCR) in letzter Zeit intensiv erforscht. Das Forschungsinteresse hat sich dadurch von der alleinigen Fokussierung der Synapse auf weitere Aspekte wie Genaktivierung und Signaltransduktion ausgeweitet.
Der Neurotransmitterstoffwechsel lässt sich in 5 zentrale Schritte gliedern: 1. Synthese, 2. Speicherung, 3. Freisetzung, 4. Rezeptorwirkung und 5. Elimination.
Azetylcholin. Es ist insbesondere als Transmitter der neu-
romuskulären Erregungsübertragung bekannt, besitzt aber auch in der neuronalen und interneuronalen Informationsübertragung des Gehirns Transmitterfunktion. Insbesondere beim Alzheimer-Syndrom kann es zu massiven Veränderungen des cholinergen Systems kommen. Monoamine. Weitere psychiatrisch relevante Neurotrans-
Jeder dieser Schritte ist (zumindest theoretisch) einer pharmakologischen Beeinflussung zugänglich. Tatsächlich nutzen verschiedene Psychopharmaka diese Modulationsmöglichkeiten des Neurotransmitterstoffwechsels in unterschiedlicher Weise. Dies soll im Folgenden paradigmatisch erläutert werden.
Weitere Transmitter. Weitere Transmitter sind das Gas
NO (Stickoxid), Histamin und Purine (Adenosin).
Neurotransmitterwirkung In der Regel werden die Neurotransmitter im Zellkörper der Neurone synthetisiert. In Vesikeln erfolgt der axonale Transport zu den Nervenendigungen, wo sie für die Freisetzung gespeichert werden (synaptische Vesikel). Zumindest die niedermolekularen Transmitter können zusätzlich aber auch lokal in den Axonendigungen produziert werden. Ermöglicht wird dies durch vesikulären Transport der erforderlichen Enzyme. Erreicht das Aktionspotenzial das Axonterminale, erfolgt als Depolarisationsantwort die Exozytose des Neu-
Aminpräkursoren. Durch Gabe von Aminpräkursoren
kann beispielsweise die Neurotransmittersynthese gesteigert werden. So gelingt es, durch Verabreichung von LDOPA als Vorstufe des Dopamins, die Synthese dieses bei der Parkinson-Erkrankung verminderten Transmitters zu erhöhen. Analog wurde versucht, durch Verabreichung von L-Tryptophan die Serotoninsynthese bei depressiven Patienten zu stimulieren. Im Gegensatz zu den Transmittern Dopamin und Serotonin sind die Präkursoren DOPA und Tryptophan liquorgängig. Da im Gehirn keine Substratsättigung der Tryptophanhydroxylase, einem Schlüsselenzym der Serotoninsynthese, vorliegt, führt die Applikation von L-Tryptophan tatsächlich zu
7
162
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
einer Erhöhung der Serotoninkonzentration. Im Gegensatz zur hochwirksamen L-DOPA-Therapie der Parkinson-Erkrankung besitzt die Tryptophantherapie allerdings nur eine allenfalls milde antidepressive Potenz. Entleerung synaptischer Vesikel. Reserpin führt zu einer
Entleerung synaptischer Vesikel, so dass Noradrenalin, Serotonin und Dopamin durch entsprechende Enzyme rasch metabolisiert werden. Dadurch sinkt die Konzentration dieser Neurotransmitter im Gehirn. Reserpin kann deutliche depressive Symptome hervorrufen. Dies stützt die aminergen Defizithypothesen als Ursache der Depression(en). Modulation der Rezeptorwirkung. Die Rezeptorwirkung
7
verschiedener Neurotransmitter wird durch viele klassische trizyklische Antidepressiva und Neuroleptika modifiziert. Viele Antidepressiva antagonisieren den Histamin-H1-Rezeptor und besitzen ein deutliches anticholinerges Wirkprofil durch Blockade des muskarinischen Azetylcholinrezeptors. Solche Effekte sind nicht immer erwünscht und bedingen teilweise auch das Nebenwirkungsprofil von Antidepressiva. Gleichzeitig kommt es zu einer therapeutisch eher erwünschten gesteigerten Empfindlichkeit der Serotonin- sowie der Noradrenalinrezeptoren. Neuroleptika bewirken u. a. eine Dopaminrezeptorblockade. Moderne sog. atypische Antipsychotika wirken darüber hinaus häufig auch noch an einer Vielzahl nichtdopaminerger Rezeptoren. Verzögerung der Elimination. Auch die Möglichkeit, die
Elimination von Neurotransmittern aus dem synaptischen Spalt zu beeinflussen, wird psychopharmakologisch genutzt. So erhöhen Serotoninwiederaufnahmehemmer die Konzentration dieses Transmitters durch Blockade der entsprechenden Transporter. Klassische trizyklische Antidepressiva besitzen eine solche Wirkung ebenso wie moderne, ausschließlich für diesen Wirkmechanismus konzipierte selektive Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI). Der Abbau von monoaminergen Neurotransmittern kann darüber hinaus auch durch (spezifische) Hemmung der Monoaminoxidase (MAO) reduziert werden. Dadurch kommt es ebenfalls zu einer Erhöhung der Konzentration der entsprechenden Neurotransmitter. So inhibiert Moclobemid selektiv und reversibel die MAO-A. Dadurch wird der Abbau von Noradrenalin, Adrenalin sowie Serotonin und wohl nur beschränkt auch von Dopamin reduziert. Moclobemid wird daher auch in der Behandlung von Depressionen therapeutisch eingesetzt. Kombination verschiedener Wirkungen. Neuere Thera-
piestrategien beruhen auf einer Kombination verschiedener Rezeptorwirkungen. So greifen beispielsweise moderne noradrenalin- und serotoninspezifische Antide-
pressiva (NaSSA) wie z. B. Mirtazapin gleichzeitig in die beiden entsprechenden Neurotransmittersysteme ein, von denen vermutet wird, dass sie eine wesentliche Rolle bei Depressionen spielen. Darüber hinaus besitzt Mirtazapin eine sehr differenzierte Wirkung auf das serotoninerge System: Der 5-HT1A-Rezeptor wird selektiv aktiviert, während 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren blockiert werden. Dies mag die antidepressive Effizienz ebenso beeinflussen wie das Nebenwirkungsprofil.
7.3.2
Rezeptoren
Ein Rezeptor ist definiert als ein Protein, das die Wirkung eines spezifischen Neurotransmitters auf das Zielneuron vermittelt (⊡ Tab. 7.2). Neurotransmitter binden spezifisch an bestimmte Stellen des Rezeptorproteins. Diese Bindung führt zu einer Veränderung der physikalischen Eigenschaften des Rezeptors. Das Resultat ist die Umwandlung des ursprünglich extrazellulären Signals (Neurotransmitterbindung) in ein intrazelluläres Signal, das seinerseits wiederum zu Veränderungen des funktionellen Zustands des Zielneurons führt.
Forschung Die Erforschung der Rezeptoren stützte sich viele Jahre auf die Ergebnisse direkter Bindungsstudien mit radioaktiven Liganden in Zellmembranpräparationen. Diese Technik ermöglichte die Identifikation verschiedener Rezeptoren. Außerdem konnte die Affinität bestimmter Substanzen zu diesen Rezeptoren untersucht werden. Moderne molekularbiologische Techniken (Klonierung und In-vitro-Expression) erlauben über die Identifizierung pharmakologischer Subtypen hinaus jetzt auch die weitere genetische Subtypisierung. Die Frage, inwieweit die pharmakologischen und molekularbiologischen
⊡ Tab. 7.2. Rezeptortypen verschiedener Neurotransmitter. (Nach Hyman u. Nestler 1993) Neurotransmitter
Rezeptorsubtypen
Dopamin
D1, D2, D3, D4, D5
Noradrenalin/Adrenalin
α1, α2, β1, β2, β3
Serotonin
5-HT1A, 5-HT1B, 5-HT1C, 5-HT1D, 5-HT2, 5-HT3, 5-HT4, 5-HT6, 5-HT7
Azetylcholin
Muskarinisch (M1, M2, M3, M4), Nikotinisch
Endorphine/Enkephaline
δ, μ, κ
Glutamat
NMDA, AMPA, Kainat, metabotrop
GABA
A, B
163 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Typen miteinander korrespondieren, bleibt bislang häufig unbeantwortet, stellt aber eine wichtige Forschungsaufgabe für die kommenden Jahre dar. Die Verknüpfung und Synthese der Einzelergebnisse molekularbiologischer Forschung mit denen der klassischen Rezeptorbindungsstudien könnte zu beachtlichen Fortschritten in der psychiatrischen Grundlagenforschung hinsichtlich Ätiopathogenese psychischer Krankheiten und ihrer Pharmakotherapie beitragen. Bisher sind die genauen anatomischen und funktionellen Unterschiede der verschiedenen Rezeptorsubtypen weitestgehend unbekannt. Sinn der großen Rezeptorheterogenität scheint es zu sein, den verschiedenen Neuronen unterschiedliche Reizantworten auf denselben Neurotransmitter zu ermöglichen. Unter pharmakotherapeutischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorheterogenität zur Entwicklung von neuen Substanzen mit höherer Spezifität genutzt werden, die effektivere und zugleich sicherere (nebenwirkungsärmere) psychopharmakotherapeutische Strategien ermöglichen. Bislang ist es in der Praxis allerdings noch nicht gelungen, aufgrund dieser theoretischen Überlegungen tatsächlich grundsätzlich neue Psychopharmaka mit erheblich gesteigerter Effektivität bei geringem Nebenwirkungsrisiko zu entwickeln. ⊡ Abb. 7.2a, b. Rezeptorgrundtypen; a G-Protein gekoppelter Rezeptor und b Ionophor
a
b
Rezeptorgrundtypen Grundsätzlich können 2 Rezeptorgrundtypen voneinander differenziert werden: Ionophoren und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (⊡ Abb. 7.2a, b): Die Ionophoren besitzen transmembranäre Ionenkanäle, die durch Neurotransmitterbindung geöffnet werden können. Die transmittergesteuerten Ionenkanäle sind in geöffnetem Zustand je nach Rezeptortyp durchlässig für K+ (Eflux) und Na+ (Influx) sowie Ca2+. Manche Rezeptoren besitzen darüber hinaus regulatorische Bindungsstellen für Zn2+ und Mg2+. Der GABAA-Rezeptor, die meisten Glutamatrezeptoren und der 5-HT3-Rezeptor, ein Serotoninrezeptorsubtyp, sind z. B. Ionophoren. Die meisten anderen Rezeptoren, einschließlich der adrenergen und dopaminergen, besitzen keinen strukturellen Ionenkanal. Daher muss der zelluläre Effekt über intrazelluläre Transduktionsproteine (GProteine) vermittelt werden. Die Bindung des Neurotransmitters an seinen Rezeptor als Prozess, der an der extrazellulären Seite der Nervenzellmembran stattfindet, muss über eine Fortsetzung der Neurotransmitteraktion nach der eigentlichen Rezeptor-
7
164
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
bindung zu einer veränderten neuronalen Funktion führen. Die verschiedenen Wege, wie Neurotransmitterrezeptorinteraktionen ihre unterschiedlichen Effekte am Zielneuron ausüben können, schließen ein komplexes Netzwerk intrazellulärer Messengersysteme (G-Proteine, »second messengers«) und den Prozess der Proteinphosphorylierung ein.
Störungen der Rezeptorphysiologie
7
Unter ätiopathogenetischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorphysiologie im Wesentlichen auf 3 verschiedenen Ebenen gestört sein: Es kann zu Veränderungen in der Rezeptordichte kommen. Die Rezeptoraffinität kann verändert sein. Es können Defekte im Bereich der Rezeptoruntereinheiten bestehen, wodurch die Signaltransduktionskaskade gestört wird. Darüber hinaus sind auch alle Kombinationen dieser 3 pathophysiologischen Alterationen denkbar.
7.3.3
Azetylcholinrezeptoren, die insbesondere in der Pathophysiologie der Alzheimer-Demenz eine wichtige Rolle spielen, werden in nikotinische (nAChR) und muskarinische (mAChR) differenziert. Während 5 verschiedene mAChR-Subtypen (M1–M5) unterschieden werden können (Caulfield u. Birdsall 1998), bestehen nikotinische Azetylcholinrezeptoren aus verschiedenen α- und β-Untereinheiten. Je nach der Zusammensetzung dieser Untereinheiten, entstehen funktionell und strukturell unterschiedliche nAChR-Subtypen (Dajas-Bailador u. Wonnacott 2004).
Katecholamine Die wichtigsten Katecholamin-Neurotransmitter sind Dopamin und Noradrenalin. Sie werden enzymatisch aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert. ⊡ Abb. 7.3 stellt die einzelnen Syntheseschritte dar. Tyrosin passiert die Blut-Liquor-Schranke über einen aktiven, energieabhängigen Transportmechanismus. Innerhalb der katecholaminergen Neurone ist die (gesät-
Neurotransmitterrezeptorsysteme
Azetylcholin Azetylcholin war die erste chemische Substanz, die als Neurotransmitter identifiziert wurde. Synthetisiert wird sie durch enzymatische Azetylierung von Cholin mittels Cholinazetyltransferase (ChAT). Die Degradation erfolgt durch enzymatische Spaltung im synaptischen Spalt mittels Azetylcholinesterase (AChE). Freies Cholin wird dann über Transporter in die Präsynapse wiederaufgenommen und steht für die erneute Azetylcholinsynthese zur Verfügung. Die wichtigsten Kerngebiete cholinerger Projektionsneurone liegen im basalen Vorderhirn. Der Verlust cholinerger zum Hippocampus und Kortex projizierender Neurone führt zu Gedächtnisdefiziten. Solche Reduktionen der cholinergen Aktivität wurden beispielsweise bei Alzheimer-Patienten gefunden. Darüber hinaus sind cholinerge Neurone vermutlich an der Vermittlung emotionaler Stimmungszustände zum Kortex beteiligt. So finden sich cholinerge Afferenzen des basalen Vorderhirns aus dem limbischen System. Cholinerge Projektionssysteme. Zu den cholinergen Pro-
jektionssystemen des Gehirns zählt das basale Vorderhirn (mediales Septumband, diagonales Band von Broca, Nucleus basalis Meynert) mit Projektionen zum zerebralen Kortex, Hippocampus und Dienzephalon sowie das laterale Tegmentum des Hirnstamms (dorsaler Pons). Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe weiterer lokaler, intrinsischer cholinerger Zirkuits, die insbesondere innerhalb des Neostriatums liegen.
⊡ Abb. 7.3. Katecholaminsynthese
165 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
tigte) Tyrosinhydroxylase (erster Syntheseschritt zu Dopa) das limitierende Schlüsselenzym der Katecholaminsynthese. Alle anderen Enzyme sind nicht substratgesättigt, d. h. ihr Km-Wert übersteigt deutlich die Substratkonzentration, sie liegen praktisch »im Überschuss« vor.
Wirkmechanismus. Dopamin entsteht aus den Vorstufen
Abbau. Die Beendigung der Katecholaminwirkung im synaptischen Spalt erfolgt durch Wiederaufnahme über Transporter. Die Katecholamine werden in Vesikeln gespeichert oder durch Monoaminoxidase (MAO) abgebaut. Die beiden Isoenzyme MAO-A und MAO-B sind in den Mitochondrienmembranen der Präsynapse und Glia lokalisiert. Der extrazelluläre Abbau erfolgt außerdem durch Katecholamin-O-Methyltransferase (COMT). Hauptmetabolite sind Homovanillinsäure (HVS) und 3,4Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC). Besonders zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass die Gliazellen, speziell die Astroglia, maßgeblich an dem Abbau der Neurotransmitter und damit an der Modulation der Neurotransmission beteiligt sind. Diese Bedeutung in der Funktion der Glia rückt erst in letzter Zeit in den Blickpunkt des Interesses, nachdem zuvor die Rolle der Glia eher unterschätzt wurde.
Tyrosin und L-DOPA unter Vermittlung der Enzyme Tyrosinhydroxylase (TH) und DOPA-Decarboxylase (AADC). D1-artige Dopaminrezeptoren (D1, D5) stimulieren nach Aktivierung unter Vermittlung des G-Proteins die Adenylatzyklase (AC). Diese ist für die Umwandlung von ATP in cAMP, das die weitere Signaltransduktion übernimmt, verantwortlich. Eine Stimulation der D2-artigen Dopaminrezeptoren (D2, D3, D4) hat eine Inhibition der Adenylatzyklase (AC) zur Folge (D2, D4) oder aber eine Alteration anderer Signaltransduktionsmechanismen (D3). Aktivierung der D2-artigen Dopaminrezeptoren führt zur Modifikation der Aktivität von Ionenkanälen, der Kalziummobilisierung und des Phophatidylinositolumsatzes. Der D2-Rezeptor ist auch präsynaptisch lokalisiert und kann die Freisetzung und Synthese von Dopamin inhibieren (Feedback-Mechanismus). Interessanterweise scheinen kontinuierliche und pulsatile Stimulationen von Dopaminrezeptoren unterschiedliche Effekte hervorzurufen. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass es physiologischerweise zumindest im nigrostriatalen System einen dualen Dopamineffekt gibt, der einerseits auf einer tonischen und andererseits einer phasischen Aktion beruht (Obeso et al. 1994).
Dopamin (⊡ Abb. 7.4a, b)
L-Dopa
Dopaminerge Kerne. Die wichtigsten dopaminergen
Bemerkenswerterweise besitzt der Dopamin-Vorläufer L-Dopa auch eigene intrinsische NeurotransmitterEigenschaften (Misu et al. 1995). L-Dopa scheint als Neurotransmitter insbesondere für die Blutdruckregulation im Hirnstamm verantwortlich zu sein. Vermutlich wird er über nikotinerge, glutamaterge und GABAerge Mechanismen reguliert und scheint u. a. im Nucleus accumbens freigesetzt zu werden
Kerne des Gehirns sind die Pars compacta der Substantia nigra mit Projektionen zum Striatum, das ventrale Tegmentum mit Projektionen zum frontalen Kortex und Gyrus cinguli sowie zum Nucleus accumbens und zu anderen Teilen des limbischen Systems sowie der Nucleus arcuatus des Hypothalamus, der für die dopaminerge Regulation der Hypophyse mitverantwortlich ist. Dopaminerges System. Eine wichtige Komponente dieses Systems ist das »nigrostriatale System«. Dopaminerge Zellen sind ferner in der Area tegmentalis ventralis (ATV) lokalisiert. Sie liegt in der Mittellinie des Mittelhirnes. Ihre Verbindungen zu den Septumkernen, dem Nucleus accumbens und dem N. amygdalae bilden das »mesolimbische System«. Der mesokortikale Trakt zieht zum frontalen Kortex, Gyrus cinguli, N. piriformis und zum entorhinalen Kortex. Gut erforscht ist auch noch das tuberoinfundibuläre System, das Nucleus infundibularis und Hypophyse verbindet. Die Dopaminrezeptoren werden nach pharmakologischen und molekularbiologischen Aspekten in 2 Hauptgruppen und 5 Rezeptortypen unterteilt: Zur Gruppe der D1-artigen Rezeptoren zählen der D1und der D5-Rezeptor; zur Gruppe der D2-artigen Rezeptoren gehören die D2-, D3- und D4-Rezeptoren.
Abbau. Das im synaptischen Spalt befindliche Dopamin
wird großteils über den Dopamintransporter eliminiert. Mit Hilfe der Enzyme MAO (intra- und extrazellulär) und COMT (extrazellulär) erfolgt die Metabolisierung zu 3,4Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC, intrazellulär) und Homovanillinsäure (HVA, extrazellulär).
Noradrenalin (⊡ Abb. 7.4a, b) Noradrenerge Projektionssysteme. Das wichtigste nor-
adrenerge Projektionssystem des menschlichen Gehirns ist der Locus coeruleus am Boden des 4. Ventrikels am rostralen Teil der Pons. Er besitzt diffuse axonale Projektionen in fast alle Areae des zerebralen Kortex, des Zerebellums, der Hirnstammkerne und des Rückenmarks. Noradrenerg sind darüber hinaus die lateralen Kerne des Tegmentums und andere Regionen der Pons und der Medulla. Ihre Endigungen reichen in das basale Vorderhirn, den Thalamus, den Hypothalamus, den Hirnstamm und in das Rückenmark.
7
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Azetylcholin
Azetylcholin
7
a
Azetylcholin
b ⊡ Abb. 7.4a, b. Mechanismen der neuronalen Signal-TransduktionsTranskriptions-Kopplung. a Divergenz und Konvergenz unterschiedlicher Signalkaskaden. Einige Neurotransmitter und Rezeptoren, die an unterschiedliche G-Proteine und Effektorsysteme gekoppelt sind, können eine gemeinsame Transduktionsendstrecke besitzen. So wird der Transkriptionsfaktor CREB (cAMP »response element binding protein«) nicht nur über die cAMP-abhängige Proteinkinase (PKA) stimuliert, sondern auch durch kalziumabhängige Kinasen (CaM-K) und Kinasen des Ras-Reaktionsweges (RSK-2), der durch bestimmte Wachstumsfaktoren aktiviert wird. Dagegen können Steroidhormone nach Bindung an ihren Rezeptor direkten Einfluss auf die Gentranskription nehmen (PLC Phospholipase C, AC Adenylatzyklase). b Regulation der Gentranskription durch »immediate early genes« (IEG). Second messenger wie cAMP oder Kalzium aktivieren die Transkription von IEG wie
z. B. der Gene c-jun und c-fos. Das Transkript, die entsprechende reife mRNA, wird aus dem Zellkern herausgeschleust. Die korrespondierenden Proteine Jun und Fos werden im Zytoplasma in den Ribosomen synthetisiert und translozieren anschließend in den Zellkern, wo sie selbst erneut als Transkriptionsfaktoren fungieren können, indem sie untereinander oder mit verwandten Proteinen Dimere bilden, die an die AP-1-Sequenz von bestimmten Zielgenen binden. Die Transkriptionsaktivität dieser Zielgene ist abhängig von der Induktion durch lEG-Proteine. Auf diese Weise werden Langzeitveränderungen der synaptischen Regulation induziert wie z. B. die Aktivierung von Tyrosinhydroxylase oder Neuropeptiden. Neben den genannten Second-messenger-Aktivierungswegen kann die Expression von c-Jun auch über die JNK-(c-Jun-NH2-terminale Kinase-) Kaskade stimuliert werden. Weitere Erklärungen sind im Text aufgeführt
167 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Noradrenerges System. Die wichtigsten noradrenergen
Kerne sind der Locus coeruleus (Lc) und das laterale Tegmentum (LT; ⊡ Abb. 7.4a, b). Das noradrenerge System wirkt vorwiegend stimulierend auf die motorischen und psychischen Aktivitäten. Noradrenalin entsteht aus L-Tyrosin. Dieses wird durch die Tyrosinhydroxylase (TH) zu L-DOPA hydroxyliert. L-DOPA wird durch die entsprechende Decarboxylase (AADC) zu Dopamin decarboxyliert, das dann seinerseits durch die Dopamin-β-Hydroxylase (DbH) in Noradrenalin umgewandelt wird. Wirkmechanismus. Postsynaptisch sind verschiedene Noradrenalinrezeptoren identifiziert worden. Stimulation der α1- und β1-Rezeptoren aktiviert die regulatorischen G-Proteine. Durch β1-Rezeptoraktivierung wird, vermittelt durch das Gs-Protein, die Adenylatzyklase-(AC-)Aktivität gesteigert, die ATP in die aktive Form des cAMP umwandelt. cAMP ist dann für die Aktivierung einer aus Proteinkinasen und Phosphorylierungsreaktionen bestehenden Signaltransduktionskaskade verantwortlich. Über die α1-Rezeptoren werden Go- und Gq-Proteine stimuliert, die ihrerseits die Phospholipase C (PLC) aktivieren. Dies hat die Umwandlung von Phosphoinositolbisphosphat (PIP2) in Inositoltriphosphat (IP3) und Diazylglyzerin (DAG) zur Folge, die als Second messenger fungieren. Demgegenüber üben die α2-Rezeptoren, ebenfalls GProtein-vermittelt, inhibitorische Effekte auf die Adenylatzyklase (AC) aus. Insbesondere sorgen so präsynaptisch lokalisierte α2-Rezeptoren vermittels inhibitorischer GiProteine über einen Feedback-Mechanismus für die Hemmung einer weiteren Noradrenalinausschüttung und auch -synthese. Inaktivierung. Die Inaktivierung des Noradrenalins im synaptischen Spalt erfolgt über den präsynaptischen Noradrenalintransporter, der für die Wiederaufnahme des Noradrenalins verantwortlich ist. Noradrenalin kann durch die MAO-A intra- und extraneuronal desaminiert werden. Das letztlich resultierende 3,4-Dihydroxyphenylglykol (DHPG) wird dann durch Katechol-O-Methyltransferase (COMT) zu 3-Methoxy-4-hydroxyphenylglykol (MHPG) metabolisiert.
Teil der Formatio reticularis des Hirnstamms. Beide Kerne projizieren in das gesamte Kleinhirn, der NDR (Nucleus dorsalis raphe) auch in das Rückenmark. Ähnlich wie der Lc innerviert der NVR (Nucleus ventralis raphe) Kortex, Thalamus, Amygdala und über das Zingulum den Hippokampus. Der Hypothalamus und der Cortex entorhinalis sind weitere Ziele serotoninerger Bahnen aus dem NVR. Die enge Verschaltung mit dem limbischen System ist hieraus gut erkennbar. Durch Verbindungen des NVR mit der Substantia nigra und dem Striatum entsteht eine direkte Verknüpfung mit dem extrapyramidalmotorischen System. Serotonin erhöht die Schmerzschwelle und reguliert den Schlafablauf und die Stimmung. Wichtigster Vertreter der Indolamine ist das Serotonin (⊡ Abb. 7.4a, b). Es wird aus Tryptophan synthetisiert. Schlüsselenzym hierbei ist die Tryptophanhydroxylase Typ 2. Serotoninsynthese. Serotonin (5-HT = 5-Hydroxytrypta-
min) wird nach Hydroxylierung und Decarboxylierung aus L-Tryptophan über 5-HTP unter Vermittlung von Tryptophanhydroxylase Typ 2 (TRPH) synthetisiert. Wirkmechanismus. Mit Hilfe molekularbiologischer Me-
thoden konnten verschiedene 5-HT-Rezeptorsubtypen differenziert werden (⊡ Tab. 7.2). Postsynaptisch inhibiert die Stimulation von 5-HT1ARezeptoren über Gi-Proteine die Adenylatzyklase (AC). Aktivierung der 5-HT4,6,7-Rezeptoren führt hingegen zur Aktivierung der AC mit nachfolgendem Anstieg des cAMP (aus ATP). Eine Stimulation der 5-HT2A,C-Rezeptoren führt zu einer Aktivitätssteigerung der Phospholipase C (PLC) mit konsekutivem Anstieg des Inositoltriphosphats (IP3) und Diazylglyzerins (DAG). Der 5-HT3-Rezeptor ist ionenkanalgekoppelt. Seine Aktivierung führt zu einem Kationeneinstrom. Präsynaptisch sorgen 5-HT1A- und 5-HT1B,C-Rezeptoren durch Gi-Protein-vermittelte AC-Inhibition, verminderte cAMP-Produktion und Reduktion der Impulsfrequenz zu einer verminderten Serotoninfreisetzung.
Indolamine Serotoninerge Projektionssysteme. Die serotoninergen
Inaktivierung. Serotonin wird aus dem synaptischen Spalt
Projektionssysteme im Gehirn sind die Hirnstammkerne (v. a. dorsale und mediane Raphe) mit diffusen Projektionen in die meisten Regionen des ZNS. Weiterhin finden sich serotoninerge Zellkörper auch in anderen Regionen der Pons und der Medulla. Ihre Endigungen sind weit verteilt und reichen zum zerebralen Kortex, Thalamus, Zerebellum, Rückenmark und zu den Hirnstammkernen. Die Zellen der serotoninergen Bahnen liegen im ventralen und dorsalen Raphekern (⊡ Abb. 7.4a, b). Sie sind
durch den Serotonintransporter entfernt. Die Metabolisierung zu 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) erfolgt durch MAO-A. Der Serotonintransport ist ein wesentlicher Wirkort verschiedener Antidepressiva, den selektiven Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI), sowie partiell den NaSSAs und diverser Tri- und Tetrazyklika. Die Epiphyse synthetisiert Melatonin, ein weiteres Indolamin. Bei manchen Tieren spielt es eine wichtige Rolle
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
in der Vermittlung der zirkadianen Rhythmik. Möglicherweise ist eine Störung des Melatoninhaushalts auch an der Entstehung zyklothymer Erkrankungen beteiligt.
ziert werden. Die mGluRs werden in 3 Gruppen unterteilt: Gruppe I (mGluR1, mGluR5), II (mGluR2, mGluR3) und III (mGluR4, mGluR6, mGluR7, mGluR8; Kew u. Kemp 2005).
Glutamat
Glutamatantagonisten. Der NMDA-Rezeptor besitzt ver-
Glutamat ist der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter. Typische glutamaterge Neurone sind die Granulazellen des Kleinhirns, die Pyramidenzellen des Hippocampus, kortikale Motoneurone sowie kortikale Neurone, die in die Basalganglien projizieren. Es sind verschiedene Glutamatrezeptoren (⊡ Abb. 7.5) bekannt, die nach ihren jeweils selektiven Agonisten benannt werden. Von besonderer Bedeutung ist der NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor. Er ist vermutlich in den Prozess der LTP (»long term potentiation«) involviert. Darunter versteht man das Phänomen, dass bestimmte Neurone (insbesondere im Hippocampus) nach wiederholter Stimulation in der Lage sind, auch nach Ausbleiben dieser Stimulation über einen längeren Zeitraum »autonom weiterzufeuern«. Diese Eigenschaft ist vermutlich für bestimmte Lern- und Gedächtnisvorgänge von erheblicher Bedeutung. Die verschiedenen Glutamatrezeptorfamilien werden derzeit folgendermaßen systematisiert, grundsätzlich werden ionotrope (iGluRs) und metabotrope (mGluRs) Glutamatrezeptoren unterschieden.
schiedene Bindungsstellen (für Glutamat, Glyzin) und einen nichtselektiven Ionenkanal, der für Na+ und Ca2+ durchgängig ist. Innerhalb dieses Ionenkanals befindet sich die PCP-Bindungsstelle (Phenylcyclidin), an die nichtkompetitive Glutamatantagonisten binden (z. B. PCP, Ketamin, Dizocilpin = MK-801). Diese besitzen mit Ausnahme der Aminoadamantane bei ansonst gesunden Personen einen stark psychotomimetischen Effekt. Diese Beobachtung hat zur Entwicklung der Glutamathypothese schizophrener Psychosen beigetragen. Andererseits könnten Glutamatantagonisten wie z. B. Amantadin in Abhängigkeit von ihrer Affinität auch potenziell neuroprotektiv wirken. Es gibt eine weitere Bindungsstelle, an die u. a. Opiate binden: der Sigmarezeptor. Über diesen werden evtl. auch die psychotomimetischen Effekte dieser Stoffe vermittelt. Viele Neuroleptika (z. B. Haloperidol) sind Rezeptorantagonisten.
Die iGluRs können wiederum in die bereits erwähnten NMDA-Rezeptoren (NR1, NR2A, NR2B, NR2C, NR2D, NR3A, NR3B), sowie AMPA- (GluR1, GluR2, GluR3, GluR4) und Kainat-Rezeptoren (GluR5, GluR6, GluR7, KA-1, KA-2) differen-
⊡ Abb. 7.5a, b. Glutamatrezeptor (IP Inositoltriphosphat). (Nach Zilles u. Rehkämper 1994)
Aktivierung des NMDA-Rezeptors. Die glutamaterge Ak-
tivierung des NMDA-Rezeptors erfordert die Erfüllung einer Reihe weiterer Bedingungen, die über die bloße Präsenz von Glutamat hinausgehen. Beispielsweise ist eine Aktivierung des NMDA-Rezeptorkanals ohne Glyzin wohl nicht möglich. Außerdem kann Mg2+ den Kanal blockieren. Diese Blockade kann z. B. durch Depolarisation des Zielneurons über AMPA- oder Kainat-Rezeptoren der Postsynapse aufgehoben werden.
169 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Glutamat und Zelltod. Bei Anoxie oder Hypoglykämie
fällt der energieabhängige Prozess der Glutamatkompartimentierung in der Präsynapse aus. Innerhalb von Minuten wird Glutamat in den synaptischen Spalt ausgeschüttet, und es kommt zu einer Überaktivierung exzitatorischer Rezeptoren. Große Mengen an Ca2+ können in die Zelle einströmen. Ca2+ aktiviert eine Reihe von Enzymen (einschließlich Proteasen) und es kommt über Autodigestion zum Zelltod. Dieser Prozess wird Exzitotoxizität genannt. Einige tierexperimentelle Befunde und erste klinische Daten zeigen, dass Glutamatantagonisten eine neuroprotektive (»anti-exzitatoxische«) Wirkung haben könnten.
und sind damit wesentliche Bestandteile des nigrostriatalen (dopaminerg)-strio-nigralen (GABAergen) Regelkreises. Rezeptortypen. Hinsichtlich der GABA-Rezeptoren wer-
den 2 Haupttypen – GABAA und GABAB – unterschieden. Der GABAA-Rezeptor überwiegt. Er ist für die rasche inhibitorische synaptische Transmission im Gehirn verantwortlich. Als Ionophor besteht er aus mehreren Untereinheiten: einer GABA-bindenden Einheit (β-Einheit), einer Benzodiazepin-bindenden Einheit (α-Einheit), einer aktivierenden γ-Einheit und einem Ionenkanal. Der im ZNS nicht so weit verbreitete GABAB-Rezeptor ist demgegenüber G-Protein-gekoppelt.
GABA und der Benzodiazepinrezeptor (⊡ Abb. 7.6) GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist einer der wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter. Er wird von etwa 30% aller ZNS-Neurone benutzt. GABA wird aus Glutamat unter Vermittlung der Glutamat-Decarboxylase (GAD) synthetisiert. Zur Inaktivierung der Synapseneffekte wird sie durch die mitochondriale GABA-Transaminase inaktiviert bzw. durch den GABA-Transporter wieder in die Präsynapse aufgenommen.
Glyzinsystem Ein weiteres inhibitorisches System ist das Glyzinsystem (nicht identisch mit der Glyzinbindungsstelle des NMDARezeptors). Es ist verglichen mit GABA-Rezeptoren noch wenig erforscht, scheint aber eine wichtige inhibitorische Rolle insbesondere im Hirnstamm und im Rückenmark zu spielen.
Neuropeptide Lokalisation. Anhäufungen GABAerger Neurone sind u. a. in folgenden Regionen zu finden: Thalamus, Basalganglien und Zerebellum. Darüber hinaus gibt es aber auch spezifische kleinere Interneurone des zerebralen Kortex, die GABAerg sind. GABAerge Neuronen projizieren aber auch vom Striatum zur Substantia nigra
⊡ Abb. 7.6. GABAerge Synapse (GABA Gamma-Aminobuttersäure, BZD Benzodiazepin). (Nach Benkert u. Hippius 1996)
Die Neuropeptide stellen eine sehr heterogene Gruppe nicht nur in bezug auf ihre molekulare Struktur, sondern auch hinsichtlich ihrer Verteilung und ihres Wirkmechanismus dar. In letzter Zeit rücken sie verstärkt in das Zentrum des pharmakotherapeutischen Interesses. Die verschiedenen Neuropeptidsysteme stellen möglicher-
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
weise wichtige Angriffspunkte für künftige neuromodulatorisch aktive Psychopharmaka dar. Beispielsweise ist CRF (»corticotropin releasing factor«) ein wichtiger Faktor in der Stressmodulation. Cholezystokinin und Neurotensin sind häufig mit Dopamin kolokalisiert und könnten für die Psychosebehandlung interessant werden.
interferieren, nicht die pharmakologische Selektivität erreichen können wie Psychopharmaka, die nur eine spezifische Unterklasse eines einzigen Rezeptors aktivieren bzw. blockieren. Trotz dieser verringerten pharmakologischen Selektivität gewinnt eine direkte Beeinflussung von Transduktionsmechanismen in den letzten Jahren immer mehr als potenzieller Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka an Bedeutung.
Opioidpeptide
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Am besten untersucht sind die Opioidpeptide. Bisher sind mindestens 18 dieser Peptide bekannt, denen alle ein identischer Aminoterminus gemeinsam ist (Tyr-Gly-GlyPhe, dann Met oder Leu). Zu ihnen zählen beispielsweise Endorphin, Enkephalin und Dynorphin. Als »endogene Analgetika« sind sie an der Schmerzunterdrückung beteiligt. Darüber hinaus scheinen sie Stimmungszustände zu modulieren und sind möglicherweise auch in die Entstehung und Aufrechterhaltung von Suchterkrankungen involviert. Sie entfalten ihre Wirkung über spezifische Opiatrezeptoren, die gleichzeitig auch der Aktionsort exogener Opiate sind. Es werden 3 Klassen unterschieden: μ-, δ- und κ-Rezeptoren.
7.3.4
Signaltransduktion
Die Interaktion eines Neurotransmitters (First messenger) mit seinem spezifischen Rezeptor stellt lediglich den ersten Schritt innerhalb einer sog. Signaltransduktionskaskade dar. Das extrazelluläre Signal (synaptischer Spalt) wird nach Neurotransmitter-Rezeptor-Bindung über spezifische Mechanismen (z. B. sog. G-Proteine) in das Zellinnere (Zytoplasma) transportiert. Hier sind sog. Second messenger (z. B. cAMP) Träger des Signals. Über eine Reihe von weiteren Zwischenstationen wird dann das Signal in den Zellkern transportiert und auf sog. Third messenger (z. B. CREB) übertragen, bei denen es sich meist um Transkriptionsfaktoren handelt. Transkriptionsfaktoren besitzen die Eigenschaft Genexpressionsprozesse beeinflussen zu können. Dies bedeutet, dass das ursprüngliche Signal der Neurotransmitter-Rezeptor-Interaktion kaskadenartig bis in den Zellkern weitergeleitet wird, wo es dann letztlich zu einer Modifikation der Expression bestimmter Gene kommt.
Transduktionsmechanismen Die durch einen Agonisten ausgelöste Konformationsänderung eines Rezeptors kann über eine Reihe unterschiedlicher Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron der zentralen Synapse weitergegeben werden (⊡ Abb. 7.4a, b). Hierbei können unterschiedliche Rezeptoren unterschiedlicher Transmitter letztlich den gleichen Transduktionsmechanismus benutzen (⊡ Abb. 7.4a, b). Dies bedeutet, dass Psychopharmaka, die mehr oder weniger spezifisch mit einem Transduktionsmechanismus
Vom Rezeptor zum Effektor und Bildung von Second messengern Löst ein Ligand nach Bindung an einen Rezeptor, d. h. einem Transmembranprotein mit Domänen auf der extrazellulären und zytoplasmatischen Seite, eine Reaktion im Zellinnern aus, bezeichnet man dies als Signalübertragung. Die Signaltransduktion ist eine Möglichkeit, das ursprüngliche Signal zu verstärken. Durch die Bindung des Neurotransmitters an die extrazelluläre Domäne des Rezeptors wird die Aktivität der Domäne der zytoplasmatischen Seite beeinflusst, der Rezeptor wird aktiviert. Im Zytosol wird ein biochemisches Signal erzeugt, dessen Amplitude sehr viel größer ist als beim extrazellulären Liganden. In vielen Fällen führt das Signal im Zytosol dazu, dass im Zellinnern die Konzentration einer niedermolekularen Verbindung ansteigt. Diese Moleküle werden als sog. »zweite Boten«(-Stoffe) bezeichnet (»second messenger«) im Gegensatz zum ersten Boten, dem extrazellulären Neurotransmitter. Verglichen mit den ionenkanalgekoppelten Rezeptoren arbeitet die Signalübertragung mit dem Second messenger verhältnismäßig langsam. Man nimmt an, dass auf diese Weise die Langzeitwirkung von Transmittern ermöglicht wird. Man unterscheidet grundsätzlich 2 Arten der Signaltransduktion: 1. Der Rezeptor kann mit einem G-Protein interagieren, das mit der Membran assoziiert ist. In seiner aktiven Form besteht das G-Protein aus einem GDP-gebundenem Trimer. Bei Rezeptoraktivierung wird GDP durch GTP ersetzt, die Untereinheiten des G-Proteins können daraufhin dissoziieren und reagieren mit einem oder mehreren Zielmolekülen. Rezeptoren, die über G-Proteine an ein Effektorsystem gekoppelt sind, werden auch als metabotrope Rezeptoren bezeichnet. 2. Der Rezeptor besitzt in seiner Zytosoldomäne eine Proteinkinase. Nach Bildung des Rezeptor-LigandenKomplexes wird die Kinase aktiviert und phosphoryliert ihre eigene zytoplasmatische Domäne. Diese Autophosphorylierung ermöglicht es dem Rezeptor, mit einem Zielprotein eine Bindung einzugehen und es gleichzeitig zu aktivieren. Das Zielprotein wiederum kann auf neue Substrate in der Zelle einwirken. Die Kinaserezeptoren sind in der Regel Tyrosinkinasen, es gibt jedoch auch einige wenige Serin-/Threoninkinaserezeptoren.
171 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
G-Proteine G-Proteine können Proteine oder Ionenkanäle aktivieren oder hemmen und lösen eine intrazelluläre Signalkaskade aus. Die G-Proteine übertragen Signale von einer Vielzahl von Rezeptoren auf viele verschiedene Moleküle. Viele klassische Neurotransmitter wirken über eine G-Proteinvermittelte Signaltransduktion. Zur Superfamilie der GProtein-gekoppelten Rezeptoren gehören u. a. die Muskarin-, die α- und β-Adrenozeptoren und Untergruppen von glutamatergen Rezeptoren (vgl. auch ⊡ Abb. 7.4a und ⊡ Tab. 7.3).
Effektoren Unter einem Effektor versteht man ein Molekül, das durch ein G-Protein aktiviert oder in selteneren Fällen inhibiert wird. Häufig handelt es sich dabei um ein anderes membranständiges Protein. Der Rezeptor befindet sich demnach »upstream« und der Effektor »downstream« von dem G-Protein. Als Effektormoleküle dienen v. a.: Die Adenylatzyklase (AC), die Guanylatzyklase (GC) und die Phospholipasen A2 (PLA2) und C (PLC). ⊡ Tab. 7.3 gibt einen Überblick über die Effektoren, die mit verschiedenen Typen von G-Proteinen gekoppelt
⊡ Tab. 7.3. G-Proteinklassen unterscheiden sich durch ihre Effektoren und werden durch eine Vielzahl von Transmembranrezeptoren aktiviert G-Protein
Effektor
Second messenger
Beispiele für Rezeptoren
Gs
Aktiviert Adenylatzyklase
cAMP ↑
β-Adrenozeptor
Golf
Aktiviert Adenylatzyklase
cAMP ↑
Olfaktorische Rezeptoren
Gi
Hemmt Adenylatzyklase, öffnet K+Kanäle
cAMP ↓
M2-Azetylcholinrezeptor
Go
Schließt Ca2+-Kanäle
Membranpotenzial ↑, Membranpotenzial ↓
α2-Adrenozeptor, GABABRezeptor
Gt (Transducin)
Stimuliert die cGMPPhosphodiesterase
cGMP ↓
Rhodopsinrezeptor
Gq
Aktiviert Phospholipase Cβ
InsP3, DAG ↑
M1-Azetylcholinrezeptor, 5-HT2-Rezeptor
InsP3 Inositolbiphosphat; DAG Diacylglyzerol.
sind. Einige G-Proteine wirken auf viele Effektoren ein, die ihrerseits wiederum viele unterschiedliche Übertragungswege aktivieren. Klassische G-Proteine der Neurotransmission sind Gs und Gi: Gs aktiviert Adenylatzyklase und erhöht somit die cAMP-Konzentration, Gi hemmt umgekehrt die Adenylatzyklase und erniedrigt die cAMP-Konzentration. Es handelt sich also bei den Second messengern um Mitglieder der wichtigen Klasse der zyklischen Nukleotide. Ein weiteres klassisches G-Protein ist Gq: Es aktiviert Phospholipase C (PLC) und fördert somit die Bildung einer weiteren bedeutenden Gruppe von Second messengern, die aus kleinen Lipidmolekülen bestehen wie Inositoltrisphosphat (InsP3) und Diacylglyzerol (DAG), die aus dem Membranphospholipid (Phosphatidylinositol-4,5Biphosphat, PIP2) gebildet werden. G-Proteine oder ihre Second messenger können auch direkt auf Kalium- oder Kalziumionenkanäle wirken und diese öffnen oder schließen. Bei der Aktivierung von PLC kommt es infolge der Bildung von InsP3 zur intrazellulären Freisetzung von Kalziumionen aus dem endoplasmatischen Retikulum und wahrscheinlich über Bildung weiterer Abbauprodukte des Inositolphosphatmetabolismus (z. B. InsP4) zur Öffnung von Kalziumkanälen in der Zytoplasmamembran. Die intrazelluläre Kalziumkonzentration wird heute ebenfalls als wichtiger Second messenger der zentralen Neurotransmission angesehen. Weitergabe des Signals von Second messengern Die gebildeten Second messenger aktivieren nun ebenfalls eine Signalkaskade, an der v. a. Kinasen, Phosphatasen und Proteasen beteiligt sind. Die Substrate dieser Enzyme befinden sich entweder in der Zellmembran, dem Zytoplasma oder im Zellkern. Eine genauere Charakterisierung der zytosolischen Kinasen erfolgt im anschließenden Kapitel. cAMP aktiviert die Proteinkinase A (PKA). Bei ansteigender
cAMP-Konzentration bindet cAMP an die regulatorische Untereinheit von PKA. Dadurch wird die katalytische Untereinheit von PKA freigesetzt. Diese kann in den Zellkern wandern und phosphoryliert dort z. B. CREB (Bindungsprotein des cAMP-Response-Elements) und löst somit einen Transkriptionsprozess aus. CREB. CREB ist eines der wesentlichen Substrate der PKA
im Zellkern (⊡ Abb. 7.5). Daneben werden Proteine von ihr phosphoryliert einschließlich spannungsabhängiger Kanäle in der Zellmembran (z. B. Na+-Kanäle, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, L-Type-Ca2+-Kanäle), Rezeptoren (z. B. GABAA-Rezeptoren, Non-NMDA-Glutamat-Rezeptoren, β-Adrenozeptoren), Na+-K+-ATPase, Synapsin I und II, Tyrosinhydroxylase, das in die Synthese der Katecholamine involviert ist. Aber auch die Expression von induzierbaren Transkriptionsfaktoren wie c-Fos werden durch CREB aktiviert. Auf diese Weise ist cAMP an der
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Kontrolle des Ionenstromes durch die Zellmembran, an der Neurotransmitterfreisetzung und der Funktion des Katecholaminsystems sowie an der neuronalen Genregulation beteiligt. Über Phosphodiesterasen wird cAMP zu 5β-Adenosin-Monophosphat inaktiviert. Somit wird die Wirkung beendet.
⊡ Tab. 7.4. Regulation und Zielgene bzw. Zielproteine von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktor
Aktivierende Kinase
Beispiele für das Zielgen bzw. Zielprotein
CREB
Proteinkinase A (PKA)
Somatostatin
Calcium-CalmodulinKinase (CaM-Kinase)
Tyrosinhydroxylase
RSK-2 (gehört zur Gruppe der Ser/ThrKinasen)
c-Fos
Fos-regulierende Kinase (FRK)
Tyrosinhydroxylase
cGMP aktiviert die Proteinkinase G (PKG). Es existieren 2
unterschiedliche Formen der PKG, einmal in löslicher Form (Typ I) und einmal in membrangebundener Form (Typ II). Typ I ist die häufigste Form und kommt auch im Gehirn – hauptsächlich im Zerebellum – vor. Bestimmte Phosphodiesterasen werden durch cGMP aktiviert oder inhibiert. Dies erlaubt eine Interaktion zwischen dem cAMP- und dem cGMP-System. So reduziert cGMP die Effekte von cAMP, indem es dessen Wirkung durch Phosphodiesteraseaktivierung beendet.
7 Diacylglyzerol (DAG) aktiviert Proteinkinase C (PKC). PKC
stellt eine Enzymfamilie dar. PKC-Isoenzyme können kalziumabhängig sein (z. B. PKC α, β und γ). Inaktive PKC kommt im Zytoplasma vor. Nach Ansteigen der intrazellulären Kalziumkonzentration transloziert PKC in die Zellmembran und bindet dort an Phospholipide. Diese Bindung ist kalziumabhängig und wird durch DAG stimuliert (Voraussetzung für die volle Enzymaktivität). Die Stimulation der PKC wird durch den Abbau der DAG und möglicherweise durch Resynthese zu PIP2 beendet. Phorbolester (z. B. Phorbol-12-Myristat-13-Acetat) können den Effekt von DAG permanent nachahmen, allerdings mit größerer Potenz und niedrigerer Metabolisierungsrate. Viele wichtige neuronale Proteine sind Substrate der PKC: spannungsabhängiger Na+-Kanal, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, GABAA- und NMDA-Rezeptor, »growth-associated protein 43« (GAP-43 auch als Neuromodulin oder Protein B-50 bezeichnet). Dieses Protein (GAP-43) kommt hauptsächlich in Nervendigungen im adulten Gehirn vor und scheint in Plastizitäts- und Transmitterfreisetzungsprozesse involviert zu sein. Kalzium und Calmodulin aktivieren die Kalzium-Calmodulin-Kinase. Die meisten Second-messenger-Funktionen
von Kalzium setzen seine Interaktion mit einem intrazellulären kalziumbindenden Protein, dem Calmodulin, voraus. In verschiedenen neuronalen Zellen wurden neben Calmodulin noch andere kalziumbindende Proteine nachgewiesen: Parvalbumin, Calbindin oder Calretinin. Im Gegensatz zu Calmodulin ist deren exakte Funktion jedoch noch weitgehend ungeklärt. Calmodulin besteht aus einer einzelnen Polypeptidkette und besitzt 4 Bindungsstellen für Kalzium. Wenn die 4 Positionen mit Kalzium besetzt sind, ist das Protein aktiviert. Der Kalzium-Calmodulin-Komplex (CaM) reguliert direkt viele wichtige Enzyme (⊡ Tab. 7.4). Neben diesen Enzymen stimuliert CaM über eine CaM-Kinase-Kinase
c-Fosa
Synapsin I BDNF (»brain derived neurotrophic factor«)
IGF-I NGF
c-Juna
c-Jun NH2-terminale Kinase (JNK)
Fas-Ligand (CD95) Zyklooxygenase TNF-α, TNF-β, IL-2
NFκB
a
IκB-Kinase (phosphoryliert Inhibitor, der somit NFκB für Translokation in den Zellkern freigibt)
IL-1, IL-2, IL-6, IL-8 TNF-α
Dimerisierungsparameter bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird.
(CaMKK) die Wirkung von 5 Proteinkinasen. Die wichtigste davon ist die Kalzium-Calmodulin-abhängige Proteinkinase II (CaMK II). CaMK II ist in zentralen Neuronen angereichert, v. a. auf der postsynaptischen Seite. Substrate sind z. B. Tyrosin- und Tryptophanhydroxylase, Phospholipase A2, Adenylatzyklase, CREB, Calcineurin und Neurofilamentproteine. Deshalb ist CaM in ähnlicher Weise wie cAMP in Prozesse der synaptischen Neurotransmission involviert, sowohl auf prä- als auch auf postsynaptischer Seite. CaMK II kann im aktivierten Zustand durch Autophosphorylierung in einen stimulationsunabhängigen Zustand übergehen, welcher in LTP-(»long term potentiation«-) und Plastizitätsprozesse involviert zu sein scheint.
Rezeptortyrosinkinasen Rezeptortyrosinkinasen lösen intrazelluläre Phosphorylierungskaskaden aus (⊡ Abb. 7.5 b). Die Rezeptoren von Wachstumshormonen werden nach ihren Liganden benannt. Bei diesen handelt es sich in der Regel um kleine Polypeptide, die auch Zytokine genannt werden und die das Wachstum bestimmter Zelltypen stimulieren. Zu den Zytokinen gehören z. B. der epidermale Wachstumsfaktor (EGF/»epidermal growth factor«), der von Blutplättchen sezernierte Wachstumsfaktor (PDGF/»platelet derived growth factor«), der Nervenwachstumsfaktor (NGF/»nerve growth factor«) und Insulin.
173 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Die Bindung neurotropher Faktoren und Zytokine spielt eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung, Differenzierung, Funktion und Degeneration von Nervenzellen und in der Kommunikation neuronaler Netzwerke untereinander.
geschleust und phosphoryliert Transkriptionsfaktoren (ELK1 und c-Myc). ERK kann außerdem im Zytosol RSK, eine Serin-/Threonin-Kinase, aktivieren, welche dann in den Kern transloziert und dort den Transkriptionsfaktor CREB phosphoryliert (⊡ Abb. 7.4 a).
Struktur und Einteilung. Die Rezeptortyrosinkinasen haben eine allgemeine charakteristische Struktur: Als integrale Membranproteine durchqueren sie einmal die Membran und haben eine extrazelluläre N-terminale und eine intrazelluläre C-terminale Proteindomäne. Sie können aus einer einzigen Polypeptidkette (z. B. EGF) oder aus einem Dimer (z. B. Insulin) bestehen. Die Rezeptoren wirken alle auf die gleiche Weise. Sie sind Proteinkinasen, die Phosphatgruppen auf Proteine übertragen. Nach ihrer Lokalisation unterscheidet man grundsätzlich 2 Gruppen von Proteinkinasen: 1. Rezeptorproteinkinasen in der Membran und 2. zytosolische Proteinkinasen, die sich frei im Zytosol bewegen können.
Weitere Reaktionswege. Die durch die Aktivierung von
Zu jeder Gruppe gehören 2 Typen von Kinasen, die danach eingeteilt werden, welche Aminosäure am Zielprotein durch sie phosphoryliert wird. Bei den Rezeptoren überwiegen die Tyrosinkinasen, dagegen handelt es sich bei den zytosolischen Kinasen meist um Serin-/Threoninkinasen. Zu jeder Kinase gibt es eine für die entsprechenden Aminosäuren spezifische Phosphatase, die die Phosphorylierung und somit die Aktivierung rückgängig machen kann. Wirkungsweise. Bindet ein Ligand an den Tyrosinkinase-
rezeptor kommt es entweder intrazellulär zur Bildung von Second messengern (v. a. Lipide, die durch die Effektorsysteme PLC, PLA2 oder PI-Kinasen aktiviert werden) oder es kommt zu einer Proteinkinasesignalkaskade, die Second-messenger-unabhängig ist. Dabei aktiviert jede Kinase die nächste, indem sie diese phosphoryliert. Die letzte Kinase phosphoryliert in der Regel Transkriptionsfaktoren, die den Phänotyp von Zellen verändern können. Ras-Reaktionsweg. Der Reaktionsweg, der bisher am bes-
ten charakterisiert wurde, wird von Rezeptortyrosinkinasen ausgelöst und aktiviert Kinasen im Zytosol: der RasReaktionsweg (⊡ Abb. 7.4 a). Das Ras-Protein ist ein membrangebundenes Protein, dessen Aufgabe es ist, an der Zelloberfläche ausgelöste Proliferationssignale in das Zellinnere zu übertragen. Bei der Transduktionskaskade wird das Signal vom Rezeptor über einen Adaptor zu Ras weitergeleitet, das wiederum zu einer Reihe von Serin-/ Threonin-Phosphorylierungen führt. Schließlich wird das Endglied des aktivierten MAP-Kinase-(mitogenaktivierte Proteinkinase-)Reaktionswegs ERK (»extracellular signal-related kinase«, ERK1 und ERK2) in den Kern ein-
Rezeptortyrosinkinasen initiierten Signalwege können außerdem mit der apoptotischen Maschinerie interagieren und Apoptose hemmen (⊡ Abb. 7.7). Hierzu gehört z. B. der PI3K/Akt-Signalweg, der durch diverse neurotrophe Faktoren, wie z. B. Nervenwachstumsfaktor (NGF), »brain-derived neurotrophic factor« (BDNF), »glial cell line-derived neurotrophic factor« (GDNF) und »insulinlike growth factor-I« (IGF-I) aktiviert werden kann. Aktive PI3K (Phosphatidylinositol-3-Kinase) bewirkt die Phosphorylierung von Akt, das wiederum phosphoryliert, und inaktiviert das pro-apoptotische Bad und Caspase-9 (⊡ Abb. 7.7). Durch ein ausreichendes Angebot an neurotrophen Faktoren wird außerdem die Aktivität von c-Jun-NH2-terminale Kinase (JNK) und damit ein Signal zur verstärkten Expression pro-apoptotischer Bcl-2-Proteine unterdrückt (Yuan u. Yankner 2000). Andere antiapoptotische Signale, die u. a. durch Akt und MAP-Kinasen gesteuert werden, basieren z. B. auf der Aktivierung von CREB und NFkB (s. oben; ⊡ Tab. 7.4), die die Transkription anti-apoptotischer Proteine induzieren können (Mattson 2000). Die Schlüsselmoleküle der neuronalen Apoptose sind eine ganze Reihe von Proteasen, die sog. Caspasen, die der Zelle den Todesstoß versetzen, indem sie lebenswichtige Proteine zerstören. Die Aktivierung der Caspasen erfolgt nach dem Schneeballprinzip: Caspasen zerschneiden andere Caspasen und aktivieren dadurch deren proteolytische Funktion. Inzwischen sind 14 Mitglieder der Caspase-Familie bekannt. Die Caspasen lassen sich funktionell in Initiator- und Effektor-Caspasen unterteilen. Erstere – auch »Upstream-Caspasen« genannt (z. B. Caspase-8; vgl. ⊡ Abb. 7.7) – werden auf ein membranäres Signal hin aktiviert und aktivieren Caspasen der 2. Gruppe – auch als »Downstream-Caspasen« bezeichnet –, die prinzipiell für die Spaltung von Struktur- und Regulatorproteinen verantwortlich sind (z. B. Caspase-3; ⊡ Abb. 7.7). Bei der extrinsischen Apoptose wird durch die Aktivierung von sog. Todesrezeptoren auf der Zelloberfläche, wie z. B. TNF(Tumornekrosefaktor α)- oder Fas-Rezeptoren, Zelltod induziert (⊡ Abb. 7.7). Der intrinsische (mitochondriale) Apoptoseweg wird durch Stressoren wie z. B. UV-Strahlung, freie Sauerstoffradikale/oxidativen Stress oder z. B. Wachstumsfaktorentzug hervorgerufen. Er wird reguliert durch Proteine der Bcl2-Familie. Einige Proteine dieser Familie, z. B. Bcl2, BclXL, hemmen den Apoptoseprozess, andere hingegen fördern ihn, z. B. Bax, Bak, Bid, Bad. Interessanterweise besteht auch ein Crosstalk zwischen beiden Kaskaden, so
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
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⊡ Abb. 7.7. Apoptotische Signalwege. Bei der Oligomerisierung des Todesrezeptors durch spezifische Todesliganden werden Adaptormoleküle rekrutiert, die in die Aktivierung des JNK-Singnalweges und der Caspasen -8 und -2 involviert sind. Diese können nachfolgend Caspase-3 aktivieren. Durch die Bindung von neurotrophen Faktoren
kann aktivierte Caspase-8 bzw. -2 neben der direkten Aktivierung von Caspase-3 auch indirekt über die Spaltung von Bid zu truncated Bid, welches die Einlagerung von Bax in die äußere mitochondrilae Membran aktiviert, zur Stimulation des intrinsischen Weges führen. In den letzten Jahren gewinnt die Untersuchung der Fehlregulation apoptotischer Mechanismen bei der Schädigung von Nervenzellen zunehmend Beachtung, und eine Beteiligung bei der Pathogenese von neurodegenerativen Erkrankungen, wie z. B. Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson, wird derzeit diskutiert.
7.3.5
Transkriptionskopplung
Die phänotypische Vielfalt beruht größtenteils auf Unterschieden in der Expression proteinkodierter Gene, also solcher, die von der RNA-Polymerase II transkribiert werden. Hierbei wird eine RNA-Kette synthetisiert, die
an ihre Rezeptoren werden intrazellulär protektive Mechanismen über PI3K/Akt und MAP-Kinasen (MEK, ERK) induziert. Dadurch werden proapoptotische Faktoren (JNK, BAX, Bad) und die Caspase-9 gehemmt. Weitere Erläuterungen sind im Text aufgeführt
einem bestimmten Strangabschnitt einer DNA-Doppelhelix entspricht. Bevor ein Gen zur Expression gekommen ist, sind die folgenden Schritte der Reihe nach notwendig: die strukturelle Aktivierung des Gens, die Initiation der Transkription, die Prozessierung des Transkripts, der Transport des Transkripts ins Zytoplasma, die Translation der mRNA. Die Signal-Transduktions-Transkriptions-Kopplung umfasst demnach alle Teilschritte, die von der neuronalen Erregung zur Gentranskription erfolgen. Hierbei wird die Information des ersten Reizes – wie die synaptische Stimulation durch Neurotransmitter aber auch die humorale Stimulation z. B. durch Wachstumsfaktoren – in einen von der DNA gespeicherten Molekülkode umgewandelt (⊡ Abb. 7.7).
175 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Die Transkription beginnt, wenn die RNA-Polymerase an einen besonderen DNA-Bereich am Anfang des Gens, den Promotor bindet. Der Promotor schließt das erste Basenpaar ein, das in RNA transkribiert wird, den sog. Startpunkt. Sequenzen, die sich vor dem Startpunkt befinden, bezeichnet man als stromaufwärts (»upstream«) gelegen. Mit der RNA-Polymerase II können sehr viele Faktoren zusammenarbeiten. Sie lassen sich in 3 Hauptgruppen einteilen: Allgemeine Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren sind
an allen Promotoren zur Einleitung der RNA-Synthese notwendig, legen die Initiationsstelle fest und bilden zusammen mit der RNA-Polymerase den basalen Transkriptionsapparat. Upstream-Faktoren. Diese sind DNA-bindende Proteine,
die bestimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt erkennen. Die Aktivität der Faktoren wird nicht reguliert, sie sind ubiquitär, wirken auf jeden Promotor mit passender Bindungsstelle und erhöhen die Effizienz des Transkriptionsstarts. Wenn ein Promotor nur Elemente enthält, die von allgemeinen und Upstream-Faktoren erkannt werden, ist er für die Transkription konstitutiver Gene (»housekeepinggene«) verantwortlich. Somit kann der Promotor in jedem Zelltyp die Transkription seines Gens in Gang setzen.
⊡ Abb. 7.8. Regulation der Aktivität von Transkriptionsfaktoren z. B. durch Modifikation, durch Bindung eines Liganden oder durch Bindung eines Inhibitors
Induzierbare Faktoren. Diese binden ebenfalls an be-
stimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt. Sie besitzen eine regulatorische Funktion. Sie werden zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Geweben synthetisiert oder aktiviert und sind zuständig für die Kontrolle sich zeitlich oder räumlich ändernder Transkriptionsmuster. Somit lässt sich die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren und die Expression ihrer Zielgene als eine Plastizität auf der Ebene der Genexpression begreifen. Die DNA-Sequenzen, an die sie binden, werden auch als Response-Elemente bezeichnet. Mehrere große Familien an Transkriptionsfaktoren konnten identifiziert werden, deren Einteilung sich auf die strukturellen Merkmale der Sequenzmotive bezieht, die für die DNA-Bindung notwendig sind (z. B. Zinkfingermotiv, Leucin-Reißverschluss, Steroidrezeptoren).
Aktivitätsregulierung von Transkriptionsfaktoren ! Wichtig ist es, zu verstehen, dass die Bindung eines Transkriptionsfaktors an die genregulatorische DNA-Sequenz mit einer Erhöhung oder Suppression der Transkription dieses Gens einhergeht. Wie in ⊡ Abb. 7.8 schematisch verdeutlicht, kann die Aktivität eines induzierbaren Transkriptionsfaktors auf verschiedene Weise reguliert werden:
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Die Aktivität wird durch Modifikation des Faktors kontrolliert (Beispiel: AP-1, ein Heterodimer aus den Untereinheiten c-Jun und c-Fos, wird aktiv, wenn Jun phosphoryliert wird); durch Ligandenbindung wird der Faktor aktiviert (Beispiel: Steroidrezeptor); der inaktive Faktor ist an die Kernhülle und an das endoplasmatische Retikulum gebunden. Bei Mangel an Sterolen (z. B. Cholesterin) wird die aktive zytosolische Domäne abgespalten, die dann im Kern als Transkriptionsfaktor fungiert; der Faktor wird durch Verfügbarkeitsänderung aktiviert (z. B. NFkB wird durch das inhibitorische Protein I-kB im Zytoplasma zurückgehalten. Bei Phosphorylierung des Inhibitors wird NFkB frei).
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CREB. Wie schon erwähnt ist CREB ein Transkriptionsfaktor, der z. B. über die Bildung von cAMP und PKAAktivierung aktiviert wird. Aktiviertes CREB, d. h. phosphoryliertes CREB (»cAMP response element binding protein«), bindet an CRE (»cAMP response element«), eine kurze DNA-Sequenz bestehend aus nur 8 Nukleotiden (5bTGACGTCA-3b), und erhöht somit die Transkription des »downstream«-gelegenen Gens. CREB ist wesentlich an der Umsetzung des synaptischen Stimulationssignals im Langzeitgedächtnis beteiligt. Zielgene von CREB sind Gene, die für Transkriptionsfaktoren (z. B. c-Fos) sowie für andere Proteine kodieren (⊡ Tab. 7.4).
Kaskade von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktoren wirken oftmals in einer Kaskade. So induziert CREB und eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktoren die Gruppe der »immediate-early genes« (IEG). Dazu gehören c-fos, fosB, c-Jun, JunB, JunD u. a. Die Produkte dieser IEG sind selbst wiederum Transkriptionsfaktoren (induzierbare Transkriptionsfaktoren wie z. B. c-Jun, c-Fos, JunB, FosB), denen eine bedeutende Rolle in der neuronalen Genregulation zukommt, da sie die Genexpression verstärken und spezifizieren. Jun und Fos, die zur AP-1-(»activator protein-1«-)Familie gehören, sind der Klasse der Leucin-ReißverschlussTranskriptionsfaktoren zuzuordnen. Sie neigen dazu, mit sich selbst oder mit anderen Transkriptionsfaktoren (z. B. JunB, JunD, AFT-4, NFAT) Homo- bzw Heterodimere (z. B. AP-1 bestehend aus einer c-Jun- und einer c-FosUntereinheit) zu bilden. Die Fähigkeit zur Dimerisierung ist von entscheidener Bedeutung für die Interaktion dieser Faktoren mit der DNA. Die Dimerisierungspartner bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird. Der bloße Nachweis der Expression eines Transkriptionsfaktors sagt demnach noch nichts Genaues über seinen funktionalen Zustand aus. Wie der Name schon sagt, werden IEG sehr rasch exprimiert. Schon nach 30 min werden sie als Antwort auf einen adäquaten Reiz hin exprimiert, während im Ruhezustand der Zelle, also in Abwesenheit
eines Stimulus, nur sehr niedrige Spiegel an Fos und Jun vorliegen. Viele Stimuli, die Second messenger generieren (z. B. cAMP, Kalzium), können über die Aktivierung von CREB oder anderer Transkriptionsfaktoren sehr rasch die Expression von Fos induzieren (⊡ Abb. 7.4 b), indem sie an den c-fos-Promotor binden. Von daher können c-fos und andere IEG als wichtige Marker des neuronalen Aktivierungsgrads fungieren. Dimere. Fos vermag alleine nicht an DNA zu binden, wahrscheinlich weil es – im Gegensatz zu Jun – keine Homodimere bilden kann. Das Jun-Fos-Heterodimer indes bindet mit der gleichen Sequenzspezifität an DNA wie das Jun-Jun-Homodimer. Die Affinität des Heterodimers für die AP-1-Zielsequenz ist allerdings etwa 10-mal so hoch wie die des Jun-Homodimers. Der Nachweis der c-FosExpression wird demnach auch als Nachweis der Aktivität von AP-1 angesehen und allgemein akzeptiert. Ähnlich CRE stimuliert die aktivierte AP-1-Bindungsstelle die Transkription des downstream-gelegenen Gens. Der Mechanismus der Aktivierung und Wirkungsweise von Fos und Jun sind in ⊡ Abb. 7.4 b und ⊡ Tab. 7.4 zusammengefasst. Ein anderes Beispiel ist die Dimerisierung von Fos oder Jun mit ATF-Proteinen, die zur Bindung an die CREDNA-Sequenz führt. Induzierbarkeit. Die Induzierbarkeit von c-Jun und c-Fos
ist verschieden. Allgemein kann man sagen, dass c-Fos ein Mediator der synaptisch-regulierten Genexpression ist, währen c-Jun überwiegend degenerativ-regenerative und immunologische Signale vermittelt (die Involvierung von c-Jun, das über JNK aktiviert wurde, in neurodegenerativen Prozessen wird z. B. bei der Alzheimer-Demenz diskutiert; vgl. ⊡ Tab. 7.4 und ⊡ Abb. 7.7). Im Hinblick auf psychische Erkrankungen bedeutet dies, dass ihre neurobiochemischen Grundlagen nicht notwendigerweise auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren beschränkt sein müssen, sondern auch im Bereich transsynaptischer Prozesse (z. B. Signaltransduktionskaskaden) liegen können (Duman et al. 1999). Umgekehrt bedeutet dies, dass die Wirkung von Psychopharmaka nicht auf den synaptischen Spalt beschränkt ist. Vielmehr beeinflussen Medikamente, die mit der Neurotransmission interagieren, auch nachfolgende intrazelluläre Signalprozesse, einschließlich der Genexpression (Thome et al. 2000). Interessanterweise scheinen beispielsweise Antidepressiva insbesondere solche Gene zu beeinflussen, die in die Aufrechterhaltung neuronaler Plastizität involviert sind (Thome et al. 2002). Neben der erwähnten cAMP-PKA-CREB Signaltransduktionskaskade, die insbesondere bei serotoninergen und noradrenergen Neuronen eine wichtige Rolle spielt, gibt es eine Vielzahl weiterer solcher Kaskaden: Beispielhaft wären die MAPK-, p38K-, und JNK-Kaskaden zu nennen (Thome 2005).
177 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
7.4
Neuroanatomische Aspekte
Regelkreise und Gleichgewichtshypothesen Unter physiologischen Bedingungen wird ein ungestörtes Funktionieren des Gehirns durch ein komplexes Ineinandergreifen der verschiedenen Neurotransmittersysteme und eine komplizierte Interaktion der einzelnen zentralnervösen Funktionssysteme gewährleistet (»Symphonie der Synapsen«). Vermutlich haben neuroanatomische oder neurobiochemische Störungen in einem Neurotransmittersystem bzw. in einer zerebralen Funktionseinheit immer auch Alterationen in anderen Systemen zur Folge. Daher kann die Physiologie ebenso wie die Pathophysiologie des ZNS nur dann zufriedenstellend erfasst werden, wenn Modelle zur Anwendung kommen, die die Verschaltungen und Interaktionen zentralnervöser Strukturen und Transmittersysteme berücksichtigen. Die verschiedenen Transmittersysteme befinden sich in einer fein abgestimmten Balance, die mit einer Waage mit multiplen Gleichgewichten zwischen multiplen Transmittern und Modulatoren verglichen werden kann. Unterschiedliche Einzeleffekte können zu ähnlichen Nettoeffekten führen. Darüber hinaus müssen zeitliche Veränderungen und die Fähigkeit zur neuronalen Plastizität berücksichtigt werden. Solche komplexen, sich aus multiplen Faktoren zusammensetzende Modelle werden den realen Verhältnissen dennoch sicher eher gerecht als einfache Monotransmittermodelle. Gleichzeitig muss die neuroanatomische Strukturierung des Gehirns mit seinen verschiedenen, miteinander interagierenden und unterschiedlich vulnerablen Funktionssystemen beachtet werden (⊡ Abb. 7.9). Für die am besten untersuchten Neurotransmitter (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Azetylcholin) soll
⊡ Abb. 7.9. Regelkreisläufe, sog. »Loops« im Kortex (SM Supplementäres Motorfeld, PR Prämotorisches Rindenfeld, MR Motorische Rinde, GP Gyrus postcentralis, GTS Gyrus temporalis superior, GTI Gyrus temporalis inferior, GC Gyrus cinguli, CH hippocampaler Kortex, CE entorhinaler Kortex, SNc Substantia nigra, pars compacta, SNr Substantia nigra, pars reticulata, MGP medialer Globus pallidus, LGP lateraler Globus pallidus, NST Nucleus subthalamicus, VLO/VLM Thalamus ventralis lateralis, pars oralis/medialis, MD pm Thalamus medialis dorsalis, pars medialis)
kurz und stark vereinfacht ihre anatomische Lokalisation im ZNS dargestellt werden (⊡ Abb. 7.10).
7.5
Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
Die Erkenntnis, dass ein Dopamindefizit in der Substantia nigra im Wesentlichen für das klinische Bild des Parkinson-Syndroms verantwortlich ist und pharmakotherapeutische Interventionen, die auf eine Erhöhung der dopaminergen Aktivität abzielen, zu einer Reduktion der klinischen Symptomatik führen, hat die Vorstellung, dass auch andere neuropsychiatrische Erkrankungen durch Neurotransmitter- und/oder Rezeptorveränderungen bedingt sind, entscheidend geprägt (Birkmayer u. Riederer 1986, S. 56 ff.).
Mono-Neurotransmittertheorien Allerdings konnte bislang keine psychische Krankheit identifiziert werden, bei der in ähnlicher Weise, wie z. B. bei neurologischen Erkrankungen, ein umschriebenes Transmitterdefizit im Zentrum der pathophysiologischen Alterationen steht. Dennoch wurden gerade für Psychoseerkrankungen Neurotransmitterhypothesen aufgestellt, die heute in ihrer klassischen Form kaum mehr aufrechtzuerhalten sind. Die Simplizität der Mono-Neurotransmittertheorien hat jedoch dazu geführt, dass sie bis heute, sicher auch unter pharmazeutisch-marktstrategischen Aspekten, propagiert werden, obgleich sie große Schwächen besitzen und insbesondere nicht die komplexe Ätiopathogenese und Klinik psychischer Erkrankungen erklären können.
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
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⊡ Abb. 7.10. Die wichtigsten noradrenergen, serotoninergen und dopaminergen Projektionsbahnen im menschlichen Gehirn. (Nach Nieuwenhuys 1985)
Gleichgewichtstheorien Sehr viel geeigneter und realitätsnäher sind sog. Gleichgewichtstheorien, die von Störungen im interagierenden System der Neurotransmitter ausgehen. Neurotransmittertheorien haben die pharmakopsychiatrische Forschung maßgeblich stimuliert, und die Effektivität von antidopaminergen oder serotoninergen Substanzen in der Behandlung von schizophrenen bzw.
affektiven Psychoseerkrankungen zeigt, dass diese Theorien zumindest einen Teilaspekt der pathologischen Grundlagen dieser Krankheitsbilder abdecken. Eine besondere Schwierigkeit in der psychiatrischen Grundlagenwissenschaft stellt das weitgehende Fehlen zufriedenstellender Tiermodelle für neuropsychiatrische Erkrankungen dar. Daher müssen sich alle Hypothesen auf mehr oder weniger indirekte Hinweise und Post-mortem-Gehirnbefunde stützen.
179 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
7.5.1
Demenz vom Alzheimer-Typ
In Gehirnen von Patienten, die an einer Demenz vom Alzheimer-Typ litten, wurde in Post-mortem-Studien ein Azetylcholindefizit im basalen Vorderhirn gefunden. Azetylcholin ist, auch im Tiermodell, ein für Lern- und Gedächtnisvorgänge besonders wichtiger Neurotransmitter (Blokland 1995). In Post-mortem-Hirngewebe von Demenzpatienten wurden folgende Reduktionen festgestellt: ChAT um 50–85% in verschiedenen Kortexarealen und im Hippocampus, die Muskarinrezeptorbindung im frontalen Kortex um 18%, die Serotoninkonzentration im Hippocampus und Striatum um 21–37%, die Noradrenalinkonzentraton im Putamen sowie frontalen und temporalen Kortex um 18–36%, die Dopaminkonzentration im temporalen Kortex und Hippocampus um 18–27%, die »somatostatinartige« Immunreaktivität im frontalen, temporalen und parietalen Kortex um 28–42%. Diese Zahlen zeigen, dass serotoninerge und noradrenerge Projektionen bei Demenz vom Alzheimer-Typ ebenfalls betroffen sind, allerdings in einem sehr viel geringeren Maße als cholinerge Neurone (Reinikainen et al. 1990). Dies hat dazu geführt, dass neben vielen anderen Therapieversuchen auch verschiedene Cholinesteraseinhibitoren in der Psychopharmakotherapie des AlzheimerSyndroms zur Anwendung kommen.
7.5.2
Depressionen (manisch-depressive Erkrankungen)
Bei depressiven Erkrankungen sollen in erster Linie Veränderungen in Noradrenalin- und Serotoninsystemen vorkommen.
Noradrenalinhypothese Die Noradrenalinhypothese wurde bereits in den 1960er Jahren intensiv diskutiert (Schildkraut 1965). Noradrenalinhypoaktivität führt generell zu niedrigem Blutdruck, langsamem Puls, schlaffer Körperhaltung, Verlust von Initiative, Verlangsamung von Entscheidungs- und Entschlussfähigkeit, vorzeitiger Ermüdbarkeit, apathischer Stimmungslage.
Serotoninhypothese Die Serotoninhypothese (Coppen 1967) kann sich auf folgende Befunde stützen: Serotoninmetabolite sollen im Liquor von depressiven Patienten verändert sein. In Postmortem-Studien wurden Veränderungen der Serotonin-
metaboliten in Gehirnen von Suizidopfern gefunden, auch wurde eine veränderte 5-HT2-Rezeptordichte im frontalen Kortex für diese Gruppe beschrieben (Mann et al. 2001). Antidepressive Psychopharmaka greifen in den Serotoninstoffwechsel ein. Theoretisch könnte bei Patienten mit Depressionen an verschiedenen Stellen der Synthese, des Metabolismus und der Rezeptoraktivierung des Serotonins ein Defekt vorliegen. Diskutiert werden: Alterationen der Tryptophankonzentrationen im Plasma, eine Veränderung des Tryptophantransports und metabolismus im Gehirn, Veränderungen der Tryptophanhydroxylase- und Tryptophandekarboxylaseaktivitäten, Störungen der Serotoninspeicherung, -freisetzung und -wiederaufnahme, eine veränderte MAO-Aktivität sowie Funktionsstörungen im Bereich der Serotoninrezeptoren und postsynaptischer Effektorsysteme. Klinische Symptome. Das serotoninerge System ist vermutlich an der Regulation der affektiven Kontrolle beteiligt. Serotoninerge Hypoaktivität ist assoziiert mit schlechtem Schlaf, körperlicher Inaktivität, Introversion und reduziertem Aktivitätsbedürfnis. Gelernte Hilflosigkeit. Im Tiermodell der »gelernten Hilf-
losigkeit«, das von einigen Wissenschaftlern als, wenn auch suboptimales, Tiermodell der Depression akzeptiert wird, wurde ein Anstieg der endogenen, kaliumabhängigen Serotoninfreisetzung im Hippocampus beobachtet. Keine Unterschiede fanden sich hingegen in der Azetylcholin-, Dopamin- und Noradrenalinausschüttung. Diese Befunde legen nahe, dass präsynaptische 5-HT-Mechanismen bei der Entstehung von »Depressionen«, zumindest im Modell der »gelernten Hilflosigkeit«, eine gewisse Rolle spielen (Edwards et al. 1992). Multiple Imbalance. Die Tatsache, dass immer häufiger
selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Behandlung depressiver Syndrome erfolgreich eingesetzt werden, zeigt, dass die serotoninerge Neurotransmission in das pathogenetische Geschehen involviert sein muss. Allerdings werden auch unter SSRI-Behandlung therapieresistente Depressionen immer wieder beobachtet. Dies zeigt, dass auch im Falle depressiver Erkrankungen eine Mono-Transmitterhypothese nicht das gesamte pathophysiologische Spektrum dieser Krankheitsgruppe erfassen und erklären kann. Psychoseerkrankungen mit depressiver Symptomatik sind wahrscheinlich durch eine Imbalance multipler neuronaler Systeme bedingt (Birkmayer et al. 1972; Fritze et al. 1992) bzw. durch Störungen der Signaltransduktionskaskade (Akin et al. 2005).
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
7.5.3
7
Schizophrene Psychosen
Unter dem Begriff der schizophrenen Psychosen wird eine Gruppe heterogener Erkrankungen mit recht unterschiedlicher Ätiopathogenese, Verlauf und Prognose subsummiert. Die Tatsache, dass es bislang kein allgemein anerkanntes, auf biologischen Kriterien fußendes Einteilungsprinzip gibt, das sog. »nosologische Entitäten« fassbar und eine differenzierte Diagnostik möglich machen würde, erschwert die Erforschung dieses Symptomkomplexes ungemein. Während im Bereich der degenerativen Hirnerkrankungen ein stetiger Erkenntniszuwachs zu verzeichnen ist, bleibt die Schizophrenieforschung seit Jahrzehnten trotz erheblicher wissenschaftlicher Bemühungen und enormer Anstrengung in weiten Bereichen fruchtlos und frustran. Dennoch wurden einige Theorien zur Entstehung schizophrener Psychosen aufgestellt, die von einer gestörten Neurotransmission ausgehen. Im Zentrum des Interesses stehen dabei das dopaminerge und glutamaterge System. Die Dopamin- und die Glutamathypothese haben die biologische Erforschung schizophrener Erkrankungen ungemein stimuliert und stellen einen wichtigen Ausgangspunkt auch aktueller Forschungsbemühungen dar, wenngleich sie auch viele Fragen hinsichtlich der Entstehung dieser häufig sehr destruierenden und therapieresistenten Krankheiten offen lassen.
Vieles deutet darauf hin, dass bei schizophrenen Psychosen nicht nur dopaminerge Neurone, sondern auch andere Monoaminsysteme betroffen sind (Hsiao et al. 1993).
Glutamathypothese Die Glutamathypothese geht demgegenüber von einer glutamatergen Unterfunktion insbesondere in kortikostriatalen Projektionssystemen aus. Sie stützt sich auf folgende direkte und indirekte Befunde: Hirnregionen, die in besonderem Maße bei schizophrenen Psychosen alteriert sein sollen, wie der frontale Kortex, der Hippocampus und die Regio entorhinalis, besitzen relativ viele glutamaterge Neurone. Die bei einigen schizophrenen Patienten gefundene kortikale Atrophie und der frontale Hypometabolismus wären mit einer glutamatergen Unterfunktion gut vereinbar. Phencyclidin (PCP) löst »schizophrenoide Modellpsychosen« aus. Es gibt Hinweise, dass Glutamat im Liquor von Schizophreniepatienten erniedrigt sein könnte (Kim et al. 1980). Es wurden Veränderungen zentraler Glutamatrezeptoren bei schizophrenen Psychosen beschrieben (Bleich et al. 2001). Die Glutamatfreisetzung aus Synaptosomen des frontalen und temporalen Kortex könnte bei Schizophrenien vermindert sein (Sherman et al. 1991). Ein generell anomaler Metabolismus exzitatorischer Aminosäuren könnte viele bei Schizophrenie zu findende Phänomene erklären (Tsai et al. 1995).
Dopaminhypothese
Kombination mehrerer Störungen
Die Dopaminhypothese geht davon aus, dass schizophrenen Psychosen eine »dopaminerge Hyperaktivität« zugrunde liegt. Sie stützt sich dabei auf eher indirekte Hinweise wie die antipsychotischen Effekte von Dopaminantagonisten (Neuroleptika), biochemische Befunde an Post-mortem-Hirngewebe sowie Rezeptorbindungsstudien. Neuerdings ist es aber auch möglich, mit modernen bildgebenden Verfahren die dopaminerge Aktivität in vivo darzustellen. So zeigten sich in einer Positronenemissionstomografie-(PET-)Studie tatsächlich Unterschiede in der Verteilung von Dopaminrezeptoren bei Patienten, die unter schizophrenen Psychosen litten, und gesunden Kontrollprobanden. Im Patientenkollektiv wurde in vivo eine signifikante Dopamin-D2-RezeptorVerminderung im anterioren Zingulum gefunden (Suhara et al. 2002). Wahrscheinlich sind insbesondere dopaminerge Strukturen in den mesokortikalen und mesolimbischen Systemen für die antipsychotische Wirksamkeit von dopaminantagonistischen Neuroleptika verantwortlich. Dagegen dürfte die Dopaminrezeptorblockade im Striatum für die extrapyramidalmotorischen und die im tuberoinfundibulären System für die endokrinologischen Nebenwirkungen verantwortlich sein. Die alleinige Beteiligung dopaminerger Neurotransmittersysteme an der Entstehung schizophrener Psychosen gilt mittlerweile allerdings als sehr unwahrscheinlich.
Einige Autoren versuchen auch, die Dopamin- und die Glutamathypothese miteinander zu verknüpfen und interpretieren schizophrene Psychosen als sog. Neurotransmitterimbalancesyndrom. So könnten beispielsweise sowohl eine dopaminerge Hyperaktivität als auch eine glutamaterge Hypoaktivität in einem zentralnervösen Feedback-System über »Arousal-Modulation« dazu beitragen, dass die striatale Kontrolle über die thalamische Filterfunktion sensorischer Inputs aus der Außenwelt reduziert wird und es somit gleichsam zu einer kortikalen »Informationsüberflutung« kommt (Kornhuber et al. 1990; Carlsson 1995; Carlsson et al. 2001). Solche Hypothesen gehen davon aus, dass sowohl neurobiochemische (Glutamat und Dopamin) als auch neuroanatomische Veränderungen (kortiko-striato-thalamo-kortikaler Regelkreis) in der Pathophysiologie schizophrener Psychosen von Bedeutung sind. Neuere Ansätze gehen davon aus, dass Neurotransmitterveränderungen bei schizophrenen Psychosen lediglich ein Epiphänomen darstellen, dem pathogenetische Faktoren zugrunde liegen. Beispielsweise wäre es denkbar, dass die Neurotransmitterveränderungen lediglich eine veränderte neuronale Entwicklung reflektieren, die basierend z. B. auf einer Virus- bzw. genetisch bzw. mikrotraumatisch bedingten Störung durch biochemische Alterationen in neurotro-
181 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
phen Systemen verursacht wird (Thome et al. 1998; Hattori et al. 2002).
Impulskontrollstörungen, Sexualdelinquenz, Belastungsreaktionen; Thome u. Riederer 1995).
Modell der drei Grunddimensionen 7.5.4
Angsterkrankungen
GABA ist an der Steuerung und Verarbeitung von Angsterleben maßgeblich beteiligt. Eine gesteigerte GABAFunktion mildert Angstzustände, während sie durch eine Abnahme der GABAergen Aktivität verstärkt werden. Zusätzlich jedoch scheinen auch Serotonin und Noradrenalin involviert zu sein. Angstinduzierte Verhaltensreaktionen lassen sich im Tiermodell durch Benzodiazepine, die den inhibitorischen Effekt von GABA im ZNS verstärken, in erheblichem Maß modulieren. Gleichzeitig profitieren Patienten mit Angsterkrankung von trizyklischen Antidepressiva, die insbesondere das serotoninerge und noradrenerge Neurotransmittersystem modulieren. Bislang ist unklar, inwieweit sich die verschiedenen Angsterkrankungen (Agoraphobie, Panikattacken, einfache Phobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) neurobiochemisch, d. h. hinsichtlich potenzieller Alterationen in den Neurotransmittersystemen, unterscheiden. Die Tatsache, dass diese Störungen auf pharmakotherapeutische Maßnahmen (Trizyklika, Benzodiazepine) ansprechen, legt die Vermutung nahe, dass diesen Erkrankungen eine gestörte Neurotransmission zugrunde liegt. Aufgrund des teilweise sehr unterschiedlichen Ansprechens auf verschiedene Psychopharmaka kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den unterschiedlichen Angsterkrankungen um verschiedene nosologische Entitäten handelt.
7.5.5
Persönlichkeitseigenschaften
Nicht nur psychische Erkrankungen, sondern auch die Persönlichkeitseigenschaften und charakteristische Verhaltensweisen gesunder Personen stehen in engem Zusammenhang mit dem Neurotransmittersystem des Gehirns. Dabei wird keine Aussage darüber gemacht, inwieweit diese Eigenschaften biologisch determiniert, »vererbt« bzw. erworben, »erlernt« sind. Sowohl die genetische Ausstattung als auch prägende Ereignisse im späteren Leben dürften auf das Neurotransmittersystem des Gehirns, eines Organs, das sich durch ein hohes Maß an Plastizität und Variabilität auszeichnet, erheblichen Einfluss haben (Birkmayer u. Riederer 1986). Insofern das Neurotransmittersystem zumindest teilweise neurobiochemisches Substrat von Persönlichkeitseigenschaften ist, spielt es auch da eine wichtige Rolle, wo Persönlichkeitseigenschaften in pathologischer Weise alteriert sind bzw. eine Prädisposition für bestimmte psychische Erkrankungen darstellen (Suchterkrankungen,
Eines der frühesten Modelle, das bestimmte Neurotransmittersysteme spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen zuordnet, wurde in ersten Ansätzen von Birkmayer et al. (1972), Birkmayer u. Riederer (1986) und später von Cloninger (Übersicht: Cloninger et al. 1993) entwickelt. Dieses Modell hat im Laufe der Zeit einige Modifikationen erfahren. In seiner ursprünglichen Form geht Cloninger davon aus, dass sich alle Persönlichkeitsmerkmale auf 3 »Grunddimensionen« abbilden lassen: »Novelty seeking«, das Bedürfnis nach Neuem (Explorationsverhalten, Neugierde), »Harm avoidance«, Vermeidungsverhalten gegenüber negativen Stimuli und »Reward dependence«, Abhängigkeit von positiven äußeren Stimuli (Belohnung). Dem Novelty seeking wird die dopaminerge, der Harm avoidance die serotoninerge und der Reward dependence die noradrenerge Aktivität zugeordnet. Interessanterweise scheinen moderne testpsychologische und molekularbiologische Studien zu zeigen, dass diese Hypothese Cloningers, die in ihrer verallgemeinernden, vereinfachenden und verabsolutierenden ursprünglichen Form sicher nicht akzeptiert werden kann, zumindest in bestimmten Teilbereichen oder unter bestimmten Bedingungen nicht ganz unzutreffend ist. So scheint vermehrtes Novelty seeking und Sensation seeking bei alkoholkranken Patienten mit Veränderungen des dopaminergen Systems einherzugehen. Mit zunehmendem Wissen um die molekulargenetischen Grundlagen der Neurotransmission kann aber auch deren Rolle für Persönlichkeitsmerkmale zunehmend besser erforscht und wissenschaftlich erfasst werden. Dabei muss aber stets die Komplexität sowohl dieser molekulargenetischen Prozessse als auch eines neuropsychiatrischen bzw. psychopathologischen »Konstrukts« wie dem des »Persönlichkeitsmerkmals« berücksichtigt werden. Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Gen-Umwelt-Interaktionen. Schließlich erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass ein einzelnes Gen, bzw. eine einzelne Genvariante »Persönlichkeit« determiniert. Trotz dieser Schwierigkeiten ist es aber in letzter Zeit gelungen, einige Genvarianten zu identifizieren, welche möglicherweise die Neurotransmission in einem solchen Maße unterschiedlich beeinflussen, dass unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale oder zumindest Tendenzen hierzu resultieren können. Hierbei scheinen insbesondere Gene, die für den Serotonintransporter sowie verschiedene dopaminerge und serotoninerge Rezeptoren codieren, eine wichtige Rolle zu spielen (Reif u. Lesch 2003).
7
182
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Unzureichende Modellvorstellungen Die Vorstellung, dass Persönlichkeitseigenschaften durch Neurotransmittersysteme mitdeterminiert werden, stellt einen interessanten Ausgangspunkt für die neurobiochemische und molekulare Erforschung psychischer Störungen dar. Hierzu kommen zunehmend moderne molekularbiologische Methoden und Techniken zum Einsatz. Andererseits muss konstatiert werden, dass keine solche Modellvorstellung dem tatsächlichen Geschehen im menschlichen Gehirn auch nur annähernd gerecht wird. Die Persönlichkeitseigenschaften und differenzierten Verhaltensweisen des Menschen sind viel zu komplex und variabel, das Wissen über die Physiologie des Gehirns immer noch so bruchstückhaft, als dass die Persönlichkeit und das Verhalten des Menschen in absehbarer Zeit durch die Neurowissenschaften schlüssig erklärt werden könnten.
7 7.6
Probleme der Forschung
Obwohl es einige Befunde gibt, die nahelegen, dass Störungen der Neurotransmission eine Grundlage psychischer Erkrankungen darstellen können, und obwohl gerade das Bindungsverhalten vieler Psychopharmaka dafür spricht, dass dem so sein könnte, muss dennoch stets bedacht werden, dass ein direkter Nachweis, der einen kausalen Zusammenhang unmittelbar und zweifelsfrei beweist, bislang nicht geführt werden konnte. Die Erforschung von Störungen der Neurotransmission stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die bislang noch nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten.
In-vivo-Untersuchungen Aussagen über den Zustand des Neurotransmittersystems in vivo sind extrem schwierig. Zwar existieren Tracer, die mit Hilfe von SPECT- oder PET-Techniken ( Kap. 25) die Darstellung bestimmter Rezeptoren im Gehirn des lebenden Menschen ermöglichen, allerdings ist die Auflösung dieser bildgebenden Verfahren nicht fein genug, um die vermuteten subtilen Veränderungen bei psychisch Kranken zweifelsfrei nachzuweisen. Hinzu kommt, dass Patienten häufig bereits medikamentös behandelt werden und auffallende Unterschiede zu Kontrollpersonen auf eine solche Psychopharmakotherapie zurückzuführen sind, dass es sich also mithin um sekundäre Veränderungen handelt, die keine Aussagen über die primären ätiopathogenetischen Ursachen zulassen. Ein längeres Absetzen der Therapie oder gar ein Verzicht darauf verbietet sich in der Regel aus ethischen Gründen. Die Untersuchung von Liquor, Blut oder Urin birgt die Schwierigkeit, dass unklar bleibt, woher Neurotransmitter und/oder deren Metaboliten stammen. Der Metabolismus muss nicht auf das Gehirn beschränkt sein, sondern kann auch aus anderen zentral- oder peripherner-
vösen Geweben stammen oder sogar aus nichtneuronalen Geweben. Außerdem lassen solche Untersuchungen keine Aussagen über die hirnanatomische Lokalisation zu.
Post-mortem-Untersuchungen Post-mortem-Untersuchungen erlauben demgegenüber zwar neurohistopathologische Aussagen, allerdings können auch hier Medikamenteneffekte ebensowenig ausgeschlossen werden wie Veränderungen aufgrund einer Alteration des Metabolismus in der Agonie. Auch hier kann es zu Verfälschungen der Ergebnisse kommen, die klare Rückschlüsse auf den Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung erschweren. Darüber hinaus beeinflussen Variablen wie Post-mortem-Zeit, Lagerungsdauer und Präparation die Messergebnisse. Dennoch haben Post-mortem-Untersuchungen wesentlich zum Fortschritt in der neuropsychiatrischen Forschung beigetragen: Trotz der erwähnten Probleme und Schwierigkeiten, die Gruppenbildung und Vergleichbarkeit limitieren, ist es dennoch möglich, valide und wertvolle Messergebnisse zu generieren. Die so gewonnenen Forschungsergebnisse stellen nach wie vor den Eckpfeiler der Hypothesenbildung für Zellkulturexperimente und Tierversuche dar.
Entwicklung neuer Modelle Es besteht die Hoffnung, dass mit zunehmendem Einsatz modernster Techniken die Rolle der Neurotransmission bei psychischen Erkrankungen immer eingehender erforscht werden kann und neue, eindeutigere ätiopathogenetische Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Entwicklung brauchbarer Tiermodelle wäre in dieser Beziehung auch sehr hilfreich. Naturgemäß bestehen hier aber nur geringe Möglichkeiten, da selbst die Tiermodelle für ein relativ gut determiniertes psychiatrisches Krankheitsbild wie die Demenz eher unbefriedigend sind. Die Neurotransmitterforschung hat die Pharmakotherapie von ZNS-Erkrankungen revolutioniert. Die nächste Herausforderung wird darin bestehen, die bereits erreichten Fortschritte in diesem Bereich mit Hilfe genetischer Techniken und molekularer Methoden zu erweitern. Dabei zielen die modernen Forschungsansätze längst nicht mehr nur auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren ab. Vielmehr gilt es, die neuropsychiatrischen Erkrankungen zugrunde liegenden zellbiologischen Vorgänge im Bereich von Signaltransduktionskaskaden und Genexpressionsprozessen im ZNS besser zu verstehen, um sie dann möglichst direkt beeinflussen und modifizieren zu können.
183 Literatur
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7
8 8 Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen R. Rupprecht, N. Müller 8.1 8.1.1 8.1.2
8.1.3
8.1.4
8.1.5
8.1.6
Psychoneuroendokrinologische Grundlagen – 186 Begriffsbestimmung und historische Aspekte der Psychoneuroendokrinologie – 186 Das hypothalamisch-hypophysär-adrenale (HHA)-System bei psychischen Erkrankungen – 186 Das hypothalamisch-hypophysärthyreoidale(HHT)-System bei psychischen Erkrankungen – 190 Das hypothalamisch-hypophysärsomatotrope(HHS)-System bei psychischen Erkrankungen – 191 Das hypothalamisch-hypophysär-gonadale (HHG)-System bei psychischen Erkrankungen – 191 Das psychopharmakologische Potenzial von neuroaktiven Steroiden – 192
8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.2.10 8.2.11 8.2.12 8.2.13 8.2.14
Psychoneuroimmunologische Grundlagen – 194 Begriffsbestimmung Psychoneuroimmunologie und historische Aspekte – 194 Immunologische Grundlagen und das immunologische Gedächtnis – 195 Methodische Aspekte der Psychoneuroimmunologie – 196 Neuroendokrines System und Immunsystem – 197 Das Zytokinsystem – 197 Interaktion von Zytokinen und Neurotransmittern – 198 Blut-Hirn-Schranke – 199 Immungenetik und psychische Störungen – 199 Zelluläres Immunsystem und psychische Störungen – 201 Psychische Störungen bei Autoimmunerkrankungen – 201 Schizophrenie und Immunsystem – 201 Depression und Immunsystem – 202 Immunologische Effekte von Psychopharmaka – 203 Ausblick – 204 Literatur
– 204
> > Psychische Erkrankungen weisen eine komplexe Pathophysiologie auf, die bis heute nur ansatzweise geklärt ist. Neben Veränderungen von Neurotransmittersystemen und Rezeptoren als deren Effektorsysteme, die dann auf nachgeschaltete Signaltransduktionsprozesse einwirken, mehren sich Hinweise, dass neuroendokrinologische und immunologische Mechanismen eine wichtige Rolle in der Pathophysiologie psychischer Erkrankungen spielen. Mittlerweile gibt es auch erste Ansätze, die versuchen, derartige Mechanismen im Sinne von neuartigen Therapiestrategien nutzbar zu machen.
186
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
8.1
Psychoneuroendokrinologische Grundlagen R. Rupprecht
8.1.1
Begriffsbestimmung und historische Aspekte der Psychoneuroendokrinologie
Endokrines Psychosyndrom. Die systematische Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Psyche und Endokrinium geht bereits auf Manfred Bleuler zurück. Einen wichtigen Anstoß hierfür lieferte die Erkenntnis, daß es bei einer Reihe endokrinologischer Erkrankungen zu einer Psychose vom sog. exogenen Reaktionstyp kommt. Insbesondere sind bei endokrinologischen Erkrankungen Störungen der Affektivität und des Antriebs zu verzeichnen, welche von Bleuler unter dem Begriff des endokrinen Psychosyndroms zusammengefasst wurden.
8
Endokrinologische Psychiatrie. Bleuler entwickelte auch
den Begriff der endokrinologischen Psychiatrie und verstand darunter die Beschreibung der psychischen Störungen bei endokrinologischen Erkrankungen und umgekehrt, die Lehre, inwieweit psychische und endokrinologische Vorgänge zusammenhängen sowie die Lehre, inwieweit sich Persönlichkeit und psychische Erkrankungen durch das Endokrinium betreffende Behandlungen beeinflussen lassen und umgekehrt. Anfang dieses Jahrhunderts wurden nicht zuletzt von Emil Kraepelin und Sigmund Freud an die endokrinologische Psychiatrie hochgespannte Erwartungen hinsichtlich der Kausalität und Therapierbarkeit psychischer Erkrankungen gerichtet. Wenn auch solche Erwartungen durch die Psychoneuroendokrinologie aus heutiger Sicht nicht erfüllt werden konnten, so vermag diese doch wichtige Einblicke in die Pathophysiologie von Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen zu geben. Ferner lassen sich auch in bestimmten Fällen therapeutische Strategien aus psychoneuroendokrinologischen Konzepten ableiten.
8.1.2
tropin(ACTH)-Sekretion, welches seinerseits die Ausschüttung von Kortisol aus der Nebennierenrinde bewirkt. Kortikosteroide ihrerseits hemmen im Sinne eines negativen Rückkopplungsprozesses die Produktion und Freisetzung von ACTH und CRH durch Interaktion mit hypophysären, hypothalamischen und vermutlich auch hippocampalen Glukokortikoid- und Mineralokortikoidrezeptoren. Weiterhin üben eine Vielzahl von Neurotransmittern und Immunopeptiden hemmende (z. B. GABA) und stimulierende (z. B. Interleukine und Interferon) Einflüsse auf den verschiedenen Ebenen des HHA-Systems aus (Holsboer u. Barden 1996; Holsboer 2000). Somit darf die Regulation des HHA-Systems keinesfalls isoliert betrachtet werden, vielmehr ist die Rolle des HHA-Systems als Mediator zwischen Neurotransmitter- und Immunsystem hervorzuheben.
Veränderte Regulation des HHA-Systems bei Depression Am besten dokumentiert sind Veränderungen der Regulation des HHA-Systems bei depressiven Patienten. Etwa
Das hypothalamisch-hypophysäradrenale(HHA)-System bei psychischen Erkrankungen
Das HHA-System stellt das wichtigste stressadaptive System dar, welches Anforderungen, die von innen oder von außen auf den Organismus einwirken, begegnet. Es unterliegt einem komplexen Regulationsgefüge, das gleichermaßen von zentralnervösen wie peripheren Faktoren beeinflusst wird (⊡ Abb. 8.1). Das hypothalamische Kortikotropin-Releasinghormon (CRH) stimuliert zusammen mit Vasopressin die hypophysäre Adrenokortiko-
⊡ Abb. 8.1. Regulation des HHA-Systems (BBB Blut-Hirn-Schranke,
POMC Proopiomelanokortin, IL Interleukin, IFN Interferon, TNF Tumornekrosefaktor, MR Mineralokortikoidrezeptor, GR Glukokortikoidrezeptor, CCK Cholezystokinin, VIP vasointestinales Polypeptid, ANP atriales natriuretisches Peptid)
187 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
60 der depressiven Patienten mit einer »major depressive episode« nach DSM-III-R weisen Veränderungen der CRH-, ACTH-, oder Kortisolsekretion auf. Eine Reihe von Untersuchungen beschrieb erhöhte Kortisolspiegel bei depressiven Patienten (Holsboer u. Barden 1996; Rupprecht u. Lesch 1989), wobei detaillierte Analysen des 24 hProfils eine erhöhte Frequenz der ACTH-Peaks sowie eine erhöhte Amplitude der Kortisol-Peaks erbrachten (Linkowski et al. 1987), die sich nach klinischer Remission der Depression zurückbildeten (ebd.).
Hyperplasie der Nebennierenrinde Während die Erhöhung der Kortisolspiegel während depressiver Phasen relativ eindeutig ist, sind die Veränderungen der ACTH-Sekretion weniger eindrucksvoll. Ein verstärktes Ansprechen der Kortisolsekretion der Nebennierenrinde bei depressiven Patienten erbrachte Hinweise
⊡ Abb. 8.2. Veränderungen der Aktivität des HHASystems bei Depressionen
⊡ Abb. 8.3. Aktivität des HHA-Systems bei Patienten mit CushingSyndrom im Vergleich zu depressiven Patienten
auf eine leichte funktionelle Hyperplasie der Nebennierenrinde (Holsboer u. Barden 1996), die sich im Verlauf einer depressiven Erkrankung allmählich entwickelt (⊡ Abb. 8.2 und 8.3). Ferner wurde eine Vergrößerung der Nebennieren bei depressiven Patienten computertomografisch nachgewiesen, was ebenfalls für eine derartige funktionelle Hyperplasie spricht (Holsboer u. Barden 1996). Patienten mit Cushing-Syndrom weisen ebenfalls eine Überaktivität des HHA-Systems (⊡ Abb. 8.3) sowie eine Reihe von psychopathologischen Symptomen auf, die denen depressiver Patienten durchaus ähnlich sind (Starkmann u. Schteingart 1981; ⊡ Tab. 8.1). Anders als beim Cushing-Syndrom, welches meist durch einen Tumor im Bereich der Hypophyse oder der Nebenniere bedingt ist, wird als Ursache der erhöhten Sekretion von ACTH und Kortisol bei depressiven Patienten eine vermehrte Sekretion von hypothalamischem CRH vermutet. Hierfür spricht
8
188
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 8.1. Häufigkeit psychopathologischer Symptome bei Patienten mit Cushing-Syndrom. (Nach Starkman u. Schteingart 1981)
8
Symptom
%
Müdigkeit
100
Symptom
%
tik zwischen Patienten mit normalem und abnormem DST-Ergebnis. Daher sind metabolische Veränderungen alleine nicht geeignet, die Ursache der unzureichenden Kortisolsuppression durch Dexamethason bei depressiven Patienten zu erklären.
Schuldgefühle
37
CRH-Stimulationstests. Sie haben eine besondere Bedeu-
Energieverlust
97
Gesteigerter Appetit
34
Irritierbarkeit
86
Vermehrtes Träumen
31
Gedächtniseinbußen
83
Früherwachen
29
Depressivität
77
Formale Denkstörung
28
tung für das Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie des HHA-Systems bei Depressionen. Untersuchungen mit humanem (Holsboer et al. 1984) oder bovinem CRH (Gold et al. 1986) erbrachten eine deutlich verminderte ACTH-Antwort bei unbeeinträchtigter Kortisolstimulation bei depressiven Patienten. Nach Blockade des endogenen Kortisols durch den 11β-HydroxylaseHemmer Metyrapon war jedoch die ACTH-Sekretion nach CRH-Stimulation bei depressiven Patienten normal (Bardeleben et al. 1988). Diese Befunde zeigen, dass eine erhöhte adrenale Kortisolsekretion bei depressiven Patienten zumindest teilweise die abgeschwächte ACTH-Antwort auf CRH-Stimulation bedingt. Andere Mechanismen, z. B. eine differenzielle Metabolisierung und Speicherung der Produkte des hypophysären ACTH-Vorläuferpeptids Proopiomelanocortin (POMC) sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung (Rupprecht et al. 1989 a).
Libidoverlust
69
Appetitverlust
20
Einschlafstörung
69
Hyperaktivität
11
Angst
66
Wahrnehmungsstörung
11
Konzentrationsstörung
66
Beschleunigte Sprache
9
Weinen
63
Inhaltliche (paranoide)
9
Unruhe
60
Denkstörung
Sozialer Rückzug
46
Depersonalisation
3
Hoffnungslosigkeit
43
Derealisation
3
auch eine Hypersekretion von CRH im Liquor cerebrospinalis depressiver Patienten (Nemeroff et al. 1984). Dexamethason-Suppressionstest. Während die Gabe von
1–2 mg Dexamethason um 23 Uhr zu einer kompletten Suppression der Kortisolspiegel am darauffolgenden Tag bei gesunden Probanden führt, findet man bei depressiven Patienten in etwa 50 der Fälle eine unzureichende Suppression des Kortisols (Rupprecht u. Lesch 1989). Anfänglich wurde dieser sog. Dexamethason-Suppressionstest (DST) als hochspezifisch für bestimmte Depressionsformen angesehen (Carroll 1982), mittlerweile jedoch lässt sich eine differenzialdiagnostische Spezifität dieses Tests aufgrund einer Reihe von intervenierenden Variablen nicht mehr aufrechterhalten (Rupprecht u. Lesch 1989). Am ehesten scheint der DST als sog. »state marker« geeignet zu sein. So konnten einige Untersuchungen zeigen, dass sich der DST im Verlauf einer klinischen Befindlichkeitsverbesserung normalisiert, während ein weiter bestehendes pathologisches Testergebnis häufig einem klinischen Rückfall vorausging (Holsboer et al. 1982). Eine wesentliche Rolle für das DST-Ergebnis spielt auch der Metabolismus der Testsubstanz. Erniedrigte Dexamethasonplasmaspiegel bei Patienten mit abnormem DST-Ergebnis wurden mehrfach beschrieben (Holsboer et al. 1986; Rupprecht u. Lesch 1989). Diese sind auf eine beschleunigte Elimination oral gegebenen Dexamethasons bei diesen Patienten zurückzuführen (Holsboer et al. 1986). Bei intravenöser Gabe fanden sich jedoch keine Unterschiede in der Dexamethasonpharmakokine-
Dexamethason-CRH-Test. Im Rahmen von Untersu-
chungen mit kombinierter Gabe von Dexamethason (DEX) und CRH (DEX-CRH-Test) blockiert die Vorbehandlung mit 1,5 mg Dexamethason den CRH-induzierten ACTH-Anstieg bei gesunden Probanden vollständig, während es bei depressiven Patienten paradoxerweise zu einer Verstärkung der ACTH-Ausschüttung kommt (Holsboer et al. 1987). Im Zuge einer klinischen Remission normalisiert sich diese überschießende Sekretion jedoch wieder (ebd.). Allerdings scheint dies nicht nur ein »state marker« zu sein, da sich bei einem Teil gesunder Angehöriger ersten Grades von depressiven Patienten auffällige Ergebnisse im DEX-CRH-Test fanden (Krieg et al. 1990). Dies weist auf eine genetisch bedingte erhöhte Vulnerabilität im Zusammenhang mit einer abnormen neuroendokrinen Regulation bei solchen sog. »Hochrisikoprobanden« hin. Eine persistierende Kortisolhypersekretion trotz klinischer Remission ist ein Indikator für ein erhöhtes Rückfallrisiko während der nächsten Monate (Zobel et al. 1999). Pathophysiologisch ist das Phänomen des paradoxen DEX-CRH-Testergebnisses bei depressiven Patienten bislang unklar. Am ehesten spielen jedoch subtile Veränderungen im Bereich hippocampaler und/oder hypophysärer Steroidrezeptoren sowie des CRH-Vasopressin-Synergismus eine Rolle. Steroidresistenz. Studien zur Veränderung der Reagibili-
tät verschiedener endokriner Systeme auf Glukokortikoide (Rupprecht et al. 1989 b) deuten im Zusammenhang mit der klinischen Beobachtung, dass depressive Pa-
189 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
tienten trotz des teilweise nicht unerheblichen Hyperkortisolismus keine somatischen Cushing-Symptome aufweisen, auf eine leichte Steroidresistenz in vivo hin, die vermutlich über eine Dysfunktion von Steroidrezeptoren vermittelt wird (Rupprecht et al. 1991 a). Weitere Hinweise für eine Steroidresistenz und eine mögliche Dysfunktion des Glukokortikoidrezeptors auch auf zellulärer Ebene ergaben sich aufgrund von In-vitroUntersuchungen an Lymphozyten. Der Zusatz von Glukokortikoiden in vitro ist in der Lage, die mitogeninduzierte Lymphozytenproliferation dosisabhängig zu hemmen. Eine verminderte Hemmbarkeit derselben nach In-vitro-Zusatz von Dexamethason bei Personen mit pathologischem DST-Ausfall sowie eine verminderte Reagibilität der Lymphozytenproliferation auf In-vivo-Manipulation des HHA-Systems (Rupprecht et al. 1991) wurde bei depressiven Patienten beobachtet. Die bislang vorliegenden Studien zur Pharmakologie des Glukokortikoidrezeptors bei depressiven Patienten erbrachten eine verminderte Dichte an Glukokortikoidbindungsstellen in Lymphozyten, eine verminderte »down-regulation« nach oraler Dexamethasongabe assoziiert mit pathologischem DST-Ausfall oder keine signifikanten Befunde (Rupprecht u. Lesch 1989). Neuere Untersuchungen sprechen hingegen für eine verminderte Plastizität, d. h. eine beeinträchtigte Regulations- und Adaptationsfähigkeit des Glukokortikoidrezeptors (Rupprecht et al. 1991). Dies zeigt sich darin, dass im Gegensatz zu gesunden Probanden bei depressiven Patienten keine Hochregulation der Glukokortikoidbindungsstellen in Lymphozyten nach Metyrapongabe erfolgt.
Effekte antidepressiver Pharmakotherapie Nach einer erfolgreichen Therapie depressiver Patienten mit Antidepressiva kommt es häufig zu einer Normalisierung verschiedener Parameter des HHA-Systems. Dabei muss jedoch offen bleiben, inwieweit diese Normalisierung eine Konsequenz der klinischen Besserung oder einen Effekt der antidepressiven Behandlung per se darstellt. Neuere tierexperimentelle Untersuchungen sprechen jedoch dafür, dass Antidepressiva die Aktivität des HHA-Systems verringern können, da eine Verminderung der CRH-Expression im Hypothalamus sowie Veränderungen der Steroidrezeptorexpression nach längerfristiger Gabe von Antidepressiva beobachtet wurden (Brady et al. 1991; Holsboer u. Barden 1996). Ferner bewirkte die Gabe von Antidepressiva bei transgenen Mäusen, bei denen durch Inkorporation einer Antisense-RNA gegen den Glukokortikoid-Rezeptor eine Überfunktion des HHA-Systems erzeugt worden war, eine Abschwächung dieser Überaktivität über eine Hochregulation von Glukokortikoidrezeptoren (Holsboer u. Barden 1996). Weiterhin wurde bereits nach kurzzeitigem Zusatz von Antidepressiva eine vermehrte Expression des Glukokortikoidrezeptors in zellulären Sytemen beschrie-
ben (ebd.). Inwieweit diese Beobachtungen tatsächlich mit der Neuroendokrinologie depressiver Patienten in Beziehung stehen und ob den Interaktionen zwischen Antidepressiva und HHA-System ein ätiologisch bedeutsamer Stellenwert zukommt, bedarf jedoch noch vertiefender Untersuchungen.
Hemmung der Kortisolsynthese Eine Senkung der Kortisolspiegel ist auch durch den Einsatz von Inhibitoren der Kortisolsynthese möglich. In letzter Zeit fanden sich vermehrt Hinweise, dass eine Hemmung der Kortisolsynthese zu einer deutlichen Verbesserung der klinischen Symptomatik bei depressiven Patienten führen kann und somit möglicherweise eine alternative Behandlungsstrategie bei depressiven Störungen darstellt (Murphy et al. 1991; Wolkowitz et al. 1993). Eine Hemmung der Kortisolsynthese durch Metyrapon wird über die Inhibition der 11β-Hydroxylase, welche die Umwandlung von 11-Deoxykortisol in Kortisol katalysiert, erreicht. In einer plazebokontrollierten Studie wurde kürzlich eine deutliche Verbesserung der klinischen Symtomatik nach gleichzeitiger Gabe von Metyrapon und einer niedrigen Dosis Hydrokortison zur Kortisolsubstitution bei depressiven Patienten beschrieben (O’Dwyer et al. 1995). ! Die Kombination von Metyrapon mit anderen Inhibitoren der Kortisolsynthese, z. B. Ketoconazol oder Aminoglutethimid, war sogar bei depressiven Patienten, welche gegenüber der Behandlung mit herkömmlichen Antidepressiva therapieresistent waren, wirksam (Ghadirian et al. 1995). Ferner wurde durch zusätzliche Gabe von Metyrapon ein beschleunigtes Ansprechen auf serotonerge Antidepressiva erreicht (Jahn et al. 2004). Die der antidepressiven Wirkung von Metyrapon zugrunde liegenden Mechanismen sind allerdings bislang noch weitgehend unbekannt. Eine Möglichkeit wäre, dass die Gabe von Metyrapon über die Hemmung der Kortisolsynthese zu einer Hochregulation von Glukokortikoidrezeptoren führt, ein Effekt, der auch nach längerfristiger Gabe von Antidepressiva beobachtet wird (Holsboer u. Barden 1996). Eine weitere These ist, dass es durch die Hemmung der Kortisolsynthese kompensatorisch zu einer vermehrten Ansammlung von Kortisolvorstufen kommt. Deren Umwandlung in verschiedene neuroaktive Steroide könnte neben einer Hemmung der Kortisolsynthese ebenfalls zur antidepressiven Wirkung von Metyrapon beitragen.
Veränderte Aktivität des HHA-Systems bei anderen psychischen Erkrankungen Neben den bei depressiven Patienten erhobenen Befunden wurden gelegentlich Veränderungen der Aktivität des HHA-Systems auch bei anderen psychischen Erkran-
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
kungen, z. B. Schizophrenie, Manie, Alkoholismus, demenziellen Erkrankungen, Anorexia nervosa oder Angsterkrankungen, beobachtet. So nahmen z. B. Patienten mit Panikstörung eine Mittelstellung im DEXCRH-Test zwischen gesunden Probanden und depressiven Patienten ein (Schreiber et al. 1996). Bemerkenswert ist, dass es bei Patienten mit Panikstörung zu keiner Überaktivität des HHA-Systems während laktatinduzierter Panikattacken kommt. Hierbei spielt möglicherweise ein Anstieg von endogenem atrialen natriuretischen Peptid (ANP) eine Rolle (Kellner et al. 1995).
Neuere neuroendokrinologische Therapieansätze
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Die Hyperaktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems während depressiver Episoden führte zu Interventionsstrategien zur Reduktion dieser Hyperaktivität seitens der pharmazeutischen Industrie. Die Entwicklung von selektiven Kortikotropin-Releasinghormon(CRH)-Rezeptor-1-Antagonisten stellt einen derartigen Therapieansatz dar. Bislang wurde ein CRH-1-Rezeptor-Antagonist (R121919) bei depressiven Patienten klinisch in einer offenen Studie bei depressiven Patienten angewendet und es wurde eine gute Verträglichkeit bei gleichzeitiger Reduktion des Schweregrads der Depression und der Angstsymptomatik beschrieben (Zobel et al. 2000). Die Substanz R121919 wurde aufgrund von Leberwerterhöhungen bei einzelnen Probanden zurückgezogen. Insofern bleibt das Ergebnis von plazebokontrollierten Doppelblindstudien mit weiteren non-peptidergen CRH1-Rezeptorantagonisten abzuwarten, bevor das therapeutische Potenzial dieser neuartigen Substanzklasse hinreichend beurteilt werden kann (Rupprecht et al. 2004). Eine weitere Strategie, die derzeit in klinischen Prüfungen verfolgt wird, ist die Entwicklung von Glukokortikoidrezeptor-Antagonisten. Diese bewirken eine Blockade der Wirkung von Kortisol am Glukokortikoidrezeptor. Fallberichte, offene Studien sowie erste plazebokontrollierte Studien liegen zum gemischten Glukokortikoid-Progesteron-Rezeptorantagonisten RU 486 vor. Es gibt Hinweise dafür, dass RU 486 insbesondere bei Patienten mit psychotischer Depression eine sinnvolle therapeutische Option darstellen könnte (Belanoff et al. 2002; Rupprecht et al. 2004). Aufgrund möglicher gynäkologischer Nebenwirkungen derartiger gemischter Antagonisten werden derzeit auch selektive Glukokortikoidrezeptorantagonisten entwickelt und klinisch als Add-on-Gabe bei schweren Depressionen geprüft. Das Ergebnis entsprechender plazebokontrollierter Doppelblindstudien bleibt abzuwarten, bevor definitive Aussagen zum klinischen Potenzial dieser Medikamente gemacht werden können. Derartige Substanzen sollen zunächst bei schwer depressiven Pa-
tienten mit ausgeprägter Hyperkortisolämie geprüft werden; publizierte Ergebnisse aus diesen Studien liegen bislang noch nicht vor. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Störungen neuroendokriner Funktionsabläufe bei depressiven Patienten zu neuartigen pharmakologischen Therapieansätzen geführt haben, die in den nächsten Jahren weiter verfolgt werden sollten.
8.1.3
Das hypothalamisch-hypophysärthyreoidale(HHT)-System bei psychischen Erkrankungen
Veränderte Regulation des HHT-Systems bei Depression Hinsichtlich der Regulation des HHT-Systems wurden die meisten Auffälligkeiten ebenfalls bei depressiven Erkrankungen gefunden. Im 24 h-Profil wurden bei depressiven Patienten erniedrigte TSH-Konzentrationen angesichts normaler T4-Spiegel beschrieben (Unden et al. 1986).
Low-T3-Syndrom Auffällig ist, dass bei depressiven Patienten gelegentlich ein sog. »Low-T3-Syndrom« besteht, welches durch erniedrigte T3- bei erhöhten »reverse T3«-Konzentrationen gekennzeichnet ist (Linnoila et al. 1983; Rupprecht u. Lesch 1989). ! In therapeutischer Hinsicht hat sich der Einsatz von T3 als Augmentationstherapie zu Standardantidepressiva in diesem Zusammenhang in mehreren Studien als wirksam erwiesen (Earle 1970; Rupprecht u. Lesch 1989). Ferner wurden auch mit einer Hochdosistherapie mit T4 therapeutische Erfolge bei bipolaren Depressionen erzielt (Bauer et al. 1998). Insofern zählt die Augmentation mit Schilddrüsenhormonen nach wie vor zu den experimentellen pharmakologischen Therapieansätzen. Ein Low-T3-Syndrom kann jedoch auch durch Glukokortikoide induziert werden und ist somit möglicherweise durch die erhöhte Aktivität des HHA-Systems bei depressiven Patienten bedingt (Rupprecht et al. 1989). Ferner wird auch TSH durch Glukokortikoide supprimiert. Bei depressiven Patienten ist jedoch die Supprimierbarkeit von TSH durch das Glukokortikoid Dexamethason analog zu den Befunden innerhalb des HHA-Systems deutlich abgeschwächt (ebd.). Somit ist die verminderte Reagibilität auf Glukokortikoide bei depressiven Patienten nicht auf das HHA-System beschränkt, sondern betrifft auch andere endokrine Achsen. Auch diese Befunde sind mit einer generellen Dysfunktion des
191 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
Glukokortikoidrezeptors bei depressiven Patienten vereinbar. TRH-Stimulationstest. In Stimulationstests mit Thyreo-
tropin-Releasinghormon (TRH) fand man relativ häufig eine abgeschwächte Stimulierbarkeit von TSH und Prolaktin bei depressiven Erkrankungen. Diese Veränderungen sind jedoch nicht so häufig und nicht so stark ausgeprägt wie die Regulationsstörungen innerhalb des HHA-Systems und sind auch auch nicht so konsistent reproduzierbar (Loosen u. Prange 1982; Lesch u. Rupprecht 1989). Wie die Veränderungen der Aktivität des HHASystems dürfen auch die Veränderungen des HHT-Systems keinesfalls als spezifisch für depressive Störungen angesehen werden. So findet man eine verminderte Aktivität des HHT-Systems nicht nur bei depressiven, sondern auch bei schizophrenen Patienten (Rao et al. 1995) oder bei Essstörungen (Hudson u. Hudson 1984).
Veränderte Aktivität des HHS-Systems bei anderen psychischen Störungen Eine Unterfunktion des HHS-Systems besteht jedoch nicht nur bei depressiven Erkrankungen. Mit steigendem Alter nimmt die Aktivität des HHS-Systems generell ab (Steiger 1995). Ferner wurde eine abgeschwächte GHStimulation nach Gabe von GHRH auch bei Patienten mit Demenz vom Alzheimer-Typ gefunden (Lesch et al. 1990). Eine gesteigerte Antwort von GH auf Stimulation mit Apomorphin hingegen wurde bei postpartalen Psychosen beobachtet und im Sinne einer Überfunktion des dopaminergen Systems interpretiert (Checkley et al. 1992). Therapeutische Ansätze zur Korrektur der Aktivität des HHS-Aktivität bei psychischen Erkrankungen gibt es bislang nicht, da keine geeigneten oral wirksamen Pharmaka zur Verfügung stehen.
8.1.5 8.1.4
Das hypothalamisch-hypophysärsomatotrope(HHS)-System bei psychischen Erkrankungen
Veränderte Regulation des HHS-Systems bei Depression Die Regulation des HHS-Systems weist bei depressiven Patienten ebenfalls Veränderungen auf. Untersuchungen des 24 h-Profils ergaben jedoch inkonsistente Befunde (Linkowski et al. 1987; Voderholzer et al. 1993). Eine Reihe von Stimulationsstests mit Desmethylimipramin (Neuhauser u. Laakmann 1988), Clonidin (Lesch u. Rupprecht 1989) und Growth-hormone-Releasinghormon (GHRH; Lesch u. Rupprecht 1989) erbrachten Hinweise für eine verminderte Responsivität von Wachstumshormon (Growth hormone/GH) bei depressiven Patienten. Möglicherweise spielen erhöhte Konzentrationen von »Insulinlike growth factor-1« (IGF-1) in diesem Zusammenhang eine Rolle (Lesch et al. 1988). Allerdings war die abgeschwächte Stimulierbarkeit von GH nach Gabe von GHRH nicht so konsistent reproduzierbar wie die verminderte ACTH-Antwort nach CRH-Stimulation (Steiger et al. 1994). Schlafstörungen. Relativ häufig kommen bei depressiven
Patienten Störungen der Schlafarchitektur mit einer Verminderung des Tiefschlafanteils und einer verkürzten REM-Latenz vor (Steiger 1995). Da GHRH tiefschlaffördernd wirkt, CRH dagegen den Tiefschlaf unterdrückt, spielt möglicherweise eine Störung der Balance zwischen der Aktivität des HHS- und des HHA-Systems mit einer Unterfunktion des HHS- und einer Überfunktion des HHA-Systems für die Genese der Schlafstörung von depressiven Patienten eine Rolle (ebd.).
Das hypothalamisch-hypophysärgonadale(HHG)-System bei psychischen Erkrankungen
Im Vergleich zu anderen endokrinen Systemen wurde das HHG-System bei depressiven Erkrankungen weniger häufig untersucht. Studien zur basalen Sekretion von gonadalen Steroiden erbrachten keine ausgeprägten Veränderungen (Rupprecht u. Lesch 1989). Auch die Stimulationsuntersuchungen mit Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) wiesen weniger Auffälligkeiten auf als die Stimulationstests anderer endokriner Achsen (Rupprecht u. Lesch 1989; Lesch u. Rupprecht 1989).
Psychische Störungen der Postpartalzeit Auffallend ist jedoch das in der Postpartalzeit gehäufte Auftreten von depressiven Verstimmungen sowie von psychotischen Episoden (Brockington u. Meakin 1994). In dieser Zeitspanne kommt es zu einem rapiden Abfall der Östrogen- und Progesteronsekretion innerhalb weniger Tage. Somit scheint ein plötzlicher Abfall gonadaler Steroide einen Risikofaktor für das Auftreten psychischer Störungen darzustellen. 17β-Estradiol wurde erfolgreich zur Behandlung postpartaler Depressionen als Augmentation einer Therapie mit Standardantidepressiva in einer offenen Studie eingesetzt (Gregoire et al. 1996). Kontrollierte Doppelblindstudien sowie Untersuchungen zur therapeutischen Wirksamkeit bei anderen Depressionsformen stehen bislang jedoch noch aus.
Weibliche Sexualhormone und Psychose Aufgrund epidemiologischer Untersuchungen besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen psychotischer Symptomatik und Veränderungen der Sexualhormonsekretion bei der Frau. So vermutet man, dass Östrogene am höheren Erkrankungsalter der Frau an Schizophrenie
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8
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
dahingehend beteiligt sind, dass ihnen möglicherweise eine schützende Wirkung zukommt. Auch das erhöhte Erkrankungsrisiko von Frauen nach der Menopause sowie die Korrelation psychiatrischer Krankenhausaufenthalte schizophrener Patientinnen mit dem Verlauf des Menstruationszyklus sprechen für diese Theorie (Häfner u. Nowotny 1995). Ferner wirken Östrogene in vitro über membranäre Mechanismen neuroprotektiv (Behl et al. 1997), sie könnten daher möglicherweise ein therapeutisches Potenzial bei demenziellen Erkrankungen besitzen. Erste Studien deuten darauf hin, dass Östrogene u. U. zu einem beschleunigten Ansprechen auf Antipsychotika bei schizophrenen Patientinnen beitragen könnten und somit auch zu einer Dosiseinsparung solcher Medikamente führen könnten (Kulkarni et al. 2001). Die bisherigen Laborergebnisse sprechen jedoch dafür, das weit weniger über den Östrogenrezeptor wirksame 17α-Estradiol statt des üblicherweise verwendeten 17β-Estradiols einzusetzen, da beide Östrogene vergleichbar neuroprotektiv wirken (ebd.), aber mit 17α-Estradiol weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind.
8.1.6
Das psychopharmakologische Potenzial von neuroaktiven Steroiden
Theoretische Grundlagen der Steroidhormonwirkung Das klassische Modell der Steroidhormonwirkung geht davon aus, dass Steroide durch passive Diffusion in das Zellinnere gelangen und dort an spezifische intrazelluläre Rezeptorproteine binden. Die Hormonbindung bewirkt eine Konformationsänderung der Rezeptoren durch Abdissoziation von umgebenden Proteinen, sog. Heatshock-Proteinen. Die Hormonrezeptorkomplexe translozieren in den Zellkern und binden dort als Dimere an sog. Response-Elemente, welche spezifische Erkennungssequenzen auf den Promotoren steroidregulierter Gene darstellen (Evans 1988). Steroidrezeptoren beeinflussen somit entscheidend die Genexpression, indem sie als Transkriptionsfaktoren wirken (ebd.). Definition neuroaktiver Steroide. In den letzten Jahren
fanden sich jedoch vermehrt Hinweise, dass bestimmte Steroide auch die neuronale Erregbarkeit über membranäre Prozesse durch Interaktionen mit entsprechenden Neurotransmitterrezeptoren modulieren können (Paul u. Purdy 1992; Rupprecht 2003). Für Steroide mit diesen speziellen Eigenschaften wurde die Bezeichnung »neuroaktive Steroide« eingeführt (Paul u. Purdy 1992). Während die Wirkungen von Steroiden auf genomischer Ebene Zeiträume von Minuten bis Stunden beanspruchen, die letztendlich von der Geschwindigkeit der Proteinbiosyn-
these bestimmt werden, spielt sich die modulatorische Wirkung neuroaktiver Steroide im Bereich von Millisekunden bis Sekunden ab. Somit stellen genomische und nongenomische Wirkungen von Steroiden im ZNS die molekulare Basis für ein breites Wirkungsspektrum dieser Steroide für neuronale Funktionen und Plastizität dar. Neurosteroide. Verschiedene neuroaktive Steroide können vom Gehirn selbst ohne Zuhilfenahme peripherer endokriner Organe synthetisiert werden (Baulieu 1991). Solche Steroide, die vom Gehirn aus Cholesterol produziert werden, werden auch als Neurosteroide bezeichnet (ebd.).
Modulation neuronaler Exzitabilität Im Jahr 1986 wurde das erste Mal gezeigt, dass die neuroaktiven Steroide Allotetrahydroprogesteron (THP) und Allotetrahydrodeoxykortikosteron (THDOC; ⊡ Abb. 8.4) die neuronale Exzitabilität über eine Interaktion mit dem GABAA-/Benzodiazepinrezeptorkomplex modulieren können (Paul u. Purdy 1992). Der GABAA-Rezeptor weist eine relativ komplexe molekulare Struktur auf. Er besteht aus einer Reihe von Untereinheiten, die letztendlich einen Ionenkanal bilden, durch welchen ein Chloridionenstrom in das Zellinnere fliesst (Rupprecht 2003). Am GABAA-Rezeptor greifen Agonisten an, z. B. GABA und Muscimol, jedoch auch Modulatoren, wie z. B. Benzodiazepine und Barbiturate. Die neuroaktiven Steroide THP und THDOC sind in der Lage, t-Butylbicylophosphorothionat (TBPS) vom Chloridionenkanal mit einer höheren Affinität als Barbiturate zu verdrängen und den GABA-induzierten Chloridionenstrom zu verstärken (Paul u. Purdy 1992). Somit stellen diese neuroaktiven Steroide effektive positive allosterische Modulatoren des GABAA-Rezeptors dar, indem sie die Anzahl und die Dauer der Öffnungen des Ionenkanals verlängern (ebd.). Während 3α-reduzierte neuroaktive Steroide wie THP und THDOC als positive allosterische Modulatoren des GABAA-Rezeptors gelten, besitzen Dehydroepiandrosteron-(DHEA-)Sulfat und Pregnenolon-Sulfat funktionellantagonistische Eigenschaften (ebd.). Somit üben endogene 3α-reduzierte neuroaktive Steroide möglicherweise funktionell bedeutsame positiv-allosterische Wirkungen am GABAA-/Benzodiazepinrezeptorkomplex aus, die sich vielleicht auch therapeutisch nutzen lassen. Bis vor kurzem ging man noch davon aus, dass Steroide entweder die Genexpression über Steroidrezeptoren im Sinne des klassischen Modells der Steroidwirkung regulieren oder aber die neuronale Exzitabilität über eine Modulation von Ionenkanälen verändern (ebd.). Dieses Modell konnte jedoch dahingehend modifiziert werden, dass 3α,5α-reduzierte neuroaktive Steroide sowohl die neuronale Exzitabilität beeinflussen als auch die Genex-
193 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
⊡ Abb. 8.4. Biosynthese und Metabolismus von neuroaktiven Steroiden
pression über den Progesteronrezeptor nach intrazellulärer Oxidation regulieren (Rupprecht 2003; ⊡ Abb. 8.5). Es findet somit ein intrazelluläres Wechselspiel zwischen genomischen und nongenomischen Steroideffekten statt, bei dem die Expression der beteiligten Rezeptoren und deren Untereinheiten sowie der entsprechenden Enzyme eine wichtige Rolle spielt (vgl. ⊡ Abb. 8.5).
Anästhetische Eigenschaften Vor über 50 Jahren wurden mögliche anästhetische Wirkungen von 3α-reduzierten neuroaktiven Steroiden erstmals beschrieben. Im Tierexperiment bewirkte die intrazerebroventrikuläre Gabe von Progesteron und einigen seiner GABA-aktiven Metaboliten eine Verminderung der Schmerzschwelle (Paul u. Purdy 1992). Auch eine kli-
⊡ Abb. 8.5. Wirkungsweise von Steroiden im ZNS (SRE steroidresponsives Element, HSP 90 Heat shock Protein 90)
nische Studie konnte zeigen, dass durch Infusion einer Pregnanolonemulsion Anästhesie erzeugt wird.
Antikonvulsive Potenz Weiterhin besitzen die natürlich vorkommenden 3α-reduzierten neuroaktiven Steroide antikonvulsive Eigenschaften (Paul u. Purdy 1992; Rupprecht 2003). Darauf aufbauend wird gegenwärtig versucht, synthetische Analoga zu entwickeln, die als Antiepileptika eingesetzt werden könnten. Für eine mögliche antiepileptische Potenz solcher Steroide spricht auch, dass während eines Alkoholentzugssyndroms eine erhöhte Krampfanfälligkeit besteht und während eines solchen Entzugssyndroms erniedrigte Konzentrationen von endogenen 3α-reduzierten neuroaktiven Steroiden gemessen wurden (Rupprecht 2003).
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Sonstige therapeutische Optionen 3α,5α−reduzierte neuroaktive Steroide. Die funktionell-
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agonistische Wirkung von 3α, 5α-reduzierten neuroaktiven Steroiden am GABAA-Rezeptor lässt Spekulationen über mögliche anxiolytische Wirkungen bei Angsterkrankungen, z. B. der Panikstörung oder der generalisierten Angststörung, zu. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ließe sich auch für Schlafstörungen diskutieren. Schlaf-EEGUntersuchungen nach Gabe von Progesteron als Vorläufermolekül erbrachten beim Tier (Lancel et al. 1996) und beim Menschen (Friess et al. 1997) ein Schlaf-EEG-Profil mit einer Zunahme von »non rapid eye movement«(Non-REM-)Schlaf, einer Abnahme der EEG-Aktivität im Deltafrequenzbereich sowie einer Zunahme der EEGAktivität im Betafrequenzbereich ähnlich der von Benzodiazepinen und weisen daher in diese Richtung. Mittlerweile gibt es Neuentwicklungen von Anxiolytika, die darauf abzielen, die Konzentrationen endogener 3α,5αreduzierter neuroaktiver Steroide zu erhöhen. Eine derartige Substanz mit rascher anxiolytischer Wirkung ist derzeit in der klinischen Entwicklung für die Behandlung von Angsterkrankungen.
siven Störungen im Alter. Allerdings ist bei der Bewertung der ersten Studien über erniedrigte DHEA-Konzentrationen bei demenziellen Erkrankungen Vorsicht angebracht (ebd.), da in größeren epidemiologischen Untersuchungen weder Zusammenhänge zwischen dem Vorliegen einer demenziellen Erkrankung noch zwischen Messungen der kognitiven Leistungsfähigkeit bei einer älteren Normalbevölkerung (ebd.) und den Konzentrationen von DHEA gefunden wurden.
Fazit Neuroaktive Steroide besitzen eine Vielzahl bislang therapeutisch noch weitgehend ungenutzter psychopharmakologischer Eigenschaften, deren klinische Wertigkeit und Indikationsgebiet in entsprechenden klinischen Studien künftig weiter untersucht werden müssen. Die Physiologie und Pathophysiologie von neuroaktiven Steroiden schaffen die Grundlage für deren möglichen Einsatz in der Therapie neuropsychiatrischer Krankheitsbilder und tragen zum weiteren Verständnis von deren biologischen Determinanten bei.
Pregnenolon. In tierexperimentellen Verhaltensuntersu-
chungen wurde eine Verbesserung der Gedächtnisleistungen nach intrazerebroventrikulärer Gabe von Pregnenolon beschrieben. Diese Verbesserung kognitiver Funktionen sind möglicherweise den N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA)rezeptoragonistischen Eigenschaften von Pregnenolonsulfat zuzuschreiben, da NMDA-Rezeptorantagonisten kognitive Funktionen beeinträchtigen können (Rupprecht 2003). Erste klinische Untersuchungen zum Einfluss einer oralen Gabe von Pregnenolon auf den Schlaf des Menschen wiesen auf eine inverse GABA-agonistische Wirkung hin (ebd.). Allerdings gibt es bislang noch keine klinischen Untersuchungen bezüglich gedächtnisfördernder Eigenschaften von Pregnenolon beim Menschen. DHEA. Da DHEA-Sulfat und Pregnenolonsulfat am GABAA-Rezeptor auf zellulärer Ebene ähnlich wirken, sind gedächtnisfördernde Eigenschaften auch nach Gabe von DHEA zu erwarten. Im Tierexperiment wurden gedächtnisfördernde Effekte bereits bei Nagetieren nachgewiesen (Flood et al. 1988). Eine klinische Schlafstudie konnte eine Zunahme von REM-Schlaf nach oraler Gabe von DHEA bei männlichen Probanden zeigen (Friess et al. 1995), welche mit potenziellen gedächtnisfördernden Effekten vereinbar wäre. DHEA-Konzentrationen nehmen mit dem Alter ab und verminderte Konzentrationen von DHEA wurden bei Patienten mit demenziellen Erkrankungen, z. B. der senilen Demenz vom Alzheimer Typ und der Multiinfarktdemenz (Rupprecht 1997), beobachtetet. Daher eröffnet eine zusätzliche Gabe von DHEA u. U. therapeutische Möglichkeiten bei Patienten mit kognitiven Defiziten, z. B. demenziellen Erkrankungen oder depres-
8.2
Psychoneuroimmunologische Grundlagen N. Müller
8.2.1
Begriffsbestimmung Psychoneuroimmunologie und historische Aspekte
Psychoneuroimmunologie ist ein Fachgebiet, das sich in den letzten Jahren sehr rasch entwickelt und die gegenseitige Beeinflussung von Nerven- und Immunsystem sowie die Auswirkungen auf das Verhalten und das Befinden zum Gegenstand hat. Das Spektrum dieses Gebietes reicht von In-vitro-Studien von Gewebe und Lymphozyten bis zu Untersuchungen von Stresseinflüssen, Stressverarbeitung und Persönlichkeitseigenschaften auf die Funktion des Immunsystems und der Rolle psychischer Faktoren bei Infektions- und Tumorerkrankungen einschließlich der Effekte psychotherapeutischer Interventionen. Fragen der Verhaltensmedizin und tierexperimentelle Untersuchungen, z. B. die Konditionierung einer Immunantwort, gehören ebenso zu diesem Gebiet. Es lässt sich also eine ganze Bandbreite von Forschungsrichtungen subsumieren.
Interaktion von Immunsystem und ZNS Zahlreiche Interaktionen des Immunsystems mit dem ZNS wurden in den letzten Jahren beschrieben. Dabei hat
195 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
das hohe Interesse der Forschung auf diesem Gebiet prinzipiell 2 Gründe: Einflüsse des ZNS (einschließlich des neuroendokrinen Systems) wie psychische Prozesse und psychopathologische Auffälligkeiten modulieren mittels der Aktivität des Immunsystems die Vulnerabilität zu somatischen Erkrankungen, z. B. Infektionen. (Direkte oder indirekte) Beeinträchtigungen des Immunsystems prädisponieren wahrscheinlich für psychische Erkrankungen, speziell für Psychosen. Die Hypothese, Immunprozesse seien an der Pathogenese psychischer Erkrankungen beteiligt, wird seit langem diskutiert. Ersten Anlass dazu gaben Befunde von Immunauffälligkeiten – besonders ausgeprägt bei katatonen Schizophrenien –, die von verschiedenen Autoren bereits lange vor Beginn der Neuroleptikaära im Blut und im Liquor schizophrener Patienten erhoben wurden (Bruce u. Peebles 1903; Dameshek 1930; Lehmann-Facius 1939). In den 1950er Jahren wurden Serumbestandteile Schizophrener mit autoaggressiven Eigenschaften gegen Hirngewebe beschrieben. Knight (1982) versuchte, die zentrale Rolle des Dopaminsystems mit der Autoimmunhypothese der Schizophrenie in Einklang zu bringen, indem er postulierte, dass dopaminrezeptorstimulierende Autoantikörper an der Pathogenese schizophrener Erkrankungen beteiligt seien. Dank moderner Methodik ist die Immunologie nun in der Lage, die verschiedenen in ihren Funktionen inzwischen besser bekannten Subgruppen des zellulären Immunsystems, aber auch die Komponenten des humoralen Immunsystems wie Zytokine, Antikörper, Akute-PhaseProteine etc. differenziert zu bestimmen und dadurch den funktionellen Zusammenhang der Immunparameter und deren Einflüsse auf die Immunpathologie darzustellen.
8.2.2
Immunologische Grundlagen und das immunologische Gedächtnis
Zellvermittelte Immunität Die Lymphozyten sind für die Immunabwehr von zentraler Bedeutung. Es werden 2 Grundtypen von Lymphozyten unterschieden, die B- und die T-Zellen. Die T-Lymphozyten erfahren ihre Ausreifung und Prägung in der Thymusrinde, ehe sie in die anderen lymphatischen Organe (Tonsillen, Lymphfollikel, Lymphknoten und Milz) auswandern. Ein Teil der aktivierten T-Zellen treten bei der Immunantwort selbst in zytolytische Zell-Zell-Interaktionen ein, wie sie z. B. bei Transplantatabstoßung oder bei Graft-versus-Host-Reaktionen nach Knochenmarktransplantationen auftreten. Die TLymphozyten werden deshalb als Träger der zellvermittelten Immunität bezeichnet. Zur Aktivierung benötigen T-Lymphozyten das entsprechende spezifische Antigen,
das zusammen mit einem Histokompatibilitätsantigen (HLA-Antigen) auf der Oberfläche einer »akzessorischen« Zelle (z. B. Makrophagen/Monozyten) der T-Zelle präsentiert wird. Zusätzlich benötigen T-Zellen zur Aktivierung und Proliferation noch ein weiteres, nicht-antigenspezifisches Signal von der akzessorischen Zelle.
Immunologisches Gedächtnis Eine wesentliche Funktion des Immunsystems ist die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst. Nicht-SelbstMoleküle funktionieren als Antigene. Die T-Gedächtniszellen (»memory cells«) merken sich die spezifischen Antigene. Bei einem Zweitkontakt mit einem Antigen wird durch sie eine starke spezifische Immunantwort ausgelöst. Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) töten Zellen nicht spezifisch und unterliegen keiner strengen HLARestriktion. HLA-System. Das HLA-System hilft bei der Selbst-/Nicht-
selbst-Unterscheidung und ist eng gekoppelt mit der Funktion des Immunsystems, indem es entscheidet, welche spezifischen Teile (Peptide) eines Antigens nach der Prozessierung in der Zelle den T-Lymphozyten präsentiert werden. Vom HLA-System hängt entscheidend die Immunantwort ab. Es umfasst etwa ein Tausendstel des menschlichen Genoms und beinhaltet eine Reihe eng gekoppelter Loci auf dem kurzen Arm des Chromosom 6. Eine Reihe von genetischen Erkrankungen des Nervensystems, z. B. multiple Sklerose (MS) und Narkolepsie, sind mit HLA-Genen gekoppelt.
Oberflächenmarkierung und Zytokinsekretion Die Zellen des Immunsystems sind durch ihre Oberflächenmarkermoleküle und durch das Muster der Zytokine, das sie sezernieren, definiert. So stellt der CD3-Marker das Kennzeichen für die Gesamtzahl der T-Lymphozyten dar. T-Lymphozyten lassen sich in mehrere Subpopulationen unterteilen, die mit Hilfe monoklonaler Antikörper definiert werden können und die funktionell unterschiedlich sind. Die wichtigsten Subpopulationen sind die T-Helfer/Inducer-Zellen (CD4+), die eine Immunantwort induzieren und die zytotoxischen T-Zellen/T-Suppressorzellen (CD8+), die eine ausgelöste Immunantwort des Organismus regulieren, aber auch zytotoxisch wirken und Zellen lysieren. CD16+/56+ ist der Marker für NK-Zellen, CD5+/ CD19+ für die B-Lymphozyten. Die antigenpräsentierenden Zellen (z. B. Makrophagen oder bestimmte Typen von Lymphozyten) schütten z. B. aktivierende Zytokine aus und aktivieren B- und T-Lymphozyten. NK-Zellen werden primär durch Interferon-γ aktiviert. B-Lymphozyten proliferieren zu Plasmazellen, die Antikörper produzieren. CD4+- und CD8+-Zellen, die wiederum durch CD3+-TLymphozyten aktiviert werden, befinden sich normaler-
8
196
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
8 ⊡ Abb. 8.6. Übersicht über das zelluläre Immunsystem und die von Lymphozyten ausgeschütteten aktivierenden und hemmenden Zytokine
weise in einem funktionellen Gleichgewicht. Die Differenzierung in T-Helfer-1- und T-Helfer-2-Lymphozyten (ebenfalls definiert durch das Zytokinmuster, das sie ausschütten) scheint bei chronisch entzündlichen Erkrankungen von Relevanz zu sein (⊡ Abb. 8.6). Das eine schnelle Immunantwort einleitende und v. a. aus Elementen des zellulären Immunsystems bestehende T-Helfer-1-System wird bei akuten Entzündungen aktiv. Charakteristische Zytokine sind INF-g, IL-2 und IL-12. Das T-Helfer-2-System wird bei chronisch-entzündlichen Prozessen, aber auch allergischen Reaktionen aktiviert. Wichtige Zytokine, die eine Aktivierung des T-Helfer-2Systems widerspiegeln, sind IL-4 und IL-13, z. T. auch IL6. Beide Regulationssysteme stehen normalerweise in einem funktionellen Gleichgewicht.
T-Gedächtniszellen Neben dem ZNS ist das Immunsystem das einzige menschliche Organsystem, das über ein Gedächtnis verfügt. Diese Funktion nehmen die T-Gedächtniszellen + (CD45 ) wahr. Sie »merken« sich das Antigen, mit dem sie in Berührung gekommen sind, und Klone von T-Gedächtniszellen proliferieren schnell, wenn sie dieses Antigen wiedererkennen. Einer der historischen Ausgangspunkte der Psychoneuroimmunologie war eine Immunkonditionierung im Tierversuch: Bei Mäusen und Ratten ist es möglich, eine durch Cyclophosphamid (unkonditionierter Stimulus) vermittelte Immunsuppression durch gleichzeitige Gabe von Saccharin (konditionierter Stimulus) zu konditionie-
ren. Welche Elemente des Immunsystems in diese konditionierte Immunantwort involviert sind, ist bisher nicht geklärt (Ader et al. 1991). Möglicherweise spielen dabei neben den T-Memory-Zellen andere immunologische Gedächtnisfunktionen eine Rolle.
8.2.3
Methodische Aspekte der Psychoneuroimmunologie
Es ist bekannt, dass Untersuchungen des menschlichen Immunsystems eine Reihe methodischer Probleme mit sich bringen, denn verschiedene Komponenten des Immunsystems werden durch Variablen beeinflusst, die bei Humanuntersuchung nur schwer kontrollierbar sind und möglicherweise mit zu divergierenden Befunden beitragen. Dazu gehören Alter, Schlaf, Alkohol- und Drogenkonsum, Pharmaka, Ernährungsgewohnheiten, Tagesrhythmus, Stress, Rauchen und körperliches Training ebenso wie Infektionen, Tumoren etc. ! Auch klinische Krankheitsfaktoren wie Akuität, Verlauf, Erkrankungsschwere oder Psychopathologie scheinen eine Rolle zu spielen. Das zeigt, dass das Immunsystem sehr empfindlich auf verschiedenste Einflüsse reagiert, andererseits aber dank seiner hohen Komplexität und Variabilität in der Lage ist, eine funktionelle Homöostase aufrecht zu erhalten.
197 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
8.2.4
Neuroendokrines System und Immunsystem
Über die Interaktion von ZNS, endokrinem System und Immunsystem ist inzwischen vieles bekannt. Zytokine kommunizieren mit im ZNS exprimierten Rezeptoren und beeinflussen verschiedene Funktionen, z. B. aktiviert IL-1 einerseits die ACTH-Ausschüttung und induziert andererseits Schlaf. Glukokortikoide hemmen die Zytokinproduktion und supprimieren die Immunantwort in vivo. Von Androgenen wurden supprimierende Effekte auf die Immunantwort beobachtet, während Thyroxin, GH und Insulin sie stimulieren. Östrogene supprimieren in höheren Dosen die zelluläre Immunantwort, während niedrigere Dosen eine stimulatorische Wirkung haben. Die erhöhte Rate von Autoimmunerkrankungen wie Sklerodermie, rheumatoide Arthritis oder systemischer Lupus erythematodes bei Frauen weist auf eine mögliche Beteiligung von Sexualhormonen an einer Immundysregulation hin.
Wechselwirkungen von Immunsystem und Endokrinium Bereits seit längerer Zeit ist bekannt, dass nicht nur das Immunsystem durch das hormonelle System beeinflusst wird, sondern auch Immuneinflüsse das endokrine System steuern können und periphere Immunprozesse auch Auswirkungen auf das ZNS im Sinne eines afferenten Geschehens haben. So konnte gezeigt werden, dass nach einer Antigeninjektion bei Versuchstieren das Maximum der Antikörperproduktion von einem Anstieg der Glukokortikoidkonzentration im Blut auf das 2- bis 3fache begleitet ist und eine immunsuppressive Wirkung erzielt wird; gleichzeitig erreicht auch die Feuerungsrate hypothalamischer Nuclei ihr Maximum (Besedovsky et al. 1986). Aufgrund dieser Befunde wird postuliert, dass die immunmodulatorische Wirkung von Kortisol einer der wichtigsten physiologischen Effekte dieses Hormons sei. Andererseits weisen Befunde darauf hin, dass eine Überstimulation der HPA-Achse durch Ausschüttung von CRF-stimulierenden Zytokinen zu einer Immunsuppression wie z. B. verringerter Effektivität von Hepatitisoder Grippeimpfung führt (Pennisi 1997). Weiterhin fand sich, dass in Lymphozyten des peripheren Immunsystems Hormone produziert werden, so ACTH, β-Endorphine, TSH, GH und Prolaktin. Das Immunsystem scheint also z. T. auch Funktionen des endokrinen Systems wahrzunehmen. Es scheint, dass Peptidsignale des Immunsystems und des endokrinen Systems z. T. gemeinsame Funktionen haben und dass Funktionen und Signale des Immunsystems und des endokrinen Systems vielfach Parallelen aufweisen.
8.2.5
Das Zytokinsystem
Zytokine vermitteln Informationen zwischen Zellen des peripheren Immunsystems und des ZNS. Sie werden z. T. aktiv durch die Blut-Hirn-Schranke transportiert, jedoch auch im ZNS von aktivierten Astrozyten und Mikroglia gebildet. IL-1, IL-2, IL-6 und TNF-α sind die wichtigsten aktivierenden Zytokine, von welchen verschiedene Funktionen im ZNS bekannt sind. Befunde der letzten Jahre zeigen, dass Zytokinwirkungen auch für psychische Erkrankungen von Bedeutung sind. Seit längerer Zeit ist die enge Verbindung von ZNS, endokrinem System und Immunsystem bekannt. Zytokine im ZNS sind dabei an verschiedenen Regulationsmechanismen beteiligt. Dazu gehören: die Initiierung eines Immunprozesses im ZNS bei entzündlichen Erkrankungen, die Regulation der Blut-Hirn-Schranke, die Regulierung der Hormone der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse, differenzielle stimulatorische und hemmende Effekte auf die dopaminerge, serotonerge, noradrenerge und cholinerge Neurotransmission.
Stimulierung von Zellen des ZNS durch Zytokine Es existieren verschiedene Wege, ZNS-Zellen durch Zytokine zu aktivieren. Erstens werden zumindest einige Zytokine wie IL-1, IL-2, IL-6 und TNF-α über aktive Transportmechanismen aus dem Blut in das ZNS transportiert; zum zweiten sezernieren Gliazellen nach Aktivierung durch antigene Reize Zytokine; schließlich konnte nachgewiesen werden, dass die Zytokinsekretion im ZNS auch durch Stimulation mit Neurotransmittern ausgelöst werden kann. Es zeigte sich, dass Noradrenalin dosisabhängig die IL-6-Produktion in Astrozyten stimuliert (Norris u. Benveniste 1993). ! Da IL-6 funktionell eng mit anderen Zytokinen wie IL-1, IL-2 und TNF-α verknüpft ist, weist dieser Befund darauf hin, dass die Kaskade der Zytokine möglicherweise auch durch Neurotransmitter angeregt werden kann. Hier könnte eine wichtige Verbindung zwischen (Auto-)Immunerkrankungen, Infektionsanfälligkeit, Befinden und psychischen Erkrankungen liegen. Darüber hinaus dringen Zytokine natürlich auch durch eine gestörte Blut-Hirn-Schranke in das ZNS ein.
Zytokinproduktion Sowohl Astrozyten als auch Mikrogliazellen sind nach Aktivierung in der Lage, Zytokine zu produzieren und auszuschütten. Interessanterweise unterscheiden sich die Wege, auf denen beide Zellarten zur Bildung von Zytoki-
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
nen angeregt werden, sowie das sezernierte Zytokinmuster. Dies legt unterschiedliche Funktionen dieser Zelltypen für die Immunantwort im ZNS nahe. Viren stimulieren Mikroglia zur Zytokinproduktion. Auf diese Weise wird – zusammen mit der Expression von zellulären Oberflächenstrukturen – bei viralen Infektionen eine Immunreaktion im ZNS eingeleitet (Liebermann et al. 1989).
Wirkmechanismus
8
Da sich Zytokinrezeptoren auf Neuronen befinden, liegt nahe, dass Zytokine direkt auf neuronale Funktionen wirken. IL-1-enthaltende Neurone wurden in verschiedenen Arealen des ZNS einschließlich Hypothalamus und Hippocampus gefunden. Der Nachweis von IL-2-RezeptormRNA (der genetischen Information für den IL-2-Rezeptor) in Neuronen – mehr als in Mikroglia und Astrozyten – spricht dafür, dass auch IL-2 direkt auf Neuronen wirkt. Andererseits konnte im Tierversuch nachgewiesen werden, dass über den N. vagus Reize, die vom Immunsystem ausgehen, z. B. von IL-1, direkt an kritische ZNS-Regionen geleitet werden, ohne dass IL-1 in das ZNS wandert. Der N. vagus stellt offensichtlich eine Verbindung dar, die Informationen des Immunsystems weitergibt. Auch die physiologische Entwicklung des ZNS kann durch eine Über- oder Unterproduktion von Zytokinen erheblich beeinträchtigt werden (Merill 1992), denn Zytokine haben auch Funktionen als Wachstumsfaktoren im ZNS. Hier besteht möglicherweise eine Verbindung zwischen einer prä- oder perinatalen Schädigung, z. B. durch ein Geburtstrauma oder eine pränatale Virusinfektion, und einer Störung der Hirnreifung, wie sie bei schizophrenen Erkrankungen postuliert wird.
8.2.6
Interaktion von Zytokinen und Neurotransmittern
Besondere Bedeutung für psychische Erkrankungen dürften die Zytokineffekte auf Neurotransmitter des Katecholaminsystems haben. IL-1 stimuliert die Katecholaminausschüttung in peripheren Körperregionen, aber auch im ZNS, besonders ausgeprägt im Hirnstamm und im Hypothalamus. Hier wurden nach intraventrikulärer, aber auch peripherer Gabe von IL-1-Erhöhungen von Noradrenalin, von Serotonin und von deren Abbauprodukten gefunden (Zalcman et al. 1994).
Interleukin-2 und dopaminerge Neurotransmission Untersuchungen belegen, dass die Stimulation der dopaminergen Neurotransmission ein wichtiger neuromodulatorischer Effekt von IL-2 ist. In vitro stimuliert IL-2 die Dopaminausschüttung (Lapchak 1992). Da dies bei phy-
siologischen Konzentrationen von IL-2 geschieht, wird eine wichtige physiologische Rolle von IL-2 für den Dopaminstoffwechsel im ZNS postuliert (Alonso et al. 1993). Periphere Gabe von IL-2 führte im Tierversuch zu erhöhtem Noradrenalinstoffwechsel im Hippocampus und erhöhtem Dopaminstoffwechsel im präfrontalen Kortex. Eine besonders hohe Dichte der IL-2-Rezeptoren in der Pyramidenzellschicht des Hippocampus weist darauf hin, dass IL-2 vermutlich an der Regulation der Neurotransmission der Pyramidenbahnen im Hippocampus beteiligt ist (Plata-Salaman 1991). Im Tierversuch zeigte sich auch, dass IL-2 selektiv die Azetylcholinfreisetzung im Hippocampus und im frontalen Kortex (Araujo et al. 1989) hemmt. Entsprechend fanden sich nach längerer IL-2-Gabe im Tierversuch ein Neuronenuntergang, degenerative Veränderungen im Hippocampus sowie eine deutliche Einschränkung der Gedächtnisfunktion (Nemni et al. 1992). Die Stimulation von Dopamin und die Hemmung von Azetylcholin scheinen 2 wesentliche ZNS-Effekte von IL-2 zu sein. Eine regulatorische Rolle der Zytokine für die Gedächtnisfunktion ist bisher wenig beachtet. Die Beteiligung von IL-2 an der Regulation striataler dopaminerger Funktionen könnte die beschriebenen motorischen Effekte (auf die Körperhaltung) von IL-2 erklären. Darüber hinaus ist auch ein sedierender Effekt von IL-2 beschrieben. Diese Effekte von IL-2 sind vermutlich v. a. über den Locus coeruleus und über den Nucleus caudatus vermittelt (Nisticò u. De Sarro 1991).
Interleukin-6 und Katecholaminsekretion IL-6 kann in vitro Neurone zur Sekretion von Dopamin, evtl. auch anderen Katecholaminen stimulieren. Im Tierversuch erhöht die periphere Gabe von IL-6 den Dopamin- und Serotonin-Turnover im Hippocampus und frontalen Kortex, ohne den Noradrenalinstoffwechsel zu beeinflussen (Zalcman et al. 1994). Umgekehrt kann Noradrenalin die IL-6-Produktion in aktivierten Astrozyten stimulieren (Norris u. Benveniste 1993).
TNF-α und Katecholaminsystem Auch TNF-α beeinflusst die Neurotransmitterbalance, wobei diese Einflüsse von der Dauer der TNF-α-Gabe abzuhängen scheinen. Während akute TNF-α-Gabe einen über ZNS-Mechanismen vermittelten stimulatorischen Effekt auf das Katecholaminsystem hat, wirkt chronische TNF-α-Gabe inaktivierend auf die Katecholaminsekretion (Soliven u. Albert 1992). Bei demenziellen Prozessen, aber auch bei den HIV-assoziierten kognitiven Einschränkungen, wird TNF-α eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Systematische Untersuchungen zu Wirkungen von chronischer im Gegensatz zu akuter Zytokingabe – für psychiatrische Fragestellungen von hoher Relevanz – stehen für die meisten Zytokine allerdings noch aus (⊡ Tab. 8.2).
8
199 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
⊡ Tab. 8.2. Vermutete Funktion, Lokalisation, biologische Effekte und Bedeutung ausgewählter Zytokine im ZNS Funktion im peripheren Immunsystem
Funktion im ZNS
Lokalisation von Rezeptoren im ZNS
Produktion im ZNS
Neurotransmittereffekte
Einfluss auf psychische Funktionen
IL-1
Pleiotrope Aktivierung; Proliferation von T- und B-Zellen, zytolytische Aktivität von NK-Zellen ↑
Stimulation der HPAAchse; Fieber, Schlaf
Hippocampus; Hypothalamus; Hirnstamm
Astrozyten; Mikroglia
Serotonin, Dopamin, Noradrenalin ↑; neurodendokrine Stimulation
Schlaf, Antrieb, Stress, »Krankheitsgefühl«
IL-2
Aktivierung von T-, T-Helfer-, NK- und B-Zellen; Zytokinproduktion ↑, z. B. IL-6 in Helferzellen
Schrankenstörung; Dopamin-metabolismus
Pyramidenzellschicht des Hippocampus; Locus coeruleus
Astrozyten; Mikroglia
Dopamin; Noradrenalin; Azetylcholin
Gedächtnis, Kognition
IL-6
Entzündungsmediator, B-Zell-Stimulation, Antikörpersynthese und AkutePhase-Proteine ↑; Synergismus mit IL-1
Schrankenstörung; intrathekale IgG-Produktion
Hippocampus; präfrontaler Kortex
Astrozyten; Mikroglia
Noradrenalin; Serotonin; Dopamin
Stress?
TNF-α
Endogenes Pyrogen; Ausschüttung von IL-1, Aktivierung von Makrophagen, Zytotoxizität
Zytotoxisch; Demyelinisation; Fieber
Ubiquitär?
Astrozyten; Mikroglia
Akut: Katecholamine ↑
Kognition?
8.2.7
Blut-Hirn-Schranke
»Unspezifische« Liquorauffälligkeiten, z. B. Blut-HirnSchrankenstörungen, finden sich regelmäßig bei etwa 20–30% der psychiatrischen Patienten. Untersuchungen der Psychiatrischen Universitätsklinik München an Schizophrenen ergaben eine Blut-Hirn-Schrankenstörung bei 27% und eine intrathekale IgG-Bildung bei 15% der Patienten. ! Der Liquor-IgG-Gehalt zeigte signifikante Korrelationen mit der Psychopathologie, nämlich v. a. der schizophrenen Negativsymptomatik (Müller u. Ackenheil 1995 a). Erhöhte Immunglobuline und Schrankenstörung sind Teil eines Immunprozesses, dessen Bedeutung bisher im Einzelnen unklar ist. Die Korrelationen von Psychopathologie und IgG-Gehalt weist auf enge Zusammenhänge zwischen Immunprozess und Erkrankung hin. Eine Schrankenstörung ist mit der Aktivierung von Astrozyten verbunden, denn die kapillären Endothelzellen, die die Blut-Liquor-Schranke bilden, sind fast vollständig von Astrozyten umgeben, welche die Blut-LiquorSchranke über die Endothelialzellen der kleinen Gefäße modulieren (Benveniste 1992). Eine Störung führt vermutlich wiederum zu einer sekundären Aktivierung der Zytokinkaskade im ZNS.
Der physiologische Sinn liegt darin, dass Antigene durch einen Immunprozess im ZNS unschädlich gemacht werden. So zeigen z. B. Infektionen mit Herpesviren, die Gliazellen nicht aktivieren können, klinisch weitaus ungünstigere Verläufe als Infektionen mit Herpesviren, die Astrozyten in die Immunantwort einbeziehen (Lewandowski et al. 1994). Durch die bidirektionale Verbindung kann ein zunächst lokal im ZNS ablaufender Prozess nach Öffnung der Blut-Hirn-Schranke das periphere Immunsystem aktivieren, was zur Aktivierung eines Immunprozesses, aber auch zur Aktivierung gegenregulatorischer Prozesse und damit letztlich zur klinischen Kontrolle eines entzündlichen ZNS-Prozesses führen kann (⊡ Abb. 8.7).
8.2.8
Immungenetik und psychische Störungen
HLA-System und Schizophrenie Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es eine Fülle von Untersuchungen, die die Assoziation von HLA-Klasse-I-Antigenen (HLA-A, -B, -C) und Schizophrenie untersuchten. Wenn Immunauffälligkeiten eine Rolle in der Pathogenese der Schizophrenie spielen, würde man Assoziationen zwischen dem HLA-System und Schizophrenie erwarten. Die Ergebnisse der HLA-Klasse-I-Untersuchungen sind
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
8 ⊡ Abb. 8.7. Funktion der Blut-Hirn-Schranke und des Zytokinnetzwerks im ZNS. Unter anderem mittels der Expression von Adhäsionsmolekülen (VLA-4, LFA-1) penetrieren Lymphozyten die Gefäßwand und erkennen die auf Gliazellen exprimierten Oberflächenmoleküle
I-CAM und V-CAM. Zytokine werden von Astrozyten und Mikrogliazellen ausgeschüttet. Möglicherweise modulieren penetrierende Lymphozyten die Zytokinausschüttung der Gliazellen
allerdings inkonsistent, eine Reihe beschriebener Assoziationen konnte nicht repliziert werden. Assoziationen von HLA-A9, -A10, -A28 und -A29 mit Schizophrenie wurden allerdings von mehreren Untersuchern beobachtet (Tiwari u. Terasaki 1986). Andererseits können eine Reihe methodischer Faktoren für die Variabilität der Ergebnisse verantwortlich sein, z. B. ethnische und lokale Unterschiede, Einflüsse im »linkage desequilibrium«, Diagnosekriterien oder zu kleine Untersuchungsgruppen. Bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen konnten deutlichere Assoziationen mit dem HLA-Klasse-IISystem (HLA-DR, -DQ, -DP) als mit dem Klasse-I-System gefunden werden. Bei Schizophrenen beschäftigen sich nur wenige Studien mit dem Klasse-II-System. In einer deutschen Studie fand sich ein leichter Anstieg von HLADQB1 *0602, der auch in einer weiteren kleinen amerikanischen Studie beschrieben wurde. Dies ist besonders interessant, da HLA-DQB1 *0602 auch mit Narkolepsie und MS assoziiert ist, also möglicherweise ein gemeinsames Vulnerabilitätsgen für mehrere ZNS-Erkrankungen darstellt (Großkopf et al. 1998).
HLA-System und affektive Störungen Auch bei affektiven Erkrankungen sind in der Literatur zahlreiche Assoziationen mit Klasse-I-Antigenen beschrieben, die ebenfalls nur z. T. repliziert werden konnten.
Problematik der HLA-Serologie Aus heutiger Sicht müssen die serologischen HLA-Untersuchungen der damaligen Zeit besonders kritisch gesehen werden, denn die HLA-Untersuchungen mit Antikörpern erbrachten vielfach falsch-positive und falsch-negative Befunde. Seit HLA-Untersuchungen mit molekulargenetischen Methoden durchgeführt werden, lassen sich validere und reliablere Analysen durchführen. Allerdings macht die Fülle der bekannten HLA-Gene die Untersuchung sehr großer Stichproben erforderlich. Nach einem Boom von HLA-Untersuchungen bis Mitte der 1980er Jahre flaute das Interesse am HLA-System ab. Mit verbesserten Labormethoden, dem heute verfügbaren Wissen über die funktionelle Bedeutung des HLA-Systems für die Immunantwort und der Erkenntnis, dass ein Schizophrenie-Suszeptibilitätsgen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 zumindest in der Nähe der HLA-Region liegt (Schwab et al. 1995), können weitere HLA-Untersuchungen bei solchen psychischen Störungen, denen eine genetische Vulnerabilität zugrundeliegt, heute durchaus wieder vielversprechend sein.
201 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
8.2.9
Zelluläres Immunsystem und psychische Störungen
Mit der Entwicklung moderner immunologischer Methodik trat zunächst die zelluläre Immunologie in den Mittelpunkt des Interesses. Analysen des zellulären Immunsystems bei psychischen Erkrankungen gehen davon aus, dass sich Veränderungen im ZNS in der Zusammensetzung verschiedener funktioneller Gruppen von Lymphozyten im Blut widerspiegeln. Methodisch lehnt sich die psychoneuroimmunologische Forschung dabei an neurologische ZNS-Erkrankungen an, wie z. B. der MS, bei der sich Veränderungen in der Zusammensetzung der Lymphozytenpopulationen im Blut feststellen lassen. Heute geht man davon aus, dass zur Aufrechterhaltung oder gesunden Homöostase bestimmte Lymphozytenpopulationen permanent durch das ZNS »patroullieren« und in geringem Ausmaß ein ständiger Austausch von Lymphozyten zwischen ZNS und Blut stattfindet. Durch Signale von ZNS-Zellen – vermutlich zunächst der Präsentation eines Antigens, z. B. durch Mikrogliazellen und der folgenden Antigenerkennung durch Lymphozyten – kommt es zu einer Invasion, verbunden mit der raschen Vermehrung bestimmter Zellklone, die wahrscheinlich über das periphere Blut transportiert werden. Dieser Vorgang ist mit einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke verbunden, wobei den Adhäsionsmolekülen eine Schlüsselrolle zuzukommen scheint (Hampel et al. 1996).
Lymphozytenpopulation und Zytokinproduktion Die verschiedenen funktionellen Gruppen von Lymphozyten unterscheiden sich in ihrer Zytokinproduktion. Moderne immunologische Methoden machen es möglich, auch mittels der Analyse weniger Liquorzellen Rückschlüsse auf Veränderungen in der Zytokinproduktion oder in der Zusammensetzung der Lymphozytenpopulation zu ziehen. Bisher wurden bei psychiatrischen Patienten neben den NK-Zellen v. a. Gesamt-T-Lymphozyten (CD3+), THelfer/Inducer-Zellen (CD4+) und T-Suppressorzellen/ zytotoxische T-Zellen (CD8+) untersucht; die Befunde werden in Abschn. 8.2.10 und 8.2.11 dargestellt.
8.2.10
Psychische Störungen bei Autoimmunerkrankungen
Dass Psychosen Folge von Immunprozessen sein können, zeigt das Auftreten psychotischer Phänomene bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes, Sklerodermie, Sjögren-Syndrom und Antiphospholipidsyndrom (Kurtz u. Müller 1994), bei denen sich ZNS-Immunprozesse nachweisen lassen.
Aus klinischer Sicht zeigen sich Parallelen zwischen Autoimmunerkrankungen und insbesondere Schizophrenien und affektiven Störungen. Dazu gehören der häufig frühe Erkrankungsbeginn, die genetische Vulnerabilität und der schub- bzw. phasenhafte Verlauf. Parallelen zwischen MS und dem gehäuften Auftreten sowohl schizophreniformer Syndrome (Stevens 1988) als auch affektiver Störungen (Berrios u. Quemada 1990) bei MS wurden v. a. gezogen, um auf eine mögliche Immunpathogenese bzw. ähnliche pathogenetische Mechanismen dieser Störungen aufmerksam zu machen.
8.2.11
Schizophrenie und Immunsystem
Lymphozytenstatus bei schizophrenen Störungen Die Befunde zu Untersuchungen des zellulären Immunsystems bei Schizophrenen sind nicht einheitlich (Müller u. Ackenheil 1995 b). Erhöhungen der CD4+-T-Lymphozyten wurden allerdings von einer ganzen Reihe von Untersuchern gefunden (Henneberg et al. 1990; Müller et al. 1991). Zusätzlich wurden auch Erhöhungen der Gesamtzahl der T-Lymphozyten (CD3+) (DeLisi et al. 1982) beschrieben, deren Anstieg wohl v. a. auf die höhere Zahl der CD4+-Zellen zurückzuführen ist. Darüber hinaus wurden vermehrte CD5+-B-Zellen beobachtet (McAllister et al. 1989). Diese Befunde wurden als Hinweis auf eine Aktivierung des Immunsystems gewertet. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Patienten vielfach unter Neuroleptikabehandlung standen, die deutliche Effekte auf das Immunsystem hat. Vermutlich bringt die Neuroleptikabehandlung eine Vermehrung bestimmter Subgruppen von CD4+-Zellen und von B-Zellen mit sich.
Zytokine und Schizophrenie ! In letzter Zeit rücken die Zytokine stärker in den Vordergrund der immunologischen Forschung bei psychischen Erkrankungen. Die Hypothese, dass eine überschießende IL-2-Produktion eine wichtige Rolle in der Pathogenese der Schizophrenie spielt, wird u. a. von dem Befund gestützt, dass IL-2 dosisabhängig schizophrenieähnliche Symptome auslösen kann (Denicoff et al. 1987). Untersuchungen der IL-2-Produktion nach In-vitroStimulation von Lymphozyten schizophrener Patienten zeigten weitgehend übereinstimmend eine Verminderung der IL-2-Produktion (Hornberg et al. 1995). Es wurde beschrieben, dass sich die IL-2-Produktion umgekehrt proportional zur Ausprägung der Negativsymptomatik verhält, d.h. je niedriger die IL-2-Produktion, desto stärker die Negativsymptomatik. Darüber hinaus scheint die IL-2-Produktion auch zum Erkrankungszeitpunkt in Be-
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
zug zu stehen (Ganguli et al. 1995). Auch der Befund einer verminderten Hemmbarkeit der Lymphozytenproliferation in mehreren In-vitro-Assays bei Schizophrenen ist durch eine verringerte IL-2-Produktion erklärbar (Müller et al. 1987). Untersuchungen der löslichen IL-2-Rezeptoren (sIL2R) im Serum Schizophrener zeigten übereinstimmend eine Erhöhung der sIL-2R (Ganguli u. Rabin 1989; Rapaport et al. 1989). Hohe sIL-2R-Werte waren mit einer schlechteren Prognose assoziiert (Hornberg et al. 1995). Da die biologische Funktion der sIL-2R vermutlich v. a. eine IL-2-antagonistische Wirkung ist und sIL-2R parallel zu IL-2 hochreguliert werden, sind diese Befunde mit einer Dysregulation von IL-2 vereinbar. Allerdings sprechen neuere Befunde dafür, dass die Neuroleptikabehandlung zu der Erhöhung von sIL-2R beiträgt. Liquordiagnostik. Für Aufsehen sorgten jüngst 2 Studien,
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in denen IL-2-Liquorbestimmungen vorgenommen wurden. Eine Studie beschrieb gegenüber Kontrollen erhöhte IL-2-Spiegel im Liquor unbehandelter schizophrener Patienten (Licinio et al. 1993). Die andere Studie fand bei einem methodisch sorgfältig angelegten Design, dass IL-2 im Liquor der einzige Prädiktor für einen schizophrenen Rückfall nach dem Absetzen von Haloperidol war. Keinen signifikanten Prädiktoreffekt hatten 5HIAA und HVA im Liquor sowie psychopathologische Variablen wie Ängstlichkeit. Erst nach Herausnahme der Variablen IL-2 aus dem mathematischen Berechnungsmodell der logistischen Regression hatten auch die Katecholaminabbauprodukte sowie das Frühsymptom Angst einen signifikanten Prädiktoreffekt (McAllister et al. 1995). Dass Serum-IL-2-Spiegel keine prädiktive Aussage erlaubten, zeigt, dass zentrale IL-2-Effekte im Serum vermutlich durch periphere Prozesse maskiert sind. Entsprechend zeigten IL-2-Untersuchungen im Serum auch keine Erhöhung bei schizophrenen Patienten.
Stimulation katecholaminerger Neurotransmitter Eine Reihe von Befunden spricht dafür, dass eine erhöhte Ausschüttung aktivierender Zytokine im ZNS bei Schizophrenen vorliegt, die mit einer Stimulation des katecholaminergen Neurotransmittersystems verbunden ist. Möglicherweise wird das periphere Immunsystem zunächst nicht adäquat aktiviert, so dass eine Gegenregulation im peripheren Immunsystem und – damit verbunden – eine Kommunikation ZNS/peripheres Immunsystem nicht ausreichend möglich ist. Das könnte mit einem Defekt in der Antigenerkennung oder -präsentation zusammenhängen. Durch Neuroleptikatherapie kommt es offenbar zu einer Aktivierung des peripheren Immunsystems und möglicherweise damit zu einer Gegenregulation der Zytokinausschüttung im ZNS.
Inwieweit also die aufgeführten Befunde zu IL-2 und sIL-2R durch eine antipsychotische Medikation der Patienten bzw. durch eine sehr kurze Absetzperiode erklärt werden können, müssen weitere Untersuchungen zeigen.
8.2.12
Depression und Immunsystem
Interleukin-6 und depressive Störungen Auch bei depressiven Störungen rücken in der letzten Zeit die Veränderungen im Zytokinsystem in den Mittelpunkt des Interesses. Maes (1995) vertritt die Ansicht, eine IL-6-Hypersekretion spiele besonders bei depressiven Störungen eine Rolle. Er fand bei depressiven Patienten sowohl erhöhte Serumspiegel von IL-6 als auch von IL-6R sowie andere Zeichen einer Immunaktivierung, insbesondere der Akute-Phase-Proteine, die durch IL-6 stimuliert werden. Der parallele Anstieg von IL-6 und sIL-6R bei depressiver Störung, die sich als Komplex zusammenlagern und möglicherweise über Assoziation mit einem signalübertragenden Protein die biologische Aktivität von IL-6 steigern, unterstreicht die wichtige Rolle von IL-6. Bei depressiven Patienten wurde auch eine signifikante Korrelation von hohen IL-6-Werten mit Kortisolplasmaspiegeln beschrieben (Maes et al. 1995), der bei der bekannten stimulatorischen Wirkung von IL-6 auf die HPA-Achse zu erwarten war, wobei allerdings eine Suppression von IL-6 im peripheren Immunsystem als Gegenregulation zu erwarten wäre. Die Korrelation der in vitro erhöhten IL-6-Produktion aus Lymphozyten depressiver Patienten mit bei diesen Patienten erniedrigten Tryptophanplasmaspiegeln wird von den Autoren in Zusammenhang mit dem Einfluss von IL-6 auf den Serotoninmetabolismus gesehen (Maes et al. 1995). Die Serotoninsynthese im ZNS wird zumindest teilweise durch die Tryptophanverfügbarkeit im Blut gesteuert, so dass erniedrigte Tryptophanblutspiegel zu einer verminderten Serotoninsynthese im ZNS führen können. Major depression. Bei Patienten mit Major depression
fanden sich aber auch erhöhte sIL-2R- und IL-1-Konzentrationen (Maes 1995). Inwieweit also IL-6 bei depressiven Störungen eine Schlüsselrolle zukommt, kann erst durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Bei einer Untergruppe depressiver Patienten scheinen auch Autoantikörper nachweisbar zu sein, so wurden »Antibrain-Antikörper« im Serum von 2 von 11 Patienten mit einer affektiven Erkrankung festgestellt (DeLisi et al. 1985). An der Psychiatrischen Universitätsklinik München erhobene Befunde von Anti-DNA-Autoantikörpern im Liquor einer depressiven Patientin mit Sklerodermie (Müller et al. 1992) weisen ebenfalls darauf hin, dass
203 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
Autoantikörper bei der Ausbildung depressiver Symptome eine Rolle spielen können.
Zelluläres Immunsystem und depressive Erkrankungen Die Befunde zum zellulären Immunsystem sind auch bei depressiven Störungen uneinheitlich. Die überwiegende Mehrzahl der Untersucher fand aber ebenfalls Zeichen einer Aktivierung des peripheren Immunsystems, wie die Erhöhung von CD4+-Zellen. Noch häufiger wird eine Erhöhung des CD4+/CD8+-Verhältnisses beschrieben (Syvälathi et al. 1985), während ein kleinerer Teil keine Veränderungen oder sogar eine Verminderung von CD4+-Zellen fand (Denney et al. 1988). In einer Studie fand sich ein interessanter Hinweis auf eine positive Korrelation der Hamilton-Depressionsskala mit der CD4+Zellzahl: je schwerer die Depression, desto höher die CD4+-Zellzahl (Levy et al. 1991). Einen ähnlichen Befund konnten Irwin et al. (1987) erheben, die eine positive Korrelation der Hamilton-Depressionsskalawerte mit der CD4+-Zellzahl beschrieben.
8.2.13
Immunologische Effekte von Psychopharmaka
Neuroleptika Wenn eine gesteigerte Konzentration aktivierender Zytokine im ZNS eine Rolle bei der Schizophrenie spielt, würde man einen hemmenden Effekt auf diese Zytokine unter Neuroleptikabehandlung erwarten. Bereits frühe Studien haben auf immunsuppressive Effekte von Neuroleptika hingewiesen (Baker et al. 1977), andere Untersuchungen haben keine Suppression des Immunsystems gefunden. Allerdings ist der Begriff immunsuppressiv vage – diese Effekte müssen näher spezifiziert werden. Einige In-vitroStudien beobachteten sogar eine immunaktivierende Funktion von Neuroleptika (Zarrabi et al. 1979). Die widersprüchlichen Ergebnisse legen nahe, dass In-vitro- und In-vivo-Effekte, aber auch Kurzzeit- und Langzeiteffekte unterschieden werden müssen. Es scheint, dass eine Kurzzeitbehandlung oder Einzeldosis von Neuroleptika keinen nachweisbaren Effekt bei Ex-vivo-Untersuchungen hat (McAllister et al. 1989 b), aber dies schließt keinesfalls immunmodulatorische Effekte im Rahmen einer längerzeitigen Neuroleptikabehandlung unter naturalistischen Bedingungen aus.
Hemmung aktivierender Zytokine Da sich das Immunsystem aus komplexen Regulationsmechanismen zusammensetzt, müssen die Effekte der verschiedenen Komponenten spezifiziert werden. Inzwischen liegen eine Reihe von Untersuchungen vor, die auf hemmende Effekte auf aktivierende Zytokine unter Neuroleptikabehandlung hinweisen. Übereinstimmend er-
wies sich, dass eine antipsychotische Neuroleptikabehandlung mit niedrigen Spiegeln von löslichem IL-6Rezeptor und hohen Spiegeln von löslichem IL-2-Rezeptor assoziiert ist (Pollmächer et al. 1995; Maes et al. 1996; Müller et al. 1997). Da lösliche IL-2-Rezeptoren Effekte auf das T-Helfer1-System widerspiegeln, die löslichen IL-6-Rezeptoren allerdings eher die Aktivität des monozytären Systems bzw. des TH-2-Systems, liegt es nahe, die Neuroleptikaeffekte als differenzielle Effekte auf das TH-1- und das TH2-System zu interpretieren. Es sieht so aus, als würde das TH-1-System aktiviert, das monozytäre- bzw. TH-2-System eher herunterreguliert.
Wirkmechanismen unterschiedlicher Neuroleptika Hemmende Effekte von Chlorpromazin, weniger ausgeprägt auch von anderen Neuroleptika (Haloperidol, Fluphenazin) auf die TNF-α-Produktion wurde in Tierversuchen ebenfalls beobachtet (Bertini et al. 1993). Chlorpromazin schützt auch vor toxischen Effekten von IL-1 und vor Endotoxin-induzierten toxischen TNF-Effekten bei Mäusen. Clozapin. Spezielle Aufmerksamkeit in Hinblick auf immunologische Effekte wurde dem Clozapin zuteil, denn immunologische Effekte wurden für das erhöhte Agranulozytoserisiko von Clozapin verantwortlich gemacht. Es ließ sich zeigen, dass Clozapin einen hemmenden Effekt auf den »granulocyte-macrophage colony-stimulating factor« (GM-CSF) aufweist (Sperner-Unterweger et al. 1993). Ex-vivo-Untersuchungen, Tier- und In-vitro-Untersuchungen zeigen, dass Neuroleptika hemmende Effekte auf die Produktion und/oder Ausschüttung aktivierender Zytokine haben.
Antidepressiva Im Gegensatz zu Neuroleptika wurden die immunologischen Effekte von Antidepressiva kaum untersucht (Miller u. Lackner 1989). Es liegen lediglich einige Befunde zum Zusammenhang von Serotonin- und Immunsystem sowie zu immunologischen Effekten serotonerg wirksamer Pharmaka vor. Da sich auch bei Depressionen Hinweise auf eine Überproduktion aktivierender Zytokine v. a. des monozytären Systems fanden, würde man auch von Antidepressiva hemmende Effekte auf Monozytenzytokine erwarten. In Tierversuchen ließen sich modulatorische, überwiegend inhibierende Effekte von Serotonin-wiederaufnahmehemmenden Pharmaka auf aktivierende Immunparameter nachweisen (Zhu et al. 1994). Auch auf Akute-Phase-Proteine ließen sich im Tierversuch hemmende Effekte von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern nachweisen (Song u. Leonard 1994).
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Bei depressiven Patienten zeigte sich eine Verminderung von IL-6 während der Behandlung mit dem Serotoninwiederaufnahmehemmer Fluoxetin (Sluzewska et al. 1995). Diese allerdings vorläufigen Ergebnisse weisen auch auf hemmende Effekte von Antidepressiva hin, allerdings sind insgesamt die immunologische Wirkung und die Effekte auf die Zytokinproduktion bisher nicht ausreichend gut untersucht.
8.2.14
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Ausblick
Dank rascher Fortschritte der Kenntnisse der funktionellen Zusammenhänge zwischen Immunprozessen und Neurotransmittern können nun ältere Befunde besser eingeordnet werden. Die bei einem Teil der Patienten auftretenden Störungen der Blut-Liquor-Schranke oder die autochthone IgG-Produktion sind Indikatoren für einen Immunprozess im ZNS bzw. einer Interaktion ZNS/peripheres Immunsystem. Ein an der Funktion des Zytokinnetzwerks im ZNS orientiertes Modell kann erklären, wie ein autochthoner Prozess unter Einbeziehung von Überträgermolekülen des Immunsystems zunächst weitgehend unabhängig von peripheren Immunprozessen einen Krankheitsprozess einleitet, welcher möglicherweise erst in einem zweiten Schritt einen peripheren Immunprozess in Gang setzt, durch dessen Eigendynamik es dann zu einer Chronifizierung des Krankheitsbildes kommen kann (Müller u. Ackenheil 1998). Auch Mechanismen des zellulären Immunsystems können nun besser eingeordnet werden, da eine differenziertere funktionelle Analyse durch genauere Kenntnis der Funktion von Subgruppen von Lymphozyten und durch methodische Fortschritte möglich ist. Kein anderes Gebiet der Medizin bringt derzeit so rasche Fortschritte wie die Immunologie. Aufgrund der leichteren Zugänglichkeit, der für viele Erkrankungen vorhandenen Tiermodelle und der Bedeutung des peripheren Immunsystems für z. B. Infektiologie, Tumorimmunologie und Transplantationsmedizin, ist der Kenntnisstand der peripheren Immunologie gegenüber dem der Neuroimmunologie und erst recht der Psychoneuroimmunologie wesentlich entwickelter. So ist die Bedeutung einer Reihe neu entdeckter Zytokine, die z. T. auch im ZNS exprimiert werden, für Vorgänge im ZNS und speziell für neuronale Vorgänge bisher völlig unbekannt. Ein Modell der Immunpathogenese psychischer Störungen muss Zytokinwirkungen im ZNS ebenso wie Funktionen des peripheren zellulären Immunsystems und der Blut-Hirn-Schranke berücksichtigen. Die Immungenetik kann zu einer erhöhten Suszeptibilität beitragen. Ein solches Modell bietet nicht nur einen faszinierenden Denkansatz – auch eine zunehmende Zahl von Befunden stützen die Annahme, dass Zytokine, mögli-
cherweise über den Weg ihres regulatorischen Einflusses auf Neurotransmitter, eine wesentliche Rolle in der Pathogenese psychischer Erkrankungen spielen. Immunologische Effekte von Psychopharmaka stellen möglicherweise nicht allein eine Nebenwirkung dar, sondern einen Teil der therapeutischen Effizienz. Dies kann weitreichende Auswirkungen auf eine zukünftige Immunpsychopharmakologie haben (Müller 1995).
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
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8
9 9 Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen U. Hegerl, S. Karch , C. Mulert
9.1
Elektrophysiologie und psychische Störungen
9.4
9.4.2
Epileptische neuronale Aktivität und psychische Störungen – 218 Psychische Störungen bei nichtkonvulsiven, einfachen und komplexen fokalen Anfällen – 218 Periiktuale psychische Störungen – 220
9.5
Vegetativ-autonome Funktionen – 221
– 210 9.4.1
9.2 9.2.1
9.2.2
P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen – 211 Bedeutung der P300-Reduktion für pathophysiologische Modelle der Schizophrenie – 212 P300 und schizophrene Psychopathologie – 214
Literatur 9.3 9.3.1 9.3.2
Akustisch evozierte Potenziale und affektive Störungen – 216 LAAEP und zentrales serotonerges System – 216 LAAEP und Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) – 217
– 223
210
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
9.1
Elektrophysiologie und psychische Störungen
Schwere psychische Erkrankungen wie affektive oder schizophrene Störungen erfassen alle Lebensbereiche der erkrankten Person und gehen mit vielfältigen psychischen und biologischen Veränderungen einher. Es ist nicht verwunderlich, dass Parameter wie das EEG und die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP), die in sensibler Weise funktionelle Aspekte des Zentralnervensystems (ZNS) abbilden, in vielfacher Hinsicht bei diesen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollen modifiziert sind. Wichtiger und mühsamer als der Nachweis derartiger neurophysiologischer Veränderungen ist deshalb der Weg zu ihrer weiteren Charakterisierung, z. B. hinsichtlich ihrer pathogenetischen oder klinischen Bedeutung. Auf diesem Weg stellt sich immer von neuem eine Reihe von Fragen, die in der folgenden Übersicht zusammengestellt sind. Diese Fragen, die zentrale Prüfsteine der biologisch-psychiatrischen und damit auch der neurophysiologischen Forschung sind, sollen hinsichtlich einiger Punkte in nachfolgender Übersicht erläutert werden.
9 Charakterisierung biologischer Merkmale bei psychiatrischen Patienten Wie entsteht das Merkmal? genetisch festgelegt erworben – vor Erkrankungsbeginn – nach Erkrankungsbeginn Womit steht das Merkmal in Zusammenhang? mit Grunderkrankung oder zeitstabilen Erkrankungsaspekten (Trait-Marker) mit zustandsabhängigen Krankheitsaspekten z. B. Psychopathologie oder Erkrankungsepisode (State-Marker) Wie ist der konditionale Aspekt des Zusammenhangs zwischen Merkmal und Erkrankung? Merkmal ist – notwendig und hinreichend (pathognomonisches Merkmal) – hinreichend aber nicht notwendig (spezifisches Merkmal) – notwendig aber nicht hinreichend (z. B. starker Vulnerabilitätsmarker) – weder notwendig noch hinreichend (z. B. schwacher Vulnerabilitätsmarker) Wie ist der kausale Aspekt des Zusammenhangs? Merkmal ist – kausaler Faktor der Erkrankung – Folge der Erkrankung direkt indirekt – Epiphänomen
Genetische vs. erworbene Anteile biologischer Merkmale Zu der Frage, ob ein Merkmal genetisch festgelegt oder erworben ist, sei angemerkt, dass die erworbenen und genetischen Anteile an einem Merkmal nicht in einem reziproken Verhältnis stehen müssen. Denkbar wäre, dass ein Merkmal Folge bestimmter ubiquitärer Umweltfaktoren ist, die jedoch nur bei einer bestimmten genetischen Disposition wirksam werden. Theoretisch wäre hier ein klarer Erbgang bei einem gleichzeitig eindeutig erworbenen Merkmal möglich.
Relation von Merkmal und psychischer Störung Bezüglich des konditionalen Aspekts des Zusammenhangs zwischen Merkmal und psychischer Störung ist festzustellen, dass sich im Bereich der biologischen Psyhiatrie bisher weder pathognomonische Merkmale noch starke Vulnerabilitätsmarker für die zentralen psychischen Erkrankungen (s. Übersicht) finden ließen. Als Grund für diese relative Erfolglosigkeit wird die pathophysiologische und -genetische Heterogenität dieser Erkrankungen angeführt. Für spezifische biologische Merkmale gibt es einige wenige Beispiele. Genannt sei der auf dem Chromosom 14 gelegene Gendefekt, der mit dem Auftreten einer Unterform der präsenilen Demenz vom Alzheimer-Typ einhergeht. Dieser Gendefekt liegt nur bei sehr wenigen Patienten mit Alzheimer-Erkrankung vor, jedoch alle Personen mit diesem Gendefekt erkranken ab einem bestimmten Alter. Neurophysiologische Beispiele für schwache Vulnerabilitätsmarker, die mit der Erkrankung korrelieren, aber nicht bei allen erkrankten Personen aufzufinden sind und andererseits auch bei nichterkrankten Personen anzutreffen sind, werden weiter unten vorgestellt. Merkmale, die eine kausale Rolle im Pathomechanismus spielen, wären von größtem Interesse, da sie einen unmittelbaren Ansatzpunkt für therapeutische Überlegungen liefern könnten. Der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs ist jedoch schwierig, da meist aufwendige Längsschnittuntersuchungen nicht zu umgehen sind. Hinzu kommt, dass bei einem hoch-rekursiven System wie dem ZNS die Trennung von Ursache und Folge oft künstlich und willkürlich sein kann, da innerhalb des pathologischen Prozesses die Folge selbst wieder zur Ursache wird. Die Vigilanzregulationsstörung mit nächtlicher Überaktivität, wie sie bei Manie auftritt, könnte Folge des Krankheitszustandes sein, könnte diesen mit verursachen, könnte aber auch Teil einer Konstellation sich gegenseitig bedingender und stabilisierender zentralnervöser Dysfunktionen sein, in der Ursache und Folge nicht mehr zu trennen sind. Eindeutiger ist die Situation bei genetischen Merkmalen, die zwar ein Epiphänomen, jedoch nicht Folge der Erkrankung sind.
211 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
Neurophysiologische Aspekte psychischer Erkrankungen Das EEG und in vermehrtem Maße die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP) haben das psychiatrische Interesse dadurch geweckt, dass sich korrelative Beziehungen zu psychischen, insbesondere kognitiven Funktionen nachweisen ließen. Eine Forschungslinie beschäftigte sich deshalb mit der Frage, ob EEG/EKP-Parameter als Indikatoren umschriebener kognitiver Prozesse und damit auch kognitiver Dysfunktionen bei psychiatrischen Patienten geeignet sind. Eine zweite, anders gewichtete Forschungslinie sah die Untersuchung von EEG/EKP-Veränderungen bei psychiatrischen Patienten als einen Weg zur Klärung pathophysiologischer Prozesse bei psychischen Störungen an. Dieser zweite Weg war lange Zeit dadurch behindert, dass eine Erklärungslücke zwischen den von der Kopfhaut abgeleiteten EEG/EKP und den zugrundeliegenden mikro- und makroanatomischen Strukturen und Prozessen bestand. Diese Erklärungslücke beginnt sich in den letzten Jahren zu schließen, so dass die neurophysiologische Forschung zunehmend wieder Anschluss an andere biologisch-psychiatrische Forschungsbereiche, wie die Neurochemie oder Neuropathologie, findet. Durch Fortschritte in der Ableitetechnik ist seit einigen Jahren die simultane Erfassung von EEG und funktioneller Magnetresonanztomografie möglich. Dies stellt einen Königsweg zur Untersuchung der Hirnfunktion bei psychischen Störungen dar, da sich beide Verfahren hinsichtlich der räumlich-zeitlichen Auflösung und anderer Aspekte ergänzen.
9.2
P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
Das in Verbindung mit schizophrenen Störungen am intensivsten untersuchte EKP ist die P300, oder auch P3, die Mitte der 1960er Jahre erstmals beschrieben wurde. Dabei handelt es sich um ein evoziertes Potenzial, das nach seltenen, unerwarteten Reizen, die aufgabenrelevant sind, auftritt. Gesichert ist, dass die P300-Amplitude bei schizophrenen Patienten gegenüber gesunden Kontrollprobanden reduziert ist. Dies gilt für akut erkrankte, remittierte, medizierte und unmedizierte Patienten (z. B. Rao et al. 1995; Ford et al. 1994 b; Laurent et al. 1993; Eikmeier et al. 1991; Blackwood et al. 1991 a). Wiederholt, wenn auch in weniger konsistenter Weise, wurde eine Verlängerung der P300-Latenz beobachtet. Diese Befunde wurden für visuell und akustisch evozierte Potenziale (VEP, AEP) gefunden, wobei die Veränderungen der akustischen P300 überzeugender sind (Ford et al.1994) und weniger von der Psychopathologie abzuhängen scheinen als die der visuellen P300.
Eine Amplitudenminderung der P300 ist weder ein hinreichendes noch notwendiges Merkmal einer schizophrenen Störung. Verkleinerte P300-Amplituden finden sich z. B. auch bei Demenzen und, in geringerer Ausprägung, bei affektiven Störungen. Zudem weisen nicht alle schizophrenen Patienten eine verkleinerte P300 auf, sondern vermutlich nur eine Untergruppe, wie weiter unten ausgeführt wird.
P300 als Trait-Merkmal schizophrener Patienten Die bei schizophrenen Patienten gefundene P300-Reduktion – insbesondere für die akustische Modalität – ist nicht nur Ausdruck des momentanen psychopathologischen Zustands, sondern überwiegend als ein TraitMerkmal anzusehen. Dieser für die Interpretation der P300-Befunde bei schizophrenen Patienten wichtige Aspekt wird durch die folgenden Argumente gestützt. Erstens fanden Schreiber et al. (1996) bei Kindern (Alter 7–17 Jahre) schizophrener Eltern im Vergleich zu gematchten Kontrollen in 2 Studien mit akustischem Oddball-Paradigma eine signifikant verlängerte P300-Latenz, in einer dritten Untersuchung mit einem selektiven Hörparadigma eine lediglich tendenziell verlängerte P300-Latenz und eine verkleinerte P300-Amplitude. Diese Veränderungen waren allerdings normal verteilt, so dass sich kein Hinweis auf eine Extremgruppe, die möglicherweise später manifest schizophren erkranken könnte, ergab. Auch scheinen diese P300-Veränderungen eher mit einer allgemeinen Disposition zu Verhaltensauffälligkeiten als spezifisch mit schizophrenen Störungen in Verbindung zu stehen. Mit dieser Interpretation stimmen auch die Ergebnisse von Friedman und Squire-Wheeler (1994) überein. Diese Arbeitsgruppe fand in einer prospektiven High-risk-Studie zwar keine verkleinerte P300 (visuelle und akustische Paradigmen) bei Kindern schizophrener Eltern und auch keinen Zusammenhang zwischen der P300-Reduktion bei den Jugendlichen und dem Auftreten von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis im jungen Erwachsenenalter, dagegen bestand ein deutlicher Zusammenhang zwischen kleiner P300 im Jugendalter und dem späteren Auftreten von Persönlichkeitsauffälligkeiten (»global personality functioning scale«) im jungen Erwachsenenalter. Eine P300-Reduktion ließ sich demnach im Sinne eines Trait-Merkmals lange vor dem Auftreten manifester Verhaltensauffälligkeiten nachweisen, sie stand jedoch in keiner spezifischen Beziehung zur psychischen Erkrankung der Eltern. Zudem wurden kleinere P300-Amplituden (AEP) auch bei klinisch unauffälligen Geschwistern von Schizophrenen gefunden (Saitoh et al. 1984). Ähnliches wurde für Verwandte schizophrener Patienten berichtet, wobei jedoch Alterseffekte nicht kontrolliert wurden (Kidogami et al. 1992; Roxborough et al. 1993).
9
212
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Und letztlich wird die Reduktion der P300-Amplitude (AEP) nicht durch klinische Besserung oder neuroleptische Medikation beeinflusst (Blackwood et al. 1987; Ford et al. 1994 b; Juckel et al. 1996 b) und ist auch bei gut remittierten Schizophrenen nachweisbar (Rao et al. 1995). Hinzuweisen ist jedoch auch auf widersprüchliche Befunde, so z. B. auf Verlaufsuntersuchungen, in denen eine Normalisierung der P300 bei klinischer Besserung beobachtet wurde (Asato et al. 1996; Iwasaki et al. 1996).
P300 als schwacher Vulnerabilitätsmarker
9
Diese Argumente sprechen dafür, dass die P300-Amplitudenminderung bei schizophrenen Patienten einen bereits prämorbid vorhandenen Trait entsprechend einem »schwachen Vulnerabilitätsmarker« (s. Übersicht oben) darstellt. Nicht zu entscheiden ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand, ob von einem erworbenen oder genetisch festgelegten Trait auszugehen ist. Die P300 käme als genetischer Trait infrage, da diese Komponente teilweise genetisch festgelegt ist und insbesondere die P300-Latenz (AEP) bei monozygoten Zwillingen eine hohe Konkordanz aufweist. Von Interesse ist auch die Beobachtung, dass die P300-Amplitude und P300-Latenz bei Kontrollpersonen und Schizophrenen normalverteilt sind (Hegerl et al. 1995), während bei nichtschizophrenen Angehörigen von Schizophrenen eine bimodale Verteilung gefunden wurde. Dies wäre bei einem genetischen Trait-Marker zu erwarten (Blackwood et al. 1991).
9.2.1
Bedeutung der P300-Reduktion für pathophysiologische Modelle der Schizophrenie
Von den möglichen pathogenetischen Faktoren schizophrener Störungen, die gegenwärtig diskutiert werden, lassen sich vor allem Hirnentwicklungsstörungen mit den P300-Ergebnissen in Verbindung bringen.
P300-Amplitudenreduktion als Folge einer kortikalen Fehlanlage Da die regelrechte laminäre und kolumnäre kortikale Organisation wichtig für die Elektrogenese der P300 ist und nur eine Untergruppe schizophrener Patienten eine verkleinerte P300 aufweist, liegt die Vermutung nahe, dass eine P300-Reduktion eine Untergruppe schizophrener Patienten mit strukturellen kortikalen Auffälligkeiten charakterisiert. Folgende Befunde und Überlegungen stützen diese Interpretation: Strukturelle kortikale Auffälligkeiten wie Volumenminderung, verminderte Neuronenzahl und neuronale Dysorganisation in kortikolimbischen Strukturen sind bei schizophrenen Patienten beschrieben
und u. a. als Ausdruck einer Hirnentwicklungsstörung interpretiert worden. Derartige Veränderungen betreffen auch Strukturen wie den Gyrus temporalis superior (Barta et al. 1997), die an der Generierung der P300 beteiligt sind. Sie können deshalb die Elektrogenese der P300 beeinflussen und mit kleinen P300Amplituden einhergehen. Die P300-Amplitudenreduktion bei schizophrenen Patienten ist nicht lediglich ein Mittelungsartefakt, der sich nur aus einer erhöhten Latenzvariabilität oder dem intermittierenden Fehlen der Einzelantworten ergibt, sondern resultiert zumindest teilweise aus einer generellen Reduktion der Einzelpotenziale (Ford et al. 1994 a). Dies wäre mit einem neuroanatomischen kortikalen Erklärungsmodell der P300-Reduktion vereinbar. Diskutiert wird, ob Patienten mit einer Hirnentwicklungsstörung einer schizophrenen Kerngruppe entsprechen, die durch schlechte prämorbide Anpassung mit kognitiven Störungen, frühen und schleichenden Erkrankungsbeginn, chronisch-progredienten Verlauf, Negativsymptomatik, Neigung zu Spätdyskinesien, schlechte Prognose und Häufung bei Männern charakterisiert ist.
Eine Reihe von Studien stützt die Annahme, dass schizophrene Patienten mit kleiner P300 dieser Kerngruppe entsprechen. In einer Untersuchung an 89 ambulanten stabilisierten Patienten wies die Untergruppe mit kleiner P300 vermehrte Residualsymptomatik (überwiegend Denkstörungen), häufiger Geburtskomplikationen, eine tendenziell schlechtere prämorbide Anpassung, ein Überwiegen männlicher Patienten und ein erhöhtes Spätdyskinesierisiko auf. Zwölf der 16 Patienten, die zum Ableitezeitpunkt Zeichen einer Spätdyskinesie aufwiesen, waren in der Gruppe mit kleiner P300. Noch bemerkenswerter ist, dass die 8 Patienten, die erst später während der 2-jährigen prospektiven Verlaufsbeobachtung Spätdyskinesien entwickelten, bereits vor dem Auftreten der Spätdyskinesien eine signifikant kleinere P300 aufwiesen (⊡ Abb. 9.1; Hegerl et al. 1995). Über eine schlechte Prognose der Patienten mit P300Auffälligkeiten wurde auch von anderen Autoren berichtet. Eine kleine P300 (AEP) prädizierte ein schlechtes Ansprechen auf Neuroleptika hinsichtlich der Positivsymptomatik und eine große P300-Latenz ein schlechtes Ansprechen hinsichtlich der Negativsymptomatik (Ford et al. 1994 b). In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Strik et al. (1996, 1993 a, b). Basierend auf Leonhard’s Unterscheidung zwischen systematischer und unsystematischer Schizophrenie einerseits und zykloiden Psychosen
9
213 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
⊡ Abb. 9.1. Gemittelte Potenziale der 8 schizophrenen Patienten, die während der 2-jährigen Verlaufsuntersuchung Spätdyskinesien entwickelten, verglichen mit denen einer hinsichtlich Alter, Geschlecht, Medikation und Psychopathologie gematchten Patientengruppe, die keine Spätdyskinesien entwickelte. Die nur nach den seltenen Tönen auftretende P300 war bei den Patienten, die später eine Spätdyskinesie entwickelten, erniedrigt
andererseits (Leonhard 1986) wurde gefunden, dass letztere, die weitgehend »akuten vorübergehenden psychotischen Störungen« (ICD-10: F23) mit einer guten Therapieresponse und Langzeitprognose entsprechen, nicht mit einer P300-Reduktion assoziiert sind, im Gegensatz zu Schizophrenien nach Leonhard (1986). In einer weiteren Studie an 29 remittierten Patienten mit zykloiden Psychosen wurden sogar größere P300-Amplituden bei diesen Patienten als bei gesunden Kontrollpersonen gefunden. Weiter ist es in Studien mit ambulanten und remittierten schizophrenen Patienten ein recht konsistentes Ergebnis, dass Patienten mit kleiner P300 vermehrt Residualsymptomatik aufweisen, überwiegend in Form von Negativsymptomatik und Denkstörungen (⊡ Tab. 9.1). Dieser Zusammenhang ist nicht Ausdruck zustandsabhängiger Einflüsse der Residualsymptomatik auf die P300, sondern des ungünstigeren Krankheitsverlaufs der Patienten mit kleiner P300.
⊡ Tab. 9.1. Zusammenhänge zwischen den P300b-Amplituden und der Psychopathologie bei stabilisierten schizophrenen Patienten [BPRS: Brief Psychiatric Rating Scale (Overall u. Gorham 1962); SANS: Scale for the Assessment of Negative Symptoms (Andreasen 1981)] Veröffentlichung
Negativsymptomatik
Positivsymptomatik
Pfefferbaum et al. 1989 (n = 18)
r = –0,57 p > Hauptprinzipien der operationalisierten Diagnostik sind zum einen der deskriptive diagnostische Ansatz mit genau festgelegten psychopathologischen Kriterien, Ausschlusskriterien und Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln, zum anderen das Komorbiditätsprinzip und die multiaxiale Diagnostik. Durch diese Operationalisierung konnte v. a. die Interraterreliabilität verschiedener Studien entscheidend verbessert werden. Durch das Komorbiditätsprinzip und die multiaxiale Diagnostik ist es möglich, die Komplexität der klinischen Bedingungen eines Patienten besser abzubilden, z. B. gleichzeitig psychische und körperliche Erkrankungen sowie psychosoziale Belastungsfaktoren.
394
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
17.1
Einleitung
In den vergangenen Jahren hat die Klassifikation psychischer Störungen in der klinischen Praxis und in der Forschung wieder an Relevanz gewonnen, nachdem sie aus methodischen und inhaltlichen Gründen über Jahre hinweg umstritten war. Ausgangspunkt der methodischen Kritik bildeten dabei Studien zur Anwendungsübereinstimmung (Interraterreliabilität) aus den 1960er und 1970er Jahren (zusammenfassend Stieglitz u. Freyberger 2002). In diesen Studien konnte gezeigt werden, dass v. a. für die affektiven, die neurotischen und die Persönlichkeitsstörungen die zwischen unabhängigen Diagnostikern erreichte Übereinstimmung in einem völlig unzureichenden Bereich lag.
17.2
Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
Unzureichende Reliabilität. Von Spitzer u. Fleiss (1974),
17.2.1
Deskriptiver diagnostischer Ansatz
die die bis dahin veröffentlichten Untersuchungen zusammenfassten, wurde die unzureichende Reliabilität im Wesentlichen auf 2 Faktoren zurückgeführt: Die sog. Beurteilungsvarianz, d. h. die diagnostische Varianz, die durch unterschiedliche Urteile und Bewertungen über Vorhandensein und Relevanz der vorliegenden Symptome bzw. diagnostischen Merkmale durch verschiedene Untersucher zustande kommt. Die sog. Kriterienvarianz, d. h. die diagnostische Varianz, die durch die Verwendung unterschiedlicher diagnostischer Kriterien für die Diagnose derselben Störung durch verschiedene Untersucher verursacht wird.
Der Begriff der operationalen Definition geht auf den Engländer Bridgeman zurück, der diesen bereits in den 20er Jahren verwendete. Heute wird unter dem Begriff der operationalisierten psychiatrischen Diagnostik in der Psychiatrie ein Vorgehen zusammengefasst, bei dem psychische Störungen definiert werden durch die explizite Vorgabe psychopathologischer Kriterien (Ein- und Ausschlusskriterien), die durch bestimmte Anforderungen an ihr zeitliches Bestehen und den sich ergebenen Verlauf ergänzt werden und durch diagnostische Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln (sog. Algorithmen) für die diagnostischen Kriterien.
Der Beurteilungsvarianz wurde in der folgenden Entwicklung durch die Einführung strukturierter und standardisierter Erhebungsverfahren Rechnung getragen, während die Kriterienvarianz durch die Prinzipien der sog. operationalisierten Diagnostik reduziert wurde. Inhaltliche Kritik. Die wichtigsten Aspekte der inhaltlichen
17
Diagnostik sich ausschließlich an sog. Oberflächenmaterial orientiere und die für die Indikation und Durchführung von Psychotherapien entscheidenderen Variablen wie etwa Beziehungsfähigkeit, Konfliktkonstellation und Persönlichkeitsstruktur systematisch vernachlässige (Schneider u. Freyberger 1990, 1994). Eine Konsequenz dieser inhaltlichen Kritik ist in der Aufsplitterung verschiedener diagnostischer Betrachtungsebenen (oder Achsen) in sog. multiaxialen diagnostischen Systemen und deren konsequenter Operationalisierung zu sehen.
Kritik bezogen sich einerseits auf die möglichen sozialen Konsequenzen psychiatrischer Diagnosen für die Patienten, die in erster Linie von soziologischen aber auch von sog. antipsychiatrischen Autoren unter den Stichworten Etikettierung abweichenden Verhaltens, Stigmatisierung und soziale Kontrolle veröffentlicht wurden (vgl. Saß 1987). Andererseits wurde die unzureichende Bedeutung der Klassifikation bei der Indikation und Durchführung von Therapien kritisiert. Von biologisch-psychiatrischer Seite wurde dabei v. a. die unzureichende Syndrombezogenheit im Hinblick auf die Differenzialindikation für verschiedene psychopharmakologische und andere biologische Therapieinterventionen hingewiesen. Von psychoanalytischen Autoren wurde betont, dass eine rein symptomorientierte
Psychopathologische Kriterien. Dabei handelt es sich in der Regel um vergleichsweise beobachtungsnahe, kein zu hohes Abstraktions- oder Interpretationsniveau erfordernde Merkmale, wie etwa bestimmte Ich-Störungen oder Wahninhalte bei der Schizophrenie (s. Übersicht weiter unten). Eine weit weniger präzise Definition wurde im Hinblick auf die Zeit- und Verlaufskriterien verfolgt, die von unbestimmten Dauerangaben (z. B. »einige Tage«) bis hin zu exakten Zeitvorgaben reichen (z. B. »Symptomatik von zumindest 2 Wochen Dauer durch wenigsten 2 Monate normaler Stimmung getrennt«; vgl. Dittmann et al. 1990 a). Ausschlusskriterien. Sie werden in der Regel »Merkmale«
genannt, die bei ähnlicher Symptomatik die Zuordnung zu einer anderen Störungsgruppe rechtfertigen, wie sie für die schizophrenen Störungen in der Übersicht wiedergegeben sind. Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln. Diagnostische
Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln legen die Anzahl und Zusammensetzung der für die Diagnose mindestens geforderten einzelnen Symptome für ein definiertes
395 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
Zeitintervall fest. So werden für die Diagnose einer Schizophrenie in einem geforderten Zeitintervall von zumindest einem Monat zumindest ein Symptom aus der Symptomgruppe 1 oder mindestens 2 Symptome aus der Symptomgruppe 2 gefordert (vgl. Übersicht).
Diagnostische Eingangskriterien für die Diagnose einer Schizophrenie nach ICD-10. (Nach Dilling u. Freyberger 2005) G1. Während eines Zeitraumes von mindestens einem Monat sollte eine psychotische Episode mit entweder mindestens einem der unter 1. aufgezählten Merkmale oder mit mindestens 2 der unter 2. aufgezählten Merkmale bestehen. 1. Mindestens eines der folgenden Merkmale: a) Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug oder -ausbreitung b) Kontroll-, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmung c) kommentierende oder dialogische Stimmen oder andere Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen d) anhaltender kulturell unangemessener Wahn 2. Oder mindestens 2 der folgenden Merkmale: e) anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, begleitet von flüchtigen Wahngedanken oder von langanhaltenden überwertigen Ideen f ) Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit, Neologismen oder Danebenreden führt g) katatone Symptome (wie Erregung, Haltungsstereotypien, wächserne Biegsamkeit, Negativismus, Mutismus, Stupor) h) »negative« Symptome (wie Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte)
men weitgehend frei zu sein und nahezu allein der phänomenologisch-symptomorientierten Störungsbeschreibung zu dienen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich allerdings die operationalen Klassifikationssysteme keineswegs als ätiologiefrei: Neben der an ätiologischen Prinzipien orientierten Charakterisierung organischer psychischer Störungen und der Störungen durch psychotrope Substanzen werden in weiten Bereichen biologische Paradigmen berücksichtigt, wie etwa bei der Kategorisierung der depressiven und der Angststörungen. Bereits die Einteilung in die verschiedenen diagnostischen Hauptgruppen der ICD-10 (vgl. folgende Übersicht) zeigt eine Aufsplitterung und Neugruppierung der Störungsklassen. Dabei ergeben sich die in der Übersicht beschriebenen grundlegenden Veränderungen: Organische psychische Störungen (F0). Der Demenzbe-
griff wurde durch die Einführung eines Sechsmonatszeitkriteriums ausgeweitet und das nicht durch psychotrope Substanzen verursachte Delir neben dem amnestischen Syndrom, symptomatischen organischen Störungen und den organischen Persönlichkeitsstörungen als neue oder anders beschriebene Kategorien etabliert. Störungen durch psychotrope Substanzen (F1). Sie wur-
den konsequenter als in der ICD-9 von den organischen Störungen getrennt und die diagnostischen Schwellen für das Missbrauchs- (»schädlicher Gebrauch«) und Abhängigkeitssyndrom heruntergesetzt. So ist »schädlicher Gebrauch« zukünftig bereits zu diagnostizieren, wenn psychische oder körperliche Folgen des Substanzkonsums evident werden. Klassifiziert werden mit den ersten 3 Kodierungsziffern (F1x) die Substanzen und mit den weiteren Ziffern (F1x. xx) die jetzt weiter differenzierten klinischen Syndrome. Polyvalente Abhängigkeit darf zukünftig nur bei wahllosem Konsum von mehr als 3 Substanzen klassifiziert werden, was allein in diesem Bereich zu einer Zunahme der zu stellenden Einzeldiagnosen führen dürfte.
G2. Häufigste Ausschlusskriterien:
Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen (F2).
1. Wenn die Patienten ebenfalls die Kriterien für eine manische (F30) oder eine depressive Episode (F32) erfüllen, müssen die oben unter G1.1. und G1.2. aufgelisteten Kriterien vor der affektiven Störung aufgetreten sein 2. Die Störung kann nicht einer organischen Gehirnerkrankung (F00–F09) oder einer Störung durch psychotrope Substanzen (F1) zugeordnet werden
Bei ihrer Klassifikation ist v. a. die Etablierung der schizotypen Störungen und einer Gruppe akuter, vorübergehender Psychosen neu, deren Einführung an das traditionelle Konzept der »psychogenen Psychose« erinnert.
Veränderungen durch die neue Einteilung Der deskriptive diagnostische Ansatz verfolgt damit den Anspruch, von theoretischen und ätiologischen Annah-
Affektive (F3) bzw. neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen (F4). Hier wurden die wahrscheinlich
folgenreichsten Veränderungen vorgenommen. Die traditionelle Unterscheidung von neurotischer und endogener Depression wurde zugunsten einer verlaufs- und schweregradorientierten Klassifikation aufgegeben, während die neurotischen Störungen entsprechend der im Vordergrund stehenden Symptomatik differenziert wurden. Auf das psychoanalytische Neurosenmodell wurde
17
396
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
Die diagnostischen Hauptgruppen des Kapitels V (F) der ICD-10 F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit F01 vaskuläre Demenz F02 Demenz bei sonstigen andernorts klassifizierten Erkrankungen F03 nicht näher bezeichnete Demenz F04 organisches amnestisches Syndrom F05 Delir F06 sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F10 Alkohol F11 Opioide F12 Cannabinoide F13 Sedativa oder Hypnotika F14 Kokain F15 sonstige Stimulanzien einschließlich Koffein F16 Halluzinogene F17 Tabak F18 flüchtige Lösungsmittel F19 multipler Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen F1x. 0 akute Intoxikation F1x. 1 schädlicher Gebrauch F1x. 2 Abhängigkeitssyndrom F1x. 3 Entzugsyndrom F1x. 4 Entzugssyndrom mit Delir F1x. 5 psychotische Störung F1x. 6 amnestisches Syndrom F1x. 7 und verzögert auftretende psychotische Störung
17
F2 Schizophrenie, schizoptype und wahnhafte Störungen F20 Schizophrenie F21 schizotype Störung F22 anhaltende wahnhafte Störung F23 akute vorübergehende psychotische Störungen F24 induzierte wahnhafte Störung F25 schizoaffektive Störungen F3 Affektive Störungen F30 manische Episode
F31 F32 F33 F34 F38
bipolare affektive Störung depressive Episode rezidivierende depressive Störung anhaltende affektive Störungen sonstige affektive Störungen
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F40 phobische Angststörungen F41 sonstige Angststörungen F42 Zwangsstörung F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F44 dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F45 somatoforme Störungen F48 sonstige neurotische Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren F50 Essstörungen F51 nichtorganische Schlafstörungen F52 nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen F53 psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett F54 psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten F55 Missbrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F60 Persönlichkeitsstörungen F61 kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen F62 andauernde Persönlichkeitsänderungen F63 abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F64 Störungen der Geschlechtsidentität F65 Störungen der Sexualpräferenz F66 psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung F68 sonstige Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F7 Intelligenzminderung F70 leichte Intelligenzminderung F71 mittelgradige Intelligenzminderung F72 schwere Intelligenzminderung F73 schwerste Intelligenzminderung
▼
397 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
F8 Entwicklungsstörungen F80 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten F82 umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen F83 kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen F84 tiefgreifende Entwicklungsstörungen
als Paradigma verzichtet, da es den Autoren operationalisierter Klassifikationssysteme nicht hinreichend validiert erschien. Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren (F5). In diesem Abschnitt wur-
den mehrheitlich psychosomatische und somatopsychische Störungen gruppiert. Einen Bruch mit dem Prinzip der Ätiologiefreiheit stellt die Berücksichtigung der psychischen Störungen im Wochenbett dar, die neben dem Missbrauch nicht-abhängigkeitserzeugender Substanzen hier mit aufgenommen wurden. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6). Ähnlich wie im DSM-III-R und im DSM-IV wurden in dieser Gruppe die spezifischen Persönlichkeitsstörungen durch niedrigschwelligere Eingangskriterien aufgewertet, traditionelle Störungsgruppen wie die Perversionen neu geordnet und einige neue Kategorien, wie die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung neu eingeführt. Bei den Persönlichkeitsstörungen kommt es oft dazu, dass bei zahlreichen Patienten nicht nur eine, sondern häufig mehrere Persönlichkeitsstörungsdiagnosen zu stellen sind. Die liegt z. T. an den niedrigschwelligen Eingangskriterien und z. T. an den sich bei einzelnen Störungsbeschreibungen überlappenden diagnostischen Kriterien. Obwohl eine kombiniert kategoriale und dimensionale Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen von zahlreichen Autoren in den letzten Jahren gefordert wurde, verzichten ICD-10 und DSM-IV auf einen derartigen Ansatz.
F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F90 hyperkinetische Störungen F91 Störung des Sozialverhaltens F92 kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F93 emotionale Störung des Kindesalters F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F95 Ticstörungen F98 sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
(F9). Mit diesen Abschnitten wurden eigenständige
diagnostische Gruppen für den Bereich kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen etabliert (vgl. Knölker u. Schulte-Markwort 2002).
Hierarchische Gliederung ICD-10. Wie aus ⊡ Tab. 17.1 wiederum am Beispiel der
schizophrenen Störungen hervorgeht, ist die ICD-10 hierarchisch angeordnet. Mit der 1. Stelle (Fx) wird die diagnostische Hauptkategorie und mit der 2. Stelle (Fxx) die diagnostische Hauptgruppe beschrieben. Die 3. Stelle (Fxx. x) kennzeichnet die eigentliche diagnostische Kategorie und mit der 5. Kodierungsstelle werden optional distinkte Verlaufstypen und Schweregradklassifizierungen kodiert. Durch die z. T. strikte Operationalisierung der einzelnen Störungen werden sog. diagnostische Restkategorien (Fxx. 8 andere und Fxx. 9 nicht näher bezeichnete) aufgewertet, da eine größere Anzahl von Patienten nicht die spezifischen Kriterien erfüllt und hier diagnostisch abgebildet werden muss.
⊡ Tab. 17.1. Kodierungsebenen und Verlaufsklassifizierung am Beispiel der schizophrenen Störungen nach ICD-10. (Nach Stieglitz u. Freyberger 2002) Ebene
Kodierung
Bezeichnung
2-stellig
F2
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
3-stellig
F20
Schizophrenie
Intelligenzminderung (F7). In diesem Abschnitt wurde
4-stellig
F20.0
Paranoide Schizophrenie
neben der neuen Terminologie eine mehrdimensionale Diagnostik etabliert, in der neben dem Intelligenzniveau zusätzlich begleitende Verhaltensauffälligkeiten verschlüsselbar werden.
5-stellig
F20.00 F20.01
Kontinuierlicher Verlauf Episodisch, mit zunehmendem Residuum Episodisch, mit stabilem Residuum Episodisch remittierend Unvollständige Remission Vollständige Remission
Entwicklungsstörungen (F8) und Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend
F20.02 F20.03 F20.04 F20.05
17
398
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
DSM-IV. Im DSM-IV wurde die Einteilung in diagnostische Klassen noch konsequenter nach deskriptiven Gesichtspunkten durchgeführt. So werden etwa die organischen Störungen entsprechend ihrer im Vordergrund stehenden Symptomatologie den anderen Kategorien zugeordnet und erscheinen nicht mehr als eigenes Kapitel. Wichtige Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen betreffen die abweichende Klassifikation affektiver Störungen im DSM-IV, die weiterhin dem Konzept der Major Depression folgt, die im DSM-IV bei den Angststörungen vorgenommene Präferierung der Panikstörung, die in der diagnostischen Hierarchisierung Vorrang vor den phobischen Störungen und insbesondere der Agoraphobie erhält, während die ICD-10 die Panikstörung als Schweregradindikator der Agoraphobie betrachtet, die abweichende Operationalisierung und Zusammenstellung von Persönlichkeitsstörungen im DSMIV und deren Anordnung in Clustern.
Diagnostische Manuale Während das DSM-IV in einer Standardversion für den klinischen und wissenschaftlichen Gebrauch publiziert wurde, etabliert die ICD-10 den deskriptiven Ansatz auch auf der Ebene der diagnostischen Manuale. Hier wurden je nach Verwendungszweck die Operationalisierungen der einzelnen Störungen unterschiedlich restriktiv gefasst (⊡ Tab. 17.2). Während die klinisch-diagnostischen Leitlinien durch vergleichsweise offen formulierte Zeit- und Verlaufskriterien sowie Verknüpfungsregeln dem Diagnostiker Leitlinien anbieten, die noch viel Raum für individuelle diagnostische Zuordnungen lassen, streben die Forschungskriterien über restriktive Operationalisierungen eine psychopathologisch präzisere Klassifizierung an, mit Hilfe derer eine weitreichendere Stichprobenhomogenisierung erreicht werden soll. Administrativen Zwecken dient die lediglich 4-stellig ausgelegte Kurzfassung mit kurzen und pragmatischen Beschreibungen der Störungsgruppen.
17
⊡ Tab. 17.2. Versionen des Kapitels V (F) der ICD-10 Verwendungszweck
Klinische Diagnostik
Klinische Diagnostik
Klinisch-diagnostische Leitlinien (WHO 1992; Dilling et al. 2004)
Forschung
Forschungskriterien (WHO 1994; Dilling u. Freyberger 2005)
Administration
Kurzfassung im Rahmen der Gesamt-ICD (DIMDI 1994)
Primärversorung
»Primary health care classification« (PHC; WHO 1995; Müßigbrodt et al. 2006)
»Primary Health Care Classification«. Mit dieser wird dar-
über hinaus ein auf der Ebene der Kategorisierung stark vereinfachter und auf die epidemiologisch häufigsten Störungen beschränkter Ansatz vorgelegt, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zudem mit spezifizierten Handlungsanweisungen etwa für Therapiegestaltung und -indikation verbunden hat. Zielvorstellung bei der Veröffentlichung dieses Manuals war es, der unzureichend präzisen Diagnostik in der primären Gesundheitsversorgung Rechnung zu tragen und die damit zusammenhängende niedrige Qualität differenzieller Therapieindikationen zu verbessern (Sartorius et al. 1993; Üstün u. Sartorius 1995; Müssigbrodt et al. 2006)
Erzielte Verbesserungen In zahlreichen empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass sich durch eine Operationalisierung psychischer Störungen insbesondere im Hinblick auf die Interraterreliabilität deutliche Verbesserungen erzielen lassen (vgl. z. B. Freyberger et al. 1990, 1995; Wittchen 1993), die die Kommunizierbarkeit diagnostischer Einschätzungen erleichtern und wissenschaftlich relevante Stichprobenvergleiche präziser machen.
17.2.2
Das Komorbiditätsprinzip
Eine weitere wesentliche Neuerung in operationalisierten Klassifikationssystemen stellt die Einführung des Komorbiditätsprinzips dar. Komorbidität bedeutet dabei das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Erkrankungen bei einer Person. Unterschieden wird zwischen simultaner oder Querschnittskomorbidität und sukzessiver oder Längsschnittkomorbidität. Vor allem für wissenschaftliche Fragestellungen ist zudem der Zeitraum, auf den sich die Komorbidität bezieht, von Relevanz. Unterschieden wird hier u. a. zwischen »Life-time-Komorbidität«, Sechsmonats- oder Einjahreskomorbidität und Komorbidität im Rahmen für das Gesamtverständnis der psychischen Erkrankungen relevanter sog. »repräsentativer« Störungsepisoden.
Haupt- und Nebendiagnosen Nach ICD-10 und DSM-IV sind so viele psychiatrische Diagnosen zu verschlüsseln, wie für die Beschreibung des gesamten klinischen Bildes notwendig sind. Bei mehr als einer Diagnose soll zwischen Haupt- und Nebendiagnosen differenziert werden, wobei der Diagnose Priorität eingeräumt wird, der die größte klinische Bedeutung zukommt. In einem gewissen Sinne kommt dabei den Nebendiagnosen die Bedeutung verlaufsmodifizierender Variablen zu. Da nach den Konzept operationaler Klassifikationssysteme Syndrome zu verschlüsseln sind und
399 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
damit sog. »komplexe Diagnosen«, unter denen früher verschiedene Symptomcluster subsummiert wurden, aufgelöst werden, kommt es bei konsequenter Anwendung operationaler Prinzipien zu einer deutlichen Zunahme diagnostisch abzubildender Störungen. Das Komorbiditätsprinzip erlaubt abgesehen von bestimmten, in den einzelnen Systemen definierten Ausnahmen, einerseits Diagnosen aus verschiedenen Klassen (z. B. Angst- und Depressionsbereich) und andererseits Diagnosen innerhalb einer diagnostischen Klasse (z. B. Persönlichkeitsstörungen) zu stellen. Dabei ist zu beachten, dass in bestimmten Störungsbereichen, wie z. B. bei den Angst- und depressiven Störungen, eine überzufällig häufige Assoziation vorliegt und Einzelsymptome oder Symptomcluster, die unterhalb der diagnostischen Schwelle spezifischer Störungen liegen (sog. »subthreshold«-Diagnosen) für den Krankheitsverlauf eine hohe Bedeutung haben können. Für den Bereich der affektiven Störungen konnte u. a. Angst (1994) zeigen, dass in der Allgemeinbevölkerung Patienten mit sog. kurzen rezidivierenden depressiven Störungen, die etwa das diagnostische Zeitkriterium der depressiven Episode in der ICD-10 nicht erfüllen, infolge der störungsassoziierten psychosozialen Beeinträchtigungen als erkrankt aufzufassen sind, was entsprechende Konsequenzen für die Therapie und Prognose nach sich zieht. Multimorbidität. In Abgrenzung vom Konzept der Komorbidität wird von Multimorbidität gesprochen, wenn neben einer oder mehreren psychischen Störungen auch noch zusätzlich körperliche Erkrankungen vorliegen, von denen auch ein verlaufsmodifizierender Einfluss ausgeht. Die Relevanz der Multimorbidität ist im Bereich der organischen psychischen Störungen bisher am besten untersucht.
Bedeutung des Komorbiditätsprinzips Das Komorbiditätsprinzip ist von erheblicher konzeptueller Bedeutung, da es eine Abkehr von Jaspers Hierarchiekonzept darstellt, wie es z. B. noch in der ICD-9 gilt. Danach sind die psychischen Erkrankungen in Schichten angeordnet (von organischen Störungen über affektive Störungen bis hin zu Neurosen). Jede »tieferliegende Erkrankung« kann das Erscheinungsbild der darüberliegenden annehmen. Die eigentliche Diagnose muss anhand der tieferliegenden Erkrankung erfolgen. Der erste Schritt operationalisierter Diagnostik ist entsprechend des Komorbiditätsprinzips in einer rein klinisch orientierten Hierarchisierung syndromaler Diagnosen zu sehen, der, wie oben bereits ausgeführt wurde, auf diese Art definierter »komplexer Diagnosen« verzichtet. Theoretische Aspekte. Die Etablierung des Komorbidi-
tätsprinzips hat darüber hinausgehende theoretische und therapeutische Implikationen. So kann aus wissenschaft-
licher Sicht das gemeinsame Auftreten bestimmter Störungen Hinweise auf eine gemeinsame Ätiologie bzw. Pathogenese liefern, wie in zahlreichen Familienstudien gezeigt werden konnte. Prinzipiell kann dabei eine Störung die Voraussetzung für die Entwicklung einer zweiten Störung darstellen, wie dies etwa bei Patienten mit einer Substanzmittelabhängigkeit der Fall ist, die eine erhebliche Tendenz aufweisen, auch Abhängigkeitssyndrome von weiteren Substanzen zu entwickeln (Regier et al. 1990). Interne Komorbidität in diesem Bereich kann somit gemeinsame Risiko- und pathogenetische Faktoren repräsentieren, für die sich aus der klinischen und tierexperimentellen Forschung neurobiologische und genetische Hinweise ergeben. Klinische Aspekte. Aus klinischer Sicht kann der Behandlungserfolg bei komorbiden Patienten schwerer zu erreichen sein, mit den entsprechenden Implikationen für die Planung und Durchführung von Therapieinterventionen und den Verlauf. Patienten mit mehr als einer Diagnose dürften darüber hinaus auch in weiten Bereichen als die schwerer kranken Patienten angesehen werden. So konnte z. B. für den Bereich der Komorbidität zwischen schizophrenen Störungen einerseits und Störungen durch psychotrope Substanzen andererseits in den vergangenen Jahren gezeigt werden, dass spezielle Behandlungsprogramme erforderlich sind, um gegenüber »monomorbiden« schizophrenen Patienten auch nur annähernd gleiche Therapieresultate erzielen zu können.
! Die damit zusammenhängenden methodischen Schlussfolgerungen für Therapiestudien jeder Art dürften, obgleich dies bisher nicht ausreichend wissenschaftlich geklärt ist, folgenreich sein, da sich komorbide und nichtkomorbide Patienten möglicherweise nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander vergleichen lassen. Schwachpunkte des Komorbiditätsprinzips. Ein wesent-
liches, bisher empirisch nicht hinreichend bearbeitetes Problem des Komorbiditätskonzepts ist, dass im Rahmen des deskriptiven Ansatzes auf eine sequenziell-ätiologische Reihung der phänomenologischen Diagnosen ebenso verzichtet wird, wie auf die Formulierung eines komplexen Störungsmodells. Auf die Charakterisierung zeitlich und pathogenetisch primärer und sekundärer Störungen wird verzichtet, so dass die Beziehung der Störungen untereinander offen bleibt. Damit bleiben ätiologisch relevante Konzepte, etwa im Bereich der Alkoholund Drogenabhängigkeit unberücksichtigt, die im Rahmen von Familienstudien gut abgesichert wurden und den verlaufsmodifizierenden Charakter dieser Störungsklasse vernachlässigen. Durch den Verzicht auf komplexe Störungsmodelle wird der Diagnostiker zudem gezwungen, eine Vielzahl von Diagnosen abzubilden, ohne diese in Beziehung setzen zu können.
17
400
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
17.2.3
Multiaxiale Diagnostik
⊡ Tab. 17.3. Das multiaxiale System der ICD-10. (Nach Siebel et al. 1997)
Ein weiterer wichtiger Fortschritt in der Entwicklung operationalisierter Diagnosesysteme stellt die Etablierung des multiaxialen Ansatzes (Synonyme: multiaxiale Klassifikation, multiaxiale Diagnostik) dar. Das Konzept der multiaxialen Diagnostik hat in der Psychiatrie eine lange Tradition (vgl. Dittmann et al. 1990 b), wurde von Kretschmer bereits ansatzweise mit dem Begriff der »mehrdimensionalen Diagnostik« umschrieben, von EssenMöller u. Wohlfahrt 1947 erstmalig konzeptualisiert und 1969 durch die Arbeitsgruppe um Rutter (Rutter et al. 1975) konsequent auf den Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Erkankungen angewandt (vgl. Remschmidt et al. 2006). In der Erwachsenenpsychiatrie wurde er erst mit Einführung des DSM-III weiter verbreitet. Grundgedanke der Vielzahl zwischenzeitlich publizierter Ansätze ist, der Komplexität der klinischen Bedingungen eines Patienten dadurch gerecht zu werden, dass dieser anhand von klinisch als bedeutsam angesehenen Merkmalen, Merkmalsbereichen oder Betrachtungsebenen, die auch als sog. Achsen bezeichnet werden, beschrieben wird. Hinsichtlich der Frage, welche Achsen zur Beschreibung herangezogen werden, herrscht allerdings bisher kein Konsens (Mezzich u. Bergenza 2005). Das multiaxiale System der ICD-10 verankert auf der Achse I insofern das Komorbiditätsprinzip, als dass neben der Kerngruppe psychischer Störungen auf separaten Subachsen Persönlichkeitsstörungen und Störungen durch psychotrope Substanzen als die wichtigsten verlaufsmodifizierenden Zusatzdiagnosen abgebildet werden (⊡ Tab. 17.3). Diese getrennte Klassifizierung beruht zudem auf Befunden, die zeigen, dass diese Störungen bei einer derartigen Verankerung in einem multiaxialen System häufiger und adäquater abgebildet werden (Michels et al. 1996). Im DSM-III-R und DSM-IV werden in einer nahezu analogen Differenzierung auf den Achsen I und II neben den psychischen Störungen Entwicklungs-, Intelligenzund Persönlichkeitsstörungen erfasst (⊡ Tab. 17.4). Psychosoziale Funktionseinschränkungen. Der in der
17
ICD-10 weitgehend fehlenden Berücksichtigung psychosozialer Funktionseinschränkungen in den diagnostischen Kriterienbeschreibungen wird dadurch Rechnung getragen, dass eine entsprechende, vergleichsweise einfach und damit benutzerfreundlich konstruierte Fremdbeurteilungsskala (WHO-DDS: Disablement Diagnostic Scale) berücksichtigt wird, die die Abbildung sozialer Funktionseinschränkungen in verschiedenen Bereichen erlaubt (vgl. ⊡ Tab. 17.3). Dabei ist die weitgehend fehlende Berücksichtigung dieser Aspekte in den Kriterienbeschreibungen der ICD-10 darauf zurückzuführen, dass die Kriterien psychosozialer Funktionseinschränkungen interkulturell stark variieren, so dass die ICD-10 mit
Achse I
Psychische Störungen und körperliche Erkrankungen la
Achse II
Psychische Störungen
Ib
Persönlichkeitsstörungen
Ic
Störungen durch psychotrope Substanzen
Id
Körperliche Störungen
Beurteilung der sozialen Funktionseinschränkung (WHO Disablement Scale) IIa Selbstfürsorge (Körperhygiene, Kleidung, Ernährung usw.) IIb Beruf (bezahlte Arbeit, Studium, Hausarbeit usw.) IIc Familie und Haushalt [Interaktion mit dem (Ehe-)Partner, Eltern, Kindern, und anderen Verwandten] IId Funktionsfähigkeit im weiteren sozialem Kontext (Beziehung zu Gemeindemitgliedern, Teilnahme an Freizeit- und sozialen Aktivitäten) IIe Globaleinschätzung (Gesamtbeeinträchtigung)
Achse III
Psychosoziale Belastungsfaktoren Ereignisse und Merkmale aus folgenden Bereichen: 1. Negative Erlebnisse in der Kindheit 2. Erziehung und Bildung 3. Primäre Bezugsgruppe einschließlich Familie 4. Soziale Umgebung 5. Wohnungsbedingungen und finanzielle Verhältnisse 6. Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit 7. Umweltbelastungen 8. Psychosoziale oder juristische Probleme, 9. Krankheiten oder Behinderungen in der Familie 10. Lebensführung/Lebensbewältigung
ihrem Anspruch einer internationalen Klassifikation mit dieser Skala eher allgemeine Konstrukte abbildet. Mit der seit langem etablierten Global Assessment of Functioning Scale (GAF) wird auf der Achse V des DSMIII-R und DSM-IV ein vergleichbarer Ansatz verfolgt (vgl. ⊡ Tab. 17.4). Von der WHO werden zudem gegenwärtig Anstrengungen aus den 70er Jahren fortgesetzt, separat einen Diagnosenschlüssel zu »disabilities, impairments und handicaps« zu entwickeln, die ebenfalls auf der syndromalen Achse nicht hinreichend beschrieben sind (vgl. Matthesius et al. 1995). In diesem Zusammenhang wird an einer Weiterentwicklung des von der WHO 1988 herausgegebenen »Psychiatric Disability Assessment Schedule« gearbeitet, mit dem die Erfassung sozialer Behinderung auf der Grundlage der Beurteilung sozialer Interaktionen und der Erfüllung kulturell bedeutsamer Normen erfolgte.
401 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
⊡ Tab. 17.4. Multiaxiale Ansätze im DSM-III-R und DSM-IV Achse I
Achse II
Achse III
Achse IV
DSM-III-R:
Klinische Syndrome und »V-Kodierungen«
DSM-IV:
Klinische Störungen und andere klinische Zustandsbilder
DSM-III-R:
Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen
DSM-IV:
Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzstörungen
DSM-III-R:
Körperliche Störungen und Zustände
DSM-IV:
Allgemeine medizinische Zustandsbilder
DSM-III-R:
Schweregrad psychosozialer Belastungsfaktoren – überwiegend akute Ereignisse (Dauer weniger als 6 Monate), – überwiegend länger andauernde Umstände bzw. Lebensbedingungen (Dauer mehr als 6 Monate)
Achse V
DSM-IV:
Psychosoziale und Umgebungsfaktoren
DSM-III-R:
Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (Global Assessment of Functioning Scale/GAP) – derzeit, – höchster Funktionszustand im letzten Jahr
DSM-IV:
Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (GAF-Skala)
V-Kodierungen im DSM-III-R stehen für andere, klinisch relevante Zustandsbilder, wie etwa Missbrauchserfahrungen.
Psychosoziale Belastungsfaktoren. Ebenfalls in beiden
Systemen wurden zudem Achsen etabliert, mit deren Hilfe Merkmale und Faktoren klassifiziert werden können, die mit der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen in Zusammenhang stehen. In dem multiaxialen System der ICD-10 findet sich hierzu die mit dem entsprechenden Ansatz im DSM-IV weitgehend kompatible Achse III, mit der in Anlehnung an den Lifeevent-Ansatz psychosoziale Belastungsfaktoren abgebildet werden. In dem multiaxialen System der Kinder- und Jugendpsychiatrie findet sich hierzu die Entwicklung eines speziellen Glossars (Remschmidt et al. 2006).
Optionale Achsen Mit multiaxialen diagnostischen Systemen lassen sich darüber hinaus eine Reihe weiterer therapie- und verlaufsrelevanter Aspekte abbilden. Sie wurden aus Reliabilitätsgründen wie aus Gründen der besseren Kommunizierbarkeit aus der auf die syndromale Ebene beschränkten Störungsdiagnostik eliminiert. So finden sich im DSMIII-R und DSM-IV verschiedene optionale Achsen:
Skala zur Erfassung der Abwehrmechanismen und Copingstile mit Glossar, Skala zur globalen Erfassung des Funktionsniveaus von Beziehungen (GARF), Skala zur Erfassung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus (SOFAS).
Operationalisierte psychodynamische Diagnostik Von einer Gruppe psychodynamisch orientierter Wissenschaftler wurde in den vergangenen Jahren das multiaxiale System der »operationalisierten psychodynamischen Diagnostik/OPD« entwickelt (Arbeitskreis OPD 2006) und in ersten Studien empirisch überprüft (Freyberger et al. 1998; Rudolf et al. 1996). Leitgedanke dieses multiaxialen Systems ist es, auf der Grundlage einer konsequenten Operationalisierung und Manualisierung, psychodynamische Konstrukte auf einer vergleichsweise beobachtungsnahen Ebene erfassbar zu machen, um so reliablere Daten für differenzielle Therapieindikationen und die Betrachtung des psychotherapeutischen Prozesses zu gewinnen. Mit der Achse I werden Merkmale der Krankheitsverarbeitung und der Behandlungsvoraussetzungen erfasst, die sich u. a. mit dem Schweregrad der vorliegenden Erkrankungen und dem Inanspruchnahmeverhalten in Beziehung setzen lassen (⊡ Tab. 17.5). Den Konzepten von Kreismodellen interpersonellen Verhaltens folgend, werden mit der Achse II (Beziehung) repetitive dysfunktionale Beziehungsmuster abgebildet, die anhand vorgegebener Beziehungsmerkmale aus der Perspektive des Patienten- bzw. Untersuchererlebens kodiert werden. Die Achse III (Konflikt) ist der Einschätzung intrapsychischer und interpersoneller repetitiver Konfliktmuster vorbehalten, die anhand umschriebener faktischer Lebensbereiche in einem passiven und aktiven (kontraphobischen) Modus definiert wurden. Mit der Achse IV (Struktur) werden persönlichkeitsstrukturelle Merkmale entsprechend ihrem Integrationsniveau abgebildet. Die Achse V schließlich definiert unter Verwendung des ICD-10-Ansatzes Syndromdiagnosen.
Vorteil multiaxialer Ansätze Wie insgesamt gezeigt werden konnte, liegt der prinzipielle Vorteil multiaxialer Ansätze in einer ausführlichen Betrachtung der Umstände des Einzelfalls im Rahmen eines biopsychosozialen Ansatzes, in der systematischen Erfassung und Dokumentation klinisch bedeutsamer Merkmale, der systematischen Erfassung von Informationen für Behandlungsplanung und -prognose, als didaktisches Hilfsmittel sowie als wichtiges Instrument einer klinisch und epidemiologisch orientierten Forschung.
17
402
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
⊡ Tab. 17.5. Das multiaxiale diagnostische System zur Opera-
(Fortsetzung) ⊡ Tab. 17.5. Das multiaxiale diagnostische System zur Opera-
tionalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)
tionalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)
Achse I
7. Identitätskonflikte (Identität vs. Dissonanz)
Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen [4-stufige Fremdeinschätzung von 1 (= niedriger) bis 4 (= hoher Ausprägungsgrad)] 1. Beurteilung des Schweregrads der somatischen Erkrankung
8. Fehlende Konflikt- und Gefühlswahrnehmung 9. Aktualkonflikte Achse IV
Struktur [Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 1 (= gut integriert) bis 4 (= desintegriert)]
2. Beurteilung des Schweregrades der psychischen Erkrankung
1. Selbstwahrnehmung
3. Leidensdruck
3. Abwehr
4. Beeinträchtigung des Selbsterlebens
4. Objektwahrnehmung
5. Ausmaß der körperlichen Behinderung
5. Kommunikation
6. Sekundärer Krankheitsgewinn
6. Bindung
7. Einsichtsfähigkeit in psychodynamische Zusammenhänge 8. Einsichtsfähigkeit für somatopsychische Zusammenhänge 9. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (Psychotherapie) 10. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (körperliche Behandlung)
2. Selbststeuerung
7. Gesamtniveau Achse V
Psychische und psychosomatische Störungen nach dem Kapitel V (F) der ICD-10
Achse Va
Psychische Störungen
Achse Vb
Persönlichkeitsstörungen (Kategorien F60 und F61 der ICD-10)
Achse Vc
Körperliche Erkrankungen (andere Kapitel der ICD-10)
11. Motivation zur Psychotherapie 12. Motivation zur körperlichen Behandlung 13. Compliance 14. Symptomdarbietung: somatische Symptomatik steht im Vordergrund
17.3
Der diagnostische Prozess
15. Symptomdarbietung: psychische Symptomatik steht im Vordergrund
17.3.1
Ausbildung und Training
16. Psychosoziale Integration 17. Persönliche Ressourcen 18. Soziale Unterstützung 19. Angemessenheit der subjektiven Beeinträchtigung zum Ausmaß der Erkrankung Achse II
Beziehung (dysfunktionelles habituelles Beziehungsverhalten; Fremdeinschätzung von jeweils 2 im Sinne interpersoneller Kreismodelle definierten nach Relevanz gewichteten Merkmalen je Perspektive und Dimension) 1. Perspektive A: Das Erleben des Patienten mit den Dimensionen »Der Patient erlebt sich immer wieder so, dass er ...« und »der Patient erlebt andere immer wieder so, dass er ...« 2. Perspektive B: Das Erleben des Interviewers mit den Dimensionen »Der Untersucher erlebt den Patienten immer wieder so, dass er ...« und »Der Untersucher erlebt sich gegenüber dem Patienten immer wieder so, dass er ...«
17
3. Psychodynamische Formulierung des dysfunktionalen Beziehungsverhaltens (Option) Achse III
Konflikt [Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 0 (= nicht vorhanden) bis 3 (= hoch) für jeden definierten Konflikt] 1. Abhängigkeit vs. Autonomie 2. Kontrolle vs. Unterwerfung 3. Versorgung vs. Autarkie 4. Selbstwertkonflikte (narzisstische Konflikte, Selbst- vs. Objektwert) 5. Über-Ich- und Schuldkonflikte (egoistische vs. prosoziale Tendenzen) 6. Ödipale und sexuelle Konflikte
Die Anwendung operationalisierter Diagnosensysteme setzt die Beachtung einer Reihe methodischer Bedingungen voraus. Wie bereits eingangs dieses Kapitels erwähnt wurde, bilden Beobachtungs- und Kriterienvarianz bedeutsame Fehlerquellen des diagnostischen Prozesses, die zumindest auf der Ebene der Störungsdefinitionen durch operationalisierte Systeme in ihrer Bedeutung reduziert werden konnten. Wie bereits die Erfahrung mit lange etablierten Systemen zur psychopathologischen Befunderhebung, wie etwa dem AMDP-System (Haug u. Stieglitz 1997) zeigt, setzt die angemessene Anwendung ein umfassendes Training voraus, durch das die Reflektion der individuellen Aspekte der Beobachtungs- und Kriterienvarianz und das Erlernen der diagnostischen Kriterien gewährleistet werden soll. So werden seit längerem von Arbeitsgruppen der Diagnosenkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ICD10-Trainingsseminare angeboten, die einem Curriculum mit Grund- und Aufbaukursen folgen und unterschiedliches didaktisches Material verwenden (vgl. z. B. Freyberger u. Dilling 1993; Dilling et al. 1997). Während für die mit den Klassifikationssystemen verbundenen strukturierten und standardisierten diagnostischen Interviews spezielle Trainingsseminare mit einem z. T. beträchtlichen Aufwand verbunden sind, ist etwa das Erlernen des multiaxialen Ansatzes der OPD mit mindes-
403 17.3 · Der diagnostische Prozess
tens 3 Grund- und Aufbaukursen verknüpft, die, wie bei den anderen Systemen auch, für eine spätere reliable Anwendung unerlässlich sind.
17.3.2
Weitere Fehlerquellen im diagnostischen Prozess
Nichtbeachtung der diagnostischen Kriterien. Der diag-
nostische Prozess wird darüber hinaus von einer Reihe möglicher Urteilsfehler beeinflusst, die einerseits direkt mit der Konzeption operationalisierter Diagnosensysteme in Zusammenhang zu bringen sind, andererseits aber auch allgemeinpsychologische Gesichtspunkte berühren (vgl. nachfolgende Übersicht). Die unter dem Aspekt von Ausbildung und Training bereits genannte wesentlichste Fehlerquelle stellt die Nichtbeachtung der diagnostischen Kriterien dar.
rakter in nur einer komplexen Diagnose abzubilden, kann als eine der Fehlerquellen in der operationalisierten Diagnostik gelten. Etwa für den Bereich der Komorbidität zwischen schizophrenen und Suchtstörungen konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass vor diesem Hintergrund überzufällig häufig die Suchtdiagnosen nicht gestellt und damit inadäquate Entscheidungen im Hinblick auf weitere Therapieinterventionen getroffen wurden (Krausz u. Haasen 1996). Andere theoretische Konzepte. Diagnostiker werden al-
lerdings auch häufig von theoretischen Konzepten in ihrer Diagnosenstellung beeinflusst, die keinen oder keinen unmittelbaren Zusammenhang zur operationalisierten Diagnostik aufweisen. So weicht etwa das BorderlineKonzept der ICD-10 in wesentlichen Anteilen von psychodynamischen Konzepten ab, wie sie etwa von Gundersson oder Kernberg entwickelt wurden. Diagnostische Unsicherheit. Darüber hinaus führt diag-
In der Praxis auftretende Fehlerquellen im diagnostischen Prozess. (Nach Stieglitz u. Freyberger 1996) 1. 2. 3. 4.
Nichtbeachtung der Symptom- und Zeitkriterien Nichtberücksichtigung der Ausschlusskriterien Nichtberücksichtigung des Komorbiditätsprinzips Beeinflussung durch theoretische Konzepte, die nichts mit operationalisierter Diagnostik zu tun haben (z. B. verschiedenen Borderline-Konzepten) 5. Einfluss eigener diagnostischer Unsicherheit bei der Entscheidung für eine Diagnose (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung, schizoaffektive Störung) 6. Rückschluss auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. hysterisch = hysterische Persönlichkeitsstörung) 7. Falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt)
Mangelnde Informationserhebung. Darüber hinaus setzt
die Anwendung operationalisierter Diagnosensysteme auf mehreren Ebenen die Vollständigkeit der Informationserhebung voraus. Psychopathologische Merkmalsbereiche müssen systematisch erfragt bzw. erfasst werden, um entsprechend dem Komorbiditätsprinzip multiple Diagnosen überhaupt abbilden bzw. ausschließen zu können. In diesem Bereich stehen als (didaktisch wertvolle) Unterstützung für den Untersucher zahlreiche strukturierte und standardisierte Interviewverfahren und Symptomchecklisten zur Verfügung. Vernachlässigung und Komorbidität. Entsprechend dem
traditionellen diagnostischen Prinzip, verschiedene Syndrome insbesondere bei Störungen mit hohem Signalcha-
nostische Unsicherheit zur Zuweisung von Patienten zu diagnostischen Kategorien, die sich im Grenzbereich zwischen verschieden Störungsgruppen finden (z. B. schizoaffektive Störungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen). In diesen Bereich fallen zweifelsohne auch die falschen Rückschlüsse auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. theatralisches Verhalten = histrionische Persönlichkeitsstörung) sowie falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt = ein besonders markantes Merkmal beeinflusst die Wahrnehmung anderer Merkmale).
17.3.3
Instrumente
Zur Reduktion der verschiedenen diagnostischen Fehlerquellen sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Instrumenten zur klassifikatorischen Diagnostik entwickelt worden. Unterschieden werden heute strukturierte bzw. standardisierte Interviews und sog. Symptomchecklisten. Die Mehrzahl dieser Instrumente ist modular aufgebaut, d. h. dass einzelne Störungsgruppen mit separaten Interview- oder Checklistenabschnitten erfasst werden können. Die meisten Instrumente erlauben zudem ein polydiagnostisches Vorgehen, d. h. dass Diagnosen verschiedener Klassifikationssysteme (z. B. DSM-IV und ICD-10) gestellt werden können.
Standardisiertes Interview Bei den standardisierten Interviews werden alle Ebenen des diagnostischen Vorgehens präzise festgeschrieben, d. h. der Ablauf der Untersuchung, die Art und die Reihenfolge der Fragen, die Art der Kodierung der Informationen und die Diagnosenstellung erlauben dem Untersucher keinen individuellen Spielraum. Wie die in ⊡ Abb. 17.1
17
404
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
⊡ Abb. 17.1. Eingangsfragen der Sektion D (Angststörungen) des Composite International Diagnostic Interview (CIDI). (Nach Wittchen u. Semmler 1992)
SEKTION D D1 Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, d. h. wurden Sie ganz plötzlich und unerwartet von einem Gefühl starker Angst oder Beklommenheit überfallen, und zwar in Situationen, in denen die meisten Menschen nicht ängstlich wären?
NEIN (o D11) . . . . . . . . . . . . 1 JA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
D2 Solche Angstanfälle treten manchmal auf, wenn man in ernster Gefahr ist oder wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer steht. Trat(en) Ihr(e) Angstanfall/-fälle auch unabhängig von solchen Situationen auf?
PRB: 1 2 3 4 5
WENN JA, FRAGE VOR DEN PRÜFFRAGEN: Können Sie mir einen dieser Angstanfälle etwas näher beschreiben? BEISPIEL: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................................................................. DR.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
PB.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
WENN D2 mit PRB 1 KODIERT WURDE, GEHE ZU D11 D3 SPRACH DER PB. MIT EINEM ARZT DARÜBER (D2)?
D4 Versuchen Sie jetzt bitte, sich an einen Ihrer schwersten Angstanfälle zurückzuerinnern und an die körperlichen Symptome, die Sie dabei hatten. KODIERE IN SPALTE 1, WIEDERHOLE FALLS NÖTIG: »Hatten Sie während dieses Angstanfalls . . . !« 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
Atemnot oder Schwierigkeiten, Luft zu bekommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzklopfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel, Benommenheitsgefühle?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie ein Engegefühl oder Schmerzen in Brust oder Magen? . . . . . . . Hatten Sie Kribbel- oder Taubheitsgefühle in den Fingern oder Füßen? . . Hatten Sie Erstickungsgefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fühlten Sie sich einer Ohnmacht nahe?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Sie geschwitzt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Sie gezittert oder gebebt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Hitzewallungen oder Kälteschauer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfanden Sie sich selbst oder die Dinge um Sie herum als unwirklich? . Hatten Sie die Befürchtung, dass Sie sterben könnten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie die Befürchtung, verrückt zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verspürten Sie einen Brechreiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Bauchschmerzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Atemnot oder Beklemmungsgefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie einen trockenen Mund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
SPALTE I NEIN JA 1 5* 1 5* 1 5* 1 5* 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5* 1 5* 1 5 1 5
SPALTE II NEIN JA 1 5 1 5 1 5 1 5
1 1
5 5
FRAGE FÜR JEDES MIT 5* KODIERTE SYMPTOM IN SPALTE I: Litten Sie unter . . . (SX) jemals auch in anderen Situationen, also wenn Sie keinen Angstanfall hatten? KODIERE IN SPALTE II.
17
D5 WURDE IN D4 1–17 MEHR ALS EINE 5/5* KODIERT?
NEIN (o D11) . . . . . . . . . . 1 JA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
D6 Wann hatten Sie zum (ersten/letzten) Mal einen derartigen Angstanfall, mit einigen der genannten Symptome wie z. B. . . . (NENNE EINIGE MIT 5/5* KODIERTEN SYMPTOME AUS D4, 1–17)?
ONS: 1 2 3 4 5 6 ALTER ONS: _ /_ REC: 1 2 3 4 5 6 ALTER REC: _ /_
D7 Gab es jemals eine Zeitspanne von mehr als einem Monat, in der Sie jede Woche mindestens 4 solcher Angstanfälle hatten?
NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA (o D10) . . . . . . . . . . . . . 5
D8 Hatten Sie jemals 4 Angstanfälle innerhalb von 4 aufeinanderfolgenden Wochen?
NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA (o D10) . . . . . . . . . . . . . 5
gezeigten Eingangsfragen aus der Angstsektion des Composite International Diagnostic Interview (CIDI) zeigen, weisen derartige Interviews die folgende Struktur auf: Mit einem definierten Interviewabschnitt (hier die Fragen D1–D4) werden die in den Diagnosensystemen operationalisierten Kriterien für eine umschriebene Störung (hier Panikstörung) erfasst. Mittels einer Eingangsfrage (hier D1) wird ein Screening vorgenommen, das im Falle einer positiven Antwort zu einer weiteren Überprüfung der diagnostischen Kriterien führt (Fragen D2–D4).
Im Falle einer negativen Antwort findet ein Sprungvermerk Anwendung (hier springe zu Frage D11), der den Interviewer zur nächsten Subsektion des Interviews (hier generalisierte Angststörungen) gelangen lässt. Zur weiteren Symptomerfassung werden dann entweder standardierte Interviewtechniken (sog. Prüffragen, vgl. Frage D2) verwendet, die eine Kodierung entsprechend der Genese des betreffenden Symptoms beinhalten (Kodierung PRB 1 2 3 4 5) oder einfache Antwortalternativen (vgl. Frage D4) vorgeben.
405 17.3 · Der diagnostische Prozess
Bei einem Teil der Fragen können zusätzlich Beispiele angegeben (Frage D2) oder eine Experteneinschätzung (Kodierung Dr. für Doktor, Pb für Proband) mit den Angaben des Probanden kontrastiert werden, um eine Post-hocValidierung zu ermöglichen. Im Übrigen werden für eine computerisierte oder auf einer Handauswertung beruhende Diagnosenstellung bestimmte Auswertungsalgorithmen vorgelegt, wobei die im Einzelnen erfassten Symptome und Kriterien definierte Bezeichnungen erhalten (linke Spalte in ⊡ Abb. 17.1).
der Regel stichwortartig zusammengefasst (⊡ Abb. 17.2). Dem Untersucher steht es offen, selbst Fragen zu formulieren und eine entsprechende Kodierung vorzunehmen. Der Ablauf der Informationserhebung bleibt ebenfalls dem Untersucher vorbehalten. Damit zeichnen sich die Checklisten durch eine besondere Benutzerfreundlichkeit aus; ihre Anwendung setzt allerdings eine breite klinische Erfahrung voraus. Zudem sind sie bezüglich des Zeitaufwands ökonomisch einsetzbar und erlauben z. T. auch eine Erhebung anhand von Krankengeschichten.
Strukturiertes Interview Strukturierte Interviews geben demgegenüber einfach die Reihenfolge der zu erhebenden psychopathologischen Merkmale, Zeit- und Verlaufskriterien sowie der anderen diagnostisch relevanten Variablen vor. Für den schrittweisen Gang der Exploration finden sich vorformulierte, aber in der Regel weniger elaborierte Fragen sowie Zusatzfragen zur Verifizierung der erhobenen Informationen. Für die Bewertung und Gewichtung der erhobenen Informationen werden in der Regel Einschätzungskriterien angegeben; dem klinischen Urteil des Untersuchers wird allerdings ein relativ breiter Spielraum gegeben. Dies hat zur Folge, dass strukturierte Interviews nur von klinisch erfahrenen und trainierten Untersuchern angewendet werden können. ! Im Vergleich zu strukturierten Interviews ist mit standardisierten Verfahren eine entsprechend höhere Interraterübereinstimmung zu erreichen. Zudem lassen sich standardisierte Interviews auch von gut trainierten Laien einsetzen, was für große epidemiologische Studien von erhebungsökonomischer Relevanz ist.
Vor- und Nachteile der Interviewverfahren Prinzipiell gilt, dass sich die Komorbidität in der Regel mit Interviewverfahren adäquater abbilden lässt, da weniger Störungen übersehen werden. Zudem erreichen Interviews bei Patienten entgegen vieler Erwartungen eine durchaus gute Akzeptanz. Vor allem für Forschungsfragestellungen und die Klärung schwieriger differenzialdiagnostischer Fragen können diese Verfahren empfohlen werden. Dem steht jedoch auch eine Reihe von Nachteilen gegenüber. Mit dem Ausmaß der Strukturierung bzw. Standardisierung des diagnostischen Interviews gehen subjektive, emotionale und szenische Informationen wie auch das psychotherapeutische Element des Erstgesprächs verloren; subjektiven Akzentuierungen der Patienten wird ein geringer Stellenwert eingeräumt. Zudem ist der Zeitaufwand, der für die umfassenden Verfahren z. T. mehrere Stunden beträgt, erheblich. Durch die Vielzahl der erhobenen Informationen kann die Auswertung in der Regel nur computerisiert erfolgen, wobei aber nur für einen Teil der vorliegenden Interviews bisher Programme vorliegen.
Check- und Merkmalslisten
Übersicht gebräuchlicher Instrumente
Bei den Check- oder Merkmalslisten sind die interessierenden Symptome oder diagnostischen Kriterien in
⊡ Tab. 17.6 gibt einen Überblick zu einer Auswahl gegen-
wärtig vorliegender Instrumente. Dabei ist zu berücksich-
⊡ Tab. 17.6. Untersuchungsinstrumente zur Diagnostik nach ICD-10 und DSM-III-R. (Nach Stieglitz u. Freyberger 1996) Bereich
Gruppe
Bezeichnung/Abkürzung
System
Gesamtbereich psychischer Störungen
StrI
Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-III-R (SKID)
DSM-III-R
StrI
Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN)
ICD-10, DSM-IIII-R
StrI
Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (SADS)
DSM-III-R
StaI
Composite International Diagnostic Interview (CIDI)
ICD-10, DSM-IIII-R
CL
Internationale Diagnosenchecklisten (IDCL)
ICD-10, DSM-IV ICD-10
CL
Merkmalsliste (ICDML)
Persönlichkeitsstörungen
StrI
International Personality Disorder Examination (IPDE)
ICD-10, DSM-IIII-R
StrI
Standardized Assessment of Personality (SAP)
ICD-10
CL
Internationale Diagnosenchecklisten für Persönlichkeitsstörungen (IDCL-P)
ICD-10, DSM-IV
Demenz
StrI
Strukturiertes Interview für die Diagnose von Demenzen (SIDAM)
StrI: strukturiertes Interview; Stal: standardisiertes Interview; CL: Checklisten
17
406
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
IDCL
Internationale Diagnosen Checkliste für ICD-10
Schizophrenie G1 • •
Ermitteln Sie die Art der psychotischen Symptomatik Zeitkriterien für alle Symptome: die meiste Zeit in einer mindestens einen Monat dauernden psychotischen Episode (oder irgendwann während der meisten Tage)
Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, jeden Tag für mindestens einen Monat, • begleitet von (flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten) Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung, • oder begleitet von anhaltenden überwertigen Ideen. b Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedakenfluss, was zu Zerfahrenheit oder danebenreden führt. c Katatone Symptome z. B. Erregung, Haltungsstereotypien, Negativismus, Mutismus, Stupor. d »Negative« Symptome, nicht verursacht durch Depression oder Neuroleptika z. B. auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachter oder inadäquater Affekt.
Kriterium G1 ist unter folgenden Bedingungen erfüllt: • Mindestens 1 Merkmal aus 1a bis 1d trifft zu • oder mindestens 2 Merkmale aus 2a bis 2d treffen zu
❑ ❑ ❑
Ja
82219-7
Schizophrenie
Seite 3
Hebephrene Schizophrenie
o Verdacht
F20. 1 x
• • •
F20. 2 x
Ja
❑
❑ ❑ ❑ ❑
Ja
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
o Verdacht
17
• • •
Eines oder mehrere der folgenden katatonen Symptome stehen im Vordergrund für einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen: Stupor (deutliche Verminderung der Reaktionen auf die Umgebung und Verminderung der spontanen Bewegungen und Aktivität), oder Mutismus Erregung (anscheinend sinnlose motorische Aktivität, die nicht durch äußere Reize beeinflusst ist) Haltungsstereotypien (freiwilliges Einnehmen und Beibehalten unsinniger und bizarrer Haltungen) Negativismus (ein anscheinend unmotivierter Widerstand gegenüber Aufforderungen oder Versuchen, bewegt zu werden, oder Bewegungen in die entgegengesetzte Richtung) Rigidität (Beibehaltung einer steifen Haltung gegenüber Versuchen, bewegt zu werden) Wächserne Biegsamkeit (Verharren von Gliedern und Körper in Haltungen, die von außen auferlegt sind) Befehlsautomatismus (automatische Befolgung von Anweisungen)
❑
Ja
❑
Nein Verdacht Ja
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ Undifferenzierte Schizophrenie F20. 3 x oVerdacht ❑ Ja ❑ • • •
Kriterium G2/1 ist erfüllt, wenn die Kriterien einer manischen oder depressiven Episode nicht erfüllt sind. Kriterium G2/1 ist erfüllt, wenn die Kriterien einer manischen oder depressiven Episode zwar erfüllt sind, aber Kriterium G1 der Schizophrenie bereits vor der Entwicklung der nicht Verdacht affektiven Symptome bestanden hatte. erfüllt | erfüllt Ende m
Beurteilen Sie Kriterium G2/1:
G2/2
Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien für die Subtypen paranoide Schizophrenie, hebephrene Schizophrenie, katatone Schizophrenie, postschizophrene Depression oder schizophrenes Residuum; oder so zahlreiche Symptome, dass die Kriterien für mehr als einen dieser Subtypen erfüllt sind
❑
❑
Verdacht | Nein
❑
❑
erfüllt Verdacht
Schizophrenie
nicht erfüllt
•
Überprüfen Sie, welche der anderen untenstehenden Diagnosen für psychotische Störungen in Frage kommen (falls möglich, mit Hilfe der entsprechenden IDCL).
• • • • • •
Schizophrenia simplex
Verdacht
Schizoaffektive Störung
Verdacht
Wahnhafte Störung
Verdacht
❑ ❑ ❑
Ja Ja Ja
•
❑ ❑ ❑
Bestimmen Sie den Typus der Schizophrenie und die entsprechende Diagnose (Seiten 3 und 4).
Vorübergehende psychotische Störung
Verdacht
Affektive Störung mit psychotischen Symptomen
Verdacht
Andere (F28)/nicht näher bezeichnete (F29) nichtorg. Störung
Verdacht
❑ ❑ ❑
Schizophrenie
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
Nein Verdacht Ja * Deutliche Affektverflachung * Passivität und Initiativemangel * Psychomotorische Verlangsamung oder verminderte Aktivität
❑ ❑ ❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ Ja
❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
Nein Verdacht Ja * Verarmung der Sprache (Menge oder Inhalt * Vernachlässigung in sozialer Leistung oder Körperpflege * Geringe nonverbale Kommunikation durch Mimik, Blickkontakt, Stimmmodulation oder Körperhaltung
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
8 = Andere Schizophrenie 9 = Nicht näher bezeichnete Schizophrenie
F 2 0.
❑ ❑ ❑
Nein Verdacht Ja
Die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (Typus F20.0–F20.3) waren einmal in der Vergangenheit erfüllt, sie sind derzeit jedoch nicht erfüllt. Mindestens vier der folgenden »negativen« Symptome waren in den letzten 12 Monaten durchgehend vorhanden.
Diagnose:
Ja
Ja
F20. 5 x oVerdacht ❑
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
•
Ja
Nein Verdacht Ja
Die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (Typus F20.0–F20.3) waren während der letzten 12 Monate erfüllt, sie sind derzeit jedoch nicht erfüllt; eines der Symptome G1(2) a, b, c oder d besteht derzeit noch. Depressive Symptome sind anhaltend, schwer und umfassend genug, um mind. die Kriterien einer leichten depressiven Episode zu erfüllen.
Schizophrenes Residuum
•
Ja
Seite 4
Postschizophrene Depression F20. 4 x oVerdacht ❑
•
❑
Schließen Sie aus: Organische Ätiologie Die Störung ist auf eine Erkrankung des Gehirns oder Ja auf alkohol- oder drogenbedingte Intoxikation, Abhängigkeit oder Entzug zurückzuführen. Ende m ❑
❑
Nein Verdacht Ja
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
• •
Schließen Sie aus: Schizoaffektive oder affektive Störung
• •
•
o Verdacht
Eindeutige u. anhaltende Verlachung o. Oberflächlichkeit d. Affekts, oder eindeutiger u. anhaltender inadäquater o. unangebrachter Affekt. Verhalten ist ziellos und unzusammenhängend statt zielstrebig, oder eindeutige Denkstörung, die sich in unzusammenhängender, weitschweifiger oder zerfahrener Sprache zeigt. Das klinische Bild ist nicht beherrscht von Halluzinationen oder Wahn (obwohl diese Symptome in leichter Form vorhanden sein können).
Katatone Schizophrenie
❑
Nein Verdacht Ja
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
G2/1
❑ ❑ ❑
❑ ❑ ❑
Wahn oder Halluzinationen stehen im Vordergrund Das klinische Bild ist nicht beherrscht von verflachtem oder inadäquatem Affekt, katatonen Symptomen oder Zerfahrenheit (obwohl diese Symptome in leichter Form vorhanden sein können).
Früher: Symptomatik bestand zu einem früheren Zeitpunkt (angeben: ___________)
❑ ❑ ❑
© 1995 Verlag Hans Huber, Bern
F20. 0 x
❑ Ja ❑ Verdacht
Derzeit und früher: Symptomatik besteht derzeit und lag auch zu einem früheren Zeitraum vor.
Falls Kriterien G1, G2/1 und G2/2 erfüllt:
Verdacht Nein |
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
❑ Ja ❑ Verdacht
Derzeit: Symptomatik besteht derzeit erstmalig.
❑ ❑ ❑
Ende
Paranoide Schizophrenie
❑ Ja ❑ Verdacht
Verdacht Nein | Ja
Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug ❑ ❑ ❑ oder Gedankenausbreitung b Kontroll- oder Beeinflussungswahl oder Gefühl des Gemachten, ❑ ❑ ❑ deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder auf bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahrnehmung. c Hören von Stimmen, ❑ ❑ ❑ • die das Verhalten des Patienten laufend kommentieren, • oder die im Dialog über ihn sprechen, • oder andere Formen von Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen. d Anderer anhaltender Wahn, ❑ ❑ ❑ der kulturell unangemessen und völlig unmöglich ist z. B. das Wetter kontrollieren zu können oder mit Wesen einer anderen Welt in Beziehung zu stehen.
2a
Seite 2
Ordnen Sie die angekreuzte Symptomatik zeitlich ein:
Name: ___________________________ Alter: _______ Datum: _____________
1a
• •
Schizophrenie
F20.
x oVerdacht ❑
Ja
Tragen Sie ein: 4. Stelle der Diagnose Typus der Schizophrenie Tragen Sie ein: 5. Stelle der Diagnose Verlaufsbild
kontinuierlich (keine Remission psychotischer Symptome im Beobachtungszeitraum) episodisch, mit zunehmender Entwicklung »negativer« Symptome zwischen den Episoden episodisch, mit anhaltenden, aber nicht zunehmenden »negativen« Symptomen episodisch remittierend, mit (fast) vollständigen Remissionen zwischen den Episoden unvollständige Remission vollständige Remission anderes Verlaufsbild Verlauf unsicher, Beobachtungszeitraum weniger als ein Jahr
⊡ Abb. 17.2. Internationale Diagnosencheckliste für die Eingangskriterien einer Schizophrenie. (Nach Hiller et al. 1996)
= = = = = = = =
0 1 2 3 4 5 8 9
❑
407 Literatur
tigen, dass alle Interviewverfahren, die den Anspruch verfolgen, den Gesamtbereich psychischer Störungen abzubilden, die Persönlichkeitsstörungen nicht erfassen. Das wahrscheinlich international am weitesten verbreitete Interviewverfahren ist das für epidemiologische Untersuchungsansätze entwickelte CIDI (zur Erklärung der Abkürzungen vgl. ⊡ Tab. 17.6), für das zudem ein computerisierter Auswertungsalgorithmus sowie eine interaktive Laptopversion für Patienten vorliegt. Ebenfalls in Zusammenarbeit mit Arbeitsgruppen der WHO wurde das SCAN entwickelt, das als abwärtskompatibles Nachfolgeinstrument des v. a. in der Schizophrenieforschung breit verwendeten Present State Examination (PSE) von einiger Bedeutung ist. Vor allem für Familienstudien wurde von amerikanischen Arbeitsgruppen das SADS entwickelt, das neben dem SKID v. a. in den USA häufig verwendet wird. Für diese Instrumente liegen deutsche Übersetzungen vor, die DSM-IV-Kriterien werden gegenwärtig integriert. Zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen kann das IPDE als das international führende Interviewverfahren herausgestellt werden, während für den Bereich der Demenzen das SIDAM am anerkanntesten ist. Bezüglich ihrer Reliabilität und Validität gut untersucht, sind die Internationalen Diagnosenchecklisten für den Gesamtbereich psychischer Störungen, die durch spezielle Checklisten für die Erfassung von Persönlichkeitsstörungen erweitert wurden.
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17
408
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
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17
18 18 Biografische und Krankheitsanamnese P. Hoff
18.1 Einführung – 410 18.1.1 Die Anamneseerhebung im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung – 411 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6 18.2.7 18.2.8
Biografische Anamnese – 411 Herkunftsfamilie – 412 Schwangerschaft und Geburt – 412 Frühe Kindheit und Vorschulalter – 412 Schulische Entwicklung – 413 Pubertät und Adoleszenz – 413 Ausbildung und Beruf – 413 Beziehungsanamnese – 413 Aktuelle Lebenssituation – 414
18.3
Angaben zur Sexualität und zu Lebenspartnerschaften – 414
18.4
Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf
18.5 Psychiatrische Krankheitsanamnese – 415 18.5.1 Aktuelle Anamnese – 415 18.5.2 Spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes – 415 18.5.3 Allgemeine psychiatrische Anamnese – 415 18.6
Suchtanamnese
18.7
Familienanamnese – 416
18.8
Somatische Krankheitsanamnese – 417
18.9
Forensische Anamnese – 417
18.10 Fremdanamnese Literatur
– 416
– 417
– 417
– 414
> > Die sorgfältige Anamneseerhebung ist Voraussetzung, ja sogar integraler Bestandteil jeder psychiatrisch-psychotherapeutischen Diagnostik und Therapie. Die hier vorgestellte Systematik spricht die wesentlichen Bereiche an; im Interesse einer möglichst vollständigen Datenerhebung empfiehlt sich die konsequente Anwendung eines derartigen Schemas. Jenseits dieses formalen Aspekts kommt es aber entscheidend darauf an, die Balance zu halten zwischen umfassender Datensammlung auf der einen und Respekt vor der Individualität und Intimität des Patienten auf der anderen Seite. Hier wird jeder Untersucher mit wachsender Erfahrung einen eigenen »Stil« entwickeln müssen. Dies steht keineswegs im Gegensatz zu einem strukturierten Vorgehen wie dem hier vorgeschlagenen. Im Gegenteil: Erst die persönliche Ausgestaltung der vorgegebenen Struktur stellt die dem individuellen Patienten angemessene Weise der Anamneseerhebung dar.
410
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
18.1
Einführung
Die Erhebung der Vorgeschichte, die Anamnese, stellt einen unabdingbaren Bestandteil jeder medizinischen Untersuchung dar. In der Psychiatrie gilt dies umso mehr, als die hier zu erkennenden und behandelnden Erkrankungen oft besonders eng mit der Biografie und der aktuellen Lebenssituation des Patienten verwoben sind (Dahmer 2006; Deegener 1984; Hersen u. Turner 1985; Kind u. Haug 2002; Leon 1982; MacKinnon u. Yudofsky 1986; Schmidt u. Kessler 1976). Nun geht es bei der psychiatrischen Anamneseerhebung um sehr vielgestaltige Phänomene, deren Bedeutung für den jeweiligen Einzelfall zu Beginn einer Behandlung oft noch gar nicht endgültig abgeschätzt werden kann, etwa die Selbstschilderung des Patienten, Angaben seiner Angehörigen oder frühere somatische Befunde. Diese außerordentliche Vielfalt des abzubildenden Materials sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht hat die Anamneseerhebung mit der Erfassung des psychopathologischen Befundes gemeinsam. Auch dort ist das Problem ohne klare Begrifflichkeit und ebenso klare gedankliche Strukturierung, die sich bis zu einer straffen Operationalisierung erstrecken kann, nicht lösbar.
hat. In der englischsprachigen Literatur wird auch der Begriff »psychiatric database« verwandt. Die Kernstruktur dieser »psychiatrischen Datensammlung« vermittelt die nachfolgende Übersicht. Diese Grundstruktur enthält freilich noch nicht alle für die psychiatrische Diagnostik erforderlichen Angaben, etwa den gesamten somatischen Bereich. Dieser wird ebenso wie die psychopathologische Befunderhebung an anderer Stelle des vorliegenden Bandes besprochen. Hier, im Kontext der Anamneseerhebung, ist es sinnvoll, die im Schema dargestellte Datenbasis noch weiter aufzufächern, um der tatsächlichen Differenziertheit des untersuchten Patienten gerecht werden zu können. Der in der folgenden Übersicht skizzierten Aufteilung wird die weitere Darstellung folgen.
Essenzielle Bestandteile jeder psychiatrischen Datensammlung (Silberman u. Certa 1997)
»Psychiatrisches Anamnesenmosaik« Die Erhebung der biografischen und der Krankheitsanamnese ist eingebettet in die gesamte psychiatrische Befunderhebung und damit Teil dessen, was Dilling (1986) das »psychiatrische Anamnesenmosaik« genannt
Persönliche Grunddaten Hauptbeschwerden aktuelle Vorgeschichte psychiatrische Anamnese somatische Anamnese Familienanamnese biografische Anamnese psychopathologischer Befund
Die einzelnen Bereiche der Anamneseerhebung Biografische Anamnese: Herkunftsfamilie Schwangerschaft und Geburt frühe Kindheit und Vorschulalter schulische Entwicklung Pubertät und Adoleszenz Ausbildung und Beruf Beziehungsanamnese aktuelle Lebenssituation Partnerschafts- und Sexualanamnese Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf
18
Überschneidung der Anamnesebereiche Diese Unterteilung, die zur besseren Übersicht dienen und die Anamneseerhebung praktikabler machen soll, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die genannten Bereiche unabhängig voneinander und inhaltlich scharf getrennt seien. Ganz im Gegenteil: Sie sind aufs engste miteinander verbunden und überlappen sich oft. Die Verkennung dieses Umstands kann nachteilig für den
Psychiatrische Krankheitsanamnese:
aktuelle Anamnese spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes allgemeine psychiatrische Anamnese Suchtanamnese Familienanamnese Somatische Krankheitsanamnese Forensische Anamnese Fremdanamnese
diagnostischen Prozess und die darauf aufbauenden therapeutischen Maßnahmen sein. Dies zeigt sich etwa im Fall der beiden Bereiche »Biografie« und »Krankheitsanamnese«: Deren schroffe Trennung beinhaltet die Gefahr, wichtige Zusammenhänge psychopathologischer Phänomene mit Lebensereignissen oder -entwicklungen zu unterschätzen oder gar zu übersehen.
411 18.2 · Biografische Anamnese
Cave Ein aussagefähiges Beispiel für eine Überakzentuierung eines Teilaspekts ist der Begriff der »Primärpersönlichkeit«. Er suggeriert nämlich eine eindeutige Grenze zwischen der vor der Erkrankung bestehenden Persönlichkeit und den Persönlichkeitsmerkmalen im Laufe der Erkrankung bis hin zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt. Implizit legt er sogar die völlige Unabhängigkeit von Persönlichkeit und seelischer Störung nahe, eine Annahme, die durch empirische Untersuchungen älteren und jüngeren Datums nicht gestützt wird.
Weniger anfällig für Fehldeutungen ist die Bezeichnung »prämorbide Persönlichkeit«, die nur auf den zeitlichen Aspekt abhebt, oder schlicht die Rede von »der Persönlichkeit« des Patienten, die sich im Laufe der Biografie einschließlich der Krankheitszeiten auf bestimmte Art entwickelt oder verändert hat. Selbst wenn sich also zwischen den genannten Bereichen im konkreten Fall immer wieder deutliche Überlappungsbereiche zeigen sollten, so ist es doch sinnvoll, sich für die Anamneseerhebung eines Schemas zu bedienen, um wesentliche Aspekte nicht zu übersehen.
18.1.1
Die Anamneseerhebung im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung
Die Exploration muss bestimmten minimalen äußeren Anforderungen genügen: Sie sollte in einem ansprechenden Raum und unter 4 Augen erfolgen und, soweit möglich, nicht durch Telefonate oder andere Nebenbeschäftigungen gestört werden. Vor allem wenn der Patient erstmalig psychiatrisch untersucht wird, empfiehlt es sich, ihm Art und Umfang der vorgesehenen diagnostischen Maßnahmen verständlich zu erläutern und ihn zu Rückfragen zu ermuntern. Erfahrungsgemäß kann durch ein solches Vorgehen schon viel von der Anspannung und Zurückhaltung abgefangen werden, die manche Patienten zu Untersuchungsbeginn verspüren (Reiser u. Schroder 1980; Schüffel u. Schonecke 1973). Ein wichtiger Punkt ist der Umfang der zu erhebenden Daten. Die Lebensgeschichte eines Menschen ist ein nahezu unerschöpfliches Reservoir von Ideen, Verhaltensweisen, Erinnerungen, Gefühlen, Meinungen und Sachverhalten. Aus dem an sich richtigen Bemühen, der Individualität des Patienten gerecht zu werden, erwächst insbesondere für den unerfahrenen Untersucher die Gefahr, sich in unwichtigen Details zu verlieren. Er scheut es, manches nicht weiter zu vertiefen oder nicht zu dokumentieren und kann paradoxerweise gerade dadurch den für das biografische Verständnis entscheidenden Überblick verlieren. Das andere Extrem stellt der erfahrene
Psychiater dar, der sich auf seine gewachsene Intuition verlässt und jeglichen Strukturierungs- oder gar Operationalisierungsversuchen in der Anamnese- und Befunderhebung wegen der damit verbundenen Einengung mit großer Skepsis begegnet. Eine thematische Vorstrukturierung des zu erwartenden Materials ist aber unabdingbar. Freilich wird und soll jeder Untersucher im Laufe der Zeit einen eigenen Stil entwickeln. Die Grundlinien sollten aber insoweit übereinstimmen, als die im Folgenden angesprochenen wesentlichen Bereiche in die Exploration einfließen. Das »Vergessen« eines wichtigen anamnestischen Aspekts, etwa weil sich die Exploration vorwiegend mit dem aktuellen Zustandsbild beschäftigt, ist nicht akzeptabel.
18.2
Biografische Anamnese
Objektive und subjektive Lebensgeschichte Oft wird die »äußere« Biografie, bei der die relevanten objektiven Daten erhoben werden, unterschieden von der »inneren« Lebensgeschichte, die sich mit den persönlichen Erinnerungen und vor allem Bewertungen früherer Ereignisse, Erlebnisse oder Vorstellungen beschäftigt. Ob man diese beiden Bereiche nun auch in der Gesprächsführung klar voreinander trennt oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung. Zwar stellt die gleichzeitige Erfassung beider Aspekte die für Patient und Untersucher zweifellos natürlichste und vom zu erzielenden Informationsgewinn her günstigste Vorgehensweise dar, sie ist aber auch die schwierigste. Gerade bei sehr umfangreichen Biografien, bei schwer explorierbaren Patienten oder im Fall eines unerfahrenen Untersuchers ist daher nichts dagegen einzuwenden, verschiedene Aspekte der Biografie getrennt zu besprechen. Es erleichtert den Kontakt zum Patienten erheblich, wenn man ihn an dieser Stelle noch einmal kurz über den geplanten Ablauf des Gesprächs und den Sinn der Fragen informiert. Schließlich empfinden es viele Personen als ungewohnt und unangenehm, mit einem anderen Menschen, den sie nur ganz kurz kennen, umfassend und offen über die eigene Lebensgeschichte zu sprechen. Erst recht gilt dies natürlich für Patienten, die unfreiwillig zur stationären Untersuchung und allenfalls auch Behandlung gebracht worden sind. Diesem Umstand muss die Art der Gesprächsführung im Allgemeinen und der Anamneseerhebung im Speziellen in vertrauensbildender Weise Rechnung tragen.
Reihenfolge der Themen Auch mit Blick auf die Reihenfolge der anzusprechenden Themen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die jeweils Vor- und Nachteile haben. Beginn mit Themenwahl des Patienten. Man kann bei der
Thematik beginnen, die der Patient auf eine ganz offene
18
412
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
Frage nach dem Verlauf seines Lebens spontan anbietet. Dies wirkt auf den Patienten am wenigsten gezwungen, doch bleibt der Untersucher über die Motive des Patienten für gerade diese Themenwahl zunächst im Unklaren, was das Verständnis erschweren kann. Chronologisches Vorgehen. Man kann entlang der Zeit-
achse vorgehen, was die einfachste und keiner besonderen Begründung bedürfende Strukturierung darstellt. Von Nachteil ist dabei, dass es auf den Patienten eigenartig wirken kann, in Anbetracht seiner in der Regel drängenden aktuellen Probleme und Konflikte zunächst einmal auf die eigene Schwangerschaft, Geburt und früheste Kindheit angesprochen zu werden. Flexible Abfolge vorgegebener Themenbereiche. Schließ-
lich – und dies dürfte bei flexibler Anwendung die probateste Methode sein – kann man sich inhaltlich an die im folgenden genannten Bereiche anlehnen, deren Reihenfolge jedoch dem Gesprächsverlauf und der Art der vorliegenden seelischen Störung anpassen. Hier verbindet sich der Vorteil einer strukturierten Gesprächsführung, nämlich das geringere Risiko, Wesentliches zu übersehen oder zu vergessen, mit einer Beziehungsgestaltung, die aus der Sicht des Patienten offen wirkt und den Eindruck starrer Raster oder des bloßen Abhakens vorgegebener Themen vermeidet.
18.2.1
18
Herkunftsfamilie
Der Patient wird um eine Schilderung der sozialen Situation gebeten, in die er »hineingeboren« wurde. Dabei geht es um äußere Gegebenheiten, etwa Berufe der Eltern, finanzielle Verhältnisse, Größe der Wohnung, die persönlichen Eigenschaften der entscheidenden Bezugspersonen. Das werden in der Regel, müssen aber nicht, die Eltern sein. Es sollte nach allen Personen, die im elterlichen Haushalt lebten, und nach den sonstigen, aus der Erinnerung des Patienten bedeutsamen Menschen gefragt werden. Die Partnerschaftssituation der Eltern zum Zeitpunkt der Geburt ist ein wesentlicher Aspekt. In Zusammenhang damit wird man auch zu erfragen versuchen, ob der Patient ein erwünschtes Kind war oder nicht. Obwohl viele Patienten dazu kaum Angaben machen können, weil in der Familie tatsächlich nicht über dieses Thema gesprochen worden ist, trifft man nicht selten auf Patienten, die über diese Aussprachemöglichkeit geradezu erleichtert sind und betroffen schildern, dass sie ein völlig unerwünschtes Kind gewesen seien oder sogar – ein besonders heikler Punkt – hätten abgetrieben oder zur Adoption freigegeben werden sollen.
Umgang mit schwierigen Themen. Es sei an dieser Stelle
daran erinnert, dass die Angaben des Patienten nicht ohne weiteres als historische Tatsachen anzusehen sind, sondern dass nachträgliche Deutungen und Erinnerungsverformungen auf unterschiedlichster Grundlage in Rechnung zu stellen sind. Nun gilt dies zwar grundsätzlich für alle Anamnesebereiche, eine schwierige Gesprächssituation ergibt sich aber v. a. im soeben besprochenen Kontext oder etwa bei Angaben über einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch. Die Exploration solcher Zusammenhänge, über die der Patient bislang kaum oder noch nie gesprochen hat, erfordert Erfahrung, Gespür und einen persönlichen »Stil« des Untersuchers. Er sollte dem Patienten den Eindruck vermitteln können, dass er ein echtes Interesse an seiner Person hat, sich nicht durch ausweichendes Verhalten des Patienten von seiner Linie abbringen lässt, gleichzeitig aber die Individualität und Intimität des anderen respektiert.
18.2.2
Schwangerschaft und Geburt
Zu fragen ist nach dem Alter der Eltern bei der Geburt des Patienten, nach dem Schwangerschaftsverlauf bei der Mutter, insbesondere nach der medizinischen Betreuung und nach aufgetretenen körperlichen oder psychischen Störungen einschließlich eines Substanzmissbrauchs. Manche Patienten können recht präzise Angaben über die Umstände ihrer Geburt machen: Zu Hause oder in der Klinik? Termingerecht? Spontan oder eingeleitet? Gewicht? Zangengeburt? Kaiserschnitt? Postpartale Störungen bei Mutter und Kind? Auch den unmittelbar anschließenden Zeitraum sollte man ansprechen und den Patienten fragen, ob er etwas über diese Periode der Neugestaltung der familiären Strukturen erfahren hat. Dies schließt die Frage nach etwaigen seelischen Störungen der Eltern in zeitlichem Zusammenhang mit der Geburt des Patienten ein, z. B. eine postpartale Depression oder Psychose oder ein reaktualisierter oder neu entstandener Partnerkonflikt.
18.2.3
Frühe Kindheit und Vorschulalter
Hier geht es zunächst um die zeitliche Abfolge beim Erwerb sensomotorischer, sozialer und sprachlicher Kompetenzen und um die Frage nach frühen Ernährungs- und Entwicklungsstörungen. Der Erziehungsstil der Eltern wird ebenso zur Sprache kommen wie Art und Zeitpunkt
413 18.2 · Biografische Anamnese
der Reinlichkeitserziehung, die Reaktion auf die Geburt von Geschwistern und evtl. aufgetretene Ängste oder anderweitige Störungen der Emotionalität und des Verhaltens, etwa Bettnässen, Nägelkauen oder Pavor nocturnus. Eine große Rolle spielen: Art und Intensität der Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und Spielkameraden, der Umgang mit konflikthaften oder schmerzlichen Situationen wie Trennungen vom Elternhaus und Getrenntleben der Eltern sowie schließlich das Verhalten im Kindergarten. Viele Patienten können aus eigener Erinnerung und aus Schilderungen von Bezugspersonen recht plastisch über ihre persönlichen Eigenschaften, ihr »Temperament«, als Kleinkind und Schulkind berichten. Als Hintergrundinformation ist dabei stets die soziale Situation des Elternhauses zu bedenken, etwa im Hinblick auf finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit oder Wohnungswechsel.
18.2.4
Schulische Entwicklung
Neben der vorwiegend kognitiven Entwicklung (Schulleistung im engeren Sinn, Erlernen von Grundfertigkeiten) sollte großer Wert auf den Aspekt der emotionalen und sozialen Kompetenz gelegt werden. Im Schulalter zeigt sich dies an der Art der Integration in den Klassenverband, der Beziehung zu Lehrern, zu Freunden und an der Freizeitgestaltung. Trennungsängste manifestieren sich zu Beginn der Schulzeit oft besonders deutlich. Zu fragen ist nach affektiven Auffälligkeiten depressiver, ängstlichasthenischer oder impulsiv-aggressiver Tönung sowie nach Besonderheiten der motorischen Entwicklung, z. B. Hyperaktivität, besonderes Interesse für Sport oder auffallende motorische Ungeschicklichkeit. Die in dieser Lebensphase zu erlernende Teilautonomie zeigt sich z. B. daran, dass das Kind ab einem bestimmten Zeitpunkt ohne Angst alleine bleiben kann oder dass ihm kleinere Aufgaben im häuslichen Bereich in verantwortlicher Weise übertragen werden können. Auch die Art, in der der Patient als Kind mit starken Belastungssituationen, etwa eigene Erkrankung oder Erkrankung der Eltern, umgegangen ist, kann hier angesprochen werden.
sorgfältig in der Anamneseerhebung zur Sprache kommen. Verstärkt wird man auf die spannungsreichen Beziehungsaspekte achten. Familiäre und schulische Konflikte sind v. a. dann genau zu explorieren, wenn sie dauerhaften Charakter haben. Gab es ausgeprägte krisenhafte Zuspitzungen mit »Weglaufen« von zu Hause oder abrupte Wechsel von persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen? Die Einbindung in den Freundeskreis, die dort eingenommenen oder angestrebten Rollen, die Entwicklung sexueller Beziehungen sind weitere wesentliche Punkte. Hier ergeben sich freilich Überschneidungen zum Abschn. 18.3. Zusammenfassend sollten alle Personen, Gruppen, Institutionen, Weltanschauungen und »Kulturen«, die für den Patienten in diesem prägenden Lebensabschnitt von Bedeutung waren, Gegenstand des Gesprächs sein.
18.2.6
Im Zentrum steht hier zunächst die Wahl einer bestimmten Ausbildung und eines entsprechenden Berufsziels. Wichtig ist die Frage, ob diese Entscheidungen wesentlich vom Patienten selbst getroffen wurden oder von den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Neben dem äußeren Ausbildungsgang (Dauer, Zwischen- und Abschlussprüfungen, Finanzierung, Wohnsituation) sind die Einstellung zur gewählten Ausbildung und zum angestrebten Beruf, der Grad der Zufriedenheit und die realen und imaginierten Zukunftsperspektiven von Bedeutung. Besonders wichtig sind natürlich die äußeren und inneren Gründe für den Wechsel oder Verlust eines Arbeitsplatzes. Die konkrete Situation am Arbeitsplatz sollte durchaus im Detail erörtert werden, da dies oft wesentliche Aufschlüsse über soziale Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale gibt, aber auch über mögliche Auslöser oder Verstärker von seelischen Störungen. Bei männlichen Patienten sollte die Wehr- oder Zivildienstpflicht angesprochen werden, weil dieser Zeitabschnitt durch einen im Leben des Betreffenden häufig erstmaligen längeren Ortsund Situationswechsel charakterisiert ist. Allein dadurch können konflikthafte seelische Momente deutlicher in Erscheinung treten oder neu entstehen.
18.2.7
18.2.5
Pubertät und Adoleszenz
Das Thema der Verselbständigung im »äußeren« Sinn (Loslösung vom Elternhaus), aber auch im »inneren« Sinn (Selbstfindung, sexuelle Identität, Vorstellungen zur Berufsausbildung, Lebensziele) steht in dieser Lebensphase im Vordergrund des Erlebens und sollte entsprechend
Ausbildung und Beruf
Beziehungsanamnese
Der Patient wird gebeten, seine typischen Erlebens- und Verhaltensmuster in zwischenmenschlichen Beziehungen zu schildern. Dabei kommt es nicht etwa nur auf »Auffälliges« oder »Krankhaftes« an, sondern auf Eigenschaften, die der Patient aus der eigenen Sicht und aus der ihm erkennbaren Perspektive Dritter als kennzeichnend für seinen Umgang mit anderen Personen erlebt.
18
414
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
Zu fragen ist nach dem Bestehen oder Fehlen fester Freundschaften, dem Alter, den Persönlichkeitsmerkmalen und dem sozialen Status der Partner, der eigenen Position innerhalb von Zweierbeziehungen, dem Erleben in Gruppen und der Einnahme typischer Rollen, etwa derjenigen des »Anführers« oder des »Sündenbocks«.
Wenn auch jede künstliche Trennung vermieden werden sollte, so wird es doch oft sinnvoll sein, der Beziehung zu einem festen Lebenspartner einen eigenen Gesprächsabschnitt zu widmen ( Abschn. 18.3). So kann man mit gutem Grund auch mit dem sexuellen Bereich verfahren. Vor allem die in psychiatrischen Krankengeschichten nicht selten zu beobachtende dürftige bis ganz fehlende Erwähnung der Sexualität macht ein solches Vorgehen sinnvoll. Doch wird man auch hier die jeweilige Situation des Einzelfalls berücksichtigen.
18.2.8
Aktuelle Lebenssituation
Gerade am Ende der biografischen Anamnese bietet es sich an, den Patienten ausführlich über die aktuelle Lebenssituation berichten zu lassen. Dabei werden manche Aspekte des Untersuchungsgesprächs noch einmal aufgegriffen, etwa die berufliche, finanzielle und partnerschaftliche Situation, aber eben – und dies ist wichtig – unter dem Blickwinkel der aktuellen und nicht rückschauenden Bewertung, selbst wenn diese aktuelle Sicht des Patienten im Einzelfall auch stark von der vorliegenden seelischen Störung geprägt sein mag.
18.3
18
Angaben zur Sexualität und zu Lebenspartnerschaften
Sofern nicht bereits im Kontext der biografischen und Beziehungsanamnese angesprochen, wird hier auf die sexuelle Entwicklung des Patienten eingegangen. Da das Thema nicht selten als peinlich oder irritierend erlebt wird (und dies nicht nur auf Patientenseite), sind besonderer Takt, aber auch eine gewisse Nachhaltigkeit am Platz, um Verleugnungstendenzen nicht zu unterstützen. Nicht ausgespart werden sollte der Bereich der kindlichen Sexualität, etwa in bezug auf die sog. »Doktorspiele«. Besonderen Augenmerk wird man auf die Art der sexuellen Aufklärung legen und auf die Entwicklung des sexuellen Erlebens und Verhaltens während und in der Phase direkt nach der Pubertät (Masturbation, erste sexuelle Partnererfahrungen, homosexuelle Kontakte, sich abzeichnende sexuelle Identitätsstörungen bis hin zu Transvestitismus, Transsexualität und Perversionen).
Lebenspartnerschaft Wenn eine feste Lebenspartnerschaft besteht, so sollte deren Entwicklung eigens besprochen werden. Dabei kommt es auf die Qualität der Beziehung im weitesten Sinne an. Aspekte der Nähe und Distanz zwischen den Partnern, der Offenheit im Umgang, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die beim Patienten vorliegende seelische Störung, der Existenz und Relevanz weltanschaulich-religiöser Grundüberzeugungen sowie der Konfliktfähigkeit sind von zentraler Bedeutung. Gleiches gilt für den sexuellen Bereich, der in der Regel bei den gerade aufgezählten Themen bereits zur Sprache gekommen ist: Regelmäßige sexuelle Kontakte? Sexuelle Funktionsstörungen wie Impotenz, Anorgasmie, Vaginismus? Gleichartige oder stark divergierende sexuelle Interessen der Partner? Sexualpartner außerhalb der festen Beziehung? Allgemeine Einstellung zur Sexualität? Besonderen Wert wird man auf die Frage nach einer gemeinsamen Lebensplanung legen: Ist die Bewertung der aktuellen Lebenssituation übereinstimmend oder nicht? Teilen beide Partner langfristige Ziele oder verfolgen sie getrennt evtl. konkurrierende Ziele? Familienplanung? Einstellungen zu Erziehungs- und Ausbildungsfragen hinsichtlich der Kinder?
18.4
Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf
Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung sind Bereiche, die bei der Erhebung sowohl der Vorgeschichte als auch des psychopathologischen Befundes eine große Rolle spielen. Hier geht es um den Aspekt der zeitlichen Entwicklung der Selbstwahrnehmung im Verlauf der Biografie. Nun wirkt die Frage, wie er sich denn selbst sehe, was er für wesentliche Eigenschaften habe, auf den Patienten oft überraschend und führt nicht selten zu der Antwort, darüber könne er nichts sagen, darüber habe er noch nie so richtig nachgedacht. Dennoch sollte man das Gespräch weiter in diese Richtung treiben, da das Selbstbild ein wesentliches Moment bei der Beurteilung seelischer Störungen darstellt. Dies gilt sowohl für die Selbsteinschätzung vor Beginn der aktuellen Störung, sofern eine zeitliche Grenze zwischen gesund und krank im Einzelfall überhaupt so klar erkennbar wird, als auch für das Selbstbild während der aktuellen Krankheitsphase. Wenn es gelingt, den Patienten zu differenzierten Äußerungen zu diesem Bereich zu bewegen, so erlebt er dies oft als erleichternd und bereichernd. Außerdem ergeben sich hier gute Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen
415 18.5 · Psychiatrische Krankheitsanamnese
und deren Evaluation im weiteren Verlauf. Das frei geschilderte Selbstbild kann durch Fragebogenerhebungen ergänzt werden, doch sollte das Vieraugengespräch nie fehlen.
18.5
Psychiatrische Krankheitsanamnese
Hier ist zu unterscheiden zwischen der aktuellen Anamnese, die auf den Zeitraum unmittelbar vor der jetzigen Behandlung abzielt, der speziellen Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes, die – etwa im Falle einer chronischen Psychose – lange Zeiträume umfassen kann, und der allgemeinen psychiatrischen Anamnese, die nach dem früheren Auftreten irgendwelcher seelischer Störungen fragt, die mit der aktuellen Erkrankung in Zusammenhang stehen können, aber nicht müssen.
18.5.1
Aktuelle Anamnese
Die aktuelle Anamnese ist derjenige Teil, der aus der Sicht des Patienten neben der Erhebung des Befundes der wichtigste ist. Er erfasst die unmittelbare Vorgeschichte des zur ambulanten, teilstationären oder stationären Behandlung führenden Zustands. Hier wird man fragen, welche Beschwerden wie lange in welcher Intensität bestehen, in welchem lebensgeschichtlichen Kontext sie aufgetreten sind und wie der Patient sie subjektiv einschätzt hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades, den sie hervorrufen. ! Zu achten ist auf komplizierende Faktoren, die im Kontext ganz unterschiedlicher seelischer Störungen auftreten können, etwa Selbstbeschädigungsneigung, Missbrauch psychotroper Substanzen, suizidale Phantasien, Gedanken und Handlungen sowie delinquentes Verhalten. Dieser Bereich überlappt sich z. T. mit der Erhebung des psychopathologischen Befundes, aber auch mit anderen anamnestischen Bereichen, z. B. wenn der Beginn der Störung im zeitlichen Zusammenhang mit einem Partnerkonflikt oder mit hohem Alkoholkonsum steht. Wichtig sind Fragen nach bereits eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen medikamentöser, psychotherapeutischer oder sozialpsychiatrischer Art und der dazu bestehenden Einstellung des Patienten (Compliance). Dies leitet über zu den ebenfalls anzusprechenden Erwartungen, die der Patient an die jetzige Therapie hat und an die Motivation, die er dafür aufbringt.
18.5.2
Spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes
Die spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes konzentriert sich auf den Langzeitverlauf dieser besonderen seelischen Störung, etwa einer bipolaren affektiven Störung, bei dem gerade untersuchten Patienten. Zu fragen ist nach früheren Erkrankungsmanifestationen (z. B. nach Anzahl, Intensität, jahreszeitlicher Häufung), nach situativen und somatischen Auslösefaktoren, nach dem Ansprechen auf die Behandlung einschließlich einer eventuellen Langzeitmedikation.
Gesamtverlauf Wichtig ist der Gesamtverlauf: Dieser kann phasenhaft sein und jeweils mit Vollremissionen einhergehen, schubförmig mit Besserungen, die den Patienten aber nicht das frühere (»prämorbide«) Funktionsniveau erreichen lassen, oder chronisch, sei es im Sinne eines zeitlich stabilen Defizits oder – im ungünstigsten Fall – einer progredienten Verschlechterung. Die Grenzen zwischen phasenhaftem, schubförmigem und primär chronischem Verlaufstyp sind allerdings in zweierlei Hinsicht unscharf: Zum einen kann der Verlaufstyp beim selben Patienten im Laufe der Jahre wechseln, etwa von einem phasenhaften zu einem schubförmigen, weitaus seltener umgekehrt, zum anderen hängen die Begriffe »Phase« und »Schub« entscheidend von der Definition von »Vollremission« ab. Voreilige Schlüsse vom Verlaufstyp auf die Diagnose müssen vermieden werden: Ein schubförmiger Verlauf ist zwar bei schizophrenen Störungen häufig, aber keineswegs zwingend; schizophrene Psychosen können voll remittieren, affektive hingegen zu bleibenden Defiziten führen und insoweit auch einen »schubweisen« Verlauf nehmen. Das subjektive Moment der Wahrnehmung der eigenen Erkrankung durch den Patienten muss besonders ernst genommen und in der Exploration entsprechend gewichtet werden, spielt es doch für den Langzeitverlauf, also auch für die Langzeitprognose, oft eine bedeutsame Rolle.
18.5.3
Allgemeine psychiatrische Anamnese
Frühere Erkrankungen und Komorbiditätsprinzip.
Schließlich ist der Patient auf das frühere Auftreten anderer seelischer Störungen als der aktuell vorliegenden anzusprechen. In den letzten Jahren ist in Forschung und Praxis auf den Aspekt der Komorbidität besonderer Wert gelegt worden. Es wird betont, welche unzulässige und für die Therapieplanung ungünstige Einengung es darstellt, etwa beim Vorliegen einer schizophrenen Psychose wichtige Bereiche wie die Persönlichkeit, die Suchtanamnese
18
416
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
oder den affektiven Bereich wenig oder gar nicht zu berücksichtigen. Schichtenregel nach Jaspers. Bei einer derartigen Verkürzung, die sich tatsächlich in vielen Krankengeschichten finden lässt, mag die – dann allerdings zu eng ausgelegte – Schichtenregel von Jaspers Pate gestanden haben, wonach die »tiefste« erreichte Schicht den Ausschlag für die Diagnose gibt. Ein Beispiel: Wenn sich bei einer Persönlichkeitsstörung (Schicht 1) überraschenderweise typische produktiv-psychotische Symptome einstellten (Schicht 2), sei insgesamt eine Schizophrenie zu diagnostizieren, und wenn noch Desorientierung und Bewusstseinsstörung hinzuträten (Schicht 3), eine körperlich begründbare Psychose. Schichtenregel und Komorbiditätsprinzip. Jaspers selbst
hat auf den pragmatischen Wert, aber eben auch auf die theoretischen Schwächen dieser Schichtenregel hingewiesen. Um dringliche Therapiemaßnahmen nicht zu verschleppen, ist sie klinisch nach wie vor nützlich, etwa wenn ein Patient mit einer bereits länger bestehenden depressiven Symptomatik akut eine Bewusstseinsstörung entwickelt, woraufhin ein Hirntumor festgestellt wird (Bewusstseinsstörung als »führendes« Symptom). Sie sollte jedoch nicht als Widerspruch zum Komorbiditätsprinzip verstanden werden: Selbstverständlich können mehrere seelische Störungen aus verschiedenen »Schichten« zur gleichen Zeit oder zeitversetzt dasselbe Individuum betreffen. Diese Situation ist z. B. gegeben, wenn ein Patient mit selbstunsicherer Persönlichkeit eine paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, später eine Alkoholabhängigkeit sowie in deren Gefolge eine Korsakow-Psychose und eine Demenz entwickelt. Die Frage, ob früher ein Substanzmissbrauch oder eine Sucht vorgelegen haben, kann bereits an dieser Stelle des Untersuchungsgespräches erörtert werden.
18.6
Suchtanamnese
Stoffgebundene Süchte. Der Umgang mit suchterzeu-
18
genden Substanzen für die gesamte Lebensspanne ist zu erfragen. Bedeutsam sind die Einstellungen des Elternhauses, des Freundeskreises und späterer wesentlicher sozialer Bezugsgruppen etwa zu Alkohol, Nikotin und Drogen. Einer gerade hier oft anzutreffenden Beschönigungstendenz des Patienten sollte nicht nachgegeben werden. Vielmehr sind die Details eines missbräuchlichen oder abhängigen Verhaltens bezüglich Substanz, Menge und Häufigkeit sowie bevorzugte Situation des Konsums, Art der Beschaffung und Rückwirkungen auf das familiäre und berufliche Umfeld genau zu erörtern. Auch frühere therapeutische Maßnahmen wie Entziehung,
Entwöhnung (stationär oder ambulant, mit oder ohne medikamentöse Unterstützung) und Rückfälle (wie häufig, wie schwer, aus welchem Kontext heraus, Einstellung des Patienten zum Rückfall) müssen erfragt werden. Nichtstoffgebundene Süchte. Die im Falle der stoffgebundenen Süchte schon schwer zu ziehende Grenze zwischen »normalem« und schädlichem Gebrauch sowie zwischen Missbrauch und Abhängigkeit stellt bei den nichtstoffgebundenen Süchten ein besonderes Problem dar. Die bloße Häufung eines bestimmten Verhaltens, sei es Glücksspiel, Ladendiebstahl oder Brandstiftung, macht noch keine Sucht aus. Die Anamneseerhebung in diesem schwierigen, oft auch forensisch relevanten Bereich muss der Verknüpfung des fraglich süchtigen Verhaltens mit der Persönlichkeit, der Biografie und der aktuellen Lebenssituation besonderes Augenmerk widmen.
18.7
Familienanamnese
Hier geht es um mehr als die knappe Beantwortung der Frage, ob in der näheren und weiteren Verwandtschaft seelische Störungen aufgetreten sind oder nicht. Vielmehr sollen wesentliche psychosoziale Informationen über die Herkunftsfamilie des Patienten eingeholt werden, wobei sich Überlappungen mit der biografischen Anamnese ergeben werden. Es sollte nach der Großeltern-, Eltern- und Patientengeneration, ggf. auch nach den Nachkommen gefragt werden. In einem ersten Schritt verschafft man sich durch die Grunddaten wie Alter, Beruf, Familienstand, Wohnverhältnisse einen Überblick, um dann die Informationen über eine eventuelle familiäre Belastung mit seelischen Auffälligkeiten oder körperlichen Krankheiten besser einordnen zu können. ! Dabei interessieren nicht nur die eindeutig psychotischen Störungen, sondern gerade auch die »leichteren« seelischen Auffälligkeiten, die nicht unbedingt sofort in diagnostische Begriffe umgesetzt werden müssen. Im Zweifel sollten die Schilderungen des Patienten möglichst wortgetreu wiedergegeben werden, etwa im Falle auffälliger Persönlichkeitszüge oder eines fraglichen Substanzmissbrauchs bei einem Verwandten. Suizide, Suizidversuche und dissoziales oder delinquentes Verhalten sollten hier erörtert werden, wobei ausdrücklich auch die weitere Verwandtschaft einzubeziehen ist. Beharrliches Nachfragen kann nützlich sein, da der offene Bericht über einen seelisch kranken Verwandten für viele Patienten mit Schamgefühlen und Verunsicherung verbunden ist und daher gerne vermieden wird. Durch entsprechende Gesprächsführung sind diese negativen Af-
417 Literatur
fekte aber meist zu überwinden. Bei weitverzweigten Familien mit unterschiedlichen seelischen Störungen legt man zweckmäßigerweise einen Stammbaum an.
18.8
Somatische Krankheitsanamnese
Zu erfragen sind körperliche Erkrankungen, die im Leben des Patienten aufgetreten sind, begonnen mit den »Kinderkrankheiten« bis hin zu neueren, möglicherweise noch bestehenden und behandlungsbedürftigen Störungen. Besonderen Wert wird man zwar auf solche körperlichen Erkrankungen legen, bei denen direkte oder indirekte psychische Auswirkungen wahrscheinlich sind (z. B. Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma, neurologische Systemerkrankungen, chronische Herzerkrankungen), doch sollte man diese Grenze nicht zu eng ziehen. Eine Medikation, die über längere Zeit verabreicht wurde, ist ebenso zu erfassen wie die aktuell eingenommene. Nach ambulanten und stationären Behandlungen einschließlich nachfolgender Rehabilitationsmaßnahmen muss gefragt werden.
einem kritischen Punkt kann die Frage werden, ob der Patient bei der Erhebung der Fremdanamnese anwesend sein soll bzw. darf oder nicht. Hier lässt sich keine verbindliche Regel formulieren, die Entscheidung ist vom Einzelfall abhängig. Dem Patienten muss aber stets klar sein, dass seine gesundheitlichen und persönlichen Belange im Vordergrund der ärztlichen Bemühungen stehen und bei konkurrierenden Interessenslagen – drastisches Beispiel: spontane fremdanamnestische Angaben eines Arbeitgebers, der im Gegenzug Informationen über die Erkrankung und ihre Prognose erwartet – eindeutige Priorität haben. ! Jeder Eindruck, dass Dinge hinter dem Rücken des Patienten geschehen, muss sorgfältig vermieden werden. Selbstverständlich gilt die ärztliche Schweigepflicht auch gegenüber Familienangehörigen, was nicht ausschließt, dass diese nach entsprechender Information des Patienten und mit seinem Einverständnis in die Therapie mit einbezogen werden.
Fazit 18.9
Forensische Anamnese
Hier geht es zum einen um die Frage, ob es im Leben des Patienten zu Gesetzesübertretungen gekommen ist, die juristische Folgen nach sich gezogen haben, zum anderen aber auch darum, ob etwaige strafrechtlich relevante Fehlverhaltensweisen in Zusammenhang mit einer seelischen Störung standen. Man wird im Rahmen der psychiatrischen Anamneseerhebung diese dem ausführlichen Gutachten vorbehaltene Frage nicht erschöpfend erörtern können, doch sollte der Themenkreis nicht völlig ausgespart bleiben. Wie bei anderen potenziell heiklen Bereichen muss hier taktvoll und umsichtig gefragt werden, um die Auskunftsbereitschaft des Patienten nicht zu untergraben. Ein gesonderter Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht kann nützen, nicht zuletzt um die diesbezüglich sehr unterschiedlichen Rollen des behandelnden Arztes und des Gutachters hervorzuheben. Mit Blick auf die Sozialgerichtsbarkeit hat Zeit (1997) die Problematik der fachspezifischen Anamnese herausgearbeitet.
18.10
Fremdanamnese
Es handelt sich um Informationen über den Patienten, die nicht unmittelbar von diesem selbst stammen, sondern von seinem sozialen Umfeld im weitesten Sinne, also von Familienangehörigen, Freunden, Verwandten, Nachbarn, Berufskollegen, aber auch von früher behandelnden Ärzten oder vom akut hinzugezogenen (Not-)Arzt. Zu
Ein weiterer sensibler Punkt ist der soeben erwähnte Kontakt des behandelnden Arztes zu Arbeitskollegen bzw. zum Arbeitgeber des Patienten. Natürlich kann ein solcher Kontakt nur mit Zustimmung des Patienten erfolgen unter kritischer Abwägung von Vorteilen, etwa der Erhebung diagnostisch und therapeutisch relevanter Informationen über die Lebenssituation des Patienten, und Nachteilen, etwa der Entstehung von Vorurteilen am Arbeitsplatz bis hin zur dessen Gefährdung durch das Bekanntwerden einer psychischen Störung.
Literatur Dahmer J (2006) Anamnese und Befund: Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Diagnostik, 10. Aufl. Thieme, Stuttgart Deegener G (1995) Anamnese und Biographie im Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen Dilling H (1986) Das psychiatrische Anamnesenmosaik. Nervenarzt 57: 374–377 Hersen M, Turner S M (1985) Diagnostic interviewing. Plenum, New York Kind H, Haug HJ (2002) Psychiatrische Untersuchung: Ein Leitfaden für Studierende und Ärzte in Praxis und Klinik, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Leon RL (1982) Psychiatric interviewing. Elsevier, North Holland New York MacKinnon RA, Yudofsky SC (1986) The psychiatric evaluation in clinical practice. Lippincott, Philadelphia Reiser DE, Schroder AK (1980) Patient interviewing: the human dimension. Williams & Wilkins, Baltimore
18
418
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
Schmidt LR, Kessler BH (1976) Anamnese. Methodische Probleme, Erhebungsstrategien und Schemata. Beltz, Weinheim Schüffel W, Schonecke OW (1973) Die Anamneseerhebung als Gespräch. Therapiewoche 23: 2478–2484 Silberman EK, Certa K (1997) Psychiatric interview: settings and techniques. In: Tasman A, Kay J, Lieberman JA (eds) Psychiatry, vol 1. Saunders, Philadelphia London Toronto Montreal Sydney Tokio, pp 19–39 Zeit Th (1997) Psychiatrische Anamnesen im Gutachten: Konsequenzen für Gerichtsgutachten im Sozialrecht. Gentner, Stuttgart
18
19 19 Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung B. Widder
19.1
Allgemeinmedizinische Untersuchung
19.2
Neurologische Untersuchung wacher Patienten – 420 Hirnnerven – 420 Reflexe – 423 Motorik – 424 Sensibilität – 424 Bewegungskoordination – 425 Sprache – 426
19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.3
19.4
Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten – 426
– 420
19.5
»Red flags« der neurologischen Untersuchung – 429
19.6
Bildgebende Diagnostik – 430
19.7
Elektrophysiologische Diagnostik – 431
19.8 19.8.1 19.8.2 19.8.3
Ultraschalldiagnostik – 431 Neurovaskuläre Ultraschalldiagnostik – 431 Hirnparenchymsonografie – 432 Nervensonografie – 432
19.9
Liquordiagnostik – 432
Erkennen psychogener neurologischer Ausfälle – 428
> > Der gründlichen allgemeinmedizinischen und neurologischen Untersuchung kommt auch in der Psychiatrie wesentliche Bedeutung zu. Aufgrund der engen Überschneidungen zwischen dem neurologischen und psychiatrischen Fachgebiet steht dabei die neurologische Befunderhebung im Vordergrund. Das vorliegende Kapitel enthält die für den Psychiater wichtigsten Techniken. Die allgemeinmedizinische Untersuchung wird demgegenüber nur kurz gestreift. Zu Details sei auf entsprechende Lehrbücher und Manuale verwiesen.
420
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
19.1
Allgemeinmedizinische Untersuchung
Zumindest im stationären, im Einzelfall jedoch auch im ambulanten Rahmen gehört zur psychiatrischen Untersuchung auch eine allgemeinmedizinische Befunderhebung. Das hierfür erforderliche »Minimalprogramm« findet sich in ⊡ Tab. 19.1. Weitere Untersuchungen erfolgen einzelfall- und symptombezogen (z. B. digitale Untersuchung des Afters und der Prostata, Beurteilung des Stütz- und Bewegungsapparates, Inspektion der Ohren).
19.2
Neurologische Untersuchung wacher Patienten
Außerhalb von Notfallsituationen, bei denen sich die neurologische Untersuchung auf die Erhebung von für die unmittelbare Versorgung wesentlichen Befunden beschränken muss ( Abschn. 19.3), empfiehlt sich ein möglichst gleichbleibender Ablauf, da der Untersucher auf diese Weise pathologische Befunde am wenigsten übersieht. Dabei kann der Untersuchungsablauf häufig da-
⊡ Tab. 19.1. »Minimalprogamm« der körperlichen Untersuchung bei psychiatrischen Patienten Untersuchung
Wesentliche Punkte der Befunderhebung
Inspektiona
Allgemein- und Ernährungszustand einschließlich Körperpflege Zustand der Zähne und des Zahnfleisches Farbe, Durchblutung, Turgor und Trophik der Haut (insbesondere Hände und Füße) Verletzungen und Narben am Stamm und den Extremitäten
Lymphknotenb
Zervikale und axilläre Lymphknoten
Brust- und Bauchorgane
Auskultation von Herz, Lunge und Abdomen Tastbefund im Bereich des Abdomens und der Nierenlager (Abwehrspannung, umschriebener Druckschmerz)
Gefäßstatusc
Auskultation der Halsgefäße Seitenvergleichende Tastung der Radialis- und Fußpulse Bestimmung des Blutdrucks – bei seitenunterschiedlichem Pulstastbefund beidseitig – und der Herzrate
19
a b
c
am bis auf die Unterwäsche entkleideten Patienten. wesentliche Bedeutung für systemische neoplastische und entzündliche Erkrankungen (z. B. HIV). einschließlich Anamnese vaskulärer Risikofaktoren (Nikotin, Alkohol, Diabetes mellitus, Übergewicht).
durch zeitgerecht gestaltet werden, dass Ausfälle beim kooperativen Patienten bereits durch entsprechendes Befragen ausgeschlossen werden bzw. Funktionsprüfungen zusammen erfolgen können (z. B. Zeigeversuche zusammen mit dem Romberg-Versuch).
19.2.1
Hirnnerven
Die 12 Hirnnerven geben über die Funktion des Hirnstamms sowie über die peripheren Leitungsbahnen im Bereich des Kopfes Auskunft. Ausfälle der Hirnerven III–IV deuten auf eine Schädigung im Mittelhirn, der Hirnnerven VI–VIII auf eine pontine Läsion hin. Läsionen der Hirnnerven IX–XII sind der Medulla oblongata zuzurechnen. Lediglich der N. trigeminus (N. V) ist aufgrund seines langgestreckten Verlaufs sowohl bei Schädigungen des Pons als auch der Medulla oblongata betroffen. Der Vorschlag eines diagnostischen »Minimalprogamms« zur Untersuchung der Hirnnerven findet sich in ⊡ Tab. 19.2.
Riechvermögen (N. olfactorius) Die ausführliche Prüfung des Geruchssinnes erfolgt durch seitengetrennte Darbietung aromatischer Substanzen (z. B. Kaffee, parfümierte Desinfektionsmittel). Beim wachen, kooperativen Patienten genügt im Allgemeinen die Frage nach Veränderungen in der Wahrnehmung von Umgebungsgerüchen oder von Speisen und Getränken. Wird eine Hypo- oder Anosmie angegeben, sind »Gegenprüfungen« sinnvoll: Schleimhautreizende Substanzen (z. B. Ammoniak, Essigsäure): Sie führen auch bei vollständiger Anosmie zu einem Brennen in der Nase (Versorgung der Nasenschleimhaut über den N. trigeminus). Prüfung des Geschmacksinns: Der Geschmackssinn mit seinen 4 Qualitäten süß, sauer, salzig und bitter wird geprüft. Das Geschmacksempfinden ist nicht dem N. olfactorius zuzuordnen, sondern dessen Bahn verläuft für die Qualitäten süß/sauer/salzig zunächst über den N. trigeminus (R. mandibularis), dann nach »Passage« über die Chorda tympani weiter über den N. facialis. Bittere Geschmacksstoffe werden im hinteren Drittel der Zunge wahrgenommen, die Weiterleitung erfolgt über den N. glossopharyngeus. Zentrale Ausfälle des Geschmackssinnes gehören zu den Raritäten. ! Die Angabe einer kombinierten Geruchs- und Geschmacksstörung (ggf. einschließlich fehlender Wahrnehmung von Trigeminusreizstoffen) ohne entsprechende strukturelle Läsionen im Schädelbereich und ohne Mitbetroffensein weiterer Hirnnerven deutet angesichts der komplexen Nervenversorgung auf eine psychogene Ursache hin.
421 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten
⊡ Tab. 19.2. »Minimalprogramm« einer Routineuntersuchung der Hirnnerven zum Ausschluss einer Hirnnervenläsion Hirnnerv
Funktion
Technik
»Minimalprogramm«
I
Riechvermögen
Anamnese
Veränderter »Geschmack« von Speisen?
II
Sehvermögen Gesichtsfeld
Anamnese Untersuchung
Probleme beim Lesen (trotz Sehhilfe)? 4 Quadranten des Gesichtsfelds
II, III
Pupillomotorik
Untersuchung
Direkte und indirekte Lichtreaktion
III, IV, VI
Okulomotorik
Untersuchung
Augenfolgebewegungen nach allen Richtungen
V
Gesichtssensibilität
Anamnese
Taubes Gefühl im Gesicht und/oder Mund?
VII
Gesichtsmotorik
Untersuchung
Mimische Muskulatur
VIII
Hörvermögen Gleichgewicht
Anamnese Untersuchung
Schlechteres Hörvermögen, Ohrgeräusch? Stand- und Gangsicherheit
IX, X
Schlundmuskulatur
Untersuchung
Hebung des Gaumensegels
XI
Halsmuskulatur
Untersuchung
Kopfdrehung und Schulterhebung, Muskelrelief Hals-/Schultermuskulatur
XII
Zungenmuskulatur
Untersuchung
Herausstrecken der Zunge
Sehvermögen (N. opticus) Die seitengetrennte Testung des Sehvermögens kann mit entsprechenden Visustafeln, im einfachsten Fall durch Verwendung einer Zeitung mit verschiedenen Schriftgrößen erfolgen. Sehprobleme werden von Patienten jedoch auf Befragung meist auch spontan berichtet. Der ophthalmoskopischen Beurteilung des Augenhintergrunds kommt angesichts der verfügbaren Schichtbildgebung (CT, MRT) und mangels der für eine zuverlässige Beurteilung erforderlichen Übung heute nur noch untergeordnete Bedeutung zu.
Gesichtsfeld (N. opticus) Häufig spontan nicht bemerkt werden demgegenüber Gesichtsfeldausfälle. Für eine orientierende Prüfung genügt es, den Patienten zu bitten, auf die Nase des vor ihm stehenden Untersuchers zu sehen, und dann in der Mitte zwischen Patient und Untersucher die Erkennbarkeit von Fingerbewegungen in den 4 Quadranten zu erfragen. Detailliertere Prüfungen sind Aufgabe der augenärztlichen Untersuchung.
Pupillomotorik (N. opticus, N. oculomotorius) Weite und Form der Pupillen sind wichtige Beobachtungsparameter (z. B. Miosis beim Horner-Syndrom), zusätzlich gilt es die direkte und konsensuelle Reaktion auf kurzzeitige Beleuchtung der Pupille z. B. mit einer Taschenlampe zu beurteilen. Die Konvergenzreaktion wird nur bei fehlender Lichtreaktion geprüft. Primär weite Pupillen deuten auf einen hohen Sympathikotonus bzw. auf Medikamenteneffekte hin, sehr enge Pupillen finden sich bei Opiatkonsum oder beim Glaukom. Bei Vorliegen einer Anisokorie sollte zunächst durch Vergleich mit Fotografien (z. B. Passbild) beurteilt werden, ob diese schon länger besteht oder jetzt erst neu aufgetreten ist.
In hellen Räumen genügt häufig das kurzzeitige Verdecken der Augen mit der Hand bei anschließender Beobachtung der Pupillenreaktion nach Wegziehen der Hand. Bei primär bereits eng gestellten Pupillen ist die Lichtreaktion oft schwer zu beurteilen. Hier kann entweder der Raum abgedunkelt oder der Patient gebeten werden nach oben in die zu einem »Sonnendach« geformte Hand des Untersuchers zu blicken.
Okulomotorik (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens) Zwar wird das Bestehen von Doppelbildern meist bereits spontan von den betroffenen Patienten berichtet, trotzdem gehört die Beurteilung der Augenfolgebewegungen auch ohne derartige Klagen zum Standard jeder neurologischen Untersuchung, da hiermit wichtige Informationen zu erhalten sind. Hierzu gehören: Ein disharmonischer Ablauf der Augenbewegungen (»sakkadierte Blickfolge«) ergibt Hinweise auf das Vorliegen einer zerebellären Störung. Das Vorliegen eines – vor allem asymmetrischen – Blickrichtungsnystagmus deutet auf eine Störung des Gleichgewichtssystems hin (s. unten). Er darf nicht mit dem physiologischen, symmetrischen Endstellnystagmus bei Extremstellungen der Augenbulbi verwechselt werden. Ein »Nachhinken« der Adduktion eines Auges bei schnellen Augenfolgebewegungen zeigt eine internukleäre Ophthalmoplegie (»INOP«) durch eine Schädigung der zwischen den verschiedenen Kernen verlaufenden Bahn (»mediales Längsbündel«) an. Eine verminderte vertikale Augenbeweglichkeit kann auf eine supranukleäre Blickparese (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) hindeuten.
19
422
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
Gesichtssensibilität (N. trigeminus) Das Vorliegen von Gefühlsstörungen im Gesicht wird vom wachen und kooperativen Patienten auf Nachfrage stets (ausführlich) beschrieben, so dass sich eine detailliertere Untersuchung im nicht-pathologischen Fall erübrigt. Als objektiver Parameter bei geklagten Sensibilitätsstörungen dienen die seitenvergleichende Prüfung des Kornealreflexes sowie der »Festigkeit« der Kaumuskulatur beim Zusammenbeißen der Zähne, die vom N. trigeminus motorisch versorgt wird. Außerdem ist die unterschiedliche topografische Zuordnung bei zentralen und peripheren Trigeminusläsionen zu berücksichtigen (⊡ Abb. 19.1).
Gesichtsmotorik (N. facialis) Bei der Prüfung der vom N. facialis versorgten mimischen Muskulatur sind gleichermaßen – wenn auch anatomisch nicht ganz korrekt – zentrale und periphere Läsionen zu unterscheiden, bedingt durch die Tatsache, dass die zentralen Fasern zur Innervation der Stirnmuskulatur sowohl zum ipsi- als auch kontralateralen Fazialiskern ziehen. Ein Mitbetroffensein der Stirnmuskulatur sowie eine vorhandene Geschmacksstörung der ipsilateralen vorderen Zungenhälfte (sauer/süß/salzig) deuten demnach auf eine Läsion peripherer Nervenfasern im langen Verlauf des N. facialis hin. ! Von Fazialisparesen abzugrenzen sind nichtpathologische Gesichtsasymmetrien vor allem im Mundbereich, die typischerweise bei Prüfung der einzelnen mimischen Muskeln verschwinden.
Hörvermögen (N. cochlearis) Hörstörungen werden von kooperativen Patienten regelmmäßig spontan berichtet, so dass sich eine seitenvergleichende Prüfung (z. B. leichtes Fingerreiben) im Nor-
malfall erübrigt. Detailliertere Untersuchungen (Weber-, Rinne-Versuch) sind Aufgabe des HNO-Arztes.
Gleichgewicht (N. vestibularis) Zum Nachweis von Störungen des Vestibularapparates (und anderer Formen von Gleichgewichtsstörungen) dienen verschiedene Stand- und Gangprüfungen. Die wichtigsten sind: Romberg-Versuch: Hierbei wird das sichere Stehen mit geschlossenen Augen bei eng zusammenstehenden Füßen geprüft. Verschwindet eine auftretende Schwankneigung bei Ablenkung (z. B. gleichzeitiger Finger-Nase-Versuch), ist dies als eindeutiges Zeichen einer psychogenen Gleichgewichtsstörung zu werten. Unterberger-Versuch: Eine Drehung um mehr als 45° nach Treten auf der Stelle mit geschlossenen Augen deutet auf eine homolaterale Vestibularisstörung hin. Seiltänzergang: Balancieren auf einem imaginären Seil (mit offenen und geschlossenen Augen) stellt bereits hohe Anforderungen an das Gleichgewicht. Einbeinstand: Die sensibelste, vor allem für den Seitenvergleich taugliche Prüfung ist das Stehen auf einem Bein mit – nach Ausbalancieren – geschlossenen Augen. Auch Gesunde schaffen dies kaum länger als 5–10 s.
Schlundmuskulatur (N. glossopharyngeus, N. vagus) Routinemäßig beurteilt wird die symmetrische Hebung des Gaumensegels bei Phonation (Cave: Asymmetrien nach Tonsillenoperation). Die seitenvergleichende Prüfung des Würgreflexes kann, da von Patienten häufig als sehr unangenehm empfunden, auf die Fälle beschränkt werden, bei denen sich aufgrund einer heiseren oder nä-
1 2 3 19 ⊡ Abb. 19.1. Unterschiedliche Verteilung von Sensibilitätsstörungen im Gesicht bei peripheren (links) und zentralen (rechts) Trigeminusläsionen. 1 N. ophthalmicus, 2 N. maxillaris, 3 N. mandibularis
423 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten
selnden Sprache (N. recurrens des N. vagus) bzw. berichteter Schluckstörungen klinische Anhaltspunkte für eine mögliche Störung der Schlundmotorik ergeben.
Halsmuskulatur (N. accessorius) Auch hier erscheint eine detailliertere Prüfung der Kopfwendung (M. sternocleidomastoideus) und der Schulterhebung (M. trapezius) nur erforderlich, wenn sich bei der Beobachtung der Spontanmotorik entsprechende Hinweise ergeben bzw. (asymmetrische) Atrophien der Schultergürtelmuskulatur erkennbar sind.
Zungenmuskulatur (N. hypoglossus) Isoliertes Abweichen der Zunge oder fehlendes Herausstrecken auf Aufforderung hat nicht selten eine psychogene Ursache. Bei Bestehen über mehr als einige Tage hinaus sind Störungen der Zungenmotorik daher nur dann als pathologisch zu werten, wenn sich gleichzeitig eine (einseitige) runzlige Atrophie der Zunge abgrenzen lässt.
19.2.2
Reflexe
Eine ausführliche Prüfung der Reflexe gehört zum »Standardprogramm« jeder neurologischen Untersuchung, da diese – im Vergleich zu vielen anderen Prüfungen – weitgehend von der Kooperation des Patienten unabhängig sind und daher als objektive Parameter Bedeutung besitzen. Unterschieden werden Eigen- und Fremdreflexe.
Muskeleigenreflexe Routinemäßig zu prüfen sind: Bizepssehnenreflex (BSR), Trizepssehnenreflex (TSR), Patellarsehnenreflex (PSR) und Achillessehnenreflex (ASR) (⊡ Tab. 19.5). Bei nicht auszulösenden Eigenreflexen sollte stets eine Fazilitation durch Bahnung (Jendrassik-Handgriff) versucht werden (Armeigenreflexe: Zähne zusammenbeißen; Beineigenreflexe: Auseinanderziehen der Hände). Im Einzelfall weitere wichtige Muskeleigenreflexe sind: Radiusperiostreflex (RPR): Schlag auf das distale Drittel des Radius in Mittelstellung zwischen Pronation und Supination. Der RPR kann sehr gut im Seitenvergleich geprüft werden und gibt ggf. Hinweise auf das Vorliegen einer Radialisparese. Trömner-Reflex: Beobachtung der Daumenbeugung nach schnellender Bewegung von volar gegen die Fingerkuppen II–V. Dieser Reflex ist nur inkonstant bei hohem Reflexniveau auslösbar, eignet sich dann jedoch hervorragend für den Seitenvergleich. Adduktorenreflex: Adduktion der Beine bei Schlag auf die Innenseite des Kniegelenks. Ein »Übersprechen« auf die kontralaterale Seite deutet auf ein Betroffensein »langer motorischer Bahnen« (Pyramidenbahnschädigung) hin.
Fußklonus: Hierbei handelt es sich um eine rhythmische Folge von Eigenreflexen der Wadenmuskulatur, ausgelöst durch ruckartige Dorsalbewegung des Fußes. Bei lebhaftem Reflexniveau ist die Zahl der Zuckungen bis zum Abklingen (»erschöpflicher« Fußklonus) hervorragend für den Seitenvergleich geeignet, ein »unerschöpflicher« Fußklonus ist so gut wie immer Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung. Das wichtigste Beurteilungskriterium der Muskeleigenreflexe sind Seitenunterschiede, wobei asymmetrisch auslösbare Reflexe zunächst nichts darüber aussagen, ob diese auf einer Seite aufgrund einer peripheren Nervenläsion abgeschwächt oder auf der anderen Seite aufgrund einer Schädigung zentraler langer Bahnen (Pyramidenbahnläsion) pathologisch gesteigert sind. Einschätzungen sind daher nur im klinischen Gesamtkontext möglich. Zu beachten sind auch Unterschiede zwischen Arm- und Beineigenreflexen. Sind letztere wesentlich lebhafter auslösbar als die Reflexe an den Armen, kann dies auf eine Schädigung des thorakalen Rückenmarks hinwiesen. ! Klinische Bedeutung der Muskeleigenreflexe: Steigerung = Zentrale Läsion (Gehirn oder Rückenmark), Abschwächung = Periphere Läsion (Nervenwurzel oder peripherer Nerv).
Fremdreflexe Im Gegensatz zur monosynaptischen Auslösung der Muskeleigenreflexe ist der Reflexbogen hier polysynaptisch, d. h. ein taktiler Reiz führt – erschöpflich (!) – zu einer motorischen Antwort. Die wichtigsten Fremdreflexe sind: Bauchhautreflexe: Symmetrisch in allen Etagen nicht auslösbaren Bauchhautrreflexen (Segmente Th5– Th12) kommt keine Bedeutung zu. Einseitig nicht auslösbare Bauchhautreflexe sind jedoch ein sehr sensibles Zeichen für das Vorliegen einer zentralen Schädigung. Eine geklagte Hemihypästhesie bei gut auslösbaren, symmetrischen Bauchhautreflexen deutet auf eine psychogene Störung hin. Kremasterreflex: Beim Mann führt Bestreichen der Innenseite des Oberschenkels zur Hebung des gleichseitigen Hodens (M. cremaster). Analreflex: Bei angegebenen Mastdarmstörungen und (artefiziell?) vermindertem Analsphinktertonus schließt ein auslösbarer Analreflex eine relevante Kaudasymptomatik aus, ist allerdings nur inkonstant auslösbar. Babinski-Reflex: Definitionsgemäß immer pathologisch ist ein positiver Babinskireflex als Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung. Bei fehlender Sensibilität der Fußsohle z. B. im Rahmen einer Polyneuropathie (»stumme Sohle«) kann dieser jedoch auch fehlen.
19
424
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.3. Wichtigste Formen von Spontanbewegungen der Muskeln Begriff
Bewegungseffekt
Vorkommen
Fibrillieren
Zuckungen einzelner Muskelfasern, optisch nur an der Zunge sichtbar, ansonsten im EMG nachweisbar (»Spontanaktivität«)
Wie Faszikulieren
Faszikulieren
Sichtbare Zuckungen von wechselnden Muskelfaserbündeln (Faszikeln) ohne Bewegungseffekt
Bei Schädigung des peripheren motorischen Neurons, jedoch auch »benignes« Faszikulieren möglich
Myoklonien
Nichtrhythmische, blitzartige Kontraktionen von Muskeln mit Bewegungseffekt
Physiologisch als »Einschlafmyoklonien«, familiär, bei verschiedenen Hirnkrankheiten
Hyperkinese
Schnelle, unwillkürliche Bewegungen
Chorea, Medikamentenüberdosierung bei Parkinson, Neuroleptika
Athetose
Langsame, »wurmartige« Bewegungen
Schädigung der Basalganglien
19.2.3
Motorik
Bei der Prüfung der Motorik kommt der Beobachtung des Patienten herausragende Bedeutung zu. Die detaillierte Muskelprüfung dient oft lediglich der Quantifizierung der bereits festgestellten Befunde. Wesentliche Kriterien der Beobachtung sind: Muskelatrophien (z. B. isolierte Atrophie eines Muskels bei peripherer Nervenläsion, Inaktivitätsatrophie einer gesamten Gliedmaße bei Schonhaltung, »Storchenbeine« bei Polyneuropathie); Spontanbewegungen der Muskulatur: Hierbei sind die in ⊡ Tab. 19.3 genannten Formen zu unterscheiden; Stand- und Gangbild (z. B. hinkender Gang mit steif gehaltenem Bein bei psychogener Parese, demgegenüber zirkumduzierender »Wernicke-Mann-Gang« bei spastischer Parese); Bewegungsmuster (z. B. vermindertes Mitschwingen eines Armes beim Hemiparkinson, eng an den Körper angepresster Arm bei psychogener Parese, Vernachlässigung einer Seite bei Neglekt).
Zentrale motorische Störung
19
Zum Ausschluss bzw. zur Sicherung einer zentralen Parese gilt es vor allem komplexe muskelübergreifende Bewegungen zu untersuchen, während die detaillierte Prüfung einzelner Muskeln (⊡ Tab. 19.5) wenig Sinn macht. Die Angabe des Kraftgrades (⊡ Tab. 19.4) sollte sich demnach auch lediglich auf muskelübergreifende Funktionen beschränken (z. B. 0/5 Handfunktion). Die Untersuchung umfasst hauptsächlich folgende Punkte: Muskeltonus: Das Vorhandensein einer vor allem bei ruckartigen passiven Bewegungen auftretendenden spastischen Tonuserhöhung weist auf eine Schädigung der Pyramidenbahn hin, während ein »wächserner« Rigor Ausdruck einer extrapyramidalen Bewegungsstörung (z. B. Parkinson, Medikamenteneffekt) ist.
⊡ Tab. 19.4. Beurteilung des Kraftgrades bei radikulären und peripheren Nervenläsionen Kraftgrad
Ergebnis
0
Fehlende Muskelkontraktion
1
Eben sichtbare Muskelanspannung
2
Bewegung bei Ausschaltung der Schwerkraft
3
Bewegung gegen Schwerkraft
4
Aktive Anspannung gegen mäßigen Widerstand
5
Normale Kraftentfaltung
Vorhalteversuche: Eine Absinktendenz beim Armvorhalteversuch mit Pronation weist auf eine zentrale Parese hin. Fehlt die Pronation, ist an eine psychogene Parese zu denken. Bewegungskoordination: ( Abschn. 19.2.5).
Periphere motorische Störung Radikuläre und periphere Nervenläsionen führen zu umschriebenen schlaffen Paresen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen, der Kraftgrad der betroffenen Muskeln ist nach der international üblichen Skala (z. B. Armbeugung 3/5) zu bewerten (⊡ Tab. 19.4). Die Kennmuskeln bzw. Muskelfunktionen radikulärer und peripherer Nervenläsionen finden sich in ⊡ Tab. 19.5. Durch gezielte Selektion geeigneter Funktionsprüfungen lässt sich auf diese Weise schnell eine Untersuchung aller wichtigen Nervenwurzeln und peripheren Nerven durchführen.
19.2.4
Sensibilität
Unter klinischen Gesichtspunkten sind aufgrund der unterschiedlichen anatomischen Bahn 2 Arten der Sensibilität zu unterscheiden:
425 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten
⊡ Tab. 19.5. Wichtigste Kennmuskeln und Reflexe zervikaler und lumbosakraler Nervenwurzeln und peripherer Nerven Zervikale Nervenwurzeln Segment
Kennfunktion
Reflex
C5
Abduktion in der Schulter
Deltoideusreflex, BSR
C6
Armbeugung im Ellbogen
BSR, RPR
C7
Armstreckung im Ellbogen
TSR
C8
Kleinfingerabduktion
Trömner-Reflex
schiedlichem Aufwand zur Verfügung (z. B. Berührungsempfindung mit einem Wattestäbchen, Lageempfindung in Gelenken, Erkennen von auf die Haut geschriebenen Zahlen, Vibrationsempfindung). Aufgrund der Möglichkeit zur Quantifizierung besitzt vor allem die Beurteilung der Vibrationsempfindung mit der skalierten Stimmgabel Bedeutung z. B. bei der Verlaufsbeobachtung diabetischer Polyneuropathien. Die Untersuchung unterliegt jedoch der Kooperation des Untersuchten, was zu berücksichtigen ist. Temperatur- und Schmerzempfindung. Temperatur- und
Periphere Armnerven Nerv
Kennfunktion
Reflex
N. axillaris
Abduktion in der Schulter
Deltoideusreflex
N. musculocutaneus
Armbeugung (supiniert)
BSR
N. medianus
Daumenopposition
–
N. radialis
Daumenstreckung
RPR
N. ulnaris
Kleinfingerabduktion
–
Lumbosakrale Nervenwurzeln Segment
Kennfunktion
Reflex
L2
Hüftbeugung
Kremasterreflex
L3
Hüftadduktion, (Kniestreckung)
PSR
L4
Fußhebung
PSR
L5
Großzehenhebung, Hüftabduktion
Tibialis-posteriorReflex
S1
Fußsenkung
ASR
S2–5
Analsphinkter
Analreflex
Schmerzempfindung mit Kreuzung zur Gegenseite bereits auf der entsprechenden Rückenmarksebene und Verlauf über die kontralateralen Tractus spinothalamici. Für eine orientierende Temperaturprüfung im Seitenvergleich bzw. zum Vergleich verschiedener Körperteile genügt die Verwendung eines hinreichend kalten Metallteils (z. B. Reflexhammer) oder einer Mineralwasserflasche. Detaillierte Prüfungen erfordern z. B. Reagenzgläser mit unterschiedlich temperiertem Wasser. Die Schmerzempfindung kann unschwer mit einer Nadel geprüft werden, wobei sich die »Spitz-stumpf-Empfindung« gleichermaßen wie das oben genannten Zahlenschreiben für eine »Forced Choice«-Untersuchung zur Erkennung psychogener Sensibilitätsstörungen eignet (s. Übersicht unter Abschn. 19.4). Beim wachen, kooperativen Patienten kann die Untersuchung sehr reduziert durchgeführt werden, da umschriebene Sensibilitätsstörungen letztlich vom Betroffenen besser als bei jeder Untersuchung bemerkt werden. Lediglich sich langsam entwickelnde Störungen der Tiefensensiblität (z. B. bei Polyneuropathie) entgehen der Beobachtung und müssen zusätzlich erfragt werden (Unsicherheit beim Gehen im Dunkeln und/oder auf unebenem Boden). Gleiches gilt für – bei Syringomyelien häufig bereits seit Kindheit bestehenden – Störungen der Schmerz- und Temperaturempfindung, die dann meist jedoch mit Verbrennungsnarben und sonstigen Verletzungsfolgen einhergehen.
Periphere Beinnerven Nerv
Kennfunktion
Reflex
N. femoralis
Kniestreckung
PSR
N. peroneus
Fußhebung
–
N. tibialis
Fußsenkung
ASR
N. obturatorius
Hüftadduktion
Adduktorenreflex
Oberflächen- und Tiefensensibilität. Oberflächen- und Tiefensensibilität mit ipsilateralem Verlauf über die Hinterstänge nach kranial bis zum Hirnstamm (erst dort erfolgt die Kreuzung zur Gegenseite). Für die Prüfung steht ein beachtliches Arsenal an Möglichkeiten mit unter-
19.2.5
Bewegungskoordination
Koordination ist die Zusammenfassung von einzelnen Innervationen zu geordneten, fein dosierten oder zielgerichteten Bewegungen. Die Untersuchung umfasst im Wesentlichen folgende Elemente: Beobachtung eines vorhandenen Tremors (⊡ Tab. 19.6); Zeigeversuche mit Finger-Nase- und Knie-HackenVersuch. Konstantes Vorbeizeigen deutet auf eine psychogenes Geschehen hin; Prüfung der Feinmotorik vor allem durch Beobachtung des Auf- und Zuknöpfens der Kleidung;
19
426
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.6. Wichtigste Tremorformen
⊡ Tab. 19.7. Orientierende Einteilung von Sprach- und Sprechstörungen
Tremor
Symptomatik
Ursache Störung
Leitsymptome
Expressive Sprachstörung
Wortfindungsstörungen, Wortverwechslungen (Paraphasien), Beschränkung auf Einfachsätze (Agrammatismus), gestörter Sprachfluss
Essenzieller (familiärer) Tremor
Rezeptive Sprachstörung
Gestörtes Sprachverständnis, Entwicklung einer »Privatsprache« mit Wortneubildungen (Neologismen) bei ungestörtem Sprachfluss
Zitterbewegungen kurz vor Erreichen eines Ziels (z. B. Finger-Nase-Versuch)
Zerebelläre Schädigung
Artikulationsstörung
Verwaschene, unartikulierte Sprache bei erhaltener Wortwahl
Gemischter Tremor
Nicht an bestimmte Aktionen gebundener Tremor
Alkoholentzugstremor
Flattertremor (flapping tremor)
Langsamer (1–3/s), meist grobschlägiger Tremor (»Flügelschlagen«)
Hepatische oder urämische Enzephalopathie
Ruhetremor
Vor allem in Ruhe bestehender Antagonistentremor (»Pillendrehertremor«) mit Verstärkung bei Emotionen
ParkinsonSyndrom
Haltetremor
Zittern beim Halten von Gegenständen, jedoch auch Kopf(Halte)tremor, Besserung unter Alkohol
Intentionstremor
Prüfung der Diadochokinese, d. h. der Fähigkeit zu rasch aufeinander folgenden Bewegungen, durch z. B. »Klavierspielen« oder »Einschrauben einer Glühbirne«; Stand- und Gangprüfungen wurden bereits bei der Prüfung des Gleichgewichts beschrieben.
19.2.6
19
Sprache
Bei Vorliegen von Auffälligkeiten des Sprachverständnisses und/oder der Sprache gilt es, diese – soweit allein aufgrund der Exploration ohne entsprechende Sprachtests möglich – charakteristischen pathologischen Mustern zuzuordnen. Sprachstörungen (Aphasien) werden im deutschen Sprachraum üblicherweise in 4 Haupttypen (amnestische Aphasie, Broca-Aphasie, Wernicke-Aphasie, globale Aphasie) eingeteilt. Aufgrund der häufig bestehenden Überschneidungen erscheint es in der klinischen Praxis sinnvoller, lediglich die ICD-10-Unterteilung zu verwenden, die in (eher) expressive oder rezeptive Sprachstörungen unterscheidet (⊡ Tab. 19.7). Zusätzlich gilt es, Sprachstörungen von Sprechstörungen (Dysarthrie, Dysarthrophonie, Artikulationsstörung) aufgrund einer Koordinationsstörung der Sprechmuskulatur abzugrenzen. Es versteht sich von selbst, dass Mischformen jeder Art bis hin zur oben genannten »globalen« Aphasie auftreten können.
19.3
Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten
Bei der Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten mit entsprechend fehlender Kooperation sind die meisten der in Abschn. 19.2 genannten Untersuchungstechniken nicht einsetzbar. Zusätzlich handelt es sich regelmäßig um Notfallsituationen, bei denen weniger die Vollständigkeit der Untersuchung als das schnelle Ziehen diagnostischer und/oder therapeutischer Konsequenzen im Vordergrund steht. Die Notfalluntersuchung beinhaltet daher einige wenige, für die weitere Versorgung jedoch entscheidende diagnostische Maßnahmen (⊡ Tab. 19.8). Vom Rettungsdienst gebrachte Patienten bringen regelmäßig ein Notarztprotokoll mit, auf dem neben Angaben zur kardiopulmonalen Situation beim Erstkontakt auch eine Einschätzung nach der Glasgow Coma Scale
⊡ Tab. 19.8. Notfalluntersuchung bewusstseinsgestörter Patienten Fremdanamnese
Notarzt, Notarztprotokoll, Angehörige Einnahme von Medikamenten
Beobachtung
Verletzungszeichen, Hautturgor und -farbe, kardiopulmonale Parameter, Einstichstellen, Atemgeruch
Tiefe der Bewusstseinsstörung
Reaktion auf Ansprache und Schmerzreize
Neurologische Untersuchung
Nackensteifigkeit Hirnstammfunktionen Beurteilung motorischer Funktionen Reflexstatus
Notfall-Labor
Elektrolyte, Blutzucker, Kreatinin, GPT, CK, kleines Blutbild, Gerinnung, ggf. Blutgase
19
427 19.3 · Untersuchung bewusstseinsgestörter PAtienten
vorliegt (⊡ Tab. 19.9), so dass sich hieraus erste diagnostische Schlüsse ziehen lassen. Wesentliche Bedeutung kommt auch Angaben zur Einnahme von Medikamenten aufgrund der Notarztbeobachtung bzw. der Rückfrage bei Angehörigen zu. Die körperliche Notfalluntersuchung umfasst neben einer eingehenden Inspektion eine Einschätzung der Tiefe der Bewusstseinsstörung (⊡ Tab. 19.10) sowie eine auf wenige Parameter beschränkte neurologische Untersuchung.
⊡ Tab. 19.9. Glasgow Coma Scale (GCS) zur Beurteilung bewusstseinsgestörter Patienten Untersuchungsparameter Augenöffnen
Verbale Reaktion
Motorische Reaktion
Reaktion
Punkte
Spontan
4
Nach Aufforderung
3
Auf Schmerzreize
2
Kein Augenöffnen
1
Orientiert
5
Verwirrt
4
Inadäquat
3
! Die Untersuchung auf einen bestehenden Meningismus gehört bei geklagten Kopfschmerzen und/oder bewusstseinsgetrübten Patienten zu den zwingend zu erhebenden und dokumentierenden Befunden.
2
Hirnstammfunktionen
Keine verbale Reaktion
1
Kommt Aufforderungen angemessen nach
6
Wesentliche Bedeutung kommt der Untersuchung der sog. Hirnstammreflexe zu, die unabhängig von der Kooperation des Patienten zu untersuchen sind und Aufschlüsse über die Lokalisation und Ausdehnung einer Hirnstammschädigung geben (⊡ Tab. 19.11). Neben den bereits in Abschn. 19.1 beschriebenen Funktionen gehört hierzu auch die Prüfung des okulozephalen Reflexes. Dieser wird durch schnelles Drehen oder Kippen des Kopfes geprüft. Beim wachen, jedoch auch beim hirntoten Patienten bleiben die Augen während dieses Tests ohne Reaktion in ihrer Ausgangsstellung. Bei komatösen, nicht hirntoten Patienten kommt es demgegenüber zu einer langsamen Gegenbewegung der Augen. Hieraus resultiert der Name des »Puppenkopfphänomens«.
Nur halbseitig
5
Normale Beugung z. B. auf Schmerzreize
4
Abnorme Beugungsbewegung
3
Strecken
2
Keine Reaktion
1
(quantitativen) Bewusstseinsstörungen Begriff
Leitsymptome
Somnolenz
Schläfrigkeit, jedoch Weckbarkeit auf Anrufe und/oder leichte Schmerzreize
Sopor
Tiefschlafähnlicher Zustand, der durch erhebliche Außenreize kurz unterbrochen werden kann
Koma Grad II
Die Beurteilung eines Meningismus als Leitsymptom einer akut entzündlichen Hirnerkrankung oder einer Subarachnoidalblutung gehört zu den unverzichtbaren Bestandteilen der Untersuchung bei bewusstseinsgetrübten Patienten und/oder bei akutem Kopfschmerz, und auch das Nicht-Vorliegen eines solchen sollte aus forensischen Gründen zwingend dokumentiert werden. Differenzialdiagnostische Probleme ergeben sich in 2 Situationen: 1. Bei komatösen Patienten kann trotz Vorliegen einer meningealen Reizung die reflektorische Muskelverkrampfung nicht mehr nachweisbar sein, so dass in diesem Fall keine Aussage möglich ist. 2. Bei schmerzhafter Blockierung der Halswirbelsäule kann ein »Pseudo-Meningismus« bestehen. Die schmerzhafte Muskelanspannung zeigt sich jedoch typischerweise dann nicht nur bei der Nackenbeugung, sondern auch bei Rotation des Kopfes.
Unverständlich
⊡ Tab. 19.10. Neurologische Einschätzung der Tiefe von
Koma Grad I
Nackensteife
Auf Schmerzreize konstant gezielte Abwehrbewegungen Auf Schmerzreize konstant ungezielte Abwehrbewegungen
⊡ Tab. 19.11. Prüfung der Hirnstammreflexe bei Bewusstlosen Hirnstammreflex
Hirnnerv
Pupillenweite und -reaktion
II, III
Okulozephaler Reflex (»Puppenkopfphänomen«)
III–VIII
Kornealreflex
V, VII
Koma Grad III
Auf Schmerzreize inkonstant Bewegungen, vor allem Beuge- und Strecksynergismen
Reaktion auf Schmerzreize im Trigeminusbereich
V
Koma Grad IV
Keine Reaktion auf Schmerzreize
Trachealreflex (Würgreiz)
IX, X
428
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.12. Synopsis der Symptomatik bei der Entwicklung von Hirnstammsyndromen Mittelhirnsyndrom 1
Bulbärhirnsyndrom 2
3
4
1
2
Komatiefe
Somnolent
Soporös
Koma
Koma
Koma
Koma
Spontanmotorik
+
(+)
–
–
–
–
Schmerzreize
+
+
Streckung
Beugung
–
Babinski
–
+
+
+
(+)
–
Pupillenweite
Eng
Mittelweit
Weit
Lichtreaktion
+
+
(+)
(+)
–
–
Bulbusstellung
Konvergenz
Divergenz
Divergenz
Divergenz
–
–
Bulbusbewegungen
Schwimmend
–
–
–
–
–
Okulozephaler Reflex
–
+
+
–
–
–
Kornealreflex
+
+
+
(+)
(+)
–
Trachealreflex
+
+
+
+
(+)
–
Atmung
Cheyne-Stokes
Schnappatmung
–
–
–
–
+ = vorhanden; (+) = eingeschränkt bzw. fraglich; – = fehlend
Beurteilung motorischer Funktionen Bei bewusstseinsgestörten, jedoch nicht tief komatösen Patienten kommt es bei Setzen von Schmerzreizen zu motorischen Reaktionen, die indirekt Aufschluss über bestehende Paresen geben. Ausnahmen sind hier die – an ihrem uniform reproduzierbaren Auftreten erkennbaren – Beuge- und Streckbewegungen der Arme und/oder Beine auf Schmerzreize (»Synergismen«), die Folge einer spinalen Enthemmung sind und typisches Merkmal tiefer Mittelhirnsyndrome sind (⊡ Tab. 19.12).
Reflexstatus Insbesondere in der Erkennung von Halbseitensymptomen kommt auch der Prüfung der Eigen- und Fremdreflexe wesentliche Bedeutung zu. Das Auftreten eines beidseitigen Babinski-Reflexes spricht beim bewusstseinsgestörten Patienten für eine generalisierte Hirnstammläsion z. B. im Rahmen einer Basilaristhrombose, beim wachen Patienten für eine Rückenmarkläsion. Ein einseitiger Babinski-Reflex lässt demgegenüber an eine umschriebene Hirnläsion denken.
Atmung
19
Selbstverständlicher Bestandteil der Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten ist die Beurteilung der Atmung einschließlich einer Blutgasanalyse bzw. zumindest einer Bestimmung der Sauerstoffsättigung des Bluts. Das Auftreten insuffizienter Atmungsformen (⊡ Tab. 19.12) erfordert ggf. eine kontrollierte Beatmung.
19.4
Erkennen psychogener neurologischer Ausfälle
Psychogene neurologische Symptome sind bemerkenswert häufig, und es gibt so gut wie kein neurologisches Beschwerdebild, das nicht auch psychogen verursacht sein kann. Die Differenzierung psychogener von körperlich begründbaren neurologischen Ausfällen stellt für den Untersucher stets eine erhebliche Herausforderung dar. Die Angst vor dem Übersehen einer »echten« Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems führt häufig zu umfangreichen Abklärungen, die dissoziative Störungen weiter »zementieren« und eine erfolgreiche Behandlung erschweren können. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, die wichtigsten differenzialdiagnostischen Kriterien zu kennen, um möglichst frühzeitig eine entsprechende Verdachtsdiagnose stellen zu können. Charakteristische Befunde bei allen Formen psychogener neurologischer Ausfälle sind: Widerspruch zwischen geltend gemachten Symptomen und objektiven Untersuchungsbefunden, fehlende Übereinstimmung mit den bekannten anatomischen Bahnen und physiologischen Mechanismen aufgrund der laienhaften Vorstellungen des Patienten von einer körperlichen Erkrankung, auffällige Gleichgültigkeit gegenüber der Störung im Sinne einer »belle indifférence« (allerdings nur bei einem Teil der Betroffenen). Darüber hinaus zeigt die nachfolgende Übersicht eine Synopsis der für die Differenzialdiagnose wichtigsten Befunde bei klinisch häufigen dissoziativen Symptomkonstellationen.
429 19.5 · »Red flags« der neurologischen Untersuchung
Charakteristische Befunde bei psychogenen neurologischen Symptomen Psychogene Bewusstseinsstörungen Normale Atmungs- und Kreislaufparameter Regelmäßige Schluckbewegungen am Kehlkopf
Aktiver Widerstand beim passiven Öffnen der Augenlider
Fehlender okulozephaler Reflex (⊡ Tab. 19.11)
Normales EEG
Psychogene Anfälle Regellose, ausfahrende »Krampfbewegungen«
Keine weite lichtstarre Pupille oder Blickdeviation
Erhaltener Kornealreflex (Blinzelreflex) Fehlen von Blutdruckspitzen oder Zyanose Zungenbiss sehr selten, dann jedoch eher multipel oder an der Zungenspitze
Einnässen und Einkoten nur sehr selten Normales EEG während und kurze Zeit nach dem Anfall
Normaler Prolaktinspiegel im Blutserum 15–30 min nach dem Anfall
Zeitlicher Zusammenhang zwischen den Anfällen und belastenden Situationen
Psychogene Sehstörungen Häufig Verlust der Sehschärfe, Abnahme der Tiefenschärfe, Verschwommen- oder »Tunnelsehen«, selten komplette Blindheit Beim »Tunnelsehen« fehlende Gesichtsfeldzunahme bei größerer Entfernung Häufig gute Orientierung im Raum trotz geklagter Sehstörung Erhaltene Pupillomotorik Erhaltener optokinetischer Nystagmus (Fixieren eines Objektes im bewegten Gesichtsfeld) Unauffällige visuell evozierte Potenziale (ggf. Halb- und Viertelfeldreizung) Psychogene Lähmungen Unauffällige Muskeleigenreflexe, fehlende Pyramidenbahnzeichen Unauffälliger Muskeltonus
19.5
»Red flags« der neurologischen Untersuchung
Neben den einzelnen Untersuchungsbefunden sollten jedem Psychiater auch die kritischen Befundkonstellationen (»red flags«) geläufig sein, die unverzüglich (!)
Fehlen von Muskelatrophien (bei längerem Bestehen bedeutsam)
Bei inkompletten Lähmungen sakkadierter Einsatz der Muskelkraft
Übertrieben wirkende Kraftanstrengungen bei Muskelprüfungen
Aufgehobene Lähmungen im Schlaf und bei Routinetätigkeiten Nach Halten und anschließendem plötzlichen Loslassen fällt die Extremität beim liegenden Patienten nicht den Erwartungen der Schwerkraft entsprechend (z. B. auf das Gesicht) und auch nicht sofort herab Bei Ablenkung synergistische Mitinnervation angeblich gelähmter Muskeln Gleichzeitige Aktivierung agonistischer und antagonistischer Muskelgruppen Unauffällige magnetisch evozierte Potenziale (beweisend) Psychogene Sensibilitätsstörungen Abgrenzung der Sensibilitätsstörung entspricht nicht dem Muster einer radikulären oder peripheren Nervenläsion (meist handschuh- bzw. strumpfförmig, den Begrenzungen von Kleidungsstücken entsprechend) Bei halbseitigen Sensibilitätsstörungen strenge Mittellinienbegrenzung Adäquates Betasten von Gegenständen trotz angegebener völliger Gefühllosigkeit Vermehrt Fehlantworten bei schnell wechselnden »Forced-choice-Prüfungen« (z. B. regelmäßig spitz als stumpf und stumpf als »gar nichts gespürt« angegeben) Unauffällige somatosensibel evozierte Potenziale (beweisend bei guter Reproduzierbarkeit) Psychogene Gleichgewichtsstörungen Häufig wild gestikulierende Ausgleichsbewegungen So gut wie keine Stürze mit Verletzungen Unsicherheit beim Stehen mit geschlossenen Augen verschwindet bei Ablenkung (z. B. gleichzeitig durchgeführte Zeigeversuche)
Anlass zu weiteren diagnostischen Maßnahmen und/oder zur Heranziehung eines Fachneurologen geben sollten, da in diesen Fällen durch schuldhaftes Zögern möglicherweise deletäre Folgen entstehen können. Die wichtigsten dieser Befundkonstellationen finden sich in ⊡ Tab. 19.13.
19
430
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.13. Kritische Befundkonstellationen (»red flags«) mit der Erfordernis unverzüglicher diagnostischer und/oder therapeutischer Maßnahmen Symptomkonstellation
Verdachtsdiagnose
Mögliche Konsequenzen
Akute Bewusstseinsstörung Mit Ateminsuffizienz
Variable Ursachen
Maschinelle Beatmung
Mit beidseits positivem Babinski-Reflex
Basilaristhrombose
Lysetherapie
Mit anhaltenden motorischen Entäußerungen (ggf. auch nur Nesteln oder Schmatzen)
(Komplex-fokaler) Anfallsstatus
Antiepileptika, ggf. Narkose
Mit Meningismus
Meningitis/Subarachnoidalblutung
Antibiotikatherapie/Aneurysmaausschaltung
Mit Krampfanfall
Sinusvenenthrombose
Antikoagulation
Mit Entzündungszeichen und/oder Meningismus
Herpesenzephalitis
Virustatika
Mit Störung der Okulomotorik und/oder Sehstörungen
Basilaristhrombose (Basilarisspitzensyndrom)
Lysetherapie
Akute Halbseitenlähmung
Hirninfarkt/-blutung
Lysetherapie nach Ausschluss einer Hirnblutung/operative Entlastung
Umschriebener Rückenschmerz mit erhöhtem CRP im Labor
Abszess im Bereich der Wirbelsäule
Antibiotikatherapie/operative Entlastung
Aufsteigende Beinschwäche mit Verlust der Muskeleigenreflexe
Polyradikulitis
Maschinelle Ventilation bei Ateminsuffizienz/Immunglobuline
Akute Blasen-/Mastdarmstörung
Rückenmarks-/Kaudaläsion
Operative Entlastung
Akuter Kopfschmerz
Psychotische Symptome
Sonstige Symptome
19.6
Bildgebende Diagnostik
Die Kernspintomografie (MRT) einschließlich der damit verbundenen Gefäßdiagnostik (MRA) ist heute Methode der Wahl zur Erkennung bzw. zum Ausschluss der meisten neurologischen Störungen. Die (native) Computertomografie (CT) ist dem gegenüber nurmehr bei bestimmten Indikationen sowie in Notfallsituationen von
Bedeutung (nachfolgende Übersicht). Röntgen-Kontrastmitteluntersuchungen (digitale Subtraktionsangiografie, Myelografie, Kontrastmittel-CT) spielen in der Routinediagnostik kaum mehr eine Rolle und sollten aufgrund der möglichen Gefährdung des Patienten nur nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden, wenn andere Methoden nicht einsetzbar sind. Zu Details Kap. 25.
Wichtigste Indikationen zur Durchführung von CT-Untersuchungen von Kopf und Wirbelsäule Notfalldiagnostik Untersuchungen bei unruhigen Patienten Beurteilung knöcherner Strukturen (z. B. Schädelknochen, kraniozervikaler Übergang, Wirbelsäule) Generelle MRT-Kontraindikation [Herzschrittmacher, ferromagnetische Teile im Körper; nichtmagnetische Metalle (z. B. Aneurysma-Clips) stellen keine Kontra-
19
indikation dar, können jedoch aufgrund von Artefakten ggf. die Beurteilung unmöglich machen] Beantwortung spezieller Fragen (z. B. äußere und innere Liquorräume, Atrophiezeichen) Kontrastmitteldarstellung des Spinalraums (»MyeloCT«)
431 19.8 · Ultraschalldiagnostik
19.7
Elektrophysiologische Diagnostik
Die verschiedenen Methoden der elektrophysiologischen Diagnostisk (⊡ Tab. 19.14) ermöglichen insbesondere bei klinisch unklarer Symptomatik eine umfassende Beurteilung der Funktion des zentralen und peripheren Nervensystems. Zu Details der Elektroenzephalografie Kap. 24.
19.8
Ultraschalldiagnostik
19.8.1
Neurovaskuläre Ultraschalldiagnostik
Die Ultraschalldiagnostik in Form der extra- und transkraniellen Duplexsonografie hat mit den heute zur Verfügung stehenden Geräten ein hohes diagnostisches Niveau erreicht. Insbesondere in Ergänzung zur Magnetresonanzangiografie (MRA) ist damit eine zuverlässige Er-
⊡ Tab. 19.14. Methoden der elektrophysiologischen Diagnostik mit ihren wichtigsten Beurteilungskriterien und Problemen Elektroenzephalografie (EEG) Ziel
Erkennung und Differenzierung zerebraler Krampfanfälle, diffuser Hirnfunktionsstörungen sowie Schlafstörungen, Einsatz in der sog. »Hirntoddiagnostik«
Technik
Ableitung der Hirnpotenziale mit Oberflächen-, im Einzelfall auch Nadelelektroden
Kriterien
Allgemeinveränderung (Verlangsamung des Grundrhythmus) Epilepsietypische Potenziale (z. B. Spike-wave-Komplexe) Herdbefund (angesichts bildgebender Befunde heute ohne Bedeutung)
Probleme
Artefakte bei unruhigen, stark schwitzenden und adipösen Patienten
Elektromyografie (EMG) Ziel
Erkennung und Differenzierung von Neuro- und Myopathien
Technik
Ableitung typischer Kennmuskeln mit Nadelelektroden
Kriterien
Willküraktivität: Polyphasische, verbreiterte Potenziale als Hinweis auf eine ältere neurogene Schädigung (hohe Amplituden) oder auch Myopathie (niedrige Amplituden) Spontanaktivität: Fibrillationen und positive scharfe Wellen als Hinweis für eine frische neurogene Schädigung
Probleme
Nach akuter Nervenschädigung EMG erst nach ca. 14 Tagen »positiv«
Elektroneurografie Ziel
Prüfung der Intaktheit der peripheren motorischen und sensiblen Nervenleitung
Technik
Elektrische Reizung von Nerven und Ableitung der motorischen bzw. sensiblen Antwort vom Muskel bzw. Nerv
Kriterien
Distale Latenz: verlängert vor allem bei distalen Engpasssyndromen (z. B. Karpaltunnelsyndrom) Nervenleitgeschwindigkeit: verlangsamt bei demyelinisierenden Nervenschäden Amplitude des Antwortpotenzials: vermindert bei axonalen Nervenschäden F-Welle: Prüfung der proximalen motorischen Strecke bis zum Rückenmark
Probleme
Selten Ableiteprobleme bei ausgeprägter Adipositas und/oder Ödemen
Visuell/akustisch/somatosensibel evozierte Potenziale (VEP, AEP, SEP) Ziel
Prüfung der Intaktheit von Nervenbahnen bis zum Kortex
Technik
Visuelle, akustische oder sensible Reizung und Ableitung kortikaler (bei SEP auch spinaler) Antwortpotenziale
Kriterien
Latenz zwischen Reiz und Antwort als Kriterium für Intaktheit der sensiblen Nervenbahn, zusätzliche Hinweise anhand der Amplituden (Normwerte, Seitenvergleich)
Probleme
Relativ störempfindlich und abhängig von der Kooperation des Patienten
Magnetisch evozierte Potenziale (MEP) Ziel
Prüfung der Intaktheit der zentralen und peripheren motorischen Bahn, nur minimal abhängig von der Kooperation des Patienten
Technik
Gezielte Magnetstimulation des Kortex bzw. spinal und Ableitung der betreffenden Muskelkontraktion
Kriterien
Latenz zwischen Reiz und Antwort sowie Amplitude als Kriterium für Intaktheit der motorischen Nervenbahn (Normwerte, Seitenvergleich)
Probleme
Nicht einsetzbar bei Herzschrittmacher und ferromagnetischen Gegenständen in der Nähe der Stimulation
19
432
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
kennung und Bewertung von Stenosen und Verschlüssen der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien möglich. Die »einfache« Dopplersonografie mit der Stiftsonde besitzt demgegenüber nur noch bei einigen weni-
gen klar definierten Fragestellungen Bedeutung. Die nachfolgende Übersicht nennt die wichtigsten Indikationen zur Durchführung neurovaskulärer Ultraschalluntersuchungen.
Wichtigste Indikationen zur Ultraschalldiagnostik an den hirnversorgenden Arterien Extrakranielle Dopplersonografie Erkennung und Verlaufsbeobachtung hochgradiger Stenosen der extrakraniellen A. carotis Erkennung eines Subclavian-Steal-Effekts bei größeren Blutdruckdifferenzen an den Armen Extrakranielle Duplexsonografie Erkennung und Abklärung therapeutischer Konsequenzen bei Karotisstenosen und -verschlüssen Beurteilung von Durchblutungsstörungen im vertebrobasilären System Abklärung pulsierender Halstumoren
19.8.2
Hirnparenchymsonografie
Eine relativ junge sonografische Methode, die jedoch auch für den Psychiater von Bedeutung sein könnte, stellt die Darstellung von Hirnstrukturen, insbesondere des Mittelhirns, dar. Nach aktuellem Kenntnisstand sind dabei 2 therapierelevante Aussagen möglich: 1. Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom zeigt sich eine vermehrte Echogenität im Bereich der Substantia nigra, die sich bei anderen extrapyramidalen Erkrankungen mit Ausnahme der kortikobasalen Degeneration nicht findet. 2. Die Echogenität der Hirnstamm-Raphe scheint ein Prädiktor für den Therapieerfolg mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei depressiven Störungen zu sein.
19.8.3
19
Nervensonografie
Bislang nur relativ wenig verbreitet ist die sonografische Diagnostik von Nervenläsionen. Mit Hilfe hochfrequenter Sonden (10–13 MHz) lassen sich die wichtigsten peripheren Nerven sonografisch darstellen und in ihrem Verlauf verfolgen. Insbesondere das Karpaltunnel- und das Sulcus-ulnaris-Syndrom als häufigste Engpasssyndrome können auf diese Weise zuverlässig diagnostiziert werden, da die typische Einschnürung des Nerven und der Verlust der faszikulären Struktur bildlich darstellbar ist.
Transkranielle Dopplersonografie (TCD) Ausschluss intrakranieller Gefäßsstenosen Beurteilung der zerebrovaskulären Reservekapazität bei Karotisverschlüssen
Nachweis eines kardialen Rechts-Links-Shunts (offenes Foramen ovale)
Erkennen und Verlaufsbeobachtung von Vasospasmen
Erkennen des zerebralen Kreislaufstillstands
Transkranielle Duplexsonografie – wie TCD,
zusätzlich Erkennung und Verlaufsbeobachtung intrakranieller Gefäßverschlüsse und -stenosen Gefäßdiagnostik beim akuten Schlaganfall
19.9
Liquordiagnostik
Die wichtigsten Indikationen zur Durchführung einer Liquordiagnostik finden sich in nachfolgender Übersicht. Voraussetzungen für die Durchführung von Liquorpunktionen sind: Ausschluss eines wesentlichen Hirndrucks im CT oder MRT (die ophthalmoskopische Untersuchung auf das Vorliegen einer Stauungspapille ist heute als obsolet anzusehen), Ausschluss einer relevanten Gerinnungsstörung (Thrombozyten > Psychologische Testdiagnostik hat u. a. die Erhebung von kognitiver Leistungsfähigkeit, Leistungseinbußen und Persönlichkeitsmaßen zum Ziel. Bei der neuropsychologischen Diagnostik steht die Verbindung mit Krankheitsprozessen im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie erfasst dazu spezifische Funktionsstörungen in den Bereichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit und Orientierung, Lernen und Gedächtnis, Planung, Handlungsregulation, problemlösendes Denken, Sprache, Visomotorik und Emotionsverarbeitung. Typische Indikationsbereiche sind: Erfassung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit, z. B. zur Abgrenzung von Minderbegabungen, Abklärung von eignungsspezifischen Leistungsschwächen und -stärken (z. B. Beratung bei der beruflichen Integration), Abklärung von störungsspezifischen Leistungsdefiziten (sehr häufig bei Demenzen, aber auch bei anderen psychischen Störungen), Mithilfe bei der Diagnostik durch die Anwendung von klinischen Persönlichkeitsfragebögen, Mehrfacherhebungen zur Messung von Verläufen.
484
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
22.1
Allgemeiner Teil
22.1.1
Einleitung
Psychologische Tests haben in der Psychiatrie eine lange Tradition, die zurückgeht bis zu den Anfängen der experimentellen Methodik in der Psychologie. Während die Väter der experimentellen Psychologie (Wilhelm Wundt in seinem 1879 in Leipzig gegründeten Institut für experimentelle Psychologie, Hermann Ebbinghaus als Schöpfer der experimentellen Gedächtnisforschung) sich eher für die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der psychischen Funktionen interessierten, begannen Mitarbeiter und Schüler schon sehr bald damit, dieselben Aufgaben und Versuchsanordnungen auch für die systematische Prüfung von Unterschieden zwischen Personen zu verwenden (s. z. B. Kraepelin 1896). Emil Kraepelin übertrug Wundts experimentell-psychologische Methodik auch auf die Untersuchung der Wirkung ZNS-aktiver Substanzen wie Tee, Kaffee und Alkohol und gilt als Begründer der modernen Pharmakopsychologie. Zur Erfassung der zentralen Wirkung von Arzneimitteln wurden dabei Aufgaben wie Lesegeschwindigkeit oder fortlaufende Additionen über 5 min, Zeitschätzung, Reaktionszeitmessungen und Erlernen von 12-stelligen Zahlenreihen eingesetzt (Debus 1992; Hoff 1992; Spiegel 1988). Ziel der testpsychologischen und neuropsychologischen Diagnostik in der Psychiatrie ist: die Dokumentation der aktuellen kognitiven Leistungsfähigkeit eines Patienten, die Bestimmung von Art, Ausmaß und differenzialdiagnostischer Bedeutung kognitiver Leistungseinbußen, die testpsychologische Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen, die Beantwortung prognostischer (z. B. eignungsdiagnostischer) Fragen bei krankheitsbedingten Leistungsdefiziten sowie die testpsychologische Verlaufsdokumentation im Rahmen von Längsschnitterhebungen z. B. bei der Dokumentation von Therapieverläufen.
Literatur Im deutschsprachigen Raum trugen Lautenbacher u. Gauggel (2004) erstmals Beiträge aus der Neuropsychologie für die Erfassung psychischer Störungen in einem Lehrbuch zusammen. Die allgemeinen Aspekte der testpsychologischen Diagnostik lassen sich aus Standardwerken wie Amelang u. Schmidt-Atzert (2006) oder Jäger und Petermann (1999) entnehmen, den methodischen Hintergrund gibt z. B. Krauth (1995) für die klassische und Rost (2004) für die probabilistische Testtheorie. Ein nahezu vollständiges Kompendium klassischer und international bekannter neuropsychologischer Testverfahren findet sich bei Lezak, Howieson und Loring (2004). Als klinisch orientierte
Handbücher neuropsychologischer Diagnostik können Hartje u. Poeck (2002), Lehrner et al. (2006), Goldenberg (2002), von Cramon et al. (1993), Prosiegel (2002) und Vanderploeg (1999) empfohlen werden. Eine gute Übersicht über neuropsychologische und neurobiologische Grundlagen geben Devinsky u. D’Esposito (2004), D’Esposito (2003), Gazzaniga (2004), Kandel et al. (2000), Karnath und Thier (2006) und Kolb und Whishaw (2003).
22.1.2
Begriffsbestimmungen
Definition: Psychologischer Test Die wesentlichen Bestimmungselemente eines psychologischen Tests sind in der Definition von Lienert (1961, S. 7) enthalten: »Ein Test ist ein wissenschaftliches Routineverfahren zur Untersuchung eines oder mehrerer empirisch abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale mit dem Ziel einer möglichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmalsausprägung.«
Diese Definition ist einerseits breit genug, um auch projektive Verfahren (s. unten) noch einzuschließen, sie betont aber auch, dass ein Test nur empirisch abgrenzbare Merkmale möglichst quantitativ erfassen soll. Die Definition umfasst keine Instrumente, die ad hoc nach rein inhaltlichen Kriterien zusammengestellt werden. Der Begriff »wissenschaftliches Routineverfahren« bedingt, dass bei der Konstruktion eines Tests bestimmte Regeln vor dem Hintergrund der klassischen oder probabilistischen Testtheorie (s. unten) beachtet werden. Im Wesentlichen handelt es sich um folgende Schritte: Sammlung von Fragen oder Aufgaben (Testitems) unter Beachtung inhaltlicher wie formaler Konzepte, Vorgabe des Tests bei einer Stichprobe der Population, für die der Test Gültigkeit haben soll, Analyse der Items nach statistischen Konzepten in Abhängigkeit von der zugrunde gelegten Testtheorie, Auswahl der Items und Erstellung der Testendform, Vorgabe des Tests an einer repräsentativen Stichprobe der Zielpopulation (Normierung), Publikation des Tests und des Testhandbuchs.
Verfügbare Instrumente In der Psychiatrie dienen Testverfahren vorwiegend der Persönlichkeitsbeschreibung und der funktionalen Messung von Fähigkeiten und Defiziten des Patienten. In der Praxis besteht heute ein fließender Übergang zwischen einfachen Prüffragen in der psychiatrischen Exploration (z. B.: Wiederholen Sie die 5 Wörter, die ich Ihnen zuvor genannt habe! Was ist der Unterschied zwischen Hecke und Zaun?), die eine ökonomische Zuordnung zu den Kategorien gesund und gestört erlauben,
485 22.1 · Allgemeiner Teil
Bedside-Tests, die am Krankenbett durchführbar sind, wie z. B. der AABT (Aachener-Aphasie-BedsideTest) von Biniek (1993), einfachen, bereits quantifizierenden Screening- und Schweregradsmaßen wie dem Mini-Mental State (ein 10-minütiges, international gebräuchliches Demenzscreeningmaß u. a. mit Fragen zur Orientierung und zum Benennen von Gegenständen, Abschn. 22.2.4), Ratingskalen und strukturierten klinischen Interviews (s. Kap. 21), umfangreichen normierten Testverfahren wie dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene (WIE; Aster et al. 2006), änderungssensitiven und isolierte kognitive Funktionen erfassenden experimentellen Verfahren und automatischen Testvorgabe-, Auswertungs- und Interpretationssystemen mit eingebauten Datenbanken wie dem Wiener-Testsystem (Schuhfried 2006) oder dem Hogrefe-Testsystem (Hänsgen 2006). Derzeit sind in Deutschland über 750 Testverfahren und Fragebogen käuflich erhältlich [Übersicht z. B. auf der Webseite der Testzentrale (http://www.testzentrale.de/) oder über Verlagskataloge], die wichtigsten davon sind in Brickenkamps Handbuch (2002 b) ausführlich besprochen. Hinzu kommen spezifisch neuropsychologische Verfahren, wie sie häufig aus experimentellen Untersuchungen ihren Weg in die Routinediagnostik gefunden haben und über die man zusammenfassend am besten aus Lehr- und Handbüchern informiert wird (Mitrushina et al. 2005, Spreen u. Strauß 1998, Strauß et al. 2006, Lezak et al. 2004). Bedenkt man, dass das Erstellen eines qualitativ hochwertigen Testverfahrens jahrelange Entwicklungsarbeit erfordert, wird deutlich, welchen Wert die heute für die unterschiedlichsten Fragestellungen vorliegenden Testverfahren darstellen.
Skalenniveau und Normierung Testergebnisse von psychologischen Tests werden nur selten in absoluten Zahlen (z. B. Anzahl gelöster Aufga-
⊡ Abb. 22.1. Normalverteilung und zugeordnete Standardskalen
ben, Fehlerhäufigkeit, kurz: Rohwerte) mitgeteilt, sondern meist in statistische Maßzahlen (Standardwerte) umgerechnet, die die Stellung des Probanden im Vergleich mit der oder den Normstichproben angeben. Die dafür verwendeten Skalen sind alle der Normalverteilung (Gauß-Glockenkurve, ⊡ Abb. 22.1) entlehnt, da komplexe Persönlichkeitsmerkmale in der Bevölkerung normalverteilt sind. Psychologische Testergebnisse in Form von Standardwerten lassen sich deshalb auch direkt in sog. Prozentränge umrechnen, die die Stellung eines Probanden im Vergleich mit der Norm in Prozent angeben. ⊡ Abb. 22.1 zeigt die gebräuchlichsten Messskalen für psychologische Tests und ihre Beziehungen zur Normalverteilung. Absolute Messwerte vs. statistische Maßzahlen. Dem
Vorteil der unmittelbaren Interpretierbarkeit standardisierter Testwerte steht die Aufgabe der absoluten Messskala als Nachteil gegenüber. Bei psychologischen Tests bedeuten absolute Messwerte nicht viel, schon gar nicht im Vergleich zwischen verschiedenen Tests. In den Naturwissenschaften ist das anders: hier liegen die primären Messwerte meistens – wenn auch keineswegs immer, siehe z. B. die semiquantitativen Ergebnisse einiger bildgebender Verfahren – als physikalische Maßeinheiten vor, die sich als sog. Verhältnisskalen miteinander mathematisch verrechnen und in Beziehung setzen lassen (etwa ml/kg). Die Aufgabe dieser Eigenschaft wäre ein erheblicher Nachteil. Laborwerte werden deshalb meist in Form von Rohwerten mitgeteilt, für deren medizinische Interpretation man auf Referenztabellen zurückgreifen muss. Vergleichbarkeit von Tests. Ein Hauptproblem standardi-
sierter Testwerte ist die oft mangelhafte Vergleichbarkeit von Tests, die auf der Grundlage unterschiedlicher Normstichproben standardisiert wurden. Einem IQ von 100 im Test A muss keineswegs ein IQ von 100 in einem inhaltlich vergleichbaren Test B entsprechen, obwohl gerade das durch die Normierung beabsichtigt ist. Stichproben-
22
486
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
verzerrungen, Merkmalsänderungen über die Zeit (und dementsprechend unterschiedliche Standardwerte bei älteren im Vergleich zu neueren Standardisierungen) und Zufallseffekte bei kleinen Normierungsstichproben spielen hier eine relativ große Rolle. Im Abschnitt über die Intelligenzmessung wird dies an einem Beispiel näher erläutert.
Gütekriterien Zu den primären Gütekriterien eines Tests zählen: die Objektivität, die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und die Gültigkeit (Validität). ! Für jedes der 3 Kriterien sind Verfahren festgelegt, mit deren Hilfe sich ein oder mehrere Kennwerte gewinnen lassen. Im Fall der Objektivität und – mit Einschränkungen – der Reliabilität sind diese ohne theoretischen Hintergrund verständlich und nachvollziehbar. Koeffizienten für die Validität lassen sich dagegen oft nur im Rahmen der zugrundeliegenden Testtheorie interpretieren. Objektivität. Ein Test ist objektiv, wenn er von der Person des Untersuchers und/oder Auswerters unabhängig ist. Das Ausmaß der Übereinstimmung verschiedener Untersucher oder Auswerter lässt sich mit einem Korrelationskoeffizienten quantitativ angeben und sollte über 0,90 liegen. Reliabilität. Zu den Kennwerten der Zuverlässigkeit zählen: Testhomogenität oder interne Konsistenz: Messen die einzelnen Aufgaben eines Test (oder Subtests, falls es sich um eine Testbatterie handelt) ein ähnliches Konzept, konkret: Korrelieren sie hoch miteinander? (Zeitliche) Stabilität oder Wiederholungsreliabilität: Die meisten psychologischen Tests messen Merkmale, die per definitionem mehr oder weniger zeitstabil sein sollen. Deshalb erwartet man bei wiederholter Testdarbietung einen ähnlichen Messwert. Die Korrelation zwischen erster und zweiter Testdarbietung ergibt den Kennwert der Stabilität. Es ist klar, dass dieser Kennwert nicht nur von der instrumentellen Güte des Messinstruments, sondern auch von der zeitlichen Stabilität des gemessenen Merkmals abhängt. Paralleltestreliabilität: Viele Leistungstests lassen sich in kurzem Zeitabstand nicht gut wiederholen, weil die Aufgaben leichter durchzuführen sind, wenn sie schon einmal bearbeitet oder sogar gelöst wurden. Manchmal werden deshalb bereits bei der Testkonstruktion 2 oder mehr Parallelversionen eines Tests erstellt, deren Korrelation miteinander bei zeitnaher Vorgabe ein Maß für die Güte der Instrumente ist.
Validität. Zu den Kennwerten der Validität zählen: Externe Validität: Im Allgemeinen versteht man hier-
unter die Korrelation des Tests mit einem externen Kriterium, das der Test schätzen soll. Dies kann schon gleichzeitig vorliegen (konkurrente Validität, dabei hat der Test den Charakter einer Leistungsprobe oder Prüfung) oder erst in der Zukunft erhebbar sein (prädiktive Validität, z. B. Eignungstest). Interne Validität oder Konstruktvalidität: Hierunter versteht man die Gültigkeit eines Tests vor dem Hintergrund einer Theorie. In der Praxis kommen Schätzwerte für die interne Validität aus Korrelationen mit anderen Tests, aus Ergebnissen von Faktoren- oder Pfadanalysen sowie aus experimentellen Untersuchungen.
Sekundäre Gütemerkmale Daneben gibt es noch sekundäre Gütemerkmale, die nicht so spezifisch für psychologische Tests sind, sondern mehr oder weniger für alle diagnostischen Verfahren gelten: Adäquatheit der Normierung, Bandbreite, Ökonomie, Relevanz, Zumutbarkeit, Verfälschbarkeit und andere. Die bei diagnostischen Maßnahmen zur Trennung eines dichotomen Kriteriums wichtigen Gütekriterien der Sensitivität (Verhältnis der durch den Test als krank identifizierten Personen zu allen tatsächlich Kranken) und Spezifität (Verhältnis der im Test als gesund Identifizierten zu allen tatsächlich Gesunden) spielen bei psychologischen Tests eher eine untergeordnete Rolle, da von ihnen meist quantitative Vorhersagen und keine Ja-/Nein-Entscheidungen verlangt werden.
22.1.3
Konzepte
Testtheorie Klassische Testtheorie. Die sog. klassische Testtheorie,
nach der die Mehrzahl der derzeit erhältlichen Tests konstruiert ist, ist im Wesentlichen eine Fehlertheorie, die Annahmen über Art und Verteilung auftretender Messfehler macht. Vor ihrem Hintergrund lassen sich Aussagen über Homogenität, Reliabilität, Validität sowie den Standardmessfehler eines Tests (= Vertrauensbereich einer Messung unter Berücksichtigung der Reliabilität) machen. Die klassische Testtheorie bietet keine Beurteilungsgrundlage für die Güte und Adäquatheit der Messskalen selbst. Latent Trait Theory. Dies wird erst durch neuere Modelle
nach der Latent Trait Theory gewährleistet, deren Anspruch darin liegt, auch Aussagen über die der Messung zugrunde liegende Skala zu geben. Beispiele für solche Modelle sind das in Europa (zumindest in der Theorie)
487 22.1 · Allgemeiner Teil
recht populäre Modell von Rasch (1960) und die auf Lord (1950) zurückgehende Item Response Theory. Bisher wurden in der klinischen Psychodiagnostik nur wenige Tests nach diesen Modellen konstruiert; allerdings ist ihre potenzielle Bedeutung groß, v. a. bei computerunterstützten Tests, bei denen die Itemauswahl vom Leistungsniveau des jeweiligen Probanden abhängt (computerunterstützte adaptive Tests, s. z. B. Wainer 2000).
Fähigkeitskonzepte vs. neuropsychologisch orientierte Defizitmessung Für die Kategorisierung kognitiver Leistungen gibt es 2 theoretische Wurzeln, die lange wenig miteinander zu tun hatten: 1. die differenzielle Psychologie kognitiver Leistungen und 2. die Neuropsychologie kognitiver Leistungen. Während die differenzielle Psychologie (Amelang u. Bartussek 2001) bestrebt ist, die kognitiven Leistungen gesunder Probanden möglichst genau zu messen und mit Hilfe von statistischen Verfahren (zum Beispiel der Faktorenanalyse) inhaltlich zu kategorisieren, liegt der Hauptaspekt der neuropsychologischen Forschung auf einer Kategorisierung, die den Bezug zu anatomischen und/oder funktionalen zentralnervösen Strukturen erleichtert (Lezak et al. 2004). Beide Begriffssysteme lassen sich nur ungenügend aufeinander abbilden. Obwohl weitgehend identische Aufgaben vorgegeben werden, werden die gemessenen Leistungen unterschiedlichen Prozessen zugeschrieben, was in der Praxis z. B. dazu führen kann, dass ein und dieselbe Reaktionszeitaufgabe für den einen nur Aufmerksamkeit, für den anderen motorische Geschwindigkeit und für einen dritten »mental speed« als eine basale biologische Intelligenzkomponente (Vernon 1987) misst. Die psychologische Leistungsdiagnostik in der Psychiatrie muss versuchen, beiden Begriffssystemen gerecht zu werden, da innerhalb beider sinnvolle Fragestellungen formuliert werden können und demzufolge auch beantwortet werden müssen. Aufgrund der Erkenntnisse aus struktureller und funktioneller Bildgebung wird zunehmend die Berücksichtigung beider Sichtweisen unerlässlich. An einem Beispiel lässt sich dies leicht verdeutlichen: Bei einem Berufsunfähigkeitsgutachten über einen Patienten mit einer psychischen Störung muss der Gutachter zweierlei leisten – zum einen muss er die aktuellen Fähigkeiten des Patienten testen und im Hinblick auf die Erfordernisse seines Berufs bewerten. Dazu ist eine Diagnostik der Fähigkeitsstruktur notwendig. Zum anderen muss er aber auch einen Blick dafür haben, ob die eventuell gemessenen Defizite neuropsychologisch gesehen mit der vorliegenden Störung vereinbar sind.
Altersbedingte Veränderungen kognitiver Leistungen Es ist eine aufgrund von Alltagserfahrung und klinischer Beobachtung bekannte Tatsache, dass es Fähigkeiten gibt, die empfindlich auf Faktoren wie Alter, Krankheit, ZNSaktive Substanzen, Schlafentzug, Doppelbelastung oder Übung reagieren, während andere Fähigkeiten weitgehend stabil gegenüber diesen Einflüssen sind. Insbesondere die umfangreichen Ergebnisse zum Verlauf einzelner kognitiver Fähigkeiten über die Lebensspanne aus Querschnitt- und Längsschnittstudien bei Gesunden sind ein Anhaltspunkt zur Beurteilung der Änderungssensitivität spezifischer Fähigkeiten. ⊡ Abb. 22.2 zeigt exemplarisch wie in einer nach Alter und Intelligenz stratifizierten Gruppe Gesunder Wortschatz und Allgemeinbildung bis ins hohe Alter stabil bleiben, während Motorik, Gedächtnis und Konzeptbildung mit zunehmendem Lebensalter einem Abfall unterliegen. Cattell (1971) hat in seinem faktorenanalytischen Modell dafür die Begriffe »kristallisierte« (abbaustabile) und »fluide« (abbauanfällige) Komponente der Intelligenz eingeführt. Bereits früh wurde auf die Ähnlichkeit zwischen Verfahren, die besonders empfindlich für solche altersbezogenen Veränderungen sind und solchen, die sensitiv für organische Hirnschäden in einer gemischten neuropsychiatrischen Gruppe mit Hirnläsionen verschiedener Lokalisation und Ausmaß sind, hingewiesen (Salthouse 1991, S. 11ff.). Als eher resistent gelten: sprachliche und bildungsabhängige Fähigkeiten, gut bekannte, überlernte und häufig praktizierte Tätigkeiten, Spezialisierungen, früher erworbene Erfahrungen und Metawissen. Als alters- und abbausensitiv gelten: episodisches Gedächtnis, Psychomotorik, geschwindigkeitsbetonte und perzeptuell-konstruktive Fertigkeiten, Konzentration, problemlösendes Denken bei neuartigen Anforderungen, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und die rasche Verarbeitung zahlreicher komplexer Informationen. Aus qualitativ hochwertigen Einzelitemantworten, aus der höchsten Leistung in abbaustabilen Tests oder aus der Kombination mehrerer abbaustabiler Tests lassen sich deshalb bei krankheits- oder altersbedingten Veränderungen oft Rückschlüsse auf das prämorbide Leistungsniveau ziehen.
Interpretation von Abbaumaßen Bei der Interpretation derartiger Abbaumaße sind jedoch einige Einschränkungen im Einzelfall zu beachten: Lokalisierte und schwere Hirnschäden vs. diffuse Schäden und Netzwerkstörungen. Alterssensitive Verfahren,
deren Rationale auf der Messung einer globalen Leistungseinbuße im Sinne einer Voralterung des Gehirns
22
488
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
1,5 1,0 Zunahme ,5 Leistungsänderung
22
0,0 MehrfachwahlWortschatz-Test
-,5 -1,0
Allgemeines Wissen
-1,5
Halstead Category Test
-2,0
Freie Wiedergabe von 25 Wörtern
-2,5
Mosaik-Test
-3,0 Abnahme -3,5 18-29
Zahlen-Symbol-Test 30-39
40-49
50-59
60-69
70-85
Altersgruppen ⊡ Abb. 22.2. Psychologische Testverfahren mit typischen Verläufen über die Altersspanne von 18–85 Jahren (Leistungsänderung in z-Werten)
beruhen, sind bestenfalls zum Nachweis diffuser Hirnschädigungen geeignet; die Auswirkungen lokalisierter Hirnschäden sind mit ihnen nicht zu erfassen. Ferner gibt es Einbußen wie z. B. Aphasien oder Orientierungsstörungen, die spezifisch für schwere Hirnschäden sind und bei Gesunden auch im hohen Alter nicht auftreten. Künstliche Erhöhung und Erniedrigung. Sowohl abbau-
stabile als auch abbausensitive Fähigkeiten können künstlich oder berufsbedingt erhöht oder erniedrigt sein und daher nur bedingt als Maß der prämorbiden Leistungsfähigkeit oder als Indikator für eine kognitive Einbuße geeignet sein. Prämorbid niedriges Leistungsniveau. Bei Patienten mit
bereits prämorbid sehr niedrigem Leistungsniveau ist ein Leistungsabfall generell nur schwer nachzuweisen. Prämorbid hohe fluide Fähigkeiten. Bei Patienten mit
prämorbid durchschnittlichen sprachlichen, aber überdurchschnittlichen geschwindigkeitsabhängigen (»fluiden«) Fähigkeiten, die durch eine Hirnschädigung in den fluiden Leistungen auf ein durchschnittliches Niveau absinken, hat man mit diesem Ansatz kaum eine Möglichkeit, den Abfall nachzuweisen.
22.1.4
Indikationen
Typische Fragestellungen für psychologische Testverfahren in der Psychiatrie sind: kognitive Leistungsfähigkeit allgemein, Berentung, Schulprobleme allgemein,
Leistungsfähigkeit bei Leistungsversagen im Rahmen einer psychischen Erkrankung, inhibitorische und disinhibitorische Symptome (Herrmann et al. 1999), soziale Kompetenz und Entwicklungsstand/-störung, Persönlichkeit allgemein, Mithilfe bei der Differenzialdiagnose, Therapiekontrolle, Verlaufsmessung. Einen großen Bereich bilden Fragen nach der kognitiven Leistungsfähigkeit, sei es als globale Fragestellung im Sinne einer Messung von Intelligenz, Anpassung (v. a. bei Kindern) oder Kompetenz (v. a. bei dementen Patienten) oder sei es als spezifische Frage nach Einbußen in der Leistungsfähigkeit. Einen weiteren Bereich bilden diejenigen Fragestellungen, bei denen die diagnostische Abklärung mehr im Vordergrund steht. Die früher häufig zu findenden Fragen nach der Abgrenzung von Neurose und Psychose sind selten geworden, nicht zuletzt durch die stärkere Operationalisierung der psychiatrischen Diagnostik durch ICD10 und DSM-IV. Vermehrt haben sich hingegen Fragen an den neuropsychologischen Spezialisten um Mithilfe bei der Aufklärung von Zusammenhängen zwischen organischen Beeinträchtigungen und gestörtem Leistungsverhalten. Dabei liefern psychologische Tests stets adjunktive Daten, die einer klinischen Gewichtung bedürfen. Sie sind ein gutes quantitatives Hilfsmittel z. B. für die Erstellung einer Diagnose, die Bestimmung des Schweregrades einer Beeinträchtigung, die Evaluation von Therapien, die Bestimmung von Ein- und Ausschlusskriterien für eine Spe-
489 22.1 · Allgemeiner Teil
zialuntersuchung oder die Charakterisierung von Patientengruppen im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen. Oft unverzichtbare Informationsquellen zur Abklärung der ICD-10-Diagnosen »organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen, psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« und »Intelligenzminderung« sind psychologische Leistungstests. Zur Abklärung von »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen« sind Persönlichkeitsfragebogen geeignet.
und Auswertung begegnet werden. Gerade im psychiatrisch-neurologischen Bereich ist eine extrem starre, am Wortlaut des Testhandbuchs haftende Testvorgabe oft weder sinnvoll noch zu realisieren, wenn das Leistungsoptimum eines Patienten erfasst werden soll. Vanderploeg (ebd., S. 19 ff.) weist darauf hin, dass hier Standardisierung weniger das immer gleiche Testleiterverhalten bedeutet, sondern eher das gleiche Verstehen der Aufgabe auf Seiten des Patienten beinhaltet. Verfälschen der Testleistung. Ein gewisses Problem ergibt
22.1.5
Praxis
Die Organisation der Testdiagnostik obliegt i. Allg. einem hinreichend ausgebildeten und diagnostisch erfahrenen Psychologen, die/der die Testauswahl (sowohl allgemein als auch jeweils für den Einzelfall) vornimmt. Unter ihrer/ seiner Anleitung führen psychologisch-technische Assistenten die Tests durch und nehmen die Auswertung vor. Den Psychologen obliegt wiederum die Abfassung des Befundberichts, der neben den Testwerten selbst auch die Beantwortung der diagnostischen Fragestellung enthält. Rahmenbedingungen. Für die Durchführung der Unter-
suchung sind bestimmte Rahmenbedingungen notwendig. Wichtig sind ein ruhiger Raum, in dem sich nur Proband und Testleiter aufhalten sowie eine ausreichende Wahrnehmung (Brille, Hörgerät) auf Seiten der Probanden. Den Testleitern obliegt die Herstellung einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre, nachdem am besten schon der Überweisende dem Patienten Art und Notwendigkeit der Untersuchung dargelegt hat.
Störeinflüsse Die Aussagekraft psychologischer Testergebnisse kann durch eine Reihe von Störeinflüssen eingeschränkt sein (s. a. Übersicht bei Vanderploeg 1994 a). Unsicherheit und reduziertes Leistungsvermögen des Patienten, Verständnisprobleme, Verfälschungstendenzen oder der Einfluss von Psychopharmaka sind mögliche Störeinflüsse auf Seiten des Patienten. Untersucher können Fehler machen durch eine falsche Selektion von Testinstrumenten (zu schwer, zu leicht) oder Verfahrensfehler bei der Testvorgabe oder Auswertung. Auch schlecht standardisierte Umgebungsbedingungen können Testergebnisse verändern. Testleiterverfahren. Einschränkungen der Durchfüh-
rungs- oder Auswertungsobjektivität wie dem »examiner drift«, einem vom Testleiter selbst nicht wahrgenommenen Abweichen von den Durchführungsvorschriften des Testmanuals bei langjähriger Testanwendung (Vanderploeg 1994 a), kann u. a. durch regelmäßige gegenseitige Qualitätskontrollen oder PC-gestützte Testvorgabe
sich daraus, dass einerseits Patienten und Allgemeinheit ein Recht zu umfassender Aufklärung über Art und Aussagekraft von psychologischen Testverfahren haben, andererseits Testverfahren jedoch andere Fähigkeiten messen, wenn die Lösungsstrategie teilweise bekannt oder der Lösungsweg beispielsweise über Zeitungsartikel oder »Testknacker« überlernt ist. Generell müssen Patienten zu Beginn der Testuntersuchung nach Testvorerfahrungen befragt werden. Ein weiteres Problem stellen unbewusste oder auch bewusste Verfälschungen von Testleistungen im Sinne einer Leistungsverschlechterung durch die Patienten dar, vor allem in Gutachtensituationen (Lezak 1995, S. 330 ff.): Bei der Aggravation handelt es sich um eine bewusste und willentliche Übertreibung von (z. B. subjektiv empfundenen) Defiziten; Bei der Simulation handelt es sich um eine ebenfalls bewusste und willentliche Vortäuschung von Defiziten mit der Absicht, einen erkennbaren Vorteil zu erlangen; Die selbstmanipulierte Krankheit, z. B. MünchhausenSyndrom, unterliegt zwar anteilig einer willentlichen Kontrolle, doch kann der Betroffene sich ihrer nicht erwehren. Diese Patienten verfolgen Ziele, denen sie »unfreiwillig« unterworfen sind, die ihnen letztlich nicht bewusst sind. Es existieren eine Reihe von Strategien und Verfahren zur Erhärtung des Verdachts auf eine willentliche Verfälschung der Testergebnisse. Anhand großer Vergleichszahlen lassen sich zum Beispiel Konsistenzprüfungen von Testkonfigurationen durchführen. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Verfahren konstruiert worden, die unter der Bezeichnung »Symptom Validity Tests« zusammengefasst werden. Beispiele dafür sind der »Test of Memory Malingering« (TOMM; Tombaugh 1996) oder der Word Memory Test (WMT; Green et al. 2005). Häufig benutzt wird auch der 15-Items-Memorization-Test von Rey (Cimino 1994; Heubrock 1995). In Deutschland haben Heubrock u. Petermann mit der »Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie« eine ganze Sammlung einschlägiger Verfahren vorgelegt (2000).
22
490
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
22.2
Funktionsbereiche und Verfahren
22.2.1
Globale kognitive Leistung und Intelligenz
Die kognitive Leistungsfähigkeit psychiatrischer Patienten ist häufig allgemein beeinträchtigt. Hierfür kommen zahlreiche verursachende Faktoren wie die psychiatrische Grunderkrankung, allgemeine körperliche Begleiterkrankungen, vordiagnostizierte oder noch nicht bekannte Hirnschäden, Entwicklungsstörungen, Hospitalisierung und sozialer Rückzug, emotionale und motivationale Störungen, medikamentöse Nebenwirkungen und Intoxikationen in Betracht.
prämorbiden Leistungsfähigkeit mittels auf demografischen Daten basierenden Formeln in einem beträchtlichen Anteil der Einzelfälle insbesondere in Extrembereichen der Leistungsfähigkeit zu Werten, die zu tatsächlich gemessenen Leistungsergebnissen deutlich diskrepant sind (Vanderploeg 1994 b, S.56). Abbaustabile Testergebnisse. Ein früheres Leistungs-
niveau lässt sich aus einer gegenwärtigen Testuntersuchung extrapolieren, wenn man selektiv nur die weitgehend abbaustabilen Testergebnisse betrachtet. Eine Integration dieser Daten mit vorliegenden anamnestischen Informationen dürfte in der Praxis der am häufigsten beschrittene Weg sein.
Wechsler Intelligenztests Querschnittmessung vs. Defizitmessung Will man wissen, um wie viel sich die kognitive Leistungsfähigkeit vermindert hat, muss man streng genommen eine Differenz aus 2 Messungen bilden: eine Messung der kognitiven Leistungsfähigkeit vor und eine Messung nach der Erkrankung. Nur in Ausnahmefällen wird ein solcher direkter Leistungsvergleich möglich sein, etwa wenn frühere bei Schulberatung, Bundeswehr, TÜV oder Arbeitsamt erhobene normierte Leistungsmaße verfügbar sind. Denkbar ist auch der Fall einer echten Messwiederholung mit demselben Testverfahren, wenn beispielsweise ein älterer Patient mit einer depressiven Episode einige Jahre später mit der Frage nach einer beginnenden Demenz erneut testpsychologisch untersucht wird oder Vorbefunde im Rahmen von testpsychologischen Gutachten vorliegen.
Schätzung des früheren Leistungsniveaus In den meisten Fällen werden testpsychologische Vorbefunde jedoch fehlen, und das frühere Leistungsniveau muss geschätzt werden. Als Referenz für das geschätzte frühere Leistungsniveau wurden im Wesentlichen 3 Vorgehensweisen vorgeschlagen, die in der Praxis sinnvollerweise kombiniert eingesetzt werden: Werdegang des Patienten. Schulischer und beruflicher
Werdegang, besondere Einzelqualifikationen, Hinweise auf frühere handwerkliche, organisatorische, grafische, planerische Fertigkeiten, Hinweise auf Belastbarkeit, Eigen- und Fremdanamnese sowie Zeugnisauskünfte und Beurteilungen durch Vorgesetzte oder Verwandte stellen zentrale Informationsquellen dar. Demografische Daten. Mittels regressionsanalytisch ge-
wonnener Formeln, in die krankheitsunabhängige demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Händigkeit, Bildung, Beruf, geographische Herkunft und einzelne Testleistungen eingehen können, lassen sich prämorbide Fähigkeiten schätzen. Allerdings führt die Schätzung der
Die Intelligenztests von David Wechsler sind seit rund 50 Jahren die im klinischen Bereich international am weitesten verbreiteten Tests. Es gibt Versionen für Erwachsene, Schulkinder und Vorschulkinder. Der aktuelle deutsche Test für Erwachsene ist der »Wechsler Intelligenztest für Erwachsene« (WIE – Aster et al. 2006), der auf der »Wechsler Adult Intelligence Scale – III« basiert (WAISIII – Wechsler 1997 a). Der WIE löst den »HamburgWechsler Intelligenztest für Erwachsene – Revision« (HAWIE-R – Tewes 1991) ab. Alle Tests von Wechsler basieren bislang auf einem eher globalen Intelligenzbegriff, der lediglich bestimmte Facetten (Verbalintelligenz, Handlungsintelligenz) aufweist, die durch mehrere Untertests gemessen werden. Auch die Untertests sind nicht so konstruiert, dass sie Primärfunktionen erfassen (seien diese nach kognitionspsychologischen oder nach neuropsychologischen Modellen konzipiert). Die Zusammenstellung der Subtests geschah aufgrund historischer Vorbilder nach dem Prinzip, dass sie einerseits unterschiedliche Inhalte erfassen, gleichzeitig aber möglichst hoch mit dem Gesamt-IQ korrelieren sollen. In dieser Hinsicht entsprechen die Verfahren Wechslers also nicht mehr den modernen Ansprüchen einer kognitionswissenschaftlichen (Amelang 1995; Jäger 1984) oder neuropsychologischen Komponentenforschung. Die Tests sind jedoch gerade im klinischen Bereich aus mehreren Gründen gut bewährt: Sie verfügen über eine hohe Augenscheingültigkeit; die Subtests bestehen aus vielfältigen Materialien, was für eine gewisse Abwechslung sorgt; durch den direkten Kontakt zwischen Proband und Testleiter gibt es gute Möglichkeiten zu einer zusätzlichen Motivierung der Patienten; die Subtests oder bestimmte Konstellationen von Subtests haben für manche klinischen Fragestellungen eine hohe Relevanz. Vergleich WIE und HAWIE-R. Im Vergleich zum HAWIE-R
(Tewes 1991) wurde der WIE (Aster et al. 2006) um 3 auf
491 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
nun 14 Untertests erweitert (neue Untertests: Symbolsuche, Buchstaben-Zahlen-Folge, Matrizen-Test; ⊡ Tab. 22.1. für eine Übersicht über alle Subtests). Obwohl das Grundkonzept Wechslers beibehalten wurde, weist der Test auf Aufgaben- und Skalenebene grundlegende Unterschiede zu seiner Vorgängerversion auf, die über die üblichen Aktualisierungen der Iteminhalte und der Normwerte hinausgehen. Beim WIE liegt ein flexibleres Untersuchungskonzept vor, bei dem einige
Untertests wahlweise eingesetzt werden können. Die ursprünglich 3-stufige hierarchische Struktur der Ergebnisinterpretation wurde auf 4 Ebenen ausgeweitet – neben Gesamt-IQ, Verbal- und Handlungs-IQ und Subtestergebnis können im WIE Indexwerte für verschiedene Teilleistungsbereiche bestimmt werden (⊡ Tab. 22.2): Sprachliches Verständnis (SV), Wahrnehmungsorganisation (WO), Arbeitsgedächtnis (AGD) und Arbeitsgeschwindigkeit (AGS). Die neuen Leistungskomponenten
⊡ Tab. 22.1. Untertests des Wechsler Intelligenztests für Erwachsene Untertest
Geprüfte Funktion
Beispiele, die den WIE-Testaufgaben ähnlich sind
Verbalteil
7 sprachgebundene Untertests
Wortschatz-Test
Verbale Ausdrucksfähigkeit, Fähigkeit, Wortbedeutungen zu erläutern, sprachliche Entwicklung, semantisches Lexikon
Was ist ein Gipfel? Ein Hurrikan?
Gemeinsamkeitenfinden
Sprachliche Konzeptbildung, sprachliche Abstraktionsfähigkeit
Was ist das Gemeinsame bei einer Birke und einer Eiche?
Rechnerisches Denken
Rechenfähigkeit unter Zeitdruck, logisches Denken, Arbeitsgedächtnis, Konzentration
Wie viele CDs kann man für 200 Euro kaufen, wenn eine CD 40 Euro kostet?
Zahlennachsprechen
Zahlenspanne, akustische Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis, Konzentrationsfähigkeit
Sprechen Sie bitte die Zahlen »5-7-3-6« rückwärts nach!
Allgemeines Wissen
Allgemeinbildung, Interesse an der Umwelt, kulturspezifische Kenntnisse, Langzeitgedächtnis für Fakten
Wer erfand die Glühbirne? Seit wann existiert menschliches Leben auf der Erde?
Allgemeines Verständnis
Verständnis sozialer und ethischer Normen, praktisches Urteilsvermögen
Warum verdienen Minderheiten einen besonderen Schutz?
Buchstaben-Zahlen-Folgen
Akustische Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit u. Konzentrationsfähigkeit
Bitte wiederholen sie S-7-A-2 und ordnen sie dabei zuerst die Zahlen in aufsteigender Folge und dann die Buchstaben in alphabetischer Folge, also »2-7A-S«!
Handlungsteil
7 handlungsgebundene und geschwindigkeitsabhängige Untertests
Bilderergänzen
Wahrnehmungsgenauigkeit, Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Details, Unterscheidung von Wesentlichem u. Unwesentlichem, logisches Schlussfolgern
Fehlende Details sollen auf Bildkärtchen erkannt werden
Zahlen-Symbol-Test
Visumotorische Geschwindigkeit und Koordination, visuelles assoziatives Kurzzeitgedächtnis, Konzentration
Symbole müssen unter Zeitdruck Zahlen zugeordnet werden
Mosaik-Test
Visuell-analytische Wahrnehmung, Unterscheidung von Teilen und Ganzem, visuomotorische Koordination, Handlungsregulation, Problemlösen
Mit verschieden farbigen Würfeln müssen geometrische Muster nachgelegt werden
Matrizen-Test
Visuelle Informationsverarbeitung, abstraktes Denken, induktives Denken, Erkennen visueller Analogien, fluide Intelligenz
Aus 5 möglichen Lösungsalternativen muss entsprechend der vorgegebenen Regel ein richtiges Muster ausgewählt werden
Bilderordnen
Erfassen komplexer Handlungszusammenhänge in ihrer zeitlichen Abfolge, logisches Denken
Bildkärtchen müssen zu einer sinnvollen Geschichte zusammengelegt werden.
Symbolsuche
Beobachtungsgenauigkeit u. Konzentration, Geschwindigkeit geistiger Verarbeitungsprozesse
Detektion von jeweils maximal 2 Symbolen in einer Reihe von 5 Symbolen
Figurenlegen
bildhafte Vorstellungsfähigkeit, Gestalterfassung
Zerschnittene Figuren müssen ohne Vorlage zusammengelegt werden
22
492
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
⊡ Tab. 22.2. Zuordnung der Untertests zu den Indexwertskalen. (Nach Aster et al. 2006)
22
Sprachliches Verständnis
Wahrnehmungsorganisation
Arbeitsgedächtnis
Arbeitsgeschwindigkeit
Wortschatztest
Bilderergänzen
Rechnerisches Denken
Zahlen-Symbol-Test
Gemeinsamkeitenfinden
Mosaik-Test
Zahlennachsprechen
Symbolsuche
Allgemeines Wissen
Matrizen-Test
Buchstaben-Zahlen-Folgen
Die Untertests sind nach der Reihenfolge der Vorgabe nummeriert. Die Untertests Bilderordnen, Allgemeines Verständnis und Figurenlegen gehen nicht in die Berechnung der Index-Werte ein
kommen einer inhaltlichen Interpretation entgegen, weil sie im Gegensatz zu der Unterteilung nach verbalen und handlungsbezogenen Leistungen in 2 Testteile, relativ homogene Komponenten kognitiver Fähigkeiten messen, die sowohl kognitionspsychologischen als auch neuropsychologischen Modellen entsprechen. Insbesondere werden Arbeitsgedächtnis und Arbeitsgeschwindigkeit als zentrale Leistungskomponenten berücksichtigt. ! Die obere Altersgrenze für die Testanwendung wurde auf 89 Jahre erhöht, so dass der WIE jetzt auch für die Untersuchung gerontopsychiatrischer Fragestellungen eingesetzt werden kann. Die neue Normierung wurde in Deutschland, der Schweiz und Österreich vorgenommen. Leider liegen noch keine Normenvergleichsstudien zwischen HAWIE-R und WIE vor. Bei früheren Überarbeitungen und Neunormierungen der Wechsler-Tests wurden jeweils massive Normunterschiede gefunden, ohne deren Kenntnis und Beachtung eine Verlaufsbeurteilung kaum möglich ist (z. B. vom HAWIE zum HAWIE-R: Satzger et al. 1996).
Andere Intelligenztests Neben den Wechsler-Tests gibt es im deutschen Sprachraum eine ganze Reihe weiterer Intelligenztestbatterien, z. B. den Intelligenz-Struktur-Test (IST2000R) von Amthauer et al. (2001), das Leistungsprüfsystem (LPS) von Horn (1983), eine Version für ältere Probanden als LPS50+ von Sturm et al. (1993), den Mannheimer Intelligenztest (MIT) von Conrad et al. (1986) und den Berliner Intelligenzstruktur-Test (Süß et al. 1997). Im klinischen Bereich konnte sich keines dieser Instrumente nennenswert etablieren.
Kurzverfahren Kurzverfahren zur Abschätzung der Intelligenz werden dagegen sehr häufig eingesetzt, auch wenn deren Gütekriterien nicht immer befriedigend sind. Zwei Gruppen von Verfahren lassen sich unterscheiden: die Vorgabe von Wortschatztests zur Messung der kristallisierten Intelligenz, die Vorgabe von weitestgehend als sprachfrei angelegten Tests zur Messung der Denkfähigkeit.
Wortschatztests. Beispiele sind der Wortschatztest (WST)
von Schmidt u. Metzler (1992) oder der MehrfachwahlWortschatz-Intelligenztest (MWT-B; Lehrl 1989), die beide in einem Multiple-Choice-Format vorliegen und somit nicht die dauernde Anwesenheit eines Testleiters erfordern. Beide korrelieren, wie auch der Subtest »Wortschatztest« der Wechsler Intelligenztests, sehr hoch mit dem Gesamt- und Verbal-IQ und sind für eine Abschätzung der kristallisierten Intelligenz in den meisten Fällen durchaus ausreichend. Auch bei dieser Schätzung des IQ aus dem Wortschatz dürfte die mangelnde Vergleichbarkeit der Normen in der Praxis weit größere Probleme machen als die mangelnde Vergleichbarkeit der Tests an sich. Speziell der MWT-B überschätzt die mit dem HAWIE-R gemessenen Intelligenzquotienten erheblich, während der WST geringere Normabweichungen vom HAWIE-R zeigte (Satzger et al. 2002). Sprachfreie Tests. Bei den (mehr oder weniger) sprach-
freien Tests zur Abschätzung der allgemeinen Intelligenz sind v. a. die verschiedenen Versionen des Raven-Tests (Raven 1996) zu nennen. Er misst die Fähigkeit zum folgerichtigen Denken, wobei allerdings auch große Anforderungen an die visuelle Auffassungsgabe, an die Motivation und an die Fähigkeit, durch Versuch und Irrtum zu Lösungen zu kommen, gestellt werden. Ähnlich wie der Mosaiktest aus dem HAWIE-R korreliert er in der Größenordnung von r = 0,70 mit dem Gesamt-IQ. Lange Zeit hatte man die Hoffnung, dass sprachfreie oder spracharme Tests zugleich auch eine größere Testfairness gegenüber Angehörigen anderer Kulturkreise hätten. Diese Hoffnung konnte nicht erfüllt werden (Jensen u. McGurk 1987).
22.2.2
Spezielle kognitive Fähigkeiten
Aufmerksamkeit Unter Aufmerksamkeit versteht man die Fähigkeit eines Menschen, Reize über eine gewisse Zeitspanne schnell und korrekt wahrzunehmen. Dabei wird eine korrekte Wahrnehmungsfähigkeit auf der Ebene des jeweiligen Sinnesorgans vorausgesetzt. Eine reduzierte Aufmerksamkeit wirkt sich verschlechternd auf nahezu alle ande-
493 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
ren kognitiven Testleistungen aus, da i. Allg. die korrekte und schnelle Identifikation von Reizen bei allen Tätigkeiten von Vorteil ist. Die Klärung von Aufmerksamkeitseinbußen ist deshalb von großer Wichtigkeit, um Fehlinterpretationen bei anderen Tests zu vermeiden. Ideal wäre es, wenn man Aufmerksamkeit mit einem Test messen könnte, der gleichzeitig keine anderen kognitiven Leistungen verlangt. In der Praxis ist dies natürlich nicht möglich, man kann sich lediglich auf möglichst einfache Reaktionen beschränken. Aufmerksamkeit als basale kognitive Fähigkeit steht im Zentrum vieler psychologischer Theorien (Broadbent 1958; Deutsch u. Deutsch 1963; Treisman u. Gelade 1980; Posner u. Rafal 1987; Shiffrin u. Schneider 1977; van Zomeren u. Brouwer 1994). Entsprechend detailliert ist die Unterscheidung verschiedener Aspekte der Aufmerksamkeit. Van Zomeren u. Brouwer (1994) unterscheiden nach Intensitäts- und Selektivitätsaspekten der Aufmerksamkeit. Diese beiden Dimensionen sind wiederum in Subkomponenten zerlegbar: Die Intensitätsdimension der Aufmerksamkeit umfasst die Komponenten Alertness (Reaktionsbereitschaft) und Vigilanz als basale Prozesse der kurz- sowie längerfristigen Aufmerksamkeitsaktivierung bzw. -aufrechterhaltung. Die Selektivitätsdimension ist unterteilbar in die fokussierte bzw. selektive Aufmerksamkeit und in die geteilte Aufmerksamkeit. Diese Unterteilung ermöglicht eine recht gute Zuordnung von typischen Untersuchungsparadigmen für die verschiedenen
Aufmerksamkeitsbereiche (⊡ Abb. 22.3; s. a. Sturm u. Zimmermann 2000). Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Alertness.
Die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Reaktionsbereitschaft kann am reinsten durch Reaktionszeitmessungen (z. B. im Wiener Determinationsgerät oder in der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) von Zimmermann und Fimm (2002) erfasst werden. Indirekt ist auch eine (quasi über einen längeren Zeitraum integrierende) Messung durch Papier-Bleistift-Tests wie den Zahlen-Verbindungs-Test (Oswald u. Roth 1987) oder den Teil A des Trail-Making-Tests (»Pfadfindertest«, z. B. Spreen u. Strauss 1998) möglich, bei denen quasi eine Serie von Reaktionszeiten über einen längeren Zeitraum integriert gemessen wird. Wichtig ist, dass die Aufgabe einfach ist und nicht höhere kognitive Fähigkeiten für die Durchführung notwendig oder auch nur förderlich sind. Deshalb wäre z. B. der Teil B des Trail-Making-Tests ungeeignet. Selektive und fokussierte Aufmerksamkeit. Für die
Messung der selektiven Aufmerksamkeit ist im deutschen Sprachraum der Test d2 (Aufmerksamkeits-BelastungsTest) üblich und zweckmäßig (Brickenkamp 2002 a). Aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann und Fimm (2002) ist der Subtest »Go/No Go« geeignet.
⊡ Abb. 22.3. Aufmerksamkeitsdimensionen und -bereiche, denen spezifische Untersuchungsparadigmen zugeordnet werden können. [Nach van Zomeren u. Brouwer (1994); Sturm u. Zimmermann (2000)]
22
494
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
Geteilte Aufmerksamkeit. Die Verteilung der Auf-
22
merksamkeit auf eingehende Informationen aus verschiedenen Informationskanälen wird in der Regel anhand sog. Dual-Task-Aufgaben erfasst, zum Beispiel mit dem Subtest »Geteilte Aufmerksamkeit« aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann und Fimm (2002). Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus und kognitive Flexibilität. Unter dem Aufmerksamkeitswechsel wird in der
Regel der Wechsel des Fokus von einem räumlichen Stimulus zu einem anderen verstanden. Aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann u. Fimm (2002) sind die Subtests »Reaktionswechsel« sowie »Verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung« geeignet, um die Fähigkeit des Wechsels der Aufmerksamkeit auf verschieden lokalisierte Stimuli zu prüfen. Die kognitive Flexibilität, wie sie z. B. mit dem Trail-Making-Test Teil B (Reitan 1958) geprüft wird, kann auch den exekutiven Funktionen zugeordnet werden (s. unter »Exekutive Funktionen«). Vigilanz. Die meisten der Verfahren zur Messung der
Daueraufmerksamkeit oder Vigilanz kommen eher aus dem Bereich der Arbeitspsychologie und eignen sich zur Beurteilung der Fähigkeit zum Monitoring von Industrieanlagen und ähnlichem. Von dort kommt ursprünglich auch die Continuous Performance Task (CPT; Cornblatt u. Keilp 1994; Kathmann et al. 1996), ein Test, der v. a. in der Schizophrenieforschung eingesetzt wird und von dem vermutet wird, dass er Defizite der Daueraufmerksamkeit bei diesen Patienten gut quantifizieren kann. Alle Aufmerksamkeitstests (mit Ausnahme der Vigilanztests) erfordern eine schnelle motorische Reaktion. Falls Gründe für die Annahme einer rein motorisch bedingten Verlangsamung bestehen, kann auch der ein-
fachste Aufmerksamkeitstest nicht mehr eindeutig interpretiert werden.
Visuomotorische Koordination, Steuerung und Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit Motorische Geschwindigkeit und konstruktive Fähigkeiten zählen neben Gedächtnisparametern zu den altersund abbausensitivsten kognitiven Funktionen (Salthouse 1991). Das verfügbare Testinstrumentarium ist reichhaltig und liegt teilweise in wenig veränderter Form seit vielen Jahrzehnten vor.
Visumotoriktests Als allgemeiner Test sei hier das Wiener Testsystem (Schuhfried 2006) erwähnt, das zahlreiche Subtests dazu anbietet. Im psychiatrischen Bereich bekanntere Visumotoriktests sind der Purdue Pegboard Test (Tiffin 1968), bei dem der Patient Metallstifte mit jeder Hand einzeln und mit beiden Händen gleichzeitig in eine Reihe Löcher in einem Holzbrett stecken muss. Testwert ist die Anzahl von eingesteckten Stiften in jeweils 30 s. Beim Grooved Pegboard (Klove 1963) ist die Aufgabe dadurch erschwert, dass die Stifte an einer Längsseite mit einer Metallfeder versehen sind und nur in einem bestimmten Winkel in die mit einer Nut versehenen Löcher eingesteckt werden können. Zahlen-Symbol-Test. Der bekannteste Papier- und Bleistifttest, der Zahlen-Symbol-Test aus den Wechsler Intelligenztests, enthält neben einer Aufmerksamkeits- und einer Gedächtniskomponente eine starke motorische Komponente. In einer Beispielzeile sind den Zahlen von 1–9 Symbole wie »–«, »o« oder »x« zugeordnet, die nach einer kurzen Übungsphase in leere Kästchen unter einer Zufallsfolge einstelliger Zahlen übertragen werden müssen (⊡ Abb. 22.4). Gemessen wird die Anzahl korrekt
⊡ Abb. 22.4. Modifizierte, nicht zur Testdurchführung bestimmte Version des Zahlen-Symbol-Tests
495 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
übertragener Symbole in der Testzeit von 90 s. Während 20- bis 24-Jährige im Durchschnitt 55 Symbole übertragen können, schaffen 70- bis 74-Jährige im Durchschnitt nur 26,5 Symbole.
in Aufgaben zur vorstellungsmäßigen Ausführung räumlicher Operationen wie Rotation, Spiegelung, Faltung etc. wie sie z. B. in Untertests des Leistungsprüfssystems (Horn 1983) enthalten sind.
Zahlen-Verbindungs-Tests. Diese Tests haben eine lange
Visuelle Konstruktion. Weitere Verfahren prüfen über die
testpsychologische Tradition. Der Trail-Making Test (deutsch: Pfadfindertest; Reitan 1958) liegt in 2 Formen vor. In der ersten Form sind die über das Blatt Papier verstreuten Zahlen von 1 bis 25, in der zweiten Form abwechselnd die Zahlen 1 bis 13 und die Buchstaben A bis L (also 1-A-2-B-3-C …) möglichst schnell mit Bleistiftstrichen zu verbinden. Neben den einzelnen Zeiten als organisch sensitiven Maßen ist auch die Differenz der Testzeiten B–A ein Hinweis auf eine abbaubedingte Flexibilitätseinbuße. Eine einfachere Variante des Tests ist der nach informationstheoretischen Gesichtspunkten aufgebaute Zahlen-Verbindungs-Test (Oswald u. Roth 1987), der unter anderem durch 3 Übungsdurchgänge und den Mittelwert aus 2 eigentlichen Testbögen die Wiederholungsreliabilität des Tests zu verbessern sucht.
Wahrnehmungsorganisation hinaus auch die Rekonstruktion von visuell dargebotenen oder erinnerten Objekte im zwei- bzw. dreidimensionalen Raum. Die bei weitem bekannteste konstruktive Aufgabe ist der Untertest »Mosaiktest« aus den Wechsler Intelligenztests. Der Mosaiktest besteht aus 9 Würfeln mit je einer weißen, roten, blauen und gelben Seitenfläche sowie einer entlang der Diagonale geteilten weiß-roten bzw. einer blau-gelben Seitenfläche. Insgesamt müssen 9 zunehmend komplexere Muster nachgelegt werden, wobei Schnelligkeit und Richtigkeit gewertet werden. Der Mosaiktest korreliert relativ hoch mit dem Gesamt-IQ (etwa r = 0.70). Auch das Kopieren der Rey-Osterrieth Complex Figure (Rey 1941) erfordert über die visuelle Analyse der Vorlage hinaus die Rekonstruktion der Figur. Aufgabe ist es, die abstrakte Figur möglichst exakt abzuzeichnen. Die Geschwindigkeit geht dabei nicht in die Bewertung ein. Die Leistung wird von der visuomotorischen Informationsverarbeitung und der Planungsfähigkeit mitbestimmt (⊡ Abb. 22.5).
Wahrnehmung Eine ausführliche Prüfung von Wahrnehmungsfunktionen wie z. B. bei von Cramon et al. (1993) beschrieben, wird meist Patienten mit neurologischen Störungen vorbehalten bleiben. Bei psychiatrischen Patienten sollte im Rahmen der Testuntersuchung zumindest orientierend eine ausreichende Sehschärfe (z. B. über die Vorlage einer Sehtafel) und – v. a. bei älteren Patienten – ein ausreichendes Hörvermögen sichergestellt werden. Visuelle Wahrnehmung. Die visuelle Wahrnehmungsorganisation und Analysefähigkeit kann durch eine Vielzahl von Aufgabenarten wie die Tafeln zur Farbenblindheit (Ishihara 1979), das Verfolgen von Linien in einem Linienknäuel, Linienorientierung, visuelle Vergleichsaufgaben, Erkennen fragmentierter, in komplexeren Figuren versteckter, zerschnittener, übereinandergezeichneter oder maskierter geometrischer Figuren und Gegenstände erfasst werden. Bekannte Aufgaben für die 2-dimensionale Wahrnehmung hierfür sind der Hooper Visual Organisation Test (Hooper 1983) und die Untertests 10 (versteckte Muster erkennen) und 11 (unfertig gezeichnete Bilder erkennen) des Leistungsprüfsystems (Horn 1983). Der Test Judgment of Line Orientation (Benton 1978) sowie der Uhrentest (Goodglass u. Kaplan 1983) prüfen die Fähigkeit zur Einschätzung räumlicher Relationen und die Umsetzung von Konzepten. Störungen der 3-dimensionalen visuellen Wahrnehmung manifestieren sich in der Unfähigkeit, sich in der näheren oder weiteren Umgebung zurechtzufinden (topografische und geografische Desorientierung; z. B. Zeichnen des Wohnungsgrundrisses, der Einkaufswege, der Station, des Staates mit wichtigen Hauptstädten) und
Visueller Neglekt. Beim Neglekt handelt es sich um ein
Syndrom der halbseitigen, kontralateralen Vernachlässigung von sensorischen Reizen und/oder motorischen Funktionen, welches auch als Störung der räumlichen Aufmerksamkeit aufgefasst werden kann. Visuelle Neglektphänomene lassen sich u. a. durch folgende einfache Testverfahren erfassen: Der Patient durchkreuzt auf dem Blatt Papier verstreut aufgemalte Linien, streicht auf dem Blatt Papier zwischen andere Objekte eingestreute seltene Objekte an (ähnlich im Subtest »Neglektprüfung« der TAP, Zimmermann u. Fimm 2002) oder muss den Mittelpunkt unterschiedlich langer Linien markieren. Eine Zusammenstellung von 15 Einzeltests findet sich im Neglekt-Test (NET, Fels u. Geissner 1996) und von 9 Subtests im VS-Programm (Kerkhoff u. Marquardt 1998), während der Kölner Neglect Test die Symptomatik anhand von 7 Subtests erfasst (Kessler et al. 1995). Im englischsprachigen Raum ist das gängigste Verfahren der Behavioral Inattention Test (BIT; Wilson et al. 1987), welches sowohl für die Status als auch die Verlaufsdokumentation des Neglekts geeignet ist. Wahrnehmung anderer sensorischer Modalitäten. Über
den paarweisen Vergleich von Takten im Seashore Rhythm Test aus der Halstead-Reitan Battery (Reitan u. Wolfson 1993) kann die nonverbale auditive Wahrnehmung geprüft werden. Taktile Wahrnehmung wird u. a. in Subtests der Halstead-Reitan Battery (Reitan u. Wolf-
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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
son 1993) und der Luria-Nebraska Neuropsychological Battery (Golden et al. 1985) erfasst. Ein normiertes Verfahren zur Erfassung des Geruchssinnes stellt der Smell Identification Test (SIT; Doty 1984) dar.
Apraxie Apraxien sind mögliche Folgesymptome linkshemisphärischer Läsionen oder Dysfunktionen (Goldenberg 2000). Die Leitsymptome sind motorische Fehlhandlungen, die nicht auf eine motorische Behinderung zurückführbar sind. Apraxien bezeichnen eine Vielzahl von Störungen mit unterschiedlichen zugrunde liegenden neuronalen Funktionsstörungen (Goldenberg 1999). Die Diagnostik der Gliedmaßenapraxien erfolgt über die Prüfung der Imitationsfähigkeit von Gesten, der Durchführung von Gesten nach Aufforderung sowie des Objektgebrauchs (Goldenberg 1999). Bei der bukkofazialen Apraxie bezieht sich die Störung ausschließlich auf das Gesicht. Von unterschiedlichen Neuropsychologen wurden Normwerte ihrer eigenen Apraxieprüfungen veröffentlicht (z. B. de Renzi et al. 1980; Goldenberg 1996, Goldenberg u. Hagmann 1998).
Agnosie Agnosie bedeutet soviel wie »Nichterkennen« und bezeichnet die Schwierigkeiten beim Erkennen von Dingen, bzw. von Konzepten und Handlungsabläufen. Neben den visuellen Agnosien wie z. B. der Formagnosie, dem Fehlerkennen und Misslingen des Vergleiches einfacher Formen (z. B. Benton Test) oder wie der Prosopagnosie, dem fehlerhaften Erkennen von Gesichtern (de Renzi et al., 1991; z. B. Famous Faces Test – Fast et al. 2006 a; oder Facial Recognition Test – Benton et al. 1994) existieren weitere Agnosietypen wie z. B. die sogenannte Autotopagnosie, die Schwierigkeit Körpterteile auf Aufforderung hin zu zeigen (Personal Orientation Test – Weinstein 1964), oder die Unfähigkeit, die Finger zu benennen (Fingeragnosie; z. B. Finger Localisation Test – Benton et al. 1994). Je nach Schädigungslokalisation ist das Auftreten von Agnosien anderer Sinnesmodalitäten möglich, z. B. auditive oder auch taktile Agnosie.
Sprache Sprachstörungen werden formal unterteilt in: Sprachstörungen bei psychischen Krankheiten (z. B. Sprachstörungen bei schizophrenen Psychosen, Mutismus bei Katatonie, monotones Sprechen bei Depression oder Aphonie bei Hysterie), periphere Sprachmotorik- und Artikulationsstörungen und zentrale hirnorganisch bedingte Sprachstörungen (Aphasien; Mumenthaler 1979, S. 221ff.). Aphasien, Störungen der höheren integrativen Sprachfunktionen bei weitgehend erhaltener peripherer Sprach-
motorik und weitgehend erhaltener Intelligenz, gelten neben Agnosie und Apraxie als klinisch auffälligste der 3 sog. »Werkzeugstörungen«. Testbatterien zur Aphasieprüfung umfassen in der Regel Aufgaben zur Spontansprache, zum Nachsprechen, zum Sprachverständnis, zum Benennen, zum Lesen und zum Schreiben. Die Prüfung der Sprache ist vor allem bei der Differenzialdiagnostik im Bereich der progredienten Erkrankungen des Alters von Bedeutung. So stellen Sprech- und Sprachstörungen vor allem bei der frontotemporalen Demenz (FTD), der primär progredienten Aphasie (PPA), der semantischen Demenz (SD), der frontotemporalen Demenz mit Parkinsonismus bei Mutation auf dem Chromosom 17, der kortikobasalen Degeneration (CBD), die in der neueren Literatur ab 1998 dem Pick-Komplex zugerechnet wird, aber auch beim Verlauf der Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) wichtige differenzialdiagnostische Funktionen da. Token-Test. Der am weitesten verbreitete Aphasie-Scree-
ningtest ist der Token-Test (Originalversion: De Renzi u. Vignolo 1962; deutsche Version: Orgass 1981). Der TokenTest besteht in der Originalversion aus 20 Plättchen aus Holz oder Plastik (großen und kleinen Kreisen oder Rechtecken in 5 Farben), mit denen der Proband 62 mündliche Anweisungen des Testleiters (z. B. »Zeigen Sie das kleine grüne Viereck«, »Legen Sie den roten Kreis zwischen das gelbe Rechteck und das grüne Rechteck«) ausführen soll, und erfasst primär das Sprachverständnis. Gesunde machen in diesem Test in der Regel weniger als 5 Fehler (Mittelwert 1,25, SD 0,48). Der Token-Test ist relativ leicht durchzuführen und auszuwerten, reliabel und wies in wiederholten Studien eine hohe Zuordnungsgenauigkeit auf. Beispielsweise klassifizierte der Test 88% einer Gruppe Gesunder und Hirngeschädigter mit und ohne Aphasie korrekt (Boller u. Vignolo 1966). Aachener Aphasietest. Zur Unterscheidung verschiedener Unterformen der Aphasie (amnestische, globale, Broca-, Wernicke-Aphasie und Mischformen) hat sich im deutschen Sprachraum der Aachener Aphasietest (AAT) mit den 6 Untertests Spontansprache, Token-Test, Nachsprechen, Schriftsprache, Benennen und Sprachverständnis durchgesetzt (Huber et al. 1983). Der komplette AAT ist jedoch relativ zeitaufwendig (Durchführung 30– 90 min, Auswertung 30–60 min).
Gedächtnis Was man im Alltag als Gedächtnis bezeichnet, ist genauer betrachtet ein nur locker zusammenhängender Verbund unterschiedlicher Fähigkeiten mit jeweils eigenen kortikalen Verarbeitungsarealen, die von Krankheitsprozessen auch in unterschiedlicher Weise in Mitleidenschaft gezogen werden (zur Übersicht ⊡ Tab. 22.3). Während das explizite episodische Gedächtnis bei zahlreichen neurolo-
497 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
⊡ Tab. 22.3. Gedächtnissysteme, Beschreibung, Abrufmodus und Hirnstrukturen. [Nach Tulving (1995); Brand u. Markowitsch (2003)]
System
Prozedurales Gedächtnis
Zugeordnete Hirnstrukturen
Alternative Bezeichnung
Beschreibung und Subsystem
Abrufmodus und zugeordnete Bewusstseinsstufe
Enkodieren
Speicherung
Abruf
Nichtdeklaratives Gedächtnis
Motorische und einfache kognitive Fertigkeiten, basales Konditionieren, einfaches assoziatives Lernen
Implizit, anoetisch
Basalganglien, Zerebellum
Basalganglien, Zerebellum
Basalganglien, Zerebellum
Beschreibungen von Strukturen, erhöhte Wiedererkennenswahrscheinlichkeit
Implizit, anoetisch
Primäre Assoziationskortizes
Primäre Assoziationskortizes
Primäre Assoziationskortizes
Wiedererkennen durch Bekanntheit auf der Basis sensorischer Eigenschaften
Implizit, noetisch
Posteriorer sensorischer Kortex
Posteriorer sensorischer Kortex
Posteriorer sensorischer Kortex
Verknüpftes Gedächtnis, räumliches Gedächtnis
Implizit, noetisch
Zerebraler Kortex, limbisches System
Zerebraler Kortex, Assoziationsareale
Frontotemporaler Kortex links
Explizit, noetisch
Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale
Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale
Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale
Explizit, noetisch
Präfrontaler Kortex, Limbisches System
Zerebraler Kortex (Assoziationsareale), limibsches System
Frontotemporaler Kortex rechts, limbisches System
Perzeptuelles Repräsentationssystem Priming Perzeptuelles Gedächtnis
Semantisches Gedächtnis
Faktenwissen, generisches Gedächtnis
Primäres Gedächtnis
Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis
Episodisches Gedächtnis
Persönliches Gedächtnis, Ereignisgedächtnis
Visuell, auditiv
gischen und psychiatrischen Krankheiten oft deutlich beeinträchtigt ist, sind überlernte, semantische und implizite Gedächtnisprozesse wie Priming, Konditionierung oder motorisches Lernen eher krankheitsresistent (Markowitsch 1997; Petersen u. Weingartner 1991). Die episodische Gedächtnisleistung ist zudem stark von situativen Einflüssen wie Anstrengungsbereitschaft, Stimmung, Einsatz von Gedächtnisstrategien, Übungseffekten, Distraktion, Medikamenteneinwirkung, materialspezifischen Aspekten und dem Alter des Patienten abhängig. Werte für die konkordante Validität und die Retestreliabilität liegen daher oft bedeutend niedriger als Reliabilitätskoeffizienten für Intelligenztests (Bäumler 1974; Gauggel et al. 1991). Bei der Vorgabe mehrerer episodischer Gedächtnistests sind uneinheitliche Ergebnisse eher die Regel als die Ausnahme. Die Auswahl eines geeigneten Gedächtnistests richtet sich nach Kriterien wie Alter des Patienten, Art und Schweregrad der Erkrankung, Frage nach Statusoder Verlaufsmessung, ökologische Validität und Verfügbarkeit des Testinstruments. Aus praktischen Gründen unterscheidet man zwischen Gedächtnistestbatterien, die unterschiedliche Aspekte des Gedächtnisses in einem
gemeinsam normierten Verfahren zusammenschließen, und Einzeltests.
Gedächtnistestbatterien Wechsler Memory Scale (WMS). Sie wurde von Wechsler
mit dem Gedanken entwickelt, einen dem IQ entsprechenden Gedächtnisquotienten zu bestimmen (Wechsler 1974). Inzwischen liegt sie auf englisch in der 3. Aufl. vor (»WMS-III« Wechsler 1997 b). Die deutsche Ausgabe (Härting et al. 2000) ist eine Adaptation der 2. Aufl. der Testbatterie (»WMS-R«), die in den USA seit 1987 im Einsatz war. Die WMS-R besteht aus 13 Untertests, aus denen sich 4 Indizes berechnen lassen: verbales Gedächtnis, visuelles Gedächtnis (beide zusammen bilden den allgemeinen Gedächtnis-Index), Aufmerksamkeit/ Konzentration und verzögerte Wiedergabe. Ein zusätzlicher Subtest misst Information und Orientierung – ein Bereich, der ziemlich am Rand dessen liegt, was man gemeinhin als Gedächtnis bezeichnet und folgerichtig auch nicht in die aus den anderen 13 Subtests berechneten Indizes eingeschlossen wird. Die deutsche WMS-R ist für den Altersbereich von 15–75 Jahren normiert und eignet sich besonders gut für den klinischen Einsatz. Der Test kann
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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
(ähnlich wie die Wechsler-Intelligenztests) nur als Individualtest vorgegeben werden. Im Vergleich zu den Wechsler-Intelligenztests wurde die WMS von einer Ausgabe zur nächsten stark verändert. Die ursprüngliche Form hatte nur 7 Subtests, die revidierte Form hat 14. Auch die WMS-III wurde wieder stark verändert, u. a. um der Kritik einer zu starken Sprachlastigkeit zu begegnen: nur 7 Subtests aus der WMS-R wurden beibehalten, 4 dafür neu konstruiert, von denen 2 explizit nichtsprachlich kodierte Informationen (Gesichter, Familienbilder) enthalten. Weitere Gedächtnistestbatterien. Dazu zählen der Lern-
und Gedächtnistest (LGT-3, Bäumler 1974), der Tempoleistungs- und Merkfähigkeitstest Erwachsener (TME; Roether 1984), der Berliner Amnesietest (BAT; Metzler et al. 1992), der Rivermead Behavioural Memory Test (RBMT; Wilson et al. 1985), der speziell alltagsnahe Testaufgaben benutzt, sowie die weitestgehend sprachfreie Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB; Robbins et al. 1994), die neben exekutiven Funktionen auch die Erfassung der visuellen Wahrnehmung und des visuellen Gedächtnisses ermöglicht.
Verbale Gedächtnistests Auditory Verbal Learning Test. Der Auditory Verbal
Learning Test (AVLT; Rey 1964) liegt seit 2001 in einer deutschen Version als verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT; Helmstaedter et al. 2001) vor. Er besteht aus einer Liste A mit 15 Wörtern, die dem Patienten 5-mal vorgelesen werden und die nach jedem Lerndurchgang unmittelbar anschließend vom Patienten in beliebiger Reihenfolge frei wiedergegeben werden sollen. Nach der einmaligen Vorgabe und freien Wiedergabe einer Liste B mit ebenfalls 15 Wörtern sollen die Wörter der Liste A vom Patienten unmittelbar und nach etwa 30 min nochmals ohne weitere Darbietungen frei wiedergegeben werden. Die Vorgabe einer Wiedererkennensliste mit 50 Wörtern (alle Wörter aus Liste A und B sowie 20 Distraktoren) kann sich anschließen, wobei der Patient lediglich Wörter der ersten Liste markieren soll. Vorteil des AVLT ist, dass durch die 5-malige Darbietung in den Lerndurchgängen dem Patienten ausreichend Gelegenheit gegeben wird, sich die Wörter der ersten Liste einzuprägen. Zahlreiche Ergebnismaße können berechnet werden, von denen das wichtigste die Anzahl der frei erinnerten Wörter ist. California Verbal Learning Test. Der California Verbal
Learning Test (CVLT; Delis et al. 2000) unterscheidet sich vom AVLT v. a. darin, dass jedes der 16 Wörter der Liste A zu einer von 4 Kategorien (Früchte, Gewürze, Kleidungsstücke und Werkzeuge) gehört. Insofern prüft der Test daher auch die Effizienz konzeptueller Lernstrategi-
en und die Wirksamkeit der Vorgabe der 4 Kategorien als Hinweisreize beim freien Abruf. Selective Reminding. Bei der Methode des Selective Reminding (Buschke u. Altman-Fuld 1974; eine deutsche Version ist in dem Demenztest von Kessler et al. 1988 enthalten) wird eine Wortliste zur unmittelbar anschließenden freien Wiedergabe dargeboten. In allen folgenden Darbietungen der Wortliste werden nur diejenigen Wörter erneut vorgegeben, die der Proband in der jeweils vorhergehenden Wiedergabe nicht nennen konnte. Der Test erlaubt die Berechnung verschiedener Gedächtnisparameter zum Kurz- und Langzeitgedächtnis, die allerdings untereinander relativ hoch korrelieren, und erfordert insbesondere bei älteren oder dementen Patienten eine erhöhte Belastbarkeit, da der Patient einerseits im Kopf behalten muss, jedes Mal alle Wörter wiederzugeben, sich durch die Vorgabe lediglich der zuvor nicht genannten Wörter jedoch die Darbietungsreihenfolge jedes Mal ändert und der Patient so stets auch an seine Fehler erinnert wird.
Figurale Gedächtnistests International bekannte Tests zum figuralen Gedächtnis sind der Benton-Test (Benton 1981; in der Standardversion Nachzeichnen von 10 Vorlagetafeln mit 1–3 einfachen geometrischen Formen nach 10 s Darbietung), der ReyOsterrieth Complex Figure Test (Rey 1941; Abzeichnen, unmittelbare und verzögerte freie Reproduktion einer komplexen Zeichnung, ⊡ Abb. 22.5), der Rey Visual Desgin Learning Test (Rey 1964) und der »Recurring Figures Test« (Kimura 1963; deutsche Versionen von Hartje u. Rixecker 1978; Sturm u. Willmes 1997; aus einem Satz von 20 sukzessive zuvor gezeigten Stimuluskarten mit geometrischen und irregulären Mustern kommen 8 Stimuluskarten in den folgenden 140 Testkarten 7-mal erneut vor). Als deutsche Eigenentwicklung ist das Diagnostikum für Zerebralschädigung (DCS; Weidlich et al. 2001) zu erwähnen, in dem der Patient vorher gezeigte Figuren aus dem Gedächtnis mit 5 Holzstäbchen nachlegt. Das DCS liegt inzwischen in 4. Aufl. vor und verfügt über umfangreiche Normen für den Altersbereich von 6–79 Jahren.
Gesichtererkennen Im Bereich des Erlernens und Wiedererkennens von Gesichtern wurde von Warrington (1984) der RecognitionMemory-Test für Gesichter entwickelt. Andere Verfahren erfassen die Fähigkeit, zu Gesichtern Namen oder Berufe zu lernen (Namen-Gesichter Assoziationstest – Kessler et al. 1999; Gesichter-Namen Lerntest – Schuri u. Benz 2000; Gedächtnis-für-Personen-Test – Pahlke u. Bulla-Hellwig 2002).
499 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
Implizite Gedächtnistests
a
Der Fragmentierte Bildertest (Kessler et al. 1993) wurde entsprechend einem von Gollin (1960) entwickelten Prinzip erstellt. Hierbei werden fragmentierte Strichzeichnungen von Gegenständen dargeboten, die bei jeder neuen Vorlage zunehmend besser erkennbar sind. Aufgabe des Probanden ist es, möglichst schnell die dargestellten Objekte zu erkennen. Das implizite Gedächtnis wird durch eine wiederholte Vorgabe derselben Strichzeichnungen geprüft, ausgehend von der Annahme, dass bei einem intakten impliziten Gedächtnis die Objekte früher identifiziert werden. Andere implizite Gedächtnistests sind der Supra-Blockspanne Test (Corsi 1972; Schellig 1997) und der Wortkomplettierungstest (Graf et al. 1984).
Tests für Altgedächtnis
b
c ⊡ Abb. 22.5.a-c. Rey-Osterrieth-Complex Figure einer 45-jährigen schizophrenen Patientin nach Rey (1941). a Kopie der Figur, b unmittelbare freie Wiedergabe der Figur, c verzögerte freie Wiedergabe der Figur
Der Kieler Altgedächtnistest (Leplow et al. 1993) besteht aus Multiple-Choice-Fragen zu 106 trennscharfen »famous events«, die zum Zeitpunkt der Tagesaktualität nur von über 21 Jahre alten Probanden sicher beantwortet werden können (z. B. ähnliche Items wie: Wodurch starben im Juni 1998 über 100 Menschen im Norden Deutschlands? A Flugzeugabsturz, B Tanklastzugexplosion, C Zugunglück, D Amokläufer, E Schiffsunglück, F ich kann mich nicht erinnern) und erlaubt eine Erfassung des Verlaufs retrograder Amnesien für Faktenwissen. Ähnliche Verfahren sind der Famous Faces Test von Fast, Fujiwara und Markowitsch (2007) und der »Berühmte-PersonenTest des Altgedächtnisses für öffentliche Daten 1961–1995« von Vollmer-Schmolck, Garbelotto und Schmidtke (2000). Während diese Verfahren die Abbildung eines zeitlichen Gradienten der Gedächtnisleistungen ermöglichen, kann mit dem »semantischen Altgedächtnisinventar« (Schmidtke u. Vollmer-Schmolck 1999) überlerntes Weltwissen, d. h. die Kenntnis allgemeiner Fakten ohne speziellen raum-zeitlichen Kontext, geprüft werden. Letzteres ist mit Wissenstests wie z. B. dem Subtest »Allgemeines Wissen« der Wechsler Intelligenztests vergleichbar. Zwei weitere deutschsprachige Testverfahren zur quantitativen Erfassung retrograder Gedächtnisstörungen im Bereich des autobiografisch-episodischen Altgedächtnisses stellen das autobiographische Gedächtnisinventar (Kopelman et al. 1990; in deutscher Überarbeitung Fast et al. 2007) sowie das autobiographische Altgedächtnisinterview (Schmidtke u. Vollmer-Schmolck 1999) dar. Beide Verfahren dienen der Erfassung der Erinnerungsfähigkeit an Episoden und Wissen der eigenen Biografie aus verschiedenen Lebensphasen.
Exekutive Funktionen Unter der Störung exekutiver Funktionen wird in der Regel die Störung äußerst verschiedenartiger, komplexer
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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
kognitiver Prozesse höherer Ordnung verstanden, denen in der Fachliteratur Begriffe wie Konzeptbildung, kognitive Flexibilität, Umstellungsfähigkeit, Koordination von Informationen/Prozessen, Sequenzierung, Zielüberwachung, Antizipation, Planungsfähigkeit, Initiierung, Inhibition und Problemlösen zugeordnet werden. Exekutive Beeinträchtigungen finden sich häufig nach Läsionen oder Funktionsbeeinträchtigungen des präfrontalen Kortex, sie können jedoch auch im Zusammenhang mit Dysfunktionen anderer Hirnareale auftreten (Lezak 1995; Luria 1966; Tranel et al. 1994). Der Begriff der Exekutivfunktion bezieht sich demnach auf ein multioperationales System, in welchem verschiedene kognitive Funktionen gebündelt sind, welche vor allem von den präfrontalen Hirnarealen und deren reziproken kortikalen sowie subkortikalen Verknüpfungen gesteuert werden (Stuss u. Benson 1986). Dieses System höherer Ordnung umfasst wiederum untergeordnete kognitive Funktionen, von denen das Arbeitsgedächtnis sicherlich eine der wichtigsten darstellt (Friedman et al. 2006; Tranel et al. 1994). Arbeitsgedächtnis. Das von Baddeley und Hitch (1974; vgl. auch Baddeley 1997) konzipierte Arbeitsgedächtniskonzept revidiert die Vorstellung eines einheitlichen Kurzzeitgedächtnisses und postuliert stattdessen die Existenz mehrerer kurzzeitiger Speichersysteme, die durch eine übergeordnete Instanz (zentrale Exekutive) überwacht und koordiniert werden. Es dient dem Halten und Manipulieren von Informationen, wie es für Leistungen wie z. B. das Verstehen von Sätzen, Kopfrechnen, Lernen im Allgemeinen benötigt wird. Es wird als die Schnittstelle zwischen Gedächtnis und komplexen kognitiven Prozessen verstanden. Die Annahme eines zentralen Kontrollprozesses legt eine Zuordnung des Arbeitsgedächtnisses zu den exekutiven Funktionen nahe. Die klinische Untersuchung des Arbeitsgedächtnisses beinhaltete traditionell die Erfassung einfacher Gedächtnisspannen für verbale und visuelle Informationen (z. B. in den Wechsler Gedächtnis- und Intelligenzbatterien). Da einfache Gedächtnisspannen relativ störunanfällig sind, wird dieses Konzept zunehmend kritisiert und die Messung durch komplexere Aufgaben ersetzt (Subtest Buchstaben-Zahlen-Folgen im WIE – Aster et al. 2006; Subtest Arbeitsgedächtnis in der TAP – Zimmermann u. Fimm 2002). Diese Aufgaben erfordern sowohl das Halten von Informationen als auch das gleichzeitige Bearbeiten dieser Informationen.
strategisches und effektives Handeln. Einen Überblick über die beschriebenen testpsychologischen Verfahren zum problemlösenden Denken und planvollen Handeln findet sich bei Lezak, Howieson und Loring (2004). Zwei Konzeptbildungstests wurden häufig zur Abklärung einer Dysfunktion des Frontallappens nach Schädel-HirnTrauma oder bei Schizophrenie eingesetzt und werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. Halstead Category Test. Der Halstead Category Test (HCT;
Halstead 1947, DeFilippis et al. 1979, in überarbeiteter PCForm Engel u. Fast 2007) besteht aus 208 visuell nacheinander dargebotenen Items, die in 7 Untertests nach unterschiedlichen Prinzipien gruppiert sind. In den ersten 6 Untertests sind die Items nach 4 Prinzipien geordnet (römische Zahlen von I–IV, Anzahl der Bildelemente von 1–4, Position 1–4 von hervorgehobenen Bildelementen horizontal und als Quadranten im Uhrzeigersinn angeordnet, Anteil durchgezogener im Vergleich zu punktiert markierten Bildelementen; ⊡ Abb. 22.6). Der 7. Untertest enthält Items aus den vorangegangenen Untertests und prüft die Erinnerungsfähigkeit. Aufgabe des Probanden ist es, bei jedem Item eine Zahl zwischen 1 und 4 anzugeben und über die Rückmeldung über die Richtigkeit der von ihm genannten Zahl zu prüfen, ob das von ihm gewählte Prinzip für den jeweiligen Subtest zutreffend ist. Der HCT stellt daher eher ein Lernexperiment als einen klassisch konstruierten Test dar. Von dem Test, der ein Bestandteil der Halstead Reitan Test Battery ist, existieren mehrere Versionen, die bezüglich Itemzahl (84–360) und Darbietungsart (Dia, Papier, PC) variieren. Am ökonomischsten dürfte die PC-Version mit den klassischen 208 Items im Hogrefe Testsystem sein, die in Kürze erscheinen wird (Engel u. Fast 2007). Der HCT gilt als Standardmaß für Konzeptbildung und abstrahierendes Denken, prüft aber auch die Fähigkeit, flexibel Rückmeldung in den weiteren Lösungsprozess zu integrieren, selbständig-kreatives Denken und v. a. Frustrationstoleranz. Patienten mit diffusen hirnorganischen Schäden schneiden in dem Test oft schlecht ab. Eine von Halstead (1947) angenommene Spezifität für frontale Läsionen ließ sich in Folgestudien nicht bestätigen (DeFilippis et al. 1979; Wang 1987). Bei der Interpretation ist zu berücksichtigen, dass die Leistung im HCT mit zunehmendem Lebensalter abnimmt und der Test eine wenigstens durchschnittliche Intelligenz voraussetzt. Wisconsin Card Sorting Test. Beim Wisconsin Card Sort-
Konzeptbildung, Planungsfähigkeit, Denken Problemlösen als höchste kognitive Fähigkeit erfordert neben intakten grundlegenden Funktionen wie Wahrnehmung, Motorik, Sprache und Gedächtnis meist konvergentes und divergentes Denken sowie sog. exekutive Fähigkeiten wie Willenskraft, Planen und zielgerichtetes,
ing Test (WCST; Berg 1948) soll der Proband 4 Stimuluskarten Antwortkarten nach den Kategorien Farbe, Form und Anzahl zuordnen und flexibel auf den vom Versuchsleiter nicht angekündigten Wechsel der Kategorie reagieren (⊡ Abb. 22.7).
501 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
⊡ Abb. 22.6. Beispiel-Item des Halstead Category Tests im Hogrefe-Test-System (Engel u. Fast 2007)
Beispiel Vor dem Probanden liegen dabei 4 Stimuluskarten, die ein rotes Dreieck, 2 grüne Sterne, 3 gelbe Kreuze bzw. 4 blaue Kreise zeigen, in einer horizontalen Reihe. In der Standardversion soll der Proband 128 Antwortkarten, die 1–4 Symbole (Dreiecke, Sterne, Kreuze oder Kreise) in den Farben Rot, Grün, Gelb und Blau zeigen, nacheinander vor die 4 Stimuluskarten legen. Der Proband beginnt einfach zu legen und erfährt aus der Rückmeldung (»richtig«, »falsch«), ob die Zuordnung der vom Testleiter zuvor ausgewählten Kategorie entspricht. Ist die Kategorie des Testleiters beispielsweise Farbe, muss eine Antwortkarte mit 1 gelben Stern unter die Stimuluskarte mit den 3 gelben Sternen gelegt werden. Nach jeweils 10 richtigen Reaktionen des Probanden wechselt der Testleiter ohne Ankündigung das Konzept. Der Test beginnt mit der Kategorie Farbe, wechselt zu Form und Anzahl, dann nochmals zu den Kategorien Farbe, Form und Anzahl und endet, wenn die 6 Kategorien richtig (d. h. 10-mal nacheinander) gelegt wurden, der Proband den Testablauf entweder offensichtlich nicht versteht oder den Test korrekt erklären kann.
Die wichtigsten Auswertungskategorien sind die Anzahl der vollständig erreichten Kategorien (maximal 6), die Anzahl perseverativer Fehler (Beibehalten einer falschen Kategorie zu Beginn des Tests oder einer richtigen Kategorie, nachdem der Testleiter das Prinzip gewechselt hat) und das vorzeitige Verlassen einer richtigen Kategorie. Modifizierte Version. In einer modifizierten Version des
Wisconsin Card Sorting Tests (MWCST; Nelson 1976), die
⊡ Abb. 22.7. Wisconsin Card Sorting Test, wird im Beispiel erklärt
inzwischen die am häufigsten benutzte ist (Grant u. Berg 1993), wird der Wechsel der Kategorie durch den Testleiter angekündigt, werden Karten, die mehreren Kategorien zugleich zugeordnet werden können, entfernt, und der Patient legt durch seine Wahl beim ersten Item die erste Kategorie selbst fest. Der MWCST ist daher für Patienten leichter als der WCST und wird auf der Basis von 48 Antwortkarten durchgeführt. Diagnostischer Wert. Insbesondere die Anzahl persevera-
tiver Fehler im WCST ist bei Patienten mit Frontalhirnläsionen höher als bei gesunden Kontrollen (Lezak 1995, S. 632). Innerhalb von Patientenpopulationen ist der WCST auch sensitiv für diffuse Hirnschäden und Leistungseinbußen u. a. bei Demenz, Alkoholismus, Morbus Parkinson und multipler Sklerose (Lezak 1995, S. 624).
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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
Verbale Assoziationsfähigkeit, Wortflüssigkeit
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Wortflüssigkeitstests fordern vom Testnehmer, in begrenzter Zeit möglichst viele Wörter zu nennen, die mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben beginnen (»lexikalische Wortflüssigkeit«) oder Elemente einer bestimmten Kategorie (z. B. Tiere) sind (»semantische Wortflüssigkeit«). Sie lassen sich schnell durchführen und sind nicht zuletzt deshalb als Elemente von Testbatterien beliebt, zum Beispiel im Leistungsprüfsystem (LPS, Horn 1983) oder in der CERAD-Testbatterie (s. unten). Für eine umfassende Testung steht seit einigen Jahren der Regensburger Wortflüssigkeitstest zur Verfügung (RWT; Aschenbrenner et al. 2000).
Testbatterien für exekutive Funktionen Wilson et al. haben 1996 das »Behavioural Assessment of the Dysexecutive Syndrome« (BADS) publiziert, eine Testbatterie mit 6 Subtests zu den Bereichen Planungsfähigkeit und Konzeptbildung. Für diesen Test gibt es auch eine deutsche Testanweisung, aber (noch) keine deutschen Normen. Auf Grund der für einen neuen Test schon recht umfangreichen Validitätsangaben dürfte dieses Verfahren im Vergleich mit den oben genannten Einzeltests gewisse Vorteile bei der klinischen Anwendung haben.
22.2.3
Persönlichkeit
In der Praxis sind 2 ihrer Konstruktion nach sehr unterschiedliche Methoden zur Erfassung der Persönlichkeitsstruktur üblich: 1. die psychometrischen Persönlichkeitstests (meist Persönlichkeitsfragebögen) einerseits und 2. die projektiven Tests andererseits. Persönlichkeitsfragebögen. Sie füllt ein Proband oder Pa-
tient meist selbständig aus. Er gibt quasi eine Art schriftliche Selbstauskunft ab. Diese Tests sind ähnlich objektiv wie Leistungstests, d. h. sie sind von der Person des Untersuchers oder Auswerters weitgehend unabhängig. Auch hinsichtlich Zuverlässigkeit und Gültigkeit lassen sich die von den Leistungstests her bekannten Regeln und Verfahren anwenden. Ein wichtiger Unterschied, der gerade im klinischen Bereich gelegentlich Probleme bereitet, liegt in der größeren Verfälschbarkeit: Leistungstests provozieren eine maximale Leistung und sind – sieht man einmal von gezielten Vorbereitungsmaßnahmen auf den Test ab – nur in eine Richtung willkürlich verfälschbar (man kann willkürlich nur eine schlechtere Leistung als die geforderte produzieren). Dagegen fordern Persönlichkeitstests ein typisches Verhalten, weshalb sowohl eine Simulation auffälliger Verhaltensweisen bei Gesunden als auch eine Dissimulation bei Kranken möglich ist.
Als Standard für psychometrische Persönlichkeitsfragebögen haben sich in der akademischen differenziellen Psychologie für den Bereich der Normalpersönlichkeit Fragebögen auf dem Hintergrund der Fünf-FaktorenTheorie der Persönlichkeit etabliert. Zu nennen sind vor allem das NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae, revidierte Fassung (NEO-PI-R – Ostendorf u. Angleitner 2004, s. a. Costa u. McCrae 1992) und dessen Kurzfassung, das NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEOFFI, Borkenau u. Ostendorf 1993). In Deutschland konstruierte, aber bisher weniger verbreitete Tests dieser Art sind das TIPI (Trierer integriertes Persönlichkeitsinventar – Becker 2002) und das HPI (Hamburger Persönlichkeitsinventar – Andresen 2002). Für die Anwendung in der Psychiatrie sind diese Persönlichkeitstests, die explizit die Beschreibung der Normalpersönlichkeit anstreben (ein weiteres Beispiel dafür ist der 16 PF-Persönlichkeitstest von Cattell, Schneewind et al. 1998), meist wenig ergiebig. Im Folgenden werden deshalb nur Fragebögen besprochen, bei denen die Erfassung von klinisch relevanten Normabweichungen im Vordergrund steht. Freiburger Persönlichkeitsinventar. Es erfasst in seiner
revidierten Version (FPI-R; Fahrenberg et al. 2001) 10 relativ unabhängige Persönlichkeitsdimensionen und die beiden übergreifenden Faktoren Extraversion und Emotionalität (in anderen Bögen als Neurotizismus bezeichnet). Zu den Dimensionen zählen neben Charaktereigenschaften im engeren Sinne (Lebenszufriedenheit, soziale Orientierung, Leistungsorientierung, Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, Offenheit) auch psychosomatische Konzepte wie körperliche Beschwerden und Gesundheitssorgen. Damit reicht das FPI über den relativ engen Gültigkeitsbereich »normaler« Persönlichkeitsinventare (s. oben) hinaus, ohne jedoch den Bereich psychischer Störungen komplett abzubilden. Für das FPI liegen umfangreiche Hinweise zur faktoriellen Validität wie zur Kriterienvalidität vor. Gießen-Test. Einen ähnlichen Anwendungsbereich deckt auch der Gießen-Test (Beckmann et al. 1990) ab, wobei aber sozialpsychologische Konzepte wie Dominanz, Durchlässigkeit, soziale Potenz, soziale Resonanz, Kontrolle und Grundstimmung im Vordergrund stehen. MMPI-2. Das Minnesota Multiphasic Personality Inventory-2 (MMPI-2; Hathaway u. McKinley 2000) deckt den Merkmalsbereich psychischer Störungen am vollständigsten ab. In den 1930er Jahren wurde das Instrument aus einem psychiatrischen Fragenkatalog von gut 1000 Fragen entwickelt. Die derzeit gültige Version enthält 567 Items, die sich sowohl auf überdauernde Persönlichkeitsmerkmale als auch auf Symptome psychischer Störungen beziehen. Die Standardauswertung, für die nur
503 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
die ersten 370 Items des MMPI-2 notwendig sind, erfolgt auf der Basis von 3 Validitätsskalen und 10 klinischen Standardskalen. Mit allen Items können 15 weitere Inhaltsskalen und 3 weitere Validitätsskalen ausgewertet werden. In der Praxis geben die 3 (bzw. 6) Validitätsskalen dem Anwender eine relativ zuverlässige Information über die Gültigkeit des Testprofils, ein Aspekt, der gerade bei psychiatrischen Patienten von besonderer Wichtigkeit ist. Die klinischen Skalen erfassen inhaltlich den gesamten Bereich psychischer Störungen. Es existiert eine reichhaltige, in großen Teilen empirisch abgesicherte Hintergrundinformation zur Häufigkeit von Skalenerhöhungen (Profilkonfigurationen) bei bestimmten Patientengruppen, die auch systematisch für computerisierte Testinterpretationen verwendet wird (Engel 1980). Mit dem MMPI-2 ist es möglich, relativ ökonomisch eine umfassende Selbstauskunft über Persönlichkeit und Beschwerden eines psychiatrischen Patienten zu erhalten. Neben der Handauswertung bietet der Verlag auch einen Auswertungs- und Interpretationsservice per Fax an. Projektive Testverfahren. Ihr Wesen liegt darin, aus Reaktionen einer Person auf wenig strukturiertes Reizmaterial Rückschlüsse auf wichtige Komponenten der Persönlichkeit zu ziehen. Auf sie trifft das Merkmal der Objektivität in weit geringerem Maße zu: Hier sind sowohl die Darbietungsregeln als auch v. a. die Auswertungsverfahren weniger präzise und intersubjektiv gültig zu formulieren. Projektive Verfahren haben mehr den Charakter einer klinischen Untersuchung, in der mit Hilfe von Bildmaterial Geschichten oder Deutungen verlangt werden. Die Interpretation erfolgt aufgrund empirischer oder (häufiger!) nur theoretisch erwarteter Beziehungen zwischen Eigenheiten der Antworten wie z. B. Wahrnehmungsschärfe, Kontextabhängigkeit, Inhalt oder Realitätsnähe und deren Vorkommen bei Persönlichkeitstypen oder klinischen Gruppen. Für die meisten projektiven Verfahren gibt es mehrere Interpretationssysteme. Die wichtigsten projektiven Tests sind das RorschachVerfahren (Rorschach 1992) und der Thematische Apperzeptionstest (Murray 1991). Beide sind international gebräuchlich, und es gibt eine Fülle an Literatur über die Tests. Für den Rorschach-Test ist im deutschen Sprachraum die Anleitung von Bohm (1995) weit verbreitet, daneben gibt es auch eine deutsche Anleitung nach dem Verfahren von Klopfer u. Davidson (1974). Das bei weitem am besten standardisierte Auswertungssystem von Exner (1993), das sich in den USA großer Wertschätzung erfreut, konnte sich hier noch wenig durchsetzen, es gibt auch keine deutsche Übersetzung. Die projektiven Verfahren haben sich v. a. in der forensischen Gutachtenspraxis eine gewisse Stellung erhalten. Sie werden hier wegen ihrer vermutlich geringeren Verfälschbarkeit den Fragebogenverfahren vorgezogen.
22.2.4
Störungsspezifische Diagnostik
Neben dem diagnostischen Ziel, abgrenzbare Persönlichkeitsmerkmale durch Tests zu erfassen, sind gerade in der diagnostischen Praxis der Psychiatrie Verfahren verbreitet, die störungsspezifische Einbußen messen sollen. Ihr Ziel liegt in der zusammenfassenden Beurteilung von Leistungen (bzw. Leistungsdefiziten), die für eine bestimmte Störung typisch sind. Der aus methodischen Gründen i. Allg. angestrebte Wunsch nach Homogenität von Tests bzw. Subtests wird damit explizit aufgegeben. Am häufigsten sind solche Verfahren im Bereich der Demenzdiagnostik. Allerdings lassen sich auch manche neuropsychologischen Testbatterien hierunter subsumieren, weil bei ihnen (s. unten) ein Test oder Subtest eher einzelne Symptome einer Störung misst und nicht in erster Linie ein zusammenhängendes und bei allen Personen erhebbares Merkmal kognitiver Leistungsfähigkeit. Die Abgrenzung der in diesem Abschnitt diskutierten Verfahren von den standardisierten Verfahren zur Einschätzung von Existenz und Schweregrad einer psychischen Störung bzw. zur Erhebung von Diagnosen ( Kap. 21) ist unscharf. Entsprechend der geänderten Zielsetzung sind sie meistens nicht an einer Normstichprobe geeicht und liefern dementsprechend keine standardisierten Scores. An die Stelle einer statistisch definierten Normdeviation (z. B. eine oder zwei Standardabweichungen) treten bei diesen Verfahren inhaltlich festgelegte Kriterien für das Vorliegen einer Störung. Diese Kriterien beziehen sich i. Allg. nicht auf einzelne Skalen sondern auf Konfigurationen mehrerer Merkmale. In diesem Abschnitt sind die entsprechenden Verfahren dann aufgenommen worden, wenn zu ihrer Anwendung kein klinisches Wissen notwendig ist und sie von Hilfspersonal durchgeführt werden können.
Demenz Bei der Demenz stehen Störungen der Kognition im Mittelpunkt der Symptomatik. Daraus ergibt sich direkt die hohe Relevanz, die einer neuropsychologischen Testuntersuchung für diese Diagnose zukommt. Für die Abgrenzung einer Demenz von einer altersgemäß durchschnittlichen Kognition gibt es viele relativ einfache und schnelle Testverfahren (z. B. MMSE, s. unten). Die diagnostische Sicherung einer Demenz bei einem kognitiv Minderbegabten kann dagegen schon höchst komplex sein (s. a. Jahn 2004). Zudem gewinnen in der Demenzdiagnostik zunehmend Fragen der Frühdiagnostik (Collie u. Maruff 2000) und der Differenzialdiagnostik verschiedener Demenzformen (Kessler u. Kalbe 2000) an Relevanz. Auch die Abgrenzung der Demenz von anderen psychiatrischen Krankheitsbildern gewinnt an Bedeutung: Während die Differenzialdiagnose von Demenz, Pseudodemenz und Depression schon lange untersucht wird (Beblo u. Herrmann 2000), weisen jüngere Studien auch auf die Rele-
22
504
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
vanz der Abgrenzung von spät beginnender Schizophrenie oder bipolarer Störung von der Demenz hin (Arciniegas 2006; Kitabayashi et al. 2005; Young et al. 2006). Aus diesen differenzialdiagnostischen Fragestellungen ergibt sich häufig die Notwendigkeit, neben den kurzen Screening-Verfahren auch standardisierte Testbatterien zur Leistungsprofilerstellung einzusetzen (s. a. Dunn et al. 2000). Mini-Mental State Examination. Ein einfaches und häufig
gebrauchtes Screening-Verfahren zur Erfassung schwerer kognitiver Störungen und zur Einschätzung des Schweregrads einer Demenz ist der MMSE (Mini Mental State Examination) von Folstein et al. (1975), der auch in mehreren Versionen auf Deutsch vorliegt (z. B. Folstein et al. 1990). Innerhalb von 5–10 min werden Fragen und Aufgaben in den Bereichen Orientierung, Aufmerksamkeit, Rechnen, Gedächtnis, Sprache und Ausführung einfacher Handlungen vorgegeben und zu einem Globalscore verrechnet (⊡ Tab. 22.4). Mit dem MMSE wird insbesondere bei klinischen Prüfungen, aber auch bei anderen wissenschaftlichen Untersuchungen, der Schweregrad der untersuchten Stichprobe dementer Patienten beschrieben. Der MMSE erfordert kein spezifisch klinisches Wissen und kann problemlos von angelernten Personen vorgegeben werden. Zu fordern ist lediglich, dass diese generell mit der Durchführung von Tests bei kognitiv beeinträchtigten Patienten vertraut sind. Alzheimer`s Disease Assessment Scale. Eine erweiterte
Form des MMSE ist die »Alzheimer’s Disease Assessment Scale« (ADAS – Rosen et al. 1993), die über einen kognitiven Testteil und einen nichtkognitiven Ratingteil verfügt. Der kognitive Teil dauert mit 30–40 min erheblich länger als der MMSE, gewichtet Gedächtnisdefizite aber auch viel stärker und wird damit den spezifischen Defiziten Dementer besser gerecht. CERAD-Batterie. Im Rahmen einer Zusammenarbeit amerikanischer Gedächtnisambulanzen entstand Ende der
80er Jahre eine Screening-Testbatterie zur (Früh-)Erkennung von Demenzen (The Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease/CERAD – Morris et al. 1989; Welsh et al. 1991; Welsh et al. 1994), die ebenfalls Gedächtnisstörungen betont. Inzwischen ist diese CERAD-Batterie auch in andere Sprachen übersetzt und wird als Screening-Instrument häufig verwendet. Eine deutsche Version haben Thalmann et al. (1998) publiziert. Das Testmaterial kann man frei über das Internet herunterladen, es gibt auch einen Auswertungsservice für den Test. Zusammen mit Validierungsdaten haben Satzger et al. (2001) eine einfache grafische Auswertung vorgelegt.
RBANS-Batterie. Aus den letzten Jahren ist eine weitere Testbatterie für den Einsatz in der Demenzzdiagnostik zu nennen, die Repeatable Battery for the Assessment of Neuropsychological Status (RBANS) von Randolph (1998). In 12 kurzen Subtests werden Leistungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Sprache, Visuomotorik, Lernfähigkeit und Gedächtnis erfasst. Im Vergleich zur CERAD bietet die RBANS vor allem eine umfassendere Gedächtnisprüfung. Die differenzialdiagnostische Eignung beider Batterien ist durch die fehlende Erhebung exekutiver Funktionen eingeschränkt, deren Erfassung vor allem für frontalhirnbetonten Demenzen wichtig ist. Für eine ergänzende Diagnostik sind weitere Verfahren notwendig, zum Beispiel zur Erfassung der Handlungsplanung und -regulation (Turm von London – Culbertson u. Zilmer 2001; Planungstest – Kohler u. Beck 2000), des Problemlösens (Standardisierte Linksche Probe – Metzler 2000) und des flexiblen Denkens (Halstead Category Test – DeFilippis et al. 1979). Frontal Assessment Battery (FAB). Die FAB ist ein als
»Bedsidetest« angelegtes kurzes Screeningverfahren, das frontalhirnassoziierte kognitive und behaviorale Funktionen untersucht. In 6 Untertests werden die Funktionen Kategorienbildung, mentale Flexibilität, motorische Programmierung, exekutive Handlungskontrolle, Interferenzanfälligkeit, Selbstregulation, Inhibitionsfähigkeit und Unabhängigkeit von Umweltreizen geprüft (Dubois et al. 2000).
Neuropsychologische Testbatterien Aus der großen Mannigfaltigkeit neuropsychologischer Testverfahren, von denen viele eher ad hoc konstruierten experimentellen Prüfungen gleichen, deren Gültigkeit mehr durch Einzelfälle als durch breite Validitätsuntersuchungen belegt ist und deren Darstellung den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen würde, ragen einige Verfahren heraus, die als neuropsychologische Testbatterien breitere Anwendung auch in der Psychiatrie gefunden haben. Testbatterien. Die Halstead-Reitan Neuropsychologische Testbatterie (Heaton et al. 1991; Reitan u. Wolfson 1993)
ist eine Sammlung von Tests, über die es v. a. in den USA umfangreiche Untersuchungen gibt. In Deutschland sind nur einzelne Teile dieser Batterie (v. a. Category-Test und Trail-Making-Test) in Gebrauch. Daneben gibt es Testbatterien aus den Arbeitsgruppen von Arthur Benton (Benton et al. 1994) und Larry Squire (Davis et al. 1995). Charakteristisch für diese Verfahren ist ein normorientierter Ansatz bei der Konstruktion der Tests, ein einfacher Testaufbau, der eine Anwendung durch Hilfskräfte möglich macht, und das Ziel einer gruppenstatistischen Validierung.
22
505 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
⊡ Tab. 22.4. Modifizierte, nicht zur Testdurchführung bestimmte Version des Mini-Mental-Status-Test: Beispielaufgaben in Anlehnung an die Originalform Nummer
Punktzahl
1
Welcher Wochentag ist heute?
1
2
Welches Datum?
1
3
Welcher Monat?
1
4
Welche Jahreszeit?
1
5
Welches Jahr?
1
6
Wo sind wir hier? (zuhause, Krankenhaus, Heim)
1
7
Welches Stockwerk?
1
8
In welchem Ort, in welcher Stadt?
1
9
In welchem Bundesland?
1
10
In welchem Land?
11
Sprechen Sie nach (1 Wort pro Sekunde; bei Verständnisschwierigkeiten bis zu 5-mal vorsagen)
1
12 13
Apfel
1
Becher
1
Seil
1
14–18
Buchstabieren Sie rückwärts! Stier (jeder richtige Buchstabe in rückwärtiger Reihenfolge zählt als ein Punkt):
Wenn » r-e-i-t-s« buchstabiert wird
5
19
Welches waren die 3 Wörter, die vorhin nachzusprechen waren?
Wenn »Apfel« genannt wird
1
20
Wenn »Becher« genannt wird
1
21
Wenn »Seil« genannt wird
1
22
Was ist das? (Stift wird vorgezeigt)
Wenn »Stift« gesagt wird
1
23
Was ist das? (Uhr wird vorgezeigt)
Wenn »Uhr« gesagt wird
1
24
Sprechen Sie nach: »Bitte keine warum und weshalb«
Wenn »Bitte keine warum und weshalb« gesagt wird
1
25
Ausführen von Befehlen
Nehmen Sie ein Blatt Papier!
1
26
Falten Sie es in der Mitte!
1
27
Legen Sie es auf den Stuhl!
1
»Öffnen Sie den Mund!«
1
Vorgabe einer Figur
1
28
Lesen und anschließendes Ausführen eines auf Papier gut lesbaren Befehls
29
Schreiben Sie auf dieses leere Blatt irgendeinen Satz
30
Zeichnen Sie diese Figur ab
Gesamtpunktzahl
Neuropsychological Assessment Battery (NAB). Die NAB
(Stern u. White 2003) ist eine neue, umfassende, integrative und modular aufgebaute Batterie von 33 neuen neuropsychologischen Tests, die Störungen einer Vielzahl neuropsychologischer Fertigkeiten und Funktionen bei Erwachsenen zwischen 18 und 97 Jahren erfasst. Die Batterie setzt sich aus den Modulen Aufmerksamkeit, Sprache, Gedächtnis, räumlich-visuelle Fähigkeiten und exekutive Funktionen zusammen und bietet zusätzlich eine Screening-Version mit 14 Subtests aus den genannten Bereichen. Es ist eine adaptive Vorgehensweise möglich, bei
1
max. 30
der man zunächst die Screening-Version vorgibt und danach nur die Bereiche intensiv untersucht, bei denen sich Defizite ergeben haben. Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB). Die CANTAB (Robbins et al. 1994) ist eine PC-
gestützte Testbatterie, die in 12 Untertests weitestgehend sprachfrei Lernfähigkeit und Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit, räumlich-visuelle Analyse, Arbeitsgedächtnis, Problemlösen und planerische Fähigkeiten prüft. Neben der ausführlichen Ge-
506
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
dächtnisprüfung liegt ein Schwergewicht auf der Erfassung exekutiver Funktionen. Bisher wurde sie vorwiegend im Rahmen klinischer Prüfungen eingesetzt.
22
Ausblick Die psychologische Testdiagnostik blickt auf eine 100jährige Tradition zurück. Phasen der Euphorie über neue Methoden und neue Tests wurden abgelöst von Phasen der Skepsis, wobei letztere mehr durch inhaltliche Vorbehalte gegen den Zweck der Testung als durch Einwände gegen die Testmethodik per se gekennzeichnet waren. Beispiele dafür sind gesellschaftskritische Einwände gegen Auswahlverfahren insgesamt (Pulver et al. 1978), speziell gegen die Fairness der Tests bei Minoritäten (Equal Employment Opportunity Commission 1974), oder auch der absichtliche Verzicht auf normorientierte Diagnostik (zugunsten einer individuumszentrierten Verhaltensanalyse) in der Frühzeit der Verhaltenstherapie. Die verbesserte Kooperation von Psychiatrie, Neurowissenschaften und Neuropsychologie hat in den letzten 20 Jahren unsere Kenntnisse über die neuronalen Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens erheblich verbreitert, sowohl im Bereich kognitiver Prozesse (»Cognitive Neurosciene«) als auch für das Erleben und den Ausdruck von Affekten (»Affective Neuroscience«). Die Integration von Bildgebung, Neuropathologie und Neuropsychologie könnte das diagnostische Vorgehen in Psychiatrie und Psychosomatik in den nächsten Jahrzehnten verändern, weil der systematische Erkenntnisgewinn einer objektiven integrativen Diagnostik zu neuen Diagnosekonventionen führen sollte, die mehr als bisher auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen.
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22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
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22
23 23 Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring B. Bondy, M. J. Schwarz
23.1 Klinische Routineuntersuchung – 512 23.1.1 Laborkontrollen im Rahmen der medikamentösen Therapie – 512 23.1.2 Lues-Screening – 513 23.1.3 Schilddrüsenuntersuchung – 513 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3
Liquordiagnostik – 514 Liquorpunktion und erste Untersuchungen – 515 Quantitative Bestimmungen – 515 Isoelektrische Fokussierung zum Nachweis oligoklonaler Banden (IEF) – 516 23.2.4 Zellpopulationen im Liquor – 516 23.3 Biochemische Marker des Alkoholismus – 517 23.3.1 Klinisch-chemische Parameter bei Alkoholismus – 517 23.3.2 Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) – 519 23.3.3 Ethylglucuronid – 520
23.4 Alzheimer-Demenz (AD) – 520 23.4.1 Apolipoprotein E (ApoE) – 520 23.4.2 β-Amyloid(1-42), τ-Protein und phospho-τ Protein im Liquor cerebrospinalis – 521 23.5 Therapeutisches Drugmonitoring (TDM) – 522 23.5.1 Indikationen für TDM psychotroper Medikamente – 522 23.5.2 TDM der Antidepressiva – 524 23.5.3 TDM der Antipsychotika – 524 23.5.4 Phasenprophylaktika und Antiepileptika – 525 23.5.5 Andere psychotrope Medikamente – 526 23.5.6 Methodische Aspekte – 526 23.5.7 Empfohlene therapeutische Bereiche – 526 Literatur
– 527
> > Die Psychiatrie ist mehr als andere Bereiche der Medizin abhängig von der klinischen Untersuchung der Symptome; sie kann sich bisher nicht darauf verlassen, anhand von Laborbefunden eine Diagnose definitiv bestätigen oder auszuschließen zu können. Dennoch führte die zunehmende Etablierung psychopharmakologischer Behandlungsstrategien und auch die wachsende Erkenntnis, dass zahlreiche organische Störungen psychische Symptome induzieren können dazu, dass heute die psychiatrische Diagnostik verschiedene Laborparameter mit einbezieht. Ein weites Spektrum an Möglichkeiten steht dabei zur Verfügung. Neben den in der Allgemeinmedizin üblichen klinisch chemischen, serologischen oder hämatologischen Methoden werden zunehmend auch biochemische, molekularbiologische oder immunologische Untersuchungsstrategien herangezogen. Außer der Aufklärung zugrundeliegender organischer Störungen wird von diesen Befunden zunehmend erwartet, dass sich mit ihrer Hilfe Diagnosen sichern lassen und somit Marker für psychopathologische Einheiten zur Verfügung stehen, die das nosologische Verständnis unterstützen oder erweitern. Die laborchemische Diagnostik dient auch dazu, die Behandlung zu überwachen und mögliche toxische Wirkungen der Medikamente frühzeitig zu erfassen. Die Bestimmung der Plasmakonzentrationen von Psychopharmaka, die Überprüfung der Leber- und Nierenfunktion, die Kontrolle des hämatopoetischen Systems oder die Überwachung der Schilddrüsenfunktion gehören heute zu den Routineuntersuchungen im Rahmen einer effektiven Behandlung mit Psychopharmaka.
512
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
23.1
23
Klinische Routineuntersuchung
Obwohl es bisher keine einheitlichen Richtlinien gibt welche Parameter bei psychiatrischen Patienten zu untersuchen sind, richtet man sich nach dem allgemeinen klinischen Standard. Vor allem zu Beginn einer stationären Behandlung werden die folgenden Parameter routinemäßig überprüft: Blutbild, klinisch chemische Untersuchung des Serums mit Blutzucker, orientierenden Werten der Leber- und Nierenfunktion und Bestimmung der Elektrolyte sowie Urinuntersuchung (Normwerte in ⊡ Tab. 23.1). ! Vielfach hat sich auch die routinemäßige Untersuchung der Schilddrüsenparameter durchgesetzt, da bei Störungen in diesem Bereich gelegentlich depressive Verstimmungen im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen oder eine bereits bestehende psychotische Symptomatik noch erheblich verschlechtert werden kann. Die Entscheidung für weiterführende Untersuchungen, wie die Suche nach antinukleären Antikörpern oder die Urinuntersuchung auf Porphyrine oder Schwermetalle wird nicht zuletzt von der Kosten-Nutzen-Analyse beeinflusst. Allerdings muss in Erwägung gezogen werden, dass Infektions- und Bindegewebserkrankungen oder Kupferstoffwechselstörungen (Morbus Wilson) zumindest vorübergehend als psychiatrische Störung imponieren können. Aber auch bei anderen neurologischen oder somatischen Erkrankungen (multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Alzheimer-Demenz, HIV-Infektionen) treten psychiatrische Symptome auf.
Lumbalpunktion In vielen Institutionen hat sich die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis als Routinemaßnahme bei der Erstmanifestation von Psychosen durchgesetzt. Obwohl die Lumbalpunktion nur bei geeigneten technischen Voraussetzungen von Klinik und Labor (unter strenger Beachtung der Kontraindikationen) durchgeführt werden sollte, lassen sich mit ihrer Hilfe doch zumindest mögliche organische Ursachen oder Begleiterkrankungen, wie blande verlaufende entzündliche Prozesse oder maligne Tumoren ausschließen ( Abschn. 23.2).
23.1.1
Laborkontrollen im Rahmen der medikamentösen Therapie
Obwohl Psychopharmaka im Allgemeinen eine relativ große therapeutische Breite haben, gibt es doch bei zahlreichen Patienten eine Reihe von unerwünschten Wir-
kungen. Da diese auch bei bereits bekannten und bewährten Substanzen auftreten, sind regelmäßige Laborkontrollen in allen Fällen erforderlich. Betroffen sind in erster Linie die Hauptausscheidungsorgane Leber und Nieren, sowie das blutbildende System. Obwohl die Mehrzahl dieser unerwünschten Wirkungen nicht lebensbedrohend ist, stellen gelegentlich fulminant verlaufende Blutbildveränderungen ein erhebliches Risiko dar.
Blutbild Veränderungen des weißen Blutbildes gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen im Rahmen einer Therapie mit Psychopharmaka. Meist treten nur passagere, geringgradige Leukozytosen, Leukopenien oder Eosinophilien auf, v. a. bei der Behandlung mit niederpotenten Neuroleptika oder Clozapin (Klimke u. Klieser 1995). ! Obwohl es sich meist um Befunde ohne wesentliche klinische Relevanz handelt, sollte bei jeder Leukopenie (Anzahl der Leukozyten 4 Zellen/μl) die weitere mikroskopische Diagnostik durchgeführt (Carson u. Serpell 1996). ! Um eine einwandfreie Beurteilung der Zellen zu gewährleisten, ist es unbedingt erforderlich, dass möglichst innerhalb von 2 h die Zellzahl ermittelt und ggf. das Präparat für die Zelldifferenzierung hergestellt wird. Auch eine kurzfristige Aufbewahrung unter Kühlung kann die Beurteilung der Zellen erheblich beeinträchtigen.
Untersuchung nach PANDY Häufig wird parallel zur Zellbestimmung die einfache Untersuchung nach PANDY durchgeführt, um orientierend Aufschlüsse über einen möglicherweise erhöhten Eiweißgehalt des Liquors festzustellen. Dazu werden einige Tropfen Liquor mit einer 1%igen Karbollösung vermengt. Die Mischung zeigt sich entweder farblos bis opal (normaler Eiweißgehalt) oder mehr oder weniger trüb, was im Befund mit einem oder mehreren Pluszeichen angegeben wird. Der normale Liquor ist klar, farblos, nahezu frei von Zellen (10/3 oder >4/μl werden die Zellen mit Hilfe einer Zytozentrifuge auf einen Objektträger schonend sedimentiert und nach PappenheimFärbung weiter differenziert (Walts u. Strigle 1995).
Zellen des normalen Liquors Im lumbal entnommenen und nicht durch eine Erkrankung des zentralen oder peripheren Nervensystems veränderten Liquor kommen regelmäßig Lymphozyten und Monozyten (70% gegen 30%) vor. Es handelt sich um inaktive Zellen, die weitgehend bei einer konstanten Konzentration gehalten werden. Neben diesen Zellen finden sich gelegentlich Granulozyten, häufig auch (punktionsbedingt) Erythrozyten. Nur die ersten 3 ml des entnommenen Liquors weisen diesen zytologischen Befund auf, in späteren Portionen macht sich eine quantitative und qualitative Zellveränderung bemerkbar, Zeichen der Degeneration und Aktivierung können auftreten. Gelegentlich lassen sich auch Ependymzellen oder Zellen des Plexus chorioideus finden, ohne dass diesen eine pathognomische Bedeutung zukäme. Zu den Zufallsbefunden zählen ebenfalls Knorpelzellen, die anhand ihres charakteristischen Aussehens leicht zu erkennen sind. Gelegentlich finden sich retikuläre Zellen, unspezifisch polymorph gestaltete Zellen, die als Vorstufen der Makrophagen angesehen werden. Bei ausgereift phagozytierenden retikulären Zellen zeigt sich das Protoplasma aufgelockert, granuliert und netzartig strukturiert. Gerade bei normaler Zellzahl ist es fast immer schwierig, anhand einzelner zytomorphologischer Veränderungen darüber zu befinden, ob es sich um einen normalen oder pathologischen Zellbefund handelt.
Pathologisches Zellbild Von Interesse für die Psychiatrie sind v. a. akute Infektionen, die ein rasches Handeln mit geeigneten Maßnahmen erfordern. Oft ist das Differenzialzellbild des Liquors der einzige Parameter, der eine rasche Charakterisierung erlaubt. Zu Beginn einer bakteriellen Infektion überwiegt die neutrophile Zellreaktion mit deutlichen Pleozytosen von bis zu 15.000 Granulozyten/μl. Bei effizienter antibakteri-
eller Behandlung kann sich die Zellzahl in wenigen Tagen halbieren. Auch bei Virusinfektionen kann initial eine neutrophile Phase auftreten; meist findet sich aber zum Zeitpunkt der ersten Punktion ein rein lymphozytäres Bild, mit einer im Vergleich zur bakteriellen Infektion wesentlich geringeren Pleozytose. In späteren Stadien der Erkrankungen und v. a. unter Behandlung kommt es zu einem Shift der Zellpopulationen. Gelegentlich lassen sich bereits bei der routinemäßigen Färbung im Liquorsediment auch Bakterien oder Pilze erkennen, die jedoch weiter differenziert werden müssen. Auch Tumorzellen können im Liquor auftreten und verlangen oft nach einer weiteren Differenzierung mit geeigneten Färbungen.
23.3
Biochemische Marker des Alkoholismus
Hinsichtlich seiner sozialen, ökonomischen und medizinischen Konsequenzen zählt der Alkoholismus zu den schwerwiegendsten Suchterkrankungen unserer Gesellschaft. Vor allem die durch den Alkoholabusus induzierten zahlreichen toxischen Organschäden stellen eine enorme volkswirtschaftliche Belastung dar. Da auf Befragen sowohl über die Menge als auch den chronischen Gebrauch des konsumierten Alkohols nur selten korrekte Angaben gemacht werden und da schwere und nachweisbare Funktionsstörungen meist erst nach längerem, oft jahrelangem Missbrauch auftreten, gilt das Bemühen der Forschung der Suche nach verlässlichen Indikatoren. Das Ziel hierbei ist v. a. die Früherkennung des Alkoholmissbrauchs, da sich damit die Erfolgsaussichten einer medizinischen und präventiven Behandlung erheblich verbessern lassen.
23.3.1
Klinisch-chemische Parameter bei Alkoholismus
Zahlreiche Veränderungen der Laborparameter wurden im Verlauf der Alkoholkrankheit beobachtet, darunter Störungen auf hämatologischer oder hepatischer Ebene, Veränderungen des Fettstoffwechsels und der Immunfaktoren (Sillanaukee 1996). Da die akuten, v. a. aber die chronischen Effekte des Alkohols fundamentale Wirkungen auf die zellulären Membranen und den intermediären Stoffwechsel zeigen, ergeben sich eine Reihe von labortechnisch erfassbaren Veränderungen, die sich prinzipiell als Marker für Alkoholismus eignen. Dazu gehören neben der Aktivität der γ-Glutamyltransferase (γ-GT), die schon seit langer Zeit als spezifischer Parameter diskutiert wird, auch die Aspartataminotransferase (AST) mit
23
518
23
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
Gesamtaktivität und mitochondrialem Isoenzym, das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen (MCV) und noch einige andere Parameter, deren alleinige Untersuchung allerdings nicht ausreicht, um chronischen Alkoholmissbrauch zu beweisen (Miller et al. 2006). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Parameter findet sich in ⊡ Tab. 23.2.
γ-Glutamyltransferase (γ-GT) Als mitochondriales Enzym der Leber katalysiert die γGT die Übertragung von Glutamylresten auf Aminosäuren und spaltet Glutathion in Glutamat und Cysteinylglycin. Die Normbereiche werden mit 96 μm3) zu beobachten, die auf eine alkoholtoxische Knochenmarksschädigung zurückgeführt wird (Anger u. Heimpel 1987). Die hierfür erforderliche Ethanolbelastung liegt in einem Bereich von 80 g Alkohol pro Tag über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Aber auch diese Veränderungen sind nicht spezifisch, sondern auch bei Vitamin-
⊡ Tab. 23.2. Laborparameter bei Alkoholikern. (Nach Gilg u. Soyka 1997)
γ-GT ASAT (GOT) ALAT (GPT) GLDH HDL-Cholesterin MCV CDT
Normalwerte
Sensitivität in %
Spezifität in %
Normalisierung nach Entzug
75 μV)
−
+
Traumschlaf
REM
V
–
Wie Stadium l mit Perioden rascher Augenbewegung
+++
−
534
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
der schlafpolygrafischen Befunde ist es wichtig, dass der Patient Gelegenheit hat, sich durch eine vorgeschaltete Adaptationsnacht an die Situation im Schlaflabor zu gewöhnen.
Schlafstadien
24
Als Standard für die Schlafpolygrafie haben sich die Richtlinien von Rechtschaffen u. Kales (1968) durchgesetzt. Die Einteilung und Definition der verschiedenen Schlafstadien ist in ⊡ Tab. 24.1 zusammengefasst. Die am häufigsten gebräuchliche Einteilung von Rechtschaffen u. Kales orientiert sich an den von Dement u. Kleitman (1957) vorgeschlagenen EEG-Stadien. Diese für die Untersuchung der Schlafphysiologie konzipierte Einteilung konzentriert sich auf die eigentlichen Schlafstadien und vernachlässigt die subvigilen Intermediärstadien, die beim Übergang vom Wachzustand bis zum Schlaf durchlaufen werden. Diese subvigilen Intermediärstadien mit ihren sehr unterschiedlichen EEG-Mustern werden in einem EEG-Stadium (Stadium I) zusammengefasst. Subvigile Intermediärstadien. Die Beachtung dieser Zwi-
schenstadien kann jedoch gerade für psychiatrische Fragestellungen von Interesse sein (s. z. B. Ulrich 1994). Ausgehend vom Loomis et al. 1937 wurden von Bente (1964) und Roth (1961) diese subvigilen EEG-Stadien sorgfältig ⊡ Abb. 24.2a, b. Schlafprofil eines (a) älteren und eines (b) jüngeren gesunden Probanden (Einteilung nach Rechtschaffen u. Kales). Während jüngere Menschen meist in der ersten Schlafhälfte Tiefschlafstadien 4 (S4) erreichen, werden diese Stadien im Alter seltener oder nicht erreicht. Auch ist im Alter die zyklische Abfolge der verschiedenen Stadien weniger regelmäßig, und Wachstadien sind häufiger
beschrieben und in 6 Unterstadien (A1–3, B1–3) unterteilt. Eine genaue Kenntnis dieser physiologischen subvigilen EEG-Muster und ihre Abgrenzung von pathologischen EEG-Befunden sind für die klinische Beurteilung des EEG wichtig. Sie öffnet zudem den Blick auf die sich im EEG manifestierende Vigilanzdynamik, d. h. die Fluktuation zwischen den verschiedenen Vigilanzstadien während einer Wachableitung. Gerade diese Vigilanzdynamik kann bei bestimmten psychopathologischen Syndromen gestört sein (Ulrich 1994).
Beurteilung Zur Beurteilung des Schlafes werden, basierend auf den Kriterien von Rechtschaffen u. Kales (1968), Schlafprofile erstellt (⊡ Abb. 24.2a, b). Für quantitative Auswertungen können eine Reihe von Parametern wie z. B. die REMLatenz, die totale Schlafzeit oder die Aufwachhäufigkeit bestimmt werden. Zur Beurteilung der Einschlafneigung am Tage wird im Rahmen des multiplen SchlaflatenzTests (MSLT) wiederholt tagsüber schlafpolygrafisch die Einschlaflatenz bestimmt, wobei ein Wert unter 10 min als auffällig gilt. Die standardisierte Durchführung des MSLT hat u. a. bei vermehrter Tagesmüdigkeit mit Schlafattacken und klinischem Verdacht auf eine Narkolepsie differenzialdiagnostischen Stellenwert.
535 24.2 · Methodik der EEG- und EKP-Untersuchung
24.2.4
Elektrogenese
Die elektrischen Potenziale, die als EEG oder EKP an der Kopfhaut gemessen werden, ergeben sich überwiegend aus der Summation von intrakortikalen Strömen, die durch postsynaptische Potenziale induziert werden. Diese postsynaptischen Potenziale entstehen durch die Wirkung von Neurotransmittern auf postsynaptische Rezeptoren und reflektieren damit unmittelbar kortikale neurochemische Aspekte. Das Wissen darüber, welche Kortexareale an der Generierung des EEG oder bestimmter EKP beteiligt sind, ist in den letzten Jahren durch intrakranielle Ableitungen, magnetenzephalografische Untersuchungen, Läsionsstudien, tierexperimentelle Untersuchungen, funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) deutlich erweitert worden. Für die P300 ist z. B. gezeigt worden, dass der Gyrus temporalis superior und der parietale Kortex, aber auch andere Kortexareale involviert sind. Im Hippocampus ist ebenfalls eine hochamplitudige P300 ableitbar, die jedoch vermutlich keinen wesentlichen direkten Beitrag zu der an der Kopfhaut abgeleiteten P300 leistet. Die in den letzten Jahren eingeführte kombinierte (simultane) Ableitung von EEG und fMRT erlaubt die Verbindung der jeweiligen Stärken dieser Techniken, d. h. die hohe zeitliche (EEG) und räumliche (fMRT) Auflösung, und hat weitere wichtige Erkenntnisse über die Generatoren ereigniskorrelierter Aktivität und deren Aktivierung im Zeitverlauf ermöglicht (Mulert et al. 2004 a, b, 2005).
24.2.5
Vor- und Nachteile des EEG und der EKP
EEG- und EKP-Parameter bilden direkt die kortikale neuronale Massenaktivität, man könnte sagen die
»Hirnrindenmelodie«, ab. Dies leistet kein anderes Untersuchungsinstrument. FMRT, SPECT (Single-Photonen-Emissions-Computertomografie) oder PET (Positronenemissionstomografie) erlauben lediglich eine indirekte Beurteilung der zentralnervösen Funktion durch Messung metabolischer Aspekte wie Blutfluss, Oxygenierung, und Glukosemetabolismus oder durch Markierung von Bindungsstellen für Neuromodulatoren. Ob metabolische Änderungen Ausdruck vermehrter inhibitorischer oder exzitatorischer Aktivität sind oder in welchem Frequenzbereich die Änderungen der neuronalen Aktivität liegen, kann hierbei nicht unterschieden werden. In ⊡ Tab. 24.2 sind die Vor- und Nachteile des EEG/EKP und des fMRT gegenübergestellt. Die hohe zeitliche Auflösung der EEG/EKP-Methode ist ein entscheidender Vorteil, da kognitive Prozesse im Millisekundenbereich ablaufen und deshalb beim Menschen nur mit diesem Verfahren untersuchbar sind. Weiter kann das EEG auch bei wenig kooperationsfähigen Patienten abgeleitet werden. Cave Für das Oddball-Paradigma zur Untersuchung der P300 ist jedoch eine gewisse Kooperationsfähigkeit Voraussetzung, so dass z. B. die Ableitung der P300 bei Patienten mit schwerer Demenz meist nicht mehr möglich ist.
EEG und EKP sind nicht geeignet, zerebrale Läsionen zu entdecken und zu lokalisieren. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass nur aktives kortikales Gewebe messbare Potenziale generiert. Nicht die Läsionen selbst, sondern Effekte dieser Läsionen auf die Funktion der noch aktiven kortikalen Strukturen werden sichtbar. Zu bedenken ist auch, dass das EEG zwar sehr empfindlich kortikale Prozesse, subkortikale Prozesse aber nur indirekt oder gar nicht abbildet. Die wichtigsten Anwendungsbereiche von EEG und EKP in der Psychiatrie liegen in der Diagnose und Differenzialdiagnose von hirnorganischen Prozessen
⊡ Tab. 24.2. Vor- und Nachteile des EEG/EKP und des fMRT EEG/EKP
fMRT
Zeitauflösung
Millisekunden
mehrere Sekunden
Räumliche Auflösung
2 cm
mm
Was wird gemessen?
Synchronisierte postsynaptische Potenziale
Änderungen des Blutflusses und der Oxygenierung
Welche Hirnstrukturen werden erfasst?
Kortex
Kortikale und subkortikale Strukturen
Nicht erfasst werden
Unsynchronisierte Aktivität
nicht-stimulus-gekoppelte Aktivität
Änderungen in der Synchronisation
sehr kurze Aktivitätsänderungen Weitere Beschränkungen
Kontrolle unspezifischer Faktoren (z. B. Vigilanz) problematisch
24
536
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
und von psychischen Störungen im Rahmen epileptischer Aktivität sowie in der Beurteilung hirnelektrischer Veränderungen unter einer Behandlung mit Psychopharmaka.
24
24.3
EEG/EKP und organische psychische Störungen
24.3.1
Demenzen
Alzheimer-Demenz Die klassischen Veränderungen bei visueller und quantitativer EEG-Analyse von Patienten mit leichter und mittlerer Alzheimer-Demenz zeigen sich als: Zunahme der relativen und absoluten θ-Aktivität, Verlangsamung der α-Grundaktivität, Abnahme der β-Aktivität, Zunahme der δ-Aktivität, Amplitudenabnahme und Latenzzunahme der P300. Bei Verwendung der quantitativen EEG ist der sensitivste Parameter, der auch Patienten mit leichter AlzheimerDemenz von gleichaltrigen gesunden Personen trennt, der Anstieg der relativen θ-Aktivität (Szelies et al. 1994;
⊡ Abb. 24.3. a EEG eines 72-jährigen Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz (Mini-Mental-State-Examination: 26 Punkte) im Vergleich zu einem Normalbefund. b Bei dem Patienten findet sich
Soininen et al. 1991; Penttilä et al. 1985; Coben et al. 1985, 1990). Eine Verlangsamung der α-Grundaktivität auf 8 Hz oder darunter findet sich ebenfalls bereits bei Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz (ca. 40%; Prinz u. Vitiello 1989) und bei der Mehrzahl der Patienten mit mittlerer Alzheimer-Demenz. Hilfreich ist das Vorliegen eines Vor-EEG, anhand dessen z. B. eine Verlangsamung von 11 auf 9 Hz erkannt und als pathologisch eingestuft werden könnte. Das EEG eines Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz im Vergleich zu einem Normalbefund zeigt ⊡ Abb. 24.3a, b.
Sensitivität und Spezifität Bei der diagnostisch schwierigen Patientengruppe mit leichter Alzheimer-Erkrankung berichten die meisten Studien von einer lediglich mäßigen Sensitivität der EEGParameter (Prozentsatz der Alzheimer-Demenz-Patienten mit pathologischem EEG: 20–40%), wenn die Spezifität (Prozentsatz der Patienten ohne AlzheimerDemenz und mit unauffälligem EEG) bei 100% liegt (Coben et al. 1990; Prinz u. Vitiello 1989; Brenner et al. 1986). Auch bei diesen hohen Anforderungen an die Spezifität kann bei leichter Alzheimer-Demenz eine höhere Sensitivität von 83% erreicht werden, wenn sowohl die Frequenz als auch die Kohärenz der EEG-Aktivität be-
eine verlangsamte Grundaktivität von ca. 6/s gegenüber 10/s im Normalbefund. Der erhöhte Anteil langsamerer Frequenzen wird durch die Powerspektralanalysen verdeutlicht und quantifizierbar
537 24.3 · EEG/EKP und organische psychische Störungen
rücksichtigt wird (Leuchter et al. 1987). Bei Patienten mit mittlerer bis schwerer Demenz erhöht sich die Sensitivität des EEG auf Werte über 90% (z. B. Robinson et al. 1994). Insgesamt 96% der Patienten mit histologisch gesicherter Alzheimer-Demenz mittlerer oder schwerer Ausprägung wiesen in der Untersuchung von Soininen et al. (1992) ein pathologisches EEG auf. P300. Die klinische Bedeutung der P300 für die Diagnose
und Differenzialdiagnose der Demenz wurde von Pfefferbaum et al. (1990) im Rahmen eines Literaturüberblicks kritisch diskutiert. Weitgehend übereinstimmend weisen Patienten mit Demenz eine Amplitudenabnahme und Latenzzunahme der P300 auf. In Studien, in denen demente Patienten mit psychiatrischen und neurologischen Patienten ohne Demenz verglichen wurden, lag die Spezifität der P300-Latenz durchweg bei über 80%, während die Sensitivität zwischen 13 und 80% lag. Studien mit schwerer dementen Patienten berichteten dabei erwartungsgemäß meist über höhere Sensitivitäten. Die akustische P300-Latenz erwies sich der visuellen P300-Latenz als überlegen. In diesen z. T. älteren Arbeiten wurden neuere technische Möglichkeiten (Dipolquellenanalyse, Vielkanalableitungen) nur wenig genutzt und meist lediglich die P300-Aktivität im Bereich der zentralen und parietalen Elektroden berücksichtigt. Interessanterweise wurde über frontalen Hirnregionen bei Patienten mit leichter bis mittlerer Alzheimer-Erkrankung eine Amplitudenzunahme der P300 beobachtet (Maurer u. Dierks 1992).
Instrument für die Differenzialdiagnose Die mäßige Sensitivität des EEG und der EKP bei leichter Alzheimer-Erkrankung bedeutet, dass ein unauffälliger EEG-Befund bei Verdacht auf beginnende Alzheimer-Erkrankung für den Kliniker wenig hilfreich ist. Das EEG ist deshalb so wie auch andere apparative Untersuchungsverfahren in diesem Fall als diagnostischer Test wenig geeignet. Anderseits bedeutet die hohe Spezifität der EEG-Veränderungen bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung gegenüber nichtdementen Kontrollen, dass eine Zunahme der relativen θ-Aktivität oder eine Verlangsamung der α-Grundaktivität auf 7–8 Hz ein starkes Argument für das Vorliegen einer Demenz ist und gegen das alleinige Vorliegen einer Pseudodemenz bei depressiver oder dissoziativer Störung spricht, die meist mit einem unauffälligen EEG einhergeht (Brenner et al. 1989). Gerade die Abgrenzung einer beginnenden AlzheimerDemenz von depressiven Störungen gehört zu den häufigsten differenzialdiagnostischen Problemen, so dass das EEG hier sehr hilfreich sein kann. Nicht selten ist ein pathologisches EEG der einzige biologische Parameter, der den klinischen Verdacht auf das Vorliegen einer leichten Alzheimer-Erkrankung unterstützt. Bei deutlicher Demenz weisen jedoch die meisten Patienten ein patholo-
gisches EEG auf, und ein unauffälliger EEG-Befund sollte Anlass sein, die Diagnose Alzheimer-Erkrankung zu überdenken (Pogarell u. Hegerl 2003). Schlaf-EEG-Ableitungen könnten hilfreich sein, um Depressionen von Alzheimer-Erkrankungen zu trennen, da teilweise entgegengesetzte Veränderungen bezüglich der REM-Schlafparameter bei diesen beiden Störungen beschrieben worden sind. Depressive weisen z. B. einen höheren und Demente einen niedrigeren relativen Anteil an REM-Schlaf auf (Reynolds et al. 1985). Systematische Untersuchungen zur differenzialdiagnostischen Brauchbarkeit sind den Autoren hierzu nicht bekannt.
Vaskuläre Demenz Die vaskuläre Demenz (VD; z. B. Multiinfarktdemenz, subkortikale vaskuläre Demenz) ist eine häufige Differenzialdiagnose der Alzheimer-Erkrankung. Hier ist die strukturelle Bildgebung hilfreich, um Informationen über die Lokalisation und das Ausmaß der Läsionen zu gewinnen. Aber auch das EEG kann diagnostische Hinweise liefern: Fokale und asymmetrische langsame Aktivität sprechen eher für eine VD als für eine Alzheimer-Erkrankung (Sloan u. Fenton 1993; Erkinjuntti et al. 1988; Logar et al. 1987). Leuchter et al. (1987) berichteten, dass sich mit Hilfe der EEG-Frequenz und Kohärenz 92% (22 von 24) der Personen korrekt den Gruppen Multiinfarktdemenz (n = 6), Alzheimer-Erkrankung (n = 12) oder gesunde Kontrollen (n = 6) zuordnen lassen. Von besonderem Interesse ist auch eine andere sorgfältige Studie, in der 50 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung mit 37 VD-Patienten und 36 älteren gesunden Probanden verglichen wurden (Signorino et al. 1995). Es wurde gefunden, dass der Frequenzgipfel der dominanten Aktivität im Frequenzbereich von 6,5–12 Hz bei nur 44% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung erhalten war, dagegen in 97,3% der VD-Patienten. Das Verschwinden einer dominanten Grundaktivität wäre demnach ein starkes Argument gegen das Vorliegen einer vaskulären Demenz. Ähnliche Ergebnisse wurden von Rosén et al. (1993) berichtet. ! Diese Befunde dürften dadurch zu erklären sein, dass bei VD meist subkortikale Läsionen vorliegen. Das EEG wird jedoch kortikal generiert und ist deshalb bei subkortikalen Demenzformen trotz schweren demenziellen Abbaus in manchen Fällen nicht pathologisch verändert. Nach diesen Befunden kann das EEG durchaus auch hilfreich sein für die Differentialdiagnose zwischen Alzheimer-Erkrankung und VD.
Demenzen mit frontalen und subkortikalen Veränderungen Zu den Demenzen mit frontal betonter kortikaler Degeneration zählen die Pick-Erkrankung und die frontotem-
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Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
porale Degeneration. Subkortikale Demenzen sind z. B. die Parkinson-Erkrankung mit Demenz, Alkoholdemenz und Demenz bei Normaldruckhydrozephalus. Bei diesen Demenzen wird häufig ein unauffälliges EEG gefunden und nicht selten steht ein normales EEG in Kontrast zu dem schweren klinischen Bild. Dies wurde z. B. von Förstl et al. (1996) in einer Studie bei Patienten mit klinisch diagnostizierter frontotemporaler Degeneration (FtD) beobachtet. Obwohl die meisten Patienten eine mittlere oder schwere Demenz aufwiesen (mittlerer Score im Mini Mental State Examination/MMSE = 15,4) unterschieden sich die FTD-Patienten nicht von gesunden Kontrollen bezüglich der EEG-Aktivität. Ähnliches wurde für die Pick-Erkrankung, die Demenz bei Alkoholabhängigkeit, bei Parkinson-Erkrankung und bei Normaldruckhydrozephalus beschrieben (Brown u. Goldensohn 1973; Stigsby et al. 1981; Newman 1978; Rosén et al. 1993; Mitsuyama 1993; Gustafson et al. 1990; Julin et al. 1995). Ausgehend von diesen Befunden wurde die Elektroenzephalografie von Neary et al. (1998) als wichtiges differenzialdiagnostisches Kriterium bei frontotemporalen Demenzen (FTD) vorgeschlagen; bei ausschließlich visueller Analyse scheint die Differenzierung zwischen der Gesamtgruppe dieser Demenzen und der AlzheimerKrankheit (AD) hierbei weniger exakt zu sein und erfasst vermutlich vorwiegend die Patienten mit im Vordergrund stehender frontaler Degeneration (klassischer M. Pick) (Chan et al. 2004). Mit Hilfe einfacher quantitativer EEGAnalysen konnten Lindau et al. (2003) jedoch zeigen, dass sich Patienten mit FTD und AD signifikant hinsichtlich des Musters der EEG-Veränderungen unterscheiden: bei FTD fand sich im Vergleich zur AD ein signifikant geringerer Anteil langsamer Aktivität. ! Ein pathologisches EEG bei leichter Demenz ist ein Argument für das Vorliegen einer AlzheimerErkrankung und spricht eher gegen die oben genannten Diagnosen. Umgekehrt sollte ein normales EEG bei einem Patienten mit schwerer Demenz ein Anlass sein, die Diagnose Alzheimer-Demenz kritisch zu prüfen.
Differenzierung subkortikaler vs. kortikaler Demenzen Einige Autoren postulierten, dass sich subkortikale von kortikalen Demenzen anhand der EKP differenzieren lassen (Goodin u. Aminoff 1986). Sie stellten fest, dass Patienten mit Alzheimer-Erkrankung (kortikale Demenz) nur eine Verlängerung der P300-Latenz (AEP), demenzielle Patienten mit Morbus Huntington oder Morbus Parkinson (subkortikale Demenz) dagegen zusätzlich Latenzverlängerungen früher Komponenten (N1- und P2-
Komponente, ⊡ Abb. 24.1) aufwiesen. Etwas im Widerspruch hierzu stehen jedoch Arbeiten, die auch bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung Latenzverlängerungen früherer Komponenten fanden (Pollock et al. 1989; St. Clair et al. 1985). Bei Patienten mit Normaldruckhydrozephalus wurden vor Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts verlängerte P300-Latenzen nachgewiesen. Nach Shuntanlage kam es in allen Fällen (n = 7) zu einer Latenzabnahme, die allerdings in keinem klaren Verhältnis zu den Besserungen in den neuropsychologischen Tests stand (Naka et al. 1996 a). Prüfenswert wäre, ob anhand der P300 oder des EEG vor/nach einer probatorischen Liquorpunktion der Erfolg einer eventuellen Shuntoperation vorausgesagt werden könnte.
Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung Die Mehrzahl der Patienten mit sporadischer CreutzfeldtJakob-Krankheit (CJK) entwickelt ein typisches periodisches EEG-Muster mit generalisierten repetitiven mono-, bi- oder triphasischen Wellen in einem Zeitintervall von 0,5–1,5 s. Diese Veränderungen können häufig durch akustische Stimuli provoziert und getriggert werden. Im klinischen Kontext tragen diese EEG-Muster als wichtiges Diagnosekriterium entscheidend zur Stützung der Diagnose einer CJK bei, obwohl es sich letztendlich nicht um pathognomonische Befunde handelt (Bortone et al. 1994; Zschocke 1995). Periodische Muster wurden vereinzelt auch bei Patienten mit rasch progredienter Alzheimer-Demenz oder anderen schweren Enzephalopathien beschrieben. In einer kontrollierten Untersuchung dieser EEG-Veränderungen bei CJK wurde eine Sensitivität und Spezifität von 67% bzw. 86% ermittelt. Die Sensitivität (d. h. der Anteil der positiven Untersuchungsbefunde bei tatsächlichem Vorliegen der Krankheit) kann durch wiederholte EEG-Ableitungen mit der Präsentation externer akustischer, taktiler und/oder visueller Stimuli (Steinhoff et al. 1998) oder auch durch die Kombination der neurophysiologischen Diagnostik (periodische Muster) mit einer Liquoruntersuchung (Nachweis des Proteins 14-3-3) bis auf über 90% verbessert werden (Zerr et al. 2000 a). Neuere genetische Untersuchungen der CJK zeigten, dass die unterschiedlichen Phänotypen mit Polymorphismen im Prionprotein-Gen korrelieren. Ebenso fand sich eine Abhängigkeit des Auftretens periodischer Komplexe im EEG vom Genotyp. Bei den selteneren Varianten treten keine typischen elektrophysiologischen Veränderungen auf, so dass das EEG in diesen Fällen weniger hilfreich ist (Zerr et al. 2000 b). Auch bei den übrigen (familiären oder übertragbaren) spongiformen Enzephalopathien, einschließlich der sog. neuen Variante der CreutzfeldtJakob-Krankheit (vCJK) finden sich keine periodischen Muster, sondern lediglich unspezifische elektroenzephalografische Befunde (Johnson u. Gibbs 1998).
539 24.3 · EEG/EKP und organische psychische Störungen
Demenz bei Krankheit durch das humane Immundefizienz-Virus (HIV) Das EEG kann frühzeitig Hinweise auf eine zerebrale Beteiligung bei HIV-Infektion geben. Bei einem Vergleich asymptomatischer HIV-seropositiver und HIV-seronegativer Männer wiesen bei visueller EEG-Auswertung 30% (bei einer Nachuntersuchung nach 6–9 Monaten 40%) der seropositiven Personen EEG-Auffälligkeiten auf, dagegen keine der seronegativen Kontrollen (Koralnik et al. 1990). Ähnliche Befunde wurden von anderen Arbeitsgruppen vorgelegt (Parisi 1989; Parisi et al. 1989; Elovaara et al. 1991). Mehrere Autoren berichten im Vergleich zu gesunden Kontrollen über eine verlängerte P300-Latenz v. a. der AEP bei nichtdementen Patienten mit symptomatischer HIV-Infektion (Schroeder et al. 1994; Baldeweg et al. 1993; Ollo et al. 1991), während die Ergebnisse hinsichtlich der Patienten mit asymptomatischer HIV-Infektion nicht durchweg konsistent sind (Schroeder et al. 1994; Connolly et al. 1994; Ragazzoni et al. 1993). P300-Latenzverlängerungen bei asymptomatischen HIV-positiven Patienten wurden von einigen Autoren auch dann gefunden, wenn konfundierende Variablen wie vermehrter Drogenkonsum oder vorbestehende zentralnervöse Störungen kontrolliert wurden (z. B. Schroeder et al. 1994). Zudem ließen sich in Längsschnittuntersuchungen über ein Jahr an HIV-positiven Personen signifikante P300-Latenzzunahmen nachweisen (Messenheimer et al. 1992). Übereinstimmend wird auch ein Zusammenhang zwischen der P300-Latenzverlängerung und der psychomotorischen Verlangsamung, die ein Frühsymptom bei HIV-Patienten mit zentralnervöser Beteiligung darstellt, berichtet (Baldeweg et al. 1993; Arendt et al. 1993).
24.3.2
Organisches amnestisches Syndrom
Da bei dem organischen amnestischen Syndrom (alkohol- oder nichtalkoholbedingtes Korsakow-Syndrom) meist eine umschriebene Läsion oder Funktionsstörung im dienzephalen und mesiotemporalen Bereich bei weitgehend ungestörter kortikaler Funktion vorliegt, sind das EEG und die P300 meist unauffällig. So wurde bei 16 Patienten mit Korsakow-Syndrom trotz schwerer Gedächtnisstörungen eine unauffällige P300 beobachtet, bei allerdings gegenüber gesunden Kontrollen verkleinerten N1und P2-Komponenten (St. Clair et al. 1985). Ähnliches wurde z. B. von Squires et al. (1979) bei einem amnestischen Patienten nach Herpesenzephalitis beschrieben. Die unauffälligen neurophysiologischen Befunde können dem Kliniker den wichtigen Hinweis geben, dass die Ursache der schweren mnestischen Störung nicht in einer globalen, sondern einer fokalen Funktionsstörung liegt.
24.3.3
Metabolische Enzephalopathie mit Demenz oder Delir
Bei metabolischen Enzephalopathien ist meist eine Allgemeinveränderung zu finden. Bei der hepatischen Enzephalopathie ist ein Zusammenhang zwischen der Frequenzverlangsamung im EEG und dem Ammoniakspiegel im Blut beschrieben worden (Kiloh et al. 1972). Bei zunehmender Bewusstseinsstörung, vereinzelt aber auch bei nicht bewusstseinsgestörten Patienten sind triphasische Wellen (Intervall 1,5–3/s) zu finden, ein für die hepatische Enzephalopathie relativ typisches EEG-Muster (Zschocke 1995).
24.3.4
Delir
Das EEG kann wichtige Hinweise nicht nur auf das Vorliegen sondern auch auf die Ursache eines Delirs liefern. Bei den meisten Patienten mit Delir findet sich ein Vorherrschen z. T. höhergespannter langsamer Aktivität aus dem θ- und δ-Bereich, wobei diese Verlangsamung mit der Schwere der Bewusstseinsstörung korreliert und zur Verlaufsbeurteilung geeignet ist (Brenner 1991). Eine Ausnahme bilden Patienten mit Entzugsdelir bei Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeit. Diese Patienten weisen oft eine niedrigamplitudige rasche Aktivität auf. Ein diffus verlangsamtes EEG würde bei einem deliranten Bild demnach eher gegen und ein EEG ohne diffuse Verlangsamung für das Vorliegen eines Entzugsdelirs sprechen. Differenzialdiagnose zur Demenz. Für die Differenzial-
diagnose Delir vs. Demenz kann hilfreich sein, dass die Verlangsamung im EEG bei Delir in der Regel deutlicher ausgeprägt ist als bei Demenz. Dies gilt allerdings nicht für das Entzugsdelir. Differenzialdiagnose zu fokalen Schäden und zum aphasischen Syndrom. Für die Abgrenzung eines Delirs oder
einer Demenz von Syndromen mit einer fokalen zerebralen Ursache wie einem amnestischen Syndrom bei Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie oder einem aphasischen Syndrom bei z. B. linkshemisphäraler Durchblutungsstörung kann das EEG ebenfalls wegweisend sein. Bei der Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie ist, wie oben erwähnt, das EEG trotz schwerer mnestischer Störungen oft weitgehend unauffällig. Die linkshemisphärale Durchblutungsstörung kann initial der strukturellen Bildgebung entgehen oder die Patienten sind für diese Untersuchung nicht ausreichend kooperationsfähig. In diesen Fällen könnte ein linkshemispher Herdbefund im EEG die Differenzialdiagnose Aphasie stützen. Eine frontal betonte, intermittierende, rhythmische Delta-Aktivität (FIRDA) wurde generell mit einer akuten oder subakuten und möglicherweise reversiblen zere-
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Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
bralen Dysfunktion, wie sie mit einem Delir einhergeht, in Verbindung gebracht (Turven u. Penin 1992). Sie wird seltener auch bei Alzheimer-Demenz gefunden, insbesondere bei Beginn der Erkrankung im höheren Alter und langsamer Progression (Striano et al. 1981). Auch wenn die Datenlage zur klinischen Bedeutung der FIRDA noch unbefriedigend ist, so sollte ein derartiges EEG-Muster bei einem Patienten mit der Verdachtsdiagnose Alzheimer-Erkrankung zu einer verstärkten Ausschlussdiagnostik führen.
24.3.5
Nichtkonvulsiver Status epilepticus
Der nichtkonvulsive Status epilepticus (NKSE) stellt eine wichtige Differenzialdiagnose eines breiten Spektrums neurologischer und psychiatrischer Störungen dar und sollte insbesondere auch bei kognitiven Beeinträchtigungen als therapierbare Ursache ausgeschlossen werden. Der NKSE ist definiert durch das Auftreten von kognitiven und/oder Verhaltensauffälligkeiten ohne grobe motorische Symptome, i. e. Konvulsionen (diskrete periorale oder -okuläre Myoklonien sind mit der Diagnose vereinbar), bei gleichzeitigen Hinweisen aus dem EEG auf anhaltende oder intermittierende epilepsietypische Aktivität über einen Zeitraum von 30 min. Als weiteres diagnostisches Kriterium wurde von einigen Autoren (»ex juvantibus«) die gute klinische Response auf Benzodiazepine eingeführt (Guberman et al. 1986; Kaplan 1999; Tatum et al. 2001). Das klinische Bild des NKSE umfasst ein breites Spektrum neuropsychiatrischer Syndrome, zur Abgrenzung gegenüber anderen Störungen ist die neurophysiologische Zusatzdiagnostik obligat. Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten ergeben sich in der klinischen Routine insbesondere bei erhaltener Orientierung und gut kompensierter sozialer Anpassung der Patienten, wie nicht selten bei Ursprung des NKSE im Bereich des frontotemporalen Kortex. Klinisch zeigen die Betroffenen z. B. eine leichte Vergesslichkeit mit Benennstörungen, vermehrter Ablenkbarkeit, insbesondere bei komplexeren Tätigkeiten, sowie Stimmungsschwankungen, gegebenenfalls mit leichter Hypomanie. Eine vorschnelle diagnostische Zuordnung z. B. zu den neurodegenerativen demenziellen Syndromen würde in diesen Fällen eine adäquate Therapie verhindern (Tatum et al. 1998; Hogh et al. 2002). Traditionell wird der NKSE entsprechend der Verteilung der epilepsietypischen Aktivität in generalisierte und fokale Status eingeteilt, Die EEG-Diagnose ist letztendlich beweisend, stellt aber große Anforderungen an die Erfahrung des Befunders, da die Kurven häufig artefaktüberlagert sind und sich klassische »3/s-spike-waveMuster« eher selten darstellen. So müssen physiologische rhythmische Muster, müdigkeitsbedingte Verände-
rungen, spezielle Graphoelemente bzw. Muster (SREDA, PLED, BiPLED, triphasische Wellen) sowie andere pathologische epileptiforme Potenziale bzw. rhythmische Delta-Aktivität differenziert werden.
Generalisierter nichtkonvulsiver Status epilepticus Der generalisierte, nichtkonvulsive Status epilepticus (Petit-mal-Status, Absencenstatus) kann dem Psychiater differenzialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten, insbesondere wenn er mit lediglich geringer Bewusstseinsstörung einhergeht und über Tage anhaltend ist. Einige Patienten weisen nur leichte Konzentrations- und Orientierungsstörungen auf, bei anderen besteht ein stuporöses Bild mit verminderter Ansprechbarkeit. Teilgeordnetes und sinnvolles Handeln ist manchem Patienten noch möglich. Die Dauer eines derartigen Status kann von Stunden über mehrere Tage bis Wochen anhalten. Wiederholt wurde insbesondere bei älteren Patienten ein derartiger nichtkonvulsiver generalisierter Status epilepticus als Ursache eines plötzlich aufgetretenen Verwirrtheitszustandes ohne bekannte Epilepsie beschrieben. In einer Untersuchung wurde bei 7 von 100 konsekutiven Aufnahmen von Patienten mit unklarem Verwirrtheitszustand ein nichtkonvulsiver Status epilepticus diagnostiziert (Purdie et al. 1981). Nur bei einem Teil der Patienten war eine vorbestehende Epilepsie bekannt. Differenzialdiagnostisch können die bei einem Status epilepticus bestehende vollständige oder teilweise Amnesie sowie der plötzliche Beginn der Symptomatik hilfreich sein. Auch kann das Auftreten einfacher Automatismen, wie Nesteln und Schmatzen oder leichte klonische Bewegungen der Augenlider oder Hände auf ein epileptisches Geschehen hinweisen. Diagnostisch wegweisend ist jedoch das EEG, das typischerweise 2–4/s-SW-Aktivität aber auch irregulärere Poly-SW-Aktivität zeigt. In ⊡ Abb. 24.4 ist das EEG eines Patienten zu sehen, der sich mit einem Verwirrtheitszustand in der Poliklinik vorstellte. Erst mit dem EEG konnte die Diagnose eines generalisierten, nichtkonvulsiven Status epilepticus gestellt werden. Dass die regelmäßige, frontal betonte δ-Aktivität Ausdruck eines Status epilepticus ist, wird nur in den Abschnitten deutlich, in denen sich auch die Spitzen im Oberflächen-EEG abbilden und vollständige SW-Muster erkennbar werden.
Fokaler nichtkonvulsiver Status epilepticus Der fokale, nichtkonvulsive Status epilepticus ist ein eher seltenes Krankheitsbild, das aber klinisch ebenso als Delir in Erscheinung treten kann. Der Status kann über mehrere Tage, vereinzelt auch über Wochen andauern. Im EEG wird häufig eine uni- oder bilaterale, temporale epilepsietypische Aktivität nachzuweisen sein, z. T. auch lediglich als rhythmische temporale θ- oder δ-Aktivität ohne im Oberflächen-EEG sichtbare Spitzen (Blume et al. 1984).
541 24.3 · EEG/EKP und organische psychische Störungen
⊡ Abb. 24.4. EEG eines 20-jährigen Mannes, der sich mit einem unklaren Verwirrtheitszustand in der Poliklinik vorstellte. Es finden sich vorherrschend generalisierte, hochamplitudige, sinusoidale 3–4/sWellen. Diese geben sich erst im späteren Ableiteverlauf, als auch die
Sowohl generalisierte wie auch fokale NKSE können selten als Komplikation einer Elektrokonvulsionstherapie (EKT) auftreten (Povlsen et al. 2003; Pogarell et al. 2005 a); bei klinischem Verdacht eines EKT-induzierten NKSE sollte unmittelbar die entsprechende neurophysiologische Diagnostik erfolgen. Da das EEG nach EKT häufig per se bereits unspezifische, teils auch rhythmische Veränderungen zeigt, kann ergänzend ein »Benzodiazepin-Test« (EEG-Ableitung nach Gabe einer Testdosis eines rasch wirkenden Benzodiazepins, z. B. Lorazepam) hilfreich sein. Eine EEG-Normalisierung und klinische Befundbesserung unter Benzodiazepinen stützt die Verdachtsdiagnose eines NKSE (Pogarell et al. 2005 a, 2006 a).
24.3.6
EEG vs. funktionelle und strukturelle Bildgebung bei Demenz
EEG vs. SPECT. Der relative diagnostische Wert des EEG
und des SPECT bei Patienten mit leichter bis mittlerer Alzheimer-Demenz (n = 43), VD (n = 25) und depressiver Störung (n = 29) wurde von Sloan et al. 1995 untersucht. Bei vergleichbarer Sensitivität zeichnet sich das EEG gegenüber dem SPECT durch eine höhere Spezifität aus. Bei
dazugehörigen steilen Wellen (grau hervorgehoben) zur Darstellung kommen, als Teil einer iktualen Aktivität zu erkennen. Anhand des EEG kann die Diagnose eines generalisierten, nichtkonvulsiven Status epilepticus gestellt werden
visueller EEG-Auswertung durch hinsichtlich der Diagnose blinde Rater wurden 77% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, 76% der VD-Patienten und 79% der Patienten mit depressiven Störungen richtig klassifiziert. Mit Hilfe des SPECT, das ebenfalls blind ausgewertet wurde, wurden 63% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, 80% der VD-Patienten und nur 55% der Patienten mit depressiven Störungen richtig klassifiziert. Die Überlegenheit von quantitativem EEG gegenüber SPECT bei der Abbildung kortikaler Funktionsstörungen bei Alzheimer-Erkrankung wurde von anderen Autoren bestätigt (Montplaisir et al. 1996). Bei Kombination von EEG und SPECT konnten 100% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und 96% der VD-Patienten richtig klassifiziert werden. EEG vs. PET. Auch bei einer vergleichenden Untersuchung der relativen diagnostischen Wertigkeit des quantitativen
EEG und des FDG-PET (18-Fluor-Deoxyglukose-PET) an 24 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung (leicht bis mittel), 19 VD-Patienten und 15 Kontrollpersonen wiesen einfache EEG-Parameter wie die relative θ-Power und der okzipitofrontale α-Quotient eine vergleichbare Trennschärfe auf wie globale oder regionale Maße der Glukoseutilisation. Die diagnostische Spezifität konnte durch eine Kombination von PET und EEG verbessert werden
24
542
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
⊡ Tab. 24.3. Organische psychische Störungen mit patholo-
REM-Schlaf-EEG
(Szelies et al. 1994). Auf die komplementäre Rolle des EEG und der funktionellen Bildgebung wurde auch von Sloan et al. (1995) hingewiesen.
Das tonische REM-Schlaf-EEG wurde unter Verwendung autoregressiver Techniken und Spektralanalyseverfahren ausgewertet. Es zeigte sich, dass diese Verfahren hilfreich sind für die Frühdiagnose der Demenz vom AlzheimerTyp (Prinz et al. 1992). Insgesamt 39 Patienten mit leichter Alzheimer-Erkrankung (MMSE = 23 ± 0,9) wurden mit 43 gesunden Kontrollen verglichen. 74–92% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und 95–98% der gesunden Kontrollpersonen konnten korrekt klassifiziert werden. Diese vielversprechenden Ergebnisse mit dem quantitativen REM-Schlaf-EEG werden von anderen Autoren bestätigt (Montplaisir et al. 1996; Petit et al. 1992). Die größere diagnostische Trennschärfe des REM-EEG gegenüber dem Wach-EEG könnte dadurch zu erklären sein, dass cholinerge kortikale Projektionen, die bei der Alzheimer-Erkrankung beeinträchtigt sind, eine besondere Rolle bei der EEG-Desynchronisation im REM-Schlaf spielen.
EEG vs. CT und MRT. Bei struktureller Bildgebung mit üb-
P300
licher visueller Analyse der CT- oder MRT-Bilder ist die diagnostische Sensitivität bei Alzheimer-Erkrankung vergleichbar mit der des EEG, während die Spezifität niedriger ist (z. B. DeCarli et al. 1990). Das EEG weist zudem einen engeren Bezug zu kognitiven Dysfunktionen und Verlaufsaspekten auf als Atrophiezeichen im CT (Schreiter-Gasser et al. 1994; Kaszniak et al. 1979, 1978). Dies entspricht der klinischen Erfahrung, dass eine kortikale und subkortikale Atrophie im CT oder MRT kein ungewöhnlicher Befund bei alten nichtdementen Personen ist. Durch aufwendige volumetrische CT-Analysen lässt sich die Sensitivität und Spezifität deutlich verbessern. Derartige Verfahren stehen den Klinikern jedoch bisher nicht routinemäßig zur Verfügung. Der Vorteil der strukturellen Bildgebung im Vergleich zum EEG bei der Diagnose und Differenzialdiagnose der Alzheimer-Erkrankung ist ihre Bedeutung für den Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen wie Multiinfarktdemenz, Normaldruckhydrozephalus, subdurales Hämatom oder Hirntumoren. Aber auch hier erweisen sich EEG und strukturelle Bildgebung als komplementäre Verfahren. In ⊡ Tab. 24.3 sind Störungen aufgeführt, die mit einem pathologischen EEG bei unauffälliger struktureller Bildgebung einhergehen.
Die P300 ist ein interessantes Untersuchungsinstrument im Bereich der Alzheimer-Erkrankung, da die P300-Latenz und Amplitude in enger Beziehung zu kognitiven Prozessen stehen, die P300-Latenz und Amplitude mit der cholinergen Funktion in Zusammenhang stehen (Review bei Charles u. Hansenne 1992; Hegerl et al. 1996), eine Verkürzung der P300-Latenz unter Behandlung mit Nootropika bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung oder altersassoziierter Gedächtnisstörung gefunden wurde (Semlitsch et al. 1995; Saletu et al. 1995) und sogar bei leichter Alzheimer-Erkrankung die P300-Latenz verlängert und die P300-Amplitude verkleinert ist (Polich et al. 1990; Pfefferbaum et al. 1990).
gischem EEG und unauffälliger struktureller Bildgebung Ischämie ohne Infarkt
δ- und θ-Fokus
Enzephalopathie bei z. B. Nierenversagen, Intoxikation, Medikamentenneurotoxizität
Allgemeinveränderung
Hepatische Enzephalopathie
Triphasische Wellen
Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
Generalisierte, periodische triphasische Wellen
Generalisierter, nichtkonvulsiver Status epilepticus
Generalisierte Spike-waveAktivität
Fokaler, nichtkonvulsiver Status epilepticus
Fokal betonte, iktuale Erregungssteigerung
24
24.3.7
Perspektiven
Um den diagnostischen Wert des EEG und der EKP bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung zu verbessern, wurden in den letzten Jahren die Verfahren der quantitativen EEG-Analyse mit vielversprechenden ersten Ergebnissen weiterentwickelt. Auf 3 Beispiele soll nachfolgend eingegangen werden.
Trotz dieser vielversprechenden Eigenschaften wird die klinische Bedeutung der P300 für die Diagnose und Differenzialdiagnose der Alzheimer-Erkrankung kontrovers diskutiert (Pfefferbaum et al. 1990; Goodin 1990). Problematisch ist insbesondere die nur mäßige Reliabilität der P300-Parameter, die zu einer beträchtlichen Überlappung der P300-Latenzen und Amplituden zwischen Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und altersgematchten gesunden Kontrollen führt. Die Dipolquellenanalyse hat sich hier als ein bedeutsamer methodischer Fortschritt erwiesen, der zu einer deutlichen Verbesserung der Test-Retest-Reliabilität der Hauptkomponente der P300 führt und damit die Vorbedingungen für eine mögliche klinische Anwendung der P300 im diagnostischen Prozess der Alzheimer-Erkrankung schafft (Hegerl u. FrodlBauch 1997). Zudem konnte gezeigt werden, dass auch die physiologische Validität der P300-Parameter verbessert
543 24.4 · EEG/EKP bei affektiven, schizophrenen und Persönlichkeitsstörungen
wird, da die getrennten P300-Subkomponenten funktionell unterschiedliche Prozesse abbilden und sich z. B. in ihrer Altersabhängigkeit signifikant unterscheiden. Unter Verwendung dieser verbesserten Methodik ist zu untersuchen, ob die P300, die einen Bezug zur cholinergen Neurotransmission aufweist, geeignet ist, bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung das individuelle Ansprechen auf Azetylcholinesterasehemmer vorherzusagen.
Verlaufsbeobachtungen Das EEG und die P300 sind nichtinvasiv, kostengünstig und deshalb wie kein anderes Verfahren für serielle Untersuchungen zur Verlaufsbeobachtung geeignet. Dies ist ein sehr gewichtiger Vorteil dieser neurophysiologischen Verfahren, da objektiven Verlaufsparametern unter einer Behandlung mit Cholinagonisten eine zunehmende klinische Bedeutung zukommen wird. Derartige, die klinische Beurteilung ergänzende Parameter können für den behandelnden Arzt ein hilfreicher Hinweis sein, ob bei einem bestimmten Patienten die Medikation zu einer Verbesserung der zentralnervösen Funktion führt oder wegen Unwirksamkeit besser abzusetzen wäre, v. a. im Hinblick auf das relativ kleine Nutzen-Risiko-Verhältnis der zur Verfügung stehenden Antidementiva. Neurochemische Post-mortem-Untersuchungen ergaben, dass die Verlangsamung der Grundaktivität mit der zentralen cholinergen, nicht aber dopaminergen, noradrenergen oder serotonergen Funktion in Beziehung steht (Soininen et al. 1992). Dass sich sowohl Verschlechterungen des klinischen Bildes als auch kognitive Besserungen unter Nootropika in EEG- und P300-Parametern widerspiegeln, wurde vielfach gezeigt (Coben et al. 1985; Heiss et al. 1994; Semlitsch et al. 1995; Saletu et al. 1995). Ob die Aussagekraft der EEG- und EKP-Parameter ausreicht, um für die individuelle Therapieplanung bei Patienten mit demenziellen Prozessen hilfreich zu sein, wird weiter untersucht.
24.4
EEG/EKP bei affektiven, schizophrenen und Persönlichkeitsstörungen
Im Bereich der affektiven und schizophrenen Störungen sind EEG und EKP ein Forschungsinstrument geblieben und für den klinisch tätigen Psychiater überwiegend unter dem Aspekt der neurologischen Ausschlussdiagnostik von Bedeutung. EEG-Vigilanzdynamik. Von einigem Interesse sind Bezie-
hungen zwischen psychopathologischen Syndromen und der EEG-Vigilanzdynamik. Während unter physiologischen Bedingungen im Rahmen einer Ruheableitung mit geschlossenen Augen nach einigen Minuten Übergänge vom Wachzustand (A1) in subvigile EEG-Stadien (B1 bis B2) zu beobachten sind, ist das EEG der Patienten mit
gehemmt-depressiven Syndromen häufig durch eine Rigidität der Vigilanzregulation charakterisiert. Die Patienten zeigen während der gesamten 10-minütigen Ruheableitung durchgehend eine wenig modulierte, gleichförmige, leicht verlangsamte und über vorderen und temporalen Hirnregionen ausgebreitete Grundaktivität (Stadium A2). Bei Patienten mit manischen Syndromen dagegen sind nicht selten bereits zu Beginn der Ableitung rasche Vigilanzabfälle bis in Schlafstadien zu beobachten (Ulrich 1994). Die Bedeutung dieser Zusammenhänge für die Diagnostik wird durch die geringe Sensitivität und Spezifität der Änderungen in der Vigilanzdynamik und durch modifizierende psychopharmakologische Einflüsse eingeschränkt. Quantitative EEG-Auswertung. Die Hoffnung, mit quan-
titativer EEG-Auswertung neurophysiologische Parameter als diagnostisches Hilfsmittel einsetzen zu können, hat sich nicht erfüllt. Es wurden zwar konsistente Unterschiede zwischen Gesunden und Patienten mit schizophrenen oder affektiven Störungen berichtet – schizophrene Patienten weisen z. B. kleinere P300-Amplituden als gesunde Probanden auf – diese Unterschiede erwiesen sich jedoch als zu wenig diagnosespezifisch. Amplitudenreduktionen der P300-Komponente wurden auch bei anderen Patientengruppen wie alkoholabhängigen, dementen oder depressiven Patienten gefunden (Blackwood et al. 1987 a, b; Thier et al. 1986; Diner et al. 1985). Zudem sind die in den meisten Arbeiten bei Patienten beschriebenen Veränderungen in Anbetracht der großen interindividuellen Varianz zu gering, um für die individuelle Diagnosestellung bedeutungsvoll werden zu können. Dies muss nicht unbedingt gegen die EKP sprechen, sondern könnte auch Ausdruck der unbefriedigenden Reliabilität und Homogenität der klassischen psychiatrischen Diagnosen sein. Neurometrics. Bemerkenswert sind in diesem Zusam-
menhang die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um R. John (z. B. John et al. 1994) die den diagnostischen Wert von EEG und EKP bei psychischen Erkrankungen in systematischer Weise mit aufwendiger Methodik und multivariater Auswertung und in Bezug auf große Normkollektive untersucht hat. Nach den Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe lassen sich mit Hilfe von EEG/EKP-Merkmalen die psychiatrischen Diagnosen recht gut abbilden und auch prädiktive Aussagen hinsichtlich der Therapieresponse machen. Einer breiten Anwendung dieses mit »neurometrics« bezeichneten Verfahrens stehen der methodische Aufwand sowie die bisher nicht ausreichende Replikation dieser Ergebnisse durch andere Forschergruppen im Wege. Verlaufsbeobachtung. Die klinisch bedeutsame Frage, ob
mit EEG/EKP-Parametern klinisch relevante Verlaufs-
24
544
24
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
aspekte bei psychischen Erkrankungen vorhergesagt werden können, ist bisher nicht ausreichend zu beantworten. Von Interesse ist die Beobachtung, dass stabilisierte Patienten mit schizophrenen Störungen, die eine kleine P300-Amplitude aufweisen, durch eine schlechtere Prognose, vermehrte Residualsymptomatik und ein erhöhtes Spätdyskinesierisiko charakterisiert sind (Hegerl et al. 1995). Inwieweit aus diesen gruppenstatistischen Ergebnissen klinisch relevante Aussagen bezüglich des einzelnen Patienten abzuleiten sind, ist noch nicht sicher zu beantworten.
pharmaka auf EEG/EKP ist zu bedenken, dass die Effekte interindividuell recht unterschiedlich sind, von der EEGAusgangslage, der Dosis und dem Plasmaspiegel der Substanzen, der Geschwindigkeit der Dosisänderungen und anderen Faktoren abhängen. Auch unterscheiden sich die Pharmakoeffekte zu Beginn einer Medikation von denen unter einer Dauerbehandlung. Die folgenden Angaben müssen deshalb keineswegs auf jeden Einzelfall zutreffen.
24.5.1 24.5
EEG und Psychopharmakotherapie
EEG und EKP unter einer Psychopharmakotherapie sind in mehrfacher Hinsicht für den Kliniker von Interesse: EEG und EKP ergeben sich aus der Summation kortikaler postsynaptischer Potenziale, die durch kortikal freigesetzte Neurotransmitter induziert werden. Es ist deshalb verständlich, dass das EEG und die EKP durch Psychopharmaka mit ihrem neurochemischen Wirkansatz in vielfältiger Weise beeinflusst werden. Für den Kliniker ist die Kenntnis dieser pharmakologischen Modifikationen des EEG wichtig, um pharmakogene von nichtpharmakogenen EEG-Veränderungen unterscheiden zu können. Nur bei Kenntnis der wichtigsten Psychopharmakaeffekte auf das EEG ist es möglich zu entscheiden, ob z. B. eine Allgemeinveränderung Ausdruck einer antidepressivabedingten Modifikation oder eines davon unabhängigen organischen Prozesses ist. EEG und EKP können Hinweise auf neurotoxische Medikamenteneffekte oder ein erhöhtes Anfallsrisiko liefern. EEG und EKP können Hinweise auf eine Eigenmedikation (z. B. mit Benzodiazepinen) oder auf Complianceprobleme geben. Naheliegend ist der Versuch, EEG/EKP-Parameter als Indikatoren der Funktion neurochemischer Systeme einzusetzen, um damit Patienten mit einer bestimmten neurochemischen Dysfunktion zu identifizieren. Diese so charakterisierten Patienten könnten dann gezielter behandelt werden. Konsistente und replizierte Ergebnisse liegen für die Intensitätsabhängigkeit sensorisch evozierter Potenziale als möglicher Prädiktor des klinischen Ansprechens auf Serotoninagonisten vor. Im Folgenden wird, bezogen auf die wichtigsten Substanzklassen, auf klinisch relevante Aspekte des Zusammenhangs zwischen EEG/EKP und Psychopharmakotherapie eingegangen. Hinsichtlich der Effekte der Psycho-
Neuroleptika
Unter einer Behandlung mit den klassischen Neuroleptika ist häufig eine leichte Verlangsamung sowie eine höheramplitudige, gut rhythmisierte α-Grundaktivität zu beobachten. Nur in seltenen Fällen kommt es jedoch zu einer Verlangsamung auf unter 8 Hz.
Clozapin Eine klare Sonderstellung nimmt das Clozapin ein, das zu gruppiertem Auftreten höhergespannter irregulärer langsamer Aktivität führt, häufig auch zum Auftreten von irregulären Spike-wave-Komplexen (Günther et al. 1993). Trotz eingelagerter dysrhythmischer Gruppen ist meist eine noch normofrequente Grundaktivität abgrenzbar, was die Unterscheidung des Clozapin-modifizierten EEG von der mittleren bis schweren Allgemeinveränderung erleichtert. Kasuistische Erfahrung hat gezeigt, dass die »Pathologisierung« des EEG unter einer Clozapinmedikation nicht im Widerspruch zu einer guten klinischen Besserung steht. Derartige EEG-Veränderungen sollten deshalb auch nicht zum Absetzen der Clozapin-Medikation führen. Andererseits ergibt sich bei vermehrtem Auftreten steilerer Wellen doch der Verdacht auf ein erhöhtes Anfallsrisiko, so dass eine langsamere Aufdosierung und Zurückhaltung bei Hochdosierungen mit Dosen von über 600 mg ratsam sind. Cave Unabhängig vom EEG-Befund ist bekannt, dass es bei Tagesdosen zwischen 600 und 900 mg bei bis zu 14% der Patienten zu epileptischen Anfällen kommt (Ereshefsky et al. 1989).
Die ausgeprägten EEG-Effekte des Clozapin könnten durch die Kombination anticholinerger und antiserotonerger Effekte bedingt sein, da eine Reihe tierexperimenteller Studien darauf hinweisen, dass es insbesondere nach Ausschaltung sowohl der cholinergen als auch serotonergen kortikalen Projektionen zum Auftreten einer höhergespannten irregulären langsamen Aktivität kommt (Vanderwolf 1992).
545 24.5 · EEG und Psychopharmakotherapie
Atypische vs. klassische Antipsychotika Eine ausführliche Untersuchung verschiedener Antipsychotika und deren Effekte auf das visuelle (Routine-) EEG wurde von Centorrino et al. (2002) vorlegt. Insgesamt führten Atypika signifikant häufiger zu EEG-Auffälligkeiten als klassische Neuroleptika, epilepsietypische Veränderungen (spikes, Spike-wave-Komplexe, rhythmische Muster) fanden sich v. a. unter Clozapin, aber auch unter dem mit Clozapin strukturverwandten Olanzapin. Vergleichbare Untersuchungen von Amann et al. (2003), und Pogarell et al. (2004 a) stützen diese Daten: Atypika wie Olanzapin oder Amisulprid führten signifikant häufiger zu EEG-Veränderungen als z. B. Haloperidol als Vertreter der klassischen Neuroleptika. Allerdings zeigten sich unter einer Monotherapie mit dem atypischen Antipsychotikum Quetiapin nur in einem von immerhin 22 untersuchten Fällen unspezifische EEG-Auffälligkeiten, so dass diesem Präparat diesbezüglich möglicherweise besondere Bedeutung zukommt.
Malignes neuroleptisches Syndrom Eine Allgemeinveränderung entsprechend den Veränderungen bei metabolischer Enzephalopathie wurde bei 7 von 8 Patienten mit einem malignen neuroleptischen Syndrom gefunden (Rosebush u. Stewart 1989), andere Autoren berichten im Rahmen von Kasuistiken von unauffälligen EEGs (Dammers et al. 1995; Revuelta et al. 1994).
P300 Bezüglich der P300-Komponente haben Neuroleptika keine oder nur relativ geringe Effekte. Bei einem Vergleich schizophrener Patienten mit hohem vs. niedrigem Plasmaspiegel von Perazin bzw. von Clozapin wies die Gruppe mit hohen Spiegeln lediglich tendenziell eine verkleinerte P300-Amplitude auf. Auch in Längsschnittuntersuchungen führte das Absetzen der Neuroleptika lediglich zu einer geringfügigen Zunahme der mittleren P300-Amplitude (Juckel et al. 1997).
xin, Reboxetin, Citalopram oder Amitriptylin vor. Leichte EEG-Auffälligkeiten unter den genannten Antidepressiva fanden sich bei weniger als 20% der untersuchten Kurven, die jeweiligen Medikamentengruppen zeigten hierbei keine signifikanten Unterschiede. Insbesondere ergaben sich in keiner Gruppe Hinweise auf die Generierung epilepsietypischer Potenziale, so dass der streng indizierte Einsatz der Antidepressiva vermutlich auch bei Risikopersonen (z. B. Patienten mit Epilepsie) mit einem ausreichend hohen Maß an Sicherheit gegeben sein dürfte. Ob das EEG dabei hilfreich ist, ein zentrales Serotoninsyndrom zu diagnostizieren oder differenzialdiagnostisch abzugrenzen, ist bisher nicht ausreichend untersucht. Hegerl et al. (1998) diagnostizierten bei 5 Patienten unter Verwendung einer Serotoninsyndromskala ein leichtes Serotoninsyndrom. Bei diesen Patienten ließen sich keine konsistenten EEG-Veränderungen im Vergleich zum Vorbefund finden.
24.5.3
Die Effekte einer symptomsuppressiven oder rückfallverhütenden Lithiumbehandlung auf das EEG sind in der Literatur recht uneinheitlich beschrieben. Beobachtet wurde eine Verlangsamung der α-Grundaktivität sowie intermittierendes Auftreten langsamerer Wellen mit z. T. linksfrontaler Betonung. Bei vermehrtem und generalisiertem Auftreten einer irregulären langsamen Aktivität muss an neurotoxische Lithiumeffekte, meist bei erhöhtem Lithiumplasmaspiegel, gedacht werden (Übersicht bei Pogarell et al. 2006 b). Auch periodische Komplexe, wie sie im Rahmen der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung auftreten, sind unter einer Lithiumintoxikation beschrieben worden (Smith u. Kocen 1988). Insgesamt muss von einer großen interindividuellen Variabilität der Lithiumeffekte auf das EEG ausgegangen werden.
24.5.4 24.5.2
Antidepressiva
Unter trizyklischen Antidepressiva wird häufig eine Zunahme sowohl der β- als auch θ-Aktivität beobachtet. Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) sind bisher hinsichtlich ihrer EEG-Effekte vergleichsweise wenig untersucht. In einer an der Psychiatrischen Universitätsklinik München durchgeführten offenen Studie konnten im Prä-post-Vergleich bei depressiven Patienten keine wesentlichen Effekte von Paroxetin auf die EEGAktivität festgestellt werden. Sterr et al. (2006) legten eine retrospektive Analyse von Veränderungen des Routine-EEG bei insgesamt 255 Patienten unter Monotherapie mit Mirtazapin, Venlafa-
Lithium
Carbamazepin
Bei Patienten mit rezidivierenden affektiven Störungen wird unter einer phasenprophylaktischen Behandlung mit Carbamazepin nicht selten das gruppierte Auftreten einer höhergespannten irregulären langsamen Aktivität beobachtet. Diese Veränderungen treten bei einigen Patienten nach den Erfahrungen in der Universitätsklinik München auch bei therapeutischen Plasmaspiegeln auf. Hervorzuheben ist auch hier die große interindividuelle Variabilität in den carbamazepinassoziierten EEG-Veränderungen. Ähnlich wie bei Clozapin spricht die »Pathologisierung« des EEG nicht gegen ein günstiges klinisches Ansprechen auf die Pharmakotherapie.
24
546
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
24.5.5
24
Benzodiazepine, Clomethiazol
Die meisten Patienten weisen unter einer Behandlung mit diesen Substanzen einen erhöhten Anteil einer 15–25/sβ-Aktivität auf, die die α-Grundaktivität überlagert. Meist wird diese β-Aktivität durch Augenöffnen nicht blockiert. Bei schweren Benzodiazepinintoxikationen ist dagegen häufig ein EEG mit irregulärer langsamer Aktivität, ohne erhöhte β-Aktivität zu finden. Ein erhöhter β-Anteil im EEG kann bisweilen ein Hinweis auf eine Eigenmedikation mit Benzodiazepinen sein. Zu bedenken ist hier, dass noch 1–2 Wochen nach Absetzen der Benzodiazepine eine erhöhte β-Aktivität nachweisbar sein kann. Unter Benzodiazepinen wurde eine Amplitudenabnahme der EKP beobachtet, mit Ausnahme der N2-Komponente, die eine Amplitudenzunahme zeigte (Rockstroh et al. 1991; Hayashi et al. 1996). Diese Effekte dürften zumindest teilweise über GABAerge Effekte der Benzodiazepine zu erklären sein, da entgegengesetzte Effekte unter GABA-Antagonisten beschrieben sind.
24.5.6
Antidementiva
Wegen des relativ geringen Nutzen-Risiko-Verhältnisses der zur Behandlung der Alzheimer-Demenz zur Verfügung stehenden Psychopharmaka, ist es wichtig, biologische Parameter für die kontinuierliche Beurteilung der Wirksamkeit beim individuellen Patienten zur Verfügung zu haben. Zudem ist zu erwarten, dass zukünftig auch protektive Therapiestrategien entwickelt werden, so dass sich hieraus weitere klinisch relevante Einsatzmöglichkeiten hirnfunktioneller Untersuchungs-verfahren ergeben werden. Angesichts hoher Tagestherapiekosten ist der objektive Nachweis der Wirksamkeit der eingesetzten Präparate ebenso von Bedeutung wie eine zuverlässige Prädiktion der Therapieresponse (Pogarell u. Hegerl 2003). Eine Veränderung des quantitativen EEG (Abnahme der relativen θ-Aktivität) stand mit der leichten kognitiven Verbesserung, die während einer 6-monatigen Behandlung mit dem Nootropikum Phosphatidylserin beobachtet wurde, in Verbindung (Heiss et al. 1994). Effekte von Nootropika auf EEG-Parameter im Sinne einer Abnahme der θ- und δ-Aktivität und einer Zunahme und Frequenzbeschleunigung der α-Aktivität wurden auch von anderen Autoren beschrieben (Anderer et al. 1996; Hollander et al. 1987; Ihl et al. 1988; Grossmann et al. 1990; Saletu et al. 1995, 1990–1991). ! Nach diesen Studien ist das EEG als die beste zur Verfügung stehende apparative Methode für die Verlaufsbeurteilung der Hirnfunktion unter einer Behandlung mit Nootropika anzusehen. Neben der Sensitivität dieser Methode sind v. a. die ge-
ringe Belastung des Patienten durch Wiederholungsuntersuchungen sowie der Kostenaspekt Vorteile dieses Verfahrens.
P300 Bezüglich der P300 ist in kontrollierten Studien in recht konsistenter Weise eine Latenzverkürzung und Amplitudenzunahme der P300 unter Behandlung mit Nootropika bei gesunden Probanden (Bifemelan: Semlitsch et al. 1996; Pyritinol, Physostigmin: Dierks et al. 1994) und Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, Multiinfarktdemenz oder altersassoziierter Gedächtnisstörung beschrieben worden (Nicergolin: Anderer et al. 1996; Iwanami et al. 1993; Ginkgo biloba: Semlitsch et al. 1995; Nicergolin: Saletu et al. 1995; Nefiracetam: Hirata et al. 1996; Indeloxazin-Hydrochlorid: Naka et al. 1996 b). In einer plazebokontrollierten Studie an 10 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung wurden unter der Behandlung mit einem Muscarinagonisten (RS 86) keine Effekte auf die P1-, N1-, P2- und N2-Komponente, jedoch eine signifikante Amplitudenzunahme und tendenziell eine Latenzabnahme der P300 (AEP) gefunden (Hollander et al. 1987). Inwieweit diese Änderungen der P300 mit den pharmakodynamischen Effekten der Substanzen oder indirekt mit der Besserung der demenziellen Symptomatik zusammenhängen, ist nicht sicher zu beantworten (Semlitsch et al. 1995; Hollander et al. 1987). Thomas et al. (2001) konnten allerdings in einer Studie an 60 Patienten mit AD, die mit den Cholinesterasehemmern (ChEH) Donepezil und Rivastigmin oder mit Vitamin E behandelt wurden, zeigen, dass die ChEH-Therapie zu einer signifikanten Abnahme der P300-Latenzen führte, die mit der klinischen Verbesserung der Demenz korrelierte. Diese Effekte fanden sich in der mit Vitamin E behandelten Gruppe nicht. Die Ergebnisse konnten nach Stratifikation der Patienten hinsichtlich der Schwere der Demenz nochmals bestätigt werden (Onofrj et al. 2002). In einer eigenen EEG/EKP-Studie bei AD-Patienten, die sich einer 12-wöchigen, randomisierten plazebokontrollierten Therapiestudie mit dem ChEH Donepezil unterzogen, fanden sich erste Hinweise, die die Möglichkeit einer Therapieprädiktion mittels P300-Analyse nahelegen (Pogarell et al. 2001). Bei 30 Patienten wurde vor Beginn einer Therapie mit Donepezil (n = 16) oder Plazebo (n = 14) eine elektrophysiologische Diagnostik (P300, Dipolquellenanalyse) durchgeführt. Patienten, die vor Therapiebeginn eine höhere P300-Amplitude aufwiesen, zeigten eine signifikant bessere Therapieresponse unter Donepezil als Patienten mit niedrigerer P300-Amplitude. In der Plazebo-Gruppe fand sich dieser Zusammenhang erwartungsgemäß nicht. Diese Daten zeigen, dass die P300 nicht nur diagnostisch und im Therapiemonitoring, sondern möglicherweise auch zur prätherapeutischen Responseprädiktion eingesetzt werden könnte.
547 24.7 · Schlussbetrachtung
24.6
Schlafpolygrafie
Schlafpolygrafische Untersuchungen in der Psychiatrie sind naheliegend, da bei vielen psychischen Erkrankungen Schlafstörungen bestehen und Schlafstörungen ihrerseits zu psychiatrischen Symptomen führen können. Besondere Erwartungen hinsichtlich einer diagnostischen Bedeutung der Schlafpolygrafie sind durch die Beobachtung geweckt worden, dass Patienten mit depressiven Störungen schlafpolygrafische Auffälligkeiten wie z. B. eine verkürzte REM-Latenz und eine erhöhte REM-Dichte aufweisen. Diese Befunde haben sich jedoch als nicht depressionsspezifisch erwiesen (Benca et al. 1992). Von Interesse ist, dass sich Patienten mit Alzheimer-Demenz entgegengesetzt verhalten und eher eine Reduktion des REM-Schlafes aufweisen. Dies dürfte mit der cholinergen Dysfunktion bei diesen Patienten in Verbindung stehen, da die cholinerge Neurotransmission für die Ausbildung des REM-Schlafes eine wichtige Rolle spielt. Die schlafpolygrafisch bestimmte REM-Latenz könnte so gelegentlich hilfreich bei der Differenzialdiagnose Alzheimer-Demenz vs. Depression sein. Auf vielversprechende Befunde bezüglich der Bedeutung des REM-Schlaf-EEG für die Frühdiagnostik der Alzheimer-Demenz ist oben bereits eingegangen worden. Insgesamt hat sich die Schlafpolygrafie jedoch nicht zu einem routinemäßig einsetzbaren Untersuchungsverfahren im Rahmen der Diagnose oder Therapieplanung der klassischen psychischen Erkrankungen entwickelt. Für einige spezielle psychiatrierelevante Fragestellungen spielt die Schlafpolygrafie jedoch eine wichtige Rolle. Schlafstörungen. Im Rahmen der Diagnostik der Insom-
nien ist die Schlafpolygrafie von wesentlicher Bedeutung. Mit ihrer Hilfe können subjektive Klagen über Schlafstörungen objektiviert oder diesbezügliche Fehlwahrnehmungen des Patienten erkannt werden. Weiter können mittels Aktometer periodische Bewegungen im Schlaf (nächtliche tonische Bewegungen, meist der Beine) als Ursache der Insomnie erkannt werden. Schlafapnoesyndrom. Das Schlafapnoesyndrom ist eine
häufige Ursache erhöhter Tagesmüdigkeit, die mit Klagen über Antriebsminderung und mit depressiver Stimmung kombiniert sein kann. Durch Messung der Atemfunktion (Thoraxexkursion, Atemfluss durch Mund und Nase, periphere Sauerstoffsättigung) kann ein obstruktives Apnoesyndrom durch Verlegung der oberen Atemwege von einem zentralen Apnoesyndrom bei Dysfunktion des Atemzentrums differenziert werden. Mehr als 10 apnoische Pausen pro Stunde von jeweils mehr als 10 s Dauer werden als klinisch bedeutsam angesehen. Da diese Apnoephasen mit einem Arousal einhergehen, kommt es zur Störung der physiologischen Schlafzyklen und insbesondere der Tiefschlafstadien. Die Folge ist eine vermehrte
Tagesmüdigkeit, die durch den »multiple SchlaflatenzTest« mit verkürzten Schlaflatenzen objektiviert werden kann. Narkolepsie. Für die Diagnose der Narkolepsie ist impe-
ratives Einschlafen am Tage eines der Leitsymptome. Zusätzlich können weitere Symptome wie ein plötzlicher Verlust des Muskeltonus in Verbindung mit affektiven Ereignissen (Kataplexie) auftreten. Schlafpolygrafisch ist insbesondere bei letzteren Patienten eine sehr kurze REM-Latenz (Einschlaf-REM-Episode) typisch. Da die Schlafarchitektur erheblich gestört ist, leiden viele Patienten neben den imperativen Schlafattacken unter einer Tagesmüdigkeit, die mit einem pathologischen »Multiplen Schlaflatenz-Test«, z. B. mit Einschlaf-REM-Episoden einhergeht. Kleine-Levin-Syndrom. Bei phasisch auftretenden mehr-
tägigen bis mehrwöchigen Zuständen mit erhöhter Schläfrigkeit, Dysphorie, Hyperphagie und anderen Verhaltensauffälligkeiten, ist an ein Kleine-Levin-Syndrom zu denken. Junge Männer sind gehäuft betroffen. Im Intervall finden sich meist keine psychopathologischen Auffälligkeiten. Schlafpolygrafisch lässt sich die Diagnose durch den Nachweis einer verlängerten Schlafdauer stützen. Erektile Dysfunktion. Bei einem Patienten mit erektiler
Dysfunktion macht der Nachweis nächtlicher REMSchlaf-gekoppelter Spontanerektionen mittels der Penisplethysmografie eine organische Ursache der Beschwerden unwahrscheinlich (Ware 1989; Wiegand 1995). Das Fehlen von Spontanerektionen ist weniger aussagekräftig und spricht nur dann für das Vorliegen einer organisch bedingten erektilen Dysfunktion, wenn im Rahmen der Schlafpolygrafie das Auftreten von REMPhasen während der Untersuchungsnacht nachgewiesen wurde.
24.7
Schlussbetrachtung
Die Ausführungen belegen, dass EEG/EKP in der Psychiatrie klinisch relevante Informationen liefern, die über eine neurologische Ausschlussdiagnostik hinausgehen und durch kein anderes Verfahren gewonnen werden können. Auch wenn EEG/EKP für strukturdiagnostische Fragen durch cCT und MRT weitgehend überflüssig geworden sind, so sind sie als nichtinvasive, funktionsdiagnostische Instrumente zur Abbildung neuronaler Massenaktivität unersetzbar. Bei der gelegentlich anzutreffenden Tendenz, im Zuge neuerer Bildgebungsverfahren den Stellenwert dieser neurophysiologischen Untersuchungsverfahren zu unterschätzen, ist für den Kliniker die Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen von EEG/ EKP besonders wichtig.
24
548
24
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
! Um die Möglichkeiten neurophysiologischer Untersuchungstechniken auch in der klinischen Routine auszuschöpfen, sind neben einem dem aktuellen Stand der Technik entsprechenden EEG-Messplatz große Sorgfalt in der Untersuchungsdurchführung, ein intensiv geschultes Personal sowie regelmäßige Qualitätskontrollen angezeigt, um angesichts der Komplexität der Verfahren und der Fülle an Fehlermöglichkeiten nicht interpretierbare Ergebnisse zu vermeiden. Mangelhafte Befunde und klinische Fehlinterpretationen führten in der Vergangenheit gerade im Bereich der Psychiatrie häufig zur Unterschätzung und Vernachlässigung dieser einzigartigen funktionellen Untersuchungstechniken. Für den zukünftigen Stellenwert von EEG/EKP wird sich günstig auswirken, dass in den letzten 10 Jahren durch methodische Weiterentwicklungen im Bereich der EEG/EKP-Analyse und durch Grundlagenforschung das Wissen über die Elektrogenese des EEG und damit über Zusammenhänge zwischen der neuroelektrischen Aktivität an der Kopfhaut und den zugrunde liegenden neuroanatomischen Strukturen und neurophysiologischen bzw. neurochemischen Prozessen vertieft worden ist. Das EEG gewinnt hierdurch erneut Anschluss an andere biologisch-psychiatrische Forschungsbereiche, wird auch im klinisch-psychiatrischen Kontext besser interpretierbar und dürfte damit auch weiterhin seine Bedeutung in der Psychiatrie behaupten (Pogarell u. Hegerl 2004 b; Pogarell et al. 2005 b).
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24
25 25 Bildgebende Verfahren E. M. Meisenzahl, H.-P. Volz
25.1
25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3
Einsatzmöglichkeiten bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik – 554
Einzelne Verfahren – 554 Computertomografie (CT) – 554 Magnetresonanztomografie (MRT) – 555 Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) – 557 25.2.4 Magnetresonanzspektroskopie (MRS) – 559 25.2.5 Positronenemissionstomografie (PET) – 561 25.2.6 Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) – 563
25.3 25.3.1 25.3.2 25.3.3 25.3.4 25.3.5
Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen – 565 Hirnleistungsstörungen und Demenz – 565 Schizophrene Erkrankungen – 569 Affektive Erkrankungen – 574 Abhängigkeiten und schädlicher Gebrauch – 576 Andere psychische Erkrankungen – 578
25.4
Ausschlussdiagnostik – 578 Literatur
– 580
> > Psychische Erkrankungen gehen in der Regel nicht mit spezifischen morphologischen Veränderungen, die mit Hilfe zerebral-bildgebender Verfahren erfassbar sind, einher. Die Neuroradiologie hat sich daher vor allem auf die Fachgebiete Neurologie und Neurochirurgie konzentriert. In den letzten Jahren zeichnen sich hier Veränderungen ab, da v. a. die Anwendung funktioneller Verfahren wie SPECT (Single-Photon-Emission-Computed Tomography), PET (Positronenemissionstomografie), fMRT (funktionelle Magnetresonanztomografie) und MRS (Magnetresonanzspektroskopie) an Bedeutung gewinnen werden.
554
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
25.1
Einsatzmöglichkeiten bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik
Strukturell bildgebende Verfahren (s. nachfolgende Übersicht) dienen vor allem dem Ausschluss gravierender intrazerebraler Prozesse, der Diagnostik und der Verlaufsbeurteilung degenerativer Prozesse.
25
Die Diagnostik und Differenzialdiagnostik anderer, primär psychischer Prozesse tritt demgegenüber in den Hintergrund.
Stellenwert bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik und Differenzialdiagnostik. (Mod. nach Hentschel 2000) Ausschluss symptomatischer psychischer Störungen bei intrakranieller Raumforderung Liquorzirkulationsstörung (Hydrocephalus malresorptivus) entzündlichen, traumatischen und nutritivtoxischen Erkrankungen vaskulären Prozessen wie Ischämie, Blutung, arteriovenöse Missbildungen Diagnostik und Differenzialdiagnostik degenerativer Prozesse (in erster Linie Demenzen) Diagnostik und Differenzialdiagnostik primär psychischer Erkrankungen
Wie man bereits aus dieser Aufstellung erkennen kann, liegt die überwiegende Rolle bildgebender Verfahren in der Psychiatrie im Bereich der Ausschlussdiagnostik. Die Anwendung konventioneller radiologischer Methoden hat an Bedeutung mit der Einführung von computerisierten Schnittbildverfahren (Computertomografie – CT, 1972; Magnetresonanztomografie – MRT, 1979) weitgehend an Bedeutung verloren, sie ist allenfalls bei sekundären psychischen Veränderungen in Folge von SchädelHirn-Traumata oder Tumoren von Bedeutung. Die praktische Bedeutung bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik ist auch dadurch eingeschränkt, dass weitaus die meisten Patienten mit psychischen Erkrankungen durch den Hausarzt betreut werden, weniger als 9% der Patienten werden dem ambulant tätigen Nervenarzt vorgestellt, nur bei 2% der Patienten wird eine stationäre Betreuung notwendig (Hentschel 1997). Somit werden für den Großteil der psychiatrischen Patienten die notwendigen diagnostischen Schritte durch
den Hausarzt in die Wege geleitet, der mit Ausnahme der Demenzdiagnostik nur selten bildgebende Untersuchungen veranlasst. Als Minimalkonsens, wann bildgebende Diagnostik zum Einsatz gelangen sollte, kann folgende Regel gelten: 1. Psychische Ersterkrankung (Ausschluss symptomatischer intrakranieller Veränderungen), 2. zusätzliches Auftreten neurologischer Symptome bei bekannter psychischer Erkrankung (Ausschluss symptomatischer intrakranieller Veränderungen), 3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik degenerativer Prozesse.
25.2
Einzelne Verfahren
25.2.1
Computertomografie (CT)
Die CT (eigentlich Röntgen-Computertomografie) nutzt die Absorption von Röntgenstrahlen, die den Patienten aus unterschiedlichen Richtungen durchdringen und von der Strahlenquelle gegenüber lokalisierten Detektoren gemessen werden, um eine Grauwertverteilung in der gemessenen Schicht zu berechnen; diese Grauwertverteilung gibt die unterschiedlichen Röntgendichten der erfassten Gewebe wider. Das CT-Gerät besteht aus einer vertikal angeordneten Gantry, die den Strahler, dessen Kühlung und das Detektorensystem beinhaltet, sowie aus dem horizontal in die Gantryöffnung hineinzubewegenden Lagerungstisch für den Patienten. Die Schädel-CT-Untersuchung beginnt routinemäßig vom Foramen magnum aus und stellt den Schädel und den Schädelinhalt ohne Lücken zwischen den einzelnen Schichten dar, wobei die Schichtdicke infratentoriell nicht mehr als 4 mm, supratentoriell nicht mehr als 8 mm betragen sollte. In heutigen CT-Geräten wird eine sehr hohe Zahl von Detektoren (mehr als 14 pro Grad Flächenwinkel) verwendet, die auf einem 360°-Kranz angeordnet sind. Der Strahler vollführt eine kontinuierliche Rotationsbewegung um das zu messende Objekt (⊡ Abb. 25.1).
Prinzip der Bildberechnung Wie Hentschel (2000) zusammenfasst, beruht das Prinzip der Bildberechnung auf der gefalteten Rückprojektion unter Verwendung unterschiedlicher und an die Fragestellung angepasster Filterung der Messwerte. Das hierbei entstehende Bildelement stellt zweidimensional betrachtet das Pixel dar, unter Berücksichtigung der Schichtdicke (dreidimensional) das Voxel. Übliche Bildmatrices umfassen 256×256 (28), 512×512 (29) oder 1024×1024 (210) Pixel. Die Graustufen der Pixel (diese geben die Dichte des entsprechenden Gewebes wieder) sind entsprechend der Bit-Tiefe (108–1010) kodiert, bei einer Bit-Tiefe von 10 ste-
555 25.2 · Einzelne Verfahren
25.2.2
⊡ Abb. 25.1. Schematische Darstellung eines modernen CT-Gerätes. Die Röntgenröhre führt eine kontinuierliche komplette Rotationsbewegung um das zu messende Objekt, das sich idealerweise im Rotationszentrum (R) befindet, aus. Hierbei werden die das Objekt durchdringenden Röntgenstrahler durch der Strahlungsquelle gegenüberliegende, ortsfeste Detektoren aufgefangen und gemessen. (Nach Bunke 1998)
hen somit 1024 Graustufen zur Verfügung. Dunkle Bildanteile entsprechen Regionen geringer Strahlenabsorption (Liquor, Luft), während helle Bildanteile durch Regionen hoher Strahlenabsorption (z. B. Knochen) hervorgerufen werden. Die Schwächung der Röntgenstrahlen in einer umschriebenen Region wird numerisch durch den Schwächungskoeffizienten, der in Hounsfield-Einheiten (HE; bahnbrechende Arbeiten von Cormack und Hounsfield hatten die Entwicklung der CT erst ermöglicht, die Forscher wurden 1979 hierfür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet) angegeben. Die entsprechende Skala ist so gewählt, dass Wasser den Referenzwert 0 erhielt, Luft etwa -1000, Knochen ca. +1000. Mittels der sog. Fenstertechnik kann in einem interessierenden, klar abgegrenzten Gehirngebiet der wichtige Bereich von etwa -100 HE bis +100 HE gesondert betrachtet werden, um so eine optimale Differenzierung des Gewebes mit hoher Kontrastauflösung bei weitgehender Unterdrückung des Rauschens zu erreichen. Der methodisch bedingte Nachteil der geringen Differenzierung von Weichteilen untereinander ist auch mithilfe dieser Technik nicht vollständig überwindbar, kann aber durch die Verwendung von Kontrastmittel (heute: nichtionische, dimere Kontrastmittel) weiter minimiert werden. Diese Kontrastmittel rufen »artifizielle« Dichteunterschiede hervor und können die Darstellung von Bereichen gestörter Blut-Hirn-Schrankenfunktion und gefäßreicher Strukturen erleichtern.
Magnetresonanztomografie (MRT)
Die moderne Magnetresonanztomografie (MRT) beruht auf dem Prinzip der magnetischen Resonanz (MR), ein Effekt der 1946 von Purcell und Bloch entdeckt wurde. Anfang der 1970er Jahre war die Geburtsstunde der MRTomografie, denn man hatte herausgefunden, dass Bilder von Weichteilstrukturen mit einem Kontrast erstellt werden konnten, der den anderer Verfahren übertraf. Weitere Fortschritte in der MR-Bildgebungstechnik führten 1983 zu Systemen, welche den menschlichen Körper mit Aufnahmezeiten abbilden konnten, die nur noch wenige Minuten betrugen. Gleichzeitig verbesserte sich das räumliche Auflösungsvermögen von 6 mm bis auf Werte unter 1 mm. Medizinische Bilder werden mit unterschiedlichen Strahlungsarten erzeugt. Jedes Bild ist das Ergebnis der Wechselwirkung von Strahlung und Objekt. Das MR-Bild beruht auf der Antwort bestimmter Atomkerne, welche sich in einem äußeren Magnetfeld befinden, auf die Zufuhr von elektromagnetischer Energie im Bereich der Frequenzen der Rundfunkübertragung. Auch Bilder, die mit der MR erzeugt werden, führen zu Schnittbildern vom Körper. Die MRT nutzt die Protonendichte im Gewebe, um Hirnstrukturen abzubilden. Protonen können als magnetische Dipole dargestellt werden. Sie befinden sich in einer ständigen kreiselartigen Eigenrotationsbewegung um die Magnetfeldachse (Spin). Der Patient liegt in einem statischen Magnetfeld, in dem die Protonen parallel und antiparallel zu den Feldlinien des Magnetfeldes ausgerichtet werden (⊡ Abb. 25.2). Ein Hochfrequenzimpuls führt zur Auslenkung der Protonen aus dieser Orientierung. Während sich die Protonen in die ursprüngliche
⊡ Abb. 25.2. Magnetische Momente im Magnetfeld: In einem homogenen Magnetfeld Bo präzedieren die magnetischen Momente in paralleler und antiparalleler Einstellung zur Achse des Magnetfeldes Bo. Ein geringer Überschuss an Atomkernen, die parallel zum Magnetfeld ausgerichtet sind, ergibt eine Nettomagnetisierung in Richtung des externen Magnetfeldes
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556
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 25.3a–c. T1-, T2- und protonengewichtete koronare Sequenzbilder. a In der T1-Gewichtung sind die kortikalen und subkortikalen Strukturen am besten zu erkennen; b, c In der T2- und Protonen-Gewichtung lassen sich pathologische Veränderungen besonders gut nachweisen
25
Ausrichtung zurückbewegen, emittieren sie elektromagnetische Wellen, die von Empfängerspulen registiert werden und durch Verwendung zusätzlicher Magnetfeldgradienten räumlich zugeordnet werden. Diese Information wird in tomografische Schnittbilder von Grauwertabstufungen umgewandelt. Die Bildinformation wird somit im Wesentlichen durch 2 Parameter bestimmt: 1. Die Protonendichte im jeweiligen Gewebe sowie 2. deren Relaxationszeiten (genannt T1 und T2). Die Zeitkonstanten T1 und T2 hängen von der Zusammensetzung des jeweiligen Gewebes ab und beschreiben die Zeitspanne, welche die Protonen im Gewebe benötigen, um nach erfolgter Anregung in ihr magnetisches Ausgangsfeld zurückzukehren sowie die Tendenz der Spins, sich senkrecht zur Magnetfeldachse auseinanderzubewegen.
Wichtige Sequenzen für die Untersuchung Für die klinische Routine sind 3 Sequenzen (⊡ Abb. 25.3 a– c) am wichtigsten:
1. T1-gewichtete Sequenz, 2. T2-gewichtete Sequenz, 3. protonengewichtete Sequenz.
keine Röntgenstrahlen verwendet werden, weist die Untersuchung im Gegensatz zur Computertomografie (CT) keine Strahlenbelastung auf. Zur Durchführung der Aufnahme liegt der Patient für den Zeitraum von ca. 10– 20 min unter ständiger Aufsicht des Untersuchungsteams in einer Röhre, in der laute Klickgeräusche zu hören sind, welche durch Ohrstöpsel gedämpft werden (⊡ Abb. 25.4). Für Personen die an Klaustrophobie (Beklemmungsgefühle oder Ängste in engen Räumen) leiden, kann die Untersuchung aus diesem Grund als unangenehm erlebt werden oder aber auch nicht möglich sein. Zu beachten ist ferner, dass die untersuchten Personen starken Magnetfeldern ausgesetzt werden und daher keine Metallteile im Körper haben (wie Herzschrittmacher, Metallplatten nach Knochenfrakturen, Spirale oder ähnliches) dürfen. Aus diesem Grund müssen auch Schmuck und Uhren vor der Untersuchung abgelegt werden. Die klinischen Einsatzmöglichkeiten der MRT in der Psychiatrie sind sowohl von diagnostischer als auch wissenschaftlicher Bedeutung. Im Rahmen der Erstdiagnostik psychischer Erkrankungen stellt sie in erster Linie ein Verfahren zum Ausschluss organischer Ursachen dar ( Kap. 25.4).
Im T1-gewichteten Bild erscheinen der Liquor schwarz, der Kortex grau und das Marklager hellgrau. Im T2-gewichteten Bild erscheinen der Liquor weiß, der Kortex hellgrau und das Marklager eher dunkelgrau. Im protonengewichteten Bild sind Liqour und Marklager beide eher dunkelgrau und der Kortex hellgrau. Auch ist die Gabe von intravenösem Kontrastmittel (KM) möglich, wobei in der klinischen Routine heute meist gadoliniumhaltige Kontrastmittel (Gd-DTPA) zur Anwendung kommen. Die Feldstärke der MRT-Magneten hat auf die Bildqualität einen wesentlichen Einfluss. Sie werden in Tesla (T) angegeben. MRT-Geräte für die klinische Anwendung haben eine Spannbreite von 0,3 bis 2,0 T.
Praktische Anwendung der MRT Was die praktische Anwendung betrifft, so werden bei der MRT ohne Verwendung von Röntgenstrahlen Aufnahmen des Kopfes vorgenommen, die wichtige Informationen über den Zustand des Gehirnes geben können. Da
⊡ Abb. 25.4. Skizze einer MRT-Aufnahme. Durch die Überlagerung des Magnetfeldes mit einem Magnetfeldgradienten variiert die Larmorfrequenz w in Richtung des Gradienten; somit kann die Schichtselektion vorgenommen werden. Ein HF-Puls mit der Frequenz w0 und definierter Bandbreite regt selektiv eine Schicht an
557 25.2 · Einzelne Verfahren
In der klinischen Ausschlussdiagnostik psychischer Erkrankungen bietet die MRT aufgrund ihrer deutlich überlegeneren Sensitivität gegenüber der zerebralen CT (cCT) klare Vorteile. Ein weiterer Vorteil ist die fehlende Strahlenbelastung für den Patienten und die damit gegebene Möglichkeit, notwendige Folgeuntersuchungen bei demselben Patienten problemlos durchzuführen.
25.2.3
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Als im Mai 1991 dem Physiker Kwong an der Harvard Universität in Boston sein Experiment gelang, konnte er noch nicht ahnen, dass er ein revolutionäres Verfahren für die Hirnforschung entwickelt hatte. Mit seiner Methode konnten nun Vorgänge innerhalb des Gehirns mit der Magnetresonanztomografie beobachtet werden. Zwar gab es schon Jahre vorher die Möglichkeit, Hirnaktivität bei bestimmten geistigen Funktionen und beim Ausführen von Bewegungen zu beobachten. Dabei war es jedoch notwendig, den untersuchten Personen radioaktive Substanzen zu spritzen (s. nuklearmedizinische Verfahren PET/SPECT). Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie war es jedoch nicht mehr notwendig, den Patienten Kontrastmittel oder sonstige radioaktive Stoffe zu injizieren, um die Blutflussveränderungen bei Hirnaktivität in bestimmten Arealen nachzuweisen. Die MRT hat seit Mitte der 1980er Jahre gezeigt, wie genau und zuverlässig sie sowohl das Gehirn als auch viele andere Organe im Bild darstellen kann. Mit der funktionellen Kernspintomografie können unter bestimmten Voraussetzungen Aktivierungsstudien durchgeführt werden, die zum Beispiel beim Bewegen der Hand die Hirnregionen erkennbar macht, die für die Ausführung der entsprechenden Bewegung verantwortlich sind. Für viele Hirnforscher geht damit ein großer Traum in Erfüllung, das Gehirn bei der Arbeit zu betrachten, ohne invasiv in das ZNS eingreifen zu müssen.
Prinzip der MRT Das Prinzip der funktionellen Magnetresonanztomografie beruht auf der Durchblutungszunahme in Gehirngebieten mit hoher neuronaler Aktivität. Physiologische Grundlage ist die Kopplung zwischen neuronaler Aktivität und regionaler Hirndurchblutung. Durch die Aktivierung von Neuronenpopulationen kommt es zu einem Anstieg des regionalen zerebralen Sauerstoffbedarfs. Die regionale Durchblutung und damit die lokale Sauerstoffkonzentration nimmt daher in diesen Arealen zu (»blood oxygen level dependent«, BOLD-Signal). Dadurch verschiebt sich das Verhältnis zwischen Oxy- und Desoxyhämoglobin zu Lasten des paramagnetisch wirksamen Desoxyhämoglobins, eine lokale Änderung der sogenannten
magnetischen Suszeptibilität findet statt. Dieser Effekt ist mit der funktionellen MRT messbar, auch wenn er sich in der Größenordnung von nur wenigen Prozent bewegt. Die Blutflussveränderungen werden also mit dem Blut als »internem Kontrastmittel« verfolgt. Untersuchungssequenzen. Da sich die regionalen Ände-
rungen der Hirndurchblutung in nur wenigen Sekunden abspielen, müssen entsprechend schnelle Untersuchungssequenzen eingesetzt werden. In der Regel verwendet man T2*-gewichtete Gradientenechosequenzen. Damit lassen sich einzelne Schichten in weniger als 10 s aufzeichnen. Nachteilig ist, dass die simultane Untersuchung mehrerer Schichten nur mit Einschränkungen durchführbar ist. Diese Probleme gelten nicht für die Echo-Planar-Technik (EPI). Bei dieser extrem schnellen Sequenz können einzelne Schichten in weniger als 100 ms aufgezeichnet werden. Die Untersuchung ganzer Schichtpakete ist in der Größenordnung von Sekunden möglich. Die EPI eignet sich wegen ihrer Empfindlichkeit gegenüber lokalen Änderungen der magnetischen Suszeptibilität besonders gut für die funktionelle Bildgebung. Bildauswertung. Die Bilder werden mit aufwendigen
Computernachverarbeitungsverfahren analysiert, um die Hirnregionen zu identifizieren, in denen die Blutflussveränderungen stattgefunden haben. Die Kartierung von alleinigen Signaldifferenzen zwischen Aktivierungs- und Ruheaufnahmen sind aus statistischen Gründen nicht aussagefähig, da Differenzen nicht auf ihr Signifikanzniveau überprüft werden. Der Kartierung lokaler Z-Scores ist daher der Vorzug zu geben. Besser noch ist die lokale Kartierung von Zeitreihenanalysen (Autokorrelationsfunktionen, Leistungsspektrum), da hierdurch auch dem dynamischen Charakter der Messung Rechnung getragen wird.
Praktische Durchführung Die praktische Durchführung verhält sich wie bei einer konventionellen Magnetresonanzaufnahme. Auch hier gilt, da keine Röntgenstrahlen verwendet werden, dass diese Untersuchung beliebig häufig durchgeführt werden kann. Der wesentliche Unterschied zu einer konventionellen MRT-Aufnahme besteht darin, dass der Proband eine definierte Aufgabe, die zu einer Durchblutungssteigerung in den zu untersuchenden Gehirngebieten führen soll, durchführt (sog. Stimulationsparadigmen). Da das fMRT-Signal weder Einheit noch einen Nullpunkt besitzt, werden in Stimulationsparadigmen häufig Ruhebedingungen integriert, in denen der Proband entweder keine Aufgabe auszuführen hat, oder es wird eine Kontrollbedingung durchgeführt, die sich von der interessierenden Stimulation z. B. nur in dem kognitiven Parameter unterscheidet, der für die Fragestellung von Bedeutung ist. Bei der Datenanalyse werden somit die fMRT-Signale der ex-
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558
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
perimentellen Bedingung mit der Ruhe- oder Kontrollbedingung in Bezug gesetzt.
Anwendungsgebiete
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Eine klinische Anwendung der fMRT im engeren Sinne gibt es bisher nicht. Der Anwendungsschwerpunkt der fMRT in der Psychiatrie liegt bisher in der Untersuchung von Grundlagenfragen kognitiver Prozesse zur Erforschung psychischer Krankheiten. Daneben werden auch Fragen zur Response-Prädiktion von Psychopharmaka untersucht. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit dem Nachweis der bekannten kognitiven Störungen bei psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere der beiden großen Gebiete der Schizophrenie und Depression. Schizophrenie. Für die Schizophrenie finden sich mittler-
weile zu allen kognitiven Teilbereichen funktionelle Stu-
⊡ Abb. 25.5a, b. Verbales und räumliches Arbeitsgedächtnis bei schizophrenen Patienten und gesunden Kontrollprobanden mit der fMRT. a Verlagerung der statistischen parametrischen Karten (SPM 99, Wellcome Institute, London) beim Vergleich des Arbeitsgedächtnisses für gesunde Probanden auf standardisierte 3-D-Templates. Ein ausge-
dien. Untersuchungen zur Wahrnehmung – visuell und akustisch – unterstützen die These einer beeinträchtigten multimodalen integrativen Leistung (Braus 2002). Auch Gedächtnisstörungen bei schizophrenen Patienten können mit der Methode der fMRT gut dargestellt werden (⊡ Abb. 25.5). Es konnte beim Erkennen und Einprägen von Bildern und Wörtern gezeigt werden, dass aus dem fMRT-Aktivierungsmuster bei Präsentation bestimmter Stimuli vorausgesagt werden kann, ob man sich später an diese Bilder oder Wörter erinnern kann. Bei dem Erlernen von Bewegungsabläufen scheinen frontale Hirnregionen von entscheidender Bedeutung zu sein, während, wenn die Bewegung einmal gelernt ist, überwiegend Regionen in der Zentralregion und im Parietallappen beansprucht werden. Des Weiteren stehen vor allem exekutive Prozesse (Planen, Problemlösen, Arbeitsgedächtnis) im Fokus der Forschung. Die Frage der Hyper- bzw. Hypofrontalität muss vor dem Hintergrund der Bewältigungsleistung der kognitiven Aufgabe analysiert werden. So wies
dehntes Netzwerk frontoparietaler Strukturen wird aktiviert, b schizophrene Patienten. Insgesamt ist das Gesamtaktivierungsniveau gegenüber den gesunden Kontrollen reduziert und zeigt ein anderes Verteilungsmuster
559 25.2 · Einzelne Verfahren
Callicott (2003) eine Hypofrontalität schizophrener Patienten nach, sofern die Leistung schwach ausfiel. Hohe Leistungen waren jedoch von einer Hyperfrontalität begleitet. Die zugrunde liegende Modellvorstellung ist eine »verschobene umgekehrte U-Funktion« der Schizophrenie. Bei gesunden Probanden finden sich für Arbeitsgedächtnisleistungen im fMRT Aktivierungen des dorsolateralen präfrontalen Kortex in Form einer »umgekehrten U-Funktion«, d. h. dass mit ansteigendem Schweregrad zunächst ein Ansteigen der Aktivierung bis zur Kapazitätsgrenze beobachtet wird, bei weiterer kognitiver Überbelastung fällt sowohl die Aktivierung wie auch das Leistungsniveau wieder ab (Callicott et al. 1999). Diese Aktivierungskurve scheint demnach bei der Schizophrenie nach unten verschoben, d. h. die Kurve steigt früher an, fällt aber auch früher wieder ab. Bei funktionellen Untersuchungen ist es zudem unumgänglich, verschiedene psychopharmakologische Interventionen zu berücksichtigen, da neuroleptische Medikation das fMRT-Signal entscheidend beeinflusst (für eine Übersicht: Braus et al. 2005). Depressive Erkrankungen. Die hohe Prävalenz depressiver Erkrankungen hat entsprechend rege Forschungstätigkeit – auch mit Hilfe funktioneller Bildgebung – zur Folge, wobei von besonderem Interesse funktionelle Veränderungen des limbischen Systems (v. a. Amygdala und Hippokampus) sind. Dazu werden meist Paradigmen zur Emotionsinduktion oder -erkennung verwendet. Dabei zeigen sich signifikant erhöhte Aktivierungen der Amygdala bei schizophrenen Patienten bei der Verarbeitung negativer Stimuli (Anand et al. 2005), wobei auch hier der Einfluss der antidepressiven Medikation von Bedeutung ist (Fu et al. 2004). Ein positiver Therapieverlauf scheint zudem mit einem Rückgang der erhöhten Aktivierung der Amygdala assoziiert zu sein (Sheline et al. 2001). Auch im Bereich der bipolaren Störungen finden sich signifikante Abweichungen der zerebralen Aktivierung. So fanden Blumberg et al. (2003) bei bipolaren Patienten bedeutsame Veränderungen der Aktivität im ventralen präfrontalen Kortex.
Fazit Für nahezu alle psychischen Erkrankungen lassen sich neben Schizophrenie und Depression Befunde für von Gesunden abweichende kortikale Aktivierungen finden (z. B.: Übersicht zu affektiven und Angsterkrankungen – Deckersbach et al. 2006; demenzielle Erkrankungen – Prvulovic et al. 2005), wobei allgemein die Frage nach Ursache oder physiologischem Korrelat der bestehenden psychischen Störungen oder der medikamentösen Behandlung schwer beantwortet werden kann.
Jedoch sind die Anwendungsgebiete dieser neuartigen Methode sehr viel breiter und nicht auf psychiatrische Forschung beschränkt. Bisher sind auf verschiedensten Gebieten der modernen Hirnforschung weitreichende Ergebnisse erzielt worden. So konnte gezeigt werden, dass bei blinden Patienten die Gehirnanteile, die normalerweise die Eindrücke des Sehens verarbeiten, nun dazu genutzt werden, intensiv Tastbewegungen zu analysieren. Des Weiteren weisen Kinder mit Lese- und Schreibstörung (Dyslexie) abnormale Aktivitätsmuster beim Lesen bestimmter Aufgaben auf. Diese wenigen Beispiele geben einen Eindruck davon, welche Möglichkeiten nunmehr durch die fMRT zur Darstellung veränderter Durchblutungsmuster bei Gehirnkrankheiten gegeben sind. Schließlich hat die funktionelle MRT in der Medizin bereits klinisch relevante Einsatzgebiete, z. B. im Rahmen der Operationsplanung bei Hirntumoren. Ziel hierbei ist es, funktionell relevante Hirnareale bei der Operation möglichst zu schonen.
25.2.4
Magnetresonanzspektroskopie (MRS)
Mit Hilfe der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) können biochemische Vorgänge im lebenden Gewebe erfasst werden. Wie die strukturelle Magnetresonanztomografie (MRT) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) basiert die MRS auf dem Phänomen der nukleären magnetischen Resonanz. Die MRS benötigt keine Röntgenstrahlung oder die Applikation radioaktiver Materialien und kann mit relativ wenig Zusatzausstattung (bei einem vorhandenen MR-Tomografen) durchgeführt werden. Im Wesentlichen können relative Konzentrationen von Metaboliten, die Atome mit einem magnetischen Moment enthalten, bestimmt werden, wobei vor allem die 1H(Protonen)-MRS und die 31P(Phosphor)-MRS Bedeutung erlangt haben. Die Messung relativer Konzentrationen von Verbindungen, die Kohlenstoff (13C), Stickstoff (14N), Lithium (7Li) oder Fluor (19F) enthalten, spielt hingegen eine untergeordnete Rolle. Die Atome mit einem magnetischen Moment richten sich bei Anlage eines starken äußeren Magnetfeldes in Richtung dieses Magnetfeldes aus. Genauer formuliert: Das magnetische Kernmoment präzessiert um die durch das äußere Magnetfeld vorgegebene Vorzugsrichtung. Die Präzessionsbewegung erfolgt mit einer bestimmten Frequenz, der Larmorfrequenz. Wird nun senkrecht zu dieser Präzessionsrichtung elektromagnetische Energie in Form eines Hochfrequenz (HF)-Impulses mit der Larmorfrequenz eingestrahlt, wechseln die Atome ihre Ausrichtung zum Magnetfeld, bei Unterbrechung dieses HFImpulses kehren die Atome mit ihrer Ausrichtung wieder in den zuvor bestandenen Zustand zurück; hierbei senden
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560
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 25.6. Darstellung des 31P-MR-Spektrums aus einem 3×3×2 cm3 »Volume of interest« im Frontallappen. Gut zur Darstellung gelangt der Phosphomonoester (PME)- und der Phosphodiester (PDE)-Peak sowie die Peaks von Phosphokreatin (PCr), anorganischem Phosphat (Pi) sowie der unterschiedlichen Adenosintriphosphat-(ATP-)Banden
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sie selbst elektromagnetische Wellen aus, die mit Detektoren erfasst werden können. Die genannten Atome, die ein magnetisches Moment besitzen, sind im Gehirn nur zu einem geringen Teil frei beweglich vorhanden, sondern vielmehr in unterschiedliche molekulare Strukturen eingebunden. Die unterschiedlichen Abschirmungsverhältnisse dieser molekularen Strukturen, hervorgerufen durch unterschiedliche Elektronenhüllen, führen zu einer geringen Änderung der ausgesandten elektromagnetischen Wellen, dem sogenannten »chemical shift«; dieser »chemical shift« erlaubt die Charakterisierung der molekularen Verbindungen, in denen die jeweiligen Atome eingebaut sind.
Einsatz von 1H- und 31P-MRS in der Psychiatrie Im Wesentlichen wird heute in der Psychiatrie die 1H- und 31P-MRS verwandt. Bei der 1H-MRS können folgende Moleküle erfasst werden: N-Azetyl-Aspartat (NAA); NAA ist ausschließlich im ZNS nachweisbar und wird als neuronaler Marker aufgefasst. Kreatin (Cr) und Phosphorkreatin (PCr) als gemeinsamer Peak; diese Verbindungen sind v. a. für den Energiehaushalt der Zelle wichtig (siehe 31P-MRS). Cholin (Ch); basaler Bestandteil der Phospholipistruktur von Zellmembranen. Weitere, in geringerer Konzentration vorkommende Moleküle im 1H-MR-Spektrum sind Laktat, Lipide, Glutamin, Glutamat und Inositol. Die 31P-MRS besitzt den Vorteil, dass sie alle im Körper vorkommenden 31P-enthaltende Metabolite vollständig erfasst, allerdings besitzt die 31P-MRS nur 5% der Sensitivität der 1H-MRS. Daher müssen auch relativ große Volumina (ca. 15–36 cm3) untersucht werden. Zwei große, voneinander unabhängige 31P-haltige Molekülgruppen können voneinander unterschieden werden:
die Phospholipide und die energiereichen Phosphate sowie anorganisches Phosphat. (⊡ Abb. 25.6 eines typischen 31P-MR-Spektrums.) Die Phospholipide bestehen aus Phosphomonoestern (PME) und -diestern (PDE). Hauptbestandteile der PME sind Phophocholin (PC), Phosphoethanolamin (PE) und L-Phosphoserin (PS). Die PDE stellen die Summe aus Glyzerol-3-Phosphocholin (GPC), Glyzerol-3-Phosphoethanolamin (GPE) sowie mobilen Phospholipiden dar. PME werden als Membranaufbaubestandteile angesehen, PDE als Abbauprodukte des Membranstoffwechsels. Mit der 31P-MRS können folgende Metabolite des intrazellulären Energiestoffwechsel gemessen werden: Adenosintriphosphat (ATP), Phosphokreatin (PCr) sowie anorganisches Phosphat (Pi). PCr, ATP und Pi sind Marker des sich in einem Gleichgewicht befindlichen intrazelluären Energiemetabolismus (⊡ Abb. 25.7). Neben der Bestimmung relativer Molekülkonzentrationen in bestimmten Gehirnvolumina (sog. »volume of interests«) können mit dem »spectroscopic imaging« gleichzeitig in mehreren Hirnarealen die relative Konzentrationen von Molekülen, die ein detektierbares Atom enthalten, gemessen und so die räumliche Konzentrationsverteilung in einer Hirnschicht dargestellt werden. Diese Methode ist allerdings mit einem erheblichen Sensitivitätsverlust verbunden. ADP + Pi*
ATP*
PCr* + ADP
⊡ Abb. 25.7. Darstellung des intrazellulären Energiestoffwechsels. Mit Sternchen (*) sind die Verbindungen markiert, die mit Hilfe der 31P-MRS gemessen werden können
561 25.2 · Einzelne Verfahren
25.2.5
Positronenemissionstomografie (PET)
Bestimmte radioaktive Elemente senden Protonen aus und heißen daher Protonenstrahler. Geeignete Protonenstrahler werden dem Probanden appliziert, sie emittieren Protonen, die nach kurzer Laufstrecke auf ein Elektron treffen; hierbei werden das Proton und das Elektron im Rahmen einer sog. Materie-Antimaterie-Reaktion in 2 Gammaquanten umgewandelt. Diese beiden Gammaquanten bewegen sich diametral auseinander. Sie können dann von sich gegenüberliegenden Detektoren gemessen werden. Da sich beide Gammaquanten mit derselben Geschwindigkeit bewegen und diametral auf einer Gerade gelegen auseinanderstreben, kann aus der zeitlichen Information (wann trifft Gammaquant 1 auf den Detektor 1 in Relation zu Gammaquant 2 auf Detektor 2, ⊡ Abb. 25.8) und der räumlichen Zuordnung (auf einer Gerade zwischen den beiden Detektoren) eine genaue räumliche Zuordnung der Materie-Antimaterie-Reaktion erfolgen. Die Detektoren sind heute meist zu Blöcken zusammengefasst und kreisförmig um das zu messende Areal angeordnet, so dass mithilfe mathematischer Rekonstruktionsverfahren ein Schnittbild der Aktivitätsverteilung erstellt werden kann.
Aussagemöglichkeiten der PET Mit der PET können je nach verwendetem Positronenstrahler Aussagen über die Perfusion, den Rezeptorstatus oder die Stoffwechselsituation getroffen werden. Perfusionstracer. Als Perfusionstracer wird in der Regel 15O-markiertes
Wasser (15O-H2O) verwendet, das im Vergleich zu stabilem Wasser in vivo keine Unterschiede aufweist. Dieses Radionukleid wird üblicherweise zur Be-
⊡ Abb. 25.8. Darstellung der Entstehung zweier Gammaquanten (→), die sich diametral entgegengesetzt auseinanderbewegen und durch die Detektoren D1 und D2 gemessen werden können. (Mod. nach Geworski u. Münz 2000)
stimmung des regional Cerebral Blood Flows (rCBF) eingesetzt. Rezeptorliganden. Im Bereich der Rezeptorliganden
stehen Rezeptorantagonisten zur Charakterisierung des dopaminergen Systems (11C-Methylspiron sowie 11CRacloprid als D2-Antagonisten sowie 11C-Sch 23390 als D1-Antagonist) und des Benzodiazepinsystems (11C-Flumazenil) zur Verfügung. Stoffwechseltracer. Als Stoffwechseltracer wird radio-
aktiv markierter Sauerstoff (15O-O2), mit dem nach Inhalation der zerebrale O2-Metabolismus (einschließlich zerebrale O2-Extraktion und zerebraler O2-Verbrauch) gemessen werden kann, verwendet. 18F-markierte Fluordesoxyglukose (FDG), ein Glukoseanalogon, das nicht weiter metabolisiert wird und zunächst intrazellulär verbleibt, erlaubt die Darstellung des zerebralen Glukosestoffwechsels. Die FDG-PET ist die am häufigsten durchgeführe PET-Untersuchung überhaupt und hat als einzige PET-Methode breitere Anwendung gefunden. Ein Normalbefund ist in ⊡ Abb. 25.9 dargestellt.
Probleme der PET-Untersuchung Ein großes Problem der Durchführbarkeit von PET-Untersuchungen stellt die kurze Halbwertszeit der Positronenstrahler 18F (109 min), 11C (20 min), 13N (10 min) und 15O (2 min) dar, was zu mindestens für die 3 zuletzt genannten Strahler eine unmittelbare Nachbarschaft der Untersuchungseinrichtung (PET-Gerät) und des Produktionsortes (Zyklotron einschließlich entsprechender Radiochemie-Abteilung) notwendig macht. Ein PET-Gerät wird mit Kosten in Höhe von 2 bis 2,5 Mio. € veranschlagt, eine Zyklotron-/RadiochemieEinheit kostet je nach Ausstattung zwischen 2 und
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
a
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b
563 25.2 · Einzelne Verfahren
c
Abb. 25.9. Normalbefund eines FDG-PET (PET nach i. v.-applizierter 18F-markierter Fluordesoxyglukose zur Darstellung der zentralen Glukoseverbrauchs), a Darstellung der sagittalen Schichten, b der transversalen Schichten, c der koronaren Schichten. Gleichmäßige
Anreicherung des Tracers ohne Aussparungen und/oder Seitendifferenzen v. a. in den Kortexgebieten. (Bilder von Frau Dr. R. Klingele, Leopoldina-Krankenhaus Schweinfurt, zur Verfügung gestellt)
10 Mio €. Bisher bezahlen die Krankenkassen im Rahmen einer Einzelfallregelung nur die FDG-PET. Die effektive Strahlenbelastung ist bei PET-Untersuchungen je nach verwendetem Positronenstrahler stark unterschiedlich, bei 15O-H2O beträgt die effektive Dosis 1,2 μSv/MBq, bei 18F-FDG 21–27 μSv/MBq.
Blutfluss sowie den Stoffwechsel definierter Hirnregionen machen kann. Bei der SPECT werden Substrate, die am Stoffwechselgeschehen des ZNS beteiligt sind, mit radioaktiven Isotopen markiert. Dadurch entstehen sog. Radioliganden, die intravenös appliziert über den Blutstrom und durch aktiven Transport oder Diffusion in spezifische Hirnregionen gelangen. Die Messung der von dem Radioisotop emittierten Gammastrahlung sowie die mathematische Berechnung der Lokalisation des Isotops zum Zeitpunkt der Emission liefert eine Aussage über Ort und Umsatz der Substrate. Für die Funktionsabläufe im ZNS spielt die Interaktion zwischen Neurotransmittern und Rezeptoren eine entscheidene Rolle. Mit der Entwicklung selektiver Radioliganden wurde in den vergangenen Dekaden die Grundlage für die in-vivo Abbildung von Rezeptorsystemen im ZNS geschaffen. Heute sind mit den Dopamin-, Benzodiazepin-, Opiat- und Serotoninrezeptoren die wichtigsten Rezeptorsysteme auch der SPECT zugänglich. Das dopaminerge System spielt in der Psychiatrie eine besondere Rolle, da eine Vielzahl von psychiatrischen Krankheitsbildern mit Funktionsstörungen des dopaminergen Systems
25.2.6
Single-Photon-EmissionsComputertomografie (SPECT)
Die Besonderheit nuklearmedizinischer diagnostischer Verfahren besteht in der Möglichkeit, im intakten menschlichen Organismus ablaufende Stoffwechselvorgänge dreidimensional sicht- und messbar zu machen. Dies ermöglicht die SPECT durch die Quantifizierung von Neurotransmittersystemen auf der synaptischen Ebene. Zudem lassen sich die Veränderungen durch die Verwendung psychotroper Substanzen und Psychopharmaka in vivo evaluieren. Die SPECT ist im Vergleich zur PET ein kostengünstiges und weitverbreitetes Verfahren, welches eine qualitative und semiquantitative Aussage über den
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
einhergehen. Darüber hinaus stellt das dopaminerge System einen zentralen Angriffspunkt zahlreicher zentralwirksamer Medikamente dar.
Praktische Durchführung
25
Bei der praktischen Durchführung wird das zuvor durch eine chemische Reaktion an das Substrat gekoppelte radioaktive Isotop (Radioligand) intravenös appliziert. In der Patientenvorbereitung sollte bei Verabreichung von 123Jod-markierten Radiopharmazeutika der Applikation eine suffiziente Schilddrüsenblockade vorausgehen, um die Aufnahme freien Jodids in die Schilddrüse weitmöglichst zu unterbinden. Bei der Untersuchung liegt der Patient auf einer Liege, und eine Gammakamera rotiert um die zu untersuchende Region (⊡ Abb. 25.10). Für die Datenakquisition werden bevorzugt hochauflösende SPECTSysteme der neuen Generation eingesetzt (Mehrkopfsysteme, Ringdetektoren), um den heutigen Erfordernissen an Bildqualität, räumlicher Auflösung sowie Überlagerung funktioneller SPECT- mit morphologischen MRDatensätzen Rechnung zu tragen. Die Untersuchung dauert in der Regel 1–2 h. Es entsteht je nach verwendetem Radioisotop eine Strahlenbelastung, die im Bereich konventioneller Untersuchungen mit der Computertomographie, z. B. des Bauchraumes, liegt. Schwangere Patienten sollten daher in der SPECT nicht untersucht werden.
Bedeutung der SPECT für die Psychiatrie Die SPECT hat in der Psychiatrie sowohl klinisch-diagnostische als auch wissenschaftliche Bedeutung. Die klinische Bedeutung liegt in erster Linie in der Beurteilung der regionalen Hirndurchblutung. So können bei der Diagnostik zerebraler Perfusionsstörungen wertvolle Informationen gewonnen werden. Der Stellenwert bei psychischen Erkrankungen wird bei den jeweiligen Krank⊡ Abb. 25.11. IBZM-Bindung der striatären postsynaptischen D2/D3-Rezeptoren unter verschiedenen Dosierungen des atypischen Neuroleptikums Olanzapin (von links nach rechts: 5, 10 und 30 mg)
⊡ Abb. 25.10. Darstellung eines Singlephotonenemissionstomografen mit einer rotierenden Dreikopfkamera
heitsbildern erörtert. Zudem findet sie ihre klinische Anwendung zunehmend in der Therapiekontrolle (»drug monitoring«) der psychopharmakologischen Behandlung schizophrener Erkrankungen. Ausgangspunkt sind die Untersuchungen der striatären Dopamin-D2-Rezeptorbindungen einzelner neuroleptischer Substanzen im Vergleich (⊡ Abb. 25.11). Die klassischen Neuroleptika wirken sehr stark auf die stria-
565 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
tären D2-Rezeptoren und es hat sich gezeigt, dass erst eine D2-Besetzung zwischen 70–75% das Auftreten von extrapyramidal-motorischen Symptomen (EPS) deutlich steigert. In naher Zukunft lassen sich typische Neuroleptikaeinstellungen unter Zuhilfenahme der SPECT mit Dopaminrezeptor-Schwellenwertbestimmung für EPMS durchführen. Die SPECT kann möglicherweise im klinischen Alltag eine Monitoringmöglichkeit der D2-Besetzung darstellen, um EPMS gering zu halten. Auch geben Dosisfindungsstudien mit der SPECT erste Hinweise im Hinblick auf klinische Response der Patienten. Es hat sich gezeigt, dass klassische Neuroleptika erst ab einer Besetzung um die 60-70% eine neuroleptische Response entwickeln. Zukünftig könnte es daher möglich sein, die SPECT als Monitorverfahren bei sog. »therapieresistenten« Patienten anzuwenden, da im Einzelfall möglicherweise lediglich das »therapeutische« Fenster – trotz höherer neuroleptischer Dosen und im Blut nachweisbarer Spiegel – nicht erreicht ist.
25.3
Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
25.3.1
Hirnleistungsstörungen und Demenz
Mit dem Begriff »Demenz« wird ein Abbau intellektueller Fähigkeiten in Folge erworbener Erkrankungen oder Läsionen des Gehirns bezeichnet. Eine Vielzahl degenerativer, neurologischer, psychischer und internistischer Erkrankungen kann mit demenzieller Symptomatik einhergehen. Die cCT oder MRT sind im Rahmen der Basisdiagnostik die wichtigsten bildgebenden Verfahren zum Ausschluss reversibler Demenzursachen. Der Ausschluss reversibler Erkrankungen, die mit demenziellen Symptomen einhergehen können (z. B. medikamenteninduziert, Schilddrüsenerkrankungen, affektive Störungen, subdurales Hämatom, Folsäuremangel), sind Voraussetzung für die weitere diagnostische Einordnung einer bestehenden primären neurodegenerativen Erkrankung oder zerebrovaskulären Störung. In diesem Kapitel fokussiert sich die Darstellung des Einsatzes bildgebender Verfahren und seiner Hauptbefunde auf die wesentlichen Erkrankungen, die mit demenziellen Symptomen einhergehen (s. nachfolgende Übersicht).
Primär neurodegenerative ZNS-Erkrankungen Morbus Alzheimer Heute wird zwischen einer Alzheimer-Demenz mit frühem (Patienten < 65 Jahre) und spätem Beginn (Patienten < 65 Jahre; World Health Organisation 1993) unterschieden ( Kap. 44). Die Erkrankung stellt die häufigste Form der präsenilen Demenz dar.
Erkrankungen, die mit demenziellen Symptomen einhergehen Primäre neurodegenerative ZNS-Erkrankungen Morbus Alzheimer Morbus Pick Morbus Parkinson Chorea Huntington Morbus Wilson Hallervorden-Spatz-Erkrankung Zerebrovaskuläre Störungen Bilaterale Grenzzoneninfarkte Multiple Grenzzoneninfarkte Multiple lakunäre Infarzierungen Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (Morbus Binswanger)
Neuropathologisch imponiert eine diffuse zerebrale Atrophie mit verbreiterter Gyrierung und weiten inneren und äußeren Liquorräumen. Sowohl cCT als auch die MRT weisen bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung den Befund der ausgeprägten, generalisierten kortikalen Atrophie auf. Die zerebrale Atrophie ist in den anterioren und medialen Abschnitten des Temporallappens unter Einbeziehung der hippokampalen Formation häufig akzentuiert. Die Temporalhörner der Seitenventrikel sind deutlich geweitet. Zusätzlich zeigt sich eine deutliche Aufweitung der Zisternen, besonders der suprasellären Sylvi-Furchen sowie der lateralen Ventrikel einschließlich der Hinterhörner (⊡ Abb. 25.12). In letzter Zeit gewinnen halb- oder vollautomatische Volumenbestimmungen der Hippokampusregion immer mehr an Bedeutung. Diese Methoden könnten in Zukunft (neben anderen, z. B. Liquorparametern) zur Diagnostik einer Alzheimer-Demenz routinemäßig Anwendung finden. Ausgeprägte White-matter-Läsionen (Marklagerläsionen) sind für Alzheimer-Erkrankungen eher untypisch, jedoch finden sich in der MRT auch Signalveränderungen im Marklagerbereich in der T2-betonten MRT-Aufnahme. Bei einer Alzheimer-Variante, der Lewy-Body-Demenz, zeigt sich in der cCT oder MRT eine betonte bifrontale Atrophie. Die SPECT oder PET geben als weitere Bildgebungsverfahren wichtige Zusatzinformationen bei der Diagnose einer Alzheimer-Erkrankung. Beide Verfahren zeigen bei Untersuchungen der Perfusion und des Energiestoffwechsels klassischerweise symmetrische Minderaktivierungen in den Temporallappen, hier besonders in den Hippokampusformationen. Mit Hilfe dieser nuklearmedizinischen Methoden kann die Differenzialdiagnose zur Pseudodemenz, die häufig bei Altersdepressionen auftritt, durchgeführt werden, da hier keine Minderaktivierungen auftreten.
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 25.12. Transversales Nativ-CT bei wahrscheinlicher Demenz vom Alzheimer-Typ. Ausgeprägte Erweiterung der Temporalhörner der Seitenventrikel mit bilateral-symmetrischer Ausprägung. Der mediobasale Temporallappen zeigt eine starke Atrophie. Im Gegensatz zu den Temporalhörnern zeigen die übrigen Seitenventrikel eine nicht so ausgeprägte Erweiterung. Auch die äußeren Liquorräume, z. B. im Bereich der Sylvi-Furche, sind beidseits nur mäßig weit
Morbus Pick Es handelt sich um eine seltene kortikale Demenz, die häufig präsenil einsetzt. Im Gegensatz zum Morbus Alzheimer weist sie eine fokussierte, umschriebene zerebrale Atrophie auf. Sowohl die cCT als auch die MRT zeigen die fronto-temporale Lokalisierung und die dort bestehende Atrophie imponiert häufig stark asymmetrisch, mit überwiegendem Schwerpunkt in der linken Hemisphäre. Parietale und okzipitale Lobi sind von der Atrophie meist ausgespart. Die SPECT oder PET weisen sowohl bei Perfusionsmessungen als auch bei Untersuchungen des zerebralen Energiestoffwechsels (PET) eine charakteristische Minderversorgung der frontalen ZNS-Regionen auf. Diese Verfahren sind also zu den strukturellen Untersuchungen der cCT und MRT eine ideale Ergänzung in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung von M. Pick und der Alzheimer-Erkrankung.
Strukturen im T2-Bild ist bei Morbus Parkinson abgeschwächt, da sich vermehrt Eisen und Ferritin in der Pars compacta ablagern. Beide Strukturen sind so nicht mehr gut voneinander abgrenzbar (⊡ Abb. 25.13). Mit der PET kann eine Degeneration der Substantia nigra über die verminderte striatale Akkumulation des Dopa-Analogons 18F-Dopa sehr sensitiv diagnostiziert werden. Parkinson-Syndrome. Sie sind vom Morbus Parkinson
dahingehend abzugrenzen, als sie sich zwar in der klinischen Phänomenologie ähneln, jedoch liegt diesen Parkinson-Syndromen zusätzlich eine Multisystematrophie zugrunde. Sie werden diagnostisch häufig als Parkinson-
Morbus Parkinson, Parkinson-Syndrome Morbus Parkinson. Diese häufige Erkrankung geht be-
kanntermaßen mit dem Verlust von Neuronen der Substantia nigra einher. Dies betrifft vor allem die Pars compacta der Substantia nigra sowie den Locus ceruleus und den dorsalen vagalen Nukleus. Es handelt sich um eine extrapyramidal-motorische Störung, die dem subkortikalen Demenztyp zugeordet wird. Mit der cCT oder MRT lässt sich nicht zwingend eine generelle Atrophie des ZNS darstellen, wiewohl gerade bei jüngeren Patienten eine kortikale Atrophie mitunter dokumentiert werden kann. Zur Darstellung der subkortikalen Veränderungen ist die hochauflösende MRT das diagnostische Mittel der Wahl. Es lassen sich mit der MRT die feinen Strukturen der Pars compacta und reticulata der Substantia nigra gut voneinander abgrenzen. Die aufgrund des höheren Eisengehaltes in der Pars reticulata normalerweise deutlich unterschiedliche Signaldifferenz zwischen diesen beiden
⊡ Abb. 25.13. T2-gewichtige axiale MRT-Aufnahme bei einem Patienten mit striatonigrataler Degeneration als Subtyp einer Multisystematrophie. In beiden Putamina lassen sich sowohl hypodense als auch randständige hyperintense Signalveränderungen nachweisen
567 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
plus-Syndrome gefasst und schließen Syndrome wie die striatonigratale Degeneration, das Shy-Drager-Syndrom, die pontozerebelläre Degeneration und die progressive supranukleäre Paralyse ein. Das klinische Trennkriterium ist die positive versus fehlende Ansprechbarkeit hinsichtlich dopaminerger Pharmaka. Die strukturelle MRT zeigt in der Regel bei allen Unterformen eine generalisierte Hirnatrophie mit erweiterten supratentoriellen Sulci und infratentoriellen Zisternen. Ein spezifischer Befund der Parkinson-Syndrome ist zumeist die Atrophie des Putamen sowie dort lokalisierte Hypointensitäten im T2-Bild der MRT.
Chorea Huntington Diese autosomal-dominant vererbte Erkrankung der Basalganglien wird ebenfalls unter die subkortikalen Demenzformen subsummiert. Neuropathologisch zeigt sich eine massive Basalganglienatrophie, mit Volumenreduktionen im Striatum und Kaudatus aufgrund neuronaler Degeneration. Die cCT und, mit höherer Sensitivität, die MRT zeigen eine fronto-parietal betonte kortikale Atrophie sowie eine subkortikale Atrophie mit fokaler Erweiterung der Vorderhörner der Seitenventrikel. Vermehrte Eisenablagerungen in Putamen und Caudatus führen zu charakteristischen Signalabschwächungen bzw. Hypointensitäten in der T2-gewichteten MRT-Aufnahme. Entsprechend der deutlichen striatären Atrophie lässt sich mit der SPECT diagnostisch ein pathologischer postsynaptischer D2-Rezeptorstatus mit verminderter IBZMBindung (123J-Jodobenzamid; spezifischer und selektiver D2-Regzeptor-Agonist) in den Basalganglien nachweisen.
Morbus Wilson Diese familäre hepatolentikuläre Degeneration ist eine autosomal rezessive Erbkrankheit mit subkortikaler Demenz. Es liegt eine Störung des Kupfermetabolismus vor, bei der Coeruloplasmin, das Serumtransportprotein für das Kupfer, nicht hergestellt werden kann. Die cCT und MRT Diagnostik weist im ZNS keine oder nur eine geringe Hirnatrophie auf. Die MRT ist zur genaueren Diagnostik aufgrund der besseren Bildinformationen das überlegene diagnostische Verfahren. Es zeigen sich meist bilaterale Hyper- sowie Hypointensitäten in den T2-gewichteten Spinechoaufnahmen im Striatum, dem Nucleus lentiformis sowie gelegentlich im Thalamus (⊡ Abb. 25.14). Mit der SPECT lässt sich typischerweise eine deutliche Verminderung der striatären postsynaptischen D2-/D3Rezeptorstatus im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden nachweisen. Diese Veränderung kann den strukturellen MRT-Befunden sogar vorausgehen, somit stellt die Dopaminrezeptordarstellung mit der SPECT eine wichtige diagnostische Methode bei dieser Erkrankung dar.
⊡ Abb. 25.14. Axiale MRT-Aufnahme in T2-Gewichtung bei einem Patienten mit M. Wilson. Gut erkennbar sind die bilateralen, symmetrisch vorhandenen pathologischen Veränderungen im Nucleus caudatus, Putamen und Thalamus. Während im Putamen überwiegend hyperintense pathologische Signale erkennbar sind, sind die Signalveränderungen im Nucleus caudatus und Thalamus hypointens
Hallervorden-Spatz-Erkrankung (HSD) Die Hallervorden-Spatz-Erkrankung unterliegt einem autosomal-rezessiven Erbgang oder tritt sporadisch auf. Die Ätiologie ist ungeklärt, die Erkrankung stellt eine seltene Differenzialdiagnose der präsenilen Demenz dar. In der diagnostischen Beurteilung kommt der MRT eine wesentliche Bedeutung zu. Diese zeigt typische Signalauslöschungen in der T2-gewichteten Sequenz im Globus pallidus, dem Nucleus ruber und dem retikulären Anteil der Substantia nigra. Die Signalauslöschungen beruhen am ehesten auf Suszeptibilitätseffekten durch Eisenablagerung sowie Ablagerungen von Lipofuszin und Neuromelanin. Das sog. »Eye-of-the-tiger«-Zeichen, eine bilaterale Signalhyperintensität im rostralen Anteil des Globus pallidus, ist spezifisch für die HSD, jedoch keineswegs immer vorhanden.
Zerebrovaskuläre Störungen Eine demenzielle Entwicklung im Rahmen zerebrovaskulärer Erkrankungen spiegelt nicht, wie ürsprünglich vermutet, eine Verringerung der Blutversorgung im Sinne der chronischen Minderdurchblutung des ZNS wider, sondern zeichnet sich durch bilaterale Grenzzonenischämien und Territorialinfarkte, multiple lakunäre Infarzierungen oder eine diffuse Demyelinisierung des periventrikulären Marklagers (Morbus Binswanger) aus (Ackermann et al. 1998).
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568
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Bilaterale Grenzzonenischämien und multiple Territorialinfarkte
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Sowohl mit der cCT als auch mit der MRT wird zwischen territorialen Infarkten, Endstrominfarkten und Grenzzoneninfarkten differenziert. Die Grenzzoneninfarkte erreignen sich zwischen 2 oder 3 Gefäßterritorien. Beispielsweise liegt das Infarktareal fronto-parasagittal zwischen dem Versorgungsgebiet von A. cerebri anterior und A. cerebri media oder temporo-parietal zwischen A. cerebri media und A. cerebri posterior. Die Territorialinfarkte sind anatomisch je nach den versorgenden Gefäßterritorien lokalisiert und treten dann auf, wenn ein Gebiet nicht durch Kollateralgefäße versorgt wird. Im Falle dieser Grenzzonen- und Territorialinfarkte kommt es klinisch neben eindeutigen neurologischen Ausfällen zu akuten und subakuten kognitiven Einbußen. Die Bildgebung hat als erste Aufgabe bei Auftreten einer Ischämie eine Blutung oder andere nichtvaskuläre Faktoren wie einen Hirntumor auszuschließen. Ein zweiter relevanter Aspekt ist die frühzeitige Dokumentation der Art und des Ausmaßes des Infarktes, um lebenswichtige therapeutische Maßnahmen umgehend einzuleiten. Schließlich ist die Dokumentation des Ausmaßes des Infarktareales zur Beurteilung des Umfanges der Schädigung von Bedeutung. Ein ischämisches Areal charakterisiert sich durch fehlende Vaskularisierung, ödematöse Schwellung und nekrotisches Gewebe. Computertomografie. Mit der cCT lässt sich 3–4 h nach
dem Infarkt dieser durch den erfahrenen Untersucher anhand folgender Zeichen diagnostizieren: Konturunschärfe im betroffenen Areal mit Verstreichen der Marklager-Rinden-Grenze, verstrichenes Furchenrelief, hyperdense Darstellung der zuführenden Gefäße, besonders der A. cerebri media im ZNS. In der akuten Phase bestehen im infarzierten Gebiet möglicherweise nur schwach hypodens imponierende Absorptionswerte in der cCT (⊡ Abb. 25.15). Auch bleibt ein kleiner Teil der Infarkte über den gesamten Krankheitsverlauf isodens. Zwischen der 2.–5. Woche kommt es in der Regel zur scharfen Randbegrenzung des Infarktareals, die ödematöse Schwellung nimmt ab und zunächst hypodense Infarkte können isodens werden und nur noch nach Kontrastmittelapplikation bis zu 8 Wochen nach Infarzierung nachweisbar sein. Magnetresonanztomografie. Zur präziseren Diagnostik
ist die MRT der cCT dahingehend überlegen, dass sie einen Infarkt bereits 2 h nach Infarzierung detektieren kann, kleinere petechiale Einblutungen im Infarktareal besser erfasst und
⊡ Abb. 25.15. Nachweis einer hypodensen Zone im cCT am Hinterrand des Putamen rechtsseitig. Diese Veränderung entspricht einem frischen Infarkt
sowohl im Bereich der hinteren Schädelgrube als auch infratentoriell eine bessere Auflösung bietet. Im akuten Stadium zeigt die MRT fleckige Hyperintensitäten im T2-Bild, in der T1-gewichteten Sequenz sind keine oder nur geringe Hypointensitäten im Infarktareal sichtbar. Nach einigen Stunden ist der Austritt des vasogenen Ödems mit seinem raumfordernden Charakter sichtbar. Es zeigt sich in der T2-Sequenz nunmehr eine kräftige und homogene Signalanhebung, im T1-Bild eine Signalhypointensität mit unscharfer Begrenzung.
Multiple lakunäre Infarzierungen Die multiplen lakunären Infarkte liegen umschrieben subkortikal im Versorgungsgebiet langer Marklagerarterien. Diese Infarkte befinden sich bevorzugt in den Stammganglien, im Marklager und im ventralen Hirnstamm und sind meist Folge von Mikroangiopathien. Die Mikroangioapthie ist ein Krankheitsbild, das mit einer Hyalinose kleiner Marklagergefäße einhergeht. Klinisch imponiert bei diesem »Status lacunaris« eher eine langsame, progrediente Ausbildung kognitiver Störungen. In der cCT sind die Lakunen mit einem Durchmesser von 2–10 mm gut abgrenzbar und hypodens sichtbar. In der MRT erscheinen diese Lakunen als herdförmige Veränderungen im T2-Bild hyperintens. Die Differenzierung zwischen lakunären Infarkten und Demyelinisierungen, wie sie im Vollbild bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie zu sehen sind, wird durch die T1-gewichtete Sequenz möglich. Hier sind lakunäre Infarkte scharf umrandet und hypointens.
569 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE, früher Morbus Binswanger) Neben den, auch bei diesem Krankheitsbild bestehenden lakunären Infarkten, steht eine spongiöse Demyelinisierung des Marklagers im Vordergrund. Das häufigste Symptom ist die langsam fortschreitende Demenz. Ein typischer Risikofaktor ist der arterielle Hypertonus. Bei der SAE ist das diagnostische Mittel der MRT führend. Es zeigen sich fleckförmige Signalanhebungen im T2-Bild. Die Konfluenz dieser Herde ist besonders im Bereich der Vorder- und Hinterhörner der Seitenventrikel zu sehen (⊡ Abb. 25.16). Das T1-Bild zeigt typischerweise keine oder lediglich leichte Veränderungen der T1-Relaxationszeit. Die cCT zeigt eine verminderte periventrikuläre Dichte. Zusätzlich können mit der SPECT und der PET Funktionsstoffwechselstörungen im Verlauf der SAE dokumentiert werden.
25.3.2
Schizophrene Erkrankungen
Strukturelle Bildgebung Eine anerkannte Metaanalyse zu den MRT-Studien an schizophrenen Patienten dokumentiert für den Zeitraum von 1988–1998 insgesamt 58 ZNS-Untersuchungen an 1588 schizophrenen Patienten (Wright et al. 2000). Bestätigt werden die Befunde einer leichten Reduktion des Gesamthirnvolumens um durchschnittlich 2% und die Erweiterung der Seitenventrikel um durchschnittlich 26% im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden. Neben diesen globalen Veränderungen zeigt sich für die Region des Hippokampus, des Parahippokampus und der Amyg-
⊡ Abb. 25.16. Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE). Das axiale MR mit Flair-Sequenz zeigt hyperintense Marklagerveränderungen mit Betonung der Hinterhörner der Seitenventrikel
dala eine bihemisphärale strukturelle Reduktion von 5– 7% im Vergleich zu gesunden Probanden. Zusätzlich ergibt sich für die Region des linken anterioren superioren temporalen Gyrus (STG) eine Reduktion um 7%.
Region-of-interest-Methodik (ROI-Methodik) Die genaue Betrachtung der Daten zeigt, dass viele MRTStudien, die einem manuell-interaktiven Analyseansatz folgen (ROI–Methoden) aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes nur wenige Einzelregionen im ZNS untersucht haben. So werden die Seitenventrikel in 30 Studien untersucht, während die Evaluation der grauen und weißen Substanz für das gesamte Gehirn nur in jeweils 6 und 5 Studien vorgenommen wurden (Wright et al. 2000). In den letzten Jahren wurden mit Hilfe der ROI-Methodik weitere Hirnareale untersucht, die möglicherweise in die Pathogenese der Schizophrenie involviert sein könnten. So verdichten sich Hinweise aus mehreren Studien, dass paralimbische Regionen wie der insuläre, orbitofrontale, temporo-polare und parazinguläre Kortex bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollen im Volumen signifikant vermindert sind (Makris et al. 2006; Pressler et al. 2005; Kasai et al. 2003; CrespoFacorro 2000; Yücel 2002).
Voxel-basierte Morphometrie (VBM) Durch die Entwicklung und Etablierung der VBM konnten in den letzten Jahren innerhalb einzelner Studien die Hirnstrukturen deutlich größerer Stichproben schizophrener und gesunder Patienten untersucht werden, da diese Methode auf automatisierten Verfahren beruht, die keiner Interaktion mit dem Untersucher bedürfen (Ashburner u. Friston 2000). Weitere Vorteile der VBM sind v. a. die bessere internationale Vergleichbarkeit der Ergebnisse durch Normierung der Einzeldatensätze auf ein Standardgehirn sowie die Möglichkeit zur Untersuchung des Gesamtgehirns ohne hypothesengesteuerte Auswahl bestimmter Regionen. Mit Hilfe der VBM konnten im Quer- und Längsschnitt frühere Ergebnisse der ROI-Studien bestätigt und weitere wichtige Befunde zu hirnmorphologischen Veränderungen bei schizophrenen Patienten in verschiedenen Stadien der Erkrankung gewonnen werden. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse (Honea 2005) mit insgesamt 390 schizophrenen Patienten und 364 gesunden Kontrollen konnte bei den Patienten ein komplexes Muster von strukturellen Veränderungen belegen. Dieses Muster beinhaltet hauptsächlich Strukturen des limbischen Systems (Hippokampus, Amygdala), Regionen in unmittelbarer Nachbarschaft des Sulcus lateralis (Insel, STG, Gyrus angularis, supramarginalis und frontalis inferior), die präfrontale und frontale Hirnkonvexität (Gyrus frontalis superior, Gyrus frontalis medius) sowie die präfrontalen und orbitofrontalen Areale im Interhemisphärenspalt und der Fossa cranii anterior. Darüber hin-
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570
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
aus wurde in dieser wichtigen Übersichtsarbeit auch über morphologische Veränderungen in subkortikalen Arealen (Thalamus, Nucleus caudatus) und dem Kleinhirn berichtet.
Fazit
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Zusammengefasst belegen diese Daten, dass den diversen klinischen Erscheinungsformen, die mit dem Begriff der »schizophrenen Erkrankung« verknüpft sind, komplexe neuroanatomische Veränderungen zugrunde liegen. Diese Veränderungen entstehen möglicherweise auf dem Boden einer strukturellen und funktionellen »Dyskonnektion« (Stephan 2006), die das Resultat einer neuronalen Entwicklungsstörung darstellt und im weiteren Verlauf der Erkrankung zu progredienten und defizienten neuroplastischen Veränderungen führt (Pantelis 2005).
Einfluss von Psychopharmaka Ein möglicher wichtiger Einflussfaktor für die Ergebnisse der beschriebenen strukturellen MRT-Befunde ist der Einfluss der Psychopharmaka auf verschiedene Hirnstrukturen. Mehrere Untersuchungen mit der In-vivoMRT haben kürzlich gezeigt, dass es nach 2-jähriger Gabe von Typika zu einer Größenzunahme der Basalganglien kommt (Harrison 1999). Umgekehrt zeigt sich eine Größenabnahme der Basalganglien unter 2-jähriger Gabe von Atypika (Corson et al. 1999). Der Mechanismus ist ungeklärt, sicher spielen Zusammenhänge zwischen dem Neurotransmitter Dopamin und dem Zellzyklus eine Rolle.
Kombinationsansatz Bei der Generierung neuer pathogenetischer Konzepte für die Schizophrenieforschung steht die Zusammenführung von unterschiedlichen potenziellen biologischen Markern, wie struktureller MRT, mit neurophysiologischen, genetischen, neuroimmunologischen, endokrinologischen sowie funktionell-bildgebenden Messparametern zunehmend im Mittelpunkt. Dieser Kombinationsansatz erscheint als erfolgsversprechender Weg – insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass die fehlenden und noch unbefriedigenden Befunde in den einzelnen Forschungsdomänen – neue Forschungs- und Hypothesenrichtungen durch die methodische Zusammenführung der Einzelbetrachtungen aufzeigen können.
Arbeitsmodell der multifaktoriellen Genese Das Wissen um die Neurobiologie der Schizophrenie wurde aus unterschiedlichen Quellen gewonnen. Postmortem- und In-vivo-Studien an Patienten erlaubten es, strukturelle Hirnveränderungen zu charakterisieren. Die
gute Behandelbarkeit von wichtigen Symptomen der schizophrenen Störung durch Dopaminantagonisten legitimierte die Entwicklung der zentralen Hypothese eines gestörten Dopaminstoffwechsels. Genetisch-epidemiologische Familienstudien charakterisieren ein überzufällig häufiges genetisches Loading der Erkrankung, die primär nicht monogen übertragen wird. Klinische Beobachtungen, neuropsychologische und bildgebende Forschung gestatteten die Charakterisierung spezifischer kognitiver Defizite (Meisenzahl u. Möller 2002). Diese vielfältigen Beobachtungen sind Grundlage für die heute verwendeten Modelle zur schizophrenen Netzwerkstörung (Andreasen 2000; Bayer et al. 1999). In der Wissenschaftsgemeinschaft ist ein Arbeitsmodell der multifaktoriellen Genese entstanden, welches versucht, die verschiedenen Faktoren miteinander in Verbindung zu setzen. Im Mittelpunkt steht eine strukturelle Störung des ZNS. In ⊡ Abb. 25.17 ist das Metakonzept zur Pathogenese dargestellt. Genetische Aspekte. Ausgangspunkt sind verschiedene, als pathogenetisch relevant erachtete Einflussvariablen für die Entstehung der Erkrankung. Betrachtet man das genetische Loading, lässt sich eine familiäre Belastung von 48% bei monozygoten, und nur 17% bei dizygoten Zwillingen nachweisen. Verschiedene Kopplungsstudien ergeben für die Schizophrenie mögliche Suszeptibilitätsloki, jedoch ließ sich bisher kein sicheres Kandidatengen festmachen (Bayer et al. 1999; Maier et al. 2003). Postuliert werden daher multiple Suszeptibilitätsgene als ein wichtiger Faktor in der ersten Stufe der Pathogenese. Nichtgenetische Faktoren. Weitere nichtgenetische Fak-
toren wie pränatale Infektionen (Wright et al. 1995), Geburtskomplikationen (Geddes u. Lawrie 1995; Geddes et al. 1999; Hultman et al. 1999) sowie eine defizitäre Ernährungslage in der Schwangerschaft (Susser u. Lin 1992) wurden als Risikofaktoren untersucht und sowohl mit der Erkrankung als auch mit deren Verlaufsaspekten, wie früherem Krankheitsbeginn und gehäufter familiärer Belastung (O’Callaghan et al. 1992), in Zusammenhang gebracht. Diese Faktoren können sowohl pränatal als auch während der weiteren Hirnreifung Einfluss auf die ZNSEntwicklung nehmen. Die makrostrukturellen Befunde könnten Ausdruck dieser Hirnreifungsstörung sein. Trotz des fehlenden Nachweises von gliotischen Veränderungen ist letztendlich bisher nicht klargelegt, ob es nicht zusätzlich oder sogar alternativ zu einem degenerativen Prozess im ZNS kommen kann. Diese Frage ist auch aufgrund von methodischen Schwierigkeiten nicht abschließend beantwortet. Während die cCT-Follow-up-Studien in Untersuchungszeiträumen von 2–8 Jahren mit meist ZweipunktUntersuchungen mehr negative als positive Studien aufwiesen (Vita et al. 1994), zeigte die Mehrheit der Studien aus der In-vivo-MRT-Forschung in jüngsten Längs-
571 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
⊡ Abb. 25.17. Metakonzept
hereditäre Faktoren
zur Pathogenese der Schizophrenie
und/oder
diskrete zerebrale Schädigungen, z. B. Virusinfektionen pränatal oder postnatal
prädisponierende Faktoren psychosoziale Faktoren
auslösende Faktoren
Stressoren »Life-events« Drogen
Vulnerabilität
Schizophrenie
heilungsfördernde oder rezidiv-provozierende Faktoren
Heredität zerebrale Schädigungen psychosoziale Faktoren
Remission
schnittstudien (mit ebenfalls Zweipunkt-Untersuchungen) Ergebnisse, die eine signifikante Volumenreduktion stützen könnten (DeLisi et al. 1997; Gur et al. 1998; Mathalon et al. 2001; Rapoport et al. 1999; Cahn et al. 2002). Veränderte funktionelle Konnektivität. Im vorliegenden
Arbeitsmodell haben die beschriebenen strukturellen ZNS-Veränderungen eine veränderte funktionelle Konnektivität zur Folge, die sich subklinisch bereits in Form kognitiver Störungen darstellt. In der Tat zeigen Familien- und Früherkennungsstudien bereits kognitive Defizite (Toomey et al. 1998). Interessanterweise zeigen auch Angehörige von schizophrenen Patienten bereits strukturelle Hirnveränderungen, ohne an einer psychischen Erkrankung zu leiden (Lawrie et al. 1999). Diese veränderte Konnektivität muss somit nicht zwingend zur Manifestation der Erkrankung führen. In dem Zweistufenmodell führen zusätzliche Faktoren wie unspezifische genetische Einflüsse, Hormonlage, Stress und besonders belastende Lebensereignisse (»second hit«) zur eigentlichen Manifestation der klinischen Symptomatik.
Computertomografie In den 1970er Jahren beginnen die Untersuchungen von tomografischen Bildern mittels der Computertomografie. Erstmalig kann Hirngewebe in vivo dargestellt werden, und die erste Untersuchung an 17 jungen schizophrenen Patienten von Johnstone und Kollegen (Johnstone et al. 1976) sowie alle im Zeitraum von 1976–1990 nachfolgenden Untersuchungen bestätigen die bereits pneumenzephalografisch nachgewiesene Erweiterung der Seitenventrikel bei schizophrenen Patienten.
Rezidiv
Chronizität
Magnetresonanztomografie Die MRT-Ära zu Beginn der 1990er Jahre ermöglicht durch die tomografische Darstellung vielfältiger Gewebeinformationen eine differenzierte qualitative und quantitative Betrachtung der Hirnstruktur und die Trennung von grauer und weißer Substanz. Die Anwendung unterschiedlicher Segmentierungsverfahren wie BRAINS (Andreasen 1992) oder der Methoden der voxelbasierten Morphometrie (VBM; Ashburner u. Friston 2000) eröffnet neue Möglichkeiten zu quantitativen, interindividuellen Erfassung und Auswertung der einzelnen Gewebsklassen.
Funktionelle Bildgebung MR-Spektroskopie (MRS) In der MRS zeigen schizophrene Patienten einen NAAAbfall im Hippokampus, dorsolateralen präfrontalen Kortex, Gyrus cinguli sowie im Thalamus. Es zeigen sich jedoch Normalbefunde im Nucleus caudatus und Putamen, Schizophrene haben ein charakteristisches metabolisches Muster des NAA-Signals, das deutliche Unterschiede zum Muster depressiver Patienten aufweist. Die NAA-Signalveränderungen deuten auf ein Netzwerk kortikaler Regionen hin, das spezifisch bei Schizophrenie betroffen ist (s. oben). Ähnlich wie bei der depressiven Störung ist der präfrontale Kortex mit seinen Verbindungen zum limbischen System betroffen. Diese »Brücke« zwischen beiden Erkrankungen – dargestellt durch die MRS – ist möglicherweise ein neurobiologisches Korrelat dafür, dass schizophrene Patienten im Laufe ihrer Erkrankung depressive Syndrome herausbilden können, oder depressive Patienten Erkrankungsphasen mit psychotischen Symptomen erleiden. Möglicherweise können
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
die funktionell-bildgebenden Verfahren MRS und fMRT in Zukunft wichtige differenzialdiagnostische Hinweise liefern, wenn die Symptomebene keine klare diagnostische Entscheidung zulässt.
Befunde im Frontallappen
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In Bezug auf den Lipidstoffwechsel ist eine Erniedrigung der Phosphomonoester (PME) bei gleichzeitiger Erhöhung der Phosphodiester (PDE) im Frontallappen schizophrener Patienten der am häufigsten replizierte Befund. Der mithilfe funktionell-bildgebender Verfahren am häufigsten erhobene Befund bei schizophrenen Patienten stellt die sog. Hypofrontalität dar, d. h. die Aktivitätsverminderung in frontalen Gehirnabschnitten bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. Die Hypofrontalität äußert sich sowohl bei Messung des Glukosestoffwechsels (18FDG-PET) als auch der Perfusion (z. B. 15O-H2O-PET; für eine Übersicht s. z. B. Buchsbaum 1995). Dieser Befund der reduzierten Aktivität in frontalen Kortexarealen, wobei ein besonderes Schwergewicht auf dem linken dorsolateralen präfrontalen Kortex zu liegen scheint, wurde erstmals 1974 von Ingvar und Franzen mit Hilfe der 133Xenon-Inhalationstechnik erhoben. Besonders deutlich und replizierbar ist diese Hypofrontalität, wenn nicht im Ruhezustand gemessen wird, sondern die Patienten mit Hilfe z. B. einer neurokognitiven Aufgabe belastet werden (funktionelle Hypofrontalität, Andreasen et al., 1992), wobei sog. frontalhirnspezifische Testverfahren, wie z. B. der Wisconsin Card Sorting Test, als Stimulationparadigmen gut geeignet sind. Allerdings blieb das Konzept der Hypofrontalität nicht unumstritten, v. a. da es vereinzelte Untersuchungen gab, die eine Hyperfrontalität, insbesondere bei neuroleptikafreien Patienten mit im Vordergrund stehender Produktivsymptomatik, fanden. Allerdings überwiegen auch bei neuroletikafreien (z. T. wurden auch neuroleptikanaive) Patienten Ergebnisse im Sinne der Hypofrontalität (z. B. Wiesel et al. 1987; Batista et al. 1995). Hierbei korrelierte z. T. das Ausmaß der Hypofrontalität mit dem Ausprägungsgrad der Negativsymptomatik.
Befunde im Temporallappen Neben den Befunden zum Frontallappen wurden auch Hinweise für eine Funktionsstörung des Temporallappens, wenn auch wesentlich seltener, erhoben. Hier ist die Befundlage heterogen, es wurden sowohl Hypo- als auch Hyperaktivierungen beschrieben, einige Autoren konnten einen Zusammenhang zwischen der Aktivität von Temporallappenbereichen und produktiven Symptomen zeigen.
Kritische Bewertung der Hypofrontalität Eine paradigmatische Untersuchung, die Liddle und Mitarbeiter 1992 publizierten, ging auf die Frage ein, ob das Muster der zerebralen Glukoseutilisation mit klinischen Psychopathologie-Prägnanztypen zusammenhängt. Mit-
hilfe statistischer Verfahren zeigten die Autoren, dass bei Wahrnehmungs- und Ich-Störungen (»reality distortion«) ein Hypermetabolismus links medio-temporal sowie ein Hypometabolismus rechts zingulär und links laterotemporal besteht. Bei vorherrschenden inhaltlichen Denkstörungen (»Disorganization«) zeigte sich ein Hypometabolismus rechts präfrontal, insulär, zingulär und im Bereich des Thalamus, bei dominierender Negativsymptomatik (»psychomotor poverty«) ein Hypometabolismus dorsolateral präfrontal und parietal sowie ein Hypermetabolismus im Bereich des Kaudatums. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass ein so einfaches Konstrukt wie die Hypofrontalität nur mit einem Teil der schizophrenen Symptomatik in Zusammenhang steht.
Funktionelle MRT-Studien Die Zahl der funktionellen MRT-Studien hat sich im vergangenen Jahrzehnt jährlich gesteigert und bezieht sich auf alle kognitiven Teilbereiche, wobei die Ergebnisse im Einklang mit neuropsychologischen Befunden der Schizophrenie stehen (Lautenbacher u. Gauggel 2004). Bereits auf der Ebene der visuellen und auditiven Wahrnehmung konnten bei schizophrenen Patienten signifikante Signalveränderungen im Vergleich zu Gesunden festgestellt werden. So konnten Braus et al. (2002) demonstrieren, dass bereits bei einem einfachen visuell-akustischen Paradigma beeinträchtigte Aktivierungsmuster sowohl auf frühen Stufen der Informationsverarbeitung (Minderaktivierungen im Thalamus), als auch bei höheren integrativen Prozessen (Minderaktivierung im präfrontalen und parietalen Kortex) beobachtet werden können. Akustische Halluzinationen. Auch akustische Halluzinati-
onen als Kernsymptom der Schizophrenie sind Untersuchungsgegenstand der funktionellen Bildgebung. So ist der Schweregrad der akustischen Halluzinationen mit frontotemporaler Minderung der funktionellen Verschaltung assoziiert (Lawrie et al. 2002), es werden während akustischen Halluzinationen primäre akustische Rindenareale aktiviert (Dierks et al. 1999) und sprachrelevante Regionen sind während halluzinatorischem Erleben vermindert auf externe Sprachstimuli ansprechbar (Woodruff et al. 1997). Doch nicht nur akustische, sondern auch somatische Halluzinationen spiegeln sich im BOLD-Signal wider. Während sich bei akustischen Halluzinationen in einer Einzelfallstudie Aktivierungen in Regionen des temporalen Kortex nachweisen ließen, fanden sich für somatische Halluzinationen Aktivierungen im parietalen Kortex (Shergill et al. 2001). Im Bereich der Aufmerksamkeit wurden vor allem der Aspekt der selektiven Aufmerksamkeit und die Bewältigung von Interferenzaufgaben untersucht. Continous Performance Test. Das wohl am meisten ver-
wendete Paradigma stellt der CPT (Continuous Performance Test) dar, wobei der CPT nicht als spezieller Test,
573 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
sondern als Oberbegriff für eine standardisierte Testanordnung gesehen werden muss. Definitionsgemäß muss dabei auf einen bestimmten Reiz reagiert werden, die Reizdichte ist hoch und die Dauer liegt unter 10 min, sodass diese Art von Test am ehesten dem Bereich der selektiven Aufmerksamkeit zugeordnet wird. Bei schizophrenen Patienten finden sich dabei signifikant geminderte Aktivierungen im inferioren Frontalkortex (Eyler et al. 2004). Interferenzaufgaben. Muss nicht mehr auf einen ein-
fachen Reiz reagiert werden, sondern wird die Ausführung einer kognitiven Aufgabe zusätzlich durch die Induktion einer weiteren Informationsverarbeitungsroutine gestört, wird dies als Interferenzaufgabe bezeichnet. Der Stroop Test stellt ein typisches und bekanntes Beispiel dafür dar. In fMRT-Studien wurden für Interferenzaufgaben bei schizophren Erkrankten zusätzliche Aktivierungen im frontalen Bereich im dorsolateralen präfrontalen Kortex und dem anterioren Zingulum gefunden, wobei die Bearbeitungsqualität von schizophrenen und gesunden Probanden vergleichbar war (Weiss et al. 2003). Hippokampus-Aktivierung. Der Hippokampus ist die re-
levante Region für episodische Gedächtnisleistungen. Strukturelle Veränderungen dieser Region bei schizophrenen Patienten sind seit langem bekannt. In neueren fMRT Untersuchungen ist inzwischen auch die Aktivierung dieser Struktur darstellbar. Während sich in einigen Studien hippokampale Minderaktivierungen gemessen wurden (Leube et al. 2003; Weiss et al. 2003) fand sich in anderen Untersuchungen außerdem auch eine Hypofrontalität von schizophrenen Patienten (Kubicki et al. 2003; Ragland et al. 2004). N-back-Verfahren. Zu den wichtigsten Aufgaben des
präfrontalen Kortex gehört das Arbeitsgedächtnis, welches eine geplante, kontrollierte Handlungsausführung und kontextgerechte Adaptation komplexer Handlungsmuster ermöglicht. Da in diesem Bereich Defizite schizophrener Patienten sehr häufig zu finden sind, liegt es nahe, dass der Frontallappen eine wesentliche Rolle bei der Pathogenese der Schizophrenie spielt. Ein typisches Testverfahren, um Arbeitsgedächtnisleistungen zu objektivieren sind sog. N-back-Verfahren. Dabei werden einzelne Stimuli (z. B. Buchstaben) präsentiert, der Proband soll reagieren, wenn das präsentierte Item dem n-ten vorherigen Item entspricht (z. B. 2 – back: der aktuelle Reiz wurde an vorletzter Stelle ebenfalls präsentiert). Wisconsin Card Sorting Test. Auch der WCST, ein Karten-
sortierverfahren, das Arbeitsgedächtnisleistungen, Abstraktionsvermögen und kognitive Flexibilität erfordert, ist ein vielverwendeter Test zur Überprüfung exekutiver Leistungen. Bei schizophrenen Patienten finden sich für
beide kognitive Paradigmen signifikant abweichende Aktivierungen im Vergleich zu gesunden Probanden. Bei der Durchführung des WCST zeigen Patienten verminderte Aktivierungen des präfrontalen Kortex (Volz et al. 1997). Vor allem frühere Studien (Barch et al. 2002; Menon et al. 2001) belegen für Arbeitsgedächtnisaufgaben eine verminderte Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex. Neuere, widersprüchliche Befunde führten jedoch zur Revision einer primären Hypofrontalität schizophrener Patienten. Eine simple Beschreibung einer präfrontalen Hyper- oder Hypofunktion kann der wahren Komplexität dieses kognitiven Prozesses nicht gerecht werden (Callicott et al. 2003), wie unter Abschn. 25.2.3 dieses Kapitels bereits beschrieben. Genetische Konstitution der COMT. Zudem liegen Studien
vor, die einen Einfluss des Genotyps auf Frontalhirnfunktionen nachweisen konnten. Die genetische Konstitution der Katechol-O-Methyl-Transferase (COMT) ist eine wesentliche Variable, die die Funktion des präfrontalen Kortex beeinflusst. Die synaptische Dopaminkonzentration wird hier nicht durch die Wiederaufnahme, sondern durch die Aktivität der COMT reguliert, welche Dopamin metabolisiert, da es im präfrontalen Kortex kaum Dopamintransporter gibt. Der Polymorphismus im COMTGen (Val108/158Met) ist mit einer 4fachen Variation in der Aktivität des Enzyms verbunden und beeinflusst deshalb die Metabolisierung des Dopamins. Egan et al. (2001) konnten nachweisen, dass Probanden mit dem Val-Allel eine verstärkte Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex und des anterioren Zingulums während der Durchführung des WCST aufwiesen. Diese erhöhte Aktivierung kann auf eine Ineffizienz der involvierten Netzwerke hinweisen. Zusammen mit den postulierten Wirkungsmechanismen des COMT-Genotyps auf die präfrontale Dopaminkonzentration profitierten Probanden mit einem gesteigerten Dopaminmetabolismus, vermutlich niedrigen präfrontalen Dopaminkonzentrationen und ineffizienter präfrontaler Aktivität, bei der Überprüfung des Arbeitsgedächtnisses von einer Amphetamingabe, während dieser Effekt bei Probanden mit einem COMTGenotyp, der bereits mit einem hohen präfrontalen Dopaminumsatz verbunden sein soll, nicht nachgewiesen werden konnte (Mattay et al. 2003). Cave Die differenzialdiagnostische Bedeutung der funktionell-bildgebenden Befunde ist ähnlich kritisch zu sehen wie jene der strukturellen Befunde. Hypofrontale Aktivitätsmuster wurden auch bei affektiven und demenziellen Erkrankungen gefunden, der Überlappungsbereich mit Befunden bei den genannten Erkrankungsbildern, aber auch mit Befunden an Normalpersonen, ist groß.
25
574
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Auf die Untersuchungen zur Rezeptorcharakterisierung (z. B. D2-Rezeptoren) bei schizophrenen Patienten wird wegen der fehlenden klinischen Relevanz nicht eingegangen (Übersicht z. B. bei Verhoeff 1999).
25.3.3
Affektive Erkrankungen
Strukturell-bildgebende Verfahren
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Die strukturell-bildgebenden Verfahren (CT, NMR) haben bei den affektiven Erkrankungen, wie auch bei der Schizophrenie, bisher keine spezifischen Befunde erbracht. Somit dienen strukturell-bildgebende Verfahren im klinischen Alltag zum Ausschluss hirnorganischer Störungen, die affektive Symptome auslösen können. Im Folgenden sollen dennoch die wichtigsten bei affektiv Erkrankten erhobenen Befunde kurz dargestellt werden, damit der Leser einen Eindruck gewinnt, welche Abweichungen in Zukunft klinische Relevanz gewinnen könnten. Die Ergebnisse der Anwendung strukturellbildgebender Verfahren (CT, MRT) bei affektiven Erkrankungen sind sehr heterogen. Bei bipolar-affektiv Erkrankten häufen sich Befunde, die auf eine diffuse Hirnatrophie hindeuten, wie Vergrößerungen der Seitenventrikel und des 3. Ventrikels sowie Hirnfurchenerweiterung (Elkis et al. 1995; Soares u. Mann 1997; Strakowski et al. 2000). Während erste Metaanalysen (Elkis et al. 1995) diesen Befund auch bei unipolar Depressiven feststellten, konnte dies in neueren zusammenfassenden Arbeiten nicht bestätigt werden. Sowohl bei unipolar als auch bei bipolar Erkrankten finden sich – ähnlich wie auch bei schizophrenen Patienten ( Abschn. 25.3.2) – Hinweise auf ein im Mittel vermindertes Volumen des Kleinhirnwurms. Hippokampus signifikant verkleinert/Amygdala vergrößert. Neuere ROI-Untersuchungen von hochauflösenden
MRT-Aufnahmen depressiver Patientenpopulationen (Frodl 2002 a; Lange 2004) konnten zeigen, dass der Hippokampus bei depressiven Patienten im Unterschied zu gesunden Probanden signifikant verkleinert ist. Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass ein Zusammenhang zwischen Stress und Neurotoxizität und Neuroneogenese innerhalb der hippokampalen Strukturen besteht, der möglicherweise, übertragen auf den Menschen, zu einer volumetrischen Abnahme bei Depression führt. Dagegen zeigte die Amygdala eine signifikante Volumenzunahme bei depressiven Patienten (Frodl 2002 a; 2002 b). Interessanterweise mehren sich die Hinweise, dass Volumenveränderungen innerhalb des limbischen Systems einen Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung von depressiven Störungen darstellen. So konnte gezeigt werden, dass ein geringeres Hippokampusvolumen mit einer schlechteren klinischen Prognose und damit höheren Therapieresistenz einhergeht (Frodl 2004).
Volumenverluste präfrontaler Areale. Beide limbischen
Strukturen sind Komponenten eines kortikalen Netzwerks, das maßgeblich an der affektiven Regulation und Modulation beteiligt ist. Jüngere morphometrische Untersuchungen, die über das limbische System hinaus strukturelle Veränderungen bei depressiven Patienten untersucht haben, fanden heraus, dass v. a. präfrontale Areale (dorso-lateraler präfrontaler Kortex, orbitofrontaler Kortex), die einen wichtigen »Knotenpunkt« dieses Netzwerks darstellen, Volumenverluste im Vergleich zu gesunden Patienten aufweisen (Fossati 2004).
Fazit Zusammengefasst lässt sich somit festhalten, dass, ähnlich wie in der Schizophrenieforschung, die in den letzten Jahren zunehmende Zahl bildgebender Untersuchungen zu einem vertieften Verständnis der neuroplastischen Prozesse geführt hat, die innerhalb verschiedener, strukturell und funktionell verknüpfter Hirnregionen am Entstehungsprozess von depressiven Erkrankungen beteiligt sind.
White matters hyperintensities. Neben diesen Volumen-
änderungen stellen sich bei affektiven Erkrankungen, sowohl bei bipolaren Störungen als auch bei unipolaren Depressionen, im MRT gehäuft Hyperintensitäten in der weißen Substanz und periventrikulär (sog. »white matter hyerintensities«, WMH) dar. Diese werden mit hoher Sensitivität in T2-gewichteten Sequenzen erfasst. Das zentrale Problem bei den WMH, typischerweise als dünner periventrikulärer Randsaum oder kuppenförmig um die Vorderhörner der Seitenventrikel ausgeprägt, aber auch als vereinzelte rundlich-ovale, kleine (< 5 mm) Läsionen im Marklager verteilt, besteht darin, dass sie mit zunehmendem Lebensalter, besonders bei dem Vorliegen eines Diabetes mellitus, einer Hypertonie oder einer Fettstoffwechselstörung, ebenfalls gehäuft vorkommen. Zudem kann die Abgrenzung dieser unspezifischen WMH gegenüber ähnlichen Veränderungen bei vaskulärer Enzephalopathie schwierig sein. Bei einer Reihe von Untersuchungen wurde bei bipolar erkrankten Patienten eine höhere Zahl von WMH, besonders bei älteren Patienten, im Vergleich zu Kontrollpopulationen gefunden, ohne dass bisher eine eindeutige Grenze, die im klinischen Alltag hilfreich sein könnte, gezogen werden konnte. Die wichtigsten strukturellen Alterationen bei affektiv Erkrankten gibt ⊡ Tab. 25.1 wieder.
Funktionell-bildgebende Verfahren Funktionelle Kernspintomografie Hier haben insbesondere fMRT-Untersuchungen wesentlich zur Generierung neuer Ätiopathogenesevorstellungen beigetragen. So stimmen die funktionelle Neuroana-
575 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
⊡ Tab. 25.1. Befunde strukturell-bildgebender Verfahren bei affektiven Erkrankungen Unipolar Depressive
Bipolar Erkankte
Zeichen diffuser Hirnatrophie (Ventrikelvergrößerung, Hirnfurchenerweiterung)
?
✗
White matter hyperintensities (WHM)
✗
✗
Volumenminderung des Kleinhirnwurms
✗
✗
tomie und die Neuropathologie darin überein, dass es in der Depression sowohl Hirnregionen mit Hyperaktivierungen, als auch mit Hypoaktivierungen gibt, wodurch das dynamische, fein ausbalancierte Netzwerk beeinträchtigt ist. Aus Einzelbefunden entwickelte Mayberg (1997) das sog. Netzwerk der Depression, welches postuliert, dass bei einer schweren Depression eine Balancestörung zwischen phylogenetisch jüngeren Arealen (dorsolateraler präfrontaler Kortex, dorsales anteriores Zingulum, posteriores Zingulum), die hypoaktiv sind, und älteren Regionen (Hippokampus, Amygdala, subgenuales Zingulum, Inselregion, Hypothalamus), die hyperaktiv sind, vorliegt. Offensichtlich und inzwischen mehrfach überprüft spielt dabei eine Region, das rostrale anteriore Zingulum, eine entscheidende Rolle für die dynamische Balance zwischen jungen und alten Hirnarealen. Maybergs Modell weist sich besonders dadurch aus, zahlreiche strukturelle, biochemische und funktionelle Bildgebungsbefunde der Depression integrieren zu können, wobei der wohl meist replizierte Befund der fMRT-Forschung der Depression eine Hyperaktivierung der Amygdala bei Präsentation und Verarbeitung negativer Stimuli (Sheline et al. 2001; Anand et al. 2005) ist. Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Depressionsmodells liegt in seinem möglichen prädiktiven Wert. So zeigten Davidson et al. (2003), dass depressive Patienten mit relativ hoher Aktivierung des Zingulums auf negative Stimuli zu Beginn und deutlicher Abnahme dieser Aktivität nach 2 und 8 Wochen mit Venlafaxin die robusteste klinische Therapieresponse aufwiesen.
eine gestörte Neurotransmission zurückgeführt werden könnte und gegen einen neurodegenerativen Prozess spricht (Auer 2000). Tiermodell der Depression. Czeh (2001) erhoben in einem
etablierten Tiermodell der Depression bei Baumspitzmäusen (Tupaia belangeri) die folgenden MRS- und Neurogenesebefunde: Nach 28-tägigem psychosozialem Stress vermindert sich das Cholin- und NAA-Signal der Tiere im Hippokampus jeweils um 13%. Die Neurogenese im Gyrus dentatus ging unterdessen um 33% zurück. Erhielten die Tiere jedoch ab dem 7. Tag der Untersuchung das modifizierte trizyklische Antidepressivum Tianeptin, blieben diese Effekte wie auch der geringe Verlust an Hippokampuszellen aus. Dieses Tiermodell spricht dafür, dass die neuronale Plastizität eines gestressten Tieres vermindert ist, und dass die Gabe eines Antidepressivums mit verbesserter Neuroplastizität korreliert. Das Antidepressivum kann möglicherweise strukturelle Hirnveränderungen rückgängig machen, die für affektive Erkrankungen relevant sind. Inwieweit die Veränderungen in der Neuroneogenese einen ätiologischen Faktor für die Depressionsentstehung darstellen, oder vielmehr ein Epiphänomen verkörpern, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt. Metaanalyse zur 31P-MRS. Eine kürzlich publizierte Meta-
analyse zur 31P-MRS zeigte, dass PME bei euthymen Patienten mit bipolar affektiven Störungen im Frontallappen im Vergleich zu Kontrollpersonen vermindert war, depressive bipolare Patienten wiesen signifikant höhere PME-Werte auf als dieselben Patienten im euthymen Zustand. Bezüglich PDE wurden keine systematischen Abweichungen berichtet (Yildiz et al. 2001). Eine stringente Erklärung für diese state- und trait-abhängigen Alterationen des Phospholipidstoffwechsels steht bisher noch aus. Die bei bipolar-affektiv Erkrankten beobachtete PCrErniedrigung im Frontallappen und die beschriebene ATP-Erniedrigung in demselben Hirngebiet könnten im Sinne einer genetisch determinierten mitochondrialen Störung der ATP-Produktion interpretiert werden.
MR-Spektroskopie
Depression im Rahmen von Schlaganfällen, multipler Sklerose und verbunden mit kognitiven Defiziten
Affektive Störungen führen nach der Übersicht von Stanley (2002) zu einer Veränderung des Cholinsignals, was für einen gestörten Membran-Turnover spricht, und zu einer verminderten Präsenz von Phosphomonoestern, die als Korrelat der Phospholipidbiosynthese gelten. Beide Befunde zusammen signalisieren eine gestörte Balance mit Überwiegen der katabolen über anabole Prozesse. Außerdem wurde bei depressiven Störungen ein reduziertes Glutmatsignal ohne Veränderungen im NAA- oder Cholinsignal im anterioren Zingulum gemessen, was auf
Im Rahmen der oben bereits angeführten Ausschlussdiagnostik sind neben intrakraniellen Raumforderungen (etwa durch Tumoren oder Blutungen ausgelöst) 3 weitere Befunde von besonderer Bedeutung: 1. Die sog. Post-stroke-Depression, 2. das gehäufte Auftreten depressiver Syndrome im Verlauf eine multiplen Sklerose 3. depressive Syndrome, die mit kognitiven Defiziten einhergehen, bzw. Demenzen mit depressiver Komorbidität.
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576
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Post-stroke-Depression. Sie ist nicht ausschließlich reak-
tiv ausgelöst, sondern tritt gehäuft in Abhängigkeit vom ischämischen Läsionsort auf, wobei Patienten mit Schädigungsarealen, die links-frontal oder in den linken Basalganglien liegen, dominieren (einige Befunde sprechen für gehäufte manische Syndrome nach rechtshemisphäralen Läsionen; Robinson u. Travella 1996; Kap. 57, S. 532. Bei der Post-stroke-Depression geht man davon aus, dass durch die zerebrale Minderperfusion Strukturen, die an der Affektregulation beteiligt sind, zerstört werden.
25
Multiple Sklerose. Patienten, die an einer multiplen Skle-
rose erkrankt sind, leiden häufig, bei einem schubförmigen Verlauf mit einer Lebenszeitinzidenz von ca. 50% (Sadovnick et al. 1996), zusätzlich an einer Depression. Auch hier geht man, ähnlich wie bei der Post-stroke-Depression, davon aus, dass durch die Läsionen entscheidende Verbindungen zwischen den an der Affektregulation beteiligten Zentren ausgeschaltet werden. Allerdings finden sich im Gegensatz zu der Post-stroke-Depression bisher keine Hinweise dafür, dass es bei MS-Läsionen Prädilektionsorte für eine Depressionsauslösung gibt. Demenz vs. Depression. Die Differenzialdiagnose demen-
zieller Erkrankungen von depressiven Bildern mit sog. Pseudodemenz gestaltet sich mitunter schwierig. Die strukturelle Bildgebung kann in solchen Fällen weiterhelfen; gibt es bei einem depressiven Patienten mit kognitiven Störungen Hinweise im CT oder MRT für eine Demenz vom vaskulären oder vom Alzheimer-Typ, rückt die Verdachtdiagnose einer primären Demenz in den Vordergrund (zur Bedeutung der PET und SPECT in diesem Zusammenhang, Abschn. 25.3.1 – Primäre neurodegenerative ZNS-Erkrankungen).
25.3.4
Abhängigkeiten und schädlicher Gebrauch
ZNS Befunde bei Alkoholerkrankung In der Diagnostik von Alkoholkrankheiten und den damit assozierten Folgeerkrankungen sind die radiologischen Methoden der cCT und insbesondere die zerebrale MRT das Mittel der Wahl. Nuklearmedizinische Befunde spielen eine untergeordnete Rolle. Ethanol, als gängigste Form des Alkohols, wirkt auf verschiedene ZNS-Bestandteile toxisch. Es hat Auswirkungen auf die vaskulären, glialen und neuronalen Bestandteile des Gehirnes und verursacht Myelindegeneration. Bei der Alkoholabhängigkeit zeigen sich demzufolge in der CT und MRT des Gehirns im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kontrollprobanden signifikant weitere innere und äußere Liquorräume. Typisch ist im frühen Stadium der Erkrankung zudem die Vermis- und Hemisphärenatrophie des Kleinhirns. Sowohl unspezifische pa-
raventrikuläre Marklagerläsionen als auch periventrikuläre Demyelinisierungen lassen sich bei chronischer Alkoholkrankheit nachweisen. Eine enge Korrelation besteht zwischen dem Alter des Patienten, der Dauer des Alkoholgebrauchs und dem Ausmaß der zerebralen Atrophie. Neuere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die zerebrale Atrophie bei konsequenter Abstinenz teilweise reversibel ist (Mann et al. 1993; Pfefferbaum et al. 1995). Die zugrunde liegenden Mechanismen der Rückbildung der Atrophie sind nicht geklärt. Ein Erklärungsansatz ist, dass es in der Abstinenzphase zur Rehydrierung im Sinne vermehrter Wasser- und Elektrolyteinlagerungen im ZNS kommt. Die Tatsache jedoch, dass die Rückbildung der Atrophie einige Wochen bis Monate benötigt, spricht eher für zelluläre Regenerationsprozesse. Die zeitgleich psychometrisch erhobenen kognitiven Defizite stehen in keinem sicheren Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen, obwohl Studien gezeigt haben, dass die Rückbildung der Atrophie von einer Verbesserung des kognitiven Leistungsprofils begleitet wird (Muuronen et al. 1989). Bewusstseinsstörungen im Rahmen einer akuten Alkoholintoxikation können sowohl durch die zentrale Wirkung des Alkohols als auch durch zerebrale Komplikationen verursacht sein. Daher ist bei atypischem Verlauf, zusätzlicher neurologischer Symptomatik oder prolongierter Desorientiertheit die cCT ein wichtiges diagnostisches Mittel zum Ausschluss von anderen zerebralen Komplikationen. Bedacht werden müssen hier insbesondere intra-, und extrazerebrale Blutungen, ischämische Infarkte und Vaskulitiden.
Wernicke-Enzephalopathie (WE) Die Wernicke-Enzephalopathie (Polienzephalitis haemorrhagica superior) entsteht auf der Grundlage eines Thiaminmangels (B1) in der Regel auf einer chronischen Alkoholkrankheit basierend. Klinisch zeigt sich – dies aber nicht obligat – die akut auftretende Trias der Verwirrtheitszustände mit Desorientiertheit, Ataxie und Ophtalmoplegie. Die akute WE zeigt in der MRT in den T2-gewichteten Bildern hyperintense Areale um den 3. Ventrikel und den Aquädukt. Auch sind periventrikuläre hyperintense Herde im Thalamus und Hypothalamus fakultativ sichtbar. Nach Kontrastmittelgabe kann sich in der T1-gewichteten Sequenz ein Enhancement um den 3. Ventrikel, den Aquädukt und die Mammillarkörper zeigen. Zusätzlich kann es zu Einblutungen der Corpora mamillaria und den beteilgten Regionen kommen (⊡ Abb. 25.18). Bei der chronischen WE tritt eine Erweiterung des 3. Ventrikels und eine Mammillarkörperatrophie hinzu, die mit der MRT am besten erfasst wird. Es gibt Hinweise, dass es nach Thiamingabe zu einer Normalisierung dieser Befunde kommen kann.
577 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
Die morphologische Grundlage ist eine Demyelinisierung und Nekrose zentraler Anteile des Corpus callosum. Jedoch können auch andere Marklagerbahnen und Kommissurenbahnen betroffen sein. Die fokale zystische Nekrose findet in der dritten Schicht der Großhirnrinde statt, welche über die kallosalen Kommissurenbahnen miteinander verbunden sind. Topisch sind Genu, Mittelstück oder Splenium des Corpus callosum betroffen. Sagittale MRT-Aufnahmen zeigen eine kallosale Atrophie und fokale Nekrosen als lineare oder punktförmige hypointense Regionen in der T1-Gewichtung. Diese stellen sich hyperintens in der T2-Wichtung dar.
Drogenabhängigkeit Kokain, Amphetamin ⊡ Abb. 25.18. Wernicke-Enzephalopathie, MRT. (Aus Osborn 1994)
Osmotische Myelinolyse (OM) Die osmotische Myelinolyse ist eine toxische Demyelinisierung, die klassischerweise bei Alkoholerkrankungen, jedoch auch bei unterernährten Patienten auftreten kann. Über 75% dieses Syndroms sind mit einer chronischen Alkoholerkrankung verbunden. Wahrscheinlich beruht die OM auf einer passageren Hyponatriämie bei zu forciertem Ausgleich z. B. einer im Rahmen einer Alkoholkrankheit auftretenden Hyponatriämie. Klinisch kann sie sich von der leichten pontinen Funktionsstörung bis zum Vollbild des Locked-in-Syndroms darstellen. Pathogenetisch betrachtet beruht die OM auf einem Myelinverlust, die zentrale Pons ist der Hauptlokalisationsort (zentrale pontine Myelinolyse), auch wenn die OM andere Lokalisationen haben kann (extrapontine Myelinolyse: Putamen, Kaudatus, Thalamus, subkortikales Marklager). Die Bildgebungsbefunde zeichnen sich durch einen vermehrten Wassergehalt in den affizierten Arealen aus. Die MRT ist das diagnostische Mittel der Wahl (die cCT kann unaufällig sein!) und die Läsionen zeigen sich hypointens in der T1-Wichtung sowie hyperintens in der T2Wichtung der MR-Aufnahmen. Die Signalanhebungen im Ponsbereich können in ovaler, dreieck- und dreizackähnlicher Form imponieren. Enhancement nach Kontrastmittelgabe ist variabel vorhanden (⊡ Abb. 25.19). Differenzialdiagnostisch müssen Infarkte, Metastasen, Tumoren, multiple Sklerose oder Enzephalitiden ausschlossen werden, wobei im Bildgebungsbefund die Affizierung von Pons und Basalganglien die Diagnose der Myelinolyse weitgehend stützt.
Der Gebrauch dieser Substanzen kann intrazerebral mit massiven pathologischen Befunden einhergehen. Führend bei den zerebralen Pathologien ist die sympathomimetische Wirkung des Kokains, welches direkt auf die zerebralen Gefäße wirken kann. Das Mittel der Wahl ist die cCT, um typische ZNS-Komplikationen wie Hirninfarkte und Blutungen darzustellen. Ischämische Hirninfarkte zeigen sich als hypodenses Areal im entsprechenden arteriellen Versorgungsgebiet mit begleitender lokaler oder generalisierter ödematöser Hirnschwellung ( Kap. 25.3.2 Zerebrovaskuläre Störungen). Insgesamt 5% aller Infarkte können jedoch während des gesamten Verlaufes isodens bleiben und sich nur durch Kontrastmittelgabe in ihrer Schrankenstörung darstellen. Intrazerebrale Blutungen zeigen sich im Fall von Hämatomen scharf begrenzt und hyperdens mit einem schmalen hypodensen Randsaum. Auch hier ist ein Ödem mit Hirnrindenverstreichung die Regel. Subarachnoidalblutungen zeichnen sich durch hyperdense Areale im Suba-
Marchiafava-Bignami-Syndrom (MBS) Das MBS ist eine seltene, mit einer chronischen Alkoholkrankheit assoziierte Störung. Ursächlich wird insbesondere exzessiver Rotweinkonsum mit diesem Krankheitsbild in Verbindung gebracht. Die Pathogenese ist ungeklärt.
⊡ Abb. 25.19. Pontine Myelinolyse, MRT. (Aus Osborn 1994)
25
578
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
rachnoidalraum aus, entscheidend ist jedoch bei negativem Bildgebungsbefund und nicht sicher ausgeschlossener Diagnose die Durchführung der Liquorpunktion. Bei intravenösem Drogenkonsum sind mitunter durch Infektionen bei häufig gestörter Immunlage ausgelöste intrazerebrale Abszesse und mykotische Aneurysmen mit der cCT als auch der MRT nachweisbar.
25.3.5
25
Andere psychische Erkrankungen
Angst- und Zwangsstörungen Sind schon die Befunde bei schizophrenen und affektiven Erkrankungen durch eine große Heterogenität gekennzeichnet und können nicht im engeren Sinne zu einer positiven Diagnose der jeweiligen Erkrankung beitragen, so sind diese Probleme bei Angst- und Zwangsstörungen noch wesentlich ausgeprägter. Einigermaßen übersichtlich scheint die Befundlage bei Zwangsstörungen. Hier fanden sich in den strukturellen Untersuchungen zum Teil Volumenminderungen des Nucleus caudatus, während funktionell-bildgebende Daten eine Erhöhung des Blutflusses und der Glukoseutilisation insbesondere in den Gyri orbitofrontales und cinguli zeigen, v. a. in der Expositionssituation. Eine klinische Indikation für die Anwendung eines strukturell-bildgebenden Verfahrens besteht nur im Ausschluss von organischen zerebralen Läsionen, die in ihrer Auswirkung zu Angst- oder Zwangsphänomenen führen können.
Kinder- und jugendpsychiatrische Störungen Wie bei anderen biologischen Parametern auch sind mittels bildgebender Verfahren gewonnene Befunde bei kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen lückenhafter als in der Erwachsenenpsychiatrie. Noch weniger als dort tragen die Ergebnisse bildgebender Verfahren positiv zur Diagnosefindung bei, sollten aber – bei der besonderen Notwendigkeit des Ausschlusses hirnorganischer Faktoren als Auslöser einer psychischen Symptomatik bei kinder- und jugendpsychiatrischer Patienten – konsequent bei Ersterkrankungen durchgeführt werden. Anorexia nervosa. An dieser Stelle soll exemplarisch auf die Anorexia nervosa eingegangen werden, eine Erkrankung, bei der die im Folgenden beschriebenen Befunde in weiten Teilen auch auf erwachsene Betroffene übertragen werden können. Wie Blanz und Rothenberger (2000) berichten, besteht der konsistenteste Befund bei Jugendlichen mit einer Anorexia nervosa in einer Erweiterung der kortikalen Sulci, gefolgt von einer Erweiterung des äußeren Liquorraumes und der Ventrikel sowie einer Volumenreduktion der Hypophyse und des Thalamus. In funktionellbildgebenden Verfahren stand eine verminderte Glukoseutilisation frontal (superiore Anteile) bei relativ
gesteigertem Glukoseumsatz im Nucleus caudatus und inferioren Anteilen des Frontallappens im Vordergrund. Bei dieser Erkrankung besonders interessant ist, dass diese Befunde, auch die strukturellen, nur in Zeiten mit einer erheblichen Verminderung des Körpergewichts erhoben werden können. Sind die Probanden normal ernährt, finden sich in der Regel die beschriebenen Auffälligkeiten nicht mehr. Somit sind diese Befunde wahrscheinlich nicht störungsspezifisch, sondern Epiphänomene der Gewichtsreduktion vermittelt über die Reduktion des Gesamtproteins, Hemmung der zerebralen Proteinsynthese, den zu einer zerebralen Dehydratation führenden Hyperkortisolismus sowie über niedrige T3-Serumspiegel. Es bleibt noch zu klären, inwieweit die soeben als passager beschriebenen zerebralen Alterationen nicht doch, zumindest bei länger andauernden Malnutritionsperioden, zu überdauernden Gehirnveränderungen führen.
25.4
Ausschlussdiagnostik
Dem klinisch tätigen Psychiater sind im Rahmen der Standarddiagnostik insbesondere bei der Erstmanifestation einer psychiatrischen Störung unter Zuhilfenahme von Labor- und Liquoruntersuchung, EEG sowie dem Einsatz bildgebender Verfahren, vielfältige diagnostische Möglichkeiten an die Hand gegeben. Der standardisierte und kombinierte Einsatz aller genannten Verfahren, insbesondere bei Auftreten einer Erstmanifestation psychiatrischer Symptome, ist von wesentlicher Bedeutung, da diesen auch Symdrome zugrunde liegen können, welche generelle medizinische und somit nichtpsychiatrische Ursachen aufweisen. So kann beispielsweise eine depressive Störung durch ein Cushing-Syndrom verursacht sein. Die 4. Auflage des amerikanischen Klassifikationssystems DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) hat den Begriff »verursacht durch eine generelle medizinische Ursache« eingeführt, um die missverständliche Unterscheidung zwischen »organischen« und »funktionellen« Störungen aufzuklären. Es gibt eine Vielfalt medizinischer Ursachen, welche mit psychiatrischer Symptomatik einhergehen oder auch eine psychiatrische Störung auslösen können. Aufzählen lassen sich degenerative Störungen, Epilepsien, Hirntumoren, Schädel-Hirn-Traumata, demyelinsierende Erkrankungen wie die multiple Sklerose oder die amyotrophe Lateralsklerose sowie eine Reihe von akuten und chronischen Enzephalitiden, Immunerkrankungen, endokrinologischen und metabolischen Störungen. Vielen dieser Krankheitsbilder lassen sich charakteristische Bildgebungsbefunde zuordnen, jedoch kann hier nur exemplarisch auf einige wichtige Krankheitsbilder eingegangen werden.
579 25.4 · Ausschlussdiagnostik
Hirntumoren Hirntumoren können das gesamte Spektrum psychischer Symptome und Syndrome verursachen und als primäre psychische Erkrankung fehldiagnostiziert werden. Neben der genauen Anamneseerhebung und neurologischen Untersuchung ist der Einsatz von bildgebenden Verfahren ein heutiges Standardvorgehen bei der Diagnostik von psychiatrischen Erstmanifestationen. 50% der an einem Hirntumor leidenden Patienten weisen psychische Symptome auf. In zirka 80% dieser Patienten liegen die Tumoren in frontalen und limbischen Regionen. Während fokale Tumoren wie Meningiome zu einzelnen spezifischen Symtomen führen können, rufen Gliome eher eine diffuse psychische Symptomatik hervor. Eingeschränke kognitive Funktionen sind häufig das führende psychische Syndrom bei Hirntumoren. Bereits die cCT kann hier als diagnostisches Erstverfahren einen guten Überblick über das ZNS-Parenchym geben. Zur Diagnose eines Tumors erscheint die Beurteilung seiner Dichte, des umgebenen Ödems, der Lokalisation und seiner Anreicherung nach Kontrastmittelgabe zentral (⊡ Abb. 25.20). In der MRT führen Hirntumoren im Allgemeinen zu einer Verlängerung der Relaxationszeiten. Ähnlich wie bei einem Ödem kommt es dabei im T1-gewichteten Bild zu einer Signalerniedrigung und im T2-gewichteten Bild zu einer Signalanhebung. Die exakte Differenzierung von Tumorgewebe und Begleitödem lässt sich durch die Gabe von paramagnetischem Kontrastmittel durchführen.
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Die psychischen Symptome nach einem SHT können vielfältig und unterschiedlich in Schweregrad und Ausprägung sein. Die beiden Hauptsyndrome bestehen aus kognitiven Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Kognitive Störungen zeigen sich durch reduzierte Aufmerksamkeit, gestörte Problemlösungsstrategien, verminderte Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisprobleme. Auch depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, erhöhte Impulsivität mit aggressiven Durchbrüchen können bestehen. Eine neurologische Symptomatik ist nicht obligatorisch vorhanden. Die Bildgebung unter Zuhilfenahme der cCT und der MRT kann, neben dem Nachweis von unerkannten Schädel- oder Wirbelsäulenfrakturen, ein bestehendes Hirnödem nachweisen. Das generalisierte Ödem ist häufig nicht stark ausgeprägt und kann daher übersehen werden. Es kann gelegentlich lediglich durch eine Verschmälerung und damit Verkleinerung des Ventrikelsystems sowie einer Verengung des Subarachnoidalraums imopnieren. Auch müssen die Dichtewerte in der cCT nicht zwingend in Richtung Hypodensität verändert sein.
⊡ Abb. 25.20a, b. Hirntumor, a cCT und b MRT. (Aus Osborn 1994)
Multiple Sklerose (MS) Einer noch unerkannten MS-Erkrankung können eine große Spannbreite psychischer Symptome auch lange Zeit vor der Manifestation neurologischer Symptome vorausgehen ( Abschn. 25.3.3). Die Ätiologie der MS ist nach wie vor unbekannt. Am ehesten wird von einer T-Zell-vermittelnden Autoimmunerkrankung ausgegangen. Die psychischen Symptome umfassen kognitive und Verhaltensstörungen. Insbesondere steht ein Abfall des intellektuellen Leistungsniveaus mit Gedächniseinbussen im Vordergrund. An Verhaltensstörungen kommen Symptome der Euphorie und Depression hinzu. Seltener werden psychotische Phänomene sichtbar.
25
580
25
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Auch hier ist die Bildgebung, neben der Liquoruntersuchung und der elektrophysiologischen Abklärung, ein wesentlicher Bestandteil der Diagnostik. Der Einsatz der MRT für die Diagnostik und Therapiebewertung hat in der Klinik einen hohen Stellenwert. Die MRT zeigt die typischen chronisch-entzündlichen Entmarkungsherde im ZNS und hat eine Nachweisrate von über 90% bei Patienten mit einer gesicherten MS. Besonders geeignet sind MRT-Doppelechosequenzen, weil die Aufnahmen mit kürzerer Echozeit gelegentlich eine bessere Herdabgrenzung vom Liquor erlauben. Das charakteristische MRTBild zeigt in der T2-Gewichtung herdförmige Hyperintensitäten im Marklager. Der topografische Schwerpunkt liegt in Höhe der Vorder- und Hinterhörner des Ventrikelsystems. Die Größe der Herde nimmt von medial nach lateral ab, sodass die paraventrikulären bzw. subkortikal gelegenen Herde deutlich kleiner als die periventrikulären sind. Das hyperintense Signalverhalten geht auf den Verlust von Myelin sowie auf die Entzündung und Glianarbe zurück. In T1-gewichteten Aufnahmen der MRT imponieren diese Glianarben als hypointense, teils ausgestanzte Herde (⊡ Abb. 25.21). Nach Kontrastmittelgabe zeigen frische Herde ein Enhancement, da das paramagnetische Kontrastmittel Gadolinium (Gd) über die gestörte Blut-Hirn-Schranke in das Parenchym übergeht. Bei einem erst kurzen Krankheitsverlauf fehlen die erst später manifesten Signalabsenkungen im dazugehörigen T1-Bild der MRT.
⊡ Abb. 25.21. Axiale T2-gewichtete Aufnahme bei einem Patienten mit MS zeigt multiple hyperintense Signalveränderungen periventrikulär
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
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26 26 Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen W.E. Müller, A. Eckert
26.1
Klassifikationen und Terminologie
26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3
Praktische Pharmakokinetik – 585 Resorption, Verteilung und Elimination – 585 Hepatischer Metabolismus – 589 Dosis, Dosierungsintervall und Eliminationshalbwertszeit – 591 Depotarzneiformen – 594 Pharmakokinetische Interaktionen – 595 Pharmakokinetik im Alter – 597 Dosis, Plasmaspiegel und Wirkung – 598
26.2.4 26.2.5 26.2.6 26.2.7
– 584
Die zentrale Neurotransmission als Angriffspunkt der Psychopharmaka – 598 26.3.1 Akute pharmakologische Beeinflussung durch Psychopharmaka – 599 26.3.2 Adaptionsphänomene und klinischer Wirkungseintritt – 600 26.3.3 Pharmakologische Selektivität und funktionelle Spezifität – 601
26.5
26.6
Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika – 611 26.6.1 Biochemische Wirkungsmechanismen – 611 26.6.2 Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika – 612 26.6.3 Wirkung im Tiermodell – 616 26.7
Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer – 616
26.8
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva – 618
26.9
Psychopharmakologische Grundlagen der Therapie von ADHS – 620
26.3
26.4
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva – 601 26.4.1 Biochemische Wirkungsmechanismen – 601 26.4.2 Verhaltenspharmakologische Wirkungen der Antidepressiva – 609
Psychopharmakologische Grundlagen von Lithium und anderer Phasenprophylaktika bzw. Mood Stabilizer – 610
26.10 Weiterführende Lehrbücher und Nachschlagewerke – 621 Literatur
– 621
> > Das Verständnis der pharmakologischen Grundlagen der Psychopharmakotherapie ermöglicht es zum einen, neue Forschungsansätze auf dem Gebiet der psychiatrischen Pharmakotherapie nachzuvollziehen. Für den klinisch tätigen Arzt erleichtern diese Kenntnisse aber v. a. eine adäquate und rationale Auswahl der von ihm verwendeten Pharmaka unter Einbeziehung der pharmakologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften. Durch die Kenntnis des Wirkmechanismus und des Abbauweges des gewählten Pharmakons können darüber hinaus unerwünschte Arzneimittelwirkungen vorausgesehen und nach Möglichkeit vermieden werden.
584
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
26.1
26
Klassifikationen und Terminologie
Wie in vielen anderen Bereichen der Psychiatrie gibt es auch bei der Einteilung der Psychopharmaka kein einheitliches, allgemein anerkanntes Unterteilungsprinzip. Die Klassifikation der Psychopharmaka ist von Lehrbuch zu Lehrbuch unterschiedlich. Tendenziell setzt sich aber in den letzten Jahren mehr und mehr eine auf der klinischen Anwendung beruhende Klassifikation der Psychopharmakagruppen durch (⊡ Tab. 26.1). Diese hat den großen Vorteil eines direkten Bezugs zur klinischen Praxis, hat aber den Nachteil, dass eine Reihe von Substanzen nicht eindeutig zugeordnet werden können bzw. dass sie verschiedenen Psychopharmakagruppen zugeordnet werden müssen.
Psychostimulanzien, wobei Antidepressiva diesen Effekt weniger beim affektiv Gesunden als beim depressiven Patienten zeigen, Psychostimulanzien dagegen ihre stimmungsaufhellende Wirkung unabhängig von pathologischen Veränderungen der Affektivität zeigen können. Heute eher weniger verwendete Synonyma für Antidepressiva sind die Begriffe Thymoleptika bzw. Thymeretika, wobei letzter Begriff primär Monoaminoxidase(MAO-)Hemmstoffe meint. Bei den Stimulanzien hat sich neben dem Einsatz von Amphetamin bei Narkolepsie und in Ausnahmefällen bei ADHS v. a. das Methylphenidat als wirksames Therapeutikum bei ADHS etabliert, wobei neuere Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus die klinische Erfahrung eines sehr viel geringeren Abhängigkeitsrisikos im Vergleich zum Amphetamin erklären können (Fone u. Nutt 2005).
Antidepressiva und Psychostimulanzien. Affektiv aufhel-
Antidementiva. Eine weitere indikationsbezogene Psy-
lende Wirkungen haben sowohl Antidepressiva wie auch
Neuroleptika
Haloperidol Olanzapin
Major Tranquilizer Antipsychotika
chopharmakagruppe, die heute zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind die Antidementiva (früher Nootropika), im angelsächsischen Sprachgebrauch auch gerne als »cognition enhancer« bezeichnet. Diese Substanzen werden in der Behandlung von Hirnleistungsstörungen besonders im Alter eingesetzt. Hier steht heute die Behandlung der Demenz im Vordergrund, so dass sich der Begriff Antidementiva mehr und mehr durchsetzt. Neben einigen älteren Substanzen stehen hier heute hauptsächlich Azetylcholinesterasehemmstoffe zur Verfügung.
Tranquillanzien
Diazepam Lorazepam
Minor Tranquilizer Ataraktika
Halluzinogene. Losgelöst von diesen 5 Psychopharmaka-
Antidepressiva
Amitriptylin Mirtazapin Citalopram Tranylcypromin
Thymoleptika
Psychostimulanzien
Amphetamin Methylphenidat
Psychoanaleptika Psychotonika
Antidementiva
Piracetam Donepezil
Nootropika Cognition Enhancers
⊡ Tab. 26.1. Klassifikation von Psychopharmaka und anderen zentral wirksamen Substanzen Wirkstoffgruppen
Präparate (Beispiele)
Synonyme
Psychopharmakagruppen
Thymeretika (speziell für MAOHemmer)
Psychotrope Nichtpsychopharmakagruppen Halluzinogene
LSD
Psychodysleptika
Andere zentral angreifende Pharmakagruppen Hypnotika
z. B.Benzodiazepine Barbiturate
Schlafmittel
Analgetika
Morphin
Opioide (Opiate)
Antikonvulsiva
Carbamazepin
Antiepileptika Phasenprophylaktika bei affektiven Psychosen
Antiparkinsonsubstanzen
L-Dopa Biperiden
– Zentrale Anticholinergika
gruppen müsste man die Gruppe der Halluzinogene bzw. Psychodysleptika betrachten. Diese Substanzen werden z. Z. nicht als Psychopharmaka eingesetzt. Sie bewirken im Gegensatz zu den Psychostimulanzien weniger eine unspezifische zentrale Stimulation, sondern können eher spezifisch psychoseartige Symptome auslösen. Die Übergänge sind aber fließend, und viele Psychostimulanzien haben in Abhängigkeit von der Dosis und der Anwendung deutliche halluzinogene Wirkungen. Neben diesen Substanzgruppen mit relativ spezifischen Effekten auf bestimmte psychische Funktionen müssen noch verschiedene andere Arzneimittelgruppen erwähnt werden, die auch alle zentral wirksam sind, deren primäre Indikationen aber nicht auf Veränderungen psychischer Funktionen abzielen. Auch hier sind die Übergänge fließend, z. B. können viele Benzodiazepinderivate sowohl als Tranquilizer wie auch als Hypnotika eingesetzt werden, Analgetika vom Opiattyp zeigen auch stimmungsaufhellende euphorisierende Effekte, bestimmte Antikonvulsiva wie das Carbamazepin, die Valproinsäure und das Lamotrigin haben heute auch Indikationen als Psychopharmaka (Phasenprophylaktika)
585 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
Anti-Parkinson-Substanzen wie das L-Dopa können
im Sinne von psychoseähnlichen Nebenwirkungen in psychische Funktionen eingreifen. Obwohl die vorliegende Klassifikation (⊡ Tab. 26.1) sich in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt und im Prinzip bewährt hat, hat sie auch ihre Grenzen. Die indikationsspezifische Einordnung vernachlässigt das oft sehr breite therapeutische Wirkungsspektrum der einzelnen Substanzen (z. B. den Einsatz von Neuroleptika als Antipsychotika oder als Tranquillanzien oder sogar als Schlafmittel). Dies führt dazu, dass viele Psychopharmaka in mehr als eine dieser Substanzklassen eingeordnet werden können bzw. eingeordnet werden müssten. Ein wichtiges Beispiel ist hier die aktuelle Differenzialtherapie der Angsterkrankungen. Hier werden heute Substanzen aus praktisch allen Psychopharmakaklassen eingesetzt, wobei Antidepressiva sogar die Hauptrolle spielen.
26.2
Praktische Pharmakokinetik
Die Entscheidung zum Einsatz eines bestimmten Medikaments wird zunächst von seinen pharmakodynamischen Eigenschaften bestimmt, d. h. der qualitative Aspekt der erwünschten Wirkung steht initial im Vordergrund. Quantitative Fragen schließen sich an, denn die Substanz sollte in genau richtiger Konzentration an den Wirkort, im Falle der Psychopharmaka das zentrale Nervensystem (ZNS), gebracht werden. Ist die Konzentration am Wirkort zu hoch, können unerwünschte Arzneimittelwirkungen dominieren, ist die Konzentration zu niedrig, wird die therapeutische Wirkung nicht ausreichend sein. Gute Kenntnisse der pharmakokinetischen Kerndaten einer eingesetzten Substanz sind die Voraussetzung dafür, dass der richtige Medikamenteneffekt in richtiger Intensität zur richtigen Zeit in ausreichender Wirkdauer mit einem Minimum an unerwünschten Wirkungen erreicht wird. Im vorliegenden Kapitel ist keine allgemeine Einführung in die Grundlagen der Pharmakokinetik intendiert. ⊡ Abb. 26.1. Schematische Darstellung eines Plasmaspiegelverlaufes nach oraler Applikation
Es soll nur versucht werden, praxisrelevante pharmakokinetische Basisdaten als Voraussetzung einer rationalen Therapie mit Psychopharmaka aufzuzeigen.
26.2.1
Resorption, Verteilung und Elimination
Die Pharmakokinetik beschreibt den Zeitverlauf der Wirkstoffkonzentration im Organismus. Wünschenswert wäre die Kenntnis der Wirkstoffkonzentration am Wirkort (ZNS). Dies ist beim Menschen nicht möglich; die Wirkstoffkonzentration kann nur im Blut ermittelt werden. Trotz dieser Limitierung sind pharmakokinetische Informationen wichtig und können für eine Therapie mit Psychopharmaka dienlich sein. Ein typischer Blutspiegelverlauf nach oraler Applikation ist in ⊡ Abb. 26.1 gezeigt. Nach Einnahme nimmt der Blutspiegel der Substanz mit der Zeit langsam zu, erreicht bei ausreichender Dosis den minimalen therapeutischen Bereich (Invasionsphase), liegt dann für eine bestimmte Zeit im therapeutisch benötigten Plasmakonzentrationsbereich und wird danach durch Eliminationsprozesse langsam abgebaut (Evasionsphase). Die Evasionsphase ist somit für die Dauer, in der sich das Medikament in einem therapeutisch erwünschten Plasmakonzentrationsbereich befindet, von essenzieller Bedeutung.
Evasionsphase Bei vielen Substanzen kann sich die Evasionsphase aus verschiedenen Prozessen zusammensetzen (⊡ Abb. 26.2). Wie hier am Beispiel einer intravenösen Applikation gezeigt, kann in der halblogarithmischen Darstellung der Abbau der Plasmakonzentration in 2 lineare Prozesse zerlegt werden, eine α-Phase mit kurzer und eine β-Phase mit längerer Zeitkonstante. α-Phase. Die α-Phase, die im gewählten Beispiel sehr deutlich ausgeprägt ist, wird meist von Umverteilungsphänomenen bestimmt. Der Wirkstoff erscheint zunächst
26
586
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
von Rückverteilungsphänomenen (aus dem Gehirn in periphere Gewebe) bestimmt wird und nicht etwa von einer terminalen Eliminationsgeschwindigkeit (β-Phase), die z. B. beim Diazepam mehrere Tage betragen kann. Neben der Narkose spielen aber solche Umverteilungsphänomene bei sehr vielen Psychopharmaka eine Rolle. Sie äußern sich immer dann, wenn nach akuter (parenteraler, aber auch oraler) Applikation initial sehr ausgeprägte, zentrale erwünschte oder auch unerwünschte Wirkungen gesehen werden, die sehr viel schneller sistieren, als man es von der pharmakokinetischen Eliminationsgeschwindigkeit her erwarten würde.
26
⊡ Abb. 26.2. Plasmaspiegelverlauf nach i.v.-Applikation in halblogarithmischer Auftragung. Die Plasmaspiegelverlaufskurve kann in 2 lineare Phasen zerlegt werden: α-Phase, bei der die Abnahme des Plasmaspiegels durch Verteilung ins Gewebe bestimmt ist, und β-Phase, die die terminale Elimination beschreibt. Die Zeit, in der in der β-Phase der Plasmaspiegel um die Hälfte abnimmt, wird als Eliminationshalbwertszeit (t1/2) bezeichnet
β-Phase. Die eigentliche terminale Eliminationsphase (βPhase, ⊡ Abb. 26.2) wird nur bei wenigen Psychopharmaka durch eine direkte renale Elimination bestimmt (z. B. Lithium). Bei den meisten Substanzen ist eine Metabolisierung in der Leber ( Kap. 26.2.2) der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Evasion (⊡ Abb. 26.3; ⊡ Tab. 26.2).
Verteilung in sehr hoher Konzentration im Blut und wird dann in Abhängigkeit von der Durchblutung in die einzelnen Organe verteilt. Dies bedeutet, dass in der initialen Phase der sehr hohen Plasmakonzentration der Wirkstoff v. a. in den Organen, die sehr stark durchblutet werden, angereichert wird. Dies gilt besonders für das ZNS. Da in diesen Organen die Substanzkonzentration mit abfallendem Plasmaspiegel wieder abnimmt, verhält sich hier der Konzentrationsverlauf ähnlich wie der Plasmaverlauf. Dieses Phänomen nutzt man z. B. bei der i.v.-Narkose aus (Barbiturate oder Benzodiazepine), wo die Determinierung der Bewusstseinseintrübung ausschließlich
Nach Erscheinen in der Blutbahn verteilt sich der Wirkstoff über den Organismus. Während in der Initialphase die Durchblutung der einzelnen Gewebe eine wichtige determinierende Größe ist (s. oben), bestimmen im Weiteren die Größe des jeweiligen Gewebekompartiments und die Fettlöslichkeit des Arzneimittels (Lipophilie) die Verteilung. Dies ist schematisch in ⊡ Abb. 26.4 gezeigt. Hat der Wirkstoff eine ausreichende Affinität zu Gewebestrukturen (das gilt für die meisten gut fettlöslichen Arzneistoffe), wird er sich nicht nur gleichmäßig in alle Kompartimente verteilen, sondern sich auch in Gewebestrukturen anreichern. Hierbei spielen quantitativ gesehen die
⊡ Abb. 26.3. Schema der wesentlichen hepatischen Eliminationsschritte von Citalopram und Imipramin (Nach Eckert et al. 1998)
587 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
⊡ Tab. 26.2. Unterteilung der hepatischen Eliminationsprozesse und ihre Veränderung im Alter. (Nach Müller 1997 b) Phase-I-Reaktionena (oft im Alter relevant verlangsamt)
Phase-II-Reaktionena (meist im Alter nicht relevant verändert)
Hydroxylierung
Glukuronidierung
N-Desalkylierung
Sulfatierung
Nitro-Reduktion
Azetylierung
Sulfoxidierung
–
Hydrolyse
–
Phase-I-Reaktionen beinhalten direkte chemische Veränderungen am Wirkstoffmolekül und erfordern andere metabolisierende Enzyme als die Phase-II-Reaktionen, bei denen gut wasserlösliche Moleküle an aktive Gruppen des Wirkstoffmoleküls angekoppelt werden. a
Plasmaproteine nur eine geringe Rolle. Aus dem Verteilungsschema wird ersichtlich, dass der Wirkstoff zum größten Teil in dem großen Kompartiment der Gewebeproteine gebunden sein wird. Während dieses Verteilungsprozesses steht die freie Konzentration im Plasma mit den freien Konzentrationen des Wirkstoffs in anderen Kompartimenten im Gleichgewicht. In Kompartimenten, in denen anreichernde Proteine fehlen (z. B. Liquor), kann die Gesamtkonzentration
der freien Konzentration in anderen Geweben entsprechen. Wichtig an dem Verteilungsschema (⊡ Abb. 26.4) ist die Tatsache, dass bezogen auf den Gesamtorganismus das Plasma nur ein sehr kleines Kompartiment darstellt. Besitzt der Wirkstoff zudem eine hohe Affinität zu Gewebekomponenten, erklärt das Verteilungsschema sehr deutlich, warum für Wirkstoffe mit hoher Gewebebindung nur der geringste Teil der verabreichten Dosis im Plasma als Plasmaspiegel nachweisbar ist. Solche Stoffe haben als pharmakokinetische Kenngröße ein sehr großes Verteilungsvolumen (⊡ Tab. 26.3). Je größer das Verteilungsvolumen, desto kleiner ist der Anteil der applizierten Dosis, der sich im Plasma befindet. Die Tabelle zeigt, dass sehr viele Psychopharmaka extrem große Verteilungsvolumina haben, d. h. bei diesen Substanzen liegt nur ein Bruchteil der verabreichten Dosis im Plasma in freier oder gebundener Form vor.
⊡ Tab. 26.3. Verteilungsvolumina (VD) und terminale Eliminationshalbwertszeiten (β-Phase; t1/2) wichtiger Psychopharmaka am Menschen Wirkstoff
VD [l/kg]
t1/2 [h]
Amisulprid Amitriptylin Carbamazepin Chlorpromazin Citalopram Clonazepam Desipramin Diazepam Doxepin Haloperidol Imipramin Lithium Lorazepam Nitrazepam Nortriptylin Olanzapin Oxazepam Phenytoin Quetiapin Sertralin Reboxetin Risperidon Temazepam Triazolam Venlafaxin
5 14 1,4 21 14 3 34 1,1 20 18 23 0,8 1,3 1,9 18 15 1,0 0,6 10 25 32 1 1,1 1,1 6
12 16 15 30 33 23 18 43 17 18 18 22 14 26 31 7 8 6–24 4 30 12 4 8 2,3 4
a VD
⊡ Abb. 26.4. Schematische Darstellung der Verteilung eines plasmaproteingebundenen Pharmakons im Organismus. Über die freie Konzentration stehen alle Verteilungsräume miteinander in Verbindung. Im Liquor entspricht oft die Gesamtkonzentration der freien Konzentration
errechnet sich aus der Formel VD D/CO, wobei D die i.v. gegebene Dosis ist und C die fiktive Ausgangskonzentration im Plasma (unter der Annahme einer vollständigen Verteilung der Dosis ohne schon stattfindende Elimination). Eine Substanz, die sich nur im Blutwasserraum verteilen würde, hätte in diesem System ein Verteilungsvolumen von 0,06. Das Verteilungsvolumen von Phenytoin (0,6) entspricht ungefähr dem Körperwasserraum. Verteilungsvolumina >1 sind nur möglich, wenn sich die Substanz in bestimmten Organen in wesentlich höherer Konzentration befindet als im Plasma.
26
588
26
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Elimination
First-pass-Metabolismus. Ein Sonderfall der Elimination
Sind die Umverteilungsprozesse abgeschlossen, wird die Abnahme des Plasmaspiegels ausschließlich von den Eliminationsprozessen getragen. Aus der linearen Komponente der β-Phase lässt sich die terminale Eliminationshalbwertszeit (t1/2) errechnen. Sie gibt an, in welcher Zeit sich eine vorhandene Plasmakonzentration in der β-Phase (Eliminationsphase) um die Hälfte reduziert. Die terminale Eliminationshalbwertszeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden Plasmakonzentration. Sie ist die wichtigste pharmakokinetische Kenngröße eines bestimmten Arzneimittelstoffes (⊡ Tab. 26.3) beim Menschen. Sie gibt Auskunft darüber, wie schnell der Wirkstoff aus dem Organismus eliminiert wird. Sie kann natürlich von Individuum zu Individuum schwanken und sich v. a. bei pathologischen Veränderungen der Eliminationsorgane deutlich verlängern. Zusammen mit der Dosis ist sie die wesentliche Determinante für die Höhe des zu erreichenden Arzneistoffspiegels bei einer Dauermedikation ( Kap. 26.2.3).
ist die sog. präsystemische hepatische Elimination oder auch als »First-pass-Metabolismus« bezeichnet. Hierunter versteht man das Phänomen, dass der venöse Abfluss des Magen-Darm-Trakts zunächst über die Pfortader in die Leber gelangt (⊡ Abb. 26.5). Haben die Mukosa des Dünndarms oder die Leber nun eine besonders hohe Kapazität, einen bestimmten Wirkstoff zu metabolisieren, so wird schon bei der ersten Passage ein Großteil des aus dem Magen-Darm-Trakt resorbierten Wirkstoffs metabolisiert und damit eliminiert. Dies bedeutet, dass nur ein kleiner Teil der oral applizierten Dosis systemisch zur Verfügung steht. Ein ausgeprägter First-pass-Metabolismus ist der wichtigste Grund für eine geringe orale Bioverfügbarkeit. Er erklärt, dass eine Substanz trotz 100%iger Resorptionsquote nur eine orale Bioverfügbarkeit von wenigen Prozent aufweisen kann. Viele Psychopharmaka, besonders Antidepressiva und Neuroleptika weisen einen ausgeprägten First-pass-Metabolismus und eine schlechte orale Bioverfügbarkeit auf. Natürlich kann eine niedrige Bioverfügbarkeit durch eine entsprechend höhere orale Dosis ausgeglichen werden. Da aber die Bioverfügbarkeit direkt von interindividuellen oder auch alters- bzw. krankheitsbedingten Schwankungen der hepatischen Elimination beeinflusst wird, ist die interindividuelle Varianz der Plasmaspiegel bei Substanzen mit schlechter Bioverfügbarkeit besonders ausgeprägt. Die Pfortader wird umgangen bei der Resorption aus der Mundhöhle oder aus dem Rektum (⊡ Abb. 26.5). Da
Cave Die pharmakokinetische Eliminationshalbwertszeit darf jedoch nicht mit einer biologischen Halbwertszeit oder einer Halbwertszeit der therapeutischen Wirkung verwechselt werden. Diese pharmakodynamischen Größen können, müssen aber nicht mit der pharmakokinetischen Eliminationshalbwertszeit übereinstimmen.
⊡ Abb. 26.5. Venöser Abfluss aus Mundhöhle und Gastrointestinaltrakt. Ein hoher First-pass-Metabolismus nach oraler Applikation ist immer dann zu sehen, wenn der Wirkstoff schon während der Resorption in der Dünndarmwand oder bei der 1. Passage durch die Leber (Pfortader) zu einem hohen Prozentsatz metabolisiert wird. Neben ungenügender Resorption ist der First-passMetabolismus der Hauptgrund für schlechte orale Bioverfügbarkeit
26
589 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
aber die Resorption bei diesen Applikationsformen aus anderen Gründen unsicher ist, sind bukkale bzw. rektale Arzneiformen für die meisten Psychopharmaka keine Alternative.
formation in Phase I oft erst die Voraussetzung für die Konjugation in Phase II und für die nachfolgende Elimination des Pharmakons (⊡ Abb. 26.3).
Zytochrom P-450 26.2.2
Hepatischer Metabolismus
Da lipophile Substanzen wie die meisten Psychopharmaka nach der glomerulären Filtration in den Nierentubuli weitgehend wieder rückresorbiert werden, können sie nur langsam – wenn überhaupt – renal ausgeschieden werden. Um die Elimination fettlöslicher Stoffe zu beschleunigen, verwendet der Körper Enzymsysteme, die diese Stoffe in hydrophilere und somit leichter renal ausscheidbare Substanzen umwandeln. Die Metabolisierung von Fremdsubstanzen erfolgt v. a. in der Leber und nur in untergeordnetem Maße in anderen Organen (z. B. Darm, Niere, Lunge). Die an der Biotransformation beteiligten Enzyme sind weitgehend substratunspezifisch. Man unterscheidet die strukturgebundenen Enzyme, die hauptsächlich in der Membran des endoplasmatischen Retikulums (z. B. Monooxygenasen, Glukuronyltransferasen) vorkommen, und die strukturungebundenen Enzyme, die als lösliche Enzyme im Zytosol vorliegen (z. B. Esterasen, Amidasen; ⊡ Tab. 26.2).
Phase-I- und Phase-II-Reaktionen Als Phase-I-Reaktionen werden Biotransformationsmechanismen bezeichnet, die eine oxidative, reduktive und hydrolytische Veränderung der Pharmakonmoleküle bewirken. Dagegen erfolgt bei Phase-II-Reaktionen eine Konjugation eines Arzneistoffmoleküls bzw. eines aus Phase I entstandenen Metaboliten an körpereigene Substanzen (z. B. aktivierte Glukuronsäure, Glyzin, S-Adenosylmethionin). Somit schafft in vielen Fällen die Biotrans-
In der Phase I sind v. a. Oxidationsreaktionen besonders wichtig. Die weitaus größte Bedeutung für die oxidative Biotransformation von Pharmaka kommt den mikrosomalen Monooxygenasen zu, welche die Hämproteine Zytochrom P-450 enthalten. Die Grundfunktion der Monooxygenasen vom P-450-Typ besteht in der Einführung von molekularem Sauerstoff in das Zielmolekül. Dadurch wird die Wasserlöslichkeit erhöht. Dies bewirkt eine verbesserte renale Ausscheidung und somit eine Verkürzung der Halbwertszeit und häufig, aber nicht zwangsläufig, eine Abnahme der pharmakologischen Wirkung aufgrund der Bildung von Metaboliten mit geringerer Aktivität. Beim Zytochrom P-450 handelt es sich nicht um ein einzelnes Enzym, sondern um eine durch eine Supergenfamilie kodierte Gruppe von Enzymen (CYP-Enzyme; ⊡ Tab. 26.4). Um eine sichere Zuordnung dieser Enzyme zu ermöglichen, wurde eine Nomenklatur entwickelt, die die Enzyme auf der Basis von Homologien der Aminosäuresequenzen in Familien und Subfamilien unterteilt (⊡ Tab. 26.4). Die CYP-Isoenzyme können in 2 Klassen eingeteilt werden: mitochondriale und mikrosomale Enzyme. Die CYP-Enzyme der inneren Mitochondrienmembran sind bei der Steroidsynthese von Bedeutung (Familien 7, 11, 17, 19, 21, 27), während die Enzyme in den mikrosomalen Membranen (Familien 1, 2, 3, 4) Xenobiotika wie z. B. die Arzneistoffe metabolisieren. In der letzten Gruppe zählen CYP1A2, CYP2C9/10, CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A3/4 zu den wichtigsten Isoenzymen (Nebert et al. 1991), die sich allerdings in ihrer Substratspezifität erheblich unterscheiden (⊡ Tab. 26.5).
⊡ Tab. 26.4. Klassifizierung der humanen CYP-Enzyme. (Mod. nach Preskorn u. Magnus 1994) CYP 1
2
3
4
1A1 1A2
2A6 2A7 2B6 2C8 2C9/10 2C18 2C19 2D6 2E1 2F1
3A3/4 3A5 3A7
4A9 4B1 4F2 4F3
7
11 11A1 11B1 11B2
17
19
21
27
21A2
Klassifizierungsschlüssel: erste arabische Zahl = Familie; Buchstabe = Subfamille; zweite arabische Zahl = individuelles Gen innerhalb der Sübfamilie.
26
Phenobarbital
Rifampicin
Rifampicin
Antiepileptika S-Mephenytoin Fluvoxamin
Barbiturate Hexobarbital β-Blocker Propranolol
Benzodiazepine Diazepam
Phenobarbital
Verschiedene S-Warfarin Phenytoin Tolbutamid
Fluoxetin Norfluoxetin
Paroxetin Chinidin
Quetiapin Perphenazin Trifluperidol
Carbamazepin Dexamethason Phenytoin Rifampicin
Statine Lovastatin Ketoconazol Itraconazol
Benzodiazepine Alprazolam Midazolam Triazolam Diazepam
Opiate Kodein Dextramethorphan
Antipsychotika Clozapin Risperidon Haloperidol Chlorpromazin Remoxiprid Fluphenazin
Andere Antidepressiva Venlafaxin Mianserin Maprotilin m-CPP-Metabolit von Nefazodon
Andere Antidepressiva Nefazodon Desmethyl-Venlafaxin
Antiarrhythmika Flecainid Propafenon
Imipramina Amitriptylina Clomipramina
Propranolol Timolol Metoprolol
Desimpraminb Notriptylinb Amitriptylinb Imipraminb Clomipraminb
Phenobarbital Johanniskrautextrakt
Erythromycin Nefazodon
Antiarrhythmika Propafenon Lidocain Chinidin Antipsychotika Clozapin Risperidon Quetiapin Sertindol Haloperidol Perazin Perphenazin
Antikonvulsiva Carbamazepin
Terfenadin Astemizol
Analgetika Paracetamol Cimetidin Grapefruitsaft
Steroide Kortisol Estradiol Dexamethason Testosteron
Makrolidantibiotika Erythromycin
Immunsuppressiva Ciclosporinb
Diltiazem Verapamil Nifedipin
Kalziumblocker
β-Blocker
TZA
Antihistaminika
TZA
Sertralin? N-Desmethylcitalopram
29%
CYP3A3/4
SSRI Sertralin Norfluoxetin und Fluoxetin (beide erst in höheren Konzentrationen)
SSRI Paroxetin Fluoxetin Norfluoxetin
1,5%
CYP2D6
N-Demethylierung ; b Hydroxylierung; ? Metabolismus noch nicht vollständig geklärt; m-CPP: meta-Chlorophenylpiperazin.
Omeprazol Phenobarbital Phenytoin Rifampicin Tabakrauch
Potenter Induktor
a
Fluvoxamin Cimetidin
Verschiedene Koffein Theophyllin Paracetamol R-Warfarin Tacrin
Antipsychotika Clozapin Haloperidol Olanzapin β-Blocker Propranolol
Andere Antidepressiva MAOH: Moclobemid
Clomipramina Imipramina
Amitriptylina Imipramina Clomipramina
TZA
Nichtsteroidale Antirheumatika Diclofenac Piroxicam Naproxen Ibuprofen
TZA
CYP2C19
SSRI Citalopram Fluoxetin (erst in höherer Konzentration)
CYP2C 18%
CYP2C9/10
SSRI Fluvoxamin?
13%
CYP1A2
Potenter Inhibitor
Substrat
(Enzymgehalt in der Leber)
Isoenzym
⊡ Tab. 26.5. Die wichtigsten am Metabolismus von Arzneistoffen beteiligten Zytochrom-P 450-Isoenzyme und ihre Substrate sowie potente Inhibitoren bzw. Induktoren. (Mod. nach Eckert et al. 1998; s. auch Preskorn 1996, Riesenman 1995 und Lane 1996)
590 Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
591 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
Arzneimittelinteraktionen. Die Zuordnung der Substrate
zu den Enzymen hat erhebliche Konsequenzen für das Interaktionspotenzial des Arzneistoffes: Wenn 2 Arzneistoffe über dasselbe Enzym verstoffwechselt werden, besteht die Möglichkeit einer metabolischen Interaktion. Insbesondere die Kombination eines Substrates mit einem Enzyminhibitor bzw. -induktor führt zu erheblichen Veränderungen der Plasmaspiegelkonzentation des Substrates: Im Falle des Inhibitors erhöht sich der Substratplasmaspiegel infolge eines verringerten Metabolismus; im Falle des Induktors wird das Substrat schneller abgebaut und die Substratplasmaspiegel können unter den therapeutischen Bereich absinken. Es sollte ferner nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Nahrungsmittel solche Interaktionen bewirken können, so ist z. B. Grapefruitsaft ein Inhibitor des CYP3A/4. Viele andere Nahrungsmittelinteraktionen sind allerdings bisher nur sehr wenig untersucht. ⊡ Tab. 26.5 zeigt die wichtigsten am Stoffwechsel von Arzneimitteln beteiligten CYP-Enzyme und ihre Substrate. Erbfaktoren als Ursache variabler Aktivität von CYP-Enzymen. Etwa 8–10% unserer Bevölkerung besitzen nur eine
Im Fall der Substanz Temazepam wird kurz nach abendlicher Einnahme ein ausreichender substanzspezifischer Plasmaspiegel aufgebaut, der sich zunächst durch Umverteilungsphänomene, dann aber determiniert durch die β-Phase der Elimination (t1/2 = 8 h) langsam wieder abbaut. 24 h nach der Einnahme von Temazepam ist nur noch ein minimaler Plasmaspiegel vorhanden, so dass eine neue Einnahme in den folgenden Nächten nicht zu wesentlich anderen Plasmaspiegelverläufen führt. Etwas anders sieht es beim Nitrazepam aus, wo bedingt durch die wesentlich längere Eliminationshalbwertszeit von (t1/2 = 26 h) 24 h nach Einnahme der ersten Dosis der Plasmaspiegel nicht vollständig gesunken ist. Deshalb kommt es bei weiterer Einnahme in den folgenden Nächten zu einer deutlichen Kumulation, d. h. es bildet sich mit der Zeit ein zunehmender Nitrazepamplasmaspiegel tagsüber aus; nach etwa 5 Eliminationshalbwertszeiten (ca. 5 Tagen) wird ein Fließgleichgewicht (»steady state«) erreicht. Diese Kumulation ist bei der Substanz N-Desalkylflurazepam (einer der hypnotisch wirksamen Metaboliten des Flurazepams) infolge einer sehr langen Eliminationshalbwertszeit (t1/2 = 50 h) sehr stark ausgeprägt. Das
geringe bis keine Aktivität von CYP2D6. Hier liegt ein genetischer Polymorphismus vor. Dieser Defekt wird autosomal-rezessiv vererbt. Personen mit diesem Merkmal sind langsame Metabolisierer oder »poor metabolizer« im Unterschied zu schnellen Metabolisierern oder »extensive metabolizer«. Nur zu einem geringeren Ausmaß (ca. 3%) spielt der CYP2C19-Polymorphismus eine Rolle in unserer Bevölkerung. Bei den orientalischen Völkern kommt dem CYP2C19-Defekt jedoch eine sehr viel größere Bedeutung zu (ca. 20%). bei der schwarzen Bevölkerung sind nur ungefähr 4% von einem CYP2D6-Defekt betroffen. In Deutschland sind 8–10%, somit ungefähr 6–8 Mio. Menschen Träger eines CYP2D6-Defekts. Diese genetische Variante ist demnach bei uns v. a. für interindividuelle Variabilität verantwortlich.
26.2.3
Dosis, Dosierungsintervall und Eliminationshalbwertszeit
Einmalanwendung Der in ⊡ Abb. 26.1 gezeigte Plasmaspiegelverlauf einer Substanz nach oraler Applikation und die damit verbundene Wirkungsdauer gilt nur für den kleinen Teil der therapeutischen Anwendungen von Psychopharmaka, bei denen eine Einmalwirkung ausgenutzt werden soll. Wichtigstes Beispiel ist der Einsatz eines Medikaments als Schlafmittel. Die Bedeutung von Dosis und Eliminationshalbwertszeit bei einer solchen Einmalanwendung ist in ⊡ Abb. 26.6 für verschiedene Benzodiazepinhypnotika gezeigt (Breimer 1984).
⊡ Abb. 26.6. Plasmakonzentrationsverlauf von Desalkylflurazepam (aktiver Metabolit von Flurazepam), Nitrazepam und Temazepam bei abendlicher Verabreichung als Hypnotikum. Bedingt durch die unterschiedliche Halbwertszeit kommt es bei täglicher Einnahme zu einer unterschiedlich ausgeprägten Kumulation. (Nach Breimer 1984)
26
592
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Fließgleichgewicht wird hier erst nach ca. 10 Tagen erreicht.
scheiden sich bei beiden Dosierungsschemata, bei denen ja die gleiche tägliche Dosis gegeben wurde, nicht.
Dauermedikation ist das Erreichen eines ausreichend stabilen Wirkstoffspiegels Ziel der Dauermedikation. Dabei sind Dosierungsintervall, Dosis und Eliminationshalbwertszeit zu beachten. Die Auswirkung unterschiedlicher Dosierungsintervalle ist in ⊡ Abb. 26.7 dargestellt. Hierbei wird in beiden Fällen die gleiche Dosis gegeben; das Medikament hat eine t1/2 von 20 h. Im Fall der gestrichelten Kurve wird die Gesamtdosis auf einmal genommen, und im Fall der durchgezogenen Kurve wird die Gesamtdosis aufgeteilt in 3 gleiche Einzeldosen. Das Dosierungsintervall beträgt damit im ersten Fall 24 h, im zweiten Fall 8 h. Bei Mehrfachdosierung mit der gleichen Dosis wird das Fließgleichgewicht der Plasmakonzentration nach ungefähr 5 Eliminationshalbwertszeiten erreicht. Dies trifft im vorliegenden Fall für beide Dosierungsschemata zu, Maxima und Minima bleiben nach ca. 5 Tagen konstant. Der wesentliche Unterschied beider Applikationsarten sind aber die Schwankungen zwischen maximalen und minimalen Plasmaspiegeln innerhalb des Dosierungsintervalls. Die mittleren Plasmaspiegel im Fließgleichgewicht unter-
Dosishöhe. Die Höhe des im Fließgleichgewicht zu erreichenden mittleren Plasmaspiegels wird direkt determiniert von der Dosis. In ⊡ Abb. 26.8 wird ein Medikament bei gleichem Dosierungsintervall in einem Fall in der doppelten Dosierung, im anderen Fall in einfacher Dosierung appliziert. Der Zeitverlauf bei Erreichen des Fließgleichgewichts ist identisch, aber wie zu erwarten, führte die doppelte Dosis zu einem doppelt so hohen Fließgleichgewicht. Nimmt man eine reziproke Dosisänderung vor, erhöht man die niedrige Dosis bzw. erniedrigt die hohe Dosis, dauert es wiederum 5 Eliminationshalbwertszeiten, bis sich in beiden Fällen das neue Fließgleichgewicht eingestellt hat. Nach Absetzen der Dosis fällt in beiden Fällen der Plasmaspiegel mit der Eliminationshalbwertszeit der Substanz von 36 h ab. Dieses Beispiel macht deutlich, dass über die Dosis einer bestimmten Substanz am individuellen Patienten eine Veränderung des Plasmaspiegels erreicht werden kann und dass nach jeder Dosisänderung wiederum 5 Eliminationshalbwertszeiten benötigt werden, bis sich ein neues Fließgleichgewicht eingestellt hat.
⊡ Abb. 26.7. Zeitverlauf der Plasmaspiegel bei Mehrfachdosierung im unterschiedlichen Intervall. In beiden Fällen wird die gleiche orale Tagesdosis eines Medikamentes mit einer Eliminationshalbwertszeit
von 20 h gegeben, im Fall der gestrichelten Kurve als Einmaldosis (Dosierungsintervall tint = 24 h) und im Fall der durchgezogenen Linie aufgeteilt in 3 Einzeldosen (tint = 8 h)
Dosierungsintervall. Bei den meisten anderen Substanzen
26
593 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
⊡ Abb. 26.8. Plasmaspiegelverlauf eines Medikamentes (t1/2 = 36 h) nach oraler Applikation im Dosierungsintervall von 8 h bei Gabe zweier unterschiedlicher Dosen: einfache Dosis (durchgezogene Linie) und
Eliminationshalbwertszeit. Im interindividuellen Ver-
gleich wird für das gleiche Medikament die Höhe des im Fließgleichgewicht zu erreichenden Plasmaspiegels auch sehr stark von der individuellen Eliminationshalbwertszeit bestimmt. Dies wird in ⊡ Abb. 26.9 dargestellt. Hier ⊡ Abb. 26.9. Verlauf des Plasmaspiegels eines Medikamentes nach Beginn der Einnahme einer fixen Tagesdosis (2-mal täglich, 12 h Intervall) bei einem jungen Patienten mit einer hepatischen Eliminationshalbwertszeit (t1/2) des Medikamentes von 24 h und bei einem alten Patienten mit einer Verlängerung von tl/2 auf 48 h. Beim alten Patienten wird durch diese Dosierung ein doppelt so hoher Plasmaspiegel als beim jungen Patienten erreicht. Darüber hinaus ist beim alten Patienten noch die Zeit bis zur Einstellung des "steady state" (Fließgleichgewichts) verdoppelt (ca. 10 Tage im Vergleich zu 5 Tagen beim jungen Patienten) und auch die Zeit verlängert, die nach Absetzen der Einnahme benötigt wird, bis der Plasmaspiegel sich auf annähernd 0 eingestellt hat
doppelte Dosis (gestrichelte Linie). Nach 6 Tagen wird das Dosisschema gerade getauscht
wurde die gleiche Dosis eines Medikaments einem jungen und einem alten Patienten verabreicht. Aufgrund einer Einschränkung der metabolischen Kapazität der Leber ist beim alten Patienten die Eliminationshalbwertszeit des Medikaments verdoppelt. Obwohl die gleiche Dosis gege-
26
594
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
ben wird, wird beim alten Patienten ungefähr der doppelte Plasmaspiegel im Fließgleichgewicht erreicht. Darüber hinaus benötigt der alte Patient ebenfalls 5 Eliminationshalbwertszeiten zur Erreichung des Fließgleichgewichts, was im vorliegenden Fall bedeutet, dass der maximale bei dieser Dosis zu erreichende Plasmaspiegel beim älteren Patienten erst nach 10 Tagen erreicht wird im Vergleich zu 5 Tagen beim jungen Patienten. Der möglicherweise zu hohe Plasmaspiegel beim alten Patienten kann problemlos durch Gabe einer geringeren Dosis reduziert werden (⊡ Abb. 26.8). Keinen Einfluss hat der Therapeut aber auf den Zeitverlauf bis zum Eintreten des Fließgleichgewichts, das sich bei jeder Dosisänderung neu einstellen muss. ! Im interindividuellen Vergleich wird die Höhe des Plasmaspiegels wesentlich von der Eliminationshalbwertszeit determiniert.
26.2.4
Önanthat
Depotarzneiformen
Durch eine tägliche Dauermedikation können mehr oder weniger gleichmäßige Plasmaspiegel über längere Zeit aufrechterhalten werden. Ist die Compliance der Patienten schlecht, stellt sich oft die Frage nach einer Depotarzneiform, die einen gleichmäßigen Wirkstoffspiegel im Organismus über viele Tage mit einer einmaligen Applikation gewährleisten soll. Dieses Problem stellt sich in der Psychiatrie v. a. bei der Rezidivprophylaxe schizophrener Psychosen mit Neuroleptika. Hier werden besondere galenische Darreichungsformen benötigt, wie in ⊡ Abb. 26.10a veranschaulicht wird. Die gleiche Dosis des Neuroleptikums Fluphenazin wurde in 3 unterschiedlichen Zubereitungsformen verabreicht. Im einfachsten Falle wird das Fluphenazin als Dihydrochlorid (also nicht als Depot) intramuskulös appliziert. Wie zu erwarten, findet man hier gleich nach Applikation sehr hohe Plasmaspiegel von fast 50 ng/ml, die dann in guter Übereinstimmung mit der Eliminationshalbwertszeit der Substanz (t1/2 = 15 h) exponenziell abfallen. Ein therapeutisch erwünschter Plasmaspiegel im Bereich von 0,5–1 ng/ml wird bei dieser Applikationsform praktisch nur am letzten Tag erreicht. In den ersten Tagen wäre bei dieser Applikationsform aufgrund des sehr hohen Plasmaspiegels mit extremen Nebenwirkungen zu rechnen. Gibt man die gleiche Dosis des Fluphenazins als Depotform (entweder als Önanthat oder als Dekanoat), so wird aus beiden Zubereitungsformen der Wirkstoff langsam freigegeben. Man erhält einen wesentlich gleichmäßigeren Plasmaspiegel über die Zeit. Dieser schwankt beim Önanthat aber immer noch erheblich zwischen einem Wert von ungefähr 3 ng/ml am Tag 3, der dann am Tag 14 auf 1000 2 5000 510 170
84 5 180 110 220 41 2400 >1000 >1000 >1000 154 190 >1000 >1000
SSRI Citalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin Venlafaxin
>1000 143 500 33 220 210
1 14 7 0,7 3 39
5-HTSelektivität
H1Rezeptor
MRezeptor
α1Rezeptor
α2Rezeptor
5-HT2Rezeptor
0,17 5.6 0,003 0,3 0,08 0,3 0,001 0,002 0,01 – 0,01 26 0,02 0,01
1 31 60 3.6 0,2 37 360 2 0,4 0,5 6 350 0,3 >1000
10 37 66 25 23 46 67 570 820 500 37 >>1000 58 >>1000
24 38 100 470 24 32 100 90 34 500 55 36 24 >1000
940 >1000 >1000 2400 >1000 >1000 2700 >1000 73 10 >1000 490 680 >>1000
18 54 350 258 27 150 200 120 7 5 41 7 32 >1000
>1000 590 >1000 110 630 >1000
>1000 >1000 >1000 >1000 380 >1000
>1000 >1000 >1000 >1000 >1000 >1000
>1000 280 >1000 >1000 >1000 >1000
3076 10 71 47 73 5
kein wirksames Antidepressivum, das nicht zumindest auch über die Monoamine wirkt (Berton u. Nestler 2006). Wirkungen im gesamten neuronalen System. Zuneh-
mend wird auch die Möglichkeit diskutiert, dass die antidepressive Wirkung der Antidepressiva nicht solchen spezifischen Prozessen zuzuschreiben ist. So vermuten bereits Paioni et al. (1983), dass vielmehr monoaminerge Synapsen lediglich als besonders günstige Interventionspunkte zur pharmakologischen Beeinflussung neuronaler Systeme zu betrachten sind, und zwar im Sinne eines Anstoßes an einem Punkt mit der Folge einer langsamen Normalisierung des zuvor gestörten Gesamtregulationssystems. Hierfür sprechen die unter allen Antidepressiva nachweisbaren adaptiven Veränderungen in vielen Neurotransmittersystemen ( Kap. 26.3.1) und die Tatsache, dass die primär von den Antidepressiva angestoßenen zentralen Transmittersysteme (Noradrenalin, Serotonin, Dopamin) modulierend viele unterschiedliche anatomische Strukturen oder viele unterschiedliche Funktionsabläufe des ZNS beeinflussen. Auch Stassen et al. (1996) kommen über die Auswertung von Zeitverläufen unter Antidepressiva und Plazebotherapie zu dem Schluss, dass die Antidepressiva eher nur einen physiologisch ablaufenden Normalisierungsprozess beschleunigen.
470 >1000 >1000 >1000 >1000 >1000
Neuordnung statt Defizitregulierung. Dies würde bedeu-
ten, dass weder die akut zu sehenden pharmakologischen Effekte (Aminwiederaufnahmehemmung, MAO-Hemmung) noch die mit einer gewissen Latenzzeit auftretenden adaptiven Veränderungen verschiedener Signaltransduktionsmechanismen direkt neurochemische Defizite der Depression korrigieren, sondern nur Ausdruck einer Neuordnung bestimmter Funktionen der zentralen Neurotransmission darstellen, die letztlich zur depressionslösenden Wirkung beim Patienten führen. Da viele sehr unterschiedliche Substanzklassen (Trizyklika, SSRI, MAO-Hemmer, Johanniskrautextrakt), aber auch Therapiemaßnahmen wie Elektrokrampftherapie (EKT) und Schlafentzug auf der Ebene der adaptiven Veränderungen konvergieren, könnte diese »Neuordnungshypothese« erklären, dass viele pharmakologisch sehr unterschiedliche antidepressive Therapiemaßnahmen klinisch gesehen doch sehr analoge Wirkungen zeigen können. Ein wichtiges Argument für diese Hypothese ist auch die Tatsache, dass diese adaptiven Veränderungen auch im Tierexperiment eine gewisse Latenz zeigen (1–2 Wochen), was wiederum besser mit der verzögert auftretenden antidepressiven Wirkung am Patienten korreliert als die akuten Effekte. Wirkung durch Wiederaufnahmehemmung. Das bioche-
mische Profil der Antidepressiva wird hauptsächlich ab-
26
603 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
geleitet aus den akuten Wirkungen auf die NA- und Serotoninwiederaufnahmehemmung (⊡ Abb. 26.13a, b und ⊡ Tab. 26.8) und den mit einer gewissen Latenz auftretenden adaptiven Veränderungen bestimmter zentraler Signaltransduktionsmechanismen (⊡ Abb. 26.13a, b und ⊡ Tab. 26.9). Wir unterscheiden somit zwischen: Selektiven NA-Wiederaufnahmehemmern (z. B. Maprotilin und besonders Reboxetin) bzw. hochselektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (z. B. alle SSRI) und solchen Antidepressiva, die bezüglich dieser beiden Systeme z T. auch über aktive Metabolite einen gemischten Einfluss haben (z. B. Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin und Venlafaxin). Nachdem Nomifensin vor einigen Jahren vom Markt genommen wurde, ist das kürzlich auch für die Depressionsbehandlung zugelassene Bupropion das einzige Antidepressivum, das unter therapeutischen Bedingungen in relevantem Maß die Dopamin-Wiederaufnahme hemmt. Eine weitere Ausnahme bildet Johanniskrautextrakt, der über den wichtigsten Inhaltsstoff Hyperforin etwa gleich stark die synaptosomale Aufnahme von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin hemmt (Müller 2003). Wirkung auf Rezeptoren. Neben diesem Charakteristi-
kum ist aber auch der Effekt der einzelnen Antidepressiva auf die prä- und postsynaptischen Rezeptoren für das Profil zu berücksichtigen, die allerdings weniger für die antidepressive Wirkung (Ausnahme α2-Antagonismus, primärer Wirkungsmechanismus bei Mirtazapin), sondern eher für erwünschte (Sedation, Anxiolyse), beson-
ders aber für die vielen unerwünschten vegetativen Nebenwirkungen der Antidepressiva verantwortlich sind (⊡ Tab. 26.10). Wirkung durch verzögerten Abbau. Auch die reversiblen
und irreversiblen MAO-Hemmer passen in dieses Schema, da sie über eine Hemmung des enzymatischen Abbaus von Noradrenalin und Serotonin letztlich auch zu einer erhöhten synaptischen Verfügbarkeit führen. ⊡ Tab. 26.9. Effekte verschiedener TZA, SSRI und von Venlafaxin auf adaptive Veränderungen der β-adrenergen und 5-HT2-vermittelten Neurotransduktion im Tierversuch. (Nach Müller u. Eckert 1997) β-Downregulation
5-HT-Downregulation
TZA Amitriptylin Clomipramin Desipramin Doxepin Imipramin Maprotilin Mianserin Nortriptylin Trimipramin
+ + + + + + + + −
+ + + + + + + + +
SSRI Citalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin Venlafaxin
− (+) + − + +
− (+) + − + −
Wirkstoff
⊡ Abb. 26.13a,b. Effekte verschiedener Antidepressivagruppen an noradrenergen (a) und serotonergen (b) zentralen Synapsen
604
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.10. Mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) und der Blockade von Neurorezeptoren
26
Wiederaufnahmesysteme
Unerwünschte Wirkungen
NA-Wiederaufnahme
Verstärkung der Effekte von Sympathomimetika Tachykardie RR ↑ Unruhe, Tremor Erektions- bzw. Ejakulationsstörungen
5-HT-Wiederaufnahme
Gastrointestinale Störungen, Übelkeit, Erbrechen Unruhe, Schlafstörungen EPS (?) Appetitminderung, Gewichtsabnahme Kopfschmerzen Sexuelle Funktionsstörungen
DA-Wiederaufnahme
Psychomotorische Aktivierung Psychoseauslösung bzw. -verstärkung Anti-Parkinson-Wirkung
Neurorezeptoren M-
Trockener Mund Verschwommenes Sehen, Akkommodationsstörungen Sinustachykardie Verstopfung Harnretention, Miktionsstörungen Gedächtnisstörungen
H1
Sedation, Müdigkeit, Schläfrigkeit Verstärkung anderer zentral dämpfender Substanzen Gewichtszunahme (?)
α1
D2
EPS Prolaktin ↑ Sexuelle Funktionsstörungen
5-HT2
Appetitzunahme, Gewichtszunahme RR ↓
5-HT3
Antiemetische Wirkung Anxiolyse (?)
vorgeschlagene schematische Darstellung unterscheidet 3 Wirkungsmerkmale (Antriebssteigerung, Stimmungsaufhellung und Anxiolyse) der Antidepressiva, ohne dass es in klinischen Studien gelungen ist, Antidepressiva mit unterschiedlichem Wirkungsprofil für syndromal verschiedene Subgruppen von Depressiven zu klassifizieren. Auch im Hinblick auf die stimmungsaufhellende, also eigentliche antidepressive Kernwirkung, ist es nicht gelungen, quantitative Unterschiede zu belegen. Die unterschiedliche pharmakologische Wirkung steht eher in einer Beziehung zu den typischen Nebenwirkungen als zu den therapeutischen Effekten dieser Präparate. So scheinen im Gegensatz zu den Trizyklika die SSRI weniger sedativ zu wirken und häufiger Schlafstörungen, innere Unruhe und Tremor hervorzurufen. Man geht daher heute davon aus, dass sich die Antidepressiva in ihrer eigentlichen »antidepressiven« Kernwirkung eher nicht unterscheiden, sich aber aufgrund ihrer unterschiedlichen primär sedierenden bzw. schlafanstoßenden Eigenschaften untergliedern lassen (⊡ Abb. 26.14). Nur die sedierenden Substanzen lassen sich bei bestimmten Indikationen als primäre Hypnotika einsetzen, während alle anderen Substanzen nur Schlafstörungen im Rahmen des depressiven Syndroms verbessern.
Wirkung auf das noradrenerge System Die traditionellen Hypothesen gingen davon aus, dass bei depressiven Patienten bzw. bei einer Subgruppe von depressiven Patienten ein Mangel des Neurotransmitters Noradrenalin in noradrenergen zentralen Synapsen besteht. Obwohl sich diese pathophysiologischen Vorstellungen heute nicht mehr halten lassen, ist eine vermehrte synaptische Verfügbarkeit von NA ein wichtiger initialer
Orthostase, RR ↓ Schwindel, Benommenheit, Sedation Reflextachykardie (+ α2-Blockade?) Verstärkung der Wirkung anderer α1-Blocker
Klinische Wirkprofile In Anbetracht der erheblichen Unterschiede in den pharmakologischen Profilen zwischen den Antidepressiva stellt sich zwangsläufig die Frage, inwieweit diese für die klinische Wirkung der Präparate von Bedeutung sind. Von verschiedenen Autoren wurde versucht, diese klinischen Wirkungsprofile der Antidepressiva untereinander abzugrenzen. Die bekannteste von Kielholz (1971)
Amitriptylin Amitriptylinoxid Dosulepin Doxepin Mianserin Mirtazapin Trazodon Trimipramin Trimipramin
Clomipramin Imipramin Lofepramin Maprotilin
Bupropion Tranylcypromin Citalopram Desipramin Escitalopram Fluoxetin Fluvoxamin Moclobemid Moclobemid Nortriptylin Nortriptylin Paroxetin Reboxetin Reboxetin Sertralin Venlafaxin Viloxazin
⊡ Abb. 26.14. Initiale Sedierungspotenz der Antidepressiva
605 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
Wirkungsmechanismus vieler Antidepressiva (Montgomery 1997). Eine Konzentrationserhöhung lässt sich medikamentös auf 3 Wegen erreichen (⊡ Abb. 26.13a): Wiederaufnahmehemmung (»re-uptake-inhibition«).
Verschiedene Antidepressiva hemmen relativ selektiv (z. B. Maprotilin, Reboxetin) oder nichtselektiv (z. B. Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Venlafaxin) die Wiederaufnahme des Noradrenalin in die präsynaptische Nervenendigung.
5-HT1A-Rezeptorenaktivierung. Es gibt auch im serotonergen System 5-HT1A-Autorezeptoren, die analog den α2-Rezeptoren im noradrenergen System die Freisetzung regulieren. Neben dem Anxiolytikum Buspiron gibt es einige Entwicklungssubstanzen (z. B. Gepiron), die als partielle 5-HT1A-Agonisten zwar durch Aktivierung der 5-HT1A-Autorezeptoren die Aktivität der serotonergen Neurone senken, dafür aber postsynaptische 5-HT1A-Rezeptoren direkt aktivieren, und als Antidepressiva geprüft wurden. Hemmung des Abbaus. Der intra- und extraneuronale
Präsynaptische α2-Rezeptorblockade. α2-Rezeptoren re-
gulieren die NA-Konzentration im synaptischen Spalt in dem Sinne, dass sie bei zu hoher Konzentration die Freisetzung und die Syntheserate von Noradrenalin bei den nachfolgenden Nervenimpulsen vermindern. Die Blockade dieser Rezeptoren erfolgt z. B. durch das Antidepressivum Mianserin und noch spezifischer durch Mirtazapin. Im Gegensatz zu Mianserin antagonisiert Mirtazapin α1-Rezeptoren (⊡ Abb. 26.13b) auf serotonergen Neuronen nicht, so dass die erhöhte noradrenerge Aktivität auch zu einer Aktivitätszunahme des serotonergen Systems führt. Hemmung des Abbaus. Der Abbau von Noradrenalin er-
folgt vorwiegend über die Monoaminoxidase-(MAO-)A. Wird diese Substanz durch selektive (Moclobemid) und nichtselektive (Tranylcypromin) MAO-Hemmer inhibiert, verbleibt mehr Noradrenalin in der Synapse bzw. im synaptischen Vesikel. Eine unlimitierte Erhöhung der NA-Konzentration in der Synapse gibt es aber bei keinem dieser synaptischen Eingriffe, da die Syntheserate von NA (auch bei α2-Blockade) durch polysynaptische Rückkopplungsmechanismen abnimmt.
Wirkung auf das serotonerge System Traditionelle Hypothesen gingen auch davon aus, dass bei Depressiven bzw. bei Subgruppen von Depressiven im ZNS ein Serotoninmangel im synaptischen Spalt besteht. Obwohl sich auch diese pathophysiologischen Vorstellungen bis heute nicht belegen lassen, ist die erhöhte Verfügbarkeit von synaptischem Serotonin ein ebenfalls wichtiger initialer Wirkungsmechanismus vieler Antidepressiva. Bei der heute sehr aktuellen Gruppe der SSRI ist es der alleinige initiale Effekt. Auch an der serotonergen Synapse (⊡ Abb. 26.13b) greifen Antidepressiva über unterschiedliche Mechanismen ein (Müller u. Eckert 1997).
Abbau von Serotonin erfolgt auch über die MAO-A, deren Hemmung durch selektive (Moclobemid) und nichtselektive (Tranylcypromin) MAO-Inhibitoren zu einer Konzentrationserhöhung von Serotonin in der Synapse führt. Zentraler α2-Antagonismus. Diese Antagonisten, z. B. das
Mirtazapin, blockieren die noradrenerge Hemmung von serotonergen Neuronen und führen so zu einer erhöhten synaptischen Aktivität des serotonergen Systems. 5-HT2-Antagonismus. Dieser Antagonismus, z. B. auch bei
Mirtazapin, kann über noch nicht abschließend geklärte Verschaltungsmechanismen zu einer Zunahme der neuronalen Serotoninfreisetzung und damit zu einer verstärkten 5-HT1A-Aktivierung führen. Dieser Mechanismus gilt auch für einige atypische Neuroleptika ( Kap. 26.6.2).
Wirkung auf das dopaminerge System Das dopaminerge System (⊡ Abb. 26.15) ist dem noradrenergen System sehr ähnlich (Dopamin ist die Vorstufe von Noradrenalin, der Syntheseweg der beiden Neurotransmitter ist bis zu dieser Stufe gleich!). Die Wirkungen der Antidepressiva auf dieses System und ihre Bedeutung für die Beeinflussung der Depression sind weniger gut untersucht. Die meisten Antidepressiva haben keine relevante Wirkung auf die neuronale DA-Wiederaufnahme. Eine Ausnahme bilden neben dem wegen gravierender Nebenwirkungen aus dem Handel genommenen Nomifensin 2 neuere Substanzen, die ebenfalls als Antidepressiva eingesetzt werden: Amineptin und Bupropion. Nur Buproprion ist bei uns seit kurzem im Handel. Auch Johanniskrautextrakt hemmt die neuronale DA-Aufnahme etwa gleichstark wie die NA-Aufnahme (Müller 2003). Für eine antidepressive Wirkung sind folgende dopaminerge Mechanismen relevant: Hemmung des Abbaus. Beim Menschen wird Dopamin
Wiederaufnahmehemmung (»re-uptake-inhibition«).
Verschiedene Antidepressiva hemmen selektiv (z. B. SSRI) bzw. nichtselektiv (z. B. Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Venlafaxin) die Wiederaufnahme von Serotonin in die präsynaptische Nervenendigung.
intra- und extraneuronal durch MAO-A, hauptsächlich aber durch MAO-B abgebaut. Daher führen v. a. die älteren nichtselektiven MAO-Inhibitoren (Tranylcypromin) auch zu einer vermehrten synaptischen Verfügbarkeit von Dopamin.
26
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Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Abb. 26.15. Dopaminerge Synapse und NeuroleptikaWirkung
Nervenendigung DOPAC Tyr
Tyrosin
DOPAC TH
Mito
Abbau in der Glia zu HVS
MAO
MAOHemmer
Vesikel
DOPA DDC DA
DA
Amphetamin
+
Reserpin DA
Freisetzung D 2 -Rezeptor
Amphetamin Methylphenidat
26
DA
Abbau in Gliazellen zu HVS (via COMT)
Neuroleptika
D 1 -Rezeptor
D 2 -Rezeptor
Postsynaptisches Neuron
Hemmung präsynaptischer Rezeptoren. Neuroleptika blockieren in Dosierungen deutlich unterhalb der antipsychotischen Dosen präferenziell präsynaptische DAD2-Autorezeptoren (⊡ Abb. 26.15), die analog wie in den anderen Systemen die Transmitterfreisetzung regulieren. Die damit verbundene vermehrte synaptische Verfügbarkeit von Dopamin ist die Basis des Einsatzes niedrig dosierter Neuroleptika als Anxiolytika bzw. Antidepressiva (z. B. Fluspirilen, Sulpirid, Thioridazin; Müller 1991). Der gleiche Mechanismus ist wahrscheinlich auch für das atypische Trizyklikum Trimipramin relevant, das ein relativ starker D2-Antagonist ist.
Adaptive Veränderungen bei längerer Anwendung von Antidepressiva Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt, kommen Antidepressiva über eine ganze Reihe unterschiedlicher Primäreffekte im ZNS zur Wirkung. Gemeinsam ist allen diesen akuten Wirkungsmechanismen, dass sie direkt nach Applikation auftreten und damit nicht mit der verzögerten Ausbildung der antidepressiven Wirkung am Patienten übereinstimmen. Man geht daher heute davon aus, dass sekundär zu diesen akuten Beeinflussungen der zentralen Neurotransmission es v. a. auf der Ebene von Rezeptoren und rezeptorgekoppelten Transduktionsmechanismen zu adaptiven Veränderungen als Antwort auf den akuten Eingriff in die zentrale Neurotransmission kommt (⊡ Abb. 26.16), von denen eine Downregulation von Dichte und Empfindlichkeit zentraler β-Rezeptoren am besten untersucht ist (β-Downregulation). Nicht alle Antidepressiva bewirken eine β-Downregulation und viele Antidepressiva bewirken neben der βDownregulation noch zusätzliche adaptive Verände-
rungen im Bereich der serotonergen und auch der dopaminergen Neurotransmission (⊡ Tab. 26.9 und ⊡ Abb. 26.16). Von solchen adaptiven Veränderungen sind möglicherweise auch GABAerge Mechanismen, glutamaterge Mechanismen, die Empfindlichkeit von Glukokortikoidrezeptoren und die Regulation von Transkriptionsfaktoren betroffen. Wir sind heute nicht in der Lage, eine dieser adaptiven Veränderungen ausschließlich mit der antidepressiven Wirksamkeit in Verbindung zu bringen, sondern sehen diese im Tierexperiment bestimmbaren adaptiven Veränderungen eher als Ausdruck einer Anpassung oder funktionellen Plastizität, die möglicherweise ein direktes Korrelat der antidepressiven Wirkung darstellt (Müller 1997 a).
Neue Aspekte im Bereich adaptiver Veränderungen Die Ebene der Transkriptionsfaktoren. Während sich die
bisherigen Untersuchungen zu adaptiven Veränderungen von Mechanismen der Neurotransmission nach chronischer Behandlung mit Antidepressiva im Wesentlichen auf Veränderungen von Dichte und Empfindlichkeit der neuronalen Rezeptoren bzw. der direkt nachgeschalteten sekundären Transmitter (z. B. cAMP) konzentriert hatten, gehen neuere Untersuchungen noch eine oder 2 Stufen weiter auf der Kaskade von Mechanismen, die letztlich zelluläre Funktionen unter dem Einfluss von Signaltransduktionsmechanismen kontrollieren ( Kap. 7). Verschiedene Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass als mögliche Folge der Beeinflussung von sekundären Transmittern verschiedene intrazelluläre Transkriptionsfaktoren unter der chronischen Behandlung mit Antidepressiva
607 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
⊡ Abb. 26.16. Generelle Bedeutung von akuten Effekten und adaptiven Veränderungen für die antidepressive Wirkung
Downregulation
Upregulation
beeinflusst werden (Torres et al. 1998; Malberg u. Blendy 2005; ⊡ Abb. 26.17). In der aktuellen Diskussion nimmt hier v. a. das CREB (»cAMP response element binding protein«) eine ganz besonders wichtige Rolle ein, da hier wieder einmal die Hoffnung auf eine gemeinsame intrazelluläre Endstrecke verschiedener Antidepressivaklassen besteht. Obwohl wir heute davon ausgehen, dass CREB als Folge der intrazellulären Bildung von cAMP aktiviert wird ( Kap. 7), weisen die aktuellen Befunde auf eine Zunahme von CREB unter Antidepressiva hin, obwohl, wie bereits erwähnt, die Konzentration von cAMP eher herunterreguliert wird. Trotz dieser noch offenen Fragen ist die Aktivierung bestimmter Transkriptionsfaktoren, die dann gezielt die Ablesung bestimmter Zielgene und bestimmter Zielproteine aktivieren, immer noch von großer Aktualität. So haben verschiedene Autoren nachweisen können, dass es nach chronischer Antidepressivabehandlung z. B. zur Hochregulation des Transkriptionsfaktores CREB und anderer Transkriptionsfaktoren kommt (Duncan et al. 1993; Hope et al. 1994; Morinobu et al. 1995). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Überexpression von CREB in bestimmten Arealen des Rattenhirns mit einer antidepressiven Wirkung in 2 wichtigen tierexperimentellen Modellen der Depression (Porsolt-Test und erlernte Hilflosigkeit) führte (Chen et al. 2001). Damit ist in einer Zunahme der Aktivität des Transkriptionsfaktors CREB ein möglicher gemeinsamer Nenner vieler Antidepressiva zu sehen. Man sollte aber hier aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt haben und auch diese Befunde mit einer gewissen kritischen Distanz interpretieren, bis diese mögliche gemeinsame Endstrecke und ihre kausale Einbindung in den antidepressiven Wirkungsmechanismus tatsächlich zweifelsfrei belegt ist. Die Ebene der neuronalen Plastizität. Zu den Zielgenen
bzw. Zielproteinen der CREB gehört auch der Wachs-
Downregulation
Downregulation
tumsfaktor BDNF (»brain derived neurotrophic factor«). BDNF stellt im ZNS einen wichtigen Wachstumsfaktor für die neuronale Funktion dar. Unter dem Einfluss von
⊡ Abb. 26.17. Auch in der psychiatrischen Pharmakotherapie eingesetzte Antiepileptika senken über verschiedene Mechanismen die Erregbarkeit zentraler Neurone. Verstärkung der GABA-ergen inhibitorischen Neurotransmission: Benzodiazepine erhöhen die Öffnungswahrscheinlichkeit des GABAA-Rezeptors als ligandengesteuerter Chloridkanal; Valproat und Gabapentin steigern die GABA Synthese aus L-Glutamat; Vigabatrin hemmt die vesikuläre GABA-Aufnahme, Tiagabin den neuronalen GABA-Transporter und Vigabatrin und Valproat hemmen den GABA-Abbau zu Succinatsemialdehyd (SSA). Hemmung von Ionenkanälen: Spannungsabhängige Na+- und Ca2+Kanäle werden in unterschiedlichem Maße von einigen Substanz gehemmt; Lamotrigin ist relativ spezifisch für Na+-Kanäle, während Pregabalin spezifisch an der α2δ-Untereinhait angreift, die verschiedenen spannungsabhängigen Ca2+-Kanälen gemeinsam ist. Reduktion der erregenden glutamatergen Neurotransmission: Lamotrigin scheint besonders gut Na+-Kanäle zu hemmen, die präsynaptisch an glutamatergen Nervenendigungen lokalisiert sind (nicht gezeigt) mit der Folge einer reduzierten Freisetzung des erregenden Neurotransmitters L-Glutamat
26
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Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
BDNF kommt es zu Dendriten- und Synapsenwachstum neuronaler Zellen, ohne den stimulierenden Effekt von BDNF zur Atrophie bis zum Risiko des Zelltodes (⊡ Abb. 26.17). Die Tatsache, dass das BDNF auch ein Zielgen des Transkriptionsfaktors CREB ist, hat nun zu der Spekulation geführt, dass unter der chronischen Behandlung mit Antidepressiva die Konzentration von BDNF verändert sein könnte. Interessanterweise konnte dies bestätigt werden; verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass die BDNF-m-RNA in verschiedenen Hirnarealen, hauptsächlich aber im Hippokampus unter subchronischer Behandlung mit verschiedenen Antidepressiva hochreguliert ist (Duman et al. 1997, 1999; Duman 2004). Zusammen mit aktuellen Befunden aus der modernen bildgebenden klinischen Forschung, in der gewisse Hinweise auf neurodegenerative Veränderungen im Hippokampus depressiver Patienten beschrieben werden, hat dieser Befund zu der sog. neurodegenerativen Hypothese der Depression und der neuroprotektiven Wirkung von Antidepressiva geführt (⊡ Abb. 26.18). Die Perspektive aber auch die Grenzen der aktuellen Datenlage zu dieser Hypothese sind im Folgenden am Beispiel von typischen Effekten im Hippokampus dargestellt, wobei besonders auf die CA3-Region eingegangen wird. Neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung. Un-
ter Normalbedingungen sieht man hier im erwachsenen Gehirn ein normales Wachstum von Dendriten und Synapsen. Es gibt nun schon seit vielen Jahren Hinweise darauf, dass chronischer Stress, verbunden mit einer Hochregulation der Glukokortikoide, neben anderen bioche-
mischen Veränderungen (Duman et al. 1999) auch zu atrophischen Veränderungen bzw. zu degenerativen Veränderungen besonders der CA3-Regionen führen kann (Sapolsky et al. 1985). Interessanterweise – und das bringt uns wieder auf den Wachstumsfaktor BDNF – ist unter chronischem Stress die hippokampale Konzentration von BDNF eher reduziert. Auch andere, besonders auch genetische Faktoren, die ja auch für die Depression relevant sein können, scheinen ebenfalls einen negativen Einfluss auf das Wachstum von CA3-Neuronen zeigen zu können. Welche Faktoren hier bei depressiven Patienten zusammenspielen, ist noch weitgehend Spekulation; tatsächlich weisen, wie bereits erwähnt, die modernen bildgebenden Verfahren zunehmend darauf hin, dass es im Rahmen depressiver Erkrankungen in verschiedenen Hirnregionen, u. a. auch dem Hippokampus, zu einer Volumenabnahme kommen kann (Rajkowska et al. 1999; Soares u. Mann 1997; Ebmeier et al. 2006). Antidepressiva können nun über einen Eingriff in die serontonerge und noradrenerge Neurotransmission die Konzentrationen von BDNF hochregulieren und die von Glukokortikoiden eher senken (Malberg et al. 2000). In Übereinstimmung mit dem Schema in ⊡ Abb. 26.18 hat man hier unter gewissen Bedingungen tatsächlich auch unter biologischen antidepressiven Therapien eine verbesserte Überlebensrate von hippokampalen Neuronen mit verbessertem Dendritenwachstum und Synapsenbildung (s. oben) und darüber hinaus Neubildung von Nervenzellen (Neurogenese) gesehen, zu der allerdings nur ein relativ kleines Areal im Hippokampus (subgranuläre Zone des Gyrus dentatus) befähigt ist (Malberg et al. 2000).
⊡ Abb. 26.18. Die neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung. Unter chronischem Stress, genetischen und anderen Risikofaktoren kann es zu einer Reduktion von Synapsen- bzw. Dendritenwachstum bzw zur Atrophie kommen, hier dargestellt für die CA3-Zellen des Hippokampus. Die Hochregulation von BDNF durch Antidepressiva könnte diesem Effekt entgegensteuern. (Nach Duman et al. 1997)
Hippokampus
609 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
Inkonsistente Befunde. Trotz dieses zunächst sehr gut zu-
sammenpassenden Schemas sind wir noch weit davon entfernt, diese sog. neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung global akzeptieren zu können. Zu viele inkonsistente Befunde stehen dem noch entgegen, z. B. konnte unter Elektrokrampftherapie im Tiermodell zwar eine Zunahme des Synapsenwachstums von Körnerzellen ⊡ Abb. 26.19) gezeigt werden, Antidepressiva hatten hier aber keinen Effekt (Vaidya et al. 1999). Darüber hinaus sind die degenerativen Veränderungen im Hippokampus eher auf der Ebene der CA3-Zellen (⊡ Abb. 26.18) zu sehen. In Übereinstimmung mit dem Schema in ⊡ Abb. 26.18 hat man zeigen können, dass das eher atypische Antidepressivum Tianeptin die stressinduzierte Atrophie von CA3-Neuronen hemmen konnte, der Standard-SSRI Fluoxetin war allerdings hier ohne Wirkung (Watanabe et al. 1992). Auch die Frage, ob Antidepressiva tatsächlich über eine vermehrte Neurogenese antidepressiv wirken, wird unterschiedlich diskutiert (Sapolski 2004). Während Santarelli et al. 2003 nach Ausschalten der Neurogenese durch Bestrahlung keine Effekte mehr von Antidepressiva in einem Verhaltensmodell sahen, gehen Henn u. Vollmayr (2004) aufgrund anderer tierexperimenteller Daten und auch aufgrund der nicht übereinstimmenden Zeitverläufe eher nicht von einer direkt kausalen Beziehung aus. Zweifel von klinischer Seite. Damit ist auch auf experi-
menteller Ebene dieser neuartige Mechanismus noch lange nicht zweifelsfrei belegt. Außerdem gibt es natürlich auch von klinischer Seite Zweifel, die stark fluktuierende und phasenförmig verlaufende Erkrankung Depression mit der häufig absolut symptomfreien Remission zwischen den Phasen mit einer eher globalen degenerativen Veränderung im ZNS in Verbindung zu bringen, so dass man schon geneigt ist zu zweifeln, ob wirklich jede depressive Episode gleich mit degenerativen Veränderungen verbunden ist. Darüber hinaus ist die Antidepressiva-induzierte Neurogenese auf diese kleine Struktur des Hippokampus beschränkt, die die antidepressive Wirkung nicht alleine erklären kann. Chronifizierte Patienten. Attraktiv wird die neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung bzw. die neurodegenerative Hypothese der Depression schon eher dann, wenn man sich chronifizierte Patienten betrachtet. Hier ist eher vorstellbar, dass es unter den langen Phasen der depressiven Erkrankung, verbunden mit der hohen Kortisolbelastung, ggf. zu neurodegenerativen Veränderungen in bestimmten Hirnstrukturen kommt. Sie beeinflussen vielleicht weniger direkt kausal die depressive Symptomatik, können aber möglicherweise im Sinne einer Vulnerabilitätsnarbe das rezidivierende Krankheitsbild der Depression im Zusammenhang mit anderen Faktoren erklären. Dass hier eine chronische Therapie mit einer Aktivierung von Wachstumsfaktoren ggf. sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Spannend wird diese Anschauung
auch dadurch, dass das bewährteste Phasenprophylaktikum Lithium, aber auch andere Phasenprophylaktika wie z. B. Valproinsäure neueren Untersuchungen zufolge nach nicht nur auf der Ebene der intrazellulären Signalmoleküle wirken, sondern auch eine sehr deutliche und schon in therapeutischen Konzentrationen nachweisbare neuroprotektive Wirkung aufweisen (Manji et al. 2000). Damit kann man spekulativ die neurodegenerative Hypothese der Depression und die neuroprotektive Wirkung von Antidepressiva bevorzugt mit chronischen Krankheitsverläufen und eher mit der rezidiv-prophylaktischen Wirkung als mit der akut antidepressiven Wirkung in Verbindung bringen. Wie weit sich dies allerdings in den nächsten Jahren bestätigen lässt, bleibt abzuwarten.
26.4.2
Verhaltenspharmakologische Wirkungen der Antidepressiva
Ebenso wie die chemische Struktur sind auch die pharmakologischen Eigenschaften der als Antidepressiva eingesetzten Präparate recht unterschiedlich. Das Grundproblem der Forschung in diesem Bereich ist das Fehlen eines adäquaten Tiermodells der Depression. Nach rund 30 Jahren Forschungsarbeit werden zur Beurteilung der Antidepressivaeigenschaften hauptsächlich die folgenden Tiermodelle herangezogen (Willner 1984). Diese sind allerdings nur z. T. eigentliche »Tiermodelle der Depression«, während andere an den pharmakologischen Eigenschaften der Trizyklika orientiert sind und primär deren NA- bzw. serotoninverstärkenden Effekte erfassen. Spontanverhalten. Antidepressiva, insbesondere Trizyk-
lika, hemmen das Spontanverhalten bei Tieren, und sie zeigen in mittleren und höheren Dosen zentral dämpfende Effekte. Damit prüft dieses Modell die sedierenden, nicht aber die antidepressiven Eigenschaften. Im Gegensatz zu den Neuroleptika, die ähnliche Wirkungen hervorrufen, bewirken Antidepressiva aber nach zunehmenden Dosen eine geringe bis starke Steigerung der Erregbarkeit. Reserpinantagonismus. Antidepressiva, insbesondere
Trizyklika, heben die durch Reserpin ausgelösten Wirkungen (psychomotorische Hemmung, verminderte autonome Reaktionen) auf. Potenzierung verschiedener Katecholaminwirkungen.
Trizyklische Antidepressiva verstärken (wahrscheinlich durch die Hemmung der Rückresorption von Noradrenalin und die dadurch bedingte Konzentrationssteigerung von Noradrenalin am Rezeptor) die durch diesen Transmitter bedingten Blutdrucksteigerungen. Separationsmodell. Werden Jungtiere sozial isoliert
(Trennung von Elterntieren), so kommt es nach einiger
26
610
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Zeit zu erheblichen Aktivitätsverlusten und deutlichen Veränderungen der Körperhaltung. Diese Verhaltensweisen werden durch Antidepressiva aufgehoben. Allerdings ist dieses Modell nicht spezifisch, da ähnliche Wirkungen auch durch Alkohol, Benzodiazepine und Opiate erzielt werden können. Behavioral-Despair-Test. In diesem »Schwimmtest« wird
ermittelt, wie lange die Tiere nach Eintauchen in einem kleinen wassergefüllten Behälter schwimmen, bevor sie eine immobile Haltung einnehmen. Antidepressiva verlängern die Schwimmphase, allerdings wird dies auch durch Antihistaminika und Anticholinergika erreicht.
26
Beurteilung Keines dieser Modelle ist für sich alleine ausreichend, eine antidepressive Wirkung am Menschen sicher vorauszusagen. Die Trefferquote lässt sich aber durch eine Kombination mit verschiedenen der erwähnten Tests erheblich steigern, die alle eine gewisse »Depressionsanalogie« zeigen. Allerdings ist es bis heute mit allen diesen Modellen noch nicht gelungen, Substanzen zu entwickeln, die über die übliche ca. 70%ige Responderquote bei therapeutischer Anwendung hinauskommen.
26.5
Chronischer Stresstest. In diesem Versuch werden Ratten
längere Zeit chronischem Stress (Nahrungskarenz, elektrische Schläge, Isolation, Eintauchen in kaltes Wasser) ausgesetzt. Das dadurch verminderte Explorationsverhalten wird durch Antidepressiva, insbesondere Trizyklika, wieder gesteigert. Auch die reduzierte Zuckerpräferenz als Anhedonie-Korrelat wird durch Antidepressiva korrigiert. Learned-Helplessness-Test. In diesem Test erlernen die
Tiere durch für sie unvermeidbare Stimuli eine »Hilflosigkeit«, die sie auch nach Wegfall der Versuchssituation nicht mehr befähigt, Aufgaben durch eigene Verhaltensreaktionen zu beeinflussen. Diese Hilflosigkeit wird durch Antidepressiva, nicht aber durch Neuroleptika und Tranquilizer aufgehoben. Bulbektomierte Ratten. Ratten zeigen nach operativer Entfernung des Bulbus olfactorius verschiedene Verhaltensänderungen, die depressionsähnlich sind und durch Antidepressiva korrigiert werden können.
Psychopharmakologische Grundlagen von Lithium und anderer Phasenprophylaktika bzw. Mood Stabilizer
Biochemische Wirkungsmechanismen Lithiumionen sind natürlicherweise im Organismus vorhanden, jedoch in wesentlich niedrigeren Konzentrationen als die ähnlichen Alkalimetallionen Natrium und Kalium. Die Lithiumkonzentrationen im Serum liegen unter Behandlung etwa 250-mal so hoch wie im unbehandelten Zustand. Es wird angenommen, dass die Lithiumionen in Konkurrenz zu den anderen Alkalimetallionen treten und dann sekundär die intrazelluläre Kalziumhomöostase modulieren. Darüber hinaus beeinflusst Lithium verschiedene Mechanismen der Signaltransduktion (⊡ Tab. 26.11). Von diesen wird die Hemmung der Inositolphosphathydrolyse (⊡ Abb. 26.17) als sekundärer Transmitter der Phospholipase-C-Stimulation und die danach auftretende relative zentrale Inositolverarmung als besonders wichtig angesehen. Als alternativer Mechanismus, besonders auch im Hinblick auf relativ gut belegte neuropro-
⊡ Tab. 26.11. Biochemische Effekte von Lithium und Carbamazepin, die als potenzielle Wirkungsmechanismen diskutiert werden. (Nach Keck u. McElroy 2005) Wirkstoff
Effekte
Konzentration
Lithium Plasmakonzentrationsbereich: 0,5–1,5 mmol/l
Hemmung der Inositolmonophosphathydrolyse
EC50: 0,5 mmol/l
Carbamazepin Plasmakonzentrationsbereich: 10–30 μmol/l
Hemmung der Adenylatzyklase
EC: 1 mmol/l
Hemmung der Guanylatzyklase
Biphasischer Konzentrationsbereich: 0,2–10 mmol/l
Hemmung der GTP-Bindung an G-Proteinen
Konzentrationsbereich: 0,6–1,0 mmol/l
Hemmung der Adenylatzyklase
Signifikanter Effekt ab Konzentrationen >100 μmol/l
Antagonismus am Adenosin-A1-Rezeptor
Ki = 20 μmol/l
Hemmung der GTP-Bindung an G-Proteinen
Konzentration: 1 mmol/l
Hemmung der Membranpermeabilität für Natrium-, Kalium- und Kalziumionen
Konzentrationsbereich: 30–500 μmol/l
Hemmung der Guanylatzyklase
EC50: 13 μmol/l
EC50 halbmaximale Wirkkonzentration; Ki Dissoziationskonstante des Inhibitors.
611 26.6 · Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
tektive Effekte von Lithium, gilt die Hemmung der Glykogen-Synthase-Kinase-3β (Gsk3β), die neben anderen Kinasen von Lithium im oberen therapeutischen Bereich gehemmt wird (Manji et al. 2000; Lenox u. Manji 2005; Chuang u. Priller 2006). Eine Vielzahl von experimentellen Befunden gibt weiterhin Anlass zu der Annahme, dass Lithium Einfluss auf die Empfindlichkeit verschiedener Rezeptoren hat und beispielsweise die Entwicklung von Supersensitivität bei den DA- und Muskarinrezeptoren verhindern kann (Jope u. Williams 1994). ! Trotz oder vielleicht auch wegen der Vielzahl biochemischer Effekte des Lithiums lässt sich keine endgültige Aussage über den Wirkungsmechanismus in der Rezidivprophylaxe affektiver Psychosen formulieren. Carbamazepin. Auch Carbamazepin bewirkt eine Viel-
zahl biochemischer Veränderungen im Organismus (⊡ Abb. 26.17, ⊡ Tab. 26.11), ohne dass sich aus diesen Effekten eine allgemein akzeptierte Theorie für die antimanische oder prophylaktische Wirksamkeit bilden lässt (Keck u. McElroy 2005). Während man der Hemmung von Natriumkanälen die größte Bedeutung für die antiepileptischen Eigenschaften zuspricht, kommen den zusätzlich Effekten (z. B. ⊡ Tab. 26.11) möglicherweise eine größere Rolle bei der phasenstabilisierenden Wirkung zu. Oxcarbazepin wirkt ähnlich.
zu wirken (Sills 2006; Wedekind et al. 2005). Dieser bei Gabapentin weniger ausgeprägte Effekt könnte auch erklären, dass Pregabalin offensichtlich eine spezifische anxiolytische Wirkung, v. a. bei generalisierten Angsterkrankungen, zeigt.
Wirkung im Tiermodell Gemäß einer schon etwas älteren Übersicht von Smith (1986) bleibt die Spontanaktivität von Versuchstieren durch Lithium unbeeinflusst, hingegen wird die explorative Aktivität der Tiere in neuem Milieu vermindert. Auch zeigen sich Lithiumeffekte auf pharmakologisch bedingte Hyperaktivitäten und Stereotypien. Die Effekte sind jedoch nicht einheitlich, sondern variieren in Abhängigkeit von der Wahl des experimentellen Vorgehens. Pharmakologisch induzierte Hypoaktivitäten können ebenfalls und zumindest partiell durch geringe Lithiumgaben aufgehoben, jedoch durch hohe Dosen auch verstärkt werden. Einflüsse sowohl auf Hypo- als auch auf Hyperaktivität können es verständlich machen, dass der Stoff antidepressive und antimanische Wirkungen besitzt. Trotz der großen Anzahl der durch Lithium beeinflussten Mechanismen der Signaltransduktion scheint Lithium besonders in das serotonerge System einzugreifen. Dadurch lässt sich der Effekt von Lithium auf selbstund fremdaggressives Verhalten erklären, z. B. in der Rezidivprophylaxe affektiver Psychosen, wo Lithium zu einer Reduktion von Suiziden führt.
Valproinsäure. Der Wirkungsmechanismus von Valpro-
insäure ist auch nicht sicher bekannt. Die Substanz verstärkt über mehrere Effekte die Funktion des inhibitorischen Neurotransmitters GABA (verstärkte Synthese, verlangsamter Abbau; ⊡ Abb. 26.17). Darüber hinaus wirkt Valproinsäure aktivierend auf Kaliumkanäle und wahrscheinlich hemmend auf Natriumkanäle (Keck u. McElroy 2005). Neuroprotektive Eigenschaften der Valproinsäure hat man in den letzten Jahren auch mit einer Hemmung der Histondeazetylase in Verbindung gebracht (Berton u. Nestler 2006). Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin. Die pharmakolo-
gischen Angriffspunkte der auch in der psychiatrischen Pharmakotherapie verwendeten Antiepileptika Lamotrigin, Gabapentin und Pregabalin sind in ⊡ Abb. 26.17 schematisch dargestellt. Lamotrigin scheint besonders über eine Hemmung spannungsabhängiger Natriumkanäle die neuronale Erregbarkeit zu senken, wobei möglicherweise ein Angriff an präsynaptischen glutamatergen Nervenendigungen eine besondere Rolle spielt, so dass die erregenden glutamaterge Neurotransmission reduziert wird. Während Gabapentin noch ein breiteres Wirkungsspektrum zu haben scheint, scheint die neuere Substanz Pregabalin spezifisch über eine Bindung an die α2δ-Untereinheit verschiedener spannungsabhängiger Kalziumkanäle
Carbamazepin und Valproinsäure. Durch eine Vielzahl
von Befunden aus Modellen zur antikonvulsiven Wirkung (u. a. »Kindling-Experimente«) sind Carbamazepin und Valproinsäure als Antiepileptika pharmakologisch profiliert. Gerade die Wirksamkeit in den Kindling-Experimenten wird auch im Zusammenhang mit den rezidivprophylaktischen Wirkungen der Substanz gesehen. Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin. Gemeinsame Eigen-
schaft dieser Substanzen ist die Senkung der Erregbarkeit zentraler Neurone als Ausdruck ihrer antiepileptischen Wirksamkeit. Wie auch schon bei Valproinsäure und Carbamazepin sind die Grundlagen ihrer Wirksamkeit als Phasenprophylaktika nicht erklärt.
26.6
Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
26.6.1
Biochemische Wirkungsmechanismen
Wirkung auf das dopaminerge System Die Wirkmechanismen der Neuroleptika sind dank intensiver Forschungsarbeiten in den letzten 30 Jahren, ins-
26
612
26
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
besondere wegen der Fortschritte in der Rezeptorenforschung, relativ gut aufgeklärt. Alle heute in der Therapie der Schizophrenie eingesetzten Neuroleptika greifen in das dopaminerge System ein. Der eigentliche Interventionspunkt ist dabei der prä- und postsynaptische lokalisierte D2-Rezeptor (⊡ Abb. 26.15). Alle antipsychotisch wirksamen Präparate sind D2-Rezeptorantagonisten. Nur die Bindungsstärke zu diesem Rezeptor korreliert mit der klinischen Wirksamkeit (Seeman 1987; Müller 1998 b; Wadenbert et al. 2001). Der gemeinsame hemmende Effekt auf die dopaminerge Neurotransmission erklärt auch, trotz aller Fortschritte bei der Therapie, gemeinsame Probleme bei den Nebenwirkungen (Stroup et al. 2006). Wieweit der Erkrankung ein dopaminerges Übergewicht zugrunde liegt, ist immer noch nicht absolut belegt (Miyamoto et al. 2003) Diese spezifische Wirkung an D2-Rezeptoren erklärt, warum zumindest bei den klassischen Neuroleptika erwünschte (antipsychotische) und einige der unerwünschten Wirkungen (z. B. extrapyramidalmotorische Störungen/EPS, Prolaktinanstieg) so eng miteinander verbunden sind. In den 3 wichtigen dopaminergen Kernsystemen des menschlichen Gehirns spielen D2-Rezeptoren eine wichtige Rolle bei der postsynaptischen Signaltransduktion (⊡ Tab. 26.12).
Dosierung und Wirkung. Bei unter der antipsychotischen (neuroleptischen Schwelle) liegenden Neuroleptikadosierungen bleibt die vermehrte DA-Freisetzung auch langfristig erhalten (wichtig für die Anwendung niedrigdosierter Neuroleptika als Antidepressiva). Im weiteren Verlauf bei ausreichender (neuroleptischer) Dosierung nimmt aber die Impulsfrequenz der dopaminergen Neurone ab (Depolarisationsblock), der dann zusammen mit der postsynaptischen Rezeptorblockade zur Reduktion der dopaminergen Übertragung im nigrostriatalen und im mesolimbischen dopaminergen System führt. Der verzögerte Wirkungseintritt gilt weniger für die Hypophyse, wo man schon sofort den D2-Antagonismus funktionell über den Prolaktinanstieg nachweisen kann. Nach Langzeittherapie mit Neuroleptika kann es weiterhin zu Spätdyskinesien kommen, deren Mechanismus auch heute noch nicht sicher geklärt ist. Die bisherigen Betrachtungen zeigen, warum es bei den klassischen Neuroleptika nicht gelungen ist, die erwünschten von den mit dem gleichen Wirkungsmechanismus (D2-Blockade) assoziierten unerwünschten Wirkungen (EPS, Spätdyskinesien, Prolaktinanstieg) zu differenzieren. Dies gelang erst mit den sog. «atypischen« Substanzen (s. unten).
Wirkmechanismus und Wirklatenz. Die Rezeptorblockade
Auch die klassischen Neuroleptika unterscheiden sich erheblich in ihren zusätzlichen antagonistischen Eigenschaften an einer Reihe verschiedener Rezeptorsysteme. Diese zusätzlichen Eigenschaften sind wahrscheinlich für die eigentlichen antipsychotischen Eigenschaften nicht relevant, erklären aber ähnlich wie bei den Antidepressiva sehr stark die Profile der unerwünschten Wirkungen der einzelnen Substanzen, die auch innerhalb der klassischen Neuroleptika erheblich schwanken.
durch die Neuroleptika erfolgt praktisch unmittelbar nach Verabreichung. Durch die Blockade präsynaptischer Autorezeptoren und die damit verbundene deutliche Zunahme der DA-Freisetzung ist aber initial die dopaminerge Transmission eher erhöht (⊡ Tab. 26.13). Dies hat z. B. in den Frühdyskinesien ein klinisches Korrelat. Der Eintritt der vollen antipsychotischen Wirkung ist jedoch erst nach Tagen bis Wochen beobachtbar. ⊡ Tab. 26.13 erläutert schematisch die Gründe für die Wirklatenz: Nach Besetzung der präsynaptischen Autorezeptoren (D2-Typ) durch Neuroleptika wird die Syntheserate des Dopamins gesteigert. Somit kann die Blockade der DA-Rezeptoren vorübergehend durch ein vermehrtes DA-Angebot an die postsynaptischen Rezeptoren kompensiert werden.
Wirkung auf andere Transmittersysteme
26.6.2
Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika
Da die Blockade zentraler D2-Rezeptoren zur antipsychotischen Wirkung und zu extrapyramidalmotorischen Ne-
⊡ Tab. 26.12. Die wesentlichen dopaminergen Projektionsbahnen im ZNS von Mensch und Tier Name
Kerngebiet
Projektionsareale
Physiologische Bedeutung
Tuberoinfundibuläres System
Nucleus arcuatus des Hypothalamus
Eminentia medialis
Regulation der Prolaktinfreisetzung
Nigrostriatales System
Zona compacta der Substantia nigra (A9-Region)
Striatum (Nucleus caudatus, Putamen) Globus pallidus
Regulation der unwillkürlichen und der willkürlichen Motorik
Mesolimbisches (mesokortikales) System
Area ventrialis tegmentalis (A10-Region)
Nucleus accumbens, Mandelkern, Hippokampus, Septum, kortikale Areale (frontalis, cingularis, entorhinalis)
Regulation von Affekt und Emotion
613 26.6 · Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
⊡ Tab. 26.13. Schematische Darstellungen der Neuroleptikawirkungen im Zeitverlauf der Behandlung. Effekte auf verschiedenen Ebenen (präsynaptisch, rezeptorbezogen, metabolisch, topisch und klinisch) Zeitraum
Präsynaptische Prozesse
Postsynaptische Prozesse
Klinische Wirkungen Erwünschte Wirkungen
Unmittelbare Effekte
Besetzung der D2-Rezeptoren (Autorezeptoren) ↓ Erhöhte Impulsfrequenz ↓ Erhöhte DA-Synthese und Freisetzung (gesteigerter Dopamin-Turnover)
Blockade der D2-Rezeptoren, jedoch unvollständig wegen erhöhten Dopaminangebots Prolaktin im Serum vermehrt durch D2-Blockade in Hypophyse
Nach Tagen bis 2 Wochen
Vermehrt DA-Metaboliten (HVA und DOPAC) im Liquor Impulsfrequenz sinkt (Depolarisationsblock) Dopamin-Turnover verlangsamt sich ↓ HVA- und DOPAC-Konzentrationen im Liquor sinken ab
Wirksame D2-Blockade
Nach längerer Zeit (frühestens 6 Monaten) bei einigen, bevorzugt älteren Patienten, auch bei Dosisreduktionen oder Absetzen a
a) Hippokampus → b) Striatum →
Im Striatum Supersensitivität der D2-Rezeptoren Neurotoxische Effekte?
Unerwünschte Wirkungen Psychomotorische Dämpfung, ggf. extrapyramidale Störungen und andere Symptome (Dyskinesien)
Antipsychotische Wirkung →
Frühdyskinesien, Parkinsonoid (bei vielen Patienten) und andere Symptomea
→
Spätdyskinesien (irreversibel)
Vegetative, kardiovaskuläre und sedative Symptome durch Interaktionen des Präparats mit Rezeptoren in anderen als dem dopaminergen System (⊡ Tab. 26.19).
benwirkungen führt, wurde über Jahre das Dogma vertreten, dass therapeutische und unerwünschte Nebenwirkungen von Neuroleptika unabdingbar miteinander verknüpft seien. Das einzige Neuroleptikum, dessen Wirkprofil sich nicht mit dieser Annahme vereinbaren ließ, war Clozapin. Clozapin induziert kaum extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen und keinen oder nur einen geringen Anstieg des Prolaktinspiegels. Dennoch verfügt es über eine gute antipsychotische Wirksamkeit, die pharmakologisch vermutlich ebenfalls im Wesentlichen in einer Blockade von D2-Rezeptoren begründet ist (Seeman 1987).
Klinische Eigenschaften Das einzige Kriterium, das sicher auf alle sog. atypischen Substanzen zutrifft, ist die Eigenschaft, keine oder weniger extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen hervorzurufen als klassische Neuroleptika. Ein wichtiges Korrelat dieser klinischen Eigenschaft im Tierexperiment ist der Befund, dass man mit atypischen Substanzen praktisch keine Katalepsie auslösen kann (Clozapin) oder dass zur Auslösung einer Katalepsie wesentlich höhere Dosen (im Vergleich zu anderen antidopaminergen Effekten) benötigt werden (⊡ Abb. 26.19).
Diskutierte Wirkmechanismen Begriffsbestimmung Clozapin wurde durch die genannten, nichthypothesenkonformen (atypischen) Eigenschaften zum Prototyp der »atypischen Neuroleptika«. Dieser Begriff wurde unkritisch auf andere Substanzen übertragen. Im Gegensatz zum Begriff »klassische Neuroleptika« ist er nicht klar definiert und beinhaltet heute Substanzen, die sich pharmakologisch und klinisch nicht nur von den klassischen Neuroleptika (⊡ Tab. 26.13), sondern auch untereinander unterscheiden (Müller 1998 a) ( Kap. 27, S. 647 f., Bd. 2, Kap. 52, S. 295 f.) .
Grundlegend kann also die antipsychotische Wirkung sowohl der klassischen als auch der atypischen Substanzen über die Blockade von DA-D2-Rezeptoren erklärt werden. Die heute diskutierten Hypothesen zur Erklärung atypischer Eigenschaften beruhen daher meist auf der Annahme von »D2-Blockade plus zusätzliche Eigenschaft« (⊡ Tab. 26.14). Eine gewisse Ausnahme ist die präferenzielle mesolimbische D2-Bindung einiger Substanzen.
26
614
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Antagonismus von AmphetaminAmphetamininduzierter Erregung durch typische und atypische Neuroleptika Typische Neuroleptika-induzierte Neuroleptika-induzierte Katalepsie Atypische Antipsychotika-induzierte Antipsychotika-induzierte Katalepsie
26 ⊡ Abb. 26.19. Vergleich der Pharmakologie typischer und atypischer Antipsychotika auf der Basis von Studien an Primaten und Nagern. Bei Dosiskonzentrationen, die vergleichbar mit den zur Auslösung einer Katalepsie erforderlichen Konzentrationen sind, wirken typische Neuro-
⊡ Tab. 26.14. Die wichtigsten Hypothesen zum Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika D2- und D1-Blockade
D3- bzw.-D4-Blockade zusätzlich zu D2Blockade
Amisulprid (D2) Sulpirid (D3) Clozapin (D4)
D2- und 5-HT2-Blockade
Clozapin Olanzapin Quetiapin Zotepin
Clozapin Olanzapin Paliperidon Risperidon Quetiapin Sertindol Zotepin
D2- und M-Rezeptor-Blockade
Clozapin Olanzapin
Präferenzielle Bindung an mesolimbische bzw. mesokortikale D2-Rezeptoren
Clozapin Sertindol Sulpirid
Partieller D2-Agonismus
Aripiprazol
leptika antagonistisch auf Amphetamin-induzierte Erregung (A). Atypische Substanzen erzielen ihre Wirkungen bei Dosierungen, die signifikant unter ihrem schwachen Potenzial zur Auslösung einer Katalepsie liegen (B). (Nach Ereshefsky u. Lacombe 1993)
Gemeinsame Blockade von DA-D1- und DA-D2-Rezeptoren. Ausgehend von dem Befund, dass Clozapin in etwa
gleich stark an den D1-Rezeptor wie an den D2-Rezeptor bindet, hat man vermutet, dass aufgrund der parallelen Blockade der beiden dopaminergen Rezeptoren durch Clozapin weniger D2-Rezeptoren für eine ausreichende antipsychotische Wirksamkeit besetzt werden müssen. Diese Hypothese ist allerdings nicht unumstritten, da das eher klassische Neuroleptikum Flupenthixol auch etwa gleich stark an den D1- wie an den D2-Rezeptor bindet. Gemeinsame Blockade von Serotonin-5-HT2-Rezeptoren und DA-D2-Rezeptoren. Schon lange vermutet man, dass
die beim Clozapin eine sehr starke Blockade von Serotonin-5-HT2-Rezeptoren bei gleichzeitiger DA-D2-Rezeptorblockade eine wichtige Rolle spielt für die relativ geringe Inzidenz von extrapyramidalmotorischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen und für die bessere Wirksamkeit bei Minussymptomatik. Ein dem Clozapin ähnliches Bindungsverhalten zeigen verschiedene andere atypische Substanzen. Gemeinsame Blockade von D2und 5-HT2-Rezeptoren gilt heute als primärer Wirkungsmechanismus vieler atypischer Substanzen.
Gemeinsame Blockade von D2- und Muskarinrezeptoren.
Die älteste Hypothese, wie atypische neuroleptische Eigenschaften erklärt werden könnten, geht von der Tatsache aus, dass Clozapin selbst sehr stark anticholinerge Eigenschaften hat und praktisch die Anticholinergikazugabe mit dem Clozapinmolekül verbunden ist. Gegen diese Hypothese spricht, dass Spätdyskinesien unter Clozapin kaum vorkommen, dieses schwerwiegende Risiko dagegen unter einer Therapie mit klassischen Neuroleptika nicht durch die Zugabe von Anticholinergika vermindert werden kann.
Präferenzielle mesolimbische Bindung. Eine wichtige Hypothese, atypische neuroleptische Eigenschaften zu erklären, fußt auf Beobachtungen von Clozapin und Sulpirid. Danach blockieren beide Substanzen D2-Rezeptoren in mesolimbischen Arealen schon in einem Dosisbereich, der nur zu einer geringen Blockade von D2-Rezeptoren in nigrostriatalen Arealen führt. Diese präferenzielle Bindung an mesolimbische D2-Rezeptoren (nicht nur deren präferenzielle funktionelle Blockade) ist allerdings auf molekularer Ebene z. Z. noch nicht erklärbar.
615 26.6 · Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
Bedeutung von D3- und D4-Rezeptoren. Die erst vor eini-
gen Jahren mit Hilfe molekularbiologischer Methoden identifizierten zur D2-Familie gehörenden D3- und D4-Rezeptoren (Sokoloff et al. 1990; van Tol et al. 1991) sind mit der Pharmakologie besonders atypischer Neuroleptika in Verbindung gebracht worden. Grund dafür war die relativ hohe Affinität von Benzamiden wie dem Sulpirid und dem Amisulprid zum D3-Rezeptor und die sehr hohe Affinität von Clozapin zum D4-Rezeptor. Da beide Rezeptoren auch besonders stark in limbischen bzw. kortikalen Arealen lokalisiert sind, hat man ihnen sehr schnell eine wichtige Rolle für die atypischen Eigenschaften zugesprochen. Weiterführende Bindungsstudien sprechen aber gegen eine besonders spezifische Bindung von Sulpirid an den D3-Rezeptor im Vergleich zu dem typischen Neuroleptikum Haloperidol. Auch die dominierende Bedeutung des D4-Rezeptors für die atypischen Eigenschaften des Clozapins muss heute in Frage gestellt werden. Am wahrscheinlichsten hat der D4-Rezeptor eine Bedeutung für die überlegene antipsychotische Wirkung von Clozapin, da diese atypische Eigenschaft bisher nur für diese Substanz gilt (Reynolds 1996; Müller 1998 a, b). Gemeinsame Blockade von α-adrenergen und D2-Rezeptoren. Clozapin, Risperidon und Zotepin sind starke Ant-
agonisten an α1-adrenergen Rezeptoren, was u. a. für die sedierenden Eigenschaften, aber auch für kardiovaskuläre UAW (Orthostase) von Bedeutung ist. Es gibt aber auch Vermutungen, dass ein starker α1-Antagonismus zusammen mit der D2-Blockade atypische Eigenschaften erklären kann (Cohen u. Lipinski 1986). Das Loose-Binding-Concept. Schon vor über 10 Jahren
wurde aus der Arbeitsgruppe von Seeman spekuliert, dass die meisten atypischen Neuroleptika eine schwache Bindungsaffinität zum Dopamin-D2-Rezeptor aufweisen und daher leichter durch endogenes Dopamin vom Rezeptor verdrängt werden. Dies sollte besonders für das Striatum
Partieller D2-Agonismus. Ein anderer Weg geht die neuere
Substanz Aripiprazol, die als partieller Agonist an D2-Rezeptoren wirkt (Müller 2002). Durch die immer noch vorhandene leichte Aktivierung im nigrostriatalen System bleiben EPS als Nebenwirkung weitgehend aus, während die D2-antagonistische Komponente wahrscheinlich im mesolimbischen System für eine gute antipsychotische Wirkung ausreicht. Nimmt man Clozapin als »Goldstandard« für atypische Neuroleptika, so muss man davon ausgehen, dass verschiedene Mechanismen auf neuronaler Ebene zu dem atypischen Wirkungsspektrum von Clozapin beitragen. Dies eröffnet auf der einen Seite die Möglichkeit, Substanzen zu finden, bei denen nur bestimmte Aspekte der atypischen Eigenschaften vorhanden sind (⊡ Tab. 26.15). Es
100
Olanzapin
10 K i (nM)
⊡ Abb. 26.20. Die Beziehung zwischen Gleichgewichtsdissoziationskonstante und der Geschwindigkeitskonstante für die dissoziative Affinität ist im Wesentlichen durch die Dissoziationsgeschwindigkeit determiniert. (Nach Kapur u. Seeman 2000)
gelten, wo physiologisch sehr hohe Dopaminkonzentrationen vorliegen. Die gleiche Arbeitsgruppe hat dieses Konzept wieder aufgegriffen und verfeinert (Kapur u. Seeman 2000, 2001): Typische und atypische Neuroleptika unterscheiden sich nicht im Bereich der Assoziationskonstanten, die die schnelle Bindung der Substanzen an den Dopaminrezeptor bedingen; die meisten atypischen Neuroleptika dissoziieren aber wieder besonders schnell vom Rezeptor, unterscheiden sich also von typischen Neuroleptika im Hinblick auf die Dissoziationskonstante (⊡ Abb. 26.20). Es ist allerdings noch nicht sicher, ob sich diese neuartige und im Prinzip sehr einfache Klassifikation durchgehend aufrechterhalten lässt, da bei weitem noch nicht alle Substanzen durchgetestet sind und es eine ganze Reihe eher niederaffiner klassischer Neuroleptika gibt, die eigentlich keine atypischen Eigenschaften haben. Andererseits könnte aber eine schnelle Dissoziation vom Dopamin-D2-Rezeptor tatsächlich bei den atypischen Eigenschaften einiger Substanzen eine Rolle spielen (z. B. Quetiapin, Clozapin) und möglicherweise auch erklären, dass diese Substanzen nur zu einer geringen Prolaktinfreisetzung aus der Hypophyse führen.
Chlorpromazin
Sertindol Racloprid
1
Haloperidol Spiperon 0,1 Nemonaprid
0,01 0,001
0,01
0,1
1
10
k off (min -1)
26
616
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.15. Therapeutische Qualitäten, die atypische Neuroleptika von den klassischen Neuroleptika unterscheiden Weniger extrapyramidalmotorische Symptome
Amisulprid Aripiprazol Clozapin Olanzapin Paliperidon Quetiapin Risperidon Sertindol Sulpirid Zotepin
Bessere Wirkung bei Minus-Symptomatik
Amisulprid Aripiprazol Clozapin Olanzapin Paliperidon Quetiapin Risperidon Sertindol Zotepin
26 Bessere Wirkung bei Nonrespondern
Clozapin
erklärt aber auf der anderen Seite auch, warum es so schwer ist, neue, in allen atypischen Eigenschaften dem Clozapin analoge Neuroleptika zu entwickeln.
zeptor wie Dopamin, und Amphetamin (setzt Dopamin frei und erhöht somit die Konzentration am DA-Rezeptor) eingesetzt. Sie erzeugen bei Nagern in niedriger Dosis zunächst eine Hypomotilität (als Ausdruck der Aktivierung von D2-Rezeptoren im mesolimbischen System) und in höheren Dosen stereotyp sich wiederholende Bewegungsabläufe (»Stereotypien« als Ausdruck der Aktivierung von D2-Rezeptoren im nigrostriatalen System). Bei anderen Tierarten kann durch Apomorphin eine Emesis, bei Mäusen eine gesteigerte Lauf- und Kletteraktivität erreicht werden. Alle diese beispielhaft genannten Wirkungen der DA-Agonisten werden durch Neuroleptika aufgehoben. Tierexperimentelle Modelle für Atypika. Die bisherigen
pharmakologischen Modelle sind im Wesentlichen auf der Basis der Eigenschaften von Chlorpromazin entwickelt worden, bilden daher primär typische Neuroleptika ab. Einige tierexperimentellen Modelle, die eine Differenzierung der Eigenschaften typischer Neuroleptika von denen atypischer Substanzen erlaubt, sind in ⊡ Tab. 26.16 zusammengefasst.
26.7 26.6.3
Wirkung im Tiermodell
Auch bei den Neuroleptika besteht das Grundproblem, dass ein adäquates Tiermodell der Schizophrenie nicht existiert. Die meisten der folgenden (klassischen) Tiermodelle werden in der experimentellen Forschung zur Beurteilung von antidopaminergen (nicht antipsychotischen) Eigenschaften herangezogen. Sie werden komplementiert durch eine Vielzahl von biochemischen Invitro- und In-vivo-Methoden zur Erfassung antidopaminerger Eigenschaften. Spontanverhalten. Neuroleptika bringen bei Versuchs-
tieren das Spontanverhalten völlig zum Erliegen (Akinese), steigern den Muskeltonus (Rigor) und lassen die Tiere in meist unnatürlicher Haltung (gekrümmter Rumpf, weit abgestreckte Extremitäten) verharren (Katalepsie). Die benötigte Dosis zur Erzielung dieser Effekte gilt als Maß für die extrapyramidalen Nebeneffekte eines Neuroleptikums (⊡ Abb. 26.19). Fluchtverhalten. Das konditionierte Fluchtverhalten von
Tieren, z. B. das trainierte Ausweichen in die andere Käfighälfte nach Ertönen eines akustischen oder optischen Signals zur Vermeidung eines elektrischen Schlages, wird durch Neuroleptika aufgehoben und zwar in Dosen, die die Motorik noch nicht beeinflussen. Wechselwirkungen mit DA-Agonisten. Hier werden Apo-
morphin, ein DA-Agonist mit gleicher Wirkung am Re-
Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer
Biochemische Wirkungsmechanismen Benzodiazepine greifen über spezifische Bindungsstellen am GABAA-Rezeptorkomplex (rezeptorgesteuerter Chloridkanal, bestehend aus 5 Untereinheiten der Klassen α, β, γ) an und verstärken damit das wichtigste inhibitorische Transmittersystem GABA (γ-Aminobuttersäure) in unserem zentralen Nervensystem. Die Affinität zu den Rezeptoren ist unterschiedlich und korreliert hoch mit der pharmakologischen Potenz und den für die klinische Wirkung notwendigen Tagesdosen (Müller 1995). Die Benzodiazepinbindungsstellen bilden zusammen mit den GABA-Bindungsstellen und verschiedenen anderen regulatorischen Bindungsstellen eine komplexe strukturelle und funktionale Einheit (⊡ Abb. 26.21a,b). Die Benzodiazepine verstärken die postsynaptischen GABA-Effekte mit der Folge, dass die Durchlässigkeit für Chloridionen durch die Chloridionenkanäle erhöht und damit die GABAerge Hyperpolarisation des Zellinnern verstärkt wird. Damit wird die Zelle weniger empfindlich für erregende Impulse.
Wirkung der Benzodiazepine. Praktisch alle pharmakolo-
gischen und klinischen Effekte der Benzodiazepine (⊡ Tab. 26.17) werden über ihren agonistischen Angriff an den »Benzodiazepinrezeptoren« vermittelt, wobei viele Hirnareale eine Rolle spielen. Erwünschte wie unerwünschte Wirkungen können daher durch Benzodiaze-
617 26.7 · Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer
⊡ Tab. 26.16. Typische tierexperimentelle Modelle zur Verhaltenstestung typischer, besonders aber atypischer Neuroleptika. (Nach Nemeroff et al. 2002) Konditioniertes Vermeidungsverhalten (Tiere werden trainiert, eine aktive Verhaltensänderung vorzunehmen, um einen Fußschock zu vermeiden)
Neuroleptika reduzieren spezifisch das konditionierte Verhalten Indikator für antipsychotische Wirkung
Pfotenwegziehtest
Typische Neuroleptika beeinflussen den Wegzieh-Reflex von Vorderund Hinterpfoten nach einem Schmerzreiz Atypische Substanzen beeinflussen die Stärke des Hinterpfotenreflex Indikativ für geringe EPS
Katalepsie
Typische Neuroleptika induzieren Katalepsie bei Dosen, die dopaminerge Verhaltensmuster antagonisieren Atypika benötigen sehr viel höhere Dosen Indikativ für geringe EPS
Haloperidol-sensitivierte Affen (Tiere erhalten Haloperidol bis zum Auftreten von Dyskinesien)
Typische Neuroleptika wirken ähnlich, Atypika bewirken weniger Dyskinesien Indikativ für geringe EPS
Durch Apomorphin und Ketamin gehemmte Reduktion des »Startle-Reflexes« durch ein vorgeschaltetes Signal (»prepulse inhibition«)
Atypika aber nicht Typika stellen die Reduktion des Reflexes durch ein vorgeschaltetes Signal wieder her Modell für eingeschränkte sensomotorische Kontrolle bei Schizophrenen
Soziale Isolation bei Affen
Besonders Atypika reduzieren die soziale Isolation von Affen nach chronischer Amphetamin-Gabe Modell für schizophrene Negativsymptomatik
EPS Extrapyramidalmotorische Störungen.
pinrezeptorantagonisten (Flumazenil, Anexate) sehr schnell im Sinne eines kompetitiven Antagonismus aufgehoben werden, z. B. zur schnellen Terminierung therapeutischer Effekte oder bei Überdosierungen bzw. Intoxikationen. Antidepressiva. Antidepressiva werden als Tranquilizer
häufig in sehr viel niedrigeren als den antidepressiven
Dosen eingesetzt, während bei der Behandlung von spezifischen Angsterkrankungen (Panik, Zwang) eher gleiche z. T. auch über die antidepressive Dosis hinausgehende Dosierungen eingesetzt werden (besonders auch bei den SSRI). Wie weit hier andere Wirkungsmechanismen als bei der Depressionsbehandlung eine Rolle spielen, ist nicht bekannt. Im Gegensatz zur Depression, wo noradrenalinbetonte und serotoninbetonte Antidepres-
⊡ Abb. 26.21. a Schematische Darstellung des Wirkungsmechanismus und des funktionellen Zusammenhangs zwischen GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplex und Chloridionenkanal. b Elektrische Vorgänge am postsynaptischen Neuron: Rechts ist das Membranpotenzial (Em) durch inhibitorischen Input (i) negativer geworden (Hyperpolarisation), so dass der Schwellenwert (T) zur Auslösung eines Aktionspotenzials (AP) auch bei mehrfachen exzitatorischen Input (e) nicht erreicht wird
26
618
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.17. Benzodiazepine: Wichtigste pharmakologische Wirkungen und therapeutische Anwendung. (Nach Haefely et al. 1983)
26
Pharmakologische Wirkungen
Klinische Indikationen
Anxiolyse, Antikonflikt- und Antifrustrationswirkung; Enthemmung gewisser Verhaltensformen
Angst, Phobien, Ängstliche Depression, Neurotische Hemmungen
Antikonvulsive Wirkungen
Verschiedenste Formen epileptischer Aktivität (Epilepsien, Konvulsivavergiftungen)
Dämpfung der psychischen Reaktionsbereitschaft auf Reize (»Sedation«)
Hyperemotionelle Zustände, Schizophrenie (?)
Schlaffördernde Wirkung
Schlafstörungen
Dämpfung zentral vermittelter vegetativ nervöser und hormonaler Antworten auf emotionelle und psychische Reize
Psychosomatische Störungen (kardiovaskuläre, gastrointestinale, urogenitale, hormonelle)
Zentrale Verminderung des Skelettmuskeltonus
Somatisch bedingte und psychogene Muskelspasmen, Tetanus
Verstärkung der Wirkung von zentral dämpfenden Pharmaka; anterograde Amnesie
Anästhesiologie für chirurgische und diagnostische Eingriffe
Fehlen direkter Wirkungen außerhalb des Zentralnervensystems; ungewöhnlich geringe Toxizität
Breites Indikationsfeld wegen guter allgemeiner Verträglichkeit in therapeutischen Dosen
siva eher gleichwertig sind, scheinen bei spezifischen Angsterkrankungen (z. B. Zwang) nur serotoninbetonte Antidepressiva klinisch wirksam zu sein. Neuroleptika. Zum Wirkungsmechanismus der als Tran-
quilizer eingesetzten niedrig dosierten Neuroleptika Kap. 26.5.
Frustrationssituationen. Reduziert man bei konditio-
nierten Tieren die Belohnungen für ein bestimmtes Verhalten, so verlieren die Tiere zunehmend das Interesse an diesen Handlungen. In diesem Modell wird durch Benzodiazepine erreicht, dass die Tiere eine erheblich höhere Frustrationsschwelle zeigen, sie lassen sich also nicht so schnell durch das Ausbleiben einer Belohnung entmutigen.
Wirkungen der Tranquilizer im Tiermodell Ähnlich wie bei den Antidepressiva und Neuroleptika werden auch bei den Tranquilizern bestimmte Tiermodelle eingesetzt, um das Vorhandensein bzw. die Stärke der anxiolytischen und sedierenden Wirkung zu ermitteln. Im Wesentlichen sind es folgende Modelle, die zum Screening herangezogen werden:
Angst- und aggressivitäterzeugende Situationen. Hier
Konflikttest. Mit den Tieren wird trainiert, dass nach Be-
Weitere Modelle. Daneben werden noch zahlreiche ande-
tätigung eines Schalters eine Futterration freigesetzt wird. Ist dieses positiv verstärkte Verhalten konditioniert, werden in unregelmäßigen Intervallen nach optischer und/ oder akustischer Anzeige bei Betätigung des Schalters zusätzlich zur Futterabgabe Elektroschocks verabreicht. Die Tiere geraten in eine Konfliktsituation und lernen sehr schnell, bei Wahrnehmung der Anzeige auf das Drücken des Schalters zu verzichten. Benzodiazepine erhöhen die Anzahl dieser bestraften Antworten; sie vermindern also den hemmenden Einfluss der Bestrafung auf positiv verstärktes Verhalten.
re Modelle angewendet, die entweder Hinweise auf anxiolytische Effekte oder auf Schlafinduktion, Muskelrelaxation und Erhöhung der Krampfschwelle geben.
Exploratives Verhalten im Hell-Dunkel-Käfig. Setzt man
Mäuse in einen Käfig mit 2 Kammern, von denen eine beleuchtet, die andere aber dunkel ist, so erreicht man durch Benzodiazepine, dass die Tiere häufiger in den hellen Bereich wechseln.
werden die psychomotorischen und emotionalen Reaktionen auf Schrecksituationen bzw. angst- und aggressivitäterzeugende Reize gemessen. Benzodiazepine dämpfen diese Reaktionen, was als sedierende Wirkung interpretiert werden kann.
Pregabalin als Anxiolytikum. Pregabalin wird in jüngster Zeit auch zur Behandlung von Angsterkrankungen, besonders generalisierter Angst eingesetzt. Als spezifischer Wirkungsmechanismus gilt eine Hemmung verschiedener spannungsabhängiger Kalziumkanäle über eine ihnen gemeinsame Untereinheit vom α2δ-Typ.
26.8
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva
Zur Behandlung neurodegenerativer (Alzheimer) und vaskulärer Demenzen stehen verschiedene neuere und ältere Antidementiva zur Verfügung (⊡ Tab. 26.18). Ihnen
619 26.8 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva
gemeinsam ist das therapeutische Ziel, bei Patienten mit neurodegenerativer bzw. vaskulärer Demenz eine Verbesserung herbeizuführen – besonders im dem Bereich der Kognition (Gedächtnis, Lernfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit) und somit der Alltagskompetenz. Zur Belegung dieses therapeutischen Anspruches werden heute aufwendige klinische Studien gefordert, die mindestens in 2 von 3 Bereichen eine der Plazebotherapie überlegene Effektivität aufweisen müssen (kognitive Leistungsfähigkeit, globales ärztliches Urteil, Alltagskompetenz). Diese, durch die Zulassungsbehörden definierten Kriterien werden von den einzelnen Antidementiva etwas unterschiedlich erfüllt, allerdings haben alle in ⊡ Tab. 26.18 gelisteten Substanzen eine Zulassung bzw. eine Nachzulassung für neurodegenerative und/oder vaskuläre Demenzen bzw. Hirnleistungsstörungen im Alter (was die frühere Indikation dieser Substanzen war). Damit ist den aktuellen Anforderungen nach zwangsläufig die Datenlage für die Azetylcholinesterasehemmstoffe und Memantine besser als für die älteren Substanzen wie Nimodipin und Piracetam. Ginkgo-biloba-Extrakt ist die einzige der älteren Substanzen, für die mehrere positive Studien entsprechend den modernen Prüfungskriterien vorliegen. Im Zeitalter der Evidenz-basierten Bewertungen schneiden daher bei vielen Einschätzungen die älteren Substanzen schlechter ab. Kritisch anmerken sollte man allerdings hier, dass schlechtere wissenschaftliche Datenlagen entsprechend modernerer Prüfungskriterien nicht zwangsläufig schlechtere Wirksamkeit bedeuten muss. Daher gibt es auch viele Stimmen, die die älteren Substanzen auch weiterhin für eine Bereicherung des therapeutischen Repertoires bei Demenzen halten. Azetylcholinesterasehemmer. Die heute wichtigsten
Substanzen zur Behandlung der Alzheimer-Demenz (Donepezil, Rivastigmin, Galanthamin) sind Hemmer des Enzyms Azetylcholinesterase, das den Abbau des Neurotransmitters Azetylcholin im Gehirn aber auch an peri⊡ Tab. 26.18. Die wichtigsten derzeit in Deutschland einge-
pheren Synapsen vermittelt. Sie sollen damit einen spezifischen Verlust bestimmter cholinerger Nervenzellen im Nucleus basalis im Verlauf der Alzheimer-Erkrankung ausgleichen, die spezifisch in die Steuerung kognitiver Funktionen involviert sind. Die therapeutischen Möglichkeiten bleiben trotzdem hinter den Erwartungen zurück, weil im Rahmen einer neurodegenerativen Demenz zwar diese cholinergen Neurone überproportional stark zugrunde gehen, aber auch viele andere Neurone und Neurotransmittersysteme vom neurodegenerativen Prozess betroffen sind. Azetylcholinesterasehemmer sind darüber hinaus nicht spezifisch für die Alzheimer-Demenz, da sie auch kognitive Leistungsverbesserungen bei Patienten mit vaskulärer Demenz und altersassoziierter Gedächtnisstörung (MCI) zeigen. Die Substanzklasse der Azetylcholinesterasehemmstoffe zeigt spezifische UAW-Probleme (besondere Vorsicht ist geboten bei der Anwendung an Patienten mit Magen-Darm-Ulzera, asthmatischen Erkrankungen und Herzrhythmusstörungen) mit besonders häufigen gastrointestinalen Nebenwirkungen, die bei einem deutlichen Teil der Patienten die notwenige Langzeitbehandlung erschweren. Ginkgo-biloba-Extrakt und Piracetam. Standardisierter
Ginkgo-Extrakt (EGb 761) ist durch die darin enthaltenen Flavonoide ein recht guter Radikalfänger, während das klassische Nootropikum Piracetam die Fließeigenschaften des Blutes durch Formveränderungen der Blutzellen positiv beeinflusst. Beiden Substanzen gemeinsam ist eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion und damit der Bereitstellung von ATP nach Schädigungen, wie sie im Rahmen des Alterungsprozesses und auch bei Demenzen auftreten (Eckert et al. 2005; Keil et al. 2006 a). Damit verbunden ist eine verbesserte zerebrale Leistungsfähigkeit, besonders im Bereich kognitiver Funktionen. Darüber hinaus können beide Substanzen, besonders aber EGb 761, wahrscheinlich auch über eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion neurodegenerative Veränderungen über eine antiapoptotische Wirkung verbessern.
setzten Antidementiva
Memantin. Memantin ist ein Antagonist an zentralen Wirkstoff
Handelsname
Wirkungsmechanismus
Donepezil
Aricept
Azetylcholinesteraseinhibitor
Galantamin
Reminyl
Azetylcholinesteraseinhibitor
Rivastigmin
Exelon
Azetylcholinesteraseinhibitor
Memantin
Ebixa, Axura
NMDA-Antagonist
Nimodipin
Nimotop
Ca2+-Antagonist
Piracetam
Nootrop
Mitochondrialer Schutz
Ginkgo-biloba-Extrakt
Tebonin
Mitochondrialer Schutz, Radikalfänger
Glutamatrezeptoren vom N-Methyl-D-Aspartat-Typ (NMDA; Müller et al. 1995). Über beide Mechanismen lassen sich die akuten leistungsverbessernden und möglicherweise auch längerfristig protektiven Wirkungen dieser Substanz erklären. Nimodipin. Nimodipin ist ein Antagonist von spannungsabhängigen Kalziumkanälen (L-Typ) ähnlich den peripher angreifenden Substanzen Verapamil und besonders Nifedipin. Die ursprüngliche These, dass Nimodipin das ZNS vor einer Überladung mit freiem intrazellulärem Kalzium [Ca2+]i schützt, ist wahrscheinlich eine Vereinfachung (Müller et al. 1996). Möglicherweise schützt Ni-
26
620
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
modipin das alternde ZNS weniger vor einer Überladung mit [Ca2+]i als vor einer erhöhten Empfindlichkeit gegen [Ca2+]i. Darüber hinaus scheint Nimodipin eher bei vaskulären als bei neurodegenerativen Demenzen wirksam zu sein.
Entwicklung neuer Therapiekonzepte
26
Bei der Alzheimer-Demenz ist eine Beseitigung der Ursachen oder eine Prophylaxe z. Z. nicht möglich. Oberstes Ziel der Grundlagenforschung ist es demnach, nach Mechanismen zu suchen, die am neurodegenerativen Prozess beteiligt sind und somit »Targets« für neue Interventionsstrategien darstellen. Hier hat man endlich die an β-Amyloid-haltigen Plaques orientierte ältere β-Amyloid-Kaskadenhypothese dahingehend modifiziert, dass für den degenerativen Prozess eher kleine und lösliche oligomere β-Amyloidaggregate verantwortlich sind und initial zu einer Störung der Synapsen- und Mitochondrienfunktion führen (Haass u. Selkoe 2007; Hauptmann et al. 2006; Keil et al. 2006 b). Basierend auf der β-Amyloid-(Aβ-)Hypothese der Alzheimer-Krankheit bestehen viele Forschungsansätze darin, eine Aβ-bezogene Therapie zu entwickeln. So könnte die Entstehung des Aβ-Proteins einerseits durch eine Reduktion der Syntheserate des Vorläuferproteins APP und andererseits durch eine Reduktion der Umwandlungsrate des APP in das Aβ-Protein verlangsamt werden. Letzteres kann über die Beeinflussung der an der APP-Prozessierung beteiligten Sekretasen, die zur Bildung von Aβ führen (β- und γ-Sekretase), umgesetzt werden. Neben der Produktion des Aβ-Proteins erscheint es auch sinnvoll, den Degradations- und Abbauweg von Aβ zu beeinflussen, der den Lebenszyklus des Aβ vervollständigt. Deshalb wird auch die Entwicklung von Substanzen, die die Aggregation von Aβ zu dessen Plaques verhindern, als vielversprechend angesehen. Klinische Wertungen dieser Ansätze zeigen allerdings, dass bis heute sich noch keine Substanzklasse abzeichnet als nächste Generation therapeutisch einsetzbarer Antidementiva (Schüssel u. Müller 2007; Mattson 2004). Aufsehen erregte ebenfalls eine Studie mit APP-transgenen Mäusen, die zeigte, dass eine auf Aβ1-42 basierende Impfung diffuse Aβ-Plaques entsorgen bzw. auflösen kann (Schenk et al. 1999). Die
nachfolgende Humanstudie musste wegen schwerer UAW (aseptische Meningoenzephalitis als Ausdruck einer Autoimmunreaktion) abgebrochen werden. Ein weiteres Target für eine pharmakologische Intervention stellt die intrazelluläre Zelltodkaskade dar ( Kap. 7). Auf dem kontrovers diskutierten Gebiet der neuronalen Apoptose bei neurodegenerativen Erkrankungen wurden im Laufe der letzten Jahre entscheidende Fortschritte beim Verständnis der Pathogenese erzielt. Neue Therapieansätze zeichnen sich ab und die ersten Substanzen, die direkt mit der Apoptosekaskade interagieren, gelangen in die Klinik. Es ist zu hoffen, dass mit der Entwicklung spezifischer Substanzen es in den nächsten Jahren gelingen wird, den neuronalen Zelltod bei Demenzpatienten wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest verlangsamen zu können.
26.9
Psychopharmakologische Grundlagen der Therapie von ADHS
Pharmakologische Grundlagen der Stimulanzien Zur Therapie von ADHS kommen hauptsächlich die beiden Stimulanzien Methylphenidat und Amphetamin und der neuere Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Atomoxetin zum Einsatz (Rappley 2005). Während das am meisten eingesetzte Methylphenidat die neuronale Aufnahme von Dopamin stärker als von Noradrenalin hemmt, ist Atomoxetin ein selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmstoff (⊡ Tab. 26.19). Dass unter Atomoxetin trotzdem das für die Aufmerksamkeit wichtige präfrontale dopaminerge System beeinflusst wird, liegt an der physiologischen Besonderheit, dass im präfrontalen Kortex praktisch keine Dopamintransporter vorhanden sind, so dass die Inaktivierung freigesetzten Dopamins vom Noradrenalintransporter vermittelt wird. Daher wird dieses System auch unter Atomoxetin ähnlich wie durch Metylphenidat beeinflusst. Während Amphetamin selbst in der Behandlung von ADHS bei uns nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, führt die Gleichstellung beider Substanzen im Hinblick auf das mögliche Abhängigkeitsrisiko immer wieder zu einer Verunsicherung von
⊡ Tab. 26.19. Angriffspunkte der aktuellen ADHS-Therapeutika an zentralen monoaminergen Synapsen. (Nach Fone u. Nutt 2005) Wirkstoff
Halbmaximale Hemmkonstantenkonzentration in vitro in nmol/l DAT
NET
SERT
VMAT
d-Amphetamin
400
59
>1000
2100
Methylphenidat
34
339
>10000
–
1450
5
77
–
Atomoxetin
Dargestellt sind halbmaximale Hemmkonstanten (in vitro) (nmol/l) für den neuronalen Dopamintransporter (DAT), den neuronalen Noradrenalintransporter (NET), den neuronalen Serotonintransporter (SERT), und den zentralen vesikulären Transporter VMAT. Näheres s. Text.
621 Literatur
Arzt und Patient. Hier lassen sich allerdings beide Substanzen, sowohl von der klinischen Erfahrung (unter der Therapie mit Methylphenidat kommen Abhängigkeitsentwicklungen so gut wie gar nicht vor), wie auch von der Pharmakologie im Hinblick auf Abhängigkeitsentwicklungen klar abgrenzen. Während Methylphenidat nur den Dopamin- und Noradrenalintransporter hemmt, damit eine Verstärkung der jeweiligen Neurotransmission abhängig von der neuronalen Entladungsfrequenz bewirkt, hemmt Amphetamin zum einen den Noradrenalintransporter stärker als den Dopamintransporter führt aber auch zu einer Blockade der vesikulären Aufnahme beider Neurotransmitter, verbunden mit einer vermehrten Freisetzung und damit einer auch dopaminergen Stimulation unabhängig von der neuronalen Entladungsfrequenz. Dies bedeutet, dass im direkten Vergleich das Abhängigkeitspotenzial von Methylphenidat auch im Experiment deutlich geringer ist als bei Amphetamin (Fone u. Nutt 2005).
26.10
Weiterführende Lehrbücher und Nachschlagewerke
Der interessierte Leser, der sich auf dem Gebiet der pharmakologischen Grundlagen der Anwendung von Psychopharmaka weiterbilden möchte, sei auf die Lehrbücher von Benkert u. Hippius (2001), Laux u. Dietmaier (2006) und Möller et al. (1999) hingewiesen, sowie auf das 6-bändige Standardwerk über Neuro-Psychopharmaka (Riederer et al. 2002–2006). Eine sehr gute Zusammenfassung bieten auch die beiden Handbücher der American Psychiatric Association (Perry et al. 1997; Schatzberg et al. 1997) und das große US-amerikanische Lehrbuch (Schatzberg u. Nemeroff 2005). Gute Einführungen in die Neurochemie bieten das Handbuch von Cooper et al. (1996) und in die Neurobiologie der Band von Herdegen et al. (1997).
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622
26
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
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623 Literatur
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26
III Therapeutische Grundlagen 27
Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen – 627 S. Kasper, H.-J. Möller
28
Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 669 S. Kasper
29
Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung – 691 K. Schonauer
30
Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen – 703 M. Ermann, B. Waldvogel
31
Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 743 M. Linden, M. Hautzinger
32
Entspannungsverfahren – 777 M. Zaudig, R. D. Trautmann-Sponsel, A. Pielsticker
33
Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien – 815 A. Retzer
34
Humanistische Psychotherapieverfahren – 841 W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
35
Soziotherapie – 871 S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
36
Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
37
Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren – 911 W. Weig
38
Psychoedukation und Angehörigenarbeit – 923 R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
39
Versorgungsstrukturen W. Rössler
40
Integrierte Versorgung/Disease-Management W. Kissling
41
Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie – 971 H.-J. Möller
42
Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung – 985 M. Philipp, G. Laux
– 883
– 937 – 963
27 27 Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen S. Kasper, H.-J. Möller
27.1
Einleitung
– 628
27.2
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva – 630 27.2.1 Akutbehandlung mit Antidepressiva – 631 27.2.2 Langzeitbehandlung unipolar depressiver Patienten – 633 27.2.3 Weitere Indikationsgebiete – 637 27.3
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Phasenprophylaktika – 637 27.3.1 Lithium – 637 27.3.2 Antiepileptika – 637 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3
Tranquilizer und Hypnotika – 638 Benzodiazepintranquilizer – 638 Benzodiazepinhypnotika – 641 Neuere Tranquilizer und Hypnotika – 642
27.5
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika – 643 27.5.1 Akutbehandlung schizophrener Psychosen – 643 27.5.2 Langzeitbehandlung schizophrener Psychosen – 653 27.6
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidementiva – 660 27.6.1 Wirksamkeit von Azetylcholinesterasehemmern – 660 27.6.2 Verträglichkeit von Azetylcholinesterasehemmern – 661 Literatur
– 663
> > Die klinisch-psychopharmakologische Forschung ist die empirische Grundlage der klinischen Psychopharmakotherapie. Während viele frühere Studien über Psychopharmaka aus heutiger Sicht mit methodischen Mängeln behaftet waren, werden an neuere Studien höhere methodische Anforderungen gestellt, z. B. in Form von plazebokontrollierten Doppelblindstudien. Nach einer Einleitung zur klinisch-empirischen Methodik werden für die einzelnen Substanzen wichtige Studien zur Wirksamkeit und Verträglichkeit exemplarisch dargestellt.
628
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
27.1
27
Einleitung
Zur Methodik klinisch-psychopharmakologischer Studien sind eine Reihe von grundlegenden Übersichtsarbeiten publiziert worden (z. B. Wittenborn 1977; Möller u. Benkert 1980; Müller-Oerlinghausen 1986; Angst et al. 1989; Möller 1992 b) über den jeweils aktuellen methodischen Standard für zulassungsrelevante Psychopharmakastudien in den diesbezüglichen Richtlinien der Zulassungsbehörden, z. B. die Guidelines der europäischen Zulassungsbehörde (CPMP 2002, 1998, 1997). Die in der klinischen Evaluation von Psychopharmaka gebräuchlichen Methoden kann man einteilen in retrospektive und prospektive, nichtexperimentelle, quasiexperimentelle und experimentelle Verfahren, die je nach Fragestellung und Verfügbarkeit des Datenzuganges angewandt werden. Um Hypothesen zu generieren, werden nichtexperimentelle Studien eingesetzt, mit dem Ziel Zusammenhänge herauszufinden, die später in prospektiven Studien experimentell geprüft werden. Prinzipiell haben prospektive Untersuchungen gegenüber retrospektiven Untersuchungen sowie experimentelle gegenüber nichtexperimentellen Verfahren eine höhere wissenschaftliche Wertigkeit, da deren Ergebnisse eine größere Garantie für unverfälschte Ergebnisse bieten. Da experimentelle Untersuchungen in der Klinik häufig stark reduktionistisch sind (z. B. Ausschluss von schweren bzw. suizidalen Depressionen) ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf
die im klinischen Alltag vorhandenen Patienten erschwert (Woggon 1977; Riedel et al. 2005). Dies gilt insbesondere für plazebokontrollierte Studien. Deshalb ist es wichtig, neben den rigorosen experimentellen Studiendesigns auch andere, weniger restriktive Studien durchzuführen, um eine komplementive, besser generalisierbare Sichtweise zu bekommen. Insgesamt gibt es keinen allgemein gültigen, idealen Versuchsplan. Allenfalls gibt es für bestimmte Fragestellungen und unter bestimmten Bedingungen optimale Versuchspläne, wobei als Randbedingungen neben der eigentlichen wissenschaftlichen Fragestellung pragmatische, ökonomische, ethische und juristische Probleme zu berücksichtigen sind (Helmchen u. Müller-Oerlinghausen 1978; zur Methodik klinisch-empirischer Forschung Kap. 15). Nachfolgend wird, nach einer kurzen Darstellung der klinischen Prüfmethodik von Psychopharmaka, auf die Ergebnisse der klinischen Prüfung von verschiedenen Psychopharmakagruppen eingegangen. Dabei ist nicht das Ziel, ein umfassendes systematisches Review zu geben, sondern an exemplarisch ausgewählten Einzelstudien bzw. zusammenfassenden Analysen klinisch relevante Ergebnisse darzustellen.
Phasenmodell der klinischen Prüfung Die klinische Untersuchung von Pharmaka wird konventionsgemäß in 4 Phasen eingeteilt (⊡ Tab. 27.1). Während in Phase I an gesunden Probanden vorwiegend die Verträglichkeit einer vorher pharmakologisch und tierexperimentell untersuchten Substanz geprüft
⊡ Tab. 27.1. Phasen der klinischen Prüfung Phase I
Phase IIA
Phase IIB
Phase III
Phase IV
Stichprobe
Wenige gesunde Probanden
Begrenzte homogene Patientenstichproben
Größere homogene Patientenstichproben bei längerer Behandlungsdauer
Große heterogene Patientenstichproben
Viele tausend Patienten unter unterschiedlichen Bedingungen
Ziel
Bestimmung der pharmakologischen Wirkungen, der Verträglichkeit und des Arzneimittelstoffwechsels bei erster Gabe am Menschen
Nachweis der potenziellen therapeutischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit; Festlegung des wirksamen Dosisbereichs
Nachweis der potenziellen therapeutischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit. Ergänzende Daten über Arzneimittel-Stoffwechsel und pharmakologische Wirkung. Galenische Entwicklung verschiedener Darreichungsformen
Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit; Nachweis der Gleichwertigkeit oder Überlegenheit bezüglich Standardtherapie
Verträglichkeits-, Wirksamkeits- und Anwendungsüberprüfung unter Routinebedingungen
Methodik
Experimentelle Designs verschiedener Art
Offene bzw. einfachblinde Prüfungen
Randomisierte doppelblinde ParallelgruppenVergleichsstudien
Randomisierte doppelblinde ParallelgruppenVergleichsstudien
Unterschiedliche Designs
Untersucher
Klinische Pharmakologen
Klinische Pharmakologen und in der Arzneimittelprüfung erfahrene Ärzte
Ärzte in Kliniken und Ambulanzen
629 27.1 · Einleitung
wird, werden in den Phasen IIA und IIB der Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit an einer kleineren Patientengruppe untersucht. In Phase III wird bereits an einer größeren Patientenstichprobe versucht, die Ergebnisse der Phase II zu bestätigen. Nach Einführung eines Präparates wird in Phase IV größtenteils im Rahmen naturalistischer Anwendungsbeobachtungen die Effektivität und Tolerabilität überprüft (Linden 1989). In Phase IV werden weiterhin noch 3 Schwerpunkte der Beurteilung unterschieden (Ochsenfahrt 1983): Frühe Nachzulassungsphase in den ersten 2 Jahren, fortlaufende Anwendungsüberwachungsphase (Untersuchung von Akutwirkungen gut eingeführter Therapien), sowie Langzeitüberwachungsphase in der die Spät- und Langzeitwirkungen, wie z. B. tardive Dyskinesie untersucht werden (Helmchen et al. 1985; Grohmann et al. 1994).
Versuchsanordnungen Zum Nachweis der Wirksamkeit eines Pharmakons im zulassungsrechtlichen Sinne ist der doppelblind durchgeführte Parallelgruppenvergleich die wichtigste Methode (Nies 1990). Dabei werden die Effekte einer zu prüfenden Substanz auf die Patienten der Experimentalgruppe mit den Effekten eines Plazebos und/oder eines bereits eingeführten Pharmakons gleicher Indikation (Standardpräparat) auf die Patienten der Kontrollgruppe verglichen (randomisierte Kontrollgruppenverfahren). Die Patienten werden beiden Gruppen nach Zufallsprinzip (randomisiert) zugeordnet. Sowohl die Wirksamkeit eines Pharmakons als auch Dosierung oder Applikationsweise (peroral, intramuskulär etc.) kann dabei hinsichtlich Wirkungen und Nebenwirkungen untersucht werden. Die erforderliche Stichprobengröße wird anhand der statistischen Fallzahlberechnung festgestellt, die sowohl die erwartete Differenz bezüglich des gewählten Untersuchungsinstruments als auch die Streuung der Maßgröße in Rechnung stellt (Baumann 1974; Ferner 1977). ! Abhängig von der Fragestellung der Diagnosegruppe werden Vergleichsuntersuchungen unterschiedlich lang durchgeführt. Während z. B. bei Prüfung von Antidepressiva und Neuroleptika ein Zeitraum von 6–8 Wochen meistens ausreicht, muss für die Prüfung von Antidementiva ein deutlich längerer Zeitraum (z. B. 6 Monate) zugrunde gelegt werden.
Einflussgrößen Zahlreiche Probleme ergeben sich hinsichtlich verschiedener Einflussgrößen (Störfaktoren), die als »Zufallsfehler« in das Endergebnis eingehen. Das doppelblinde, randomisierte Kontrollgruppendesign verteilt die stichprobenbedingten Einflussgrößen nach dem Zufallsprinzip auf beide Vergleichsgruppen. Trotzdem kann es, insbe-
sondere bei kleinen Stichproben zu Verzerrungen hinsichtlich relevanter Einflussgrößen – z. B. Alter, Geschlecht, Diagnose, Erkrankungsdauer, Ausprägungsgrad der Symptomatik – kommen, die ggf. in ihrer Relevanz für das Ergebnis überprüft werden müssen. Je weniger Unterschiede in den diesbezüglichen Basisdaten zwischen den Gruppen bestehen, desto eher ist mit einem eindeutigen Ergebnis zu rechnen. Gründe für eine systematische Verfälschung der Beobachtung seitens des Beurteilers können wie folgt zusammengefasst werden (Möller 1992 b): Rosenthal-Effekt: Das Ergebnis einer Untersuchung wird durch die Erwartungshaltung des Untersuchers mitgeprägt; Halo-Effekt (Thorndike): Das Ergebnis einer Untersuchung wird durch Kenntnisse anderer Eigenschaften (z. B. anticholinerge Nebenwirkungen von Antidepressiva) bzw. durch den Gesamteindruck vom Probanden stark beeinflusst. Logischer Fehler (Newcomb): Das Ergebnis einer Untersuchung wird dadurch mitgeprägt, dass ein Untersucher nur solche Detailbeobachtungen heranzieht, die ihm im Rahmen seines vorgegebenen theoretischen und logischen Konzepts sinnvoll erscheinen. Durch das Doppelblinddesign, die Anwendung von standardisierten Beurteilungsverfahren sowie die sorgfältige Auswahl des Vergleichspräparates können Einflussgrößen und systematische Verfälschungstendenzen weitgehend reduziert werden. Die Beurteilung des Therapieerfolges sollte anhand von validierten Skalen (CIPS 2000) erfolgen. Die primären und sekundären Wirksamkeitskriterien sollten a priori festgelegt werden. Neben der Effizienzbeurteilung ist die Beurteilung der Nebenwirkungen in standardisierter Weise von großer Bedeutung. Die nosologische Diagnostik sollte auf der Basis anerkannter operationalisierter Diagnosesysteme – ICD 10, DSM IV – durchgeführt werden.
Problematik und Notwendigkeit plazebokontrollierter Studien Am aussagekräftigsten, obwohl kritisch diskutiert (z. B. Plutchnik et al. 1969; Rothman u. Michels 1994; Aspinall u. Goodwin 1995), sind plazebokontrollierte Untersuchungen (Carpenter et al. 1997; Laporte u. Figueras 1994). Sie werden von den Zulassungsbehörden für die Psychopharmaka u. a. in den Indikationsgebieten Depression, Angststörungen, Schizophrenien und Demenz gefordert. Selbstverständlich sind die dabei notwendigen ethischen Standards zu beachten (Baldwin et al. 2003; Adam et al. 2005; Schön u. Möller 2006) – nur dann sind sie als ethisch vertretbar anzusehen. Zu den ethischen Standards bei der Durchführung plazebokontrollierter Studien gehören besondere Anforderungen hinsichtlich der Patientenselektion (z. B. Ausschluss suizidaler Patienten), eine spezielle Regelung bei Nichtansprechen (d. h. A-priori-Definition,
27
630
27
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
wann Patienten aus den Studien zu nehmen sind), eine bedarfsgerechte Regelung der Komedikation, sowie eine gute Gesamtbetreuung durch ein »studienerfahrenes« Team. Die Problematik plazebokontrollierter Studien wird gerade in der deutschen Psychiatrie intensiv diskutiert, mit z. T. unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der ethischen Rechtfertigung (Helmchen 2005; Fritze u. Möller 2001; Baldwin et al. 2003). Auf die Details dieser kritischen Diskussion kann hier nicht eingegangen werden. Die eindeutige Position wichtiger Zulassungsbehörden, wie der amerikanischen (FDA) und der europäischen (EMEA), die plazebokontrollierte Studien fordern, basiert im Wesentlichen darauf, dass nur plazebokontrollierte Studien in den meisten psychiatrischen Indikationsgebieten, eine ausreichend sichere Aussage über die Wirksamkeit eines Psychopharmakons mit einer möglichst geringen Zahl von Patienten, die der Prüfsubstanz ausgesetzt werden, zulässt, da angesichts der hohen Plazeboresponse und einer Reihe sonstiger Besonderheiten klinisch-psychopharmakologischer Prüfungen nur bei diesem Vorgehen weitgehend Fehlschlüsse vermieden werden können. Die allgemeine Prüfung gegen Standardpräparate ist demgegenüber erheblich fehleranfälliger und führt häufig zu einer Überschätzung der Wirksamkeit der Prüfsubstanz. Wichtig ist aber – was von der europäischen Zulassungsbehörde nahe gelegt wird – die Prüfsubstanz möglichst nicht nur gegen Plazebo, sondern auch gegen Standardpräparate des jeweiligen Indikationsgebietes zu untersuchen. Die Plazeboforschung, d. h. welche Patienten unter welcher Bedingung auf Plazebo ansprechen ist in diesem Zusammenhang eine interessante Forschungsrichtung (Brown et al. 1992; Quitkin et al. 1991; Lavin 1991; Walsh et al. 2002; Klosterhalfen u. Enck 2005; Miller u. Rosenstein 2006).
Statistische Auswertung Die statistische Auswertung klinisch-psychopharmakologischer Studien erfolgt nach modernen statistischen Standards. Bei der statistischen Auswertung werden verschieden definierte Stichproben untersucht: »Intent-to-treat-Stichprobe« (»last observation carried forward«-, LOCF-Methode): Alle Patienten, die in die Studie eingeschlossen wurden, einmal »beurteilt« TZA MAOH
1957
SSRI
1980
Imipramin Amitriptylin Tranylcypromin
Die Observed-case-Methode gibt Auskunft darüber, wie gut das Ansprechen prinzipiell möglich ist, wenn ein Patient durchgehend die Medikation eingenommen hat. Diese Analyse führt zur Überschätzung der Wirksamkeit. Bei der statistischen Analyse ist zwischen a priori festgelegten Analysen hinsichtlich der Wirksamkeits- und Verträglichkeitsparameter und ex post durchgeführten Analysen zu unterscheiden. Die höhere Wertigkeit haben die a priori festgelegten Analysen. Die Intent-to-treat-Stichprobe ist diesbezüglich kritischer und stellt deshalb aus Sicht der Zulassungsbehörden die wichtigere Methode dar.
27.2
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva
Der Terminus Antidepressivum wurde in den 1950er Jahren eingeführt, nachdem gezeigt werden konnte, dass durch Imipramin die Zeichen einer mittleren bis schweren Depression behandelt werden konnten, ohne dass diese Substanz als Psychostimulans wirkte. Für die Entwicklung der Antidepressiva der ersten Generation wurde entweder die chemische Struktur von Imipramin (trizyklische Struktur) als Grundlage genommen oder der Wirkmechanismus einer Monoaminoxidase-(MAO-) Hemmung. Die Entwicklung neuerer Antidepressiva wurde hingegen vorwiegend aufgrund des Wirkmechanismus (z. B. selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer/SSRI) durchgeführt. In ⊡ Abb. 27.1 sind die verschiedenen Antidepressiva(Klassen) nach ihrer Einführung aufgelistet. Dabei zeigt sich, dass in den letzten 20 Jahren eine rasante Weiterentwicklung der Antidepressiva stattgefunden hat.
SSNRI NaSSA SNRI
HYP RIMA
1990
wurden und einmal eine aktive Medikation bekamen, werden ausgewertet. Der jeweils letzte Wert wird in die weiteren Beurteilungszeitpunkte übernommen. »Observed-case-Stichprobe«: Alle Patienten, die zu den jeweils zu beurteilenden Zeiträumen in der Untersuchung waren und die Medikation während dieses Zeitraums eingenommen haben. Die mit dieser Methode analysierte Fallzahl ist geringer als die der Intent-to-treat-Stichprobe.
1995 Fluvoxamin Moclobemid
⊡ Abb. 27.1. Zeitliche Entwicklung der Antidepressiva. TZA trizyklische Antidepressiva, MAOH Monoamin-Oxidase-Hemmer, SSRI selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, HYP Hyperikum-Extrakte, RIMA reversible Hemmer der Monoamin-Oxidase-A, SSNRI selektive
SNDRI
2000 Venlafaxin Mirtazapin
2005 Reboxetin Escitalopram Duloxetin
2007 Bupropion
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. NaSSA Noradrenalin-Serotonin-spezifische Antidepressiva, SNRI selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, SNDRI selektive Noradrenalin-DopaminWiederaufnahmehemmer
631 27.2 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva
Akutbehandlung mit Antidepressiva HAM-D Gesamtscore
27.2.1
Die Einführung standardisierter Klassifikationssysteme, wie das DSM bzw. ICD und reliabler Ratingskalen, wie die Hamilton-Depressionsskala (HAM-D) bzw. die Montgomery-Asberg-Ratingskala (MADRS), hat zur Qualitätssteigerung der antidepressiven Studien entscheidend beigetragen. Diese Beurteilungsinstrumente ermöglichen es, auch die Schwere der Depression sowie verschiedene Untertypen, d. h. mit oder ohne Angst, mit oder ohne Zwangssymptome, mit oder ohne psychotische Merkmale, bzw. Patienten mit einer bipolaren Erkrankung zu klassifizieren. Während bei Studien mit älteren Antidepressiva bipolare Patienten mit eingeschlossen wurden, ist dies bei Untersuchungen mit neueren Antidepressiva nicht mehr geschehen. Bei Einführung der Antidepressiva in den 1950er Jahren stand als Vergleichsuntersuchung lediglich die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) zur Verfügung, während für die neueren Antidepressiva jeweils Trizyklika und nun bereits SSRI als Referenzsubstanzen verwendet werden. Die gleichzeitige Mitführung einer Plazebogruppe wurde bereits frühzeitig in die Untersuchungsanordnungen mit aufgenommen und gehört auch heute noch zur Standarduntersuchungstechnik.
durchgeführt wurden, fanden erstmals durch Porter (1970) auch Studien in der Allgemeinpraxis statt. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass Imipramin eine Response-Rate von 64% aufwies, während Plazebo eine von 58%. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant und wies erstmals darauf hin, dass eine hohe Plazeboresponserate in der Allgemeinpraxis gefunden wird.
Trizyklika
Vergleich verschiedener Trizyklika. Innerhalb der Trizyk-
Die ersten Vergleichsstudien der Trizyklika wurden gegenüber EKT sowie MAO-Hemmern durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass EKT Imipramin überlegen war, während Imipramin sich als signifikant besser als Plazebo auswies (MRC 1965). Der Vergleich von Trizyklika (meist Imipramin, später gefolgt von Amitriptylin) ergab einen signifikanten Unterschied im Vergleich zur Plazebomedikation. Eine elegante Untersuchung wurde von Frank et al. (1990) durchgeführt, in welcher gezeigt wurde, dass die Dosierung, die in der Akutbehandlung eingesetzt wurde, auch in der Erhaltungs- und prophylaktischen Therapie Verwendung finden sollte. In ⊡ Abb. 27.2 ist eine Summe der plazebokontrollierten Untersuchungen mit trizyklischen Antidepressiva (TZA) aufgeführt. Daraus geht hervor, dass nach 5-wöchiger Behandlung mit Antidepressiva der Unterschied zwischen Trizyklika und Plazebo mindestens 5 Punkte auf dem Gesamtscore der HAM-D ausmacht, was nicht nur als statistisch signifikant, sondern auch als klinisch relevant angesehen wird (Bech 1978).
lika fanden Vergleichsuntersuchungen zwischen z. B. Amitriptylin und Imipramin statt. Während Amitriptylin als sedativ-anxiolytisches Antidepressivum angesehen wurde, wurde Imipramin als aktivierendes Antidepressivum charakterisiert (Hordern et al. 1965).
Studien in Allgemeinpraxen. Während die ersten Unter-
suchungen an Populationen psychiatrischer Kliniken
⊡ Abb. 27.2. Summe der plazebokontrollierten Untersuchungen mit trizyklischen Antidepressiva (TZA). Nach 5-wöchiger Behandlung mit Antidepressiva ist der Unterschied zwischen Trizyklika und Plazebo 5 Punkte am Gesamtscore der Hamilton-Skala für Depression (HAMD). Dies wird nicht nur als statistisch signifikant, sondern auch als klinisch relevant angesehen. (Bech 1978)
Nebenwirkungen. Obwohl die TZA als große Bereiche-
rung für die klinische Praxis galten, zeigte sich bereits frühzeitig, dass sie mit einer großen Inzidenz unerwünschter Wirkungen (UAW) mit Absetzkonsequenz verbunden sind (⊡ Tab. 27.2). Vorwiegend die anticholinergen Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Obstipation, kardiovaskuläre Nebenwirkungen auf das Herzreizleitungssystem, Probleme bei Prostatahypertrophie und Glaukom), α -adrenolytischen Nebenwirkungen (Orthostase), 1 sowie antihistaminergen Nebenwirkungen (Gewichtszunahme, Sedierung) haben den Gebrauch der TZA über die Akutbehandlung hinaus häufig limitiert. Dadurch war es auch nur schwer möglich, die Patienten zu überzeugen, dass sie die Medikation über die Akutphase hinaus weiter einnehmen sollten.
27
632
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Tab. 27.2. Geschätzte Inzidenz unerwünschter Wirkungen (UAW) mit Absetzkonsequenz pro 106 Verschreibungen (CSM/1985) der älteren Antidepressiva. (Aus Fritze u. Laux 1993) Medikament
27
Einführungsjahr
UAW total
UAW letal
Imipramin
1959
15–20
1–2
Amitriptylin
1961
10–15
Psychiatrische Rehabilitation dient der Bewältigung der Krankheit und der Herstellung einer optimalen Lebensqualität bei Patienten, bei denen es aufgrund einer psychischen Erkrankung zu einer seelischen Behinderung und eingeschränkten Möglichkeiten zur Bewältigung von Alltagsanforderungen gekommen ist. Soweit möglich stellt sie auch die Teilhabe am (allgemeinen) Arbeitsleben wieder her. Psychiatrische Rehabilitation zielt auf Bewältigung dieser verschiedenen Anforderungen. Die 3 Bereiche medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation werden dabei nach Möglichkeit verbunden.
912
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
37.1
Definition
Viele psychische Erkrankungen neigen zu chronischem Verlauf. Die Ausbildung von Residualsyndromen dabei ist typisch. Nicht selten äußert sich eine seelische Behinderung darin, dass die Möglichkeiten zur Bewältigung von Alltagsanforderungen eingeschränkt sind. Hilfen zur Vermeidung und Überwindung derartiger Behinderungen werden unter dem Begriff der Rehabilitation zusammengefasst. Unter Rehabilitation wird dabei verstanden, »… die Gesamtheit der Bemühungen, einen durch Krankheit, ein angeborenes Leiden oder äußere Schädigungen körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen über die Akutbehandlung hinaus durch umfassende Maßnahmen auf medizinischem, schulischem, beruflichem und allgemein sozialem Gebiet in die Lage zu versetzen, eine Lebensform und -stellung, die ihm entspricht und seiner würdig ist, im Alltag, in der Gemeinschaft und im Beruf zu finden beziehungsweise wiederzuerlangen« (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1984; ⊡ Tab. 37.1).
! Anders formuliert: Wesentliche Ziele sind die Bewältigung der Krankheit und die Herstellung einer optimalen Lebensqualität (Katschnig 1994).
37
Die Definition weist auch auf die klassische Dreiteilung in medizinische, berufliche (einschließlich schulische) und soziale Rehabilitation hin. Gerade in der psychiatrischen Rehabilitation hat es sich jedoch nicht bewährt, diese Rehabilitationsanteile zeitlich und konzeptionell voneinander zu trennen. Der Aufbau eines gesonderten Systems der psychiatrischen Rehabilitation hat sich als notwendig erwiesen, da psychisch Kranke von allgemeinen Rehabilitationsangeboten, die auf körperlich Kranke und Behinderte zugeschnitten sind, kaum profitieren. Grundsätze der Rehabilitation bei psychischen Störungen wurden formuliert (Frieboes et al. 2005; Berger et al. 2005). Klinisch-psychiatrische Behandlung und psychiatrische Rehabilitation ergänzen sich dabei gegenseitig: Sorgfältige Diagnostik und optimale kausale oder wenigstens symptombezogene Behandlung unter Vermeidung unerwünschter Nebenwirkungen sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rehabilitation. Andererseits setzt eine erfolgversprechende und umfassende Behandlung das Einbeziehen rehabilitativer Überlegungen von Anfang an voraus. Besondere Bedeutung beim Übergang von der Akutbehandlung zur Rehabilitation hat die Möglichkeit teilstationärer Behandlung in der Tagesklinik (Eikelmann et al. 1999).
⊡ Tab. 37.1. Bereiche der Rehabilitation Medizinisch Beruflich/schulisch Sozial
Krankheitsbewältigung (Wieder)eingliederung in den Beruf Alltagsbewältigung, soziale Kontakte
In Deutschland werden als Rehabilitation im engeren Sinne, den sozialrechtlichen Festlegungen folgend ( Kap. 37.6), nur zeitlich befristete und zielgerichtete Maßnahmen, die schwerpunktmäßig der Erhaltung oder Wiederherstellung der Teilhabe in relevanten Lebensbereichen dienen, abgegrenzt. Aus Prävention, Akutbehandlung, Rehabilitation und langfristiger Integration chronisch psychisch kranker Menschen entsteht ein Versorgungskontinuum, das jedoch leistungsrechtlich und konzeptionell aus klar beschriebenen Segmenten zusammengesetzt ist.
37.2
Theoretische Grundlagen und Konzepte der Rehabilitation
Bewältigungsorientierter Ansatz Psychiatrische Rehabilitationsliteratur bezieht sich überwiegend auf Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises (ICD-10 F20). Deshalb sollen die Grundsätze psychiatrischer Rehabilitation zunächst an diesem Beispiel erläutert werden. Coping. Schizophrenie wird dabei hinsichtlich Entste-
hung und Verlauf nach dem Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Kompetenzmodell (Liberman et al. 1994) beschrieben (⊡ Abb. 2.4). Für die Rehabilitation kommt es nun darauf an, das Coping zu verbessern und die Bewältigungskompetenz des Individuums zu erhöhen. Bewältigung (»coping«) meint dabei die Bemühungen der Person auf kognitivem, emotionalem und behavioralem Gebiet zur Überwindung innerer und äußerer Belastungen aufgrund der Beziehungen zwischen Person und Umwelt, die nicht routinemäßig überwindbar sind. Derartige Belastungen werden auch Stressoren genannt (Lazarus u. Launier 1978). Unterschiede zu klassischen medizinischen Modellen.
Der bewältigungsorientierte Ansatz der Rehabilitation unterscheidet sich in einigen Punkten von den klassischen medizinischen Modellen des Umgangs mit dem Patienten und seiner Krankheit: Nicht maximale Symptomreduktion ist das Ziel, sondern bestmögliche Anpassung an die gegebenen Bedingungen, Erfüllung sozialer Rollenerwartungen und optimale Lebensqualität. Damit verbunden ist ein veränderter Begriff der Heilung: Trotz fortbestehender Krankheitssymptome und nachweisbaren Residuen ist eine Überwindung der Krankheit möglich. Dadurch verändert sich auch die Rolle des Kranken vom passiv leidenden Patienten zum Experten für die eigene Krankheit.
913 37.2 · Theoretische Grundlagen und Konzepte der Rehabilitation
Faktoren für eine günstige Bewältigung Als bedeutsam für eine gelungene Bewältigung haben sich u. a. erwiesen: Eine angemessene Kontrollüberzeugung: Der Kranke muss die begründete Überzeugung gewinnen, dass er den Symptomen und Folgen der Krankheit nicht passiv ausgeliefert ist, sondern sie durch eigenes gezieltes Handeln, Veränderung seiner Einstellung und seiner Beziehung zur Umgebung beeinflussen kann. Voraussetzung dafür ist auch die Vermittlung eines geeigneten Krankheitskonzeptes und aller für den Kranken bedeutsamen Informationen zu Entstehung, Verlauf und Behandlung der Erkrankung. Bei Schizophreniepatienten finden sich in der Regel schwere Belastungen in allen Lebensbereichen. Dabei dominieren allerdings quantitativ die mit der Krankheitssymptomatik im engeren Sinne unmittelbar zusammenhängenden Belastungen (Wiedl 1996). Im Ergebnis bedeutet das, dass die bewältigungsorientierte rehabilitative Therapie den Umgang mit multiplen Belastungen berücksichtigen muss, im Mittelpunkt aber krankheitsbezogene und nicht auf allgemeine Problemlösungen gerichtete Inhalte stehen sollten. Da die realistische Wahrnehmung und Bewertung von Belastung und die Umsetzung derartiger Kognitionen besonders problematisch sind, müssen diese Fähigkeiten vorrangig beachtet und trainiert werden. Selbstheilungsversuche. Schizophrene Patienten haben in der Regel selbst schon Bewältigungsschritte ersonnen und erprobt, die als Selbstheilungsversuche (Brenner u. Böker 1992) zu qualifizieren sind. Das Anknüpfen an derartige Erfahrungen und die sich dabei ergebenden Ressourcen der Person fördern die bewältigungsorientierte Behandlung und verbessern die Compliance des Patienten. Dabei ist es allerdings notwendig, die gefundenen Bewältigungsstrategien hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Nützlichkeit zu bewerten und zu optimieren. Neben mehr oder weniger gelungenen Bewältigungsstrategien kommen auch unwirksame, ja kontraproduktive Selbstheilungsversuche vor (zu denken ist an unangemessenen sozialen Rückzug oder auch Einsatz psychotroper Substanzen wie Alkohol oder Cannabis zur vermeintlichen Symptomreduktion). Konsequenz ist für die Forscher die Erarbeitung von Methoden und Kriterien zur Bewertung des Bewältigungsverhaltens, für die rehabilitative Praxis das Erfordernis einer individuellen Bewältigungsanamnese und Bewältigungsanalyse. Soziale Beziehungen. Zu den Auswirkungen primärer
und sekundärer Krankheitsprozesse der Schizophrenie gehören auch Behinderungen des Kommunikationsverhaltens und extrem niedrige Soziabilität. Die Folge sind
geringe soziale Unterstützung und nach qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten rarifizierte soziale Netzwerke (Cresswell et al. 1992). Dauerhafte soziale Kontakte schizophren Erkrankter beschränken sich meist auf die Herkunftsfamilie, insbesondere die Eltern und die professionellen Bezugspersonen des psychiatrischen Versorgungssystems. Daraus ergibt sich die große Bedeutung des Einbezugs der Familien und der Angehörigen in die Rehabilitation. Psychiatrische Angehörigenarbeit ist schon deshalb für den Rehabilitationserfolg entscheidend, weil sich der angemessene emotionale Umgang der nahen Bezugspersonen mit dem Patienten als bestimmend für das Wiederauftreten störender Symptome und damit für den Krankheitsverlauf erwiesen hat (Hahlweg et al. 1989). Daneben sind der Aufbau und die Stärkung sozialer Beziehungen etwa in Patientenclubs und das Einüben angemessener nicht überfordernder sozialer Kontakte bedeutsam.
Symptom- und verlaufskorrelierte Bewältigung Bei allem Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten einer Bewältigung ist auch zu berücksichtigen, dass Bewältigungshandlungen symptom- und verlaufskorreliert sind. Kurzfristig kann wirksame Bewältigung aus eigenen Kräften nicht oder nur eingeschränkt möglich sein. Auch langfristig ist das Maß des Erreichbaren begrenzt. Mittels neuropsychologischer Untersuchungsverfahren ist es inzwischen möglich, Klienten, die von den derzeit verfügbaren Trainingsstrategien voraussichtlich profitieren werden von solchen mit ungünstigen Prognoseerwartungen zu unterscheiden. ! Um Enttäuschungen und Überforderungen zu vermeiden, ist es notwendig, diese Grenzen zu erkennen und dem Patienten Sensibilität und Offenheit hierfür zu vermitteln. Für die krankheits- und symptombezogene Bewältigung ergibt sich hieraus die Entwicklung von Methoden der Modifikation und Kompensation. Unter Modifikation wird dabei eine überdauernde Beeinflussung von Struktur oder Funktion, z. B. durch Training, verstanden, unter Kompensation eine aktuelle an die Präsenz der jeweiligen »prothetischen« oder »katalytischen« Hilfe gebundene Veränderung, die dementsprechend nur für die Dauer der Hilfeleistung Bestand hat (s. Übersicht). In diesem Sinne lassen sich beispielsweise Materialien zur Stützung der Gedächtnisfunktion, der Aufmerksamkeitslenkung etc. (Visualisierung, Signaltafel) einsetzen. Mit Hilfe neuropsychologischer Konzepte können Trainingsmaßnahmen entwickelt werden, die auch bei bisher mit ungünstiger Prognose behafteten Klienten Verbesserungen erzielen lassen und eine substratnahe Behandlung unter Nutzung der Neuroplastizität ermöglichen (Gauggel 2003).
37
914
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
Wichtige Elemente psychiatrischer Rehabilitation
Achsen der Rehabilitation. (Nach Ciompi 1989)
Katalytische Maßnahmen – Modifikation Optimierung von Bewältigungsstrategien Selbstwirksamkeitsüberzeugung Verbesserung des Netzwerks Funktionales Selbst- und Krankheitskonzept Prothetische Maßnahmen – Kompensation Unterstützung von außen
Funktionales Krankheits- und Selbstkonzept
Wirksamkeit und Prognose
Entwickelt werden soll ein »funktionales Krankheitskonzept«, das dem Betroffenen hilft, die Erkrankung zu verstehen und als ein Phänomen zu erleben, mit dem eine Auseinandersetzung möglich ist (Süllwold u. Herrlich 1990). Daneben ist ein »funktionales Selbstkonzept« zu entwickeln. Hierbei werden diejenigen Kognitionen über die eigene Person und ihre Beziehung zur realen oder vorgestellten Umwelt gefördert, die eine konstruktive Auseinandersetzung begünstigen. Dadurch entsteht auch die Überzeugung der Selbstwirksamkeit (Böker u. Brenner 1996).
Hinsichtlich der Erfolgsprognose und grundsätzlichen Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen bei der Schizophrenie zeigt sich ein relativ günstiges Bild. Der Rehabilitationserfolg, gemessen beispielsweise an der Veränderung auf den Rehabilitationsachsen Ciompis (Ciompi 1989), liegt im Schnitt bei einer Größenordnung von 40– 70% (Hubschmid u. Aebi 1986). Hinsichtlich der Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind die Ergebnisse meist deutlich schlechter, was neben der allgemeinenArbeitsmarktsituationauchmitweiterbestehenden Vorurteilen zusammenhängen dürfte. Die Bearbeitung von Einstellungen und Erwartungen in der Öffentlichkeit psychisch Kranken gegenüber erweist sich somit als ein wichtiges Feld psychiatrischer Rehabilitation (Anti-Stigma-Kampagne). Untersucht man die Prädiktoren des Rehabilitationserfolges, so ergeben sich 2 Klassen relevanter Einflussgrößen.
Für die Bewältigung relevante Lebensbereiche Schließlich sind die wesentlichen, nicht unmittelbar krankheitsbezogenen Lebensbereiche in die Überlegung der Rehabilitation einzubeziehen. Relevante Lebensbereiche sind dabei insbesondere Wohnen und Bewältigung des Alltags, materielle Grundsicherung, Beschäftigung und Tagesstruktur, möglichst Eingliederung in den allgemeinen, ersatzweise in einen besonderen Arbeitsmarkt, Aufnahme und Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, soziale Kontakte, Erlebnis- und Genussfähigkeit.
37
Krankheitsbewältigung Materielle Grundsicherung Wohnen Arbeiten, Tagesstruktur Freizeit, Genussfähigkeit Soziale Kontakte, Sexualität
Beziehungen zu dem auch für schizophrene Menschen in besonderem Maße relevanten Lebensbereich von Arbeit und Liebe (Freud) sind offensichtlich. Ciompi (1989) hat für die Achsen »Wohnen« und »Arbeiten« den Gang der Rehabilitation beschrieben und quantifiziert (s. Übersicht). Die Berücksichtigung psychosexueller Kompetenz, die Überwindung sexueller Funktions- und Kommunikationsstörungen und die Schaffung günstiger Bedingungen für eine befriedigende Sexualität sollten Bestandteile einer umfassenden Rehabilitation darstellen (Weig 2004).
Von der Rehabilitation unabhängige Einflussgrößen. Auf
der einen Seite stehen die Faktoren, die auch unabhängig von spezifischen Rehabilitationsmaßnahmen den Krankheitsverlauf beeinflussen wie Rezidivhäufigkeit, Ausmaß der psychopathologischen Symptomatik, Grad der Behinderung, Hospitalisationsdauer, prämorbides Niveau der sozialen Eingliederung, prämorbides Niveau der psychosexuellen Entwicklung, weibliches Geschlecht. Einfluss der Rehabilitation. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch ein unmittelbarer Einfluss der rehabilitativen Ansätze, wobei sich die Rollenveränderung vom »Patienten« zum »Klienten«, die induktionsspezifisch positive Erwartung, strukturierte Therapieprogramme mit Fokus auf soziale Fertigkeiten und systematische Nachbetreuung als besonders wirksam erweisen (Ciompi 1989 ). Während ein Großteil der Katamnesestudien nur kurzfristige Veränderungen (Katamnesedauer bis zu
915 37.3 · Methoden und Vorgehensweisen
2 Jahren) belegt, konnte in einigen Studien eine langfristige Stabilisierung der einmal eingetretenen Erfolge, ja sogar eine Tendenz zur weiteren Verbesserung der Situation gezeigt werden (Pfister u. Sparlinger 1987, zit. nach Ciompi 1989; Grosch u. Weig 1995). ! Als wesentlich für den Rehabilitationserfolg erweist sich auch die Auswahl geeigneter und hinreichend motivierter Rehabilitationsteilnehmer zum geeigneten Zeitpunkt. Ein Beginn gezielter Rehabilitationsmaßnahmen etwa 3– 5 Jahre nach der ersten Behandlungsepisode (der ersten klinisch relevanten Manifestation der Erkrankung) scheint günstig zu sein: Zum einen ist dann eine hinreichende Erfahrung mit der Erkrankung entstanden, die auch zu einer ausreichenden Rehabilitationsmotivation führt, zum anderen sind Effekte der Fixierung der Erkrankung (Spitzer 1997) und der Hospitalisierung (Ciompi 1989) noch nicht rehabilitationshemmend ausgeprägt.
Wirtschaftliche Erwägungen Schließlich liegen auch Studien vor, nach denen die rehabilitative Behandlung schizophrener Patienten, auch wenn sie langwierig und aufwendig ist, volkswirtschaftlich zu besseren Ergebnissen führt als der Verzicht darauf. Neben der Einsparung der Kosten neuerlicher intensiver Behandlung bei Krankheitsrezidiven und bleibender Behinderung schlagen die Entlastung der Familien und die wirtschaftlichen Erfolge – wenn auch unvollständige Integration in den Arbeitsmarkt – positiv zu Buche (Hunsche 1995). Leider wird dieser Aspekt angesichts der vorwiegend betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise der Kostenträger und Leistungserbringer zu wenig beachtet.
37.3
37.3.1
Methoden und Vorgehensweisen Voraussetzungen
Medikation. Psychiatrische Rehabilitation bei schizo-
phrenen Erkrankungen ist mit Aussicht auf Erfolg nur auf der Grundlage einer angemessenen neuroleptischen Rückfallprophylaxe möglich. Eine möglichst niedrig dosierte Gabe von Depotneuroleptika hat sich bewährt. Eine Intervallmedikation scheint weniger gute Erfolge zu bringen. Neben der zuverlässigen Rückfallprophylaxe ist für die Rehabilitation wichtig, stärkere unerwünschte Nebenwirkungen mit Beeinträchtigungen der Motorik, der kognitiven Leistungsfähigkeit und anderer psychophysischer Funktionen, wie z. B. der Sexualität, zu vermeiden. Die neueren »atypischen« Neuroleptika sind hier i. Allg. besser geeignet als konventionelle Antipsychotika. Ein wirksamer medikamentöser Schutz gegenüber der Exazerbation psychotischer Symptome erweist sich v. a. un-
ter der doch erheblichen Stressbelastung in aktiven Phasen der Rehabilitation als notwendig. Die Vermittlung von Einsicht in die Notwendigkeit der Medikation und der angemessenen Informationen über Wirkung und Nebenwirkungen ist basaler Bestandteil des Rehabilitationsprozesses. ! Die Compliance hinsichtlich der medikamentösen Behandlung ist ein entscheidender Erfolgsprädiktor für jeden Rehabilitationsteilnehmer. In vielen Rehabilitationsprogrammen wird angestrebt, dass der Kranke lernt, mit den Medikamenten umzugehen und sich konstruktiv mit den Nebenwirkungen auseinanderzusetzen (Linden u. Müller 2005). Therapeutische Beziehung. Daneben ist eine selbstver-
ständliche und unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Rehabilitation die Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und die personelle Kontinuität während der gesamten Rehabilitationszeit. Der Rehabilitationsteilnehmer benötigt eine eindeutige und verlässliche Bezugsperson, zu der eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung besteht, im Sinne eines therapeutischen Arbeitsbündnisses unter Wahrung der notwendigen Distanz und Rollenklarheit. Multiprofessionelles Team. Da psychiatrische Rehabilitation einen komplexen mehrdimensionalen Ansatz verfolgt, ist sie nur realisierbar durch ein gut kooperierendes, einem gemeinsamen Grundverständnis verpflichtetes multiprofessionelles Team. Vertreten sein müssen mindestens die Berufsgruppen Arzt, Diplom-Psychologe, Sozialpädagoge(-arbeiter), Ergotherapeut und ggf. Fachkrankenpflege.
37.3.2
Diagnostik
Neben der gewohnten klinischen Diagnostik nach syndromalen und nosologischen Gesichtspunkten (angelehnt an ein operationales Diagnoseschema wie ICD-10 oder DSM-IV) erfordert die Rehabilitationsplanung die zusätzliche Erfassung, Beschreibung und Kodifizierung, der durch die psychische Erkrankung eingetretenen Beeinträchtigungen von Funktionen und Struktur, der daraus folgenden Beeinträchtigung derjenigen Aktivitäten, die für die betroffene Person relevant und adäquat sind, der wiederum daraus sich ergebenden Gefährdungen, Beeinträchtigungen oder des Verlustes der Teilhabe an relevanten Lebensbereichen. Begrifflichkeit und Konzept, zusammenfassend als »Funktionsfähigkeit« oder »funktionale Gesundheit« einer Person bezeichnet, beruhen auf dem Klassifikations-
37
916
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
system ICF der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001, deutsch: DIMDI 2006). ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) sieht die funktionale Gesundheit dabei als Ergebnis der Interaktion von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen, Ressourcen der Persönlichkeit sowie fördernden oder hemmenden Einflüssen der (sozialen) Umgebung. Philosophie und Begrifflichkeit von ICF haben Eingang in die Formulierungen des SGB IX als der entscheidenden rechtlichen Grundlage von Rehabilitationsleistungen in Deutschland gefunden und sind daher verbindlich (⊡ Abb. 37.1, Kap. 37.6.2). Instrumente der Funktionsdiagnostik. Für die rehabilita-
tive Funktionsdiagnostik in der Psychiatrie wurden verschiedene Verfahren entwickelt. Neben sorgfältiger Anamneseerhebung und strukturiertem Interview kommen Fragebogenverfahren zur Selbsteinschätzung, zur Fremdeinschätzung durch Angehörige und therapeutische Mitarbeiter, Verhaltensbeobachtung sowie objektive Funktionsdiagnostik in Betracht. Zur Ermittlung des individuellen Bewältigungsstils und der krankheitsbezogenen Belastung wurde ein 2-stufiges Erhebungsinstrument, das Osnabrücker Belastungs- und Bewältigungsinventar (OBBI), vorgeschlagen (Wiedl 1996). Die so gewonnen Erkenntnisse sollten einfließen in eine standardisierte Beschreibung und Beurteilung der psychischen Funktionen, des Aktivitätsradius und des Ausmaßes der Teilhabe der betroffenen Personen im Sinne von ICF (Assessment). Entsprechende Instrumente auf der Grundlage des ICF sind in Bearbeitung (Schuntermann 2001). Etabliert ist der Integrierte Behandlungs-/Rehabilitationsplan – IBRP (Aktion Psychisch Kranke 2005). Arbeitsdiagnostik. Für die Ermittlung vorhandener Kompetenzen und bestehender Defizite im Bereich Arbeit und lebenspraktische Bewältigung des Alltags hat sich der Ansatz der Arbeitsdiagnostik bewährt. Dabei werden dem Patienten in verschiedenen Arbeitsbereichen (z. B. handwerkliche Arbeiten mit Holz, Büroarbeiten) in der Schwierigkeit abgestufte normierte Aufgaben gestellt, die er nach Krankheit beeinträchtigt
37 Körperliche und psychische Funktionen und Strukturen
Relevante Aktivitäten
Teilhabe an unterschiedlichen Lebensbereichen
Hemmend oder fördernd
Umweltfaktoren
Eigene Ressourcen und Defizite
⊡ Abb. 37.1. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF (DIMDI 2006)
Instruktion bearbeiten soll (Köhler 1998). Auf diesem Wege ist die Gewinnung individueller Leistungsprofile (z. B. MELBA) möglich. Zur weiteren Rehabilitationsplanung können derartige Leistungsprofile mit den Anforderungsprofilen eines angestrebten oder zur Verfügung stehenden Arbeitsplatzes verglichen werden (»P-U-fitmodell«/Person-Umwelt-fit-Modell; Weber 1993).
Auswertung und Rehabilitationsplan Die Auswertung der diagnostischen Instrumente ergibt ein individuelles Profil der relevanten Defizite, der zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch der Ansprüche und Erwartungen des Rehabilitationsteilnehmers. Wichtig ist die gemeinsame Reflexion mit dem Teilnehmer, ggf. unter Beteiligung von Bezugspersonen zur Erarbeitung eines realistischen, vom Rehabilitationsteilnehmer selbst akzeptierten Rehabilitationsplans, der die wesentlichen Rehabilitationsziele, die dazu notwendigen Schritte und die erforderlichen Zeitvorgaben enthält und nach den verschiedenen Rehabilitationsbereichen (Krankheitsbewältigung, Alltagsbewältigung, Arbeiten) differenziert ist. Durch Verlaufsbeobachtung, Wiederholung der diagnostischen Instrumente und gemeinsame Reflexion von Rehabilitationsteam und Rehabilitationsteilnehmer muss der Rehabilitationsplan laufend, z. B. alle 4 Wochen, fortgeschrieben werden, um flexibel auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die einzelnen Rehabilitationsmaßnahmen relevant (nicht beliebig, aktionistisch) sind und der Rehabilitationsteilnehmer weder über- noch unterfordert wird.
Psychoedukative Verfahren Psychoedukative Verfahren spielen in der psychatrischen Rehabilitation eine zentrale Rolle ( Kap. 38).
37.3.3
Handlungsorientierte Therapie
Während psychoedukative Ansätze vorwiegend über kognitive und emotionale Prozesse wirken, spielt für den Transfer das unmittelbar handlungsbezogene Training eine bedeutsame Rolle. Neben dem Erwerb lebenspraktischer Fertigkeiten und dem Ausprobieren sozialer Aktivitäten unter therapeutisch-pädagogischer Begleitung spielt hier die Ergotherapie eine besondere Rolle ( Kap. 36). Durch gestuftes Training und Belastungsproben werden basale Arbeitsfähigkeiten und Sozialverhalten trainiert, Erfolgserlebnisse vermittelt und möglichst gezielt eine berufliche Wiedereingliederung vorbereitet. Die Auswahl von Arbeitsinhalten richtet sich dabei nach den vorhandenen Möglichkeiten und den Bedürfnissen des Rehabilitationsteilnehmers. Entsprechend internationalen Erfahrungen (Hoffmann et al. 2003) sollte so früh wie möglich die Platzierung an einem realen Arbeitsplatz im
917 37.4 · Psychiatrische Rehabilitation bei anderen Krankheitsbildern
Sinne eines Praktikums in enger therapeutischer Begleitung (»coaching«) erfolgen (»supported employment«).
37.3.4
Psychotherapie
! Während der gesamten Rehabilitationszeit bedarf der Rehabilitationsteilnehmer einer psychotherapeutischen Begleitung. Traumatische Lebensereignisse und andere die Bewältigung belastende Faktoren müssen erkannt und bearbeitet werden. Beziehungsstrukturen in der Familie und zu anderen Bezugspersonen sind häufig problematisch. Insbesondere aber stellt die Krankheit selbst für viele Betroffene eine erhebliche Kränkung dar, die es zu verstehen und zu überwinden gilt. Dazu gehört auch der angemessene Umgang mit Inhalten psychotischen Erlebens. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Lebenssinn (Frankl 1985). Angemessene Bewältigung der Erkrankung bedeutet häufig den Verzicht auf vorher bestehende Pläne im Sinne einer »angemessenen Resignation«. Trauerarbeit ist nötig, um zu einem konstruktiven Neuansatz zu kommen. Je nach Schulorientierung des Therapeuten eignen sich hierfür tiefenpsychologisch orientierte, kognitiv verhaltenstherapeutische und sog. humanistische Ansätze wie Gesprächspsychotherapie und Logotherapie. Beziehungsaufbau und stützende Interventionen, die die gesamte Rehabilitation begleiten, erfordern Elemente einer »allgemeinen Psychotherapie« und setzen Kenntnisse in der therapeutischen Gesprächsführung voraus. Übende und entspannende psychotherapeutische Verfahren wie das autogene Training können den Rehabilitationsprozess unterstützen.
37.3.5
Hilfen zur Integration
Der Rehabilitationsprozess bleibt langfristig unwirksam, wenn dem Kranken nicht am Ende die Integration in ein möglichst normales und selbstständiges Leben gelingt. Hierzu hat es sich als notwendig erwiesen, langfristig über die Rehabilitationsphase hinaus, ggf. lebenslang, beratende und unterstützende Hilfen bereitzuhalten. In vielen Fällen sind daneben »prothetische« Hilfen notwendig. Hierunter sind besonders angepasste Lebensvoraussetzungen zu verstehen, die eine langfristige subjektiv befriedigende Alltagsbewältigung trotz nennenswerter Behinderung ermöglichen. Im Bereich des Wohnens gehören hierzu betreute Wohngemeinschaften und betreutes Einzelwohnen. Auf der Arbeitsachse sind sowohl Einrichtungen des ersten Arbeitsmarktes mit besonderen Möglichkeiten zur Integration seelisch behinderter Menschen wie Selbsthilfefirmen und soziale Betriebe als auch flankierende Hilfen
wie die psychosozialen Dienste der Hauptfürsorgestellen zu nennen. Bei geringerer Leistungsfähigkeit kommen Angebote des besonderen Arbeitsmarktes in Form von Werkstätten für seelisch behinderte Menschen in Frage. Ist eine Integration im Arbeitsmarkt nicht möglich oder wird sie individuell nicht gewünscht, so bieten sich zur Tagesstrukturierung Tagesstättenangebote an. Patientenclubs, Begegnungsstätten und Teestuben ermöglichen soziale Kontakte und dienen der Freizeitgestaltung. Beratungsstellen mit verlässlichen Ansprechpartnern und ambulante psychiatrische Krankenpflege unterstützen die ärztliche und psychotherapeutische Behandlung und dienen der Rückfallvermeidung und der Bewältigung von Krisen. Selbsthilfegruppen für Betroffene (»Psychoseerfahrene«) und Angehörige mobilisieren Selbstheilungskräfte, schaffen soziale Unterstützung und machen weniger abhängig von professioneller Hilfe.
37.3.6
Beratung und Koordination
Für Menschen, die von psychiatrischer Rehabilitation profitieren können oder schon Rehabilitationsmaßnahmen absolviert haben, ist ein leicht verfügbares und kompetentes Beratungsangebot wichtig. Notwendig sind Informationen über geeignete Hilfen und deren Finanzierung, Vermittlung von Kontakten, Unterstützung bei Leistungsanträgen etc. Rehabilitationsangebote sind umso wirksamer, je klarer sie auf eine überschaubare Region bezogen und mit den übrigen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens der Region verzahnt sind (Weig u. Wiedl 1995). Die rehabilitativen Angebote der Region und die dort Tätigen müssen dabei angemessen kooperieren und verantwortlich koordiniert werden. Auch die Rehabilitationsangebote für den einzelnen Betroffenen müssen in einem übersichtlichen und eindeutigen Plan koordiniert und fortgeschrieben werden. Eine die Freiheit unnötig einengende Gängelung ist dabei zu vermeiden. Wirksame Koordinationsstrukturen wurden an einigen Orten des Bundesgebietes entwickelt (Weig 1998).
37.4
Psychiatrische Rehabilitation bei anderen Krankheitsbildern
Eine Reihe grundsätzlicher methodischer und konzeptioneller Überlegungen, die exemplarisch für schizophrene Erkrankungen ausgeführt wurden, sind auf die Rehabilitation von Patientinnen und Patienten mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern übertragbar. Spezifische Ansätze sind für andere Patientengruppen bisher nicht in demselben Umfang entwickelt worden. Einige Hinweise sollen jedoch gegeben werden.
37
918
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
37.4.1
Suchtkrankheiten
Seit Inkrafttreten der Empfehlungsvereinbarung zur Rehabilitation Abhängigkeitskranker 1979 werden Rehabilitationsmaßnahmen für Suchtkranke in den Phasen stationäre Entgiftung im Akutkrankenhaus und Entwöhnungsbehandlung in Fachkliniken angeboten. Daneben haben sich teilstationäre und ambulante Angebote auch mit der Möglichkeiten einer Substitutionsbehandlung, z. B. mit Methadon, bewährt (Finkbeiner et al. 1996). In der Nachbetreuung und langfristigen Integration Suchtkranker spielen Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker seit langem eine wichtige und erfolgreiche Rolle (Seitz et al. 1995).
37.4.2
Gerontopsychiatrie
Bei den typischen psychischen Erkrankungen des höheren Lebensalters stellen sich teilweise andere Schwerpunkte und Aufgaben als bei der Rehabilitation jüngerer Menschen. Vorrangiges Ziel ist es, die Selbstversorgungsfähigkeit des alten Menschen zu verbessern und damit seine Abhängigkeit von Fremdhilfen und Pflegebedürftigkeit zu reduzieren (Rehabilitation vor Pflege). Bei demenziellen Erkrankungen haben sich abgestufte Übungsprogramme zur Verbesserung der Realitätsorientierung bewährt (Vollhardt 1996).
37.4.3
Intelligenzminderung
Für Menschen mit Intelligenzminderungen und sich daraus ergebenden geistigen Behinderungen haben sich teilweise unabhängig von der Psychiatrie eigene Hilfsstrukturen einschließlich rehabilitativer, meist pädagogisch geprägter Ansätze entwickelt. Bei der sehr häufigen Verbindung der Intelligenzminderung mit psychischen Störungen ist jedoch ein psychiatrisches Rehabilitationsangebot unverzichtbar. Dazu gehört auch die familientherapeutische Bearbeitung der Konflikte und Belastungen, denen Familien mit einem geistig behinderten Mitglied ausgesetzt sind (Gaedt 1993).
37
37.4.4
Sonstige Krankheitsbilder
Menschen mit affektiven Erkrankungen, insbesondere depressiven Syndromen tauchen in den Einrichtungen der psychiatrischen Rehabilitation selten auf, obwohl chronifizierende und zu Behinderungen führende depressive Verläufe nicht ganz selten sind. Für die Rehabilitation von Patienten mit chronifizierten Neurosen ist eine konsequente Behandlung mit speziellen Psychotherapieverfahren, oft in Kombi-
nation mit einer antidepressiven Medikation, entscheidend. Stark zugenommen hat die Anzahl von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (ICD10: F60, F61) bei der Inanspruchnahme von Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation. Für diese Gruppe wurden spezielle Rehabilitationsprogramme entwickelt. Besondere Probleme wirft die Rehabilitation von Patienten mit Komorbidität auf. Für die Kombination von endogener Psychose und Substanzabhängigkeit wurden in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen Konzepte entwickelt, die sich stark an die Erfahrungen aus der Rehabilitation schizophren erkrankter Patienten anlehnen (Krauß et al. 1994).
37.5
Evidenz
Die Wirksamkeit rehabilitativer Strategien nach den inzwischen üblichen Evidenzkriterien zu beurteilen ist deshalb problematisch, weil diese ganz auf medikamentöse Behandlungsstrategien zentriert sind. Die Forderung nach doppelblinden plazebokontrollierten Studien ist für komplexe soziotherapeutisch dominierte Ansätze wie die medizinische und berufliche Rehabilitation unbrauchbar. Dennoch lassen sich auf der Ebene von Gruppenvergleich und katamnestischer Studien der Erfolg rehabilitativer Maßnahmen, die Nachhaltigkeit rehabilitative Strategien und deren methodische Elemente empirisch überprüfen. Daraus können Behandlungsleitlinien für diesen Bereich formuliert werden (Becker et al. 2005). Erfolge konsequenter und ausreichend lange durchgeführter rehabilitativer Programme bei psychischen Erkrankungen lassen sich hinsichtlich der Verbesserung der Autonomie in den Bereichen Lebensführung, Wohnsituation und finanzielle Unabhängigkeit, in der Verringerung der Zahl und Dauer stationärer Wiederaufnahmen und in der subjektiven Lebensqualität nachweisen. Auch die Gesamtrate der Integration in das Erwerbsleben verbessert sich deutlich, wenn auch Möglichkeiten wie Beschäftigung in sozialen Betrieben und Werkstätten für behinderte Menschen sowie berufliche Bildungs- und Fördermaßnahmen berücksichtigt werden. Die Quote der Integration im allgemeinen (ersten) Arbeitsmarkt hängt dagegen stärker von den Rahmenbedingungen (Ausmaß struktureller Arbeitslosigkeit) ab als vom individuellen Rehabilitationserfolg (Weig u. Niederstraßer 2007). Als wirksame Elemente psychiatrischer Rehabilitation im Sinne evidenzbasierter Medizin haben sich das Case Management, die Arbeitsrehabilitation unter den Bedingungen des »supported employment«, verschiedene psychoedukative Verfahren einschließlich der Angehörigenarbeit (siehe Kapitel 38) sowie kognitive Trainingsprogramme erwiesen. Für andere Ansätze ist die Evidenz nicht empirisch gesichert. Dies gilt auch für die Verfahren
919 37.6 · Organisation und Finanzierung
der Ergotherapie, die in der Versorgungsrealität eine erhebliche Rolle spielen. Studien zur differenziellen Wirksamkeit ergotherapeutischer Methoden lassen noch keine abschließende Beurteilung zu (Galvao et al. 2006).
37.6
Organisation und Finanzierung
37.6.1
Zeitliche Phasen der Rehabilitation
ziele sind belegt (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2000). Andere Einrichtungen. Prinzipiell stehen auch Berufsbil-
dungswerke, Berufsförderungswerke, berufliche Trainingszentren für psychisch Kranke und seelisch Behinderte zur beruflichen Rehabilitation zur Verfügung, doch haben sich nur manche dieser Einrichtungen dem Personenkreis geöffnet und spezielle Angebote entwickelt.
Rehabilitation während der Akutbehandlung
Dauer der Maßnahme
Rehabilitative Überlegungen müssen bei einer potenziell zur Chronifizierung neigenden Erkrankung schon während der Akutbehandlung einsetzen. Während der ambulanten teilstationären und stationären psychiatrischen Behandlung können rehabilitative Elemente neben der Akutbehandlung große Bedeutung gewinnen. Für die psychiatrische Krankenhausbehandlung sind entsprechende Möglichkeiten und die sich daraus ergebenen Konsequenzen für die Personalausstattung in der Psychiatrie-Personalverordnung Kategorie 3 beschrieben (Kunze u. Kaltenbach 2005).
Die erforderlichen Rehabilitationszeiten übersteigen die aus dem Bereich körperlich Behinderter bekannten Werte bei weitem. Für den erfolgreichen Abschluss einer RPK-Maßnahme sind im Schnitt Rehabilitationszeiten von 6 Monaten bis zu 2 Jahren erforderlich.
Zeitlich befristete Rehabilitation Ist nach Abschluss der Akutbehandlung eine Rückkehr in die gewohnten und vom Patienten gewünschten Lebensumstände wegen seiner Behinderung oder Funktionseinschränkung nicht möglich, so ist die Indikation zu einer speziellen zeitlich befristeten Rehabilitationsmaßnahme zu prüfen. Sie ist dann gegeben, wenn sie mit Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann und der Patient selbst dazu motiviert ist. Rehabilitation psychisch Kranker in Rehabilitationseinrichtungen für körperlich Kranke hatte eine sehr niedrige Rehabilitationsrate einerseits, einen hohen Anteil von Frühberentungen andererseits zu Folge (Häfner 1989). RPK-Einrichtungen. Durch Vereinbarung der beteiligten Kosten- und Leistungsträger (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Bundesagentur für Arbeit) wurde daher ein spezielles Rehabilitationsangebot für (v. a. schwer und chronisch) psychisch kranke Menschen durch nahtlose Verzahnung medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen bei begleitender psychosozialer Betreuung unter der Bezeichnung »Rehabilitation für psychisch Kranke und Behinderte« (RPK) geschaffen. Die Empfehlungsvereinbarung RPK von 1986 wurde 2006 durch eine aktualisierte Neufassung abgelöst. RPK-Angebote existieren inzwischen in vielen Regionen des Bundesgebietes, jedoch noch nicht flächendeckend (Weig u. Schell 2005). RPK-Einrichtungen bieten medizinische und berufliche Rehabilitation (Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben) vorzugsweise ambulant (teilstationär), bei Bedarf auch stationär an. Erfolge von RPK-Maßnahmen hinsichtlich des Erreichens der gestellten Rehabilitations-
Nachbetreuung Entscheidend für den langfristigen Rehabilitationserfolg ist die sorgfältige Begleitung des Übergangs von der gezielten Rehabilitationsmaßnahme in die Nachbetreuung. Die langfristige Begleitung und Förderung der Integration ( Kap. 37.3.5) ist eine Aufgabe des sozialpsychiatrischen Verbundsystems in der jeweiligen Region. Diese Hilfen kommen auch Menschen zugute, die aufgrund der Schwere ihres Krankheitsverlaufs oder mangelnder Motivation nicht oder noch nicht für eine gezielte Rehabilitation in Frage kommen und ggf. stärker beschützter Wohnformen (z. B. in psychiatrischen Wohnheimen) bedürfen (Grosch u. Weig 1995).
37.6.2
Rechtsgrundlagen und Finanzierung
Für seelisch behinderte und von seelischer Behinderung bedrohte Menschen besteht unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Rechtsanspruch auf Rehabilitation (§ 10 SGB I). Die sozialrechtlichen Grundlagen für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wurden in dem 2001 verabschiedeten IX. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) zusammengefasst. Im Vordergrund steht das Ziel, behinderten Menschen Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken (§ 1). Behinderung wird definiert als eine voraussichtlich länger als 6 Monate dauernde Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand mit der Folge, dass die Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist, u. a. auf dem Gebiet der seelischen Gesundheit. Zu den »Leistungen zur Teilhabe«, die die zuständigen Sozialleistungsträger im Falle einer Behinderung zu erbringen haben, gehören die Leistungen der medizinischen Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation). Die
37
920
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
Kostenzuständigkeit richtet sich weiterhin nach den Spezialvorschriften, wie sie in den übrigen Teilen des Sozialgesetzbuches niedergelegt sind. Voraussetzungen. Rehabilitationsleistungen im recht-
lichen Sinne kommen dann in Betracht, wenn aufgrund einer Funktionsstörung in Folge einer psychischen Erkrankung (ICD-10 F) Aktivitäten eingeschränkt und dadurch die Teilhabe in relevanten Lebensbereichen aufgehoben, wesentlich eingeschränkt oder gefährdet ist. die betreffende Person in der Lage ist, aktiv an einer Rehabilitationsmaßnahme teilzunehmen, dazu gehört insbesondere die Überwindung von Akutsymptomen und unmittelbaren Gefährdungen wie z. B. Suizidalität das Rehabilitationsziel vorausichtlich mit den vorhandenen Möglichkeiten innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit erreicht werden kann (positive Rehabilitationsprognose) ausreichende Motivation zur Teilnahme an der Rehabilitationsmaßnahme vorliegt.
Rechtliche Zuordnung und Finanzierung Medizinische Rehabilitation Grundsätze: §§ 26ff. SGB IX Rentenversicherung, wenn Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (§ 15 SGB VI) Krankenversicherung (§ 27 SGB V) Berufliche Rehabilitation Grundsätze: §§ 33ff. SGB IX Rentenversicherung, wenn Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (§ 16 SGB VI) Arbeitsverwaltung (§ 98 SGB III) Soziale Rehabilitation Nicht eigenständig ggf. Eingliederungshilfe (§ 54 SGB XII)
Medizinische Rehabilitation. Medizinische Rehabilitation
37
ist dabei ärztliche Behandlung einschließlich der Anleitung der Versicherten, eigene Abwehr- und Heilungskräfte zu entwickeln, ferner u. a. »Beschäftigungstherapie, Belastungserprobung und Arbeitstherapie«. Somit ist ein Großteil der erwähnten bewältigungsorientierten Therapie abgedeckt. Träger ist die gesetzliche Rentenversicherung (§ 15 SGB VI). Daneben kommt in bestimmten Fällen auch die gesetzliche Krankenversicherung (§ 27 SGB V) in Betracht. Die Krankenversicherung tritt dann ein, wenn entweder die Anspruchszeiten in der Rentenversicherung noch nicht erfüllt sind oder hinsichtlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine positive Prognose gestellt werden kann.
Berufliche Rehabilitation. Leistungen zur Teilhabe am Ar-
beitsleben (§ 16 SGB VI) sind im Wesentlichen »Leistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, Berufsvorbereitung, berufliche Anpassung, Fort- und Ausbildung, Umschulung, Arbeits- und Berufsförderung auch im Eingangsverfahren und im Arbeitstrainingsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen«. Als Träger kommt, soweit die Anspruchszeiten für die Rentenversicherung nicht erfüllt sind, auch die Arbeitsverwaltung über die zuständige Agentur für Arbeit in Frage (§ 98 SGB III). Soziale Rehabilitation. Leistungen der sozialen Rehabili-
tation sind nur dann durch die Träger der gesetzlichen Sozialversicherung finanzierbar, wenn sie Bestandteil einer medizinischen oder beruflichen Rehabilitation sind. Andernfalls kommen nur die Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß § 54 SGB XII durch die Träger der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfe in Frage. Dabei sind aber die Grundsätze der Subsidiarität (Nachrangigkeit gegenüber allen anderen in Frage kommenden Leistungsträgern) und der Verpflichtung des Betroffenen und seiner für ihn unterhaltspflichtigen Angehörigen zur Eigenbeteiligung zu beachten (Mrozynski 1992; Eichenhofer 1995). Rehabilitative Behandlung, Frührehabilitation. Rehabili-
tative Elemente, die die psychiatrische Krankenbehandlung zwingend enthält sowie die sog. Frührehabilitation gehören im Fach Psychiatrie und Psychotherapie leistungsrechtlich nicht zur Rehabilitation, sondern zur Akutbehandlung. Für die stationäre Krankenhausbehandlung ist dies in der Psychiatrie-Personalverordnung (Kunze u. Kaltenbach 2005) näher festgelegt. Die Grundsätze sind in einem Urteil des Bundessozialgerichtes eindrucksvoll bestätigt worden (Weig 2006).
37.7
Ausblick
Wirksame rehabilitative Konzepte, insbesondere für an Schizophrenie erkrankte Menschen, aber auch für eine Reihe anderer Krankheitsbilder stehen zur Verfügung. Noch mehr als in der Akutbehandlung gehen sie von einem mehrdimensionalen biopsychosozialen Verständnis der Krankheit aus und können nur in dem Dreiklang von empirisch-wissenschaftlicher Begründung, flexibler individueller Begleitung auf dem Boden einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und Berücksichtigung organisatorischer Rahmenbedingungen einschließlich der Finanzierung umgesetzt werden. Weiterentwicklung und Evaluation rehabilitativer Konzepte bedürfen noch erheblicher wissenschaftlicher Bemühungen. Ausbau und Aufrechter-
921 Literatur
haltung eines flächendeckenden rehabilitativen Angebotes sind geboten. Rehabilitative Ansätze ergänzen die Akutbehandlung sinnvoll und verbessern Prognose und Lebensqualität vieler Betroffener. Doch sind auch die Grenzen des Möglichen sorgfältig zu beachten, um nicht Überforderung und schließlich Verzweiflung bis hin zu suizidalen Krisen zu provozieren.
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37
922
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
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37
38 38 Psychoedukation und Angehörigenarbeit R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
38.1 Psychoedukation – 924 38.1.1 Theoretische Grundlagen – 924 38.1.2 Anwendungsmöglichkeiten von Psychoedukation – 926
38.2 Angehörigenarbeit – 928 38.2.1 Begriffsbestimmung und Typologie – 928 38.2.2 Subtyp der Angehörigenarbeit: therapeutische Angehörigengruppen – 929 38.2.3 Anwendungsmöglichkeiten von Angehörigenarbeit – 930 Literatur
– 934
> > Der Begriff Psychoedukation stammt aus dem angelsächsischen Sprachraum. Mit »psychoeducational family treatment« (Anderson et al. 1980) wurde in der amerikanischen und englischen Psychiatrie Anfang der 80er Jahre eine Behandlungsform beschrieben, die den Familien schizophrener Patienten auf zweierlei Weise Hilfe bringt. Einerseits werden die Angehörigen der Kranken ausführlich über die schizophrene Erkrankung, deren Entstehungsbedingungen, den Verlauf und die Behandlungsmöglichkeiten informiert. Andererseits wird überwiegend mit verhaltenstherapeutischen Methoden die Kompetenz der Angehörigen bzw. der Gesamtfamilie im Umgang mit dem Patienten und dessen Erkrankung verbessert (Falloon et al. 1982). Dieses Vorgehen ist mittlerweile auch fester Bestandteil in Psychotherapieprogrammen für Patienten und steht für verschiedene psychiatrische, psychosomatische und somatische Erkrankungen meist in manualisierter Form zur Verfügung. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Studien, die die Wirksamkeit psychoedukativer Interventionen bei unterschiedlichen Diagnosen untersuchten. Parallel dazu hat sich der Begriff der therapeutischen Angehörigenarbeit weiterentwickelt, abzugrenzen von der Familientherapie und von Selbsthilfegruppen.
924
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
38.1
Psychoedukation
38.1.1
Theoretische Grundlagen
»Unter dem Begriff der Psychoedukation werden systematische didaktisch-psychotherapeutische Interventionen zusammengefasst, die dazu geeignet sind, Patienten und ihre Angehörigen über die Krankheit und ihre Behandlung zu informieren, das Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen Umgang mit der Krankheit zu fördern und sie bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen« (Bäuml u. Pitschel-Walz 2003, S.3).
Es handelt sich damit um einen elementaren Bestandteil guter klinischer Praxis (GCP), der ein grundlegendes Recht unserer Patienten erfüllt: das Recht, über ihre Erkrankung informiert zu sein (Colom u. Lam 2005).
Historische Entwicklung
38
Eine einheitliche Definition von Psychoedukation gibt es bis heute nicht. Der Begriff selbst stammt aus den frühen 1980er Jahren. Anderson verwendete ihn erstmals 1980 in einem Manual zur Familientherapie schizophrener Störungen (Anderson 1980). In der interpersonellen Psychotherapie wird Psychoedukation als Haupttechnik zur Patientenentlastung, Informationsgewinnung und Symptombewältigung aufgeführt (Schramm 1998). Dies illustriert zweierlei: erstens entwickelten sich psychoedukative Ansätze aus verschiedenen Therapieformen heraus, zweitens waren und sind sie integraler Bestandteil in der Arbeit mit Angehörigen. Die Übersetzung der Manuale von Falloon und Mitarbeitern (1984) und Liberman (1988) durch Hahlweg et al. (1995), sowie Brenner (1990) zogen die Entwicklung psychoedukativ geprägter Interventionen auch im deutschen Sprachraum nach sich. Die größte Nähe besteht unter methodologischen Aspekten zu verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen, da es sich im Wesentlichen um lerntheoretisch fundierte psychotherapeutische Maßnahmen handelt. Mit ihrem informationsvermittelnden Anteil sind sie per se integraler Bestandteil der Verhaltenstherapie als Behandlungsmethode (Margraf 2000). Schon von ihren Anfängen an wurde innerhalb der Verhaltenstherapie betont, dass Patient und Therapeut in ein möglichst gleichberechtigtes Behandlungsbündnis eintreten sollten. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der Patient weiß, worum es sich bei der vorliegenden Störung handelt und aus welchen Schritten die Behandlung im Einzelnen bestehen wird. Bei psychoedukativen Maßnahmen ist der informationsvermittelnde Anteil als Hauptschwerpunkt der Intervention anzusehen oder ist den verhaltensmodifizierenden Anteilen zumindest ebenbürtig. Diese Besonderheit kann als Abgrenzung zu anderen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen betrachtet werden. Dabei werden die nach Grawe et al. (1994) im psychotherapeutischen Handeln reflektierten Perspektiven wie Transpa-
renz, Strukturiertheit, Kompetenz und motivationale sowie z. T. interaktive Aspekte berücksichtigt (Elmer 1996). Psychoedukation kann demnach eingesetzt werden als eigenständige kognitiv-behaviorale Therapiemethode mit edukativem Schwerpunkt oder als spezifische Technik innerhalb verhaltenstherapeutischen Vorgehens. Verhältnis zu anderen Therapiemethoden. Patienten (und
Angehörige) werden gerade durch Psychoedukation aktiv in die Therapie einbezogen. Behandlung wird dadurch zunehmend zur Mitbehandlung, bzw. Fremdbestimmung zur Mitbestimmung. Im Hinblick auf den Einbezug von Angehörigen in die psychoedukativ ausgerichtete Behandlung gilt, dass Psychoedukation keine Therapie der Familie oder bestimmter Familienstrukturen bedeutet. Dies bleibt den psychoanalytisch, strukturell oder strategisch orientierten Ansätzen vorbehalten (s. unten). Abgrenzung rein edukativer Maßnahmen. Von Psychoedukation abzugrenzen sind die rein edukativen Behandlungsmaßnahmen. Bei ihnen geht es ausschließlich um
Aufklärung und Information. Häufig werden dazu audiovisuelle Hilfen wie Videobänder, CD-ROMs, DVDs und schriftliche Materialien eingesetzt. Auch über das Internet wird mittlerweile eine Vielzahl von Edukationsprogrammen angeboten. Ein persönlicher oder gar interaktiver Kontakt zwischen Patienten und Behandelndem kommt dabei nur selten zustande. Zumeist beschränken sich die Programme auf einige wenige Demonstrationen oder Vorlesungen. Ihre Effekte sind begrenzt und führen zumeist nicht über die erwünschte Zunahme des Wissenstands und eine oft nur kurzfristige Verbesserung der Behandlungscompliance hinaus.
Inhalte und Ziele psychoedukativer Interventionen Kurzgefasst zielen psychoedukative Interventionen auf Wissensvermittlung und Verhaltensmodifikation. Die wortwörtliche Übersetzung von »education«, nämlich Erziehung macht in diesem Zusammenhang wenig Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine Art »teaching« oder »coaching«. Dem Kranken und seinen Angehörigen soll Wissen über Entstehungsbedingungen, Häufigkeit, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten einer Erkrankung vermittelt werden. Dabei geht es weniger um ein schematisches schulmäßiges Vermitteln von Wissensinhalten. Vielmehr werden, auf dem Boden einer ärztlich-psychiatrischen Grundhaltung und mit psychotherapeutischem Verständnis, die Adressaten einer solchen Intervention in ihrer jeweiligen Situation wahr- und angenommen. Das heißt, ihre Erfahrungen, ihr bisheriges Erleben im Umgang mit der psychischen Erkrankung und ihre eigenen Standpunkte werden nicht nur erfasst, sondern im gesamten Behandlungsprogramm so gut wie möglich be-
925 38.1 · Psychoedukation
rücksichtigt. Das zweite Ziel, die Verhaltensmodifikation meint psychotherapeutische Interventionen, in der Regel verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Dabei kann es sich beispielsweise um ein lerntheoretisch begründetes Vermitteln von Problemlösefähigkeiten handeln (Falloon et al. 1982). Es soll zur besseren Lösung allgemeiner Alltagsprobleme verhelfen und zur effektiveren Bewältigung von Schwierigkeiten führen, die sich im Verlauf der Erkrankung und/oder im Verhalten gegenüber dem kranken Familienmitglied ergeben. Angestrebt wird dabei auch ein adäquater Umgang mit ggf. überdauernden (therapierefraktären) Krankheitssymptomen. Die Inhalte psychoedukativer Interventionen sind eine auf den individuellen Erfahrungen aufbauende strukturierte Vermittlung von Wissensinhalten über die zugrunde liegende (psychische) Erkrankung, ein systematisches, meist lerntheoretisch begründetes psychotherapeutisches Vorgehen zur Verhaltensmodifikation.
Praktisches Vorgehen Unabhängig von der Art der zugrundeliegenden psychischen Störung folgen psychoedukative Behandlungsmaßnahmen gewissen einheitlichen Regeln (s. Übersicht).
Allgemeiner Aufbau psychoedukativer Interventionen Informationsphase Gegenseitiges Vorstellen von Therapeuten und Teilnehmern Austausch über das Erleben der psychischen Erkrankung Vermittlung der zentralen Wissensinhalte zur Symptomatologie Austausch über subjektive Theorien zu Entstehung, Verlauf, Therapie Wissensvermittlung zu Krankheitsgenese, -verlauf, -behandlung Erarbeiten eines möglichst gemeinsamen Krankheitsmodells Therapeutische Phase Vermittlung von Fähigkeiten zur Symptombewältigung bzw. Verhaltensmodifikation Umsetzung in den Alltag und Generalisierung
Individuelle Erfahrungen. Am Anfang steht in jedem Fall
die umfassende Information über die jeweilige psychische Erkrankung. Der Ausgangspunkt dafür liegt bei den individuellen Erfahrungen der Teilnehmer mit ihrer Krankheit. Der Therapeut macht sich ein Bild von dem subjektiven Erleben, den (kognitiven und emotionalen) Erfahrungen, Einstellungen, Erwartungen, Vorbehalten usw.
hinsichtlich der psychischen Störung. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Erarbeitung des Krankheitskonzeptes. Wissensvermittlung. Unter Rückgriff auf diese individu-
ellen Konzepte erfolgt die ausführliche Wissensvermittlung. Sie sollte in klar verständlicher Sprache den aktuellen wissenschaftlich gesicherten Kenntnisstand wiedergeben. Dennoch sollte auch auf noch unklare Sachverhalte hingewiesen werden. Dies gerade vor dem Hintergrund, dass sich mittlerweile viele Patienten und Angehörige weitgehend ungefiltert Informationen aus dem Internet beschaffen. Zunächst wird auf die (vermutete) Entstehung der Erkrankung, auf deren mögliche Ursachen und Auslösebedingungen, auf die (selteneren und üblicherweise bekannten) Krankheitssymptome sowie auf den zu erwartenden Krankheitsverlauf und die allgemeinen Heilungs- bzw. Besserungsaussichten eingegangen. Breiten Raum werden die Angaben zu den Behandlungsmöglichkeiten einnehmen. Hier sind Vor- und Nachteile, kurz- und langfristige Wirkungen und Nebenwirkungen zu nennen. Das gilt für psycho- und pharmakotherapeutische Maßnahmen gleichermaßen. Grundlage jeglicher Ausführung sind auch hier die Vorerfahrungen der Adressaten. Verhaltensmodifizierende Intervention. An den Informa-
tionsteil schließt sich der verhaltensmodifizierende Teil der Intervention an. Eine strenge Trennung zwischen beiden ist nicht möglich und nicht sinnvoll, da dem ggf. immer wieder auftauchenden Informationswunsch der Teilnehmer stets Rechnung zu tragen ist. Verhaltensmodifikation kann bedeuten, mit Hilfe operanter Techniken Verhalten auf- oder abzubauen. Das kann im Rollenspiel handlungsorientiert oder in Form von kognitiver Psychotherapie erfolgen. Dabei bietet sich bei zahlreichen Störungen die Verbesserung von Problemlösefähigkeiten mittels eines Problemlösetrainings an.
Setting Psychoedukative Maßnahmen können in die Einzelbehandlung integriert werden. Sie eignen sich in besonderer Weise aber für die Anwendung in Gruppen. Je nach Zielgruppe (Angehörige oder Patienten) und bei Patientengruppen in Abhängigkeit von der Schwere der psychischen Erkrankung sollte die Gruppengröße zwischen 5 und 7 (z. B. bei schizophrenen Patienten) bzw. 12–14 Teilnehmern (z. B. bei Angehörigen) liegen. Zeitlicher Rahmen. Angehörigengruppen sollten in Ab-
ständen von 2–3 Wochen stattfinden, Patientengruppen im wöchentlichen oder 2-wöchentlichen Abstand. Die Dauer der einzelnen Sitzung hängt sehr von der Aufnahmekapazität der Teilnehmer ab. In der Regel sollte sie
38
926
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
45 min betragen. Sie kann sich jedoch auch über 60 oder 90 min (mit oder ohne Pause) erstrecken. Die Gesamtzahl der psychoedukativen Sitzungen variiert mit dem gewählten Setting. Psychoedukation kann als eine Form einer psychotherapeutischen Kurzintervention betrachtet werden. In der Regel wird es sich deshalb um 20–30 Sitzungen handeln. Mittlerweile gibt es aber auch eine Vielzahl von Manualen, die mit 8–12 Sitzungen arbeiten, was die Schwelle gerade bei Angehörigen deutlich erniedrigt.
Gruppenkonstellation Für die psychoedukative Behandlung in Gruppen sollte, unter dem Gesichtspunkt der diagnostischen Zuordnung, eine möglichst weitgehende Homogenität angestrebt werden. Das erleichtert den Austausch der Gruppenteilnehmer untereinander. Andererseits können unter Modifikation des Vorgehens auch diagnostisch heterogene Gruppen mit Erfolg psychoedukativ behandelt werden (Hornung et al. 1996 b). In bezug auf Alter, Geschlecht und bisherigen Krankheitsverlauf (Dauer, Schwere) können die Gruppen durchaus heterogen sein.
Stationär oder ambulant. Psychoedukative Behandlung
kann im stationären Rahmen stattfinden oder wenigstens während eines Aufenthalts im Krankenhaus beginnen. Als Domäne der Psychoedukation ist die ambulante Behandlung anzusehen. Die verhaltensmodifizierenden Interventionen können besonders gut im ambulanten Kontext geübt und im täglichen Leben der Teilnehmer umgesetzt werden.
Zielgruppen Gemäß dem Hauptschwerpunkt psychoedukativen Handelns sollten in erster Linie Patienten mit chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen bzw. deren Angehörige einbezogen werden (s. Übersicht). Gerade für chronisch Kranke ist es wichtig, dass sie ausführliche Informationen über die vorliegende Krankheit, deren Verlauf und die Möglichkeiten ihrer Behandlung erhalten. Sie müssen lernen, ggf. ein ganzes Leben lang mit der Erkrankung adäquat umzugehen. Dazu muss in vielen Fällen auch eine langjährige Medikamentenakzeptanz vorausgesetzt oder erarbeitet werden. Psychoedukative Maßnahmen eignen sich deshalb besonders für Betroffene, bei denen langfristig die regelmäßige Einnahme von Medikamenten zum Behandlungsplan gehört. Bei ihnen ist eine Aufklärung über die Wirkweise der Psychopharmaka und über die Notwendigkeit der kontinuierlichen Pharmakotherapie von zentraler Bedeutung. Die Akzeptanz gegenüber der psychotropen Medikation kann dadurch gefördert werden.
Einschlusskriterien für psychoedukative Interventionen Teilnehmerbezogene Kriterien:
38
Patienten und/oder deren Angehörige Fähigkeit zur intellektuellen Aufnahme und Verarbeitung des Informationsangebots unter diagnostischen Gesichtspunkten möglichst Homogenität Krankheitsbezogene Kriterien: chronisch verlaufende psychische Erkrankung langfristig angelegte Behandlung häufig: langdauernde Psychopharmakotherapie
Therapievoraussetzung Für den Erfolg einer psychoedukativen Intervention muss sichergestellt sein, dass die Teilnehmer den Inhalten folgen und sie in die Praxis umsetzen können. Nicht geeignet sind psychoedukative Interventionen deshalb für Patienten oder Angehörige mit stark unterdurchschnittlichen Intelligenzleistungen. Ebenfalls ausgeschlossen werden müssen Personen mit massiven kognitiven Beeinträchtigungen, beispielsweise aufgrund psychoorganisch bedingter Funktionsstörungen.
38.1.2
Anwendungsmöglichkeiten von Psychoedukation
Die in jüngerer Zeit konzeptualisierten verhaltenstherapeutischen Interventionen, welche schwerpunktmäßig psychoedukative Elemente enthalten, tun dies in der Regel in systematisierter und oft auch manualisierter Form. Durch diese Transparenz stellen sie sich der wissenschaftlichen Evaluation und dem Vergleich mit anderen Verfahren. Wie oben ausgeführt, müssen unter methodologischen Gesichtspunkten bei einer Auflistung psychoedukativer Methoden diejenigen verhaltenstherapeutischen Verfahren außer acht gelassen werden, die neben anderen Interventionsformen auch psychoedukative Elemente enthalten. Das sind beispielsweise die interpersonelle Psychotherapie (Schramm 1998), kognitiv-behavioral orientierte Psychotherapiemethoden wie die kognitive Therapie bei Depressionen (Hautzinger 2003) oder verhaltenstherapeutische Ansätze bei Angststörungen (Margraf u. Schneider 2006) und Zwangskrankheiten (Reinecker 1994). Da psychoedukative Prinzipien sehr häufig in die therapeutische Arbeit mit den Angehörigen psychisch Kranker intergriert sind, werden diese Behandlungsmodelle weiter unten vorgestellt. Zwischenzeitlich gibt es für eine Reihe psychischer Erkrankungen psychoedukative Interventionen. Einen Überblick geben Behrendt und Schaub (2005) in ihrem »Handbuch Psychoedukation & Selbstmanagement«. Am besten untersucht sind psychoedukative Interventionen in der Behandlung von schizophrenen Pati-
927 38.1 · Psychoedukation
enten, für die es im deutschen Sprachraum mittlerweile an die 20 verschiedenen Psychoedukationsprogramme gibt.
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Die Psychoedukation bei schizophrenen Patienten arbeitet vornehmlich mit Informationen über die Erkrankung, die in der Rezidivprophylaxe und bei der Förderung der Compliance eine Rolle spielen und zielt damit auf eine Verbesserung des Krankheitsverlaufes. Sie ist umfassend konzipiert und beinhaltet auch die Erarbeitung von Krisenplänen. Wie auch in der Arbeit mit den Angehörigen zielt sie auch auf die Stigmatisierung und versucht diese zu bearbeiten. Folgende Teilziele lassen sich formulieren (nach Bäuml u. Pitschel-Walz 2003): Verbesserung des Informationsstandes über die Erkrankung (Ursachen, Verlauf, Therapiemöglichkeiten), Aufbau eines funktionalen Krankheitskonzeptes, Emotionale Entlastung des Patienten, Förderung der langfristigen Behandlungsbereitschaft bei den Patienten, Verbesserung der Fähigkeiten zur Bewältigung von Krisen, Gewinnen von Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung, Erhöhung der Selbstwirksamkeit. Beispielhaft sei das Manual von Bäuml, Pitschel-Walz und Mitarbeitern genannt (2005). Einen Schwerpunkt in psychoedukativen Interventionen setzen aber auch viele kognitiv-verhaltenstherapeutische Manuale, z. B. mit dem Ziel der Rezidivprophylaxe (Klingberg et al. 2003). Der optimale Zeitpunkt für eine psychoedukative Intervention ist noch umstritten, wobei es Hinweise gibt, dass die höchste Effizienz einer solchen Maßnahme bei Patienten mit mittlerer Erkrankungsdauer erreichbar ist (Feldman et al. 2002). Dabei handelt es sich um Patienten, die ihre Erkrankung akzeptiert haben, aber noch keine fatalistische Einschätzung bezüglich Entstehung und Verlauf entwickelt haben.
kala u. Merinder 2002). Auch die Behandlungsleitlinie Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN sieht den Empfehlungsgrad B für den Einsatz psychoedukativer Interventionen in Kombination mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Elementen zur Rückfallverhütung. Empfohlen wird die Behandlung nach einem Manual (DGPPN 2006, S. 115).
Affektive Störungen Hoch strukturierte psychoedukative Behandlungsformen wurden auch in der Therapie unipolar depressiver Patienten evaluiert. Ihr Hauptzielbereich ist die »Bewältigung der Depression«. Mittlerweile gibt es neben allgemeinen kognitiv-verhaltenstherapeutischen auch spezifische Manuale zur Psychoedukation bei depressiven Störungen (z. B. Pitschel-Walz et al. 2003).
EbM-Box Nach einer Metaanalyse von Cuijpers (1996) reduziert sich die depressive Symptomatik bei Patienten mit psychoedukativer Intervention deutlicher als bei Patienten aus den Kontrollbedingungen (Level C). Im (indirekten) Vergleich mit herkömmlichen Psychotherapieverfahren scheint die Psychoedukation genausogut abzuschneiden. Direkte Vergleiche zwischen psychoedukativer Therapie und beispielsweise kognitiver Psychotherapie bei unipolar Depressiven weisen in dieselbe Richtung (Dowrick et al. 2000).
Bipolare Störungen Ein wichtiges Prinzip ist bei diesen Störungsbildern die Durchführung der Psychoedukation in Euthymie (Colom u. Lam 2005). Einen Überblick über psychoedukative Programme bei bipolaren Störungen geben Wagner und Mitarbeiter (Wagner et al. 2006). Diese sind auch in manualisierter Form erhältlich (z. B. Wagner u. Bräuning 2004).
EbM-Box
EbM-Box
Eine Cochrane-Review, die 10 Studien einschloss, zeigte signifikant niedrigere Rückfall- bzw. Wiederaufnahmeraten für die PE-Gruppen im Vergleich zu den Patienten, die eine Standard-Versorgung erhielten (Level B). Weitere sekundäre Outcome-Parameter waren schwer interpretierbar, es zeigte sich jedoch ein Trend zur Verbesserung der Lebensqualität (Pek-
Es gibt eine Reihe von randomisiert-kontrollierten Studien, die die Wirksamkeit psychoedukativer Interventionen bei bipolaren Störungen zeigen konnten. Dies gilt für die Zielkriterien Rückfall, Zeit bis zum Rückfall und Zahl der Hospitalisierungen (Level B). Eine Übersicht von Colom und Lam (2005) führt alle wesentlichen Interventionsstudien auf.
38
928
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
Angst- und Panikstörungen Die Psychotherapie dieser Diagnosegruppe ist klassischerweise eine Domäne des kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatzes. Psychoedukative Elemente waren daher schon immer Bestandteil der Therapie, mittlerweile gibt es aber auch Manuale, die diese in den Vordergrund rücken (Alsleben et al. 2004).
EbM-Box Eine randomisiert-kontrollierte Studie konnte zeigen, dass eine Telefon-gestützte psychoedukative Intervention für Panikstörungen und generalisierte Angststörung im Vergleich zur Grundversorgung durch den Hausarzt zu einer Reduktion der Angstsymptomatik, zur Verbesserung der Lebensqualität, sowie des Beschäftigungsgrades führt (Rollman et al. 2005; Level C).
Tumorpatienten sei auf das Manual von Weis und Mitarbeitern verwiesen (2006).
EbM-Box Für die Behandlung der Fibromyalgie wird eine multimodale Therapie unter Einschluss von edukativen und CBT-Elementen empfohlen (Adams u. Sim 2005; Level C). Gruppenpsychoedukation beim malignen Melanom führt zu Verminderung von psychischem Stress und zu verbesserter Krankheitsverarbeitung. Jedoch waren die Effekte nur kurzfristig nachweisbar (Boesen et al. 2005; Level C).
38.2
Angehörigenarbeit
38.2.1
Begriffsbestimmung und Typologie
Posttraumatische Belastungsstörung Obwohl psychoedukative Elemente auch in der Behandlung der PTSD in den meisten Schemata eingearbeitet sind, spielen sie keine führende Rolle.
EbM-Box Die meisten vorliegenden Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen bei der PTSD unterscheiden nicht scharf zwischen den verschiedenen Bestandteilen eines Therapieschemas. Daher ist auch zur Wirksamkeit der einzelnen Bestandteile in diesen Studien keine Aussage zu machen. Es gibt aber 2 Studien, eine randomisiert, die keine Wirksamkeit eines psychoedukativen Selbsthilfeprogrammes nach akuter Traumatisierung bei Verletzten zeigte (Turpin et al. 2005) und eine randomisiert-kontrollierte Studie, die bei traumatisierten Flüchtlingen ebenfalls nur eine geringe Wirksamkeit der psychoedukativen Intervention zeigte (Neuner et al. 2004). Eine Empfehlung für Psychoedukation als alleinige Therapie kann daher bei PTSD nicht gegeben werden (Level B).
38
Anwendungsbeispiele in den somatischen Fächern Für verschiedenste somatische Erkrankungen gibt es mittlerweile Edukationsprogramme, die einer reinen Wissensvermittlung dienen, aber auch eine Reihe von psychoedukativen Interventionen. Als Beispiele seien hier die koronare Herzerkrankung (Linden 2000), Diabetes mellitus (Olmsted et al. 2002) und Asthma bronchiale (Durna u. Ozcan 2003) genannt. Zur Behandlung von
Der Terminus Angehörigenarbeit deutet bereits darauf hin, dass diese Interventionsform nicht identisch ist mit Familientherapie im engeren Sinne. Im Rahmen von Angehörigenarbeit geht es inhaltlich nicht ausschließlich um eine Behandlung der Familie oder von bestimmten familiären Strukturen und Interaktionen. Vielmehr spielen dabei auch Information, Beratung, Unterstützung der Angehörigen und konkrete Hilfestellungen eine Rolle. Inhalte und Zielsetzungen von Angehörigenarbeit können sehr differieren und, je nach Einteilungsprinzip, zu unterschiedlichen Typisierungen führen. In der wissenschaftlichen Begleitforschung wird neben der Wirksamkeit therapeutischer Angehörigenarbeit (s. unten) auch zunehmend die subjektive Belastung der Angehörigen untersucht. Dazu gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen (u. a. Möller-Leimkühler 2005; Wittmund et al. 2005). Die Belastung der Angehörigen scheint dabei weitgehend unabhängig von der Diagnose des erkrankten Angehörigen zu sein (Ostman et al. 2005). Als weiterer Schritt wurden Instrumente entwickelt, mit denen der Bedarf der Angehörigen und die Art der Unterstützung erfasst werden kann (u. a. Unger et al. 2005).
Experten- oder Angehörigendominanz Nach formalen Kriterien lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Gruppeninitiierung die Angehörigenarbeit nach Katschnig u. Konieczna (1984) zunächst in 2 Kategorien unterteilen (⊡ Abb. 38.1): Kategorie 1: Angehörigenarbeit mit hoher Expertenund geringer Angehörigendominanz, Kategorie 2: Angehörigenarbeit mit geringer Experten- und hoher Angehörigendominanz.
929 38.2 · Angehörigenarbeit
⊡ Abb. 38.1. Typen von Angehörigenarbeit. (Mod. nach Katschnig u. Konieczna 1984)
Kategorie 1. In die Kategorie 1 gehört vor allem die Fami-
lientherapie. Allen familientherapeutischen Ansätzen ist dabei gemeinsam, dass sie eine Modifikation der intrafamiliären Interaktionen anstreben, um zu einer Reduktion der Beschwerden, d. h. der Krankheitssymptome, des Patienten zu kommen (Gurman et al. 1986). Dabei richten sich die therapeutischen Interventionen an die Gesamtfamilie unter Einbezug des Patienten. Die Experten stellen die Indikation zur Familientherapie, initiieren diese und steuern das Gruppengeschehen durch ihre Interventionen im Sinne des gewünschten therapeutischen Prozesses. In Abhängigkeit von der Therapiemethode unterscheidet man psychoanalytische, strukturelle, d. h. kognitiv-behaviorale und strategische Familientherapie. Letztere wendet systemtheoretische Grundsätze an. Eine Frühintervention in der Familie des Erkrankten ist z. B. auch essenzieller Bestandteil des »Need-adapted Treatments«, eines integrativen Ansatzes zur bedürfnisangepassten Behandlung bei schizophrenen Psychosen, der in Finnland entwickelt wurde (Lehtinen 1994). Die entweder angehörigen- oder patientenzentrierten therapeutischen Angehörigengruppen nehmen in bezug auf Experten- bzw. Angehörigendominanz eine Mittelstellung ein. Auf sie wird weiter unten eingegangen. Kategorie 2. In die Kategorie 2 fällt die Selbsthilfe, die na-
hezu vollständig eine Domäne der Betroffenen selbst, in diesem Fall der Angehörigen, ist. Selbsthilfeaktivitäten werden von den Angehörigen selbst ins Leben gerufen und unterhalten. Im Vordergrund steht dann die Angehörigendominanz. Experten werden zur Klärung bestimmter Fragen oder zur Vermittlung konkreter Hilfen zu einzelnen Treffen eingeladen. Die Selbsthilfegruppe stellt auch ein Forum des Austauschs unter Betroffenen, der gegenseitigen Unterstützung, aber auch der gesellschaftspolitischen Aktivitäten dar. Die daraus entstandenen »Angehörigenvereine« verstehen sich zunehmend als
Vertreter ihrer eigenen Interessen, aber auch der ihrer psychisch kranken Familienmitglieder. Zu Recht fordern sie mehr Anerkennung und Berücksichtigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse im Rahmen gesundheitspolitischer Planungen. Ergänzend hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten die »trialogische Kommunikation« entwickelt, d. h. die Einbindung der Angehörigen und der Betroffenen mit dem Ziel der Entwicklung gemeinsamer Krankheits- und Behandlungskonzepte (Wolfersdorf 2004). Ein konkretes Beispiel sind Psychose-Seminare, die mittlerweile annähernd flächendeckend in der Bundesrepublik existieren und die den gleichberechtigten Informationsaustausch zwischen Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen ermöglichen.
38.2.2
Subtyp der Angehörigenarbeit: therapeutische Angehörigengruppen
Formen therapeutischer Angehörigengruppen Therapeutische Angehörigengruppen sind, der oben aufgeführten Typologie folgend, entweder patientenzentriert oder mehr angehörigenzentriert. Bei den betroffenen Angehörigen handelt es sich in der Regel um einen oder beide Elternteile, meistens die Mütter der Patienten, oder um (Ehe-)Partner. Sodann kommen auch Geschwister oder (bei alterspsychiatrischen Patienten die erwachsenen) Kinder in Frage. Angehörigenzentrierte Angehörigengruppen. Sie stehen
den Selbsthilfeorganisationen sehr nahe. Mit Expertenhilfe werden primär Probleme der Angehörigen bearbeitet. Das psychisch erkrankte Familienmitglied spielt nur sekundär eine Rolle. Die Angehörigen sind von sich aus problembewusster und veränderungsbereiter als bei den
38
930
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
patientenzentrierten Gruppen. Es bestehen Parallelen zu Selbsterfahrungsgruppen. Patientenzentrierte Angehörigengruppen. Bei ihnen erfolgt die Kontaktaufnahme mit den Angehörigen über den Patienten. Entsprechend stehen auch dessen Erkrankung und Behandlung und der Umgang mit ihm zunächst im Mittelpunkt. Diese Gruppen sind in der Regel von Experten geleitet, welche im Sinne eines psychoedukativen Vorgehens die Angehörigen umfassend aufklären und ihnen ggf. konkrete Hilfsangebote machen. Deshalb kann auch von therapeutischer Gruppenarbeit mit den Angehörigen bzw. der Familie oder von therapeutischen Angehörigengruppen gesprochen werden (Buchkremer et al. 1989).
Ziele therapeutischer Angehörigengruppen Therapeutische Angehörigengruppen dienen der Entlastung und Unterstützung der Angehörigen. Durch umfassende Informationen sollen die Angehörigen dysfunktionale Denkstile korrigieren lernen. Direkte Hilfestellungen sollen dazu beitragen, die Interaktion innerhalb der Familie zu optimieren. Sodann wird angestrebt, die Angehörigen als Verbündete bei der Behandlung der psychischen Störung zu gewinnen und aktiv in die Therapie miteinzubeziehen. In Anlehnung an Buchkremer et al. (1989) lassen sich Sensibilisierung, Desensibilisierung und Einbezug in die Therapie als Behandlungsziele formulieren (s. Übersicht).
Ziele therapeutischer Angehörigengruppen. (Nach Buchkremer et al. 1989) Sensibilisierung der Angehörigen durch Vermittlung von Verständnis für den Patienten und dessen (krankheitsbedingte) Situation Verbesserung der Fähigkeit, zwischen krankem und nichtkrankhaftem Verhalten des Patienten zu differenzieren Erfassen und Bearbeiten eigener Defizite im Umgang mit dem Patienten und dessen Krankheit Erlernen adäquater Interaktionsmuster
Inhalte therapeutischer Angehörigengruppen
38
Die wesentlichen Inhalte therapeutischer Angehörigengruppen lassen sich aus dem psychoedukativen Paradigma ableiten. Demnach gehören umfassende Informationen über die psychische Erkrankung ebenso dazu wie gezielte lerntheoretisch fundierte Instruktionen und Hilfsangebote. Je nach Zielbereich steht mehr die Informationsvermittlung oder mehr der verhaltenstherapeutische Zugang im Vordergrund der Intervention. Für das konkrete Vorgehen hat sich bewährt, nach einer ersten Kontaktphase eine ausführliche edukative Informationsphase zu etablieren. Dadurch lassen sich Ängste, Selbstvorwürfe und dysfunktionale Einstellungen in bezug auf die psychische Erkrankung und den Umgang mit ihr reduzieren. Daran anschließend kann mit der Präzisierung konkreter Schwierigkeiten, die sich für die Familie aufgrund der Krankheit ergeben haben, begonnen werden. Unter Verzicht auf die Betonung eines Defizitmodells ist dabei besonders auf vorhandene Problembewältigungsfertigkeiten der Angehörigen zu achten. Die professionellen Helfer haben nicht selten anzuerkennen, dass die Angehörigen bereits selbst Experten für die Erkrankung sind.
Desensibilisierung der Angehörigen durch Reduktion von Hilflosigkeit, Schuld- und Schamgefühlen, übertriebenem Veranwortungsgefühl Ermöglichen einer größeren emotionalen Distanz zum Patienten Erwerb von mehr Selbstsicherheit im Umgang mit dem Patienten und dessen Erkrankung Einbezug der Angehörigen in die Therapie durch umfassende Aufklärung über die psychische Erkrankung und ihre Behandlung, Schulung zum Umgang mit der Erkrankung, Vermittlung von Krisenbewältigungsfertigkeiten.
38.2.3
Anwendungsmöglichkeiten von Angehörigenarbeit
Angehörigenarbeit wird in weiten Bereichen psychiatrischer Therapie eingesetzt. Je nach Störungsbild finden sich unterschiedliche Typen von Angehörigenarbeit (Wiedemann u. Buchkremer 1996).
Organische Störungen Bereits seit mehr als 20 Jahren gibt es therapeutische Gruppen für Angehörige von Demenzkranken (Bruder 1983). Dabei stehen die Angehörigen selbst oft im Mittelpunkt. Häufig sind sie durch die Pflege des Demenzpatienten erheblich reaktiv psychisch belastet (Rainer 2002) und leiden unter psychosomatischen Beschwerden. Obwohl sie durch die oft langjährige Betreuungsarbeit bereits viel Erfahrung im Umgang mit Demenzkranken gesammelt haben, bestehen Bedürfnisse nach Information, gegenseitigem Austausch und emotionaler Unterstützung.
931 38.2 · Angehörigenarbeit
EbM-Box Unkontrollierte und kontrollierte Untersuchungen zeigen, dass informationszentrierte Angehörigengruppen, insbesondere aber die systematischen kognitiv-behavioral ausgerichteten Therapieangebote für pflegende Angehörige zu deutlicher Entlastung, zum Rückgang depressiver Symptomatik und zu verbesserten Bewältigungsstrategien beitragen (Kahan et al. 1985; Mittelmann et al. 1993). Nach einer Metaanalyse von Sorensen et al. (2002) sind psychoedukative und psychotherapeutische Interventionen am wirksamsten (Level B).
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Typischerweise werden bei der integrativen Behandlung stoffgebundener Abhängigkeiten Paartherapie und therapeutische Angehörigengruppen in Kombination mit psycho- und soziotherapeutischer Einzelbehandlung durchgeführt. Sodann existieren die bekannten Selbsthilfegruppen, beispielsweise von Angehörigen Alkoholabhängiger (AlAnon; vgl. hierzu: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren 1993). In den letzten Jahren hat sich die Arbeit mit Patienten mit Doppeldiagnose, z. B. Alkohol und Psychose, intensiviert, wobei keine kontrolliertrandomisierten Studien zur Wirksamkeit einer therapeutischen Angehörigenarbeit vorliegen. In Übersichten wird diese aber wie auch die Psychoedukation regelhaft genannt (z. B. Gouzoulis-Mayfrank 2004).
EbM-Box Am besten untersucht ist die Effizienz von Angehörigenarbeit auf die Rückfallrate bei Alkoholkranken. Die vorliegenden Befunde sprechen in der Mehrzahl dafür, dass die Kombination von invididueller Alkoholismustherapie mit beispielsweise verhaltenstherapeutisch angelegter Paartherapie (O’Farrell et al. 1985; McCrady et al. 1986) oder interaktionell orientierter Paartherapie (O’Farrell et al. 1985) die Zahl abstinenter Tage auch langfristig erhöhen kann. Die verhaltenstherapeutische Paartherapie vermochte auch noch 6 Monate nach Therapieende die Zufriedenheit innerhalb der Ehe zu verbessern. Allerdings wird auch von weniger ermutigenden Ergebnissen berichtet (Fichter u. Frick 1992).
hend von den Therapiestudien von Goldstein et al. (1978) wurden vor dem Hintergrund des Vulnerabilitäts-StressBewältigungsmodell schizophrener Psychosen (Nuechterlein u. Dawson 1984) eine Vielzahl psychoedukativer Interventionen für Angehörige entwickelt. Neben den »klassischen« Formen psychoedukativer Familientherapie mit Behandlung der Familie unter (nicht immer ständigem) Einbezug des Patienten (Falloon et al. 1982) sind dies multiple Familientherapiegruppen, z. T. mit Patiententeilnahme (McFarlane et al. 1995), und die therapeutische Gruppenarbeit mit Angehörigen ohne Einbezug der Patienten (Buchkremer et al. 1995 a, b; Cassidy et al. 2001). Sodann existiert die sog. bifokale therapeutische Gruppenarbeit. Bei dieser besteht das Therapieangebot aus Angehörigengruppen und parallel dazu stattfindenden psychoedukativen Patientengruppen (Lewandowski u. Buchkremer 1988; Kissling 1995). Eine neue Entwicklung ist der Einsatz von Angehörigen als Gruppenleiter in psychoedukativen Gruppen. Die Durchführbarkeit, Praktikabilität und Wirksamkeit eines vorbereitenden Trainigsprogrammes konnte bereits in einer Studie gezeigt werden (Rummel et al. 2005). Angehörigenarbeit in der Schizophreniebehandlung hat neben der rückfallverhindernden Wirkung günstige Effekte auf das Ausmaß an Expressed Emotions (EE) innerhalb der Familie, beeinflusst das Familienklima positiv und führt zu einer Verringerung von Stress und Belastung der Angehörigen (Bruns u. Hornung 1998). Zudem wirkt sie sich günstig auf einzelne Patientenvariablen aus (⊡ Tab. 38.1).
⊡ Tab. 38.1. Effekte der verschiedenen Typen von Angehörigenarbeit auf Angehörigen- und Patientenvariablen Angehörigenmerkmale Reduktion von
Zunahme von
Psychosomatischen Beschwerden (Mütter),
Wissen über Schizophrenien, Zuversicht
subjektiver Belastung, persönlichem Stress, Kritik (EE), emotionalem Überengagement (EE) Patientenmerkmale Reduktion von
Zunahme von
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
Rezidivzahl,
Arztvertrauen,
Rehospitalisierungsrate,
Medikamentenvertrauen,
Die Angehörigenarbeit nimmt im Rahmen der Schizophreniebehandlung einen breiten Raum ein, besonders innerhalb der ambulanten Rezidivprophylaxe. Ausge-
psychopathologischer Gestörtheit
Compliance, allgemeinem und sozialem Funktionsniveau
38
932
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
EbM-Box Im Einzelnen unterscheiden sich die psychoedukativen Programme für Familien deutlich. Sie sind in bezug auf ihre Effizienz überwiegend sehr gut evaluiert (Übersicht bei Pitschel-Waltz et al. 2001). Im Kontrollgruppenvergleich reduziert die Angehörigenarbeit die Rückfallraten, verbessert die Erholung der Patienten und die familiäre Interaktion (McFarlane et al. 2003; Level B). Das gilt auch für die im deutschen Sprachraum evaluierten bifokalen psychoedukativen Interventionen (Buchkremer u. Hornung 1995 a). Nach eigenen Befunden an 191 chronisch schizophrenen Patienten bleibt der rezidivprophylaktische Effekt sogar langfristig erhalten. Noch 5 Jahre nach Beendigung der Intervention lag die Rehospitalisie-
Affektive Störungen Depressive Syndrome einerseits und Spannungen in der Familie oder Partnerschaft andererseits können auf unterschiedliche Weise miteinander interferieren. Angehörigenarbeit kann deshalb bedeuten, die in pathologischen Interaktionen liegenden Ursachen depressiver Störungen zu behandeln (z. B. O’Leary u. Beach 1990) oder die durch die Depression belastete Beziehung zu verbessern (Coyne et al. 1987). Am häufigsten wird dabei der (männliche)
rungsrate der Patienten mit bifokaler Gruppenarbeit signifikant unter derjenigen der Kontrollgruppe (Hornung et al. 1996 a). Im Gegensatz dazu steht eine Cochrane-Review, die familiäre Interventionen bei schizophrenen Psychosen in ihrer Wirksamkeit gerade was Langzeiteffekte angeht sehr zurückhaltend beurteilt (Pharoah et al. 2003). Die therapeutische Wirkung scheint einerseits von den Inhalten abzuhängen, da Informationsvermittlung alleine nicht zur Rückfallverhütung beiträgt. Andererseits ergibt sich aus den vorliegenden Befunden kontrollierter Studien, dass sich nur bei Einbezug der Patienten zumindest in Teile der Intervention ein wesentlicher rezidivprophylaktischer Effekt ergibt (Barbato u. D’Avanzo 2000).
Partner der (überwiegend weiblichen) erkrankten Indexperson mitbehandelt. Seltener werden Eltern oder Kinder miteinbezogen. Methodisch gesehen werden in der Mehrzahl der Studien verhaltenstherapeutische oder psychoedukative Techniken bzw. eine besondere Form der interpersonellen Psychotherapie für die Behandlung von Paaren angewandt.
EbM-Box Die vorliegenden Befunde weisen zusammenfassend daraufhin, dass die verhaltenstherapeutisch orientierten Paartherapien die depressive Symptomatik der Patienten effektiv reduzieren können, wenn Konflikte in der Beziehung vorhanden sind. Es scheint sogar ein überdauernder, das Rückfallrisiko reduzierender Therapieeffekt vorzuliegen. Sie führen zusätzlich zu einer Verbesserung innerhalb der Paarbeziehung (Level D). Eine randomisierte kontrollierte Studie legt nahe, dass die Ergänzung der Standardtherapie durch familientherapeutische Interventionen nach Entlassung aus der Klinik die Symptomatik verbessert und Suizidalität verringert (Miller et al. 2005; Level C).
In Bezug auf die Behandlung bipolar affektiv Erkrankter zeichnen sich günstige Effekte psychoedukativer Angehörigenarbeit ab. Eine randomisierte kontrollierte Studie konnte zeigen, dass die Kombination von Psychoedukation, Kommunikationstraining, Problemlösetraining, und Pharmakotherapie im Vergleich zu einer Standardversorgung zu weniger Rückfällen und verbesserter Medikamentencompliance führt (Miklowitz et al. 2003; Level C). Eine andere Studie konnte zeigen, dass die subjektive Belastung der Angehörigen durch psychoedukative Intervention und Vermittlung von Coping-Strategien deutlich abnahm (Reinares et al. 2004; Level C).
38 PTSD, Angst-, Panik- und Zwangsstörungen Angst- und Panikstörungen, PTSD (Post traumatic stress disorder). Bislang ist noch nicht entschieden, inwieweit
bei der Entstehung und Behandlung von Angststörungen die Situation innerhalb der Paarbeziehung eine Rolle
spielt (Emmelkamp 1988; Peter et al. 1993). In den verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen werden dennoch vereinzelt die Ehepartner der Betroffenen aktiv in die Therapie miteinbezogen, überwiegend zur Unterstützung des Expositionstrainings.
933 38.2 · Angehörigenarbeit
EbM-Box Aus kontrollierten Untersuchungen finden sich Hinweise, dass die Hilfe des Ehepartners (als »Kotherapeut«) zu deutlicherer Symptomreduktion führt als die (Gruppen-)Behandlung des Patienten allein. Der Effekt lässt sich auch noch 2 Jahre nach Abschluss des 12-stündigen Verhaltenstrainings nachweisen (Cerny et al. 1987). Eine andere Studie kombiniert partnerunterstützte Expositionsbehandlung entweder mit einem Kommunikationstraining oder mit einem Entspannungstraining für Paare (Arnow et al. 1985). Die Ergebnisse sprechen für das zusätzliche Kommunikationstraining. Nach wie vor bleibt aber offen, bei welchen Patienten der Partner (oder die Partnerin) in die Therapie einbezogen werden sollte und wie man sich die Wirkweise dieser Intervention vorzustellen hat. Generelle Empfehlungen für therapeutische Angehörigenarbeit werden daher auch nicht in Übersichten zu diesem Thema ausgesprochen.
Zwangsstörungen. Durch das Auftreten von Zwangs-
störungen bei einem Patienten werden die Beziehungen innerhalb einer Partnerschaft oder Familie sehr häufig extrem belastet. Außerdem können langdauernde Eheprobleme die Erfolgsaussichten einer Verhaltenstherapie bei Zwangssyndromen reduzieren (Hand 1988). Die Einbeziehung der Angehörigen in die (bei Zwangssymptomen indizierte) Expositionsbehandlung liegt deshalb nahe. Familien- oder Paartherapie kann, ohne unmittelbare Behandlung des Symptomträgers, zu einer Reduktion der Zwangssymptomatik führen. Andererseits kann über die symptomorientierte Behandlung auch erst der Weg für eine Paartherapie frei werden (Hand 1993). Wie die Angehörigen in die Behandlung der Zwangssymptomatik miteingebunden werden können, zeigt die strategisch-systemische, multimodale Verhaltenstherapie von Hand u. Tichatzki (1979) auf. Ein aktuelles, in der Praxis evaluiertes Manual zur Gruppenpsychoedukation haben Terbrack und Hornung herausgegeben (2004).
EbM-Box Erste kontrollierte Studien unter Einbeziehung der Familien wiesen positive Effekte auf (Van Noppen et al. 1997). Die Datenbasis hat sich seitdem nur unwesentlich verbreitert, so dass die Empfehlung für therapeutische Angehörigenarbeit bei Zwangsstörungen Evidenzlevel C hat.
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Anorexia nervosa. Die therapeutische Arbeit mit der Fa-
milie ist gerade bei jugendlichen Essgestörten unbedingt erforderlich. Konsequenterweise wurden integrative familientherapeutische Konzepte erarbeitet, die sich unterschiedlicher Methoden bedienen. Sie kombinieren verhaltenstherapeutische Ansätze mit systemischen, strukturellen und psychodynamischen Modellen (Russell et al. 1987).
EbM-Box Rusell et al. (1987) beschreiben die Ergebnisse einer kontrollierten Studie: Die einjährige Familientherapie war im Vergleich zu supportiver Einzeltherapie effektiver bei nicht chronifiziert essgestörten Patientinnen mit einem Krankheitsbeginn vor dem 19. Lebensjahr. Körpergewicht und Essverhalten besserten sich signifikant. Patientinnen mit späterem Krankheitsbeginn profitierten mehr von der supportiven Behandlung. Einzelne Studien zeigen eine verminderte Belastung der Angehörigen und eine Reduktion der »Expressed Emotions« durch psychoedukative Intervention (Uehara et al. 2001), bzw. die Gleichwertigkeit von Gruppenpsychoedukation für Angehörige und Familientherapie bei Anorexia nervosa (Geist et al. 2000). Insgesamt erscheint die Studienlage für therapeutische Angehörigenarbeit bei Essstörungen aber dünn, die Evidenz befindet sich auf dem Level C.
Sexualstörungen. Bei Sexualstörungen ist die Paartherapie seit Jahrzehnten etabliert (Masters u. Johnson 1973). Viele Autoren bevorzugen ein verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Vorgehen (Gerard 1983). Dabei nimmt der Ehepartner aktiv an den sexualtherapeutischen Sitzungen und den zu Hause stattfindenden Übungen teil. Diese Form der paarbezogenen Sexualtherapie ist effizient hinsichtlich einer Reduktion der Sexualstörungen (am häufigsten werden weibliche Orgasmusstörungen, unterschiedliche sexuelle Dysfunktionen, Erektionsstörungen und Ejaculatio praecox behandelt). Seltener führt sie auch zu Verbesserungen in der Paarbeziehung selbst. Allerdings liegen auch Befunde vor, nach denen eine verhaltenstherapeutische Paartherapie einer Individualtherapie unterlegen ist (Obler 1982). Insgesamt wird angesichts des heterogenen multikausalen Störungsbildes immer wieder auf die Notwendigkeit der Einbindung des Partners, aber auch aller beteiligten Fachdisziplinen hingewiesen, da monokausale, auch psychotherapeutische Ansätze einem multidisziplinären Ansatz meist unterlegen sind (Althof et al. 2005).
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934
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
Im Hinblick auf einsichtsorientierte Sexualtherapien sei auf die Arbeiten von Arentewicz u. Schmidt (1993) verwiesen. Sie kombinieren verhaltenstherapeutische Sexualübungen mit Gesprächssitzungen, in denen unbewusste Konflikte der Sexualpartner aufgedeckt werden sollen. Auch hierbei werden sexuelle Dysfunktionen in rund 70% der Fälle sogar langfristig behoben oder gebessert. Nach Schmidt (1996) hat der Paartherapeut 4 Perspektiven des Symptomverständnisses zu beachten (s. Übersicht).
Die Perspektiven des Symptomverständnisses bei Sexualstörungen. (Nach Schmidt 1996) Paardynamisches Verständnis: Sexualstörung betrifft stets ein Paar Probleme werden auf Partner/-in delegiert Biografisch-kausales Verständnis: Sexualstörung ist Ergebnis einer Lerngeschichte Finales Verständnis: Sexualstörung liefert Symptomgewinn Feministisches Verständnis: Weibliche Sexualstörung als Machtausdruck gegenüber dem Mann
Andere psychische und psychosomatische Störungen Angehörigenarbeit des einen oder anderen Typus ist noch bei zahlreichen anderen psychischen Störungsbereichen anwendbar. Der Grad der Evidenz ist aber angesichts nur weniger randomisierter-kontrollierter Studien so gering, dass eine allgemeine Empfehlung nicht ausgesprochen werden kann. Von ganz zentraler Bedeutung ist dagegen die therapeutische Arbeit mit der Familie in der psychiatrischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Sie wird in der entsprechenden Spezialliteratur dargestellt.
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38
936
38
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
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39 39 Versorgungsstrukturen W. Rössler
39.1
Geschichte – 938
39.2
Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien – 939 Bedarfsgerechte Versorgung – 939 Gemeindenahe Versorgung – 941 Dezentralisierung und Sektorisierung – 942 Koordination und Zusammenarbeit – 942 Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker – 943
39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.2.5
39.3 39.3.1 39.3.2 39.3.3
System der psychiatrischen Versorgung Stationäre Versorgung – 946 Ambulante Versorgung – 950 Komplementäre und rehabilitative Versorgung – 952
39.4 Spezielle Versorgungsprobleme – 954 39.4.1 Einstellung der Bevölkerung zu psychisch Kranken und deren Versorgung – 954 39.4.2 Arbeitslosigkeit – 954 39.4.3 Wohnsitzlosigkeit und psychische Störungen – 955 39.4.4 Krankenhausmortalität – 957 39.4.5 Kosten der Versorgung psychisch Kranker – 959 Literatur
– 959
– 945
> > Ausgelöst durch z. T. erhebliche Mißstände in den großen psychiatrischen Anstalten setzten Mitte der 1970er Jahre in Deutschland Reformbemühungen ein, die zu einer verbesserten Versorgung psychisch Kranker führen sollten. Im Laufe dieser Reformen zielten die Konzepte zunehmend weniger auf eine institutionsgerichtete, sondern mehr auf eine klientenorientierte und damit auf eine bedarfsgerechte und gemeindenahe Versorgung. Dabei umfasst das System der psychiatrischen Versorgung neben den professionellen Versorgungsstrukturen wie ambulante, stationäre und komplementäre Institutionen auch nichtprofessionelle Hilfesysteme. Die Versorgungmöglichkeiten und auch die Koordination der Hilfsmöglichkeiten sind immer noch nicht optimal. Bedacht werden muss auch, dass bei der Versorgung psychisch Kranker neben medizinischen und organisatorischen v. a. auch gesellschaftliche (z. B. Akzeptanz oder Vorurteile) und rechtliche Faktoren eine Rolle spielen. So werden beispielsweise psychisch Kranke aufgrund der bestehenden sozialrechtlichen Anspruchsgrundlagen im Vergleich zu körperlich Erkrankten in der Versorgung öfter benachteiligt. Ein besonderes Problem stellt die psychiatrische Versorgung bestimmter Patientengruppen, v. a. der Wohnsitzlosen dar, für die trotz eines erheblichen Problemdrucks kaum adäquate Versorgungsmöglichkeiten bestehen.
938
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.1
Geschichte
Entwicklung im 19. Jahrhundert Spezialisierte Einrichtungen für die Versorgung psychisch Kranker und Behinderter erlangten erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts größere Bedeutung (Deutscher Bundestag 1975), nachdem sich in der Folge der bürgerlichen und industriellen Revolution die Staaten Europas der sozialen Fürsorge für ihre Bürger verstärkt zugewandt hatten. So entstanden staatliche Alters- und Fremdenheime, Waisenhäuser, Kindergärten und erstmals auch von Zuchthäusern für Kriminelle getrennte »Irren- und Idiotenanstalten« (Wedel-Parlow 1981). Teils durch Neuerrichtung, teils durch Umwandlung ehemaliger Klöster, Abteien und Schlösser entwickelten sich in Deutschland zwischen 1800 und 1860 insgesamt 94 psychiatrische Anstalten (Deutscher Bundestag 1975).
Anstalten auf dem Lande: Ruhe und Stille Obwohl sich die Psychiatrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben Chirurgie und innerer Medizin als eigenständiges medizinisches Fach etabliert hatte, verstand sie sich unter dem Einfluss der Romantik zunächst weniger als medizinische Disziplin denn als »aufgeklärte oder spekulative, moraltherapeutische Humanitätspsychiatrie« (Schrenk 1973). Menschen mit »verwirrten Sinnen« und »entordneter Vernunft« sollten aus dem vermeintlich pathogenen Milieu ihrer Lebenswelt herausgenommen werden, um in dem idealen Milieu einer psychiatrischen Anstalt die »verlorene Ordnung ihres Lebens und ihres Geistes« wiederzufinden (Häfner 1979). Die Isolation in der Stille und Ruhe geografisch entfernt von den städtischen Ballungsräumen abgeschiedener Anstalten schien die angemessene Behandlungsmethode, um den Kranken von möglichst allen pathogenen Einflüssen freizuhalten. Der herausragende Exponent einer solchen Anstaltspsychiatrie in Deutschland war C. F. W. Roller, der Begründer und erste Direktor der badischen Musteranstalt Illenau, die in ländlicher Umgebung gleich weit von den Universitätsstädten Heidelberg und Freiburg entfernt, entstanden war (Roller 1831).
te er Reformpläne für die Versorgung psychisch Kranker, die auf die Integration der Psychiatrie in die medizinische Versorgung abzielten. Er forderte in Ergänzung zu den Heilanstalten, die aufgrund ihrer ländlichen Lage mit Erholungs- und Arbeitsmöglichkeiten für die langfristige – mit heutiger Terminologie – Rehabilitation psychisch Kranker geeignet seien, sog. »Stadtasyle« (Griesinger 1872) für die kurzfristige Behandlung akut Erkrankter im Verbund mit den allgemeinen Stadtkrankenhäusern. Obgleich Griesinger mit seinen gesundheitspolitischen Vorstellungen den Befürwortern der isoliert gelegenen Heil- und Pflegeanstalten unterlegen war, gab es um die Jahrhundertwende trotzdem knapp 40 Stadtasyle, mit der Einschränkung, dass sie vorwiegend der Weiterleitung psychisch Kranker in entfernte Heilanstalten dienten (Dannemann 1901).
Verschlechterung um die Jahrhundertwende Stationäre Versorgung Der Schwerpunkt der stationären Versorgung lag somit eindeutig bei den großen Heil- und Pflegeanstalten, die infolge des Mangels an wirksamen Behandlungsmethoden unter einer ständig wachsenden Überfüllung litten. So wurden z. B. 1880 in sämtlichen preußischen Irrenanstalten 27.000 Kranke gezählt, 1919 waren es 143.000. Diesem Zuwachs von rund 400 steht ein Bevölkerungszuwachs von nur 48 entgegen (Blasius 1980). Damit war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung eingetreten, die allen humanitären Reformbestrebungen des 19. Jahrhunderts entgegenlief. Der wachsende Aufnahmedruck und die fehlenden Möglichkeiten, chronisch psychisch Kranke wieder zu entlassen, hatten letztlich alle therapeutischen Bemühungen zunichte gemacht. Aufgrund der geografischen Isolation, von Behörden und der Öffentlichkeit immer mehr im Stich gelassen (Schrenk 1973), war schließlich auch die investive und personelle Ausstattung der psychiatrischen Krankenhäuser so weit abgesunken, dass selbst eine adäquate Langzeitversorgung der Patienten nicht mehr möglich war.
Offene Irrenfürsorge Stadtasyle
39
Ein völlig entgegengesetztes Grundsatzprogramm der Versorgung psychisch Kranker entwickelte W. Griesinger. Obwohl er psychologische Ursachen der Geisteskrankheit anerkannte, warnte er sowohl vor deren Überschätzung als auch vor der Vernachlässigung physischer Ursachen (Ackerknecht 1985). Aus seinen ätiologischen Überlegungen, dass »in den psychischen Krankheiten jedes Mal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen (sind)« (Griesinger 1861), leitete er folgerichtig ab, dass die Psychiatrie eine selbständige medizinische Disziplin frei von »poetischen und moralistischen Einflüssen« (Blasius 1980) werden müsse. Vor diesem Hintergrund entwickel-
Während der Niedergang der abgelegenen Großanstalten um die Jahrhundertwende bereits absehbar war, erlebte die offene Irrenfürsorge in den ersten 3 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Blüte. Unabhängig von ähnlichen Bemühungen der nordamerikanischen Mental-HealthBewegung erlangten die in Deutschland praktizierten Formen der offenen Fürsorge weltweite Anerkennung (Schulz 1962). Die offene Fürsorge geriet dann aber in den 1930er Jahren in den Strudel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Vereinnahmung der offenen Fürsorge als Instrument der nationalsozialistischen Rassenideologie ging dabei Hand in Hand mit dem Abbau therapeutischer
939 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
und fürsorgerischer Versorgungsaufgaben im Rahmen des 1934 verabschiedeten Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens und den dazu erlassenen Durchführungsbestimmungen. Die öffentliche Gesundheitsfürsorge und Gesundheitspflege und die damit verbundenen ärztlichen Aufgaben wurden in den neu geschaffenen Gesundheitsämtern zusammengefasst. Die ärztlichen Aufgaben der Fürsorgestellen an den Gesundheitsämtern beschränkten sich fast nur noch auf Maßnahmen zur Gefahrenabwendung und Sicherung der öffentlichen Ordnung. Die Fürsorgestellen hatten darüber hinaus eine unrühmliche Rolle bei der Erfassung und Registrierung von Geisteskranken, die in Mord und Zwangssterilisierung endete.
Nachkriegsentwicklung Während die offene Fürsorge Anfang der 1950er Jahre wieder einen bescheidenen Aufschwung erlebte, verschwanden die psychiatrischen Krankenhäuser für Jahrzehnte aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Erst in den 1960er und 1970er Jahren ging von den Missständen dieses Versorgungssektors der Anstoß aus, eine Enquête zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik zu erstellen. 1973 rügte die von der Bundesregierung für diese Aufgabe berufene Sachverständigenkommission in ihrem Zwischenbericht (Deutscher Bundestag 1973) die »groben, inhumanen Missstände« in den psychiatrischen Krankenhäusern. In dem 1975 erschienenen Schlussbericht war dann zu lesen, dass die Hauptlast der stationären Versorgung von aus dem vorigen Jahrhundert oder aus der Jahrhundertwende stammenden Fachkrankenhäusern getragen werde, die zu groß, in der Bausubstanz veraltet, in ihrer geografischen Lage ungünstig und zu 60% mit Langzeitpatienten belegt seien. Seither hat die öffentliche Hand auf der Grundlage der Enquête erhebliche Investitionen in der psychiatrischen Versorgung getätigt. Darüber hinaus wurden staatlich gestützte Modellprogramme und Forschungsvorhaben in Gang gesetzt, die den Entscheidungsträgern rationale Kriterien zur weiteren Verbesserung der Lage der psychisch Kranken und zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen liefern sollten.
Modellprojekte So wurden z. B. im Modellverbund »ambulante psychiatrische und psychotherapeutische/psychosomatische Versorgung« zwischen 1976 und 1994 insgesamt 60 Einzelprojekte gefördert, mit dem Ziel, innovative institutionelle Versorgungskonzepte zu erproben und ggf. in die Regelversorgung zu implementieren. Das Zusammenspiel und die regionale Vernetzung psychiatrischer und psychosozialer Hilfeeinrichtungen wurden zwischen 1981 und 1986 im Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung in 14 Regionen mit etwa 140 Modelleinrichtungen erprobt (BMJFFG 1988). Ähnliche Ziele wurden im Lan-
desprogramm Psychiatrie Baden-Württemberg zwischen 1982 und 1987 in 9 Regionen mit 41 Modelleinrichtungen verfolgt (Rössler u. Häfner 1985; Rössler et al. 1987).
Bewertung der Veränderungen Gleichwohl ist eine Bewertung dieses mittlerweile 30 Jahre andauernden Reformprozesses schwierig. Voraussetzung hierfür wäre eine quantitativ wie qualitativ zureichende Dokumentation der aktuellen Versorgungssituation, die eine kritische Bestandesaufnahme der Versorgungsstrukturen und der Dynamik des Reformprozesses erlauben würde. Die gegenwärtig vorhandenen Informationen im Bereich der psychiatrischen Versorgung sind jedoch unzureichend und den Erfordernissen nicht angemessen. Die unzureichenden Kenntnisse quantitativer Parameter der Versorgung begleiteten den gesamten Reformprozess. Von der Enquêtekommission 1975 bis zur Expertenkommission 1988, die das Modellprogramm der Bundesregierung beraten und auf dieser Grundlage die Empfehlungen zur Versorgung aktualisieren sollte, führten die beteiligten Experten Klage über die bestehenden Informationsdefizite (Rössler u. Salize 1996 a). Die nachfolgenden Ausführungen stehen deshalb unter dem Vorbehalt einer häufig unzulänglichen Datenbasis.
39.2
Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
Die wichtigsten in den letzten Jahrzehnten international vollzogenen Reformen der psychiatrischen Versorgung gründen auf einheitlichen Versorgungsgrundsätzen, die bereits 1950 von der WHO formuliert und in den folgenden Jahren präzisiert wurden (vgl. Rössler u. Salize 1993). Die wichtigsten Reformziele finden sich auch im genannten Enquêtebericht wieder (Deutscher Bundestag 1975). Dass sie trotz der mittlerweile vergangenen Zeit nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben, zeigt sich sowohl in den Empfehlungen der Expertenkommission (BMJFFG 1988) als auch in einer Stellungnahme der Bundesregierung 1993 (BMG 1993). Die wichtigsten Reformziele sind bis heute: Aufbau eines bedarfsgerechten Versorgungssystems, Aufbau eines gemeindenahen Versorgungssystems, Koordination und Zusammenarbeit innerhalb der Versorgungssysteme, Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker in rechtlicher, finanzieller und sozialer Hinsicht.
39.2.1
Bedarfsgerechte Versorgung
Institutionsbezogene Versorgung Die konkrete Versorgungsdiskussion in den ersten Abschnitten der Reform zentrierte sich vorwiegend auf die
39
940
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
Frage, welche Einrichtungen für eine bedarfsgerechte Versorgung benötigt werden. Ein solches Einrichtungsraster gab beispielsweise die Enquêtekommission mit der Aufzählung erforderlicher Einrichtungen in einem sog. Standardversorgungsgebiet vor (⊡ Abb. 39.1). In den 2 Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat diese institutionsbezogene Sichtweise ihr Monopol verloren.
Verwirklichung materieller Rechte. Erst in einem zweiten Schritt werden diese Behandlungsbereiche bestimmten Institutionen zugeordnet. Die Umsetzung eines solchen personenzentrierten Versorgungsansatzes setzt aber Wissen über den Versorgungsbedarf z. B. bestimmter Patientengruppen ebenso voraus wie über den Versorgungsbedarf bestimmter Versorgungsgebiete.
Personenzentrierte Versorgung In Abgrenzung von einem institutionszentrierten Ansatz wird heute einem personenzentrierten Ansatz Vorrang eingeräumt unter der Perspektive, welche Hilfen ein Patient institutionsunabhängig benötigt (NIMH 1980, 1982; Wing 1992; ⊡ Abb. 39.2). Auch die Expertenkommission hat diesen Ansatz in ihren Planungsvorschlägen für die psychiatrische Versorgung aufgegriffen und 4 funktionale Behandlungsbereiche definiert (BMJFFG 1988): Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Hilfen im Bereich Wohnen und Arbeit und Hilfen zur sozialen Teilhabe und
Versorgungsbedarf bestimmter Patientengruppen. Diese
Bedarfsbestimmung setzt auf der individuellen Ebene an, d. h. bei der Frage, was den krankheitsbezogenen und sozialen Versorgungsbedarf seelisch kranker Personen ausmacht. Ein solch umfassendes Verständnis von Versorgungsbedarf überschreitet das traditionelle Krankheitsverständnis und bezieht v. a. die sozialen Folgen seelischer Erkrankungen mit in die Versorgungsüberlegungen ein.
Das Vorfeld psychiatrischer und psychotherapeutischer, psychosomatischer sowie rehabilitativer Dienste Allgemeine professionelle und nichtprofessionelle Beratung in den Bereichen: Erziehung, Seelsorge, Rechtspflege, Gesundheitsämter, Arbeitsverwaltung und Sozialversicherung, Sozialarbeit
Beratungsstellen
Psychosoziale Kontaktstellen
Praktische Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin
Fachärzte anderer Disziplinen
Ambulante Dienste Niedergelassene Nervenärzt e
Niedergelassene Psychagogen (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten)
Niedergelassene ärztliche und nichtärztliche Fachpsychotherapeuten Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern Ambulante Dienste an Krankenhauseinrichtungen
Halbstationäre Dienst e
Ambulante Dienste Tageskliniken und an psychiatrischen Nachtkliniken Behandlungszentren Tageskliniken und PsychotherapeuNachtkliniken für tisch/psychosomabesondere Patientische Polikliniken tengruppen Fachambulanzen
Stationäre Dienste
Komplementäre Dienste
Spezielle rehabili- Dienste für tative Dienste Behinderte
Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
Übergangsheime
Werkstätten für Behinderte
Psychotherapeutisch/psychosomatische Abteilungen an psychiatrischen Krankenhäusern und Allgemeinkrankenhäusern Gerontopsychiatrische Abteilung Assessment-Unit für psychisch kranke alte Menschen
39 KOORDINATION
Psychosoziale Versorgungseinrichtungen (in unterversorgten Gebieten)
Wohnheime und Wohnheime für besondere Patientengruppen
Sonderkindergärten
Wohngruppen und Wohnungen
Sonderschulen
Familienpflege
Sonderklassen
Tagesstätten
Wohnangebote
Patientenclubs
Bildungs-, Freizeitund Erholungsstätten
Einrichtungen für Schwerst- und Mehrfachbehinderte
Psychosozialer Ausschuss Kooperation der Träger Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft
⊡ Abb. 39.1. Angebote in einem Standardversorgungsgebiet
Beschützende Arbeitsplätze
Einrichtungen zur Früherkennung. Frühdiagnose und Frühbehandlung
P LANUNG
941 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
⊡ Abb. 39.2. Bestandteile des Community Support Systems. (Nach Stroul 1988)
Versorgungsbedarf von Versorgungsgebieten. Diese Be-
darfsbestimmung ist weniger für die individuelle Behandlung als vielmehr im Zusammenhang gesamtplanerischer Überlegungen von Bedeutung. Der bisherige Planungsansatz hat sich im Wesentlichen mit einer wünschenswerten Ausstattung einzelner Dienste und Einrichtungen beschäftigt und damit sowohl Überlappungen mit anderen Diensten in einer Region als auch nicht ausgefüllte Leistungsfelder aus dem Blick verloren. Modernere, dem Versorgungsbedarf angepasste Planungsansätze sind auf eine einrichtungsübergreifende Verteilung der regional erforderlichen Fachkräfte gerichtet. So hat die Expertenkommission (BMJFFG 1988) im Rahmen eines sog. gemeindepsychiatrischen Verbundes bezogen auf eine Versorgungsregion von 150.000 Einwohnern ein Personalsoll von 23,5 Fachkräften im städtischen und 19,5 Fachkräften im ländlichen Bereich geschätzt. Der unterschiedliche Versorgungsbedarf im städtischen und ländlichen Bereich weist auf Unterschiede im regionalen Bedarf hin. ! Es ist bekannt, dass über die räumlichen Indikatoren hinaus nichträumliche Indikatoren, die auf Armut, soziale Isolation und soziale Desintegration in einer Region hinweisen, mit einer erhöhten psychiatrischen Morbidität verbunden sind
(Hirsch 1988). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer differenzierten Zuweisung von Ressourcen in verschiedenen Regionen.
39.2.2
Gemeindenahe Versorgung
Untrennbar mit einer bedarfsgerechten Versorgung ist ein gemeindenahes Versorgungssystem verbunden. Psychisch kranke und behinderte Menschen haben einen Anspruch darauf, die ihnen zustehenden Hilfen in Anspruch nehmen zu können, ohne ihre gewohnte Lebenswelt aufgeben zu müssen. Dieses Prinzip des Lebensweltbezugs findet sich als zentrale Versorgungsleitlinie weltweit in nationalen Programmen zur Reform der psychiatrischen Versorgung. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz und Österreich.
Erreichbarkeit der Versorgungseinrichtung Es ist vielfach versucht worden, den Begriff »Gemeindenähe« zu konzeptualisieren. Eine der dahinterstehenden versorgungspolitischen Leitlinien basiert auf der Bevorzugung solcher Behandlungsmethoden, die mit den
39
942
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
wenigsten Einschränkungen für Patienten verbunden sind (Chambers 1978). In diesem Zusammenhang ist v. a. die Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen von Belang. Die Bedeutung der Entfernung zwischen Wohnund Behandlungsort für die Inanspruchnahme stationärer Behandlungseinrichtungen wurde bereits im letzten Jahrhundert erkannt. Die inverse Beziehung zwischen der Entfernung vom psychiatrischen Krankenhaus und Aufnahmeraten ging als Jarvis-Gesetz 1852 in die psychiatrische Literatur ein (vgl. Shannon et al. 1986). Die Enquêtekommission hielt Einrichtungen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb einer Stunde erreichbar oder in einer Entfernung von maximal 25 km liegen, für hinreichend gemeindenah. Verschiedene Analysen haben aber inzwischen aufzeigen können, dass sowohl für ambulante Einrichtungen (Rössler et al. 1987) als auch für stationäre Einrichtungen (Meise et al. 1996) die Inanspruchnahmerate bereits ab einer halben Stunde Anreisezeit deutlich abnahm. Die wachsende Kundenorientierung in der Gesundheitsversorgung machte es deshalb zunehmend erforderlich, das Inanspruchnahmeverhalten der Betroffenen in Rechnung zu stellen.
39.2.3
39
Dezentralisierung und Sektorisierung
Besondere Bedeutung bei der Umsetzung von »Gemeindenähe« im Sinne von Erreichbarkeit hat die Aufteilung der Versorgungsangebote auf viele kleinstrukturierte und leichter erreichbare Einrichtungen und Dienste erlangt (Dezentralisierung). Mit kleindimensionierten Einrichtungen und Diensten war auch die Hoffnung verknüpft, wie in einem Baukastensystem individueller auf die Versorgungsbedürfnisse der Betroffenen eingehen zu können. In der Realität der Versorgung hatte aber eine solchermaßen aufgesplitterte Versorgung eine Vielzahl von Unter-, Fehl- und Doppelbetreuungen zur Folge (BMJFFG 1988; Rössler u. Salize 1993). Auch ist zu beachten, dass kleinstrukturierte Einrichtungen mit einem gewissen Grad an Entspezialisierung einhergehen. Dies steht heutzutage im Widerspruch zu dem wachsenden therapeutischen Wissensstand, der zukünftig in einem bestimmten Umfang eine Rezentralisierung der Institutionen erforderlich machen wird, um die notwendige Spezialisierung sicherzustellen. Die formalisierte Zuordnung eines bestimmten Versorgungsgebietes zu psychiatrischen Fachinstitutionen, v. a. stationären Einrichtungen, wird »Sektorisierung« genannt. Für die psychiatrische Klinik in einem »Sektor« bringt das die Versorgungsverpflichtung aller stationär zu Behandelnder mit sich. Diese Versorgungsverpflichtung ist aus der Vorstellung heraus entstanden, dass damit »unbequeme Patienten« nicht einfach in andere psychiatrische Kliniken weiterverwiesen werden können. Für
die Patienten bleibt selbstverständlich das Recht auf freie Krankenhauswahl erhalten. Die Sektorisierung ist in der Regel an eine psychiatrische Klinik/Abteilung innerhalb des Sektors geknüpft. Da viele psychiatrische Fachkrankenhäuser viel größere Einzugsgebiete haben als das, was für einen Sektor für angemessen gehalten wird (50.000 bis 150.000 Einwohner), haben viele der Fachkrankenhäuser eine sog. innere Sektorisierung durchgeführt, d. h. dass bestimmten Stationen oder Abteilungen des Fachkrankenhauses bestimmte Regionen des Gesamtversorgungsgebietes zugeordnet werden. Obwohl damit keine »Gemeindenähe« hergestellt wird, ermöglicht die innere Sektorisierung eine gewisse Behandlungskontinuität für Patienten mit mehrfachen Hospitalisationen.
39.2.4
Koordination und Zusammenarbeit
Case Management und Assertive Community Treatment Vor dem Hintergrund der Fragmentierung der Hilfesysteme werden zusätzliche Versorgungsangebote zur Koordination erforderlich. Mit der Koordination von Angeboten verbunden ist das Konzept der Einzelfallbetreuung, das in der angelsächsischen Literatur unter dem Begriff »case management« (CM) bekannt geworden ist. Unter Betonung der langfristigen therapeutischen Beziehung ist dieses Modell zum sog. Clinical Care Management weiterentwickelt worden (Bachrach 1992). Ein anderes dem Clinical Case Management ähnliches Konzept ist das sog. Assertive Community Treatment (ACT). Das ursprünglich in den 1970er Jahren in den USA entwickelte Programm war darauf gerichtet, gemeindepsychiatrische Alternativen zur stationären Behandlung für Personen mit schweren Erkrankungen zu entwickeln. Für die Betroffenen wird ein umfangreiches Betreuungsprogramm durch ein multidisziplinäres Team rund um die Uhr angeboten. Das wesentliche Kernelement von ACT ist, dass die Betroffenen vorwiegend in ihrer natürlichen Umgebung betreut werden (Scott u. Dixon 1995). Die wichtigsten »Erfolgsfaktoren« der vorgenannten Betreuungsmodelle sind: eine kleine Zahl zu betreuender Personen, regelmäßige und häufige Hausbesuche, Integration von medizinischer und sozialer Betreuung sowie ein multidisziplinäres Team (Burns et al. 2006). Inwieweit sich mit diesen Betreuungsmodellen die Versorgung effizienter gestalten lässt, wird unterschiedlich beurteilt (Renshaw 1987; Holloway 1991; Borland et al. 1989). Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob sich dadurch stationäre Aufenthalte verhindern lassen. Hinsichtlich eines reduzierten Wiederaufnahmerisikos in
943 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
stationäre Behandlung durch Case management halten sich negative wie positive Ergebnisse die Waage. Die Zahl positiver Ergebnisse nimmt allerdings bei Betrachtung längerer Analysezeiträume ab (Rubin 1992; Solomon 1992). In einer der wenigen deutschen Untersuchungen konnten z. B. Rössler et al. (1992, 1995 a; Rössler u. Salize 1993) bei krankheitsbedingt vergleichbarem Wiederaufnahmerisiko keinen Einfluss von Case management auf die Wiederaufnahmehäufigkeit schizophrener Patienten oder anderer Patientengruppen im Vergleich zu Patienten ohne koordinierende Einzelfallbetreuung feststellen. Für ACT sind die Ergebnisse im Hinblick auf die Reduzierung des Wiederaufnahmerisikos deutlich besser. Über die Tatsache hinaus, dass das Wiederaufnahmerisiko in stationäre Behandlung durch deutlich mehr Faktoren als alleine durch Case management und Assertive Community Treatment gesteuert wird, wird der Erfolgsindikator »Vermeidung stationärer Behandlung« zunehmend fragwürdiger. In wachsendem Maße geraten institutionsorientierte Indikatoren wie die Wiederaufnahme zugunsten personenorientierter Indikationen wie z. B. Lebensqualität in den Hintergrund. Für einen anderen personenorientierten Indikator, nämlich die Symptomatologie wie die Funktionsfähigkeit im Alltag gibt es nur wenig empirische Belege. Überwiegend kann gezeigt werden, dass die Auswirkungen der vorgenannten Betreuungsmodelle auf diese Parameter mäßig bis schwach sind.
Disease Management Auf die deutsche Versorgungsrealität bezogen bedeutet CM oder ACT, dass für chronisch psychisch kranke Personen eine Bezugsperson in der Regel in einem sozialpsychiatrischen Dienst zur Verfügung steht, die alle Aspekte der medizinischen, psychiatrischen, berufsbezogenen und sozialen Rehabilitation koordiniert und einrichtungsübergreifend die Kontinuität der Versorgung gewährleistet. Bemerkenswerterweise sind im deutschen Gesundheitswesen seit etwa 2002 sog. Disease-Management-Programme (DMP) mit einer ganz ähnlichen Zielsetzung eingeführt worden. Sie haben sich zunächst einmal ausschließlich auf chronische körperliche Erkrankungen bezogen. Die Disease-Management-Programme basieren auf dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleiches in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Programme sind hoch formalisiert und bürokratisch. Die ursprüngliche Nichtberücksichtigung psychiatrischer Krankheitsbilder in den Disease-Management-Programmen hat sich deshalb im Laufe der Jahre für die psychiatrische Versorgung eher als Vorteil herauskristallisiert. In der wissenschaftlichen Evaluation haben sich Orientierung an Therapieleitlinien durch die Versorger und auf seiten der Patienten Edukationsprogramme, Erinnerungshilfen und finanzielle Anreize als Erfolgsfaktoren
für die Disease-Management-Programme erwiesen (Weingarten et al. 2002).
Integrierte Versorgung Angesichts der Institutionsorientierung des Gesundheitswesens hat der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, im Rahmen einer sog. integrierten Versorgung innovative Versorgungsmodelle an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Versorgungssektoren zu implementieren (§ 140 SGB V). Ziel dieser Versorgungsmodelle sollte sein, die Behandlungsqualität zu verbessern und nach Ablauf der Modellphase in die Regelversorgung übernommen zu werden. ! Insgesamt wurden bis 2006 ca. 2000 Anträge für integrierte Versorgungsmodelle genehmigt. Davon stammen jedoch nur ca. 30 aus der Psychiatrie. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen liegen sie in der restriktiven Ablehnungspraxis der Krankenkassen gegenüber psychiatrischen integrierten Versorgungsmodellen, zum anderen aber auch an der teilweise niedrigen Qualität diesbezüglicher Anträge.
39.2.5
Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker
Dieses Reformprinzip betrifft alle Bereiche der psychiatrischen Versorgung. Das Ziel gleichberechtigter Teilhabe psychisch Kranker am gesellschaftlich-kulturellen Leben bleibt der zentrale Prüfstein des Erfolgs von Psychiatriereformen. Paradigmatisch für direkte oder indirekte Ausgrenzungsprozesse ist die Anwendung des Sozialrechts im Zusammenhang der psychiatrischen Rehabilitation. Hier ist die Benachteiligung chronisch psychisch Kranker und Behinderter gegenüber chronisch körperlich Kranken und Behinderten eklatant. Die wesentliche Ursache liegt in einem komplizierten Sozialversicherungssystem der Kranken- und Rentenversicherung, der Arbeitsverwaltung und der Sozialhilfe (Rössler et al. 1995 b).
Sozialrechtliche Anspruchsgrundlagen Die Maßnahmen zur Eingliederung Behinderter, die mit dem Begriff Rehabilitation bezeichnet werden, stellen einen Ausschnitt aus dem gesamten Sozialrecht dar. Viele Jahre war die Gesetzgebung damit befasst, das zersplitterte Sozialrecht im Sozialgesetzbuch zusammenzufassen. Seit 2001 sind alle Leistungen zur Rehabilitation in einen Gesetzestext, dem Sozialgesetzbuch IX, integriert (Gerke u. Schäfer 1992). Der prinzipielle Rechtsanspruch auf Rehabilitation ist im Sozialgesetzbuch I, § 10 festgelegt. Danach hat jeder psychisch Kranke und Behinderte und jede Person, die von Behinderung bedroht ist, ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um
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944
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, und ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern. Rehabilitative Leistungen werden in der Regel nach Einzelbereichen in medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation unterteilt. Nach dem Finalitätsprinzip sollen alle erforderlichen Leistungen ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung ausgerichtet am Bedarf erbracht werden (Mrozynski 1986), auch wenn für diese Hilfen unterschiedliche Träger und Institutionen mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen zuständig sind (Deutscher Bundestag 1989).
Das beitragsfinanzierte System der sozialen Sicherung Leistungsträger im gegliederten System der sozialen Sicherung sind die Kranken- und Rentenversicherung, die Arbeitsverwaltung und nachrangig die Sozialhilfe. Diese Leistungsträger führen die Rehabilitation als zusätzliche Aufgabe zu ihren originären Aufgaben durch. Der zuständige Kostenträger ergibt sich aus der Art der erforderlichen Leistungen. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind im Sozialgesetzbuch V, die der Rentenversicherung im Sozialgesetzbuch VI festgelegt. Leistungsansprüche an die Sozialleistungsträger haben in der Regel nur Versicherte (BAR 1992).
Bundesanstalt für Arbeit. Die Rehabilitationsleistungen
der Bundesanstalt für Arbeit haben nach dem Arbeitsförderungsgesetz das Ziel, ihre Versicherten in das Erwerbsleben einzugliedern. Wiederum müssen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sein. Die Bundesanstalt tritt darüber hinaus mit berufsfördernden Leistungen subsidiär nur dann ein, wenn nicht die anderen Rehabilitationsträger für die Gewährung entsprechender Leistungen zuständig sind (BAR 1992).
Schwerbehindertengesetz
lichen Krankenversicherung für die ambulante Krankenbehandlung umfasst ärztliche Versorgung, Arzneimittel, Psychotherapie, häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfe und Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit. Seit 1990 können Beschäftigungs- und Arbeitstherapie sowie Belastungserprobung zu Lasten der Krankenversicherung ambulant verordnet werden. Seit 2000 ist ambulante Soziotherapie und seit 2005 ambulante psychiatrische Pflege in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 37a SGB V) übernommen worden (vgl. bez. Soziotherapie Kap. 35). Alle diese Leistungen können zur medizinischen Rehabilitation eingesetzt werden.
Außerhalb der Zuständigkeit der Sozialleistungsträger sind v. a. Leistungen nach dem Schwerbehindertengesetz erwähnenswert (BAR 1992). Das Schwerbehindertengesetz regelt das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und schwerbehindertem Arbeitnehmer mit dem Ziel, die berufliche Eingliederung des Schwerbehinderten sicherzustellen und ihm die Erhaltung eines angemessenen Arbeitsplatzes zu gewährleisten. Den Hauptfürsorgestellen obliegt hierbei die Gewährung begleitender Hilfen im Arbeitsleben. Diese Hilfen können materieller Art sein oder in Form der Beratung von Klienten und Betrieben erfolgen. Voraussetzung für Leistungen nach dem Schwerbehindertengesetz ist die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft durch das Versorgungsamt. Viele Hauptfürsorgestellen gewähren jedoch auch Leistungen ohne den entsprechenden Schwerbehindertenausweis, sofern ein Fachgutachten die Schwerbehinderung bestätigt. Arbeitgeber sind verpflichtet, 6% ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. Falls sie diese Quote nicht erreichen, sind sie zu einer Ausgleichsabgabe an die Hauptfürsorgestellen verpflichtet. Andererseits können sie von den Hauptfürsorgestellen u. U. finanzielle Förderung erhalten, wenn sie Schwerbehinderte beschäftigen.
Rentenversicherung. Rehabilitationsleistungen der Ren-
Nachrangigkeit der Sozialhilfe
tenversicherung haben vorrangig das Ziel, den Versicherten für das Erwerbsleben zu stabilisieren bzw. ihn in dieses einzugliedern. Der Leistungskatalog umfasst hierbei sowohl berufsfördernde als auch medizinische Rehabilitationsmaßnahmen. Wenngleich die Rentenversicherer rechtlich in der Lage sind, ambulante Rehabilitation durchzuführen, sind sie nach dem SGB VI gehalten, Rehabilitationsmaßnahmen v. a. im stationären Rahmen zu
Sofern der Betroffene die Anspruchsvoraussetzungen der einzelnen Sozialleistungsträger für die genannten Leistungen nicht erfüllt und weder er noch seine unterhaltspflichtigen Angehörigen über hinreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen, um die notwendige Hilfe selbst zu finanzieren, können alle erforderlichen rehabilitativen Hilfen aus Mitteln der Sozialhilfe bereitgestellt werden. Nach dem Bundessozialhilfegesetz können psychisch
Krankenversicherung. Der Leistungskatalog der gesetz-
39
betreiben. Maßnahmen werden nur dann gewährt, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, d. h. ausreichende Vorversicherungszeiten bestehen, und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass die gewährte Maßnahme zu einer wesentlichen Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit führt.
945 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
Kranke Krankenhilfe oder bei (drohender) Behinderung medizinische, berufliche oder allgemein soziale Rehabilitationsleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe erhalten. Bei Pflegebedürftigkeit kann Hilfe zur Pflege gewährt werden. Zuständig für Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege sind bei ambulanten Maßnahmen die örtlichen und bei stationären und teilstationären Maßnahmen die überörtlichen Sozialhilfeträger, also z.B. die Landschafts- und Wohlfahrtsverbände oder die Bezirkssozialverwaltungen. Dabei sind die Begriffe »stationär« und »teilstationär« weit gefasst, insofern als unter stationären Einrichtungen Wohnheime und unter teilstationären Einrichtungen Werkstätten und z. T. Tagesstätten subsumiert werden.
Sozialrechtliche Defizite Vor diesem Hintergrund lassen sich die sozialrechtlichen und institutionellen Defizite der Rehabilitation chronisch psychisch Kranker zu 2 Problemkomplexen zusammenfassen (Beraterkommission 1985): Probleme, die nicht nur psychisch Kranke und Behinderte, sondern auch andere Patientengruppen mit ungünstiger bzw. unsicherer Prognose und/oder bei dauerhafter oder langfristiger Pflegebedürftigkeit betreffen, und Probleme, die spezifisch psychisch Kranke und Behinderte benachteiligen, da sich Prognoseverfahren, gewährte Leistungen, Maßnahmen, Strukturen und Institutionen der Rehabilitation zu einseitig an den Anforderungen somatisch Kranker und Behinderter orientieren, ohne die besonderen Bedingungen psychischer Erkrankungen und Behinderung ausreichend zu berücksichtigen.
unterliegt einer strengeren Mittelknappheit als sie für die Träger der Sozialversicherung gilt (Schwartz 1991). Entwicklung der ambulanten Soziotherapie. Ein weiteres
gutes Beispiel für die Benachteiligung psychisch kranker Menschen in der praktischen Anwendung des Sozialrechts ist die Entwicklung der ambulanten Soziotherapie, die 2000 in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen wurde. Obwohl seinerzeit vom Bundesgesundheitsministerium als eine » … finanzierungsrechtlich und gesetzestechnisch ungewöhnlich sauber und umfassend ausgearbeitete vorbereitete Massnahme« qualifiziert, wurde die praktische Einführung von den Krankenkassen durch eine äußerst restriktive Bewilligungspraxis und unzureichende Bewertung der ärztlichen Leistungen im Rahmen von Soziotherapie wesentlich behindert. Heute, 6 Jahre nach ihrer gesetzlichen Verankerung, spielt die ambulante Soziotherapie praktisch keine Rolle, da ihre Anwendung blockiert wird. Verfahren der Diagnose- und Prognosestellung. Der
zweite Problemkomplex resultiert zum einen daraus, dass das übliche Verfahren der Diagnose- und Prognosestellung vor Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen dem individuell nur schwer vorhersagbaren Verlauf psychischer Erkrankungen nicht gerecht wird, mit der Folge eines überproportional großen Anteils ungünstiger Prognosen bei abgelehnten Rehabilitationsverfahren. Zum anderen trägt die enge zeitliche Beschränkung medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen der Phasenhaftigkeit und Langfristigkeit schwerer seelischer Erkrankung nicht Rechnung (Beraterkommission 1985).
Praktische Anwendung des Sozialrechts. Der erste Prob-
Konzeptionelles Missverständnis
lemkomplex trifft auf alle Behinderten zu, die nicht, nicht ausreichend oder nicht lange genug versichert waren und die keine günstige Prognose aufweisen, was unabdingbare Voraussetzungen für Leistungen der Kranken- und v. a. der Rentenversicherung und Arbeitsverwaltung sind.
Schließlich besteht ein konzeptionelles Missverständnis über die Reichweite medizinisch-psychiatrischer Rehabilitation. Aus wissenschaftlicher Sicht bestehen keine Zweifel, dass gerade die Therapie sozialkommunikativer Funktionseinbußen im Zentrum psychiatrischer Rehabilitation chronisch psychisch kranker Menschen steht (Rössler u. Riecher-Rössler 1994). Dadurch, dass aber Maßnahmen, die sich auf die Behandlung dieser Funktionseinbußen beziehen, nicht als medizinische, sondern als allgemeine Maßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung definiert werden (Deutscher Bundestag 1990), werden die Krankenkassen und v. a. die Rentenversicherer als primäre Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation von einem wesentlichen Teil ihrer Leistungsverpflichtungen für die Rehabilitation psychisch Behinderter entlastet (Schwartz 1991).
! Psychisch Behinderte sind durch diese Rechtslage zwar nicht ausdrücklich gesetzlich benachteiligt, wohl aber in der praktischen Anwendung des Sozialrechts. Da sie in der Regel die Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungen der Sozialversicherungsträger nicht erfüllen, hat sich für diesen Personenkreis faktisch eine Regelfinanzierung rehabilitativer Leistungen durch die Sozialhilfe eingebürgert. Eine solche steuerfinanzierte Kostenträgerschaft setzt allerdings die Selbstleistung des Kranken bis zur Armutsgrenze prinzipiell voraus und
39
946
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.3
System der psychiatrischen Versorgung
Je nach Schweregrad und Spezifität des Hilfebedarfs nehmen psychisch Kranke verschiedene Einrichtungen oder Hilfeinstanzen des Versorgungssystems in Anspruch. Der Versorgungsbedarf in einem gegliederten Versorgungssystem wird gedeckt durch das nichtprofessionelle Hilfesystem wie z. B. Selbst-, Bürger- und Nachbarschaftshilfe, ambulante Vorfeldeinrichtungen der allgemeinen Gesundheits- und Sozialversorgung wie z. B. Hausärzte, Gemeindepflegedienste, Sozialbehörden, ambulante Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds wie z. B. niedergelassene Nervenärzte und sozialpsychiatrische Dienste, stationäre Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds wie z. B. psychiatrische Fachkrankenhäuser und psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, sowie komplementäre/rehabilitative Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds wie z. B. Wohnheime, Wohngruppen, Werkstätten und Tagesstätten. Hierbei handelt es sich um eine traditionelle Aufteilung in ein nichtprofessionelles Hilfesystem einerseits und ein professionelles Hilfesystem andererseits, das sich wiederum in nichtspezialisierte Vorfeldeinrichtungen und in spezialisierte Kernfeldeinrichtungen unterteilen lässt.
Dynamischer Versorgungsansatz Einen dynamischen Versorgungsansatz entwarfen Goldberg u. Huxley (1980). Auf der Basis verschiedener Felduntersuchungen und Inanspruchnahmestudien identifi-
zierten sie ein Stufenmodell der medizinischen Versorgung psychisch kranker und gestörter Menschen und beschrieben Einflussfaktoren, die den Eintritt in das medizinische Versorgungssystem mitbestimmen sowie die Weiterverweisung zu spezialisierten fachärztlichen Einrichtungen und Diensten beeinflussen (⊡ Tab. 39.1). Dieses hier aus Mangel an vergleichbaren deutschen Studien dargestellte britische Modell ist nicht in allen Teilen auf die Versorgungsstruktur in Deutschland übertragbar, zumal die Funktion des praktischen Arztes im System des britischen Health Service wesentlich umfassender ist als in der Bundesrepublik. Dennoch macht es deutlich, wie in jedem Versorgungssystem individuell und kulturell spezifisches Inanspruchnahme-, Behandlungs- und Überweisungsverhalten mit objektiven Bedarfsparametern interagiert.
39.3.1
Stationäre Versorgung
Bettenzahl und Verweildauer Der Funktionswandel der psychiatrischen Krankenhäuser von einer überwiegend pflegenden zu einer überwiegend therapeutischen Disziplin vollzog sich in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund eines wesentlich niedrigeren Bettenbestandes mit 1,6 Betten je 1.000 Einwohner im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern wie beispielsweise den USA mit 4,5 Betten je 1.000 Einwohner 1955 vor Reformbeginn Anfang der 1970er Jahre (Dowell u. Ciarlo 1983). Seitdem ist noch eine beachtliche Zahl von Betten abgebaut worden. Der heute erreichte Stand von durchschnittlich 0,65 Betten je 1.000 Einwohner weist in den verschiedenen Bundesländern eine erhebliche Varianz auf (⊡ Abb. 39.3). Besonders bei
1,03 0,82 0,69 0,62 0,62 0,60 0,60 0,60 0,59
39
0,53
⊡ Abb. 39.3. Psychiatrische Betten je 1000 Einwohner in allen Bundesländern 2002. (Statistisches Bundesamt 2005)
947 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
⊡ Tab. 39.1. Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme verschiedener Stufen des psychiatrischen Versorgungssystems. (Aus Goldberg u. Huxley 1980) Gemeinde
Primärärztliche Versorgung
Psychiatrische Versorgung
Gemeinde
Häufigkeit seelischer Störungen in der Bevölkerung
Gesamtheit aller seelischen Störungen in allgemeinärztlicher Behandlung
Vom Allgemeinarzt erkannte seelische Störungen
Gesamtheit seelischer Störungen in psychiatrischer Behandlung
Seelische Störungen in stationärer psychiatrischer Behandlung
25%
23%
14%
1,70%
0,60%
→
→
→
→
Haupteinflussfaktor
(1. Filter) Krankheitsverhalten
(2. Filter) Krankheitserkennung
(3. Filter) Überweisung zu psychiatrischer Behandlung
(4. Filter) Stationäre Zuweisung
Schlüsselperson
Patient
Allgemeinarzt
Allgemeinarzt
Nervenarzt
Einflussfaktoren auf Schlüsselperson
Art und Schweregrad der Symptome; Art der Krankheitsbewältigung
Ausbildung, Einstellung zu psychisch Kranken; Persönlichkeitsfaktoren
Ausbildung, Vertrauen auf eigene Fähigkeit; Verfügbarkeit und Qualität psychiatrischer Dienste; Einstellung gegenüber Nervenärzten
Bettenangebot, Verfügbarkeit ergänzender gemeindepsychiatrischer Angebote
Andere Einflussfaktoren
Einstellung des sozialen Umfelds; Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der Versorgungseinrichtungen
Darstellung der Krankheitssymptome, soziodemografische Merkmale des Patienten
Einstellung des Patienten und der Angehörigen
den Fachkrankenhäusern ist die Entwicklung nicht stehen geblieben: Zwischen 1994 und 1998 reduzierte sich die Zahl dort vorgehaltener Betten nochmals von etwa 48.500 auf 38.000 (Bauer et al. 2001).
Kürzung der Verweildauer Mit der Reduktion der Krankenhausbetten ging auch eine erhebliche Verkürzung der Verweildauer einher. Während die Anfänge der Reform von einer relativ raschen Reduktion der Verweildauer begleitet waren, z. B. zwischen 1981 und 1984 von 90 auf 70 Tage für die gesamte Bundesrepublik, bedurfte es zu einer weiteren Verkürzung um 10 Tage weiterer 8 Jahre. Zwischen 1992 und 2003 fand dann eine weitere erhebliche Reduktion von ca. 57 Tage auf 25 Tage statt (Statistisches Bundesamt 2005). Die Verkürzung der Verweildauer weist aber zwischen den verschiedenen Bundesländern erhebliche Unterschiede auf. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind v. a. im Zusammenhang mit der Entlassung sehr inhomo-
gener Patientengruppen zu sehen. Eine zunächst sehr lange durchschnittliche Verweildauer und eine sich daran anschließende starke Verkürzung ist vorwiegend in Verbindung mit der Entlassung einer großen Zahl chronisch psychisch Kranker zu sehen, während in Bundesländern, die traditionellerweise größere Anteile chronisch Kranker außerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser versorgten, die Verweildauer relativ konstant, aber von vornherein wesentlich kürzer war.
Einflussfaktoren auf die Verweilzeiten Die Vermutung, dass die Verkürzung der Verweilzeiten sowie der Abbau der Betten erst durch die Einführung der Psychopharmaka möglich geworden ist, ist nur z. T. richtig, da die Psychopharmaka in der Bundesrepublik bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt eingesetzt wurden. Vermutlich ist vielmehr die (im internationalen Vergleich verspätete) Entwicklung im Zusammenhang mit verschiedenen, spezifisch bundesdeutschen Gegebenheiten zu sehen:
39
948
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
Zum einen war die Ausgangszahl psychiatrischer Betten nach dem zweiten Weltkrieg – mitbedingt durch die als »Euthanasie« bezeichnete Ermordung psychisch Kranker während der nationalsozialistischen Ära – wesentlich geringer als in anderen industrialisierten Ländern. So war der Druck zur Bettenreduktion zunächst weniger stark. Gleichzeitig steht der erhebliche Bettenabbau aber auch im deutlichen Zusammenhang mit dem 1972 erlassenen Krankenhausfinanzierungsgesetz, das die finanzielle Beteiligung des Bundes für Bau und Unterhalt von Krankenhäusern der Akutversorgung regeln sollte (Zumpe 1978). Krankenhausfinanzierungsgesetz. In diesem Gesetz wurden die Länder verpflichtet, Krankenhausbedarfspläne aufzustellen, wobei allerdings nur rund 75% der vorhandenen Krankenhäuser einer Planung unterworfen wurden. Die übrigen 25% der Krankenhäuser blieben planungsfrei. Dies hatte im planungsgebundenen Bereich der Akut- und psychiatrischen Kliniken zwischen 1973 und 1983 einen deutlichen Bettenabbau zur Folge, wohingegen im planungsfreien Raum der Sucht-, Kur-, Rehabilitations- und psychosomatischen Kliniken die Zahl der vorgehaltenen Betten zugenommen hat (Bruckenberger 1986). Vor dieser Zunahme hatte Häfner bereits 1975 in einem Sondervotum zum Enquêtebericht aus fachlicher Sicht gewarnt (Häfner 1975). Zum einen betonte er den Vorrang ambulanter vor stationärer Behandlung. Zum anderen gab er zu bedenken, dass auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus viele dieser Patienten nicht der Versorgungsintensität eines Krankenhauses bedürften (Deutscher Bundestag 1975).
Weitere Reduktion von Betten Die Weltgesundheitsorganisation (Freemann et al. 1985) geht davon aus, dass unter optimalen Bedingungen der Bettenschlüssel unter 0,5 Betten je 1000 Einwohner abgesenkt werden könnte. Die Bestimmungsgrößen dieser Berechnung wurden jedoch nicht weiter präzisiert, so dass es sich hier eher um eine programmatische Aussage mit dem Ziel einer weitestmöglichen Bettenreduzierung handelt.
39
gungsbereiche – wie dies zu Beginn der Reformen angenommen wurde – ganz aufgelöst werden können. Ein (kleiner) Teil der chronisch psychisch Kranken wird weiterhin der intensiven langfristigen Pflege in Krankenhäusern bedürfen. Aufbau der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Die
Möglichkeiten einer Bettenreduktion durch den Auf- und Ausbau einer gemeindenahen ambulanten Versorgung sind kritisch einzuschätzen. Der Aufbau eines gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems setzt komplexe Bedarfsprozesse in Gang, die sowohl die Inanspruchnahme des Versorgungssystems insgesamt als auch einzelner Versorgungssektoren in quantitativer und qualitativer Hinsicht verändern und nicht nur eine Substitution von stationären durch ambulante Angebote darstellen (Rössler u. Häfner 1985). Tageskliniken. Gesicherte Hinweise gibt es hingegen, dass
nicht alle gegenwärtig stationär behandelten Patienten die Versorgungsintensität eines Krankenhauses benötigen, sondern gleichermaßen in Tageskliniken behandelt werden könnten (Kluiter 1997). Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa 30% der gegenwärtig stationär behandelten Patienten auch teilstationär in sog. Akuttageskliniken mit gleicher Effektivität behandelt werden könnten. Die Bedeutung von sog. Akuttageskliniken wird deshalb in den nächsten Jahren wesentlich zunehmen. Naturgemäß ist der Aufbau von Tageskliniken im städtischen Ballungsraum erheblich einfacher (Eikelmann u. Reker 2004).. Nachtklinikplätze, die berufstätigen psychisch Kranken in den Abendstunden ein therapeutisches Angebot machen können, sind bei der gegenwärtigen Beschäftigungslage chronisch psychisch Kranker nicht mehr von großer Bedeutung. Der Ausbau psychiatrischer Tageskliniken – heute noch mit vorwiegend rehabilitativem Charakter – in den verschiedenen Bundesländern ist sehr unterschiedlich. Gesamthaft gab es im Jahr 2003 in Deutschland 339 Tages-/Nachtkliniken mit einem Gesamtbestand von 8539 Plätzen (Salize et al. 2007; Kallert et al. 2003).
Auslagerung von Versorgungsbereichen. Gegenwärtig
Gemeindenähe und Integration psychiatrischer Krankenhäuser in die allgemeinmedizinische Versorgung
kann davon ausgegangen werden, dass durch Auslagerung der in den Fachkrankenhäusern verbliebenen Versorgungsbereiche, die der langfristigen Versorgung chronisch psychisch Kranker und Behinderter dienen, noch eine spürbare Verminderung der Bettenzahl zu erreichen ist. In einer Reihe von Fachkrankenhäusern wurde dieses Problem dadurch »gelöst«, dass die Pflegebereiche einen anderen Finanzierungsträger erhalten haben. Eine echte Bettenreduktion wurde damit nicht vollzogen. Allerdings ist auch nicht damit zu rechnen, dass alle Langzeitversor-
Durch die häufig abgeschiedene Lage psychiatrischer Krankenhäuser ist die Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Disziplinen zwangsläufig unterentwickelt – eine Qualitätseinbuße der Versorgung, wenn man bedenkt, dass rund ein Drittel der dort behandelten Patienten zusätzlich unter einer körperlichen Erkrankung leidet (Rössler et al. 1987). Weiter zeigte eine unter der wissenschaftlichen Begleitung von Böcker (1993) in den psychiatrischen und allgemeinen Krankenhäusern Bayerns durchgeführte Patientenstrukturanalyse, dass 1983
949 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
von insgesamt rund 27.000 AOK-Patienten mit psychiatrischen Diagnosen 51% in Krankenhäusern nichtpsychiatrischer medizinischer Disziplinen behandelt worden waren. Nach einer neueren Untersuchung aus dem Jahr 2000 ist dieser Anteil rückläufig – inzwischen werden nur noch 27% der Patienten mit psychiatrischen Diagnosen in allgemeinen Krankenhäusern Bayerns versorgt (Melchinger et al. 2006). Gründe des immer noch hohen Anteils psychiatrischer Patienten in Allgemeinkrankenhäusern sind nicht nur in den Vorurteilen der Bevölkerung gegen psychiatrische Krankenhäuser zu suchen, sondern auch darin, dass die Akutversorgung für psychisch Kranke durch das nächstgelegene Allgemeinkrankenhaus übernommen wird, wenn die psychiatrische Klinik zu weit entfernt ist oder wenn die Mitbehandlung ernsterer körperlicher Leiden erforderlich ist, für die in vielen psychiatrischen Krankenhäusern die notwendige Kompetenz fehlt(e). ! Durch den zunehmenden Anteil multimorbider älterer Mitbürger, die gleichzeitig an körperlichen und seelischen Erkrankungen leiden, wird in den nächsten Jahrzehnten die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit noch dringlicher werden.
Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern Die Sachverständigenkommission hatte 1975 zur Lösung dieser Probleme die Einrichtung von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern empfohlen (Deutscher Bundestag 1975). Der Aufbau solcher Abteilungen ist in der Bundesrepublik Deutschland zunächst nur recht zögernd vorangeschritten. Eine der Ursachen für diese zögerliche Umsetzung in die Praxis dürfte die fortdauernde berufspolitische Kontroverse um die Struktur dieser Abteilungen sein: Die Enquêtekommission war 1975 davon ausgegangen, dass – anstelle der sonst üblichen Stufung der medizinischen Krankenhausversorgung in Grund-, Regel-, Haupt- und Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgung – in der Psychiatrie alle Versorgungsstufen in einer Einrichtung zusammengefasst werden müssten. Dies bedeutet, dass psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern nur verkleinerte Abbilder der Großkrankenhäuser mit einer Richtgröße von etwa 200 Betten sein sollten. Solchen Abteilungen sollte die Verpflichtung zur Versorgung aller akut und chronisch Kranken einer Region auferlegt werden. Hauptanliegen dieser »Nivellierung« der Krankenhäuser war es, ein Abschieben vermeintlich unbequemer und schwer zu behandelnder chronisch psychisch Kranker in weiterhin unzureichend ausgestattete psychiatrische Großkrankenhäuser zu vermeiden (vgl. Abschn. 39.2.3). Trotz aller Widrigkeiten und Widerstände gibt es inzwischen eine beträchtliche Anzahl psychiatrischer Ab-
teilungen an Allgemeinkrankenhäusern, und zwar insgesamt 215 mit rund 22.000 Betten. Damit überflügeln inzwischen psychiatrische Abteilungen zahlenmässig die 190 psychiatrischen Fachkrankenhäuser in 2003. Allerdings gibt es mit rund 32.000 Betten immer noch deutlich mehr Betten in den Fachkrankenhäusern.
Psychosomatische Kliniken Eine Besonderheit der deutschen Gesundheitsversorgung ist die grosse Zahl von Betten in psychosomatischen Kliniken (s. o. Krankenhausfinanzierungsgesetz). Während rund 15.000 Betten in der Trägerschaft der Rentenversicherungen stehen, sind inzwischen rund 3200 Betten in psychosomatischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern hinzugekommen (Salize et al. 2007). Während ursprünglich in psychosomatischen Kliniken Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen im engeren Sinne behandelt wurden (z. B. Colitis ulcerosa etc.), machen diese Kliniken zunehmend den psychiatrischen Abteilungen und Fachkrankenhäusern in der Behandlung psychiatrischer Patienten aus dem psychiatrischen Kernbereich z. B. mit Depressionen oder Angststörungen Konkurrenz. Über diese Entwicklung gibt es eine intensive Diskussion, insbesondere im Hinblick darauf, ob und inwieweit der Vorrang der ambulanten Versorgung dieser Patientengruppen gewährleistet bleibt, wenn der stationären Versorgung wieder ein solches Gewicht eingeräumt wird. Ausserdem werden die psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern stigmatisiert, weil ihnen dann nur noch die »unangenehmen« Patienten wie Suchtund Psychosekranke verbleiben.
Forensische Psychiatrie Psychisch kranke Rechtsbrecher werden in völlig eigenständigen Behandlungseinrichtungen betreut (Salize u. Dressing 2005). Im so genannten »Maßregelvollzug« befanden sich 2003 insgesamt rund 7.300 Betten (Osterheider u. Dimmek 2005). Mit 0,08 Betten pro 1000 Einwohner verfügt Deutschland über die größten stationären Behandlungskapazitäten für psychisch kranke Rechtsbrecher im europäischen Vergleich.
Konsiliarpsychiatrische Versorgung Angesichts des Bedarfs an konsiliarpsychiatrischer Tätigkeit an somatischen Krankenhäusern ist dort, wo keine psychiatrischen Abteilungen vorhanden sind, Ausmaß und Intensität der Kooperationstätigkeit zwischen Psychiatrie und Psychotherapie einerseits und somatischer Medizin andererseits gering. Nur die wenigsten Krankenhäuser verfügen über eigenständige Konsiliar-/Liaisonabteilungen. Der überwiegende Teil der konsiliarpsychiatrischen Versorgung an somatischen Krankenhäusern wird durch niedergelassene Psychiater geleistet. Dieses Versorgungsmodell kann jedoch den umfassenden Anforderungen einer modernen Konsiliar-/Liaisonpsychi-
39
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Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
atrie nur eingeschränkt gerecht werden (Herzog u. Hartmann 1990).
39.3.2
Ambulante Versorgung
Niedergelassene Ärzte Allgemeinmediziner Die Erstbetreuung psychisch Kranker und die Koordinierung medizinischer, psychiatrischer und sozialer Hilfen liegen häufig in den Händen niedergelassener Allgemeinmediziner oder praktischer Ärzte. Ihre Angebote sind jedoch zumeist relativ unspezifischer Art. Dies ist z. T. durch die mangelnde psychiatrisch-psychotherapeutische Ausbildung der meisten Allgemeinärzte bedingt. Wie z. B. Dilling et al. (1984) oder Zintl-Wiegand et al. (1980) zeigten, erkennen Allgemeinmediziner rund die Hälfte bis ein Drittel der psychischen Störungen nicht. Im Vergleich zur Einschätzung durch einen Forschungspsychiater werden von Allgemeinärzten Patienten mit Psychosen am häufigsten erkannt, während es weit weniger Übereinstimmung bei neurotischen und psychosomatischen Erkrankungen gibt. Dies mag damit zusammenhängen, dass zum einen psychovegetative oder somatisierte depressive Syndrome leicht als somatische Erkrankungen verkannt werden können. Zum anderen richten Allgemeinärzte ihre Aufmerksamkeit eher auf solche Erkrankungen, die aus ihrer Sicht behandelbar sind. Deshalb diagnostizieren Allgemeinärzte, geleitet durch ihre bisherigen Erfahrungen, selektiv die mit besserem Erfolg behandelbaren psychischen Erkrankungen bzw. vernachlässigen solche Erkrankungen, die aus ihrer Sicht nicht behandelbar sind oder ohnehin spontan remittieren würden (Geiselmann u. Linden 1989). Aber auch bei behandelbaren psychischen Störungen sind den allgemeinärztlichen Behandlungsbemühungen enge Grenzen gesetzt, wenn man bedenkt, dass ein Kassenarzt in der Bundesrepublik Deutschland an einem Tag durchschnittlich 35 Beratungen durchführt, 11 Patienten eingehend untersucht und 3 Hausbesuche durchführt (Stackelberg 1986). Welchen Stellenwert Haus- und Allgemeinärzte im deutschen Gesundheitswesen haben, kann man daran ermessen, dass in 2003 rund 59.000 Haus- und Allgemeinärzte in freier Praxis praktizierten (KBV 2005).
Nervenärzte
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Die spezialisierte Versorgung im engeren Sinne obliegt den niedergelassenen Nervenärzten. Dilling et al. (1984) stuften in ihrer Feldstudie 6,3% der Bevölkerung als behandlungsbedürftig durch einen Nervenarzt ein. Tatsächlich in nervenärztlicher Behandlung befanden sich jedoch nur 2,1% – eine im Übrigen international durch Fallregisterdaten bestätigte Inanspruchnahmerate (Wing et al. 1977).
Für diese sog. epidemiologische Behandlungsdifferenz von 4,2% wurden in den vergangenen Jahren viele Gründe genannt. Zum einen wird argumentiert (z. B. Bosch u. Pietzcker 1975), dass schwerer psychisch Kranke, insbesondere schizophren Erkrankte, aufgrund mangelnder Krankheitseinsicht niedergelassene Nervenärzte nicht ausreichend in Anspruch nähmen. Unterstützung fand diese These durch Untersuchungen, die sich mit der Diagnosenverteilung nervenärztlich behandelter Patienten beschäftigten. So zeigte z. B. eine Untersuchung von Dilling (1977), dass Patienten mit neurotischen bzw. psychosomatischen Krankheitsbildern mit nahezu 50% den Schwerpunkt der nervenärztlichen Klientel bilden. Aus heutiger Sicht muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die geringe Inanspruchnahme nervenärztlicher Praxen durch schwerer und chronisch psychisch Kranke auch durch das mangelnde Angebot an Nervenärzten in den vergangenen Jahren bedingt war. Inzwischen wurden Hinweise gefunden, dass unter den Bedingungen eines gut ausgebauten, gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems mit einer relativ großen Zahl niedergelassener Ärzte die Inanspruchnahme ärztlicher und nervenärztlicher Praxen durch schwerer psychisch Kranke ganz wesentlich gesteigert werden kann (Häfner u. an der Heiden 1983; Häfner u. Rössler 1989). Der Dichte der nervenärztlichen Versorgung kommt also hierbei wesentliche Bedeutung zu. Die hier in ungefähr den letzten 25 Jahren vollzogene Entwicklung mit einer Verdreifachung der neu niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiater ist bemerkenswert. In 2003 praktizierten in Deutschland rund 5500 Nervenärzte, was einer Rate von 0,6% pro 10.000 der Bevölkerung entspricht (KBV 2005). Trotz dieser inzwischen erreichten relativ großen Dichte in der fachpsychiatrischen Grundversorgung wird eine weitere Verdreifachung der Zahl von »Nervenärzten« zur Bedarfsdeckung für notwendig erachtet (Berger 2005).
Ambulante Psychotherapie Neben der Zahl von rund 3600 Psychiatern mit einer Spezialisierung in Psychotherapie (KBV 2005) wird ambulante Psychotherapie gegenwärtig von rund 12.000 niedergelassenen Psychologen vorgehalten. Zu dieser explosionsartigen Vermehrung von niedergelassenen Psychologen ist es im Rahmen der 1999 eingeführten Finanzierung psychologischer Psychotherapie durch die Krankenkassen gekommen. Dies bringt eine Verschiebung der Finanzierung von psychiatrisch-psychotherapeutischen Leistungen für »schwerer« Kranke zu »leichter« Kranken mit sich (Melchinger et al. 2003).
Institutsambulanzen und sozialpsychiatrische Dienste Bis 2000 kam es vor der Zulassung einer Institutsambulanz an einer psychiatrischen Abteilung eines Allgemein-
951 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
krankenhauses zu einer Bedarfsprüfung durch die zuständigen kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen, die häufig negativ beschieden wurden. Nach einer Gesetzesrevision in 2000 können inzwischen alle psychiatrischen Abteilungen Institutsambulanzen führen. Dies hat zu einem starken Anwachsen der Institutsambulanzen von 27 in 1980 auf 304 in 2001 geführt. Über die Institutsambulanzen gibt es darüber hinaus zusätzlich rund 220 sogenannte Ermächtigungsambulanzen, die einen ähnlichen Auftrag erfüllen, aber in der Regel an die Person des Leiters der Abteilung gebunden sind (Salize et al. 2007). Für einen Teil der chronisch psychisch Kranken schließt die ambulante Behandlungsmöglichkeit an der Einrichtung, die sie auch im Falle stationärer Behandlung betreut bzw. nachbetreut, eine wesentliche Versorgungslücke (Finzen 1991). Die erforderliche Nachbehandlung findet aber nicht immer durch Institutsambulanzen statt, sondern z. B. auch durch ermächtigte Krankenhausärzte oder sozialpsychiatrische Dienste mit ähnlichem Aufgabenspektrum in der Nachsorge. Generalisierende Aussagen über das spezifische Aufgabenspektrum sozialpsychiatrischer Dienste sind allerdings schwierig. Zum einen können unter dem von der Expertenkommission formulierten Ziel der »vorsorgenden, begleitenden und nachgehenden Hilfen« für chronisch psychisch Kranke und Behinderte eine Reihe verschiedenartiger Hilfansätze verstanden werden, zum anderen ist die Heterogenität der gesetzlichen institutionellen und finanzierungstechnischen Voraussetzungen in den Bundesländern erheblich. Selbst die Bezeichnung »sozialpsychiatrischer Dienst« wird in den Ländern unterschiedlich verwendet. Gemeinsam ist diesen dezidiert extramuralen Diensten der Bezug auf die Gemeinde, die Kooperation mit anderen Einrichtungen als konstitutive Aufgabe sowie die Multiprofessionalität mit mehr oder weniger starker ärztlicher Beteiligung (Rössler 1992). In 2000 gab es in der Bundesrepublik insgesamt 586 sozialpsychiatrische Dienste mit einer durchschnittlichen Teamgrösse von 5–6 Mitarbeitern (Salize et al. 2007).
Krisen- und Notfallversorgung Die Auffassung, was als seelische Krise oder psychiatrischer Notfall zu bezeichnen ist und welche institutionelle Antworten hierauf zu geben sind, sind weit gespannt und vielfältig (Häfner et al. 1986). Dringlichkeit. Auf der funktionalen Ebene muss bei er-
forderlichen Interventionen wegen psychiatrischer Notfälle und Krisen vorwiegend nach der Dringlichkeit der Intervention unterschieden werden, d. h. danach, ob sofortige, zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbare Maßnahmen notwendig sind oder lediglich »rechtzeitige Hilfe«. Rechtzeitige Hilfe kann von allen Einrichtungen ge-
währt werden, die zu den üblichen Bürozeiten geöffnet haben. Für schwere psychiatrische Krisen (Delirien, Vergiftungen, körperlich bedingte Psychosen, seelische Erkrankungen mit einem hohen Maß an Eigen- und Fremdgefährdung) müssen spezielle Dienste vorgehalten werden, die rund um die Uhr in Anspruch genommen werden können und verkehrstechnisch günstig zu erreichen sind. Art der Maßnahme. Auf der organisatorischen Ebene ist
dagegen von Bedeutung, welcher Art die einzuleitenden Maßnahmen sein müssen, d. h. ob medizinische, psychiatrische und/oder soziale Maßnahmen erforderlich werden.
Versorgung in Allgemeinkrankenhäusern Eine umfassende Krisen- und Notfallversorgung dieser Art gibt es in der Regelversorgung nicht. Einschränkungen unterliegen z. B. Allgemeinkrankenhäuser ohne psychiatrische Abteilungen, die zwar ausreichend medizinische, aber v. a. keine psychiatrische und problemorientierte sozialarbeiterische Hilfen anbieten können. Dagegen können Krankenhäuser mit psychiatrischen Abteilungen eine integrierte medizinisch-psychiatrische Versorgung anbieten. Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern sind deshalb unter den gegenwärtigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen am ehesten in der Lage, zureichende Hilfe bei psychiatrischen Krisen- und Notfällen zu leisten. Schwierigkeiten resultieren eher aus der Notwendigkeit einer anschließenden ambulanten Behandlung, die psychiatrische Abteilungen z. T. nur erschwert zu leisten imstande sind.
Nichtärztliche ambulante Versorgung Eine neue Berufsgruppe in der ambulanten Versorgung stellen niedergelassene Ergotherapeuten dar. Anlässlich der Ergänzung der Heil- und Hilfsmittelrichtlinien im Jahr 1990 beschloss der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, die ambulante Verordnung von Beschäftigungs- und Arbeitstherapie auch auf psychische Funktionseinschränkungen auszudehnen. Auf dieser Grundlage hat sich in den letzten Jahren die Zahl ergotherapeutischer Praxen deutlich erhöht. Die Zahl variiert jedoch erheblich von Bundesland zu Bundesland. Dies steht vermutlich mit der unterschiedlichen Abrechnungspraxis in den einzelnen Bundesländern im Zusammenhang. Ein gefestigtes Berufsbild für den ambulant tätigen Soziotherapeuten existiert nicht. Wie für die Ergotherapie gilt aber auch für die ambulante Soziotherapie, dass sie von einem Arzt verordnet werden muss und zeitlich limitiert ist.
39
952
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.3.3
Komplementäre und rehabilitative Versorgung
Betreute Wohneinrichtungen
39
Der in den 1970er Jahren eingeleitete Prozess der Umstrukturierung der psychiatrischen Krankenhausversorgung führte zur Übertragung der meisten sozialen Betreuungsaufgaben in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit auf außerstationäre Einrichtungen und Dienste. Bekannt ist, dass seit Beginn der Krankenhausreform zahlreiche Patienten aus anderen Bundesländern in Heime im Schwarzwald verlegt wurden, die infolge der nachlassenden Nachfrage nach Tuberkulosenkrankenhäusern durch deren Umbau entstanden waren (Kunze 1977). Gemeindenahe betreute Wohneinrichtungen standen und stehen bis heute nicht in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung. Eine von Wing (1993) genannte Bedarfsanhaltszahl von etwa 1,5 betreuten Wohnplätzen je 1000 Einwohner wird in der Bundesrepublik Deutschland kaum erreicht. In 2000 standen mit rund 63.000 beschützten Wohnplätzen, was ca. einer Planungszahl von 0,77 Plätzen pro 1000 Einwohner der Bevölkerung entspricht, gerade einmal die Hälfte der für erforderlich gehaltenen Plätze zur Verfügung. Der vollständige Ausbau der außerstationären Versorgung ist bisher nur an wenigen Stellen in der Bundesrepublik modellhaft verwirklicht worden. Dies weist nicht nur auf strukturelle Mängel, sondern möglicherweise auch auf konzeptionelle Mängel hin. Idealerweise wird erwartet, dass im Rahmen vom beschützten Wohnen ein Kontinuum unterschiedlicher Wohnoptionen (mit unterschiedlich intensiver Betreuung) vorgehalten werden sollte. Konzeptionell wird davon ausgegangen, dass die Betroffenen je nach Zustand in verschiedenen Wohnformen platziert werden könnten. In der Realität der Versorgung hat sich allerdings gezeigt, dass die Zuordnung zu verschiedenen Wohnformen eher zufällig erfolgt und die Betroffenen, unabhängig von ihrem Zustand, in der Regel langfristig in der jeweiligen Wohneinrichtung verbleiben, also unabhängig von ihren tatsächlichen Wohnbedürfnissen. In den USA hat sich deshalb zu dem konventionellen Kontinuum ein neues Wohnmodell entwickelt, das sog. Supported Housing, das die Wohn- und Betreuungsnotwendigkeiten voneinander abkoppelt. Dies bedeutet, dass die Intensität der jeweils ambulant erbrachten Leistungen sehr variabel und je nach den Bedürfnissen der Betroffenen vorgehalten werden können (Rössler 2006). Dieses an und für sich sinnvolle Modell wird sich in der deutschen Versorgungsrealität aufgrund der aufgesplitterten Finanzierungsverantwortlichkeiten für die verschiedenen Wohnoptionen vermutlich nur schwer durchsetzen lassen.
Berufliche Eingliederung Auch im Bereich der Hilfen zur beruflichen Eingliederung sind in den vergangenen Jahren viele Initiativen gestartet
worden. Mit großen Erwartungen wurden berufsbegleitende Dienste aufgebaut, Rehabilitationsarbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entwickelt und Selbsthilfefirmen für psychisch Behinderte gegründet. Das dominierende Versorgungsangebot zur beruflichen Rehabilitation sowohl in Hinblick auf berufsvorbereitende Maßnahmen als auch in Hinblick auf beschützte Beschäftigungsmöglichkeiten ist aber nach wie vor die Werkstatt für Behinderte. Von den ca. 200.000 Plätzen in Werkstätten für Behinderte werden ca. 12%, d. h. in etwa 24.000 Plätze, speziell für psychisch kranke Behinderte vorgehalten. Zusätzlich gibt es ungefähr 4000 beschützte Arbeitsplätze in sog. Integrationsfirmen, die meistens mit Nischenangeboten auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben (Salize et al. 2007). Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke. Daneben existieren noch Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke, die in gewissem Umfang die berufliche Rehabilitation psychisch Kranker übernehmen. Berufsbildungswerke dienen der erstmaligen beruflichen Eingliederung v. a. jugendlicher Behinderter. Die Einrichtungen arbeiten z. T. überregional und sind teilweise stationär, z. T. ambulant und teilweise gemischter Art. Rund ein Viertel der Berufsbildungswerke nehmen psychisch Behinderte im Jugendalter bzw. bis zu einem Alter von maximal 30 Jahren auf. Berufsförderungswerke dienen hingegen der Fortbildung und Umschulung von in der Regel bereits berufstätig gewesenen behinderten Erwachsenen. Ihr Angebot ist z. T. überregional und in den meisten Fällen stationär. Etwa 60 der existierenden Berufsförderungswerke nehmen auch psychisch Behinderte auf, dabei z. T. nur nach Einzelfallprüfung. Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK).
Eines der wesentlichen Probleme der beruflichen Rehabilitation war und ist die aufgesplitterte Finanzierung auf Krankenkassen, Rentenversicherungsträger und Sozialhilfe. Ende der 1980er Jahre haben sich die Finanzierungsträger in einem historischen Kompromiss auf die gemeinsame Finanzierung einer »Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke« (RPK) geeinigt. Die RPK ist ein Komplexleistungsangebot, das berufliche, medizinische und soziale Rehabilitation mit dem Ziel der Wiederherstellung der Arbeitsmarktfähigkeit vereint. Die RPK ist für psychisch Behinderte gedacht, für die die Angebote einer ambulanten, gemeindepsychiatrischen Rehabilitation nicht ausreichend sind. Eine Rehabilitationsmotivation der Betroffenen und eine möglichst günstige Prognose sind Voraussetzungen zur Aufnahme in eine RPK. Die RPKs haben sich relativ zögerlich entwickelt: Im Jahr 2000 gab es insgesamt 42 RPKs mit 827 Plätzen (Fritze et al. 2005).
953 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
Begleitende Hilfen im Arbeitsleben. Für die Gewährung
begleitender Hilfe im Arbeitsleben sind die Hauptfürsorgestellen der Landessozialämter bzw. Landeswohlfahrtsverbände zuständig. Ihre Zuständigkeit resultiert aus einer Erweiterung des Schwerbehindertengesetzes im Jahre 1986, in dem allen Schwerbehinderten ein besonderes Recht auf Beschäftigung und Kündigungsschutz sowie Ansprüche auf begleitende Hilfen im Arbeits- und Berufsleben eingeräumt wurden. Neben der Gewährung finanzieller Mittel gehören zum Spektrum der begleitenden Hilfen auch Beratungs- und Betreuungsangebote, die von Fachdiensten der Hauptfürsorgestellen wahrgenommen werden. Dieser Fachdienst für psychosoziale Betreuung trägt in den meisten Bundesländern die Bezeichnung psychosozialer Dienst. Der gegenwärtig erfolgversprechendste Ansatz zur ambulanten beruflichen Rehabilitation ist das sog. Supported Employment. Supported Employment folgt der Philosophie »first place than train« anstelle der traditionellen beruflichen Rehabilitationsphilosophie »first train than place«. Es hat sich erwiesen, dass dieser Ansatz erfolgreich auch schwerer behinderte psychisch Kranke auf dem ersten Arbeitsmarkt etablieren kann. Darüber hinaus führt Supported Employment zu einer verbesserten sozialen Integration der Betroffenen und damit zu einer Lebensqualitätsverbesserung (Rössler 2006).
Tagesstrukturierende Maßnahmen Die wachsende Zahl in der Gemeinde lebender chronisch psychisch Kranker und Behinderter hat aber gezeigt, dass für einen kleinen Teil der Betroffenen berufliche Rehabilitationsmaßnahmen wenig nützlich, wenn nicht gar schädlich im Sinne einer Rückfallgefährdung durch Überforderung sind. Für diesen Kreis von Patienten fehlen jedoch heute noch ganz überwiegend Einrichtungen wie
⊡ Abb. 39.4. Das gegliederte System der sozialrehabilitativen Versorgung. (Nach Rössler u. Riecher-Rössler 1994)
z. B. Tagesstätten, die der sinnvollen Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung dienen. Im Jahr 2000 gab es gesamthaft 536 Tageszentren in Deutschland mit insgesamt rund 7600 Plätzen, die ein strukturiertes Angebot 5 Tage die Woche vorhalten. Darüber hinaus gibt es ca. 1000 weitere Tageszentren ohne strukturierte Programme (Salize et al. 2007). Die Expertenkommission hat 1988 im Hinblick auf tagesstrukturierende Maßnahmen einen über die Tagesstätte hinausgehenden Strukturvorschlag gemacht. Die Kommission schlägt auf der institutionellen Ebene die Einrichtung sog. gemeindepsychiatrischer Verbunde vor, die neben der Tagesstätte einen ambulant aufzusuchenden Dienst und eine Einrichtung mit Kontaktstellenfunktion umfassen. Die Idee des »gemeindepsychiatrischen Verbundes« hat inzwischen vielerorts Anklang gefunden. Die Verbünde sind häufig über formale Kooperationsverträge zwischen den verschiedenen Leistungsanbietern in einem Versorgungsgebiet – meistens unter Einbezug der stationären Einrichtungen – organisiert.
Differenzierte Angebote Wenn auch die erforderlichen Einrichtungen und Dienste in der komplementär/rehabilitativen Versorgung in vielen Regionen Deutschlands noch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, so ist die Ausdifferenzierung der Angebote trotzdem bemerkenswert. ! Während zu Anfang der Versorgungsreformen in diesem Bereich nur beschützte Heime und Werkstätten für Behinderte vorhanden waren, verfügen wir heute über ein Spektrum unterschiedlicher Angebote (⊡ Abb. 39.4), das die wachsende Sensibilisierung für eine personenorientierte, anstelle einer einrichtungsorientierten Versorgungsplanung erkennen lässt.
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954
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.4
Spezielle Versorgungsprobleme
39.4.1
Einstellung der Bevölkerung zu psychisch Kranken und deren Versorgung
Aus allen historischen Epochen sind Zeugnisse überliefert, aus denen hervorgeht, dass sich die Normalbevölkerung vor psychisch Kranken fürchtete (Bhugra 1989; Nunally 1961). Diese Furcht war nicht nur auf die »Irren«, »Wahnsinnigen« und »Verrückten« beschränkt, sondern hat sich auf die Orte übertragen, in denen diese sich – freiwillig oder gezwungenermaßen – aufhielten. Die großen psychiatrischen Krankenhäuser, insbesondere diejenigen, deren Gründung aus dem letzten Jahrhundert datiert, haben dieses Erbe ungebrochen übernommen ( Abschn. 11.4). Stereotyp vom »gefährlichen Geisteskranken«. Das Aus-
maß der öffentlichen Toleranz gegenüber psychisch Kranken stand zuletzt im Zusammenhang mit den Attentaten auf die Politiker Lafontaine und Schäuble, die im Jahr 1990 von psychisch kranken Tätern verübt wurden, auf dem Prüfstand. Wie aus mehreren Repräsentativerhebungen hervorgeht, nahm die Ablehnung von psychisch Kranken infolge dieser Ereignisse deutlich zu, und das Stereotyp vom gefährlichen und unberechenbaren Geisteskranken wurde reaktiviert (Angermeyer u. Siara 1994 a, b).
der Bevölkerung wieder geschlossen werden (Baron u. Piasecki 1981). Allerdings äußert sich Bürgerprotest gegen Versorgungseinrichtungen ebenso wie die Ablehnung psychisch Kranker allgemein nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleichförmig. Differenzierte Untersuchungen in der Umgebung bereits bestehender Einrichtungen geben Hinweise darauf, dass Art und Intensität des Kontakts, den die Bevölkerung mit psychisch Kranken hat, sich positiv auf deren Einstellungen auswirkt. Ebenso lassen sich auch Zusammenhänge zwischen Qualität und Ausbaugrad der Versorgung und den Einstellungen der Bevölkerung erkennen (Voges u. Rössler 1995; Rössler et al. 1995 b, c; Rössler u. Salize 1995 b, c).
Öffentlichkeitsarbeit ! Grundlage einer dauerhaften Ansehenssteigerung der Psychiatrie mit einer besseren Akzeptanz psychisch Kranker ist somit eine objektive Verbesserung der Versorgung und der Lebensbedingungen psychisch Kranker. Begleitend sind Informationskampagnen in der Öffentlichkeit erforderlich sowie der verantwortliche Einbezug von meinungsbildenden Schlüsselpersonen, sog. »opinion-leaders« (Wilmoth et al. 1987) oder »gate-keepers« (Grausgruber 1989; Schöny u. Grausgruber 1991) in Vorständen und Trägervereinen neu zu errichtender Einrichtungen.
Akzeptanz als Einflussfaktor der Rehabilitation Die Haltung der Bevölkerung zu psychisch Kranken bestimmt jedoch das Gelingen des Konzeptes der Gemeindenähe, indem sie das Lebensumfeld prägt, in das ein psychisch Kranker nach seiner Entlassung zurückkehrt bzw. das er sich neu erschließen muss. Die Akzeptanz und Ablehnung der direkten sozialen Umgebung hat somit Einfluss auf Symptomatik und Rezidivrate, also auf das Gelingen der Rehabilitation (Taylor et al. 1984).
Bürgerprotest gegen geplante Einrichtungen
39
Durch den Ausbau der gemeindenahen Versorgung wird die Bevölkerung in ihrem alltäglichen Leben weit mehr mit psychisch Kranken konfrontiert, als es vor den Reformen der Fall war. Die ambivalente bis ablehnende öffentliche Einstellung gegenüber psychisch Kranken hat sich jedoch nicht in gleichem Maße gebessert, wie Reformen vollzogen wurden. Für die Versorgungsplanung ist dies insofern von Bedeutung, als in der Regel mit massiven Bürgerprotesten gegen die Gründung von Versorgungseinrichtungen wie Wohnheimen, Wohngemeinschaften etc. in Wohngebieten zu rechnen ist. In einigen Gebieten der USA konnten aus diesem Grund rund die Hälfte aller geplanten Einrichtungen nicht eröffnet werden oder mussten aufgrund des massiven Widerstands
39.4.2
Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit ist eines der bedeutsamsten Strukturprobleme in den Volkswirtschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Betroffen davon sind alle Wirtschaftssysteme, unabhängig von ihrer ökonomischen oder ideologischen Ausrichtung. Die Entwicklung der Arbeitslosenquote seit Ende der 1970er Jahre signalisiert für die meisten industrialisierten Länder ein stetiges Ansteigen mit einer Stabilisierung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auf einem Wert von etwa 9–10%. Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen einen fundamentalen Einschnitt in die Lebensplanung und -gestaltung, der mit einer Vielzahl sozialer und gesundheitlicher Begleit- und Folgeerscheinungen verbunden ist. Neben den Auswirkungen auf der nationalökonomischen und politischen Ebene ist Arbeitslosigkeit somit v.a. ein Problem der Sozial- und Gesundheitsversorgung.
Arbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen Die Wirkungszusammenhänge zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit sind vielfältig. Neben der unmittelbaren finanziellen Notlage bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes meist auch den Verlust von mit Arbeit verbunde-
955 39.4 · Spezielle Versorgungsprobleme
nen immateriellen Qualitäten (Sozialstatus), den Verlust der zeitlichen und inhaltlichen Strukturierung des Alltags sowie den Verlust der durch die Arbeit vermittelten sozialen Beziehungen und Unterstützungssysteme (Weyerer 1994; Häfner 1988). Alle diese Aspekte können vermittelt über Lebensführung und Gesundheitsverhalten negativ auf die physische und psychische Gesundheit einwirken.
Wechselwirkungen zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit Häfner (1987, 1988, 1990) beschreibt folgende Wirkungszusammenhänge und Vermittlungsmechanismen: Arbeitsplatzverlust kann direkter Auslöser von Krankheit oder Suizid sein; Arbeitslosigkeit stellt ein indirektes Gesundheitsrisiko als auslösender bzw. begünstigender Faktor erhöhten Konsums von Nikotin, Alkohol oder Drogen dar; soziale Verteilungsprozesse um das knappe Gut Arbeit benachteiligen längerfristig oder chronisch erkrankte Personen. Solche Gruppen können folglich unter den Erwerbslosen überrepräsentiert sein; Arbeitslosigkeit begünstigt Attributionseffekte: Erwerbslosen wird von Ärzten, Angehörigen usw. bei gleicher Symptombelastung wie bei Erwerbstätigen möglicherweise früher ein Krankenstatus zugewiesen; Arbeitsplatzverlust kann in entsprechenden Arbeitsbereichen auch das Entfallen von arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken bedeuten. Im Einzelfall kann dies auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben.
Kontroverse um Wirkmechanismen Diese Aufstellung macht die vielfältigen Interdependenzen zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit deutlich. Unbestritten ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen seelischen Störungen und Arbeitslosigkeit besteht. Zahlreiche Studien haben entsprechende Zusammenhänge festgestellt. Die Frage der kausalen Verursachung und der Richtung der Wirkzusammenhänge ist jedoch Gegenstand kontroverser Diskussionen. Die Annahme monokausaler Wirkmechanismen gilt heutzutage übereinstimmend als vereinfachte Sichtweise, ohne dass dabei jedoch Konsens über allgemeingültige multifaktorielle Zusammenhangsmodelle erreicht wäre. Untersuchungen im englischsprachigen Raum. Einige der
bekanntesten und umfangreichsten empirischen Studien in diesem Problembereich wurden in den USA von Brenner und seinen Mitarbeitern durchgeführt (Brenner 1967, 1969, 1971, 1973, 1979, 1983). Hier wurde mittels gemeinsamer Analyse von ökonomischen und Gesundheitsdaten bei steigenden Arbeitslosenquoten anhand verschiedener Indikatoren eine Zunahme seelischer Störungen in der Bevölkerung gefunden.
! Ein zeitlich verzögerter Anstieg der Suizidrate sowie eine Zunahme der psychiatrischen Erstaufnahmen bei wachsenden Arbeitslosenquoten gehören in diesem Zusammenhang zu den wichtigsten Einzelergebnissen. Studien mit anderen Ansätzen bestätigen diese Befunde teilweise. Bebbington et al. (1981) zeigten an einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in London, dass im Vergleich zu Erwerbstätigen sowohl arbeitslose Männer als auch arbeitslose Frauen signifikant häufiger an psychischen Erkrankungen litten. Untersuchungen im deutschsprachigen Raum. Auch im
deutschsprachigen Raum fanden sich ähnliche Zusammenhänge. In der umfangreichen epidemiologisch-psychiatrischen Feldstudie von Weyerer u. Dilling (1984, 1987; Dilling u. Weyerer 1980) wurden bei Arbeitslosen wesentlich häufiger behandlungsbedürftige seelische Erkrankungen festgestellt als bei Erwerbstätigen. Dabei fanden sich auch Hinweise auf Langzeiteffekte, da sich bei Nachuntersuchungen nach 5 Jahren die Rate psychiatrischer Neuerkrankungen bei den Arbeitslosen erhöht hatte. Darüber hinaus zeigte die Nachuntersuchung bei den Arbeitslosen, die bereits bei der Erstuntersuchung psychische Störungen aufwiesen, zu einem sehr hohen Anteil einen chronischen Verlauf der Störung (Weyerer 1994).
Beschäftigungssituation chronisch psychisch Kranker Eine chronische psychische Erkrankung führt viele Betroffene in die Armut. Die schlechte wirtschaftliche Lage chronisch psychisch Kranker wird bei näherer Betrachtung ihrer Beschäftigungssituation deutlich. Müller u. Worm (1987) fanden in einer entsprechenden Untersuchung chronisch psychisch Kranker 16,5% Arbeitslose, 11,9% Sozialhilfeempfänger und 13,9% Frührentner. Insgesamt waren 42,3% der psychisch Kranken im erwerbsfähigen Alter aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden. In der in dieser Studie ebenfalls untersuchten Vergleichspopulation von Gesunden waren es nur 17,2%. Unter den aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedenen psychisch Kranken sind die an Schizophrenie erkrankten Personen überdurchschnittlich vertreten. Müller u. Worm (1987) und Kunze (1983) beklagen die bei dieser Patientengruppe deutlich hervortretende Tendenz zu vorzeitigen und übereilten Frühberentungen.
39.4.3
Wohnsitzlosigkeit und psychische Störungen
Die Diskussion um die Ursachen von Wohnsitzlosigkeit ist über lange Zeit hinweg überwiegend psychiatrisch ge-
39
956
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
führt worden. Die lange Zeit postulierten psychopathologischen Ursachen von Nichtsesshaftigkeit (Wilmanns 1904; Schneider 1934) wurden von den Nationalsozialisten zur ideologischen Legitimation der Ermordung Tausender von alleinstehenden Wohnsitzlosen benutzt und missbraucht. Die Diskussion über endogene vs. exogene Ursachen von Wohnsitzlosigkeit und Nichtsesshaftigkeit ist jedoch auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht verstummt und flammt immer wieder auf (Ritzel 1974; Veith u. Schwindt 1976; Goschler 1983; Sperling 1985; Garcia 1986; Locher 1990). Einer der Hauptgründe für diese Diskussion ist der Mangel an gesicherten empirischen Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen Wohnsitzlosigkeit, sozialer Notlage und psychischer Krankheit.
Zunahme der Wohnsitzlosen Der Mangel an gesicherten empirischen Kenntnissen tritt in der Bundesrepublik Deutschland in verschärfterer Form zutage als etwa in den USA oder in Großbritannien, wo die empirische Wohnsitzlosenforschung einen größeren Stellenwert besitzt. In der Bundesrepublik wird das Problem derzeit in seiner gesamten Dimension noch nicht angemessen wahrgenommen, obwohl der Problemdruck in den letzten Jahren deutlich angewachsen ist. Die wenigen verfügbaren Datenquellen vermerken einen deutlichen Anstieg der Zahl Wohnsitzloser in Deutschland in den letzten Jahren. Einige regionale Schätzungen und Zählungen (Iben 1989; LWV Baden/LWV WürttembergHohenzollern 1993) deuten auf eine Rate von etwa 0,17– 0,18% der Gesamtbevölkerung hin. Will man sich bei aller Unübersichtlichkeit der Lage trotzdem auf quantitative Werte stützen, so scheinen diese Zahlen noch die beste Annäherung oder Schätzungsgrundlage für die alten Bundesländer zu sein. Jedoch ist die Situation von einer solchen Dynamik gekennzeichnet, dass jede Schätzung sehr schnell veraltet. Driessen u. Dilling (1997) konstatieren z. B. 1996 in Schleswig-Holstein eine Rate von etwa 1% Wohnsitzloser in der Allgemeinbevölkerung. Steigender Problemdruck. Wohnungsmangel und Ar-
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beitslosigkeit lassen das in den vergangenen Jahren latent vorhandene Problem psychisch kranker Wohnsitzloser in der Bundesrepublik Deutschland zu einem akuten Problem werden. Die für die psychiatrische Versorgung bedeutsamste Gruppe Wohnsitzloser sind die sog. alleinstehenden Wohnsitzlosen. Darüber sollten andere große Gruppen Wohnsitzloser, die für die psychiatrische Versorgung von Belang sein können, wie z. B. alleinerziehende Mütter oder große Familien, nicht vergessen werden.
Mangelhafte Datenlage Für eine angemessene institutionelle Antwort auf diese sozial- und gesundheitspolitische Herausforderung man-
gelt es jedoch bereits an solch fundamentalen Daten wie die Zahl der Betroffenen. Zählungen oder Hochrechnungen für die Gruppe der »alleinstehenden Wohnsitzlosen« unterliegen der Schwierigkeit, dass sie sich auf Erhebungen der Hilfeeinrichtungen für Wohnsitzlose stützen müssen. Jedoch bei weitem nicht alle diese Einrichtungen registrieren Zahl, Kontakte oder Besuche ihrer Klientel. Darüber hinaus gibt es unter den Wohnsitzlosen einen bestimmten Anteil, der Hilfeeinrichtungen völlig meidet und sich somit jeder Erfassungsmöglichkeit entzieht. Schätzungen der Größe dieser Gruppe reichen von »sehr gering« bis zu einem Drittel der Gesamtgruppe. Die institutionellen Reformmaßnahmen im Bereich der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik sind an der Randgruppe der Wohnsitzlosen weitgehend vorbeigegangen. In den wissenschaftlich begleiteten Modellprogrammen, die in den 1970er und 1980er Jahren in großem Umfang die Prüfung von Versorgungsinstitutionen für psychisch Kranke zum Ziel hatten, fanden die alleinstehenden Wohnsitzlosen keine Berücksichtigung (Rössler et al. 1987; BMJFFG 1988). Wohnsitzlose und stationäre Behandlung. Der Anteil der
psychisch kranken Wohnsitzlosen, die in den vergangenen Jahrzehnten aus stationärer Behandlung in die Wohnsitzlosigkeit entlassen wurden, ist aufgrund der besonderen historischen Umstände in der Bundesrepublik wahrscheinlich geringer als in den USA. Allerdings ist zu vermuten, dass der Anteil enthospitalisierter psychisch Kranker unter den Wohnsitzlosen auch in Deutschland wächst (Wessel et al. 1997). Dagegen dürfte eine relativ große Gruppe besonders schwierig zu behandelnder psychiatrischer Patienten unter den Wohnsitzlosen in der Bundesrepublik zu finden sein, die jeglichen Kontakt zu dem konventionellen medizinischen und sozialen Hilfesystem meiden. Verfügbare Studien. Eine quantitative Abschätzung des
Anteils psychisch Kranker unter den Wohnsitzlosen in der Bundesrepublik kann sich nur auf wenige Einzelstudien stützen, die in der jüngsten Vergangenheit durchgeführt worden sind. Diese Studien beschränken sich weitgehend auf die Ermittlung von Morbiditätsraten und unterliegen z. T. methodischen Mängeln, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen (u. a. selektive Stichproben, unterschiedliche und z. T. ungenügende psychiatrische Diagnosestellung).
Hilfen für Wohnsitzlose und psychisch kranke Wohnsitzlose in der Bundesrepublik Deutschland Die Regelung des Hilfeangebots für alleinstehende Wohnsitzlose erfolgt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Psychiatrische Hilfen können nur Einrichtungen für Wohn-
957 39.4 · Spezielle Versorgungsprobleme
sitzlose und auch nur im Rahmen einer allgemeinen medizinischen Beratung leisten. Diese Hilfen bestehen häufig nur in einer Weitervermittlung an spezialisierte psychiatrische Facheinrichtungen. Neben den quantitativen Defiziten macht sich somit auch ein qualitatives Defizit bemerkbar, das aus der Struktur des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens resultiert. Beide Bereiche stellen deutlich voneinander getrennte Versorgungssysteme dar und sind in sich selbst in eine Vielzahl kleinerer Einrichtungen zersplittert. Der Bereitstellung psychiatrischer Hilfen in den Einrichtungen der Wohnsitzlosenhilfe sind damit nicht nur finanzielle, sondern auch strukturellinstitutionelle Grenzen gesetzt. Kostenerstattung für medizinische Versorgung. Als Vor-
teil erweist sich jedoch, dass im Gegensatz etwa zu den USA die Inanspruchnahme der medizinischen Versorgungssysteme in der Bundesrepublik auch für Wohnsitzlose nicht an eine bestehende Krankenversicherung gebunden, sondern – falls kein Krankenversicherungsschutz besteht – durch die Rechtsverpflichtung der Sozialhilfe zu subsidiärer Kostenerstattung faktisch kostenfrei ist. Die Inanspruchnahme medizinischer Hilfen erfordert allerdings Krankheitseinsicht und Eigeninitiative, wobei es aber Wohnsitzlosen häufig gerade hieran aus verschiedenen Gründen besonders mangelt. Keine Präventivmaßnahmen. Aus der Sichtweise der Ge-
sundheitsversorgung stellt sich das Problem der psychisch kranken Wohnsitzlosen in der Bundesrepublik Deutschland v. a. als ein Versorgungsproblem dar. Aufgrund der sozialen Genese der Problematik und der Komplexität der Wirkungszusammenhänge übersteigt die Durchführung geeigneter Präventivmaßnahmen Kompetenz, Verantwortung und Leistungsfähigkeit der Gesundheits- und insbesondere der psychiatrischen Versorgung. Überforderung der Wohnsitzlosenhilfe. Dagegen fällt die
Bereitstellung bedarfsgerechter, spezialisierter Einrichtungen in ausreichenden Kapazitäten durchaus in den Zuständigkeitsbereich des Gesundheitswesens. Eine Unterkunft zu haben, ist für chronisch psychisch kranke Menschen eine Grundvoraussetzung, um selbstständig und eigenverantwortlich zu leben. Gegenwärtig tragen die Einrichtungen der allgemeinen Wohnsitzlosenhilfe in Deutschland den größten Teil der Problemlast. Sie fungieren als Vorfeldeinrichtung der psychiatrischen Versorgung von Wohnsitzlosen, sind jedoch nur in seltenen Fällen dafür ausgestattet. Existenzsicherung der Klientel steht bei der Arbeit der Hilfeeinrichtungen im Vordergrund. Darüber hinausgehende, spezialisierte Hilfen können angesichts der Struktur und der Personalausstattung der Einrichtungen nur unzureichend oder gar nicht geleistet werden. Die Einrichtungen der Wohnsitzlosenhilfe
sind in der Versorgung der Mehrzahl der auftretenden psychischen Störungen überfordert. Das Alkoholproblem nimmt in diesem Zusammenhang eine besonders herausgehobene Stellung ein. Wohnsitzlosenhilfe in der Bundesrepublik aber als spezialisierte und qualifizierte Suchthilfe zu sehen, kommt einem Etikettenschwindel gleich (Rieger u. Wesel 1992). Das Problembewusstsein ist bei den professionellen Helfern aufgrund ihrer täglichen Praxiserfahrung in den Hilfeeinrichtungen groß (Kujat 1991). Konzeptionelle Überlegungen zur Weiterentwicklung der Wohnsitzlosenhilfe berücksichtigen dagegen das Problem der psychiatrischen Versorgung Wohnsitzloser derzeit kaum. Dies ist natürlich nicht geeignet, die künftigen Probleme, die im Zusammenhang mit Wohnsitzlosigkeit und psychischen Erkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten sind, in den Griff zu bekommen. Die wenigen verfügbaren Prävalenzdaten signalisieren über die Suchtproblematik hinaus bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen erheblichen, mit großer Wahrscheinlichkeit weithin ungedeckten psychiatrischen Versorgungsbedarf.
39.4.4
Krankenhausmortalität
Die lange Tradition von Mortalitätsuntersuchungen in der Psychiatrie, die bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückreicht, belegt übereinstimmend ein erhöhtes Mortalitätsrisiko psychisch Kranker gegenüber der Allgemeinbevölkerung. Schwerpunkte solcher Untersuchungen lagen v. a. in Großbritannien, Skandinavien und den USA (Ödegard 1936; Saugstadt u. Ödegard 1979; Allebeck u. Wistedt 1986; Craig u. Lin 1981). Häfner u. Bickel (1989) zeigen in einer Übersicht, dass diese Befunde nicht nur anhand von Untersuchungen an Krankenhauspopulationen oder Stichproben aus Pflegeeinrichtungen – wo entsprechende Daten leicht gesammelt werden konnten – gewonnen wurden, sondern sich auch in Feldstudien unabhängig von der Inanspruchnahme psychiatrischer Einrichtungen bestätigten. Mortensen und Juel (1993) konnten in einer jüngeren Untersuchung die Todesursachen bei ersthospitalisierten schizophrenen Patienten nach Krankheitsbildern aufschlüsseln und nach Geschlechtern getrennt mit den Raten der Allgemeinbevölkerung vergleichen. Dabei wurde ebenfalls die generell erhöhte Mortalitätsrate dieser Patientengruppe gegenüber der Allgemeinbevölkerung ersichtlich, wobei dazu v. a. das stark erhöhte Risiko für schizophren Erkrankte beiträgt, an Suizid zu versterben. Im deutschsprachigen Raum sind hierzu nur wenige empirische Untersuchungen durchgeführt worden. Lediglich die Untersuchungen von Schwalb et al. (1987) und Hewer et al. (1991) haben fundiertere Ergebnisse zur Mortalität psychisch Kranker erbracht. Beide Studien wurden
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958
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
an Krankenhauspopulationen durchgeführt. Bezüglich der Krankenhausmortalität in Deutschland bei Patienten mit funktionellen Störungen konnte eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung signifikant erhöhte Mortalität der Patienten (⊡ Abb. 39.5) festgestellt werden (Hewer et al. 1995).
Kliniksuizide Beim gehäuften Auftreten von Suiziden bei psychisch Kranken kommt dem sog. Kliniksuizid eine eigene Bedeutung zu. Die Gefährdung während stationärer psychiatrischer Behandlung ist erschreckend hoch. Die Auswertung der Daten von 475 Patienten eines Landeskrankenhauses ergab bei 38 suizidale Krisen oder Handlungen (Schmölzer et al. 1990). In Deutschland ist bei etwa jedem 10. Suizidopfer ein enger zeitlicher Zusammenhang mit einer stationären oder ambulanten psychiatrischen Behandlung gegeben. Das Risiko ist besonders groß für die Patienten, die an Psychosen leiden. ! Jeder zehnte Patient, der mit der Diagnose einer affektiven oder schizophrenen Psychose mindestens einmal stationär behandelt wurde, verstirbt durch Suizid (Milch u. Putzke 1994). Dabei findet nur etwa ein Drittel aller Kliniksuizide auf der Station statt. Außerhalb vorgenommene Suizidhandlungen geschehen häufig bei unerlaubter Entfernung. Ein erhöhtes Suizidrisiko ist ebenfalls während Wochenendurlauben zu verzeichnen sowie in den sich unmittelbar an die Entlassung anschließenden Phasen. Kliniksuizide nehmen weltweit zu. In der Bundesrepublik zeigt die Analyse von Daten aus 4 psychiatrischen Landeskliniken, dass sich die Selbsttötungsrate zwischen
⊡ Abb. 39.5. Standardisierte Mortalitätsraten: Alle Todesursachen insgesamt bei stationär behandelten psychiatrischen Patienten. (Aus Hewer et al. 1995) *p 300) kann innerhalb von 6–12 Monaten zur aktiven Teilnahme an der Integrierten Versorgung motiviert werden. Mit dem geplanten Versorgungsmodell können tatsächlich die Behandlungsqualität verbessert und die Gesamtkosten gesenkt werden (Voruntersuchungen?). Die spätere Übernahme des Versorgungsmodells in die Regelversorgung erscheint möglich. Die Kosten für alle Beteiligten sind realistisch und transparent kalkuliert worden und die Anschubfinanzierung deckt zumindest diese Kosten. Die Klinikverwaltung ist bereit, die erforderlichen Rahmenbedingungen (Bereitstellung von Räumen, Vorfinanzierung der Manpower etc.) zu schaffen. Es besteht Einvernehmen unter allen Beteiligten über Art und Ausmaß der Dokumentation, der Erfolgsbeurteilung und der Qualitätssicherung.
Fehlermöglichkeiten. Die Erfahrungen aus den zurücklie-
genden 4 Jahren seit Inkrafttreten des § 140 SGB V zeigen, dass ein IV-Antrag nur Sinn macht, wenn alle oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Die häufigsten Fehler, die in diesem Zusammenhang bisher gemacht wurden, waren folgende: Indikationen oder Versorgungsmodelle zu wählen, bei denen keine ausreichenden Kostensenkungen und/oder Qualitätsverbesserungen erreicht werden können, Überschätzung der tatsächlich erreichbaren Rekrutierungszahlen, Fehlen von effizienten Management- und Monitoringstrukturen, die ausreichende Rekrutierungszahlen und die Qualität der Dokumentation und der Interventionen sicherstellen, zu komplexe und zu aufwändige Versorgungsmodelle. Versorgungsmodelle zu beantragen, bei denen bereits bestehende Versorgungsangebote (z. B. in Institutsambulanzen, Rehabilitationseinrichtungen) als Integrierte Versorgung umetikettiert werden, erscheint aus mehreren Gründen nicht sinnvoll. Zum einen, weil die Krankenkassen nicht bereit sind, für inhaltlich ähnliche Leistungen doppelt zu bezahlen und man deshalb mit derartigen Anträgen nur bewährte Versorgungsstrukturen ersetzen würde, ohne zusätzliche Finanzmittel zu bekommen. Zum anderen können durch solche Modelle auch nicht die geforderten Qualitätsverbesserungen oder Kostensenkungen im Vergleich zur jetzigen Regelversorgung erreicht werden. ! Der häufigste Fehler ist aber, dass in der Planungseuphorie die später tatsächlich erreichbaren Rekrutierungszahlen überschätzt werden. Wenn dann später deutlich weniger Patienten als geplant in das Programm eingeschlossenen werden, kommt es wegen der fehlenden Fallhonorare rasch zu einer Unterfinanzierung, an der das gesamte Projekt scheitern kann. Um das zu vermeiden, sollte man so früh wie möglich Proberekrutierungen durchführen, bei denen sich zeigt, wie viele Patienten tatsächlich zum Einschreiben in ein Programm motiviert werden können. Einige psychiatrische Projekte, die darauf vertraut haben, dass durch eine angemessene Honorierung quasi automatisch die optimale Rekrutierung sichergestellt wird, haben nach den ersten 6 Monaten feststellen müssen, dass sich diese Erwartung nicht erfüllt hat und die geplanten Rekrutierungszahlen bei weitem nicht erreicht wurden. Insbesondere bei indikations- oder kassenspezifischen Verträgen, die nur einen Teil der in einer Praxis oder Klinik versorgten Patienten betreffen, wird unter dem Zeitdruck des Versorgungsalltags immer wieder vergessen, diese
967 40.2 · Beispiel für eine Integrierte Versorgung: »Münchner Modell«
Patienten für die Integrierte Versorgung zu motivieren und die eigentlich möglichen Rekrutierungszahlen werden dann nicht erreicht. Um zu vermeiden, dass Projekte an zu niederen Teilnehmerzahlen scheitern, bedarf es eines intensiven Projektmanagements und Monitorings, für das ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt und finanziert werden müssen. Häufig begehen Antragsteller auch den Fehler, sich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Integrierten Versorgung zu viel oder zu wenig vor zu nehmen. Entweder werden – wie oben beschrieben – bereits existierende sektorenübergreifende Versorgungsformen einfach umetikettiert und die Regelversorgung wird unter neuem Namen weitgehend unverändert weiter praktiziert. Damit ist aber niemandem gedient. Genauso wenig sollte man allerdings versuchen, alle diagnostischen und therapeutischen Prozesse der Regelversorgung gleichzeitig verändern und verbessern zu wollen. Solchen – irgendwo zwischen Lehrbuch und Leitlinie angesiedelten – IV-Konzepten merkt man an, dass ihre Autoren sie selbst nie praktisch umgesetzt haben. Denn dann hätten sie rasch bemerkt, dass es nichts bringt, aufzulisten, wie die optimale Diagnose, Behandlung oder Rehabilitation bei einer bestimmten Indikation idealerweise auszusehen hätten. Denn dass sie in der Realität nicht so aussehen, hat ja Gründe. Die meisten Ärzte wissen sehr wohl, wie unter idealen Bedingungen optimale diagnostische und therapeutische Prozesse ablaufen sollten, aber die Bedingungen (Manpower, Budget, Compliance etc.) sind in der Regelversorgung eben nicht ideal. Und auch die zusätzlich über die Integrierte Versorgung zur Verfügung gestellte Anschubfinanzierung macht es nicht möglich, die in solchen Rahmenkonzepten beschriebenen optimalen Prozesse auf allen Stufen des Behandlungspfads zu realisieren. Solche Konzepte sind in der Praxis nicht umsetzbar und führen eher zu Kostensteigerungen als zu den von den Krankenkassen angestrebten Kostensenkungen. Bessere Erfolgschancen als diese umfangreichen Konzepte haben schlanke Versorgungsmodelle, die sich auf die wichtigsten Probleme (z. B. Noncompliance, intersektorale Kommunikationsdefizite) konzentrieren und versuchen, diese Probleme mit wenigen, wirksamen Interventionen kosteneffektiv zu lösen. Eine besonders erfolgreiche Version dieses schlanken Konzepts ist das sog. »Münchner Modell«, das als bisher einziges IV-Modell in der Psychiatrie beide Kassenforderungen – Qualitätsverbesserung und Kostensenkung – erfüllen konnte. Bereits nach 1-jähriger Laufzeit führte es zu einer Halbierung der Kosten bei gleichzeitiger deutlicher Verbesserung der Behandlungsqualität. Um zu veranschaulichen, wie IV bzw. DMP bei psychiatrischen Indikationen inhaltlich aussehen können, soll dieses Münchner Modell im Folgenden etwas ausführlicher beschrieben werden.
40.2
Beispiel für eine Integrierte Versorgung: »Münchner Modell«
Inhaltlich konzentriert sich dieses Versorgungsmodell auf 2 Bereiche, 1. die Verbesserung der rezidivprophylaktischen Compliance schizophrener und depressiver Patienten und 2. die optimale Abstimmung der Behandlung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Ausgehend von dem Befund, dass die Hauptursache für Qualitätsdefizite und hohe Kosten bei diesen beiden Indikationen darin zu sehen ist, dass mehr als die Hälfte der betroffenen Patienten keine rezidivprophylaktische Behandlung durchführen, werden im Münchner Modell ca. 80% der Ressourcen darauf verwendet, Patienten und Therapeuten zu einer leitliniengerechten, optimalen Rezidivprophylaxe zu motivieren. In dem Programm werden – ohne Beschränkung durch die gängigen Budgets – alle Maßnahmen angeboten, deren compliancefördernde Wirksamkeit in Vorstudien nachgewiesen werden konnte (⊡ Tab. 40.1). Folgende Elemente wurden im Modell realisiert: Nach Einschluss eines Patienten ins Programm wird auf der Basis einer mehrstündigen, individuellen Compliancediagnostik zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen eruiert, wie compliant der Patient in der Vergangenheit die rezidivprophylaktische Behandlung durchgeführt hat, wo es dabei Probleme gab und wie diese Complianceprobleme in Zukunft gelöst werden können. Gemeinsam mit dem Patienten wird dann von einem ärztlichen und einem sozialpädagogischen Case Manager für den jeweiligen Patienten ein individuelles Programm zur zukünftigen Optimierung der Rückfallverhütung aufgestellt, fortlaufend angepasst und seine Umsetzung über mindestens 18 Monate im Rahmen regelmäßiger Wiedervorstellungstermine monitoriert. Durch eingebaute Wellness- und Bonuselemente, durch spielerischen Compliance-Wettbewerb unter den Teilnehmern und durch Gelegenheit zu Sozialkontakten wird versucht, das Programm für die Teilnehmer so attraktiv wie möglich zu machen. Verschiedene Anreize wie Fahrtkostenerstattung, Befreiung von Zuzahlungen etc. sollen die Teilnahmefreudigkeit der Patienten erhöhen. Pro Jahr werden so mindestens 20–30 ManpowerStunden pro Patient für die Verbesserung seiner rezidivprophylaktischen Compliance aufgewandt. Ein derartiger Aufwand nur für die Complianceverbesserung kann in der – traditionell eher auf die Akutbehandlung fokussierten – Regelversorgung auch nicht
40
968
Kapitel 40 · Integrierte Versorgung/Disease Management
⊡ Tab. 40.1. Probleme und Lösungsansätze im Rahmen der Integrierten Versorgung
40
Problem
Lösung
Noncompliance der Patienten für die Rückfallschutzbehandlung
Drop-out nach Klinikentlassung, Nichteinhaltung von Terminen
Extra honorierte Vorstellung beim weiterbehandelnden niedergelassenen Nervenarzt noch während der stationären Behandlung Terminerinnerungen, bei Bedarf Hausbesuche
Umstellung der Medikation kurz nach Entlassung des Patienten aus der Klinik
Suboptimale ärztliche Therapieempfehlungen
Implementierung von Behandlungsleitlinien (Qualitätszirkel) Optimierung eines gemeinsamen Behandlungspfades (Qualitätszirkel) Benchmarking von Prozess- und Ergebnisindikatoren anhand der sektorübergreifenden Dokumentation
Verspätete Reaktion auf Krisen
Differenzialdiagnose der Noncompliance Psychoedukation für Patient und Angehörige (Pitschel-Walz et al. 2006) Compliance-Monitoringsysteme Medikamententraining (Asani u. Eißmann 2006) Reminder (Telefon, SMS) »Shared Decision Making« (Hamann et al. 2006) Depotmedikation Bonus für Teilnahme an complianceverbessernden Maßnahmen (Post et al. 2006)
Abstimmung der Entlassungsmedikation zwischen Klinikern, Niedergelassenen und Patienten Fallkonferenzen in sektorübergreifenden Qualitätszirkeln Benchmarking von Prozess- und Ergebnisindikatoren Standardisierter, beschleunigter Informationsfluss bei Aufnahme und Entlassung
Training der Patienten im Erkennen von Frühwarnzeichen Krisenplan für Patienten und Angehörige Garantierte, beschleunigte stationäre Aufnahme im Bedarfsfall Telefonische Hotline für Patienten und Angehörige
annähernd geleistet werden. Der damit natürlich auch verbundene erhöhte Kostenaufwand (ca. 1250 € pro Patient) rentiert sich aber auch für den Kostenträger, da durch diese Interventionen pro Patient ca. 6250 € an stationären Behandlungskosten pro Jahr eingespart werden, wie eine Zwischenauswertung des »Münchner Modells« nach einjähriger Laufzeit ergab. Die therapeutische Verantwortung für den Patienten liegt bei diesem Modell weiterhin beim niedergelassenen Arzt, der seine sonstigen Leistungen wie bisher über die Kassenärztliche Vereinigung abrechnet. Für die zusätzlich zur Regelversorgung angebotenen Compliance verbessernden Maßnahmen bekommen die Niedergelassenen und die das Programm unterstützenden Kliniken außerhalb ihres Budgets ein zusätzliches, kostendeckendes Honorar. Da sich die mangelnde Abstimmung zwischen niedergelassenen Ärzten und Klinikern häufig negativ auf die Compliance der Patienten und auf die Effizienz der Behandlung auswirkt, wird im Rahmen der Integrierten Versorgung auch versucht, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Behandlungssektoren zu optimieren. Durch regelmäßige gemeinsame Fallkonferenzen und standardisierte (und zusätzlich honorierte) Kommunikationsinstrumente wird verhindert, dass es beim Wechsel des Patienten von einem Sektor in den anderen zu vermeidbaren Doppeluntersuchungen oder Medikamentenumstellungen kommt.
Das »Münchner Modell« unterscheidet sich in einigen entscheidenden Aspekten von anderen integrierten Versorgungsmodellen für diese Indikationen. Im Gegensatz z. B. zum Rahmenkonzept der DGPPN (2005) versucht das Münchner Modell nicht, alle Aspekte der Behandlung zu optimieren sondern konzentriert sich auf einige wenige, aber sehr wirksame complianceverbessernde Maßnahmen, die in der derzeitigen Regelversorgung so nicht angeboten werden können. Voruntersuchungen (Pitschel-Walz et al. 2006) und die bisherige einjährige Laufzeit des Vertrags haben gezeigt, dass ein derartiges schlankes Interventionspaket problemlos in der Regelversorgung implementiert werden kann und nicht nur zu einer Verbesserung der Behandlungsqualität, sondern auch zu einer Halbierung der pro Patient anfallenden Krankenhaustage führt. Da damit die beiden zentralen Zielsetzungen der Krankenkassen – Qualitätsverbesserung und Kostensenkung – erreicht werden, haben diese sich entschlossen, die Implementierung des Münchner Modells in weiteren Regionen zu unterstützen und weiteren Leistungserbringern den Beitritt zum Münchner Vertrag zu ermöglichen. ! Angesichts des bevorstehenden Auslaufens der Anschubfinanzierung (Ende 2008) ist der Beitritt zu einem bereits laufenden Vertrag wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, in einer neuen Region noch rasch ein Integriertes Versorgungsmodell zu etablieren.
969 Literatur
40.3
Grundlegende Bewertung
Von vielen Therapeuten wird zu Recht beklagt, dass eine optimale Behandlung unter den heutigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen kaum mehr angeboten werden kann. Die zu geringen Honorar- und Medikamentenbudgets, die kontinuierliche Verkürzung stationärer Behandlungszeiten und Streichungen bei den komplementären Diensten erschweren zunehmend die Umsetzung einer leitliniengerechten Therapie. Und an die Implementierung neuer Versorgungsstrukturen ist unter diesen Umständen überhaupt nicht mehr zu denken. In dem vorliegenden Kapitel wird eine Möglichkeit aufgezeigt, wie man auch unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen eine optimale leitliniengerechte Therapie und darüber hinaus sogar noch zusätzliche Leistungen und neue Versorgungsformen finanzieren kann. Die gesetzliche Basis hierfür bietet der § 140 SGB V, über den prinzipiell alles finanziert werden kann, was die Behandlungsqualität verbessert und mittelfristig die Gesamtkosten senkt. Besonders geeignet für diese über § 140 geförderte sog. Integrierte Versorgung erscheint die rezidivprophylaktische Behandlung schizophrener und affektiver Störungen, weil auf diesem Gebiet noch große Qualitätsverbesserungen möglich sind, die gleichzeitig zu deutlichen Kostensenkungen führen. Wie ein solches integriertes Versorgungsmodell in der Rezidivprophylaxe im Einzelnen aussehen kann, wird am Beispiel des »Münchner Modells« erläutert. In diesem neuen Versorgungsmodell ist es niedergelassenen Nervenärzten, Klinikern und Krankenkassen gemeinsam gelungen, für alle Beteiligten eine »Win-Win-Situation« herbeizuführen. Patienten und Angehörige bekommen ein deutlich verbessertes Leistungsangebot, die Leistungserbringer bekommen ein angemessenes extrabudgetäres Honorar für die Durchführung dieser zusätzlichen Leistungen und die Kostenträger sparen trotzdem bis zu 50% ihrer bisherigen Kosten ein. Auch wenn dieses neue Gesetz – gerade in der derzeitigen Übergangsphase – manche Abläufe etwas komplizierter macht und auch berufspolitisch nicht ganz unproblematisch ist (Meißner 2006), überwiegen aus unserer Sicht die Chancen, die es gerade für die Psychiatrie bietet, bei weitem. Erstmals seit der Psychiatrie-Enquete besteht wieder eine realistische Chance, neue Versorgungskonzepte in der Regelversorgung zu implementieren und dafür auch ausreichend Finanzmittel zu erhalten. Die Psychiatrie sollte diese Chance nutzen und das Feld (und die Finanzmittel!) nicht völlig den somatischen Fächern überlassen. Parallel zur Implementierung dieser neuen sektorenübergreifenden Versorgungsformen muss dann aber auch eine intensive Versorgungsforschung betrieben werden, um heraus zu finden, wie auch in der Psychiatrie der »Efficacy-Effectiveness-Gap« weiter verkleinert werden kann.
Literatur Asani F, Eißmann I (2006) Medikamententraining. Psych Pflege 12: 205–207 Badamgarav E, Weingarten SR, Henning JM et al. (2003) Effectiveness of disease management programs in depression: a systematic review. Am J Psychiatry 160: 2080–2090 DGPPN (2005) Rahmenkonzept Integrierte Versorgung Depression. Nervenarzt 76: 104–121 Hamann J, Langer B, Winkler V et al. (2006). Shared decision making for in-patients with schizophrenia. Acta Psychiatr Scand 114: 265– 273 Hildebrandt H (2001) Die Evaluation integrierter Versorgung und ihr wirtschaftliches Umfeld. In: Preuss et al. (Hrsg) Managed Care – Evaluation und Performance-Measurement integrierter Versorgungsmodelle – Stand der Entwicklung in der EU, der Schweiz und den USA. Schattauer, Stuttgart Kissling W (2006) Integrierte Versorgung in der Psychiatrie. Neurotransmitter 7–8: 26–31 Kissling W, Seemann U (2006) Qualitätsmanagement in der Schizophreniebehandlung. In: Schmauß M (Hrsg) Schizophrenie – Pathogenese, Diagnostik und Therapie. Uni-Med Verlag, Bremen, S 333–348 Kissling W, Seemann U, Fritze P (2004) Integrierte Versorgung. Neurotransmitter 10: 28–35 McGlynn EA, Asch SM, Adams J et al. (2003) The quality of health care delivered to adults in the United States. N Engl J Med 348: 2635– 2645 Meißner A (2006) Leserbrief. Psychiat Prax 33: 251–252 Peinhaupt C, Nowak P (2005) PatientInnenbeteiligung und Integration im Gesundheitswesen. Empfehlungen des Wiener Modellprojekts PIK. Österreichische Krankenhauszeitung, 46: 01–02, 18–19 Pitschel-Walz G, Bäuml J, Bender W et al. (2006) Psychoeducation and compliance in the treatment of schizophrenia: results of the Munich PIP-study. J Clin Psychiatry 67: 443–452 Post EP, Cruz M, Harman J (2006) Incentive payments for attendance at appointments for depression among low-income african americans. Psychiatr Serv 57(3): 414–416
40
III Therapeutische Grundlagen 27
Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen – 627 S. Kasper, H.-J. Möller
28
Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 669 S. Kasper
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Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung – 691 K. Schonauer
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Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen – 703 M. Ermann, B. Waldvogel
31
Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 743 M. Linden, M. Hautzinger
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Entspannungsverfahren – 777 M. Zaudig, R. D. Trautmann-Sponsel, A. Pielsticker
33
Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien – 815 A. Retzer
34
Humanistische Psychotherapieverfahren – 841 W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
35
Soziotherapie – 871 S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
36
Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
37
Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren – 911 W. Weig
38
Psychoedukation und Angehörigenarbeit – 923 R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
39
Versorgungsstrukturen W. Rössler
40
Integrierte Versorgung/Disease-Management W. Kissling
41
Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie – 971 H.-J. Möller
42
Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung – 985 M. Philipp, G. Laux
– 883
– 937 – 963
41 41 Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie H.-J. Möller
41.1
Kernelemente und Grundprobleme der evidenzbasierten Medizin in der Psychiatrie – 972
41.2
Grundsätzliches zu Evidenzfindung, Evidenzkriterien und Evidenzgraduierung – 973
41.4
41.4.1
41.3
Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung – 975 41.3.1 Metaanalyseresultate versus Resultate aus Einzelstudien zur Definition des höchsten Evidenzgrades – 976 41.3.2 Plazebokontrollierte Studien versus Standardmedikament-kontrollierte Studien als Voraussetzung für den höchsten Evidenzgrad – 978 41.3.3 Unterschiede der Evidenzgraduierung in der Psychopharmakotherapie und der Psychotherapie – 979
41.4.2 41.4.3 41.4.4
41.5
Kann die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse evidenzbasiert werden? – 979 Wirksamkeits-/Verträglichkeitsaspekte beim Vergleich verschiedener Medikamente – 979 Schwierigkeit der vergleichenden Nutzen-Risiko-Abwägung – 980 Evidenzbasierung für Therapiealgorithmen – 980 Evidenzfindung in einer durch medizinische, gesundheitsökonomische und individualisierende Entscheidungsprozesse definierten klinischen Entscheidungslogik – 981 Schlussfolgerungen Literatur
– 981
– 981
> > Der Begriff evidenzbasierte Medizin (EbM) ist zu einem zentralen Begriff im heutigen Gesundheitswesen (Grell 2006; Kunz et al. 2000; Sackett et al. 1999; Sackett 2000) und damit auch in der Psychiatrie geworden. Im Gegensatz zur in Deutschland tradierten alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes »Evidenz« im Sinne von intuitiver Erfahrung, wird »Evidenz« im Kontext der evidenzbasierten Medizin als Summe empirischen Wissens verstanden, das zu einem bestimmten Sachverhalt verfügbar ist.
972
41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
41.1
Kernelemente und Grundprobleme der evidenzbasierten Medizin in der Psychiatrie
Evidenz im Sinne der evidenzbasierten Medizin ist das Ergebnis einer kritischen und systematischen Gesamtbewertung (»critical appraisal«) von (publizierten) Resultaten wissenschaftlicher Studien. Die Evidenz kann sich auf verschiedene Bereiche, wie z. B. Diagnostik oder Therapie, beziehen. Das komplexe medizinische Wissen zu einem bestimmten Bereich wird durch Metaanalysen, systematische Reviews, u. a. aufbereitet und zusammengefasst und dann durch in bestimmten Fachgremien verabschiedete Empfehlungen bzw. Therapieleitlinien umgesetzt (Antes 2004; Cartabellotta et al. 1998 a,b; Gonzalez 2001; Jadad et al. 1998; Kawamura et al. 1999; Manser u. Walters 2001). Der Arzt soll sich in seinen diagnostischen bzw. therapeutischen Entscheidungen nach diesen evidenzbasierten Empfehlungen richten. Sein ärztliches Handeln soll dadurch besser empirisch begründet bzw. rationaler werden (Craig et al. 2001). Subjektive Ermessensspielräume sollen soweit wie möglich eingeschränkt werden. Im Rahmen der EbM gelten als entscheidende Stufe der wissenschaftlich belegten Evidenz, soweit therapeutische Aspekte betroffen sind, randomisierte Kontrollgruppenstudien. Das auf Einzelfällen bzw. deren Kumulation aufgebaute Wissen wird nur als Ergänzung zu solchen Studien oder als Ersatz im Fall fehlender empirischer Studien relevant. Diese Sichtweise entspricht dem methodischen Verständnis empirischer Forschung (Möller 2007). Evidenzbasierte Medizin und im Zusammenhang damit Therapieempfehlungen und -leitlinien sowie andere konsensuelle Zusammenfassungen des Wissensstandes sind auch in der Psychiatrie, insbesondere hinsichtlich der Psychopharmakotherapie, zu einem wichtigen Teil der Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherung geworden, um eine ausreichende Rationalität der Diagnostik und Therapie zu gewährleisten. Es besteht kein Zweifel, dass dies ein wichtiges Anliegen ist, und dass Leitlinien angesichts des für den einzelnen Arzt meist nicht mehr zu durchschauenden komplexen und komplizierten Wissensstandes über die Behandlung einer bestimmten psychischen Erkrankung eine große Entscheidungshilfe sein können. Viele nationale und internationale psychiatrische Fachgesellschaften haben in den letzten Jahren Therapieempfehlungen oder Leitlinien erstellt. Im Bereich der deutschen Psychiatrie bzw. Psychopharmakotherapie sind in dem Zusammenhang u. a. verschiedene Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Gaebel u. Falkai 1998) sowie die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft (Höffler et al. 2001) zu nennen. Auf internationaler Ebene sind insbesondere die von der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft (APA) herausgegebenen, aber weit über die amerikanische Psychiatrie hinaus verbreiteten »practice guidelines« zu nennen. Als weitere im internationalen Umfeld zunehmend etablierte Leitlinien sind die »guidelines« der World Federation of Societies of Biological Psychiatry zu erwähnen (u. a. Bandelow et al. 2003; Bauer et al. 2002 a, b; Falkai et al. 2005; Falkai et al. 2006; Grunze et al. 2002; Grunze et al. 2003; Grunze et al. 2004).
Festlegen und Vermitteln des Standards Ein wichtiges Anliegen in diesem Kontext ist, Standards festzulegen, die im Rahmen der Leitlinienentwicklung zu beachten sind. In Deutschland gibt es diesbezügliche Bemühungen seitens der Bundesärztekammer wie auch der Arbeitsgemeinschaften wissenschaftlicher Fachgesellschaften (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2006; Ollenschlager et al. 1998). Ein weiteres wichtiges Anliegen ist, dafür Sorge zu tragen, die jeweiligen Leitlinien an die entsprechenden Ärztegruppen zu vermitteln und für ihre Befolgung zu werben. Gerade auf der Ebene des Transfers in die Praxis gibt es viele Probleme (Grimshaw et al. 2004; Grimshaw et al. 2006). So hat z. B. die im Zusammenhang mit den Problemen der Gewichtszunahme und dem damit assoziierten metabolischen Syndrom unter Neuroleptikatherapie entstandenen diesbezüglichen amerikanischen Leitlinien (American Diabetes Association et al. 2004) der amerikanischen Diabetes Gesellschaft und der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (APA) nicht dazu geführt, dass die amerikanischen Psychiater die vorgeschlagenen Kontrolluntersuchungen durchführen (Cuffel et al. 2006).
Qualitätssicherung Parallel zur Entwicklung von Leitlinien auf der Grundlage der EbM vollzieht sich der Aufbau der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (Gaebel 1996; Gaebel u. Falkai 2003; Harter et al. 2003; Ollenschlager et al. 2002): Selbstkontrollmaßnahmen der Ärzteschaft, möglicherweise aber in Zukunft auch Fremdkontrolle durch entsprechende Institutionen des Gesundheitssystems, sollen garantieren, dass Ärzte der evidenzbasierten Medizin, wie sie in Therapieempfehlungen bzw. Leitlinien festgeschrieben sind, in ihren Entscheidungen folgen. Wegen dieser normativen Implikationen der EbM und Leitlinienkultur wird dieser prima vista so sinnvoll klingende Ansatz nicht ohne kritisches Hinterfragen hingenommen (Helmchen 2002; Hunink 2004). Auch wenn Therapieempfehlungen und Leitlinien, im Gegensatz zu Richtlinien, den Arzt nicht völlig im Sinne der priorisierten Therapieoptionen verpflichten, besteht doch die nicht unbegründete Sorge, dass sie z. B. von ge-
973 41.2 · Grundsätzliches zu Evidenzfindung, Evidenzkriterien und Evidenzgraduierung
sellschaftlich relevanten Kräften des Gesundheitssystems überinterpretiert werden, was zu weitergehenden Konsequenzen führen könnte, wie z. B. der, dass eine Krankenkasse einen bestimmten Therapieansatz nicht zahlt bzw. dass eine kassenärztliche Vereinigung empfiehlt, bestimmte Medikamente nicht mehr zu verschreiben.
Organisatorisch-technische Faktoren Organisatorisch-technische Faktoren der Leitlinienentwicklung (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2006; Kopp et al. 2005), wie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Experten für die diesbezügliche Expertenkommission und die Art des Abstimmungsprozesses in diesen Gremien sowie die diesbezüglichen Beeinflussungsmöglichkeiten von verschiedener Seite sind von großer Relevanz und können in erheblichem Maße das Ergebnis beeinflussen. Die »Evidenz« kann oft eine durch Voreinstellungen verschiedener Interessensgruppen sehr gebiaste Sicht der Datenlage sein. Versuche der Einflussnahme über diese eher organisatorisch-technischen Faktoren können von verschiedenen Interessengruppen ausgehen. Nicht nur die im Kontext der Beeinflussung des Verschreibungsverhaltens der Ärzte immer wieder gescholtene pharmazeutische Industrie ist als potenzielle Interessensgruppe zu sehen. Auch staatliche Institutionen des Gesundheitssystems oder Institutionen der Ärzteschaft sind diesbezüglich oft nicht so »neutral«, wie sie es vorgeben. Man denke z. B. an die (in Deutschland mit besonderer Intensität) geführte Debatte über den Vorteil der atypischen Neuroleptika und die konträren Positionen verschiedener Gruppen (Möller et al. 2006 a).
41.2
Grundsätzliches zu Evidenzfindung, Evidenzkriterien und Evidenzgraduierung
Die beiden wichtigsten Ansätze der Evidenzfindung (Khan et al. 2004) sind systematische Reviews und Metaanalysen (s. auch »Übersicht einiger relevanter Fachbegriffe« weiter unten). Systematische Reviews. Sie bieten eine kritische Darstel-
lung und qualitative Bewertung der für eine bestimmte Fragestellung vorhandenen Studien in einer narrativen Darstellung. Vor- und Nachteile einzelner Studien werden argumentativ gegeneinander abgewogen und ein qualitativ dargestelltes Ergebnis der Studiengesamtheit (x ist wirksamer als Plazebo bzw. gleich wirksam zu einem aktiven Medikament) dargestellt. Diese Strategie wird z. B. von den Zulassungsbehörden zur Prüfung der Wirksamkeit von Arzneimitteln angewandt; das Ergebnis der Prüfung ist eine Bewertung der neuen Substanz als wirksamer im Vergleich zu Plazebo bzw. als gleich wirksam im Vergleich zu einer Standardtherapie. Dieses Vorgehen wurde in modifizierter Form bei der Erstellung einiger Leitlinien verwandt [z. B. durch die World Federation of Biological Psychiatry (Bauer et al. 2002)]. Systematische Übersichtsarbeiten im Sinne der evidenzbasierten Medizin müssen hohe methodische Anforderungen hinsichtlich der Vollständigkeit der einbezogenen Studien und ihrer kritischen Bewertung erfüllen und gehen somit über andere, nicht so strikte Anforderungen befolgende Übersichtsarbeiten hinaus. Metaanalysen. Sie kombinieren die Ergebnisse der für
Rückwärtsgerichtete Sichtweise problematisch Eine weitere Problematik besteht darin, dass Leitlinien aufgrund ihrer rückwärtsgerichteten Sichtweise, insbesondere bei länger dauernder Leitlinienentwicklung eher zu konservativen Therapieentscheidungen führen und dem jeweiligen aktuellen Fortschritt nicht ausreichend Rechnung tragen können. Dies ist insbesondere dann von praktischer Relevanz, wenn die Vorgaben für die Entwicklung von Leitlinien immer größeren Anforderungen [wie in Deutschland die so genannten »S3-Leitlinien«, z. B. die neue Version der Schizophrenie-Leitlinien der DGPPN, (Gaebel et al. 2006)], stellen und die Entwicklung einer Leitlinie 2–3 Jahre dauern kann. Da sich die daran beteiligenden Experten den zeitlichen Aufwand nicht andauernd leisten können und obendrein die Kosten einer solchen Leitlinienentwicklung immens sind, hat das zur Folge, dass an eine Revision erst nach mehreren Jahren zu denken ist. Angesichts der bekannten kurzen Halbwertszeit medizinischen Wissens, ist eine so lange Gültigkeitsdauer von Leitlinien problematisch.
eine spezifische Fragestellung vorhandenen und als methodisch adäquat eingestuften Studien in quantitativer Weise. Es resultiert eine Effektgröße (»effect size«; ⊡ Abb. 41.1), die den quantitativen Unterschied zwischen 2 Vergleichssubstanzen (z. B. Plazebo vs. aktives Medikament) wiedergibt. Der Vergleich von Effektgrößen setzt die Ziehung aus derselben Grundgesamtheit voraus. Diese Voraussetzung ist meist bestenfalls approximativ erfüllt, da die verschiedenen zu kombinierenden Studien auf verschiedenen Designs mit jeweils meist unterschiedlichen Rahmenbedingungen basieren (z. B. in Bezug auf SettingVariablen, Ein- und Ausschlusskriterien, Vorbehandlung, Begleitmedikation). Metaanalysen vs. systematische Reviews. Den Ergebnis-
sen von Metaanalysen wird zunehmend bei der Erstellung von Leitlinien (Czekalla 2006) und Lehrbüchern auf der Basis der evidenzbasierten Medizin besondere Bedeutung beigemessen, möglicherweise weil die quantitative Ergebniszusammenfassung in Effektgrößen leichter zu vermitteln ist als differenzierende qualtitative Schlussfolge-
41
974
41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
⊡ Abb. 41.1. Effekt-Size-Differenzen zwischen »Second Generation Antipsychotics« und Haloperidol (Haloperidol unterteilt in 2 Dosisstufen) bei Studien an Patienten mit Schizophrenie oder ähnlicher Störung (standardisiert gewichtete Mitteldifferenz und 95% Vertrauensbereich). (Nach Geddes et al. 2000)
≤ 12 mg Haloperidol > 12 mg Haloperidol
-0,5
-0,4
-0,3
-0,2
-0,1 Vorteil atypisches Neuroleptikum
rungen auf der Basis systematischer Reviews. In der Tat haben Metaanalysen im Vergleich zum systematischen Review den Vorteil, dass sie die Ergebnisse auf quantitative Kenngrößen (Effektgrößen) verdichten können, während Reviews lediglich qualitative Schlussfolgerungen ziehen. Trotzdem können Metaanalysen nicht die in narrativer Form dargestellten systematischen Reviews ersetzen, die den Vorteil haben, in differenzierter Weise den speziellen Gegebenheiten der einzelnen Studien hinsichtlich Studiendesign, Patientenselektion, Dosierung des Pharmakons etc. Rechnung tragen zu können. Gerade diese Detailanalyse verlangt hohen klinisch-psychopharmakologischen Sachverstand und eine detailreiche Darstellung, die in den manchmal den Metananalysen vorangestellten und oft relativ kurzen systematischen Reviews nicht immer zu erkennen sind. Beide Verfahren sollten als komplementär angesehen werden. Eine Vorrangstellung der Metaanalysen im Vergleich zum umfangreichen narrativen systematischen Review lässt sich nicht begründen. Der so eindeutig und aussagekräftig erscheinende Zahlenwert der Effektgröße steckt voller Ambiguitäten, die aus grundsätzlichen methodischen Problemen der Metaanalysen resultieren. Der so griffig und bildhaft erscheinende Wert der Effektgröße kann nur zu leicht naiv vereinfachend oder gezielt tendenziös interpretiert werden, da die komplexe dahinter stehende Gemengelage klinischer Daten nicht mehr in Erscheinung tritt. Cave Überinterpretationen der Effect-size-Werte als letzte Entscheidungsinstanz, wie sie heute häufig zu lesen sind, sind angesichts verschiedener Grundprobleme der Metaanalyse unangemessen und müssen jeweils kritisch hinterfragt werden (Lieberman et al. 2005 a; Maier u. Möller 2005).
Übersicht einiger relevanter Fachbegriffe (Nach Gaebel u. Falkai 1998) Systematisches Review. Systematische Reviews sind Zu-
sammenfassungen von wissenschaftlichen Originalstu-
0
0,1 Vorteil für Haloperidol
dien, bei denen spezifische methodische Strategien verwendet werden, um Verzerrungen (Bias) zu vermeiden: systematische Identifikation, Zusammenstellung, kritische Bewertung und Synthese aller relevanten Studien. Metaanalyse. Verwendung statistischer Techniken, bei denen die Ergebnisse einzelner Studien integriert werden. Die Integration kann auf der Basis der Rohdaten (PoolAnalyse) erfolgen. Wenn diese nicht zugänglich sind, werden auf der Basis der publizierten Daten Effektstärken berechnet und je nach Fragestellung verglichen. Effektstärke. Differenzmaß in definierten Outcome-Para-
metern (z. B. psychopathologischen Skalen) zwischen Interventions- und Kontrollgruppen, dividiert durch die (gemeinsame) Standardabweichung. Die Effektstärke wird als Maß für die Wirksamkeit einer Intervention zwischen zwei oder mehreren Behandlungsgruppen verwendet. Konfidenzintervall. Der Bereich, innerhalb dessen ein
wahrer Wert (bspw. die Effektstärke) bei einer Studienpopulation mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (etwa 95 oder 99%) liegt. Konfidenzintervalle geben die Wahrscheinlichkeit von Zufallsfehlern, nicht jedoch von systematischen Fehlern in Studien wieder. Gewichteter mittlerer Unterschied (»weighted mean difference« – WMD). Ein bei Metaanalysen angegebenes Differenzmaß, zu dessen Errechnung verschiedene Messergebnisse aus unterschiedlichen Studien mit bekanntem Mittelwert, Standardabweichungen und Stichprobengröße gemittelt und nach deren Einfluss gewichtet werden. Number Needed To Treat (NNT). Statistisch berechnete
Anzahl der Menschen, die behandelt werden müssen, um ein unerwünschtes krankheitsbedingtes Ereignis zu vermeiden bzw. ein erwünschtes Ergebnis zu erzielen. Je höher der NNT, desto geringer ist der Unterschied zwischen zwei Behandlungsverfahren. Ein NNT von 5 bedeutet hier, dass 5 Menschen über den Beobachtungszeitraum behan-
975 41.3 · Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung
delt werden müssen, damit bei 1 Mensch das Ereignis (z. B. Response) ausbleibt. Number Needed To Harm (NNH). Statistisch berechnete
Anzahl der Menschen, die behandelt werden müssen, um ein unerwünschtes (behandlungsbedingtes) Ereignis zu bekommen. Je niedriger die NNH, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Schadens für den Patienten. Odds Ratio (OR). Ursprünglich epidemiologisches Maß
für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Ereignissen. Das Odds (a/b) bezeichnet das Verhältnis, wie häufig das Ereignis in einer Gruppe aufgetreten ist (a), geteilt durch die Häufigkeit des Nichtauftretens in der gleichen Gruppe (b). Die Odds von 2 Gruppen werden verglichen, indem sie in Beziehung zueinander gesetzt werden ((a/b)(c/d)). Die Odds ratio kann Werte zwischen 0 und unendlich einnehmen. Der Wert 1 bedeutet, dass es bezüglich von Ereignissen oder Therapieeffekten keine Unterschiede zwischen zwei Gruppen gibt.
Therapieempfehlungen/Leitlinien Therapieempfehlungen/Leitlinien werden auf der Basis von systematischen Reviews bzw. Metaanalysen über das empirische Wissen und einem diesbezüglichen Expertenkonsens erstellt. Sie geben Bewertungen der jeweiligen Evidenzlage empirischen Wissens auf einer Ordinalskala an. So wurden die 2001 erschienenen Demenz-Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (Höffler et al. 2001) erstmals in einer für die Psychiatrie relevanten deutschen Therapieempfehlung mit solchen Evidenzgraden versehen. Auch die revidierten Fassungen verschiedener Therapieleitlinien der DGPPN sollen in diese Richtung verändert werden, was derzeit erstmals bei der Revision der Schizophrenie-Leitlinie (Gaebel u. Falkai 1998) im Rahmen eines S3-Leitlinienverfahrens (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie 2006) umgesetzt wurde. Die Evidenzgraduierung orientiert sich u. a. daran, dass aus methodischen Gründen die Verwendung bestimmter Studiendesigns zu Ergebnissen führt, die mit höherer Wahrscheinlichkeit verlässlich sind. Dies entspricht dem Regelkanon empirischer Forschungsmethodologie (Campbell et al. 2000; Eccles et al. 2003; Möller 2007). Randomisierte Kontrollgruppenstudien haben demnach z. B. eine höhere Wertigkeit als nichtrandomisierte oder unkontrollierte Studien. Als Beispiel ist die Evidenzgraduierung der jüngsten Version der DGPPN Therapieleitlinie Schizophrenie dargestellt (⊡ Tab. 41.1). Die Graduierung der Evidenz empirischen Wissens wird in vielen Leitlinien in einem zweiten Schritt verbunden mit einer Handlungsempfehlung, die ebenfalls graduiert werden kann hinsichtlich der Stärke, mit der die Empfehlung empirisch begründet scheint. Während die Evidenzgraduierung je nach Graduierungskriterien noch
relativ nah an der empirischen Datenebene bleibt, geht die Empfehlungsgraduierung weit darüber hinaus und lässt, je nach Zusammensetzung des Gremiums regionale/nationale Behandlungstraditionen, persönliche Behandlungsstereotypien u. a. einfließen. Auf diese Weise können die Empfehlungen inhaltlich und in der Graduierung erheblich von der Evidenz der empirischen Datenebene abweichen. ! Zu betonen ist, dass Evidenzgraduierungen und insbesondere Empfehlungsgraduierungen keine trivialen Prozesse sind, in denen die empirische Datenebene gewissermaßen 1:1 umgesetzt wird, sondern Prozesse, die voller Detailprobleme stecken und die weit über die Datenebene hinausgehen (Atkins et al. 2004; Guyatt et al. 2006; Lohr 2004; Pfaff 2005). Dies gilt schon für die Evidenzgraduierung und in noch wesentlich stärkerem Maße für die Empfehlungsgraduierung. Wegen dieser Problematik der Empfehlungsgraduierung wird in einigen Leitlinien, so z. B. den jüngsten NICE Schizophrenie Guidelines auf eine Empfehlungsgraduierung verzichtet (Pilling u. Price 2006).
41.3
Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung
Die Kriteriologie für die verschiedenen Evidenzgrade, die klar formuliert scheint, steckt de facto voller Risiken der Widersprüchlichkeit und entspricht bei weitem nicht einer operationalen Definition. Dies wird deutlich, wenn man auf jeweilige Details fokussiert, was hier aus Platzgründen nicht getan werden kann. Das prinzipielle Problem besteht darin, dass es eine einheitliche, international akzeptierte Definition der Evidenz und der sich daraus ableitenden Evidenzgrade nicht gibt, und zwar obwohl der Begriff »Evidenzgrad« die Eindeutigkeit der Definition suggeriert. Allein aufgrund der Wahl der Evidenzkriterien bzw. Evidenzgrade können sich also sehr unterschiedliche Ergebnisse für die entsprechenden Sachverhalte ergeben. Eine Zufallsauswahl einiger konkreter Beispiele macht dies deutlich (⊡ Tab. 41.1– 41.4). Die EbM insgesamt und viele Leitlinien gründen die Evidenz vorzugsweise auf randomisierte kontrollierte Studien (»randomized controlled trials«, abgekürzt RCTs). Unklar ist aber, ob Ergebnisse von plazebokontrollierten Studien Vorrang gegenüber nichtplazebokontrollierten Studien haben, was angesichts des Regelkanons empirischer Forschung in der Psychopharmakotherapie, sinnvoll wäre und den Forderungskatalog von Zulassungsbehörden entsprechen würde. Auch das Kriterium der Prüfung unter Doppelblindbedingungen findet meis-
41
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41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
⊡ Tab. 41.1. Evidenzkriterien der DGPPN Behandlungsleitlinie Schizophrenie. (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie 2006) Evidenzgrad
Kriterium
Ia
Metaanalyse von mindestens 3 randomisierten kontrollierten Studien (Randomised Controlled Trials, RCTs)
Ib
Mindestens 1 RCT oder Metaanalyse von weniger als 3 RCTs
IIa
Mindestens 1 kontrollierte nichtrandomisierte Studie mit methodisch hochwertigem Design
IIb
Mindestens 1 quasi-experimentelle Studie mit methodisch hochwertigem Design
III
Mindestens 1 nicht-experimentelle deskriptive Studie (Vergleichsstudie, Korrelationsstudie, Fallserien)
IV
Berichte/Empfehlungen von Expertenkomitees, klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten
tens keine differenzierende Betrachtung (s. u.). Strittig ist insbesondere, ob die Ergebnisse wichtiger, methodisch herausragender Einzelstudien Vorrang vor den Resultaten von Metaanalysen haben (Clark u. Mucklow 1998). Die meisten Leitlinien präferieren Ergebnisse aus Metaanalysen allein oder zusammen mit Ergebnissen aus Einzelstudien. Narrative systematische Reviews scheinen in der Evidenzgraduierung der Leitlinien keine größere Rolle zu spielen, jedenfalls werden sie in den meisten Evidenzgraduierungen nicht aufgeführt, obwohl sie wichtige komplementäre Aspekte zu den Aussagen von Metaanalysen ermöglichen würden.
41.3.1
Metaanalyseresultate versus Resultate aus Einzelstudien zur Definition des höchsten Evidenzgrades
Der höchste Evidenzgrad wird in vielen Leitlinien, so auch in der jüngsten Fassung der DGPPN-Leitlinien zur Schizophreniebehandlung, über Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien definiert. Die Priorisierung von Metaanalysen ist nicht so unproblematisch, wie es zunächst scheint (Khan et al. 2004; Lieberman et al. 2005 a; Maier u. Möller 2005; Moher et al. 1999; Möller et al. 1993; Schöchlin et al. 2002). Methodische Stringenz. Grundsätzliche Voraussetzung für die Durchführung einer Metaanalyse und auch für die spätere Anwendung ihrer Ergebnisse ist die methodische Stringenz bei der Durchführung. Das gilt für die systematische Suche einzuschließender Studien, für deren methodische Beurteilung und für die vor allem klinische Beur-
teilung eventueller Heterogenität. Zu Vorsicht sollte gemahnt werden gegenüber Metaanalysen ausschließlich kleiner randomisierter kontrollierter Studien, gegenüber Metaanalysen von randomisierten klinischen Prüfungen minderer methodischer Qualität und gegenüber der unkritischen Anwendung und Übertragung der Ergebnisse von Metaanalysen (z. B. Angaben von Effektgrößen, z. B. Angaben zu »number needed to treat«) auf die Erstellung von Leitlinien. Unterschiedliche methodische Ausgangspositionen. Es
sei betont, dass die großen Zulassungsbehörden, wie die amerikanische FDA und die europäische EMEA, aus grundsätzlichen methodisch-statistischen Überlegungen zur konfirmativen Hypothesenprüfung Metaanalysen nicht als primäre Entscheidungsbasis für die Zulassung eines Arzneimittels anerkennen, sondern ihre Entscheidung auf das Ergebnis von methodisch adäquat durchgeführten Einzelstudien konfirmativen Charakters (insbesondere Phase-III-Studien, meistens plazebokontrollierte Studien) gründen. Die daraus resultierenden Konflikte sind absehbar: Eine zugelassene Substanz kann im Rahmen der evidenzbasierten Medizin im Extremfall auf metaanalytischer Basis als unwirksam klassifiziert werden, da anders als im Rahmen der Zulassung nicht nur die pivotalen Studien der Phase III bewertet werden, sondern auch andere mit unterschiedlichen Zielsetzungen, oft nicht primär zum Wirksamkeitsnachweis durchgeführte Studien einbezogen werden und vice versa. Anders ausgedrückt: Eine evidenzbasierte Medizin mit Therapieempfehlungen/-leitlinien, die metaanalytischen Ergebnisse als höchstes Evidenzkriterium bewertet, kommt ggf. zu anderen, ggf. konträren Ergebnissen als die Zulassungsbehörden, da sie einer anderen Entscheidungslogik folgt. Auch die schon jetzt erkennbaren Diskrepanzen der Bewertungsergebnisse des Instituts für Wirtschaftlichkeit und Qualitätssicherung (IQWiG) und der deutschen Zulassungsbehörde (BFArM) lassen sich zum Teil auf derartige unterschiedliche methodische Ausgangspositionen zurückführen. Wichtige Einzelstudien als Grundlage. Die Therapieleit-
linien der World Federation of Biological Psychiatry (Bandelow et al. 2003; Bauer et al. 2002 a, b; Falkai et al. 2005; Falkai et al. 2006; Grunze et al. 2002; Grunze et al. 2003; Grunze et al. 2004) beziehen sich auf ein anderes System von Evidenzgraduierung, das primär in dem »Schizophrenia Patient Outcome Research Team« (PORT)- Behandlungs-Empfehlungen verwendet wurde (Lehman u. Steinwachs 1998; ⊡ Tab. 41.2). Der entscheidende Unterschied zu den Evidenzkriterien vieler anderer Leitlinien ist, dass nicht die Ergebnisse von Metaanalysen den höchsten Evidenzgrad begründen, sondern die Resultate wichtiger und methodisch hervorragender adäquater Einzelstudien (Möller et al. 1993). Insofern ent-
977 41.3 · Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung
⊡ Tab. 41.2. Evidenzkriterien die bei der Erstellung der WFSBP Behandlungsleitlinien angewendet werden. (Bauer et al. 2002) Evidenzgrad
Kriterium
A
Evidenz aus mindestens 3 großen, positiven, randomisierten kontrollierten (doppelblinden) Studien (RCT). Darüber hinaus muss mindestens eine der 3 Studien methodisch gut konstruiert und plazebokontrolliert sein
B
Evidenz aus mindestens 2 großen, randomisierten Doppelblindstudien (entweder aus ≥2 Vergleichsstudien oder aus einer kontrollierten Vergleichsstudie und einer plazebokontrollierten Studie) oder aus einer großen randomisierten Doppelblindstudie (Plazebo- oder Vergleichssubstanz-kontrolliert) und ≥ eine prospektive, große (Stichprobengröße ≥50), offene, naturalistische Studie
C
Evidenz aus einer randomisierten Doppelblindstudie mit einer Vergleichssubstanz und einer prospektiven, offenen Studie/Fallserie (Stichprobengröße ≥10), oder mindestens zwei prospektiven, offenen Studien/ Fallserien (Stichprobengröße ≥10)
D
Expertenmeinung-basierte Evidenz aus mindestens einer prospektiven, offenen Studie/Fallserie (Stichprobengröße ≥10)
keine
Expertenmeinung über die allgemeinen Behandlungsprozeduren und -prinzipien
spricht die Evidenzkriteriologie prinzipiell dem Ansatz von Zulassungsbehörden. Auch die APA Practice Guidelines bewerten die Evidenz auf der Basis von Einzelstudien (⊡ Tab. 41.3, 41.4). Es ist von größter Wichtigkeit, zu einer international einheitlichen Evidenzgraduierung zu kommen, was allerdings angesichts der dargestellten Detailprobleme nicht leicht sein wird. Internationale Arbeitsgruppen von Methodikern wie z. B. GRADE bemühen sich um eine Vereinheitlichung der Evidenzgraduierung (Atkins et al. 2004).
⊡ Tab. 41.4. Evidenzkriterien, die in der Zeitschrift »Core Evidence« (www.coremedicalpublishing.com) angewandt werden Stufe
Erklärung
1
Starke Evidenz aus mindestens einem systematischen Review
2
Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien
3
Evidenz aus gut konstruierten Studien, ohne randomisierte, Prä-/Postinterventionen- Einzelgruppen-, Kohort-, Verlaufs- oder Fallkontrollstudien
4
Evidenz aus gut konstruierten nichtexperimentellen Beobachtungsstudien von mehr als einem Zentrum oder einer Forschungsgruppe
5
Meinungen von angesehenen Autoritäten, basierend auf klinischen Erfahrungen, deskriptive Studien und Berichten von Expertenkomitees
⊡ Tab. 41.3. Evidenzkriterien der APA-Behandlungsleitlinien. (American Psychiatric Association 2006) Evidenzgrad
Art der Studie
Erklärung des Inhaltes
[A]
Randomisierte, doppelblinde klinische Studie
Eine Studie von einer Intervention in der Probanden prospektiv beobachtet werden; es gibt Behandlungs- und Kontrollgruppen; Probanden werden den beiden Gruppen randomisiert zugewiesen; und sowohl Probanden als auch Prüfärzte sind »blind« der Zuordnung gegenüber
[A-]
Randomisierte klinische Studie
Dasselbe wie oben nur nicht doppelblind
[B]
Klinische Studie
Eine prospektive Studie, in der es eine Intervention gibt und die Ergebnisse der Intervention fortlaufend dokumentiert werden. Es entspricht nicht den Anforderungen einer randomisierten klinischen Studie
[C]
Kohort- oder Prospektivstudie
Eine Studie, in der Probanden prospektiv beobachtet werden, ohne irgendeine spezifische Intervention
[D]
Kontrollstudie
Eine Studie, in der eine Gruppe von Patienten und eine Gruppe von Kontrollprobanden in der Gegenwart identifiziert werden und Informationen über diese nachträglich oder rückwirkend eingeholt werden
[E]
Übersichtsarbeit mit sekundärer Datenanalyse
Eine strukturierte analytische Übersicht der vorliegenden Daten, z. B. eine Metaanalyse oder eine Entscheidungsanalyse
[F]
Übersichtsarbeit
Eine qualitative Übersicht und Diskussionen der bereits publizierten Literatur ohne eine quantitative Synthese der Daten
[G]
Andere
Meinungsähnliche Essays, Fallberichte und andere Berichte, die nicht oben kategorisiert sind
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Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
41.3.2
Plazebokontrollierte Studien versus Standardmedikamentkontrollierte Studien als Voraussetzung für den höchsten Evidenzgrad
In manchen Leitlinien, wie den WFSBP Guidelines, werden plazebokontrollierte Studien als Vorausbedingung für den höchsten Evidenzgrad gefordert. In anderen Leitlinien, wie z. B. APA Practice Guidelines (American Psychiatric Association 2006) genügen auch andere randomisierte kontrollierte Therapiestudien (insbesondere randomisierte Kontrollgruppenvergleiche einer neuen Substanz mit einem Standardmedikament), häufig z. B. sogar ohne dass Doppelblindbedingungen gefordert werden. Die APA Practice Guidelines differenzieren nur minimal zwischen Evidenz aus randomisierten doppelblinden Kontrollgruppenstudien, die zum Evidenzgrad [A] führen und Evidenz aus nichtverblindeten Kontrollgruppenstudien, die zum Evidenzgrad [A-] führen. Werden sowohl Studien, in denen das Medikament gegen Plazebo geprüft wurde, als auch Studien, in denen das Medikament gegen ein Standardpräparat geprüft wurde, und zwar ggf. ohne bezüglich der Verblindung/Nichtverblindung zu differenzieren, in der obersten Evidenzklasse zusammengefasst, so werden unterschiedlich valide Studientypen gleichgestellt. Das ist nicht sinnvoll, da bekannt ist, dass zumindest in mehreren psychiatrischen Indikationsgebieten, z. B. Depression, Studien ohne Plazebokontrolle aufgrund immanenter Methodenprobleme keine validen Schlüsse (interne Validität) zulassen und deshalb plazebokontrollierte Studien von den großen internationalen Zulassungsbehörden (z. B. FDA, EMEA) gefordert werden (Baldwin et al. 2003; Fritze u. Möller 2001). Andererseits ist eine zu einseitige und weitgehende Überbetonung der Relevanz plazebokontrollierter Studien nicht wünschenswert. Während sie für den Wirksamkeitsnachweis für viele Indikationsgebiete unerlässlich sind, ist die Generalisierbarkeit solcher Studienergebnisse auf klinische Routinebedingungen häufig nicht gewährleistet (Problematik der internen versus externen Validität). Es ist bekannt, dass plazebokontrollierte Studien, wie sie für die Zulassung von neuen Arzneimitteln in der Psychiatrie durchgeführt werden, das Problem haben, dass sie eine besondere Ferne zum klinischen Routinealltag haben und somit eher als Proof-of-concept-Studien verstanden werden müssen. Generell ist zu sagen, dass selbst in nichtplazebokontrollierten, randomisierten, kontrollierten Studien der Phase III in der Psychiatrie in der Regel etwa nur 10% der Patienten rekrutiert werden können, die prinzipiell für diese Studie in Betracht kämen (Bottlender et al. 1998; Carpenter 2001; Lieberman et al. 2005 b; Riedel et al. 2005). Es ist auch bekannt, dass die rekrutierten Patienten unter verschiedenen Aspekten selektiert sind (z. B. Ausschluss von Komorbidität, Ausschluss von
Patienten höherer Altersgruppen, Ausschluss von Patienten mit hoher Gefährdung), und dass sie somit nicht einmal repräsentativ für die Stichprobe im Prinzip einbeziehbarer Patienten der jeweiligen Diagnosegruppe des entsprechenden Behandlungszentrums sind, geschweige denn für die Gesamtgruppe aller Patienten der Diagnosegruppe. Die Selektionsproblematik nimmt zu, je eingreifender die Studienmethodik ist. Plazebokontrolle ist unter diesem Aspekt besonders problematisch und führt zu einem besonders hohen Ausmaß an Selektion. Man denke zum Beispiel an plazebokontrollierte Studien bei Manikern, die zur Folge haben, dass in der Regel nur Patienten mit relativ leichten manischen Symptomen einbezogen werden. Analog gilt für plazebokontrollierte Depressionsstudien, dass z. B. Patienten mit schwerster depressiver Symptomatik und/oder Suizidalität nicht eingeschlossen werden. Andere empirische Forschungsansätze. Um die Konsequenz zu vermeiden, dass die Leitlinien bei Bevorzugung von Studientypen mit zu geringer Generalisierbarkeit den Bezug zur klinischen Realität verlieren, sollten auch andere empirische Forschungsansätze stärker berücksichtigt werden. Ein Medikament, das in plazebokontrollierten Studien mit den eben dargelegten Selektionsproblemen untersucht worden ist, sollte zusätzlich in methodisch weniger restriktiven Studien, z. B. randomisierten Kontrollgruppenstudien, gegen ein Standardpräparat geprüft werden, die Ergebnisse sollten zumindest tendenziell konsistent sein. Das von der europäischen Zulassungsbehörde EMEA/CHMP nahegelegte 3-Arm-Design [Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP) 2002], das die experimentelle Substanz gegen Plazebo und gegen ein Standardpräparat vergleicht, ist aussagekräftiger, kann aber wegen der Mitführung einer Placebogruppe die dargelegte Problematik der erheblichen Selektion der Patienten nicht verhindern. Phasenmodell. Es sei daran erinnert, dass traditionell gefordert wurde, dass die klinische Evaluation eines Psychopharmakons im Sinne eines Phasenmodells auf verschiedenen methodischen Ebenen empirischer Forschung und mit Ansätzen unterschiedlicher methodischer Stringenz zu erfolgen hat. Das bedeutet, dass die Ergebnisse der methodisch resriktiven Phase-III-Prüfung durch Evidenzen aus den stärker an den Routineversorgungs-orientierten Phase-IV-Prüfungen sowohl unter Wirksamkeitsaspekten, aber ganz besonders unter Verträglichkeitsaspekten ergänzt werden müssen (Linden 2003; Schöchlin et al. 2002). Im Sinne dieses Phasenmodells der klinisch/pharmakologischen Prüfung wurden die Evidenzen jeder Prüfphase als Teil einer komplementären Gesamtevidenz gesehen (Czekalla 2006; Koller et al. 2006). Diese Sichtweise ist in den derzeit in den Leitlinien praktizierten Systemen der Evidenzbeurteilung nicht
979 41.4 · Kann die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse evidenzbasiert werden?
mehr zu erkennen, da die Evidenzgraduierung nach für die jeweilige Therapie methodisch anspruchsvollstem Designtyp vorgenommen wird (z. B. plazebokontrollierte Studien), nicht aber festgestellt wird, ob auch konsistente Ergebnisse aus weniger restriktiven Studientypen, die aber eine bessere Generalisierbarkeit haben, vorliegen. Eine für die klinische Realität relevanterer Evidenzgraduierung sollte bewerten, ob sowohl Studien mit hoher interner Validität (z. B. Kontrollgruppenstudien) als auch Studien mit hoher externer Validität (z. B. Anwendungsbeobachtungen) vorliegen und zu prinzipiell gleichlautenden Ergebnissen führen.
41.3.3
Unterschiede der Evidenzgraduierung in der Psychopharmakotherapie und der Psychotherapie
Es kann hier nicht auf grundsätzliche Probleme der Wirksamkeitsforschung in der Psychiatrie eingegangen werden (Möller 2007; Schmacke 2006), sondern nur auf Probleme, die entstehen, wenn Effektgrößen bzw. Evidenzbewertungen aus dem Bereich der Psychotherapieforschung direkt mit Effektgrößen bzw. Evidenzbewertungen aus dem Bereich der klinischen Psychopharmakologie verglichen werden (Gerson et al. 1999; Hegerl et al. 2004; Klein 2000; Wampold et al. 2002). Nachdem auch zur Darstellung der empirischen Evaluation der Psychotherapie/psychosozialen Therapie z. T. zunehmend Effektgrößen berechnet und Evidenzgraduierungen eingeführt werden, besteht prinzipiell die Möglichkeit diese mit den Evidenzkriterien aus dem Bereich der Psychopharmakotherapie zu vergleichen. Dies führt zu der Gefahr, dass Effektgrößen bzw. Evidenzgraduierungen, die auf einer unterschiedlichen Methodik der Therapieevaluation aufbauen, unsinnigerweise miteinander verglichen werden. Einer psychotherapeutischen Methode X würde der höchste Evidenzgrad für die Depressionsbehandlung zugeordnet werden, den das Antidepressivum in bestimmten Leitlinien nur auf der Basis doppelblinder randomisierter und ggf. plazebokontrollierter Studien erreichen kann. Die Evaluation der Psychotherapieverfahren wurde hingegen nicht unter Plazebo- bzw. Doppelblindbedingungen geprüft. Die unterschiedliche methodische Basis, auf der die Evidenzgraduierung in der Psychotherapie und in der Psychopharmakologie aufbauen, impliziert, dass ein solcher direkter Vergleich unmöglich ist. Besser wäre, um derartige Verwirrungen zu vermeiden, ein für alle Therapieverfahren in der Psychiatrie einheitliches Evidenzgraduierungssystem zu entwickeln, bei dem dann wegen der prinzipiellen methodischen Sonderstellung in der Evaluation psychotherapeutischer Verfahren diese per se nicht den höchsten Evidenzgrad erreichen können, da die Rea-
lisierung von Plazebokontrollen schwer und die Realisierung von Doppelblindbedingungen unmöglich ist. Dies gilt in noch weitergehender Weise für psychosoziale Verfahren, die wegen immanenter Besonderheiten meist nicht einmal den Anspruch randomisierter verblindeter Kontrollgruppenuntersuchungen gerecht werden können, sondern methodisch weniger restriktive Verfahren zur Evaluation einsetzen.
41.4
Kann die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse evidenzbasiert werden?
Die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse geht weit über das hinaus, was im eigentlichen Sinne evidenzbasiert ist. Therapieleitlinien, die sich der Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse nähern wollen, müssen deshalb zwangsläufig in weiten Bereichen den evidenzorientierten Ansatz durch einen konsensusorientierten Ansatz ersetzen.
41.4.1
Wirksamkeits-/ Verträglichkeitsaspekte beim Vergleich verschiedener Medikamente
Schon die sehr wichtige Frage der Wirksamkeit oder Verträglichkeit von zwei oder mehreren Substanzen im Vergleich, kann von der EbM viel schwerer beantwortet werden als die Beantwortung der Frage, ob eine Substanz eine ausreichende Wirksamkeit hat. Diese Frage ist viel komplexer und schwieriger zu beantworten, weil es kaum Mehr-Arm-Studien gibt, die verschiedene Substanzen direkt miteinander vergleichen, in der Regel allenfalls 3Arm-Studien nach dem Muster: neues Präparat versus Standardpräparat versus Plazebo. Deshalb sind weitergehende Schlussfolgerungen, die auch andere Substanzen einbeziehen, häufig nur indirekt auf der Basis weiterer Vergleichsstudien möglich: zum Beispiel die in einer 3Armstudie geprüfte neue Substanz X, die in der Studie mit Plazebo und mit der Standardsubstanz A verglichen wurde, wurde in einer anderen Studie mit der Standardsubstanz B verglichen. Daraus resultiert insgesamt bei einer Vielzahl von verschiedenen Studien eine ausreichend große Datenbasis, die man im Sinne direkter, aber auch indirekter Vergleiche durch metaanalytische Vergleiche strukturieren kann, um zu entsprechenden Schlussfolgerungen über die Graduierung der Wirksamkeit und Verträglichkeit der Substanzen untereinander zu kommen. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die indirekten Schlussfolgerungen mit größter Vorsicht zu interpretieren sind, da viele konfundierende Faktoren das Ergebnis der Studien beeinflussen können. Man denke
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Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
z. B. an die Selektionsproblematik, die dazu führen kann, dass bei einem neuen Neuroleptikum Wirksamkeitsvorteile bzgl. Negativsymptomatik im Vergleich zu einem traditionellen Neuroleptikum gar nicht gezeigt werden können, da der Mittelwert der Negativsymptomatik in den Studienstichproben zu klein war, um überhaupt Effekte nachweisbar zu machen.
41.4.2
Schwierigkeit der vergleichenden Nutzen-Risiko-Abwägung
Im Rahmen komplexer klinischer Entscheidungsprozesse geht es oft nicht nur um Wirksamkeitsunterschiede bzw. Unterschiede der Evidenz, mit der Wirksamkeit evaluiert wurde, sondern gleichzeitig auch um Verträglichkeitsaspekte. Das folgende Beispiel der medikamentösen Behandlung der akuten bipolaren Depression (Gijsman et al. 2004) macht deutlich, wie schwer es ist, komplexere klinisch-therapeutische Entscheidungsprozesse auf eine empirische Basis im Sinne der evidenzbasierten Medizin zu stellen. Insbesondere von Seiten der amerikanischen Psychiatrie wurde die Position vertreten, dass Patienten mit akuter bipolarer Depression wegen der Gefahr des »switches« in die Manie in der Regel nicht mit Antidepressiva behandelt werden sollten (Bottlender et al. 1998), sondern, dass stattdessen Mood-Stabilizer zur Therapie der akuten bipolaren Depression eingesetzt werden sollten. Diese Empfehlung wurde in verschiedenen Guidelines gegeben, obwohl die antidepressive Wirksamkeit von Mood-Stabilizern keinesfalls im Sinne der üblichen Anitdepressiva-Prüfungen belegt und somit nicht evidenzbasiert ist. Allein Verträglichkeitsaspekte (Switchrisiko) führten somit zu einer Empfehlung, die möglicherweise vielen Patienten eine wirksame Depressionsbehandlung mit Antidepressiva vorenthält (Eccles et al. 2003; Möller u. Grunze 2000), die bei Bevorzugung von SSRI kein erhöhtes Switch-Risiko hat (Altshuler et al. 2003; Bottlender et al. 2002; Gijsman et al. 2004; Möller et al. 2006 b). Das zeigt, dass offensichtlich Leitlinien, wenn sie sich an komplexe Therapieentscheidungsprozesse heranwagen, häufig nicht mehr genügend evidenzbasiert vorgehen und z. T. einseitige Bewertungsprozesse eine viel größere Rolle spielen als die Datenanalyse.
41.4.3
Evidenzbasierung für Therapiealgorithmen
Es gibt Versuche, kompliziertere Therapieansätze, wie sie im psychiatrischen Alltag üblich sind, z. B. Komedikationsansätze oder sequenzielle Ansätze, in eine evidenzbasierte Darstellung einzubeziehen. Die Probleme, die sich bereits hinsichtlich der Evaluation der Wirksamkeit und Verträglichkeit von einzelnen Medikamenten bei der ver-
gleichenden Bewertung ergeben, stellen sich in dem Bereich komplexerer Therapieabläufe in ganz besonderer Weise. Größtenteils gibt es nicht genügend empirische Daten, komplexere Therapieabläufe empirisch zu belegen. So ist z. B. die häufig durchgeführte Vorgehensweise, bei Unwirksamkeit eines Neuroleptikums auf ein anderes mit unterschiedlicher chemischer Struktur bzw. einem anderen Wirkschwerpunkt umzusetzen, bisher nicht ausreichend empirisch geprüft (Möller 2000). Lediglich für die Behandlung von auf klassische Neuroleptika nicht respondierenden schizophrenen Patienten mit Clozapin, scheint die diesbezügliche Studie von Kane (1988) eine gute empirische Basis zu haben, wenn auch später zur gleichen Frage durchgeführte Studien diesen Erfahrungsstandard z. T. nicht bestätigen konnten. Analoges gilt für das Umsetzen von einem Antidepressivum auf das andere mit einem anderen Wirkschwerpunkt. Auch hier ist die Datenbasis unzureichend, um daraus irgendwelche evidenzbasierten Entscheidungen gründen zu können (Hirschfeld et al. 2002; Möller 2004). Die Komplexität von Studien zu sequenziellen Therapieabläufen wird aus neueren diesbezüglichen Untersuchungen zur Therapie unipolarer Depressionen deutlich (Adli et al. 2003). Es ist fraglich, ob es je in suffizienter Weise gelingen wird, komplexe Therapiealgorithmen in methodisch stringenten Studien (z. B. randomisierten Kontrollgruppenstudien) zu belegen. Die erforderlichen Fallzahlen sind so hoch, dass allein schon die Rekrutierung nur gelingt, wenn sehr viele Studienzentren zusammenarbeiten. Selbst, wenn die Bereitschaft dazu da wäre, würden wahrscheinlich die Finanzmittel für eine so aufwendige Studie schwer aufzutreiben sein. Daraus folgt, dass vieles, was im klinischen Alltag eigentlich von viel größerer Wichtigkeit ist, als die Frage, ob dieses oder jenes (zugelassene!) Medikament in seiner Wirksamkeit besser empirisch belegt ist bzw. unter bestimmten Wirksamkeits- oder Verträglichkeitsaspekten Vorteile hat und deshalb als Medikament erster Wahl eingesetzt werden sollte, auf lange Sicht, nicht oder nur schwer im Sinne evidenzbasierter Medizin zu regeln ist. Ein Versuch, diese schwierige Problematik im Sinne evidenzbasierter Medizin zu regeln, ist eine groß angelegte Studie im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Depression/Suizidalität, in der verschiedene Therapiealgorithmen im Sinne sequenzieller medikamentöser Therapieansätze bei Depressionen in randomisierten Kontrollgruppenvergleichen überprüft werden. Dabei wird unter anderem auch die Frage geprüft, ob die vorgegebenen »starren« Algorithmen eventuell nachteilig sind im Vergleich zu einer individualisierten, die bisherige individuelle Therapievorgeschichte berücksichtigenden Vorgehensweise (Adli et al. 2003, 2006). Eine andere, noch viel umfangreichere Algorithmusstudie zur Depressionsbehandlung ist die in den USA durchgeführte STAR-D-Studie. Trotz der beeindrucken-
981 Literatur
den Stichprobengröße, die in diesem Multicenter-Projektverbund erreicht wurde, lassen die Ergebnisse wenig praktisch relevante Hinweise erkennen, u. a. weil Zeiteffekte (Fortsetzen der bisherigen Therapie statt Umsetzen) nicht kontrolliert wurden (Fava et al. 2003; Fava et al. 2006; Nierenberg et al. 2006; Rush et al. 2006; Trivedi et al. 2006 b; Trivedi et al. 2006 a).
41.4.4
Evidenzfindung in einer durch medizinische, gesundheitsökonomische und individualisierende Entscheidungsprozesse definierten klinischen Entscheidungslogik
Die oben diskutierte Evaluation von Komedikationsansätzen bzw. sequenziellen Therapieansätzen macht die Komplexität klinischer Therapieentscheidungen deutlich. Diese Komplexität ist aber im klinischen Alltag noch viel größer, da in der Regel die diesbezüglichen Therapieentscheidungen im Sinne der besonderen Gegebenheiten des einzelnen Patienten, seiner Therapievorgeschichte, seiner psychopathologischen und sonstigen Krankheitscharakteristika, seiner Disposition zu Nebenwirkungen individualisiert getroffen werden. Gesundheitsökonomische Analysen werden angesichts der Ressourcenknappheit im Gesundheitssektor eine immer größere Rolle spielen. Sie können zusätzliche Gesichtspunkte in klinische Entscheidungsprozesse hineinbringen, insbesondere, wenn in Zukunft die Ressourcenallokation im Gesundheitssystem nicht primär durch die medizinischen Ergebnisse von Therapiestudien, sondern über gesundheitsökonomische Differenzierung verschiedener Therapieverfahren durch Institutionen wie IQWiG oder NICE erfolgt (Möller et al. 2005). Je nachdem, welche inhaltlichen und methodischen Kriterien man dabei zugrunde legt, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Gegenüber Tendenzen, dabei vorrangig Kriterien wie z. B. Hospitalisierung oder auch Arbeitsunfähigkeit in den Vordergrund zu stellen, sollte ärztlicherseits insbesondere die Bedeutung der subjektiven Lebensqualität des Patienten in den Vordergrund gestellt werden.
41.5
Schlussfolgerungen
Die Forderung nach einer evidenzbasierten Therapie in der Psychiatrie ist im Rahmen der allgemeinen Forderung nach einer evidenzbasierten Medizin heute ein wichtiges Anliegen. Es sollte versucht werden, klinische, insbesondere psychopharmakotherapeutische Entscheidungsprozesse soweit wie möglich in diesem Sinne zu regeln. Dazu gehört u. a. die sorgfältige Aufbereitung der diesbezüglichen Ergebnisse von randomisierten klinischen Studien
im Rahmen von narrativen systematischen Übersichtsarbeiten und von statistischen Metaanalysen. Auf der Basis dieser Ergebnisse können unter Einbeziehung der Kompetenz klinischer Experten Leitlinien für die therapeutischen Entscheidungen im klinischen Alltag erstellt werden. Bei genauer Betrachtung dieses an sich sinnvollen Ansatzes wird deutlich, dass bisher eine Reihe damit zusammenhängender Probleme nicht ausreichend gelöst sind. Die an sich geplanten Vorteile dieses Ansatzes bergen deshalb auch Risiken in sich, die berücksichtigt werden müssen.
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Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
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41
42 42 Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung M. Philipp, G. Laux
42.1
Einleitung
42.2
Gesetzliche Grundlagen – 986
42.3
Begriffe und Definitionen
42.4
Grundsätze des prozessorientierten Qualitätsmanagements – 988
42.5
Qualitätsmanagement-Methoden
42.6
Aufbauorganisation und Dokumentation des Qualitätsmanagements – 990
42.7
– 986
42.8 42.8.1 42.8.2 42.8.3 42.8.4
– 987
Qualitätsmanagementsysteme
Umsetzungsbeispiele – 994 Qualitätsplanung – 995 Qualitätslenkung – 996 Qualitätssicherung – 996 Qualitätsverbesserung – 997
42.9
– 989
– 993
Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Algorithmen – 998 42.9.1 Evidenz-basierte Medizin (EbM) – 998 42.9.2 Leitlinien – 998 42.9.3 Algorithmen – 999 42.10 Zertifizierung Literatur
– 1000
– 1000
> > Inzwischen gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum Qualitätsmanagement zielen aus klinisch-therapeutischer Sicht auf eine Verbesserung der Versorgungsqualität psychisch Kranker. Basierend auf den Komponenten der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität lassen sich – unter Berücksichtigung immer wichtiger werdender ökonomischer Aspekte – als grundlegende Elemente Dokumentationssysteme, die Entwicklung von Leitlinien sowie der Aufbau von internen und externen Qualitätssicherungsmaßnahmen aufführen. Für Kliniken und in absehbarer Zeit auch für Praxen stellen »Benchmarking« und Zertifizierung zunehmend bedeutsame Elemente dar.
986
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
42.1
42
Einleitung
Die Sicherstellung einer möglichst hohen Qualität von Diagnostik und Therapie zum Wohle des Patienten ist ein integraler Bestandteil des ärztlichen Selbstverständnisses. Patientenorientierung und Risikomanagement, Grundpfeiler modernen Qualitätsmanagements, sind bereits im hippokratischen Eid angelegt: »Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen.« Die Obduktion ist seit Jahrhunderten die älteste Form der Qualitätssicherung ärztlicher Diagnosen. Chef- und Oberarztvisiten sowie ärztliche Konsile stellen im Krankenhausbereich seit jeher die Qualität des Therapieverlaufs sicher (Selbmann 1984). Evidenzbasierung ist immer schon die Grundlage für die Publikationsannahme medizinischer Studien. Psychiatrische Basisdokumentation sowie die Erfassung definierter Komplikationen bei einer vorgegebenen Anzahl somatischer Erkrankungen und therapeutisch-operativer Prozeduren stellen die Säulen ärztlicher Qualitätssicherung der letzten zwei Jahrzehnte dar (Masing 1999). Warum also jetzt noch einmal die Zusammenfassung all dieser berufsimmanenten Bemühungen um hohe Versorgungsqualität unter dem modernistisch erscheinenden Begriff des Qualitätsmanagements? Wozu darüber hinausgehend der gesetzliche Zwang zur Einführung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements für Krankenhäuser und Arztpraxen? Ist das alles eine lästige – und durchaus teure – Mode, wird der Medizin unter dem zunehmenden Einfluss der Ökonomie jetzt auch noch ein weiterer wesensfremder, aus dem Gewinnmaximierungsstreben der Industrie stammender Zwang auferlegt oder steckt hinter dem Konzept des Qualitätsmanagements mehr? Qualitätsmanagement ist tatsächlich mehr, als nur ein modisches Schlagwort und eine nur lästige, von der Politik aufgezwängte Pflicht. Qualitätsmanagement ist ein methodischer Ansatz, der uns in die Lage versetzen soll, die im ärztlichen Selbstverständnis begründeten Qualitätsziele durch definierte, systematische, aufeinander abgestimmte organisatorische Maßnahmen und Methoden mit höherer Wahrscheinlichkeit erreichen zu lassen, als dies im gewachsenen ärztlichen Handlungsrahmen möglich ist. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass diese systematischen organisatorischen Maßnahmen und Methoden universeller Art sind. ! Es gibt demnach kein spezifisches ärztliches Qualitätsmanagement und erst Recht kein psychiatrisches Qualitätsmanagement, sondern nur die Anwendung von Qualitätsmanagement in einer Organisation Krankenhaus oder Praxis, in welcher Ärzte den Kernprozess der medizinischen Behandlung lenken und durchführen.
Diese der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung dienenden Organisationgrundsätze letztlich aus der produzierenden Industrie übernommen zu haben, ist nicht, wie oft beklagt, Ausdruck einer immer stärker werdenden Entfremdung vom eigentlichen ärztlich-medizinischen Kerngeschäft, sondern angewandtes Qualitätsmanagement – nämlich: Lernen vom Besseren, Wissenstransfer über Branchen- und Methodengrenzen hinweg. So profitiert die Medizin von Entwicklungen, die in der Industrie mit der Einführung der Qualitätskontrolle im Rahmen der Fließbandproduktion zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der Entwicklung der statistischen Qualitätssicherung der Vorkriegsphase, bis hin zum prozessorientierten, auf dem auf der Mitwirkung aller Beteiligten beruhenden Total Quality Management der Gegenwart annähernd 100 Jahre gebraucht hat und nun in verdichteter Form das Gesundheitswesen zu bereichern vermag.
42.2
Gesetzliche Grundlagen
Die gesetzlichen Grundlagen für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Krankenhaus und in der Arztpraxis sind im Sozialgesetzbuch V, Abschnitt 9 »Sicherung der Qualität der Leistungserbringung«, §§ 135 bis 139 festgelegt. § 135a formuliert die allgemeine Verpflichtung zur Qualität, zur Beteiligung an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung sowie zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement (s. nachfolgende Übersicht). Die Aufgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Festlegung der Richlinien für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement werden in § 136a für die vertragsärztliche Praxis und in § 137 für die zugelassenen Krankenhäuser festgeschrieben. § 137f schreibt die Einführung strukturierter Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten vor, § 139a die Gründung eines Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Die Koordinierung der Leitlinienentwicklung und die Einführung evidenzbasierter Medizin werden maßgeblich vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) vorangetrieben. Für die vertragsärztliche ambulante Versorgung sind zusätzlich die aus § 75 Abs. 7 SGBV resultierenden Qualitätssicherungsrichtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV-Richtlinien) maßgeblich, in denen u. a. die Verpflichtung zur Einrichtung von Qualitätszirkeln festgeschrieben ist. Für den Krankenhausbereich hat sich die seit dem Jahre 2000 festgeschriebene Androhung von Vergütungsabschlägen für den Fall des Nichteinhaltens der Verpflichtung von Qualitätssicherung als besonders stimulierend erwiesen. In Zukunft wird des Weiteren die im Jahre 2003 eingeführte Zielsetzung des verpflichtend zu veröffentlichenden Qualitätsberichts zu beachten sein, der die KVen und die Krankenkassen in die Lage versetzt, ihre Versi-
987 42.3 · Begriffe und Definitionen
cherten vergleichend über die Qualitätsmerkmale der Krankenhäuser zu informieren und Empfehlungen auszusprechen.
§ 135a SGB V: Verpflichtung zur Qualitätssicherung (1) Die Leistungserbringer sind zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen erbrachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden. (2) Vertragsärzte, medizinische Versorgungszentren, zugelassene Krankenhäuser, Erbringer von Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen und Einrichtungen, mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111a besteht, sind nach Maßgabe der §§ 136a, 136b, 137 und 137d verpflichtet, 1. sich an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen, die insbesondere zum Ziel haben, die Ergebnisqualität zu verbessern und 2. einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln.
42.3
planung«, »Qualitätslenkung«, »Qualitätssicherung« und »Qualitätsverbesserung« unterteilt wird; »Qualitätssicherung« erscheint jetzt also nur noch als einer dieser Unterbegriffe (⊡ Tab. 42.1). Von zentraler Bedeutung für das Qualitätsmanagement in der Medizin ist die Einteilung der verschiedenen Qualitätsaspekte nach Donabedian in Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität (⊡ Tab. 42.2): Es müssen finanzielle, personelle, gebäudliche, technologische und informationelle Strukturen in Form von Klinik bzw. Praxis vorgehalten werden, die geeignet sind, solche Prozesse von Diagnostik und Therapie ablaufen zu lassen, die – dem aktu-
⊡ Tab. 42.1. Definitionen und Begriffe des Qualitätsmanagements (Quelle: ISO 9000) Begriff
Definition
Qualitätsmanagement
Aufeinander abgestimmte Tätigkeiten zum Leiten und Lenken einer Organisation bezüglich Qualität
Qualitätsplanung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf das Festlegen der Qualitätsziele und der notwendigen Ausführungsprozesse sowie der zugehörigen Ressourcen zur Erfüllung der Qualitätsziele gerichtet ist
Qualitätslenkung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf die Erfüllung von Qualitätsanforderungen gerichtet ist
Qualitätssicherung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf das Erzeugen von Vertrauen darauf gerichtet ist, dass Qualitätsanforderungen erfüllt werden
Qualitätsverbesserung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf die Erhöhung der Fähigkeit zur Erfüllung der Qualitätsanforderungen gerichtet ist
Begriffe und Definitionen
Zentrale Begriffe des Qualitätmanagements sind in der Norm DIN EN ISO 9000:2000 (im Folgenden »ISO 9000« abgekürzt) branchenübergreifend und international einheitlich festgelegt. Nationale und branchenspezifische Anpassungen der Begriffsdefinitionen finden sich in vielfältigen, zumeist auch internetbasierten Glossaren, unter anderem im »Glossar Qualitätssicherung« der Bundesärztekammer (http://www.bundesaerztekammer.de/30/ Qualitaetssicherung/78Glossar.html). Im Folgenden wird primär auf die Definition der ISO 9000 Bezug genommen. Da die branchenübergreifende Sprache der ISO für den Ungeübten zunächst oft spröde und irritierend wirkt, wird überall dort, wo es sinnvoll erscheint, zusätzlich die Erläuterung der Bundesärztekammer dargestellt. Die im Folgenden aufgeführten zentralen Begriffsdefinitionen sind der Norm DIN EN ISO 9000:2000 entnommen; die Bundesärztekammer verwendet diese Begriffe in ihrem »Glossar Qualitätssicherung« in identischer Form. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich in den 1990er Jahren international ein Begriffswandel vollzogen hat: während früher die Bezeichnung »Qualitätssicherung« als Oberbegriff über alle Aspekte des Qualitätswesens verwendet wurde, hat nunmehr die Bezeichnung »Qualitätsmanagement« diese Funktion eines Oberbegriffs inne, der seinerseits in die Unterbegriffe »Qualitäts-
⊡ Tab. 42.2. Qualitätsaspekte nach Donabedian (Quelle: Bundesärztekammer 2006) Begriff
Definition
Strukturqualität
Die Rahmenbedingungen, das Umfeld für die medizinische Versorgung, personelle und materielle Ressourcen, organisatorische und finanzielle Gegebenheiten einschl. der Zugangsmöglichkeiten für die Patienten
Prozessqualität
Alle medizinischen/pflegerischen/therapeutischen Tätigkeiten, die zwischen Anbietern und Verbrauchern von Gesundheitsleistungen ablaufen
Ergebnisqualität
Die dem medizinischen/pflegerischen/therapeutischen Handeln zuschreibbaren Veränderungen des Gesundheitszustandes der Patienten einschl. der von diesem Veränderungen ausgehenden Wirkungen
42
988
42
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
ellen Stand der Wissenschaft entsprechend – in der Lage sind, die gewünschten medizinischen Ergebnisse zu erzielen. Kernziel jedes Qualitätsmanagements ist die kontinuierliche Sicherung und Verbesserung der Qualität. Grunderkenntnis ist es, dass dies nur in einem systematischen und fortwährenden Durchlaufen eines Regelkreises erreicht werden kann. In Anlehnung an den Regelkreis hat hierfür Deming die systematisch abzuarbeitenden Schritte als PDCA-Zyklus dargestellt (⊡ Abb. 42.1): Der Planung (P = »plan«) des zu erreichenden Qualitätszieles folgt die Durchführung (D = »do«) dieser Planung; ihr folgt die Überprüfung der Zielerreichung (C = »check«) und aus dem Soll-Ist-Vergleich die Verbesserungsmaßnahme (A = »act«). Für die Planung und Durchführung der zentralen diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen sind dokumentierte Vorgaben maßgeblich, die den Charakter einer der folgenden Begriffe haben können (Bundesärztekammer):
Standards/Normen. Es sind normative Vorgaben qualitativer und/oder quantitativer Art bezüglich der Erfüllung vorausgesetzter oder festgelegter Qualitätsforderungen. Allgemein werden Begriffe wie Maßstab, Norm, Richtschnur, Leistungs- und Qualitätsniveau hierunter verstanden. Die Wertigkeit und damit die Verbindlichkeit eines Standards entsprechen dem einer Richtlinie. Beispiel: Pflegestandard Dekubitusprophylaxe.
Leitlinien. Sie sind systematisch entwickelte Entschei-
42.4
dungshilfen über die angemessene Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. Leitlinien erlauben, von ihnen abzuweichen, ihre Anwendung verpflichtet aber dazu, Abweichungen zu begründen und dies auch zu dokumentieren. Beispiel: S3-Behandlungsleitlinie Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (2006). Richtlinien. Dies sind von einer rechtlich legitimierten
Institution konsentierte, schriftlich fixierte und veröffentlichte Regelungen des Handelns oder Unterlassens, die für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht. Beispiel: Krankenhaushygienerichtlinien des Robert Koch-Instituts.
Qualitätsindikator. Quantitatives Maß, welches zum Mo-
nitoring und zur Bewertung der Qualität wichtiger Leitungs-, Management-, klinischer und unterstützender Funktionen genutzt werden kann, die sich auf das Behandlungsergebnis beim Patienten auswirken. Ein Indikator ist kein direktes Maß der Qualität. Es ist mehr ein Werkzeug, das zur Leistungsbewertung benutzt werden kann, das Aufmerksamkeit auf potenzielle Problembereiche lenken kann, die einer intensiven Überprüfung innerhalb einer Organisation bedürfen könnten.
Grundsätze des prozessorientierten Qualitätsmanagements
Als Qualitätsmanagementsystem kann sich ein Managementsystem dann bezeichnen, wenn es die folgenden von der ISO 9000 beschriebenen 8 Grundsätze des Qualitätsmanagements beinhaltet, die unter den Schlagworten Kundenorientierung, Führung, Einbeziehung der Personen, prozessorientierter Ansatz, systemorientierter Managementansatz, ständige Verbesserung, sachbezogener Ansatz zur Entscheidungsfindung sowie Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen zusammengefasst und in ⊡ Tab. 42.3 erläutert werden. Die Prozessorientierung, d. h. Orientierung am Behandlungsauftrag des Patienten (in der QM-Sprache der zentrale »Kunde« des Arztes bzw. Krankenhauses) und an
⊡ Abb. 42.1. PDCA-Zyklus nach Deming (1986)
P
A
D
C
42
989 42.5 · Qualitätsmanagement-Methoden
⊡ Tab. 42.3. Acht Grundsätze des Qualitätsmanagements (ISO 9000) Grundsatz
Erläuterung
a) Kundenorientierung
Organisationen hängen von ihren Kunden ab und sollten daher gegenwärtige und zukünftige Erfordernisse der Kunden verstehen, deren Anforderungen erfüllen und danach streben, deren Erwartungen zu übertreffen
b) Führung
Führungskräfte schaffen die Übereinstimmung von Zweck und Ausrichtung der Organisation. Sie sollten das interne Umfeld schaffen und erhalten, in dem sich Personen voll und ganz für die Erreichung der Ziele der Organisation einsetzen können
c) Einbeziehung der Personen
Auf allen Ebenen machen Personen das Wesen einer Organisation aus, und ihre vollständige Einbeziehung ermöglicht, ihre Fähigkeiten zum Nutzen der Organisation einzusetzen
d) Prozessorientierter Ansatz
Ein erwünschtes Ergebnis lässt sich effizienter erreichen, wenn Tätigkeiten und dazugehörige Ressourcen als Prozess geleitet und gelenkt werden
e) Systemorientierter Managementansatz
Erkennen, Verstehen, Leiten und Lenken von miteinander in Wechselbeziehung stehenden Prozessen als System tragen zur Wirksamkeit und Effizienz der Organisation beim Erreichen ihrer Ziele bei
f ) Ständige Verbesserung
Die ständige Verbesserung der Gesamtleistung der Organisation stellt ein permanentes Ziel der Organisation dar
g) Sachbezogener Ansatz zur Entscheidungsfindung
Wirksame Entscheidungen beruhen auf der Analyse von Daten und Informationen
h) Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen
Eine Organisation und ihre Lieferanten sind voneinander abhängig. Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen erhöhen die Wertschöpfungsfähigkeit beider Seiten
der Zufriedenstellung seiner Anforderungen, bildet sich im Prozessmodell der ISO 9001 ab (⊡ Abb. 42.2): Aufgrund der Patienten (= Kunden)-Anforderung entwickelt die oberste Leitung (Praxisinhaber, Krankenhausleitung und Chefarzt) das auf die Erfüllung der Patientenanforderungen ausgerichtete medizinische Leistungskonzept, stellt die für die Leistungserbringung notwendigen personellen, technologischen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung, legt die diagnostischen und therapeutischen Leistungsprozesse fest und lässt diese durchführen und misst kontinuierlich den Zielerreichungsgrad und die Zu-
friedenheit der Patienten (und anderer an der Behandlungsleistung Interessierter) mit dem Ziel der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung.
42.5
QualitätsmanagementMethoden
Für die praktische Umsetzung von Qualitätsmanagement bedarf es der Verfügbarkeit und Anwendung handwerklicher Methoden des Qualitätsmanaments, die hier nur
⊡ Abb. 42.2. Modell der ISO 9001
ständige Verbesserung des Qualitätsmanagementsystems
K U N D E N
Z U F R I E D E N H E I T
Produkt
Z U F R I E D E N H E I T
K U N D E N
990
42
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
dem Namen nach erwähnt werden können; zur Vertiefung sei auf Standardlehrbücher des QM verwiesen (Kamiske u. Brauer 2003; Masing 1999). Für die Problemerkennung und Problemanalyse finden Methoden Anwendung, die traditionell unter der Bezeichnung »die 7 Werkzeuge des Qualitätsmanagements« zusammengefasst werden (⊡ Abb. 42.3). Für die Fehlererfassung sind dies: Datensammelblatt, Histogramm und Qualitätsregelkarte (letzteres in der Medizin als »Fieberkurve« immer schon im Einsatz); für die Fehlanalyse: Paretodiagramm, Korrelationsdiagramm, Ursachen-Wirkungs-Diagramm (auch Fischgräten-Diagramm oder nach seinem Erfinder Ischikawa-Diagramm genannt) und das Flussdiagramm. Für die Umsetzung von Anforderungen im Rahmen der Entwicklung von neuen Produkten bzw. Dienstleistungen hat sich im QM die Methode des Quality Function Deployment (QFD) etabliert (⊡ Abb. 42.4). Die Anforderungen an die Ergebnisse eines diagnostisch-therapeutischen Leistungs- oder Unterstützungsprozesses werden systematisch erfasst (Lastenheft) und in technische Prozessmerkmale (Pflichtenheft) umgesetzt. Für die systematische Planung von Fehlerverhütung hat die ursprünglich in der Apollo-Raumfahrt entwickelte Methode der Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse (FMEA) einen festen Platz in der »Werkzeugkiste« des QM inne (⊡ Abb. 42.5). Für einen ausgewählten Teilprozess (Beispiel: Überwachung akut suizidaler Patienten) wird eine erschöpfende Liste möglicher Fehler, Fehlerfol-
⊡ Abb. 42.3. Die 7 Werkzeuge des Qualitätsmanagements
gen und Fehlerursachen erarbeitet. Für jeden denkbaren Fehler werden die Fehlerfolgen nach Bedeutung gewichtet (0 bis 10), die Fehlerursachen nach Auftretenswahrscheinlichkeit der Fehlerursache geschätzt (0 bis 10) und die Fehlerentdeckungswahrscheinlichkeit (0 bis 10) ermittelt; aus allen drei Parametern wird eine Risikoprioritätenziffer errechnet durch Multiplikation der Einzelgewichte (0 bis 10 × 10 × 10), wodurch eine Priorisierung der besonders risikoträchtigen Fehlermöglichkeiten möglich wird und für jene 20% Fehlerursachen vordringliche Feh lerverhütungsmaßnahmen erarbeitet werden, die erfahrungsgemäß 80% der Risiken bewirken (ParetoPrinzip).
42.6
Aufbauorganisation und Dokumentation des Qualitätsmanagements
Die Einführung, Aufrechterhaltung und kontinuierliche Verbesserung eines Qualitätsmanagementsystems bedarf bestimmter Strukturen der Aufbauorganisation und definierter Dokumentationen der geplanten und durchgeführten Abläufe. In der Aufbauorganisation haben sich folgende Strukturelemente bewährt: Qualitätsmanagementbeauftragter, Qualitätslenkungsgruppe, Qualitätskonferenz, Qualitätszirkel, Qualitätsverbesserungsprojekte (⊡ Tab. 42.4).
991 42.6 · Aufbauorganisation und Dokumentation des Qualitätsmanagements
⊡ Abb. 42.4. Quality Function Deployment (nach Eichhorn)
42
992
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
42
⊡ Abb. 42.5. Fehlermöglichkeit und Einflussanalyse (FMEA)
⊡ Tab. 42.4. Aufbauorganisation des Qualitätsmanagements Strukturelement
Definition
Qualitätsmanagementbeauftragter (QMB)
Beauftragter der obersten Leitung mit der festgelegten Befugnis und Verantwortung dafür, dass ein Qualitätsmanagementsystem festgelegt, verwirklicht und aufrechterhalten wird, alle QM-Maßnahmen konsequent umgesetzt werden und deren Wirksamkeit kontinuierlich überprüft und dargestellt wird
Qualitätslenkungsgruppe
Üblicherweise die oberste Leitung (Geschäftsführung/Krankenhausleitung bzw. Praxisinhaber) plus QMB, die die Durchführung von Planung, Lenkung, Sicherung und Verbesserung aller qualitätsbezogenen Aspekte von Klinik bzw. Praxis steuern
Qualitätsbeauftragte
Beauftragte einzelner Bereiche (z. B. Stationen, Funktionseinheiten, Berufsgruppen), die in ihrem Bereich für die Pflege des QM-Systems Verantwortung tragen und die Bereichsleitung methodisch unterstützen
Qualitätskonferenz
Nur in größeren Organisationen (Krankenhaus) üblich und sinnvoll: Summe aller Qualitätsbeauftragten der Organisation, die die oberste Leitung bzw. den QM in der Lenkung des QM-Systems beraten und die qualitätsbezogene Kommunikation der Leitung mit der ausführenden Ebene fördern
Qualitätszirkel
Kleine institutionalisierte Gruppe von 5–12 Mitarbeitern, die regelmäßig zusammentreffen, um in Ihrem Arbeitsbereich auftretende Probleme freiwillig und selbständig zu bearbeiten
Qualitätsverbesserungsprojekte
Von der obersten Leitung oder einzelnen Bereichs- bzw. Funktionsleitungen eingesetzte, in der Regel multiprofessionell besetzte Gruppe mit definiertem Arbeitsauftrag und festgelegten zeitlichen und finanziellen Ressourcen zur von einer Projektleitung moderierten Erarbeitung eines Verbesserungsprojekts
Prozessverantwortliche
Von den Prozesseigentümern (i. d. Regel den Linienendverantwortlichen) eingesetzte, im jeweiligen Prozess arbeitende Mitarbeiter, die die Qualität des Prozessablaufs überwachen, Anstöße zur kontinuierlichen Verbesserung geben und Ansprechpartner bei Schnittstellenproblemen sind
993 42.7 · Qualitätsmanagementsysteme
⊡ Tab. 42.5. Dokumentation des Qualitätsmanagements Strukturelement
Definition
Qualitätsmanagementhandbuch
BÄK (Bundesärztekammer): Beauftragter der obersten Leitung mit der festgelegten Befugnis und Verantwortung dafür, dass ein Qualitätsmanagementsystem festgelegt, verwirklicht und aufrechterhalten wird, alle QM-Maßnahmen konsequent umgesetzt werden und deren Wirksamkeit kontinuierlich überprüft und dargestellt wird
Qualitätspolitik
BÄK: Übergeordnete Absichten und Ausrichtung einer Organisation zur Qualität, wie sie von der obersten Leitung formell ausgedrückt wurden. Generell steht die Qualitätspolitik mit der übergeordneten Politik der Organisation im Einklang und bildet den Rahmen für die Festlegung von Qualitätszielen
Prozesslandschaft
Aufgliederung der Organisationsprozesse in Kernprozesse (i. d. R. Patientenbehandlung ), Führungsprozesse (z. B. Führung, Zielentwicklung) und Unterstützungsprozesse (z. B. Personalmanagement, Materialwirtschaft, Finanzwesen, Haustechnik, Medizinprodukte, Essensversorgung, Labor, Apotheke) sowie Darstellung der wesentlichen Schnittstellen zwischen den Prozessen
Qualitätsziele
Von der obersten Leitung für die Gesamtorganisation bzw. von den Bereichsleitungen für die Bereiche (z. B. einzelne Abteilungen, Stationen, Funktionsgruppen) festgelegte, auf die Qualität bezogene strategische Ziele und ihre operative Umsetzung in Maßnahmen. Wichtig ist die Messbarkeit von Zielen
Prozessbeschreibungen
Beschreibung und verpflichtende Festlegung von Prozessen (z. B. Aufnahmeprozess, Diagnostikprozess, Behandlungsprozess, Entlassungsprozess, Prozess der Essensversorgung, Prozess der innerbetrieblichen Fortbildung)
Verfahrensanweisungen
Festlegung des Ablaufs eines Prozesses bzgl. »wer macht was wann wo«
Arbeitsanweisungen
Festlegung des Ablaufs eines einzelnen Prozessschritts bzgl. »wie wird es gemacht« (z. B. welche Labordiagnostik bei einer definierten Erkrankung, welche Daten werden in der administrativen Aufnahme eingegeben, welche Leistungen werden dokumentiert)
Qualitätsaufzeichnungen
Dokumentation aller qualitätsrelevanten Prozesse (z. B. Krankengeschichte, Kurvenführung, Verlaufsdokumentation, Audits, Managementbewertung)
In der Dokumentation des Qualitätsmanagements sind die unverzichtbaren Inhalte: Qualitätsmanagementhandbuch, Qualitätspolitik, Qualitätsziele, Prozesslandschaft, Prozessbeschreibungen, Verfahrensanweisungen, Arbeitsanweisungen und Qualitätsaufzeichnungen (⊡ Tab. 42.5). Interne Qualitätssicherung. Sie findet in Form von Pro-
zess- und Ergebnismessungen statt (etwa der psychiatrischen Basisdokumentation BADO oder dem Monitoring von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Komplikationen wie Suiziden, Entweichungen, Stürzen, fremdaggressiven Übergriffen u. a. m), die im Idealfall anhand von internem und externem Benchmarking (also dem Vergleich mit anderen und dem Lernen vom Klassenbesten) die Qualität der internen Behandlungs- und Unterstützungsprozesse sichert und kontinuierlich verbessert. Externe Qualitätssicherung. Sie findet als vertrauensbildende Darlegung der Qualitätsfähigkeit interessierten Dritten gegenüber (Patienten, Zuweisern, Kostenträgern, Öffentlichkeit) in Form von Zertifizierungen des Qualitätsmanagementsystems durch unabhängige Auditierung (ISO 9001) bzw. Visitation (KTQ) statt ( Kap. 42.10). Eine gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung an externen Krankenhausvergleichen über die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) betrifft bislang nur definierte
Tracerdiagnosen und Prozeduren operativer Bereiche, (noch) nicht jedoch die Psychiatrie.
42.7
Qualitätsmanagementsysteme
Die ISO 9000 definiert ein Qualitätsmanagementsystem (QM-S) als ein »Managementsystem zum Leiten und Lenken einer Organisation bezüglich der Qualität«. Zum Aufbau eines eigenen einrichtungsinternen Qualitätsmanagements können 2 eingeführte Modelle als Referenz herangezogen werden: 1. das internationale Modell der DIN EN ISO 9001:2000 (im Folgenden ISO 9001 abgekürzt) und 2. zum anderen das europäische Modell der EFQM (European Foundation for Quality Management 1999). Abzugrenzen von diesen QM-Systemen sind die krankenhaus- bzw. praxisspezifischen Zertifzierungssysteme KTQ und QEP ( Kap. 42.10). Beides sind keine Qualitätsmanagementsysteme sondern setzen vielmehr die Einführung eines QM-Systems voraus. Die Ähnlichkeiten im Modell-Aufbau von ISO 9001 und EFQM lassen sich im Vergleich von ⊡ Abb. 42.2 (ISO 9001) und ⊡ Abb. 42.6 (EFQM) verdeutlichen: Beide Modelle sind prozessorientiert, beide bilden grundsätzlich den PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act) ab: Die Planung (»plan« = Qualitätsplanung) ist in der ISO 9001 in
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Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
⊡ Abb. 42.6. Modell der EFQM
Befähiger (50%)
Ergebnisse (50%)
42
Innovation und Lernen
den Bereichen »Verantwortung der Leitung« sowie im »Management der Ressourcen« verankert, im EFQMModell analog hierzu in den Bereichen »Führung«, »Politik und Strategie«, »Mitarbeiter« sowie »Partnerschaften und Ressourcen«. Die Durchführung (»do« = Qualitätslenkung) wird im ISO 9001-Modell vom Abschnitt »Produktrealisierung« angesprochen (wobei der Produktbegriff immer auch die Dienstleistung, in unserem Falle also die medizinische Behandlung, mit einschließt); in der EFQM wird dieser Bereich mit der Bezeichnung »Prozesse« belegt. Das Messen (»check« = Qualitätssicherung) findet im ISO 9001-Modell in den Bezeichnungen »Messung, Analyse« seinen Niederschlag, im EFQM-Modell in den Bereichen mitarbeiterbezogener, kundenbezogener, gesellschaftsbezogener und zentraler Ergebnisse. Das Anpassen (»act« = Qualitätsverbesserung) geht im ISO 9001Modell unmittelbar aus Messung und Analyse hervor und wird regelkreiskreisförmig als ständige Verbesserung des Qualitätsmanagementsystems auf die Qualitätsplanung der Leitung zurückgeführt, im EFQM-Modell wird dieser Regelkreis mit den Begriffen »Innovation und Lernen« geschlossen. Trotz der genannten Analogien im Modellaufbau bestehen aber grundlegende Unterschiede zwischen ISO 9001 und EFQM bezüglich Zielsetzung, Anspruchsniveau, Zertifzierbarkeit und Quantifizierbarkeit (⊡ Tab. 42.6). Zertifzierbar ist z. B. nur das »Mindestqualitäts«-Modell der ISO 9001, quantifizierbar dagegen nur das »Exzellenz«-Modell der EFQM. Quantifizierbar heißt: Sowohl über eine Selbstbewertung als auch über eine Fremdbewertung durch sog. Assessoren kann der Erreichungs- und Durchdringungsgrad für jedes der 9 Systemelemente des EFQM-Modells anhand eines umfangreichen Katalogs an Bewertungsfragen detailliert zahlenmäßig auf einer Summenskala von zwischen 0 und 1000 eingeschätzt werden. Exzellente Organisationen, die in die Auswahl um den European Quality Award kommen,
⊡ Tab. 42.6. Unterschiede zwischen den QM-System-Modellen ISO 9001 und EFQM Merkmal
ISO 9001
EFQM
Zertifizierbarkeit
Ja
Nein
Anspruchsniveau
Mindestqualität
Exzellenz
Quantifizierbarkeit
Nein
Ja (Punktwert zwischen 0 und 1000)
Preisbewertung
Nein
Ja (European Quality Award, LudwigErhard-Preis)
erreichen einen Punktwert von über 600; Organisationen mit einem noch geringen Reifegrad des Qualitätsmanagementsystems werden nur mit Mühe die 100-Punkte-Marke überspringen. Krankenhäusern und Arztpraxen mit einem bereits gut eingeführten QM-System werden in die Größenordnung von 300–400 Punkten kommen; Preisträger hat es aus dem Bereich des Gesundheitswesens bislang noch nicht gegeben.
42.8
Umsetzungsbeispiele
Die bisherigen Ausführungen waren theoretischer Natur. Sie sollen jetzt durch praktische Beispiele aus der Anwendung in der psychiatrischen Klinik und Praxis vertieft werden. Beispiele sollen insbesondere für die 4 zentralen Bestandteile des Qualitätsmanagements gegeben werden; für die 1. Planung, 2. Lenkung, 3. Sicherung und 4. Verbesserung der Qualität.
995 42.8 · Umsetzungsbeispiele
42.8.1
Qualitätsplanung
⊡ Tab. 42.7. RUMBA-Regel für die Definition von Qualitätszielen
Die Qualitätsplanung gehört in die zentrale, nicht delegierbare Verantwortung der obersten Leitung. Der Versorgungsauftrag des Krankenhauses bzw. der psychiatrischen Arztpraxis ist in der Regel durch den Zulassungsvertrag festgelegt. Mit der Formulierung der Qualitätspolitik legt die oberste Leitung den Rahmen fest, aus dem sie ihre Qualitätsziele ableitet. Dieser Rahmen beinhaltet Auftrag, Werte und Vision der Organisation. Die Formulierung der Vision stellt eine in der Regel auf mindestens 5 Jahre angelegte Vorausschau dar, die 2 Aspekte beinhalten: zum einen die auf der Kenntnis von Stärken und Schwächen beruhende Willensbildung, wohin sich die Klinik bzw. die Praxis in den nächsten Jahren entwickeln soll und zum anderen die Prognose, in welche Richtung sich die politischen, gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entwickeln werden. Aus diesem Spannungsfeld entwickelt die Krankenhausleitung bzw. der Praxisinhaber strategische Langfristziele, deren operative Umsetzung es gilt, mit den Mitarbeitern der Praxis bzw. der mittleren Führungsebene der Klinik abzustimmen und zu vereinbaren. Qualitätsziele und Unternehmensziele sind auf dieser strategischen Ebene inhaltlich kaum zu trennen. Auftrag, Werte und Vision werden sinnvollerweise plakativ in ein aus 5–10 Sätzen bestehendes Leitbild gefasst, welches Mitarbeitern, Patienten und interessierten Parteien wie Einweisern, Kostenträgern und der Öffentlichkeit als Orientierung dient und als solche in Form von Postern in der Klinik bzw. Praxis wie auch auf der Internet-Homepage öffentlich gemacht wird.
Regel
Erläuterung
Relevant
Das festzulegende Ziel soll für den Bereich von Bedeutung sein
Understandable
Die Formulierung des Ziels soll für die Mitarbeiter verständlich sein
Measurable
Das Ziel muss messbar sein, es sollten Zielwerte festgelegt und gemessen werden
Behaviorable
Die Zielgröße muss durch das Verhalten der Mitarbeiter beeinflussbar sein
Achievable
Der geplante Zielwert sollte erreichbar sein
chen werden auf der unmittelbar daruntergelegenen Prozessebene auf die einzelnen Behandlungs- und Unterstützungsprozesse bezogene Ziele definiert, die geeignet sind, das Erreichen der Ziele aus Patientensicht zu fördern; Zweite Ebene: Um die Behandlungs- und Unterstützungsprozesse erfolgreich ablaufen zu lassen, bedarf es kompetenter und motivierter Mitarbeiter sowie technologischer Innovationen; Dritte Ebene: Mitarbeiterentwicklung und technologische Innovationen werden entsprechend auf der dritten Zielebene beschrieben; Vierte Ebene: Ohne die notwendigen finanziellen Ressourcen können die patientenbezogenen Ziele des Krankenhauses bzw. der Arztpraxis nicht erreicht werden. Da die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, gilt es, die Prozesse der Leistungserbringung so effizient (wirtschaftlich) wie möglich zu gestalten. Finanzielle Effizienzziele konstituieren die vierte Zielebene.
RUMBA-Regel. Die Umsetzung strategischer Ziele in ope-
rative Maßnahmen des Folgejahres bezieht insbesondere in funktionell und nach Bereichen gegliederten Organisationen wie einem Krankenhaus die Ableitung von Abteilungs-, Stations- bzw. Funktionsbereichszielen ein. Bei der Formulierung von Zielen ist darauf zu achten, dass sie relevant, verständlich, messbar, durch Verhalten beeinflussbar und erreichbar sind (sog. RUMBA-Regel, ⊡ Tab. 42.7). Balanced Scorecard (BSC). Ein anspruchsvolles Instru-
ment zur Ableitung und Systematisierung strategischer Ziele ist die Balanced Scorecard (BSC; Kaplan u. Norton 1996). Hier werden auf 4 untereinander gestaffelten Zielebenen (»Perspektiven« genannt) Ziele entwickelt, die sich gegenseitig vorantreiben: Oberste Ebene: Im Bereich des nichtprofitorientierten Gesundheitswesens steht an oberster Ebene die Zielebene aus Patientensicht (also gute Behandlungsergebnisse und zufriedene Patienten). Um dies zu errei-
In profitorientierten Organisationen rückt diese finanzielle Zielebene allerdings an die höchste Position: Mitarbeiterentwicklung und Innovationen, Prozessoptimierung und Ergebnisqualität dienen auch dem Ziel, eine möglichst hohe Kapitalrendite zu erzielen. Zweiter Aufgabenbereich der obersten Leitung ist die formale Festlegung der für die Erfüllung des Auftrags notwendigen Prozesse (Hauptprozess, i. d. R. Diagnostik und Therapie; Führungsprozesse, s. o, Unterstützungsprozesse). Der dritte Aufgabenbereich der obersten Leitung ist das Management der Ressourcen. Die Krankenhausleitung bzw. der Praxisinhaber muss die für die Aufgabenerfüllung und die Zielerreichung notwendigen Ressourcen bereitstellen und lenken. Von zentraler Bedeutung sind dabei die personellen Ressourcen: es muss der Personalbedarf nach Quantität und Qualifikation ermittelt, das notwendige Personal rekrutiert, allokiert und eingearbeitet werden, die Mitarbeiter müssen den Werten der
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Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
Organisation entsprechend kooperativ und zielorientiert geführt werden, das Personal muss seinen Aufgaben wie auch ihren persönlichen Interessen entsprechend entwickelt werden, d. h. die bestehende Qualifikation muss aufrechterhalten, zusätzlich benötigte Qualifikationen müssen durch innerbetriebliche und externe Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen (u. a. Facharztweiterbildung!) vermittelt werden. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen muss evaluiert werden. Die Arbeitsumgebung muss dem Arbeitsauftrag entsprechend gestaltet werden (Ausstattung mit Betriebsmitteln wie Arbeitsplatzrechner mit Intranet- und Internetzugang, Einhaltung gesetzlicher und behördlicher Arbeitsschutz- und Arbeitszeitvorgaben). Schließlich müssen die gebäudliche und apparative Infrastruktur und die Kooperationen gemanagt werden (u. a. Konsilwesen, Einkauf fremder diagnostischer Leistungen). Im psychiatrischen Kernbereich der diagnostischen und therapeutischen Leistungserbringung stützt sich die Qualitätsplanung vor allem auf die vorliegenden operationalisierten Diagnosesysteme ICD-10 und DSM-IV, Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften ( Kap. 42.9) sowie störungsspezifische psychotherapeutische Behandlungsmanuale etwa im Bereich von Borderline-Erkrankungen [dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan].
42.8.2
Qualitätslenkung
Die inhaltliche Festlegung und Steuerung der Prozesse ist der Gegenstandbereich der Qualitätslenkung. Wie soll der administrative Aufnahmeprozess an der Praxisrezeption bzw. bei Klinikaufnahme erfolgen, wie die pflegerische und ärztliche Aufnahme auf Station und deren Integration und Abstimmung mit der ärztlichen Aufnahme? Welche Vorgaben müssen als Orientierungshilfe (Leitlinien), als Sollvorschriften (Verfahrensanweisungen, Arbeitsanweisungen, Standards) und welche als strafbewehrte Vorgaben (Richtlinien, Dienstanweisungen) für Diagnostik und Therapie sowie für die Ablaufregelung der Unterstützungsprozesse (Labor, apparative Diagnostik, externe Konsile, Apothekenversorgung, Hygiene, Essensversorgung, Reinigung, Patiententransport, Hol- und Bringedienste) festgelegt werden? Wie werden diese Vorgaben dokumentiert und wie werden diese Dokumente gelenkt, d. h. wie wird sichergestellt, dass immer nur aktuelle, bezüglich Erstellungsdatum und Freigabe eindeutig identifizierbare Vorgabedokumente am Arbeitsplatz verfügbar sind (Vorhaltung in Aktenordnern und/oder im Intranet)? Wie wird sichergestellt, dass Diagnostik und Therapie stets nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung erfüllt und gleichzeitig die dafür vom Kostenträger in Anspruch genommenen finanziellen Ressourcen nur das Notwendige und Ausreichende an
Leistung abdecken? Wie wird sichergestellt, dass im Leistungserstellungsprozess sämtliche vom Patienten bzw. Einweiser bzw. Kostenträger formal vorgegebenen Anforderungen erfüllt und dass alle relevanten gesetzlichen und behördlichen Vorgaben eingehalten werden (Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit nach SGB V, Medizinproduktegesetz, Medizinproduktebetreiberverordnung, Hygienerichtlinien des Robert-Koch-Instituts, Röntgenverordnung, Strahlenschutzverordnung, Arbeitsschutzgesetz, Arbeitssicherheitsgesetz, Berufsgenossenschaftliche Unfallverhütungsvorschriften, Bildschirmarbeitsplatzverordnung, Datenschutzgesetz (u. a.)? Wie werden diese Vorgaben den Mitarbeitern vermittelt und sichergestellt, dass sie auch eingehalten werden bzw. bei Abweichungen von Leitlinien der Grund der Abweichung dokumentiert wird? Sind alle relevanten Risiken erkannt und Maßnahmen zur Risikoabwehr geplant (medizinische Notfälle, nichtmedizinische Notfälle wie Brandoder Katastrophensituationen)?
42.8.3
Qualitätssicherung
Die vertrauensbildende Darlegung der Fähigkeit, die geforderten Qualitätsanforderungen zu erfüllen, ist Gegenstand der Qualitätssicherung. Gesetzliche Vorgaben zur Beteiligung an Maßnahmen der externen vergleichenden Qualitätssicherung treffen im Krankenhausbereich (noch) nicht den psychiatrischen Bereich: Die gesetzliche Teilnahmeverpflichtung nach § 137 bezieht sich auf definierte Erkrankungen bzw. Diagnosen im Bereich von Chirurgie, Orthopädie, Geburtshilfe, Kardiologie, Herzchirurgie und Pflege. Hingegen gibt es freiwillige Maßnahmen sowohl hinsichtlich der internen, als auch der externen Qualitätssicherung und Selbstbewertungen.
Interne Qualitätssicherung Freiwillige Maßnahmen. Diese haben in der stationären
Psychiatrie eine lange Tradition. Zu nennen ist hier vor allem die von der DGPPN entwickelte psychiatrische Basisdokumentation (Cording et al. 1995). Viele Kliniken ermitteln des weiteren fortlaufend Komplikationsraten wie Suizide, Suizidversuche, Entweichungsraten, Unterbringungsraten, Fixierungsraten sowie absetzrelevante Unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Projektgebundene Maßnahmen der internen Qualitätssicherung sind ferner Zufriedenheitsbefragungen von Patienten, Einweisern und Mitarbeitern. Betriebswirtschaftliche Messungen. Typische betriebs-
wirtschaftliche Messungen im Rahmen der Qualitätssicherung sind Soll-Ist-Vergleiche von vereinbarten und erzielten Berechnungstagen, Kurzliegeranteilen, mittlerer Verweildauer sowie Arzneimittel- und Sachkostenverbräuchen pro Berechnungstag.
997 42.8 · Umsetzungsbeispiele
Prozessbezogene Kennzahlenmessungen. Sie werden
üblicherweise überall dort vorgenommen, wo Wartezeiten qualitätsrelevant sind: Wartezeiten bis zur stationären Aufnahme, bei der administrativen Aufnahme und bis zur ersten Kontaktaufnahme auf Station, in der Funktionsdiagnostik (EEG, Bildgebung), und von besonderer Bedeutung für die Zuweiser des Krankenhauses: Wartezeiten bis zum Herausgehen des endgültigen Arztbriefes (z. B. ausgedrückt in Prozent der endgültigen Arztbriefe, die innerhalb von 2 Wochen das Krankenhaus verlassen).
Externe Qualitätssicherung Freiwillige Maßnahmen der externen Qualitätssicherung finden sich in der Psychiatrie vor allem im Bereich der Arzneimittelüberwachung in Form einer systematischen Erfassung, Bewertung und Kommunikation absetzrelevanter unerwünschter Arzneimittelwirkungen, sei es auf Bundesebene (AMSP) oder auf Länderebene (Bayern: AGATE). Eine behördlich vorgeschriebene Form der externen Qualitätssicherung im Bereich der Strukturqualität existiert ausschließlich in der stationären Psychiatrie in Form der dreimonatlichen Erhebung und vergleichenden Veröffentlichung der Patientenstruktur sowie den aus der Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) resultierenden Personalansprüchen.
Selbstbewertungen Zu den auf die Funktionsfähigkeit des Qualitätsmanagementsystems bezogenen Qualitätssicherungsmaßnahmen gehören des weiteren Selbstbewertungen nach vogebenen Selbstbewertungssystemen, etwa Selbsteinschätzung nach dem KTQ-Katalog, Selbst-Assessment nach dem EFQM-Modell oder interne Audits zur Überprüfung der Normkonformität mit der ISO 9001 bzw. dem Aufdecken von Verbesserungspotenzialen nach der ISO 9004. Auch die bei ISO-Ausrichtung verpflichtende jährliche Managementbewertung sowie das externe Zertifizierungsbzw. Überwachungsaudit gehört zu den klassischen Maßnahmen der vertrauensbildenden Darlegung der Qualitätsfähigkeit nach außen.
42.8.4
Qualitätsverbesserung
Grundidee jedes Qualitätsmanagements ist das Streben nach kontinuierlicher Verbesserung. Jeder diagnostische und therapeutische Prozess, jedes Behandlungsergebnis, aber auch das Qualitätsmanagementsystem als Ganzes, muss regelmäßig überwacht und als Ergebnis des Soll-IstVergleichs kontinuierlich verbessert werden. Mehrere methodische Voraussetzungen müssen erfüllt werden, um das Krankenhaus bzw. die Praxis in die Lage zu versetzen, mögliche Verbesserungspotenziale zu identifizie-
ren und auszuschöpfen. Erste Voraussetzung ist die als Vorbild gelebte Verpflichtung der obersten Leitung, also der Krankenhausleitung bzw. des Praxisinhabers zur Qualität und ihrer kontinuierlichen Verbesserung. Wird diese Werthaltung nicht gelebt, wird es nicht möglich sein, sie den Mitarbeitern der Klinik bzw. der Praxis abzuverlangen. Zweite Voraussetzung ist die in der Wertewelt der Organisation (z. B. im Leitbild) zu verankernde Beteiligung aller Mitarbeiter an der kontinuierlichen Verbesserung (Total Quality Management). ! Qualität ist nicht an andere deligierbar, jeder ist für die Qualität seiner eigenen Arbeit und deren kontinuierlichen Verbesserung selber verantwortlich; demnach muss er auch von der Führung motiviert und autorisiert werden, eigenverantwortlich Verbesserungspotenziale zu identifizieren und zu realisieren. »Fehlerverzeihende Kultur«. Verbesserungen resultieren
ganz wesentlich aus beobachteten Fehlern oder der Entdeckung potenzieller Fehlerquellen. Die Organisation Praxis bzw. Krankenhaus wird umso erfolgreicher ihr theoretisches Verbesserungspotenzial mobilisieren, je ausgeprägter ihre fehlerverzeihende Kultur ist. Fehlerverzeihende Kultur meint eine Grundhaltung von Führenden und Geführten, dass ein beobachteter Fehler stets als Chance begriffen wird, aus ihm zu lernen und durch eine Beseitigung von Fehlerursachen die Wahrscheinlichkeit der Fehlerwiederholung zu senken. Fehlerverzeihende Kultur ist also das Gegenteil von fehlerbestrafender Kultur – was freilich nicht als Freibrief für Fahrlässigkeit oder Vorsatz gemeint ist. Critical Incidence Reporting Systems. Die systematische
Erfassung, Auswertung und Kommunikation von Beinahefehlern in Form eines anonymisierten Critical Incidence Reporting Systems (CIRS) gewinnt gegenwärtig in der klinischen Medizin eine zunehmende Bedeutung. Vorbeugemaßnahmen, wie sie durch gesetzliche und behördliche Vorschriften vorgeschrieben und in innerbetrieblichen Verfahrensanweisungen umgesetzt sind (z. B. Hygienepläne, Notfallpläne, Einweisungen nach Medizinproduktebetreiberverordnung), werden von der ISO 9001 genauso gefordert, wie die systematische Beseitigung von Fehlerursachen (sog. Korrekturmaßnahmen). Weitere Quellen kontinuierlicher Verbesserungen sind: ein innerbetriebliches Vorschlagswesen, die systematische Bearbeitung und Auswertung von Patienten-, Angehörigen- und Einweiserbeschwerden sowie kontinuierliche oder periodische Zufriedenheitsbefragungen von Patienten, Einweisern und Mitarbeitern.
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Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
Wesentliche Verbesserungen resultieren aber auch aus der kontinuierlichen Überwachung von Prozessen. Die oberärztliche Supervision des Stationsarztes, Oberarztund Chefarztvisiten, Pflegevisiten, Fallkonferenzen, Teambesprechungen und Teamsupervisionen sind traditionelle Formen der Prozessüberwachung von Diagnostik und Therapie in der Klinik bzw. Praxis. Prozessüberwachung schließt aber auch die Überwachung jener Messmittel ein, die für den diagnostischen und therapeutischen Prozess eingesetzt werden – also Blutdruckmessgeräte, Blutzuckermessgeräte, EKG, EEG, bildgebende Verfahren.
42.9
Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Algorithmen
42.9.1
Evidenz-basierte Medizin (EbM)
ben und die Entscheidungsfindung für eine angemessene Behandlung in spezifischen Krankheitssituationen erleichtern sollen. Die nachfolgenden Übersichten geben die Definition sowie die Ziele von Leitlinien wieder.
Definition von Leitlinien Systematisch entwickelte Entscheidungshilfen, wissenschaftlich begründete praxisorientierte Handlungsempfehlungen,»Orientierungshilfen« im Sinne von »Entscheidungskorridoren«, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss Transparenter, reproduzierbarer Konsens von Experten; RCT, Metaanalysen, Delphianalysen Regelmäßige Aktualisierung
Evidenz-basierte Medizin beinhaltet zum einen metho-
Ziele von Leitlinien
disch die systematische Bewertung von Nutzen und Risiken, zum anderen dient sie als Entscheidungshilfe für Klinik und Praxis. Dies impliziert die Anwendung der besten zzt. vorhandenen externen Evidenz aus systematischer Forschung kombiniert mit der individuellen klinischen Erfahrung (»nachweisorientierte Medizin«, externe und interne Evidenz). Leitgedanke ist, dass Entscheidungen auf objektiven, publizierten Daten basieren sollen. In Abhängigkeit vom zugrunde gelegten Datenmaterial wird in der EbM eine hierarchische Einteilung der Evidenz in Evidenzstufen bzw. nach Evidenzgraden (Grad Ia–Grad IV bzw. Level A–D) vorgenommen ( Kap. 15; Sackett et al. 1997; Gray 2004; Laux 2007). Als »Goldstandard« hat sich in der Therapieforschung die randomisierte, kontrollierte Studie (RCT) etabliert (höchster Evidenzgrad), allerdings wird bemängelt, dass RCTs das Feld der Versorgung nicht ausreichend genau abbilden können (Schmacke 2006). Aktuell diskutiert werden patientenrelevante Endpunkte anstelle von Surrogatparametern, da durch falsche Auswahl von Wirksamkeitsparametern (Surrogatergebnisse versus klinische Endpunkte) Trugschlüsse und Irrtümer hinsichtlich Behandlungsmaßnahmen entstanden sind (Übersicht: Mühlhauser u. Meyer 2006). EbM setzt somit voraus, dass der Arzt mit den Grundlagen wissenschaftlicher Methodologie und Statistik vertraut und in der Lage ist, sich über das vorhandene empirische Wissen z. B. über Datenbanken zu informieren und dieses kritisch zu bewerten.
Vermeidung unnötiger und überholter medizi-
42.9.2
Leitlinien
Zu den Instrumenten der EbM gehören Leitlinien (Guidelines), die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiederge-
nischer Maßnahmen und unnötiger Kosten
Berücksichtigung systematisch entwickelter Entscheidungshilfen, Etablierung von Standards
Verminderung von Qualitätsschwankungen Motivation zu wissenschaftlich begründeten Therapie-Entscheidungen/-strategien
Information der Öffentlichkeit (Patienten, Angehörige, Kostenträger)
Leitlinien geben einen Entscheidungskorridor, einen klinischen Pfad vor und sollen in Deutschland nach dem Sozialgesetzbuch künftig die Grundlage zur Beurteilung der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung sein. Leitlinien müssen eine Reihe von Qualitätsanforderungen erfüllen. Die Entwicklung durch fachlich legitimierte Gruppierungen und die regelmäßige Revision/Aktualisierung gehört derzeit und künftig zu den Kernaufgaben wissenschaftlicher Fachgesellschaften. Inzwischen existiert eine Vielzahl von Leitlinien international wie national; zu den ersteren gehören vor allem die Guidelines der American Psychiatric Association (APA), der Kanadischen, Britischen und Australisch-Neuseeländischen Psychiater-Gesellschaften, zu letzteren die der DGPPN (APA 2006; DGPPN 2006). Auch zur Diagnostik in Versorgungskliniken oder für spezielle Situationen wie Suizidalität wurden Leitlinien vorgelegt (Laux et al. 2003; Dick et al. 2006). Jüngst wurde eine Leitliniencheckliste – das Deutsche Instrument zur methodischen LeitlinienBewertung (DELBI) – vorgelegt. Zweifelsohne ist das Bestreben, mittels EbM und Leitlinien mehr Therapietransparenz mit homogeneren Therapieentscheidungen zu erreichen, prinzipiell zu begrüßen. Vor einer Überbewertung ist allerdings zu warnen:
999 42.9 · Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Algorithmen
Als alleinige Basis für Leitlinien und Disease-Management-Programme (DMP) wird eine checklistenartige »Programm-Medizin« mit Patienten als statistischen Größen propagiert. Evidenz-basierte Leitlinien beschreiben das Prozedere im (weltweiten) Durchschnitt, der behandelnde Arzt muss im Einzelfall entscheiden, was richtig ist (Antes 2004). Die Akzeptanz von Leitlinien vor allem von in der Praxis tätigen Ärzten ist bislang begrenzt: Zum einen existiert inzwischen eine Vielzahl von Leitlinien, die empirischen Daten sind komplex und nicht zu durchschauen, zum anderen sind die Daten zur Effektivität rar und inkonsistent. Kritisch wird die übertriebene Vereinfachung, die Gefahr der Überinterpretierung, ja der Dogmatisierung gesehen, und auch, dass die proklamierte Aktualisierung kaum umgesetzt wurde. Guidelines offerieren zum Teil nur viele Optionen, sind somit vage, ja banal. Kritiker bemerken weiter, dass sie von wenigen Personen geschrieben sind und ihr Ziel der Verbesserung ärztlichen Tuns (bislang) nicht erreicht hätten (Linden 2005; Hasenbein u. Wallesch 2005).
⊡ Abb. 42.7. Guideline »Therapieresistente Depression« der World Federation of Societies of Biological Psychiatry. (Aus Bauer et al. 2004)
42.9.3
Algorithmen
Ein wichtiges Element sind Entscheidungsalgorithmen, d. h. Behandlungsempfehlungen in sequenzieller Abfolge mit standardisierter Evaluation des Therapieerfolgs zu kritischen Entscheidungszeitpunkten – typischerweise mittels psychometrischer Skalen. Therapiealgorithmen bieten also strukturierte, systematische Behandlungsempfehlungen (»Stufenpläne«) mit dem Ziel einer Steigerung der Behandlungseffizienz an. Eine inadäquate Behandlungsdurchführung mit teilweise wahllos aneinandergereihten, unkontrolliert vorgenommenen Therapien soll vermieden werden. Neben dem Berliner wurde bislang das Texas-Medication-Algorithmusprojekt bekannt (Adli et al. 2002; Trivedi et al. 2004). Beide evaluierten algorithmusgestützte Therapien für stationäre bzw. ambulante Patienten mit depressiven Störungen und konnten deren Nutzen bzgl. Therapieergebnis und Gesundheitsökonomie belegen. Ein anderes Beispiel ist der vom Weltverband vorgestellte Algorithmus zum Prozedere bei sog. therapieresistenten Depressionen (Bauer et al. 2004; ⊡ Abb. 42.7).
Therapeutische Möglichkeiten bei teilweisem oder keinem Ansprechen auf die anfängliche Behandlung mit einem Antidepressivum bei Major Depression
Teilweises oder kein Ansprechen auf eine 4- bis 6-wöchige Behandlung mit einer antidepressiven Medikation in adäquater Dosierung1
Optimierung der Behandlung (Dosiserhöhung)
Kombination zweier Antidepressiva aus unterschiedlichen Klassen2
Augmentationsstrategien 1. Wahl: Lithium Andere: Schilddrüsenhormone (T3 oder T4), Pindolol, Bispiron
Erwägen einer zusätzlichen Psychotherapie zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung
Wechsel zu einem neuen Antidepressivum aus einer anderen oder der gleichen pharmakologischen Klasse2
Erwägen einer EKT zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung
1
Teilweises Ansprechen: 26–49%ige Abnahme der Schwere der depressiven Symptomatik; kein Ansprechen: ≤25%ige Abnahme der Schwere der depressiven Symptomatik
2
Vorsicht bei der Kombination mit irreversiblen MAO-Hemmern
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1000
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
42.10
42
Zertifizierung
Zertifizierung meint ein Verfahren, in dem ein (unparteiischer) Dritter schriftlich bestätigt, dass ein Erzeugnis, ein Verfahren, eine Dienstleistung oder eine Organisation in ihrer Gesamtheit vorgeschriebene Anforderungen erfüllt (Bundesärztekammer). Im Krankenhausbereich sind 2 verschiedene Zertifizierungssysteme im Einsatz: 1. das branchenübergreifende, internationale System der DIN EN ISO 9001:2000 (abgekürzt ISO 9001) und 2. das krankenhausspezifische, rein deutsche System der KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen). Arztpraxen können nach der ISO 9001, nach einer praxisspezifischen Variante der KTQ (KTQ-Prax) sowie nach dem von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung entwickelten System QEP (Qualität und Entwicklung in Praxen) zertifiziert werden. Es gibt in Deutschland keine gesetzliche Verpflichtung, ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis zertifizieren zu lassen. Dementsprechend sind sowohl Krankenhauszertifizierungen als auch Praxiszertifizierungen nach der damals noch einzigen Möglichkeit der ISO 9001 bis Ende der 1990er Jahre eine Seltenheit geblieben. Erst mit der Verschärfung der QM-Anforderungen des SGB V ab dem Jahr 2000 hat sich in den letzten Jahren ein sprunghafter Anstieg von Zertifizierungen im Krankenhausbereich ergeben. ! Die seit 2003 bestehende krankenhausspezifische Zertifizierung nach KTQ haben innerhalb von 3 Jahren bis Ende 2006 annähernd 500 Krankenhäuser vollzogen, d. h. annäherend ein Viertel aller deutschen Krankenhäuser; der jeweils aktuelle Stand KTQ-zertifizierter Krankenhäuser ist auf der Homepage der KTQ zu sehen (http://www.ktq.de/ index.php). Ein Überblick über die Zahl der nach ISO 9001 zertifizierten Krankenhäuser ist methodisch nicht möglich, da ISO-Zertifizierungen durch mehr als 40 verschiedene akkreditierte Zertifizierungsstellen vorgenommen werden und weder das DIN noch die ISO ein für den Interessierten einsehbares zentrales Zertifizierungsregister führt. Eine repräsentative Umfrage von Blumenstock et al. (2005) aus dem Jahr 2004 ergab, dass seinerzeit 29% der befragten Krankenhäuser in Teilbereichen (wie etwa Küche, Zentralsterilisation, OP, Medizintechnik, Brustzentrum oder eine einzelne Klinik) oder komplett ISOzertifziert waren (KTQ-Zertifizierungen beziehen sich im Unterschied hierzu immer auf den gesamten Krankenhausbereich). Eine eigene Vollbefragung von 24 versorgungspflichtigen nicht-universitären psychiatrischen Krankenhäusern in Bayern ergab, dass zum damaligen
Zeitpunkt (Stand: Mitte 2006) 37% der Kliniken bereits zertifiziert waren und sich weitere 41% auf dem Wege zur Zertifizierung befanden, so dass bei insgesamt 78% eine Zertifizierung angestrebt oder bereits erfolgt war. Auch in anderen Bundesländern wie etwa Baden-Würtemberg oder Nordrhein-Westfalen sind die psychiatrischen Versorgungskliniken fast vollständig auf dem Weg zur Zertifizierung oder haben das Ziel bereits erreicht; faktisch ist die Zertifizierung in psychiatrischen Kliniken damit ein bereits erreichter Standard. Die Orientierung an KTQ bzw. ISO 9001 gestaltet sich allerdings regional sehr unterschiedlich: Während sich in Bayern 85% der Häuser für die ISO 9001 und nur 15% für die KTQ entschieden haben, sind sämtliche Zentren für Psychiatrie in Baden-Würtemberg und in Nordrhein-Westfalen KTQ-orientiert. KTQ und ISO 9001 sind zwei mögliche, wenn auch strukturell unterschiedliche Wege zur Zertifizierung des Qualitätsmanagementsystems.
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42
1003
Sachverzeichnis Band 1
A Aachener Aphasietest 496 Abbaumaße 487 abnorme Erlebnisreaktionen 384, 385 Abnorme Varianten seelischen Wesens 380, 384 Abreaktion 700 Abstinenz 710 Abulie 450 Abwehr 707 – Auslösesituation 708 Achtmonatsangst 242 Adaptionsphänomene 600 ADAS 462 ADHS-Therapeutika 620 Affektarmut 449 Affekte 235 Affektinkontinenz 450 affektive Erkrankungen 139, 574 – bildgebende Verfahren 574 – fMRT 139 affektive Psychosen 116 affektive Störungen 124, 132, 149, 200, 216, 237, 328 – Bildgebung 132 – evozierte Potenziale 216 – Histopathologie 124 – neuropsychologische Störungen 237 – 5-HT2-Rezeptordichte 149 – strukturelle Bildgebung 132 – transkulturelle Aspekte 328 Affektivität 448 Affektlabilität 450 Affektstarre 449 Agitiertheit 450 Agnosie 496 Agoraphobie 760 – psychophysiologisches Modell 761 – Therapieprozess 761 – Verhaltenstherapie 760 Aggressivität 451 Akoasmen 448 Aktivität 890 Aktivitäten des täglichen Lebens 893 aktuelle Anamnese 415 akustisch evozierte Potenziale 216, 532 Alaninaminotransferase (ALAT) 518 Alertness 493 Algorithmen 999 Alkoholabhängigkeit 133, 576, 770 – Bildgebung 133 – CT 576 – MRT 576 – theoretische Modelle 770 – therapeutischer Prozess 771
– Verhaltenstherapie 771 Alkoholismus 517, 518 – biochemische Marker 517 – Laborparameter 518 Alprazolam 639 Alter 246 Alzheimer-Demenz 520, 521, 536 – Amyloid Precurser Protein (APP) 94, 521 – Apolipoprotein E (ApoE) 520 – Ätiopathogenese 520 – β-Amyloid(1-42) 521 – EEG-Analyse 536 – genetische Disposition 520 – senile Plaques 521 – tangles 521 – τ-Protein 521 Ambivalenz 450 ambulante Psychotherapie 950 ambulante Soziotherapie (AST) 872, 878 ambulante Versorgung 950 AMDP-Syndrome 460 AMDP-System 462 , 467 Amentia 378 Aminpräkursoren 161 analytische Gruppenpsychotherapie 723 analytische Psychotherapie 721 analytischer Prozess 716 Anamneseerhebung 410 – Bereiche 410 Androgynie 290 Angehörigenarbeit 928, 930 – Abhängigkeit 931 – affektive Störungen 932 – Angst- und Panikstörungen (PTSD) 932 – Anorexia nervosa 933 – organische Störungen 930 – Schizophrenie 931 – Sexualstörungen 933 – Typen 931 – Zwangsstörungen 933 Angehörigengruppen 929 Angst 449 – generalisierte 449 – phobische 449 Angsterkrankungen 181 – GABA 181 Angst-Glücks-Psychose 386 Ängstlichkeit 449 Angststörungen 858 Anhedonie 449 Anschubfinanzierung 964, 965 anthropologische Aspekte 305 anthropologische Psychiatrie 21, 307 Antidementiva 619, 660 – Wirksamkeit 660 Antidepressiva 203, 601, 608, 630, 632, 633, 635, 637 – adaptive Veränderungen 606
– – – – – – – – – – – – – – – –
Akutbehandlung 631 Dosierung 636 duale 633 Entwicklung 630 Erhaltungstherapie 633, 635 immunologische Effekte 203 Indikationsgebiete 637 klinische Wirkprofile 604 Langzeitbehandlung 633 Langzeitstudien 635 neurotrophe Hypothese 608 prophylaktische Therapie 633 Rezeptorprofile 602 Sedierungspotenz 604 unerwünschte Wirkungen 604, 632 Wiederaufnahmehemmung (re-uptake-inhibition) 605 – Wirkung auf Rezeptoren 603 – Wirkungsmechanismen 601 Antiepileptika 637 »Antipsychiatrie« 21, 259 Antipsychotika 654 – Rezidivprophylaxe 654 – tardive Dyskinesien 660 Antrieb 450 Antriebsstörungen 450 Apolipoprotein E 94, 520 Apoptose 174 Appetenzstörungen 452 Apraxie 496 Arbeitsbündnis 696 Arbeitsdiagnostik 916 Arbeitsfähigkeitenkreis 894 Arbeitsgedächtnis 500 Arbeitslosigkeit 954 Arbeitsrehabilitation 877 Arbeitstherapeutische Verfahren 893 Arbeitstherapie 885 Arzneimittelüberwachung 997 Ärztliche Gesprächsführung 691 Ärztliche Visite 300 Ärztliches Gespräch 695 Arzt-Patient-Beziehung 298, 301 Aspartataminotransferase (ASAT) 518 Assertive Community Treatment (ACT) 880, 942 Assoziationsstudien 50 Assoziationsuntersuchungen 101 Ätiopathogenese 41, 43 – modulare Modelle 43 Atomoxetin 620 Attributionstheorie 253 atypische Neuroleptika 614, 647, 657 – orale Rezidivprophylaxe 657 – Wirkungsmechanismus 614 Auffassungsstörung 444 Aufmerksamkeit 232, 492, 493, 494 – geteilte 494
A
1004
Sachverzeichnis Band 1
– selektive 493 Aufmerksamkeits-Belastungs-Test 493 Aufmerksamkeitsdimensionen 493 Aufmerksamkeitssysteme 233 Auftragsklärung 835 Ausschlussdiagnostik 578 autogenes Training 783, 794 – Effektivität 796 – Indikationen 796 – Kontraindikationen 796 – Oberstufe 796 – Unterstufe 795 Autoimmunerkrankungen 201 automatische Gedanken 754 Autopoiesis 819 Azetylcholin 160, 164 Azetylcholinesterasehemmer 619, 661 – Verträglichkeit 661 – Wirksamkeit 661
B Balanced Scorecard (BSC) 995 Balint 257 Basisdokumentation 996 Basisstörungskonzept 452 BDI 464 BDNF (brain derived neurotrophic factor) 607 Beck Depression Inventar (BDI) 474 Befehlsautomatismus 450 Befindlichkeitsskala (Bf-S) 473 Befunderhebung 419, 435, 440, 455 – psychopathologische 440 – standardisierte 455 Befundkonstellationen 430 Belastungs-Überforderungsprozesse 284 Benzodiazepine 618, 639, 642 – Hang-over-Effekt 642 – Nebenwirkungen 642 – pharmakologische Wirkungen 618 – therapeutische Anwendungen 639 – Toleranzentwicklung 642 Benzodiazepinhypnotika 641 Benzodiazepinrezeptor 169 Benzodiazepintranquilizer 638 Beobachtbarkeit 348 Beobachtungsebene 349 Beobachtungsgleichheit 356 berufliche Eingliederung 952 Berufsförderungswerke 952 beschützende Heime 953 Beschwerdenliste (BL) 473 Besessenheit 334 betreute Wohneinrichtungen 952 Bettenzahl 946 Bewältigung (Coping) 285 Bewegungskoordination 425 Bewusstsein 443 Bewusstseinseinengung 444 Bewusstseinsstörungen 427 Bewusstseinstrübung 443 Beziehung 710 Beziehungsanamnese 413
Beziehungsgestaltung 697 Bezugsrahmen 321 BfArM 976 bildgebende Verfahren 553 Bildgebungsforschung 129, 146 – Untersuchungsparadigmen 146 Bindungstheorie 243 Binswanger 312 Biofeedback 784, 799, 805 – Effektivität 805 – Indikationen 805 – Kontraindikationen 805 biografische Anamnese 409, 411 biologische Merkmale 210 biologische Psychiatrie 228, 350 biomedizinisches Modell 39 biopsychosoziales Krankheitsmodell 32, 228, 230 bipolare affektive Störungen 757 Bleuler 15, 385 Blutbild 512 Blut-Hirn-Schranke 199, 200 – HLA-System 200 Blut-Liquor-Schrankenfunktion 515 Blutspiegelverlauf 585 Bonhoeffer 15, 377 Borderline-Pathologie 732 Borderline-Übertragung 717 Bowlby 243 BPRS 462 Braid 781 Brain-fag-Syndrom 335 Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) 469 Bulbärhirnsyndrom 428 Buspiron 642 Butyrophenone 645 Carbamazepin 610, 611
C Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) 519 Carus 781 Case Management 878, 880, 942 CERAD-Batterie 504 Charakterstruktur 257 Charcot 782 Checklisten 405 Chlorpromazin 653 Chorea Huntington 567 chronische Belastungen 283 chronische körperlich begründbare Psychosen 383 CIDI 468 Clozapin 512, 544 – Agranulozytose 512 – EEG 544 Community Support Systems 941 Compliance 915 Composite International Diagnostic Interview (CIDI) 404 Computertomografie (CT) 554 Copingressourcen 285 Core Evidence 977
CREB 166, 171, 176, 607 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung 538 – EEG-Muster 538 CRH-1-Rezeptor-Antagonist 190 CRH-Stimulationstests 188 Critical Incidence Reporting System 997 CT 430 – Indikationen 430 Cushing-Syndrom 188 CYP2D6 522 CYP-Isoenzyme 589
D d2 493 Daseinsanalyse 312 Datensammlung 410 – psychiatrische 410 Defizitmessung 487 DELBI 998 Delir 539 Demenz 503 – Testverfahren 503 Demenz, Alzheimer 179 – Azetylcholindefizit 179 Demenzen 133, 238 – Bildgebung 133 – neuropsychologische Störungen 238 demenzielle Syndrome 151 – Glukosemetabolismus 151 – PET 151 Denkhemmung 445 Denkstörungen 445 – formale 445 Dependenzanalyse 356 Depersonalisation 448 Depotarzneiformen 594 Depotneuroleptika 657 – Rezidivprophylaxe 658 Depressionen 140, 179, 187, 202, 203, 229, 608, 634, 731, 753, 755, 756 – Aktivitätsaufbau 755 – Förderung der sozialen Kompetenz 755 – gelernte Hilflosigkeit 179 – HHA-System 187 – Hypoaktivierung 140 – Immunsystem 202 – Integratives Modell 229 – Interleukin-6 202 – kognitive Verhaltenstherapie 753 – kognitive Verhaltenstherapie 756 – Langzeitverlauf 634 – neurodegenerative Hypothese 608 – Noradrenalinhypothese 179 – Serotoninhypothese 179 – Therapeutisches Basisverhalten 755 – Verhaltensanalyse 755 – zelluläres Immunsystem 203 depressive Syndrome 329 – interkultureller Vergleich 329 – Somatisierung 329 – transkulturelle Symptomvariationen 329 Derealisation 448 Deskription 437 deskriptive Psychopathologie 351
1005 Sachverzeichnis Band 1
deskriptiver Ansatz 391, 394 Deutungen 714, 715 Dexamethason-CRH-Test 188 Dexamethason-Suppressionstest 188 Dezentralisierung 942 DHEA 194 Diagnostik 405 – Untersuchungsinstrumente 405 diagnostische Manuale 398 diagnostischer Prozess 402, 403 – Fehlerquellen 403 dialogische Positivierung 734 Diätetik 693 Diffusions Tensor Imaging 130 Dimere 176 DIN EN ISO 9001:2000 993 Dipolquellenanalyse 216 – LAAEP 217 Disease Management 943 Dismaturationsprozess 131 Dopamin 121, 160, 165 dopaminerge Projektionsbahnen 612 dopaminerges System 165 Dopplersonografie 432 Dosierungsintervall 592 Dosis 591 Dreiinstanzenmodell 255 Drifthypothese 280 Drogenabhängigkeit 577 DSM-III 389 DSM-IV 36, 37, 389, 401 – Achse I 401 – Achse II 401 – Achse III 401 – Achse IV 401 – Achse V 401 – multiaxiale Ansätze 401 DSM-V 38 Duplexsonografie 432 Durcharbeiten 716 Durchgangssyndrome 382, 383 Dynamische Psychotherapie 726 Dysbindin 82 Dysphorie 449
E E4-Allel 94 EbM 972 EEG 544, 545 – Antidementiva 546 – Antidepressiva 545 – Benzodiazepine 546 – Carbamazepin 545 – Clomethiazol 546 – Clozapin 544 – Lithium 545 – Neuroleptika 544 EEG-Feedback 804 EEG-Untersuchung 530 Effectiveness 359 Effektoren 171 Effektstärke 974
Efficacy-Effectiveness-Gap 964 Effizienzkriterien 364 EFQM 993, 994 Einheitspsychose 374 Einstellung der Bevölkerung 954 Einstellung professioneller Helfer 272 Einzelfallstudien 362 Einzelgruppenuntersuchungen 362 EKT 671 – Indikation 673 – Kontraindikationen 674 – Nebenwirkungen 674 – Praktische Durchführung 672 – Wirkmechanismus 671 Elektrodermale Aktivität (EDA) 221 Elektrogenese 535 Elektrokrampftherapie 671, 672 Elektromyografie (EMG) 431 Elektroneurografie 431 Elektrophysiologie 210 elektrophysiologische Diagnostik 431 Eliminationshalbwertszeit 588, 593 EMEA 976 EMG-Feedback 803 emotionale Misshandlung 249 Emotionen 230, 231, 235 – Neuropsychologie 236 Emotionspsychologie 230 Empathie 854, 693 empirische Forschung 345 empirische Psychiatrie 353 Empowerment 24, 274, 301 endogene Psychosen 382 Endogenität 390 Endon 307 Endophänotypen 75 Entscheidungslogik 981 Entspannung 700, 785 Entspannungsreaktion 784 Entspannungsverfahren 777, 779, 785, 810 – historischer Überblick 779 – Indikationen 786 – Kontraindikationen 786 – Leitlinien 810 Entwicklungskrisen 706 Entwicklungsmodell 239 – transaktionales 239 Entwicklungspsychopathologie 239, 246 Entwicklungsschaden 257 Entwicklungsstörungen 247, 706 Epidemiologie 55 – Grundgesamtheit 58 – Stichproben 58 Epigenetik 77 epileptische neuronale Aktivität 218 episodische periodische Psychosen 327 Erbgesundheitsgesetz 19 Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) 531 Ergebnisqualität 987 ergotherapeutisches Assessment 888 Ergotherapie 876, 884, 886, 892, 894 – Befunderhebung 886 – Definition 884 – Geschichte 884 – Material 892 – Paradigmen 884
A–F
– Wirkfaktoren 894 Erhebungsinstrumente 466 – vollstandardisierte 466 Erickson 791 Erikson 241 Erklären 440 Erlebtes Leben 820 erlernte Hilflosigkeit 254 Erwachsenenzeit 245 Erwerbstätigkeit 291 Erzähltes Leben 821 Erzählung 828 Erziehungsstil 239 Erziehungsverhalten 239 Es 255 Esquirol 7 – moral insanity 7 Ethnologie 320 Ethylglucuronid 520 Euphorie 449 Evaluation 359 Evidenz 972 Evidenz-basierte Medizin (EbM) 972, 998 Evidenzgrad 975, 976, 998 Evidenzgraduierung 975, 979 Evidenzkriterien 976, 977 evozierte Potenziale 431 exekutive Funktionen 234, 499 existenzialistisches Modell 259 Existenzphilosophie 842 exogene Reaktionstypen 378 Expertendominanz 929 expressed emotions 287 expressive Psychotherapie 726 Exzellenz-Modell 994
F Faktorenlösungen 468 Falldefinition 61 Falsifikationsprinzip 347 Familie 288 Familienanamnese 416 Familienbild 246 Familienmodell 259 Familiensysteme 260 FDA 976 FDG-PET 563 Feldstudien 62 figurale Gedächtnistests 498 Flimmerverschmelzungsfrequenz (CFF) 222 Fluphenazin 655 fokale Anfälle 218 – psychische Störungen 218 forensische Anamnese 417 forensische Psychiatrie 949 Forschungsmethoden 345 Frankl 847 Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) 475, 502 Fremdanamnese 417 Fremdbeurteilungsskalen 462 Fremdreflexe 423
1006
Sachverzeichnis Band 1
Freud 15, 254 – Behaviorismus 16 – Psychoanalyse 16 frühe Kindheit 242 funktionaler Ansatz 51 funktionelle Entspannung 808 funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) 139, 557 Funktionsdiagnostik 45, 47, 48, 916
G GABA 122, 160, 169 GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplex 617 γ-Glutamyltransferase (GT) 518 Ganzheitliche Störung 862 Gaupp 14 Gedächtnis 195, 233, 496 Gedächtnisstörungen 444 Gedächtnissysteme 234, 497 Gedächtnistestbatterien 497 Gedankenausbreitung 448 Gedankeneingebung 448 Gedankenentzug 448 Gegenübertragung 713 Gemeindenähe 948 gemeindenahe Versorgung 941 Gene 74 generalisierte Angsterkrankung 758 Genetik 71, 77 – Adoptionsstudien 99 – affektive Störungen 83 – Alkoholismus 90 – Alzheimer-Demenz 93 – Angsterkrankungen 87 – bipolare Störungen 83 – Demenzen 93 – Depression 83 – Drogenabhängigkeit 91 – Familienstudien 98 – Nikotinabhängigkeit 91 – Panikstörung 88 – Schizophrenie 77 – Zwangsstörung 88 – Zwillingsstudien 99 Genom 74 Genomscan 101 Geschichte 3 – Animismustheorie 6 – antike Medizin 4 – Humoralpathologie 4 – Neurose 6 Geschlechterstereotype 292 Geschlechtsrolle 289 geschlechtsspezifische Verteilungen 290 Gesichtererkennen 498 Gesprächspsychotherapie 853 Gestaltpsychologie 842 Gestalttherapie 848 gestufte Aktivhypnose 792 Gesundheitsmodelle 34 – humanistische 34 – religiöse 34 – Salutogenese-Konzept 34 – transpersonale 34
Gießen-Test (GT) 476, 502 Ginkgo-biloba-Extrakt 619 Glasgow Coma Scale 427 Gleichgewichtstheorien 178 Gleichstellung 943 Glia(zellen) 120 Global burden of disease 66 – Angststörungen 68 – Demenzielle Erkrankungen 68 – depressive Erkrankungen 67 – Schizophrenie 67 – Substanzmissbrauch 68 Globusgefühl 452 Glukokortikoidrezeptor 189 Glukokortikoidrezeptor-Antagonisten 190 Glutamat 121, 168 Glutamatantagonisten 168 Glutamatdehydrogenase (GLHD) 518 Glutamatrezeptor 168 Glyzin 160 – Glyzinsystem 169 Goldstein 843 G-Proteine 171 Griesinger 9, 10, 266, 373 – Degenerationslehre 11, 18 – Materialismus 9 – Rassenhygiene 11, 18 – Stadtasyle 10 Growth-hormone-Releasinghormon (GHRH) 191 Gütekriterien 457, 486 – testtheoretische 457
H Halluzinationen 447 Halo-Effekt 351, 463 – (Thorndike) 629 Haloperidol 645, 652, 653 – Dosiseffekte 647 – extrapyramidalmotorische Verträglichkeit 652 – Nebenwirkungen 647, 653 – Wirksamkeit 647 HAMA 462, 467 Hamilton-Depressionsskala (HAMD) 470 handlungsorientierte Therapie 916 Handlungsteil 491 Hauptdiagnosen 398 HDL-Cholesterin 519 Heinroth 8 hepatischer Metabolismus 589, 595 Herkunftsfamilie 412 hermeneutische Ansätze 311 Herzfrequenzvariation (HRV) 221 HHA-System 186 Hirnanatomie 118 – Geschichte 118 Hirnläsionen 113 Hirnnerven 420, 421 – Routineuntersuchung 421 Hirnplastizität 112 Hirnschäden 115 – alkoholbedingt 115
Hirnstammfunktionen 427 Hirnstammreflexe 427 Hirnstammsyndrome 428 Hirntumoren 579 Histamin 160 HIV-Infektion 539, 863 – EEG 539 – gestalttherapeutischer Ansatz 863 HLA-Serologie 200 – System 195 Hoche 14, 377 Hollingshead-Index 278 – psychiatrische Morbidität 280 Homöostasemodell 51 humanistische Psychologie 258, 844 humanistische Psychotherapieverfahren 841 hyperästhetisch-emotionelle Schwächezustände 378 Hypnose 784, 792, 793 – Effektivität 793 – Indikationen 792 – Kontraindikationen 792 Hypnotherapie 790 Hypnotismus 781 hypothalamisch-hypophysär-adrenales (HHA-)System 186 hypothalamisch-hypophysär-gonadales (HHG-)-System 191 hypothalamisch-hypophysär-somatotropes (HHS-)System 191 hypothalamisch-hypophysär-thyreoidales (HHT-)System 190 Hypothesen 350 – Findung 350 – Prüfung 350
I IBRP 916 IBZM-Bindung 564 ICD-10 36, 396, 397, 398, 400 – Achse I 400 – Achse II 400 – Achse III 400 – multiaxiales System 400 – Kodierungsebenen 397 – Versionen des Kapitels V (F) 398 ICD-11 38 ICF 916 Ich 255, 257 Ich-Funktionen 256 Ich-Psychologie 705 Ich-Störungen 448 Ich-struktuelle Störung 258 IDCL 406 Ideenflucht 445 Identitätslehre 32 IL-6 197 Illusionen 447 imaginative Verfahren 808 Immunabwehr 195 Immungenetik 199 – HLA-System 199
1007 Sachverzeichnis Band 1
Immunsystem 194, 196 implizite Gedächtnistests 499 Indolamine 167 Informationsdefizit 300 Informationsverarbeitung 110, 158 – kortikal 110 – zerebral 110 Inkohärenz 446 Inkongruenz 854 institutionsbezogene Versorgung 939 Institutsambulanzen 950 Insuffizienzgefühle 449 integrierte Versorgung 943, 965, 966, 967 – Antragsstellung 966 – Aufwand 966 – Disease Management 963 – gesetzliche Vorgaben 965 – Münchner Modell 967 – Probleme 968 – psychiatrische Modellprojekte 965 Intelligenz 241, 451 – fluide 241 – kristalline 241 Intentionalität 450 Intent-to-treat-Analyse 358 Intent-to-treat-Stichprobe 630 interaktionelle Psychotherapie 727 Interaktionen 523, 595 – pharmakokinetische 595 Interaktionsdefizite 300 Interaktionspotenziale 596 Interaktionszirkel 240 Interleukin-2 198 Interleukin-6 198 International Classification of Functioning, Disabilities and Health (ICF) 65, 916 Internationale Diagnosencheckliste 406 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit 65, 916 interpersonelles Modell 260 Introspektionsfähigkeit 697 Inzidenz 59 IQWiG 976 ISO 9000 993 ISO 9001 989, 1000 isoelektrische Fokussierung 516 ITT-Analyse 358
J Jacobson 783 Jasper 17, 309, 378, 440 Jugendalter 244
K Kahlbaum 12, 375 kardiovaskuläres Feedback 805 katathymes Bilderleben 808 Katecholamine 164
Kennmuskeln 425 Ketaminpsychose 149 Kindesmisshandlung 240 Kindheit 244 Klassifikation 37, 321 – Achsen 37 – kulturabhängige Syndrome 321 Klassifikationssysteme 371, 393 – operationalisierte 393 – traditionelle 371 klassisches Konditionieren 252, 745 Kleine-Levin-Syndrom 547 Kleist 14, 386 Klienten 836 klientenzentrierte Psychotherapie 853 Kliniksuizide 958 klinische Demenz 537 – P300 537 klinische Prüfung 355, 628, 629 – ethische Standards 629 – Phase I 628 – Phase II 629 – Phase III 629 – Phase IV 629 kognitiv-behaviorale Therapie 253 kognitive Leistung 490 kognitive Psychologie 252 kognitive Therapie 744 kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit 493 kognitive Verhaltenstherapie 744 Kommunikationssystem 821, 823 Komorbidität 73 Komorbiditätsprinzip 398 Konfabulationen 444 Konfidenzintervall 974 Konflikt 258 Konfliktmodell 256 – psychodynamisches 256 Konfliktstörungen 706 konsiliarpsychiatrische Versorgung 949 Kontextualität 826 Konversionsneurosen 730 Konversionssymptome 452 Konzentrationsstörungen 444 konzentrative Bewegungstherapie 807 Kopplungsuntersuchungen 100 Körperhalluzinationen 448 körperlich begründbare Psychosen 382 körperliche Misshandlung 250 Korrelate 49 Kortisolsynthese 189 Kosten 959 Kraepelin 13, 375, 376 Kraftgrad 424 Krankenhausfinanzierungsgesetz 948 Krankenhausmortalität 957 Krankenhausversorgung 299 Krankheitsanamnese 409 Krankheitseinheiten 375 Krankheitseinsicht 452 Krankheitsgefühl 451 Krankheitsgewinn 256, 698 Krankheitsmodelle 28 – wissenschaftliche 31 – subjektive 31 Kranksein 308
Kretschmer 14 Krisen- und Notfallversorgung 951 kritische Lebensereignisse 271 KTQ 993, 1000 Kulte 327 Kultur 320 kulturabhängige Syndrome 335 kulturelle Ausdrucksvarianten 326 kulturelle Einflüsse 321 – Leitlinien 321 Kunsttherapie 896 – Definition 896 – Geschichte 896 – Grundlagen 897 – Indikationen 898 – Methoden 897 – Ziele 898
L LAAEP 216 Laborchemische Diagnostik 511 Laborkontrollen 512 Laienkonzepte 272 Lamotrigin 611 L-Dopa 165 Lebende Systeme 819 Lebensabschnitte 242 Lebensereignisforschung 283 Lebensereignisse 281 Lebensgeschichte 411 – objektive 411 – subjektive 411 Lebenspartnerschaft 414 Lebensqualität 296 – objektive 297 – subjektive 297 – Typen 298 Lebensspanne 241 Lebenszeit(life time)prävalenz 59 Lebenszeitprävalenz 64 Leberwerte 513 Leib-Seele-Problem 31 Leitlinien 975, 988, 998 Leonhard 15, 386 Lernen 234 Lernprinzipien 745 lerntheoretische Grundlagen 745 Lichttherapie 679, 681, 683 – Dauer 682 – Indikation 683 – Nebenwirkungen 683 – photochemische Hypothese 681 – praktische Durchführung 681 Liquor/Serum-Quotient 516 Liquordiagnostik 432, 433, 514 – Indikationen 432 Liquor-IgG-Gehalt 199 Liquorpunktion 515 Lithium 610, 637 – Wiederauftretensraten 637 – Wirkungsmechanismen 610 LOCF-Methode 630 Lodscore-Methode 101
F–L
1008
Sachverzeichnis Band 1
logische Struktur 347 logischer Fehler 351, 463 – (Newcomb) 629 Logorrhö 443 Logotherapie 847 Loops 177 Loose-Binding-Concept 615 Lorazepam 641 LORETA 215 lösungsorientierte Befragung 833 Low-T3-Syndrom 190 Lübecker Fähigkeitenprofil 888 Lues-Screening 513 Lumbalpunktion 512
M MADRS 462, 471 Magie 779 Magnetenzephalografie 136 Magnetismus 780 Magnetresonanzspektroskopie (MRS) 130, 559 Magnetresonanztomografie (MRT) 555 Manieriertheit 443 manisch-depressive Störung 757 – verhaltenstherapeutische Interventionen 757 Marchiafava-Bignami-Syndrom (MBS) 577 Materialismus 32 Meditation 807 Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest (MWT-B) 492 Melancholiekonzeption 314 Memantin 619 menschliches Leben 819 – Phänomenbereiche 819 Merkfähigkeitsstörungen 444 Merkmalslisten 405 Mesmer 7, 780 – Psychiker 8 – romantische Psychiatrie 8 – Somatiker 8 Metaanalysen 973, 974 Metaanalyseresultate 976 Metaerzählungen 828 Methylphenidat 620 Metyrapon 189 Migranten 336 – gesundheitliche Gefährdung 336 – Krankheitskonzepte 338 Migration 336 Migrationsprozess 337 Milieutherapie 872, 878 mind-brain 31 Mini-Mental-Status-Test 504, 505 Mirtazapin 633 Missbrauch 249 Mittelhirnsyndrom 428 Mittelwert 458 mittleres Erythrozytenvolumen (MCV) 518 MMPI 474 MMPI-2 502
Model of Human Occupation (MOHO) 885 Modell des Selbst 245 Modelllernen 746 Monismus 32 Monoamine 161 Mono-Neurotransmittertheorien 177 Morbus Alzheimer 115, 565 – hirnpathologisch 115 – cCT 565 – Hippokampusregion 565 – MRT 565 – PET 565 – SPECT 565 – zerebrale Atrophie 565 Morbus Binswanger 569 Morbus Parkinson 566 – MRT 566 Morbus Pick 566 – cCT 566 – MRT 566 – PET 566 – SPECT 566 Morbus Wilson 567 Moreno 846 Mortalitätsraten 958 Mosaiktest 495 Motorik 424 multiaxiale Diagnostik 400 – psychosoziale Funktionseinschränkungen 400 multiaxialer Aufbau 389 Multimorbidität 399 multiple Baseline-Technik 363 multiple Sklerose (MS) 579 multivariates Design 357 Musiktherapie 898 – Definition 898 – Geschichte 899 – Grundlagen 900 – Indikationen 901 – Methoden 901 – Musikinstrumentarium 900 – Ziele 901 Muskeleigenreflexe 423 Mutismus 443
N Nackensteife 427 Narkolepsie 547 narzisstische Persönlichkeitsstörungen 731 Nebendiagnosen 398 Negativismus 450 Neologismen 446 NEO-Persönlichkeitsinventar 502 Nephelometrie 516 Nervenärzte 950 Neuregulin 82 neuroaktive Steroide 192 neuroendokrinologische Grundlagen 185 Neurofeedback (FPH) 804 Neurofibrillen 116 – neuropathologische Befunde 116
Neurohypnologie 781 Neuroleptika 203, 606, 611, 612, 613, 643, 655, 658 – Akutbehandlung 643 – immunologische Effekte 203 – Niedrigdosierungsstrategie 659 – Rezeptorblockade 612 – Spätdyskinesien 658 – Wirkmechanismen 611 – Wirkung 606, 613 Neurone 121 – dopaminerge – GABAerge – glutamaterge Neuropeptide 169 Neurophilosophie 23 neurophysiologische Grundlagen 209 neurophysiologische Untersuchungsmethoden 529 Neuropil 120 Neuropsychologie 232, 484 neuropsychologische Behandlungsverfahren 893 neuropsychologische Testbatterien 504 Neurosen 116, 730 Neurosenlehre 254 – psychodynamische 254 Neurosteroide 192 neurotische Persönlichkeiten 706 – Systematik 707 neurotische Störungen 333, 708 – Entwicklungsdiagnostik 708 – transkulturelle Aspekte 333 Neurotransmission 157 Neurotransmitter 159 Neurotransmitterkonzentrationen 146 Neurotransmittersysteme 160 Neutralität 824, 835 Neutropenie 512 nichtkonvulsiver Status epilepticus 540 – EEG-Diagnose 540 Nimodipin 619 NMDA-Rezeptor 168 Non-Compliance 300 Noradrenalin 160, 165 Noradrenalinwiederaufnahmehemmer 633 noradrenerges System 167 Normalverteilung 485 Normalverteilungskurve 458 Normbereich 514 Normen 988 Normwerte 457 nosologische Klassifikation 35 Notfalluntersuchung 426 Number Needed To Harm (NNH) 975 Number Needed To Treat (NNT) 974 Nutzen-Risiko-Abwägung 980
O Objektbeziehungspsychologie 257 objektive Tests 456 Objektivität 457, 486 Observed-case-Stichprobe 630
1009 Sachverzeichnis Band 1
Odds Ratio (OR) 60, 975 öffentliches Bild psychisch Kranker 271 Öffentlichkeitsarbeit 954 OPD 401 Open the doors 274 operantes (instrumentelles) Konditionieren 252, 745 operationale Diagnostik 37 operationalisierte Psychodynamische Diagnostik 256, 401, 402 Operationalisierung 22, 352, 390 Opioidpeptide 170 orale Bioverfügbarkeit 588 organische psychische Störungen 542 – EEG 542 organische Psychosyndrome 113 osmotische Myelinolyse (OM) 577 Östrogene 192 Outcome 239 Overprotection 243
P P300 211, 542 Paliperidon 614, 616 Panikattacken 220, 449 Panikerkrankungen 760 Panikstörung 219, 639, 761 – Anfälle 219 – Epilepsie 220 – psychophysiologisches Modell 761 – Studienergebnisse 639 – Verhaltenstherapie 760 PANSS 462 paradoxe Intervention 762 Parakinesen 443 Parallelisierung 355 Paramnesien 444 Paranoid 447 Paranoid-Depressivitäts-Skalen 472 parasuizidale Handlungen 451 Parathymie 450 Partizipation 301 pathogene psychosoziale Faktoren 248 pathogenetische Endstrecke 390 Patientenbefragungen 295 Patientenorientierung 301 Patientenrechte 300 Patientenzufriedenheit 294 PDCA-Zyklus 988 Peptide 161 periiktuale psychische Störungen 220 Perls 849 Perseveration 445 personale Ressourcen 285 personenzentrierte Versorgung 940 Persönlichkeit 502 Persönlichkeitsbeschreibung 451 Persönlichkeitseigenschaften 181 – harm avoidance 181 – novelty seeking 181 – reward dependence 181 Persönlichkeitsfragebögen 476, 502
Persönlichkeitsstörungen 116, 762, 764 – Affektstörungen 764 – dysfunktionale Kognition 764 – Therapeutische Leitlinien 766 – Therapeutischer Prozess 765 – Verhaltenstherapie 762 Persönlichkeitszüge 451 personzentrierte Psychotherapie 855, 858 – Basismerkmale 861 Persuasion 700 PET-Untersuchungen 145 p-Glykoprotein 522 Phänomenologie 843 phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie 306 phänomenologischer Ansatz 309 Phänotypen 73 Pharmako- vs. Psychotherapie 635 Pharmakogenetik 97, 522 Pharmakogenomik 97 Pharmakokinetik 585, 787, 597 – Alter 597 – Phase-I-Reaktionen 587 – Verteilungsvolumina 587 Phase-advance-Hypothese 675 – Phase-advance-Therapie 676 – praktische Durchführung 676 Phase-I-Reaktionen 589 Phase-II-Reaktionen 589 Phenothiazine 643 Piaget 253 Pinel 6 Place-and-train-Ansatz 877 Plasmaspiegel 592 Plastizität 112 Plazebogruppe 361 plazebokontrollierte Studien 629, 978 pontine Myelinolyse 577 poor-metaboliser 522 PORT 976 Positronenemissionstomografie (PET) 145, 561 Post- und interiktuale Psychosen 220 postiktualer Dämmerzustand 220 Post-mortem-Untersuchungen 182 Postpartalzeit 191 Post-stroke-Depression 576 posttraumatische Belastungsstörungen 134 Prägnanztypen 383 Prävalenz 59, 66, 290 – geschlechtsspezifisch 290 Pregabalin 611, 642 – Angriffspunkte 611 Pregnenolon 194 Primäraffekte 235 primäre Verrücktheit 374 Primärpersönlichkeit 411, 450 Problemsystem 817 progressive Muskelrelaxation 783, 797 – Durchführung 798 – Effektivität 799 – Indikationen 798 – Kontraindikationen 798 Projektionsbahnen 178 – dopaminerge 178 – noradrenerge 178
L–P
– serotoninerge 178 projektive Testverfahren 503 Protektive psychosoziale Faktoren 248 Prozentränge 485 Prozessqualität 987 pseudoneurasthenisches Syndrom 384 Psychiatrie 320 – transkulturelle 320 psychiatrische Abteilungen 949 psychiatrische Betten 946 psychiatrische Diagnostik 351 psychiatrische Exploration 308 Psychiker 373 psychische Gesundheit 33 psychische Krankheit 35 psychische Krankheiten 439 – Nominaldefinition 439 – Realdefinition 439 psychische Störungen 267 – geografische Variation 268 – in Europa 267 – kulturelle Einflüsse 268 psychische Struktur 257 psychisches Modell 39 Psychoanalyse 704, 709 – Geschichte 704 – Krankheitskonzept 705 – methodischer Rahmen 709 psychoanalytische Behandlungsstrategien 717 psychoanalytische Fokaltherapie 722 Psychodrama 846 Psychodynamische Hypnotherapie 791 Psychodynamische Psychotherapie 703, 718, 737 – Indikation 719 – Wirkungsnachweise 737 psychodynamisch-psychoanalytisches Krankheitsmodell 254 Psychoedukation 877, 924 psychoedukative Interventionen 926 psychogene neurologische Symptome 429 psychologische Grundlagen 227 psychologische Testdiagnostik 483 psychologischer Test 484 Psychomotorik 442 psychomotorische Ausdrucksformen 443 psychoneuroendokrinologische Grundlagen 186 psychoneuroimmunologische Grundlagen 185, 194 psychopathische Persönlichkeiten 384 Psychopathologie 380, 440 – deskriptive 440 – Systemik 380 psychopathologischer Befund 442 Psychopharmaka 203, 584, 587 – Eliminationshalbwertszeiten 587 – Klassifikation 584 – Phase-II-Reaktionen 587 Psychopharmakotherapie 583, 627 – Grundlagen 583 Psychophysischer Dualismus 31 Psychophysischer Parallelismus 31 Psychosen 733 – psychodynamische Aspekte 733
1010
Sachverzeichnis Band 1
psychosomatische Kliniken 949 psychosomatisches Modell 39 – integrative Modelle 41 psychosoziale Behandlungsverfahren 892 psychosoziale Interventionen 872, 876 psychotherapeutische Basisaspekte 694 psychotherapeutische Verfahren 360 – Einflussfaktoren 360 psychotherapeutisches Milieu 736 Psychotherapie 341, 697, 782 – Begriff 782 – Indikationsstellung 697 – kulturübergreifende Wirkfaktoren 341 Psychotherapieevaluation 739 Psychotherapieforschung 738 Psychotherapieverfahren 718 – psychoanalytisch begründet 718 Psychotonik 809 Punktprävalenz 59 Pupillometrie 221 Pupillomotorik 421
Q Qualitätslenkung 996 Qualitätsmanagement 985 – Aufbauorganisation 992 – Begriffe 987 – Definitionen 987 – Dokumentation 993 – gesetzliche Grundlagen 986 – Grundsätze 989 – Methoden 989 – Werkzeuge 990 Qualitätsmanagementsysteme 993 Qualitätsplanung 995 Qualitätssicherung 972, 996 – externe 997 – interne 996
R randomisierte kontrollierte Studien 738, 975 Randomisierung 355 rationale Psychotherapie 781 Raven-Test 492 RCTs 975 Reaktionsexposition 762 Reaktionszeitmessungen 493 reaktive Psychosen 387 Realwissenschaften 347 Real-world-Studien 359 Reboxetin 633 recovery 873 Reflexe 423, 425 Regelkreisläufe 177 Regression 710 Rehabilitation 873, 911, 918 – Achsen 914 – Definition 912 – Elemente 914
– Evidenz 918 – Finanzierung 919 – Gerontopsychiatrie 918 – Konzepte 912 – Organisation 919 – rechtliche Zuordnung 920 – Rechtsgrundlagen 919 – Suchtkrankheiten 918 – Wirksamkeit 914 Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK) 952 Rehabilitationsziele 890 rehabilitative Leistungen 944 Reil 781 Reliabilität 457, 486 REM-Schlaf-EEG 542 Resilienz 248, 249 respiratorisches Feedback 804 Rezeptoren 162, 599 Rezeptorgrundtypen 163 Rezeptorsubtypen 162 Rezeptortyrosinkinasen 172 Richtlinien 988 Risiko 248 Risikofaktoren 49 Risperidon 657 Rogers 258, 853 Rollenwandel 300 romantische Psychiatrie 373 Rorschach-Verfahren 503 Rosenthal-Effekt 351, 463, 629 Routinelaborwerte 514 RPK-Einrichtungen 919 RUMBA-Regel 995
S saisonal abhängige Depression (SAD) 680 – Melatoninhypothese 680 – Phasenverschiebungshypothese 680 Salutogenese-Konzept 34 SCAN 468 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) 579 Schichtbegriff 278 Schichtenregel 416 Schichtzugehörigkeit 278 Schilddrüsenuntersuchung 513 schizoaffektive Psychose 387 schizophrene Erkrankungen 569, 767, 864 – Bildgebung 569 – personzentrierte Gesprächspsychotherapie 864 – therapeutischer Prozess 768 – Verhaltenstherapie 767 schizophrene Psychosen 116, 122, 130, 139, 148, 180, 199, 201, 211, 236, 268, 269, 270, 322, 386, 395, 452, 558, 571, 653, 768 – Basissymptome 452 – diagnostische Eingangskriterien 395 – diagnostische Hauptgruppen 396 – Dopaminhypothese 180 – Dopaminmetabolismus 148 – Double-bind Theorie 270 – Epidemiologie 322 – expressed emotion 270
– Familienatmosphäre 270 – fMRT 139, 558 – frühkindliche Umgebung 270 – Glutamathypothese 180 – Hebephrenie 324 – Hirnentwicklungsstörung 122 – Immunsystem 201 – Katatonie 324 – Langzeitbehandlung 653 – Migrationsstudien 268 – P300 211 – paranoider Subtyp 324 – Pathogenese 571 – Prävalenz 323 – Rezidivprophylaxe 653 – soziale Selektion 269 – soziokulturelle Einflussfaktoren 323 – sozioökonomische Einflussfaktoren 269 – Strukturelle Bildgebung 130 – Subtypen 324 – systematische 386 – transkulturelle Aspekte 322 – unsystematische 386 – Verlaufsstudien 269 – Zytokine 201 Schizophrenie-Spektrum 78 – Zwillingsstudien 80 Schlafapnoesyndrom 547 Schlafentzugsbehandlung 675, 676 – Effektivitätsbeurteilung 677 – Indikation 678 – Nebenwirkungen 678 – Wirkmechanismus 675 Schlafpolygrafie 533, 547 Schlafprofil 534 Schlafstadien 533, 534 Schlussintervention 837 Schneider 18, 381, 385, 441 Schrankenstörung 199 Schuldgefühle 449 Schule der Salpêtrière 782 Schule von Nancy 782 Schultz 783 Schutzfaktoren 248 Schwerbehindertengesetz 944 SCL-90 464 Screeninginstrumente 60 Second messenger 170 Seelenstörungen 376 – Einteilung 376 Sektorisierung 942 Selbst 245, 257, 850 Selbst-(Identitäts-)System 245 Selbstbeurteilungsskalen 463 Selbstbeurteilungsverfahren 464 Selbstschädigendes Verhalten 451 Selektionshypothese 280 selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer 632 Self-Report Symptom Inventory (SLC-90) 474 Senile Plaques 116 Sensibilität 424 Sensitivität 60, 486 Serotoninsynthese 167 Serotonintransporter-Gen 86 Sertindol 648, 652, 653 – extrapyramidalmotorische Verträglichkeit 652 – Nebenwirkungen 653
1011 Sachverzeichnis Band 1
Sexualhormone 191 – weibliche 191 Sexualstörungen 934 sexueller Missbrauch 250 Shared-Decision-Making 301 Sicht der Betroffenen 273 Signaltransduktion 157, 170 Signal-Transduktions-TranskriptionsKopplung 166 Single-Photon-EmissionsComputertomografie (SPECT) 145, 563 Sinnestäuschungen 447 Sinnkontinuität 379 Sinn-Verstehen 311 Skalenniveau 457, 485 Skalierung 456 SKID 468 Skills-Training 878 social brain 48 social stress 280 somatische Krankheitsanamnese 417 Somatisierungsstörungen 731 somatoforme Störungen 452 SORC-Schema 748 soziale Anthropologie 320 soziale Distanz 272 soziale Kognition 48 soziale Lebenslage 291 soziale Ressourcen 286 soziale Schicht 280 soziale Stressoren 281 soziale Unterstützung vs. soziales Netzwerk 286 sozialer Rückzug 451 soziales Lernen 252 Sozialhilfe 944 sozial-interaktionelle Modelle 259 Sozialisation 293 – männlich 293 – weiblich 293 Sozialpsychiatrie 22, 266 – Erbgesundheitsgesetz 19 – Neurophilosophie 23 sozialpsychiatrische Aspekte 265 sozialpsychiatrische Dienste 951 sozialpsychologische Aspekte 277 sozialrechtliche Defizite 945 sozialrehabilitative Versorgung 953 soziokulturelle Faktoren 259 soziologische Aspekte 277 Soziotherapie 871 – Charakteristika 874 – Definition 872 – Prinzipien 874 – Wirkfaktoren 875 – Ziele 873 – Zielgruppe 873 Spätdyskinesien 658 Sperrung 445 Spezifität 60, 486 Spiegelmethode 656 Sport- und Bewegungstherapie 902 Sprachcodes 299 – schichtspezifisch 299 Sprache 426, 496 sprachfreie Tests 492
Sprachstörungen, Sprechstörungen 426 SSRI 217, 636 Stadtasyle 266, 938 Standard 988 Standardabweichung 458 standardisierte Befunddiagnostik 455 standardisierte Beurteilungsverfahren 460 standardisierte Interviews 468 standardisierte Untersuchungsverfahren 456 standardisiertes Interview 403 Standardisierung 460 Standards 972 Standardversorgungsgebiet 940 State-Marker 50 stationäre psychodynamische Psychotherapie 735 stationäre Psychotherapie 735 Stereotyp 954 Stereotypien 443 Steroide 193 Steroidresistenz 188 Stichprobe 358 – Selektion 358 Stichprobenauswahl 359 Stichprobengröße 358 Stigma 271 stoische Lebenseinstellung 693 Störung 35 Störungsmodelle 38, 824 Stressbelastung 293 – Frauen 293 Stressmodell 281 – soziogenetisches 281 Stressoren 281 Struktur 258 Strukturdynamik 21 strukturiertes Interview 405 Strukturqualität 987 Stufenpläne 999 Stupor 443 subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE) 569 – MRT 569 Suchtanamnese 416 Suchterkrankungen 150 – Bildgebung 150 – Dopaminfreisetzung 150 Suggestibilität 782 Suggestion 701 Suizidalität 330, 332, 451, 959 – Basisrisiko 959 – kulturvergleichende Bewertung 332 – transkulturelle Aspekte 330 Suizidprävention 958 Suizidraten 331 Suizidtraditionen 333 Suizidversuche 332 supportive Psychotherapie 691, 694, 698, 699 – Indikationsspektrum 698 – Kontraindikationen 699 – Verfahrensweisen 699 Susto 335 Suszeptibilitätsgene 76, 82 Symptome ersten Ranges 385
P–T
Symptome zweiten Ranges 385 Synapse 598 systematische Reviews 973, 974 systematische Schizophrenien 386 systematische Verhaltensbeobachtung 456, 476 systematischer Wahn 447 systemische Psychotherapie 815, 830, 838 – Anwendungsbereiche 838 – Evaluation 838 – Heidelberger Gruppe 816 – Mailänder Gruppe 816 – Palo Alto Gruppe 816 – Setting 830 Systemtheorie 259, 817
T Tageskliniken 948 tagesstrukturierende Maßnahmen 953 Taijin Kyofu 333 TDM 524 – Antidepressiva 524 – Antipsychotika 524 – Clozapin 524 Teilhabe 890 Tellenbach 314 Temperamentsunterschiede 240 temporolimbische Strukturen 135 Testdiagnostik 483, 488 – Aggravation 489 – Indikationen 488 – Simulation 489 – Störeinflüsse 489 Tests für Altgedächtnis 499 Testtheorie 486 T-Gedächtniszellen 196 Theatralik 443 thematischer Apperzeptionstest 503 Therapeutencompliance 750 Therapeutische Bereiche 526 therapeutische Beziehung 749, 850 therapeutische Grundeinstellung 693 therapeutisches Drugmonitoring (TDM) 511, 522, 525, 526 – Indikationen 522 – Konsensusleitlinien 526 – Lithium 525 – Phasenprophylaktika 525 Therapeut-Patient-Beziehung 749 Therapiealgorithmen 980 Therapieempfehlungen 975 Therapieforschung 352, 353 Therapiestudien 354, 357 – Einflussgrößen 357 tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 724 tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie 727 tiefenpsychologische Paar- und Familientherapie 728 T-Lymphozyten 195 TMS 684
1012
Sachverzeichnis Band 1
– Indikation 685 – Nebenwirkungen 685 – praktische Durchführung 685 – Wirkmechanismus 684 TNF-α 197, 198 Todesrezeptor 174 Token-Test 496 TPHA 513 Train-and-place-Ansatz 877 Trait-Marker 50 Trance 334 Trancezustände 334 Tranquilizer 616, 638 – Wirkungsmechanismen 616 Transduktionsmechanismen 170 transkranielle Magnetstimulation (TMS) 683 Transkriptionsfaktoren 172, 175 Transkriptionskopplung 174 transkulturelle Aspekte 319 Transmitterfreisetzung 599 Transmittersynthese 599 traumatisierende Lebensereignisse 249 Tremorformen 426 TRH-Stimulationstest 191 triadische Anordnung 376 triadische Gesamtstruktur 380 triadisches System 382 Trizyklika 631 – Nebenwirkungen 631 Typus melancholicus 314
U Übergangsrituale 829 Über-Ich 255 Übertragung 710, 711 Übertragungsformen 712 Übertragungsneurose 717 überwertige Idee 447 Ultraschalldiagnostik 431 – Indikationen 432 unspezifische Einflussfaktoren 364 Untersuchung 420 – allgemeinmedizinische 420 – neurologische 420 Utilisationsansatz 791
V Vagusnervstimulation (VNS) 685 – Indikation 686 – Nebenwirkungen 686 – praktische Durchführung 686 – Wirkmechanismus 686 Validierungskriterien 37 Validität 60, 457, 486 Validitätsstudien 468 Valproinsäure 611 – Wirkungsmechanismus 611
vaskuläre Demenz 537 – EEG 537 vasomotorisches Feedback 804 vegetativ-autonome Funktionen 221 vegetative Symptome 452 verbale Gedächtnistests 498 Verbalteil 491 Verblindung 356 Verfälschungstendenzen 463 Verhaltens- und Kognitionsmodell 252 Verhaltensanalyse 747 Verhaltensbeobachtung 749 Verhaltensmedizin 747 verhaltenstherapeutische Methodik 747 Verhaltenstherapie 252, 743, 750 – Anwendungsspektrum 751 – Indikationsbereiche 753 – Nebenwirkungen 750 – therapeutische Techniken 750 – wissenschaftliche Evidenz 752 Verlaufsbeschreibung 465 Verlaufsdiagnostik 44 – Krankheitsbeginn 44 – psychopathologische 45 – Remission 44 Verlaufsformen 42 Vernachlässigung 249 Versorgungsansatz 946 – dynamischer 946 Versorgungskosten 959 Versorgungsleitlinien 939 – gesundheitspolitische 939 Versorgungsstrukturen 937 – Geschichte 938 Versorgungssystem 947 – Inanspruchnahme 947 Verstehen 440, 822 Verstehensgrenzen 379 Verstehenskonzepte 823 Verweildauer 946 Verwirrtheit 378 Vigilanz 494 Vigilanzstadien 533 visuelle Konstruktion 495 visuelle Wahrnehmung 495 visueller Neglekt 495 Visumotoriktests 494 Vitalgefühle 449 Vulnerabilität 247, 249 Vulnerabilitätsmarker 49 Vulnerabilitäts-Resilienz-Modell 247 Vulnerabilitäts-Stress-Modell 41, 43, 768 – Verhaltenstherapie 768 Vulnerabilität-Stress-Coping-Modell 875
W Wahn 326, 446 – kulturelle Ausdrucksvarianten 326 Wahneinfall 447 Wahnstimmung 447 Wahnsymptome 447 Wahnthemen 447
Wahnwahrnehmungen 447 Wahrnehmung 495 Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE) 490 Wechsler-Intelligenztests 490 Wechsler Memory Scale (WMS) 497 Weltentwurf 312 Werkstätten für Behinderte 953 Wernicke 14, 377, 386 Wernicke-Enzephalopathie 115 Wernicke-Enzephalopathie (WE) 576 – MRT 576 WHO Quality of Life Assessment 66 WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule 65 Widerstand 713 Widerstände 711 Wille 450 Wisconsin Card Sorting Test 500 Wohnsitzlosigkeit 955 Wortschatztests 492 Wunderfrage 834
Y Y-BOCS 462
Z Zahlen-Symbol-Test 494 Zahlen-Verbindungs-Tests 495 Zeitreihenplan 362 zerebrovaskuläre Störungen 567 Zerfahrenheit 446 Zertifizierung 1000 zirkuläre Befragung 831 Zirkularität 825, 827 Zoenästhesien 448 Zolpidem 642 Zopiclon 642 Zufriedenheitsstudien 295 Zwangsneurosen 730 Zwangsstörungen 333 – transkulturelle Aspekte 333 Zwangssymptome 446 Zwei-Kammern-Setting 830 zykloide Psychosen 386, 387 Zytochrom P-450 589 Zytokine 196, 199 Zytokinsystem 197
1013 Sachverzeichnis Band 2
Sachverzeichnis Band 2
A Abhängigkeitssyndrom 146 Abwehrmechanismen 510 Acamprosat 159, 161 ACE-Hemmer 529 ADHS 924, 1162 – Ätiopathogenese 924, 1164 – Basisuntersuchungen 1169 – Bildgebung 926 – Diagnose 933 – Diagnosekriterien 930 – Diagnostik 932, 1168 – Differenzialdiagnose 1170 – Epidemiologie 924 – Neuropsychologie 927 – Pharmakotherapie 936 – Prognose 934 – Psychotherapie 940 – Subtypen 930 – Symptomatologie 929, 1166 – Symptomskalen 933 – Therapie 935, 1171 – Umweltfaktoren 929 – Verlauf 934, 1166 – Wender-Utah-Kriterien 931 Affektdelikte 1354, 1355 Affektive Störungen 392 – Einteilung 394 – Historische Entwicklung 392 – Klassifikation 394 Agoraphobie 579, 596 – Diagnostische Kriterien 601 – Expositionstherapie 611 – Psychotherapie 609 AIDS 116 AIDS-Demenz-Komplex 25, 120 »AIDS mania« 121 Akathisie 325 Aktenstudium 1370 Aktometrie 978 Akustische Halluzinosen 105 Akute Angst- und Panikstörung 1321 Akute Belastungsstörung – Diagnostische Kriterien 696 Akute Dystonie 1332 Akute polymorphe psychotische Störung 375 Akute vorübergehende Psychosen 360 Akute vorübergehende psychotische Störungen 372, 375, 377 – Therapie 378 Akutes Massentrauma 699 Akuttrauma 699 Alexithymie 810 Alkohol 147, 165
– Interaktionen 165 – Pro-Kopf-Verbrauch 147 Alkoholabhängigkeit 146, 152 – Antidepressiva 163 – Buspiron 164 – Lithium 164 – Pharmakotherapie 158 – Therapie 152, 154 Alkoholabusus – Erkrankungen 170 Alkoholdelir 168, 171, 173 – Behandlung 173 Alkoholdemenz 180 Alkoholentzugssyndrom 168, 169, 173 – Behandlung 173 – Benzodiazepine 174 – Protrahiertes 176 Alkoholepilepsie 185 Alkoholhalluzinose 181 Alkoholiker 157, 177 – Prädiktoren 157 – Testverfahren 177 – Therapieerfolge 157 Alkoholinduzierte Störungen 145 Alkoholintoxikation 166, 167 Alkoholische Kleinhirnatrophie 184 Alkoholische Myelopathie 184 Alkoholische Myopathien 183 Alkoholischer Eifersuchtswahn 182 Alkoholismus 148 – Ätiopathogenese 150 – Depression 149 – Genetische Befunde 150 – Komorbidität 148 Alkoholmissbrauch 145 – Epidemiologie 146 Allgemeinbevölkerung – Psychische Morbidität 1269 Alpträume 999, 1001 Altenbevölkerung 1246 Alternativpsychosen 128, 131 Altersdepressionen 412, 417, 448, 1247, 1249 – Psychotherapie 448 – Therapie 1249 – Untersuchung 1249 Alzheimer – Neuropathologie 30 Alzheimer-Demenz (AD) 27, 68 – Ätiologie 28 – Bildgebung 39 – Diagnose 37 – Diagnostische Kriterien 38 – Differenzialdiagnose 37 – Epidemiologie 27 – Hippokampusformation 72 – Klinisches Bild 35 – MRT 68
– Positivmarker 72 – Positronenemissionstomografie (PET) 70 – Prognose 37 – Risikofaktoren 27 – Therapie 41 Ambivalenz 275 Amisulprid 301 Amnestisches Syndrom 179 Amphetamine 214, 1331 Amphetamin-Saft 939 Amygdala 584, 585, 840 β-Amyloid 31, 67 Amyloidangiopathie 65 anabole Steroide – Missbrauch 234 Anankastische Persönlichkeitsstörung 1065, 1082 androgene Steroide 234 angel dust 220 Angst 514 – Medikamente 514 – Somatische Krankheit 514 – substanzinduziert 1322 Angstanfall – Psychodynamik 581 Angst-Glücks-Psychose 374 Angstkonflikte 509 Ängstlich/vermeidende Persönlichkeitsstörung 1054, 1066, 1082 Angstneurose 568 Angstskalen 603 Angststörungen 507, 1182, 1257 – Ätiopathogenese 508, 572 – Definition 568 – Diagnostik 600 – Differenzialdiagnose 600 – Epidemiologie 569 – Genetische Modelle 580 – im Alter 1257 – Kindes- und Jugendalter 1182 – Kombinationsbehandlung 613 – Komorbidität 598 – körperliche Krankheiten 508 – Modelle 577 – Neurobiologische Modelle 582 – Neuroendokrines Modell 588 – Neurotransmitter-/Rezeptormodelle 586 – Persönlichkeitsmodelle 572 – pharmakogene 604 – Pharmakotherapie 605, 616 – Prävalenz 507, 570 – Prävalenzraten 570 – Prognose 598 – Psychotherapie 609, 616 – Risikofaktoren 574 – Somatische Krankheiten 604 – Verlauf 598 Angstzustände – Somatische Ursachen 1258
A
1014
Sachverzeichnis Band 2
Anhaltende wahnhafte Störungen 380 – Akuttherapie 382 – Langzeittherapie 382 – Psychotherapie 383 Anonyme Alkoholiker 154 Anorexia nervosa 951, 959, 960 – Diagnose 961 – Diagnostische Kriterien 951 – Prognose 960 – Symptomatologie 959 – Therapie 961, 963 – Verlauf 960 Anpassungsstörung 661, 665, 691 – Diagnose 695 – Diagnostische Kriterien 695 – Epidemiologie 665 – Modell 670 – Symptomatologie 691 – Therapie 697 – Verlauf 693 Anticholinergika 324 Anti-craving-Substanzen 159, 160 Antidementiva – Übersicht 1416 Antidepressiva 423, 521, 1415 – Akuttherapie 426 – Altersdepressionen 437 – Atypische 425 – Einteilung 424 – Entwicklungsgeschichte 426 – Interaktionen 434, 435 – Kombinationstherapien 440 – Kontraindikationen 434 – Nebenwirkungen 432, 521 – Noradrenalin- und serotoninselektive 424 – Responseprädiktoren 428 – Rezidivprophylaxe 430 – Schwangerschaft 437, 1241 – Selektivität 425 – Serotoninselektive 424 – Suizidversuche 1301 – teratogene Effekte 1241 – Toxizität 434 – Trizyklische 423 – Übersicht 1415 – Unerwünschte Wirkungen 431 – Wechselwirkungen 521 – Wirklatenz 428 – Wirkpotenz 427 – Zytochrom-P 450-Isoenzyme 524 Antiepileptika 130, 133 Antihistaminika 985 Antikonvulsiva 490 – Interaktionen 492 Antipsychotika 321 – Dosierung 321 – Übersicht 1416 Antipsychotika der 1. Generation 297 Antipsychotika der 2. Generation 297 Antisoziale Persönlichkeitsstörung 1050 Aphasie – Globale 6 ApoE-Gen 29 Apraxie 7 Artifizielle Störungen 904, 917 – Ätiopathogenese 908
– Begriffsbestimmung 904 – Diagnostik 914 – Differenzialdiagnose 914 – Epidemiologie 906 – Juristische Aspekte 919 – Klinische Indikatoren 915 – Konsiliardienst 917 – Prävalenz 907 – Psychodynamische Aspekte 908 – Symptomatologie 911 – Synonyme 906 – Therapie 917 – Verdachtsmomente 914 – Verlauf 915 Artikulationsstörung 1127 Ärztliches Gespräch 831 Ärztliches Zeugnis 1366 Arzt-Patienten-Beziehung 831, 1273 Asperger-Syndrom 1154, 1155 Asthma bronchiale 539 Atomoxetin 939, 1173 Atypische Depression 412 Aufbewahrungsfristen 1388 Aufklärung 1381 – alternative Behandlungsmöglichkeiten 1383 – Fachinformation 1383 – Gebrauchsinformation 1383 – Heilversuch 1383 – Modalitäten 1384 – Off-label-Gebrauch 1383 – Wirtschaftliche 1383 Aufmerksamkeit 5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 924, 1162 – Ätiopathogenese 924, 1163 – Epidemiologie 924, 1163 Augmentationsstrategien 440 Aussagepsychologie 1349 Autistische Psychopathie 1154
B »Baby blues« 1226 BADO 1387 Barbiturate 227 Basisdokumentation 1387 Basisstörungen 271 Basissymptome 264 Beck-Depressionsinventar 502 Begutachtung 1370 Begutachtungsleitlinien 1392 – Kraftfahrereignung 1392 Behandlungsdokumentation 1387 Behandlungsleitlinien 1389 Belastungsstörung 662 – Akute 662 – Posttraumatische 662 – Subtypen 662 Benzodiazepine 223, 224, 520, 709 – Amnestisches Syndrom 227 – Entzugssymptome 226 Benzodiazepinrezeptor 587
Berufsunfähigkeit 1368 Beschwerdestil 830 Betreuungsrecht 1363 Beurteilungsskalen 1411 Bevölkerungsstatistik 1246 Bewusstseinsstörungen 1322 – Untersuchungsgang 1324 – Ursachen 1323 Bindungsstörung 1188 Binge Eating Disorder 953 – Diagnostische Kriterien 953 Bipolare affektive Störungen – Ätiopathogenese 473 – Definition 472 – EbM-Box 494 – Epidemiologie 472 – Kognitive Verhaltenstherapie 493 – Leitlinien 493 – Prävalenz 473 – Prognose 478 – Psychoedukation 493 – Rezidivprophylaxe 484 – Verlauf 478 Bipolare Depression – Behandlung 483 Bipolares Spektrum 472 Blutbildungsstörungen 1333 Body-mass-Index (BMI) 960 Borderline-Persönlichkeitsstörung 1061, 1046, 1075 – Antidepressiva 1080 – Dialektisch behaviorale Therapie 1075 – Mood-Stabilizer 1081 – Neuroleptika 1079 – Psychotherapie 1075 Bouffée délirante 374 Brandstiftung 1357 Brief Psychosis 376 Broca-Aphasie 6 Bruxismus 999, 1001 BUB-Richtlinien 206 Bulimia nervosa 959, 960, 961 – Ätiopathogenese 952 – Diagnose 961 – Diagnostische Kriterien 952 – Therapie 961 Bulimie – Behandlungsziele 963 – Therapeutische Interventionen 963 Buprenorphin 197, 208 Bupropion 249, 940 Buspiron 164
C CADASIL 64 Cannabinoide 192 Cannabis 1332 Cannabisabhängigkeit 195 cannabisassoziierte Psychosen 195 Cannabisintoxikation 194 Capgras-Syndrom 7, 384 Carbamazepin 164, 175, 490
1015 Sachverzeichnis Band 2
– teratogene Wirkung 1240 CBASP 447 CERAD-Testbatterie 19 CFS 848 Charakter 1032 Charles-Bonnet-Syndrom 104 Chloralhydrat 985 Cholinesterasehemmer 42 Chorea Huntington 56 Chromosomenaberrationen 1109 chronic fatigue syndrome 848 Chronisch subdurales Hämatom 26 Chronische schizophrene Störungen 1254 chronisches Müdigkeitssyndrom 848 – Anamneseerhebung 856 – ätiologische Faktoren 853 – Diagnostische Kriterien 856 – Therapie 857 Chronisches Schmerzsyndrom 833 Circumplexmodell 1041 Clomethiazol 174, 229, 1327, 1328 Clomipramin 650 Clonidin 176 Clozapin 123, 297 C-/L-Psychiatrie 1264 Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy 447 COPD 539 Cotard-Syndrom 385, 1255 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit 57, 59
D Dämmerzustände 1323 Debilität 1104 Debriefing 700 Delir 88, 168, 1325 – Ätiopathogenese 88 – Diagnose 89 – Diagnostische Kriterien 89 – Epidemiologie 88 – Pharmakotherapie 90 – Postoperatives 1327 – Symptomatologie 88 – Therapie 90, 1326 – Ursachen 1326 – Zentral-anticholinerges 1329 Delirantes Syndrom 16, 17 Demenz mit Lewy-Körperchen 50 Demenzen 14, 36 – behandelbare 22 – bei Parkinson-Krankheit 51 – Beurteilungsinstrumente 20 – Blutanalysen 21 – Diagnose 15 – Differenzialdiagnose 23 – Differenzialdiagnostik 15 – Einteilung 14 – Epidemiologie 14 – Liquoruntersuchung 23, 40 – Pharmakotherapie 42 – primäre 14 – Psychometrie 18
– reversible 21 – Screeningverfahren 18 – sekundäre 14 – Symptome 36 – Testbatterien 19 – Ursachen 21 Dependente Persönlichkeitsstörung 1068, 1083 Depersonalisation 274, 742, 744, 753 – Neurobiologie 734 – Therapie 753 Depersonalisationsstörung 745 Depotantipsychotika – Dosierung 321 Depressionen 105, 289, 326, 395, 429, 451 – Begleittherapien 451 – Begriffsbestimmung 393 – Chronifizierung 421 – Chronischer Schmerz 511 – Dialyse 544 – Differenzialdiagnose 419 – Elektrokonvulsionstherapie 443 – Immunsystem 526 – kardiovaskuläre Erkrankung 526 – kognitive Therapie 444, 445 – kognitive Verhaltenstherapie 444 – Kombinationsbehandlungen 449 – larvierte 836 – Leitlinien 451 – Niereninsuffizienz 544 – organische Ursachen 105 – pharmakogene 326, 512 – postpartale 1227 – postschizophrene 289, 290 – Prognose 421 – Psychopharmakotherapie 423 – Psychotherapie 443 – Rezidivprophylaxe 429 – Schmerz 838 – stationäre Aufnahme 451 – Suizidrisiko 421 – symptomatische 515 – Symptome 411 – Therapie 423 – therapieresistente 438, 439, 441 – Tumorerkrankung 547 – Verhaltenstherapie 444 Depression-Executive-Dysfunction-Syndrom 1248 Depressionsformen 412 Depressionsinduktion 511 Depressionssubtypen 415 Depressionstherapie – EbM-Box 455 Depressionsverschlüsselungen 414 Depressiv-ängstliche Störung – diagnostische Spezifizierung 518 Depressive Episode 410 – Diagnosekriterien 415 depressive Erkrankungen – Bedeutung 396 depressive Pseudodemenz 419 Depressive Störungen 409 – Ätiopathogenese 402 – Chronobiologische Faktoren 405 – Definition 400
– – – – – – – – – – – – – –
A–D
diagnostische Kriterien 416 Epidemiologie 400 Kognitiv-behaviorales Modell 408 Kombinationstherapie 450 Komorbidität 422 Neurobiologische Faktoren 402 Neuroendokrinologische Befunde 404 Neuropsychologie 408 Paar- und Familientherapie 448 Paarbeziehung 409 Persönlichkeitsfaktoren 408 Prävalenz 507 Psychobiologische Faktoren 409 Psychodynamisch-psychoanalytische Modelle 406 – Psychologische Faktoren 405 – Psychopharmakotherapie 423 – Psychotherapie 443 – Risikofaktoren 406 – Soziotherapie 450 – Suizidrisiko 410 – Symptomatologie 410 – Therapie 423 – Verlauf 420 Derealisation 742 – Therapie 753 Dermatozoenwahn 106, 384 Diabetes mellitus 536 – Depression 537 Diagnoseaufklärung 1382 Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) 1075 Diogenes-Syndrom 104 Disability 1368 Dissexualität 1026 Dissoziale Persönlichkeitsstörung 1060 dissoziale Störungen 1174 – Jugendliche 1174 – Kinder 1174 Dissoziationsbegriff 726 Dissoziative Amnesie 96, 738 – Ätiopathogenese 739 – Diagnose 740 – Epidemiologie 738 – Symptomatologie 740 – Verlauf 740 Dissoziative Fugue 741 Dissoziative Identitätsstörung 745, 749, 754 Dissoziative Phänomene 727 Dissoziative Störungen 724, 727 – Ätiopathogenese 729 – Epidemiologie 728 – Forensische Aspekte 757 – Historische Entwicklung 724 – Neurobiologie 730 – Prävalenz 729 – Therapie 752 Dissoziative Trancestörungen 751 Disulfiram-Alkohol-Reaktion 157 Diuretika – Missbrauch 235 Dokumentation 1385 – Ärztliche 1387 – Nichtärztliche 1387 Donepezil 43, 44, 65, 1416 Dopamin-D2-Rezeptorbesetzung 299
1016
Sachverzeichnis Band 2
Doppelgängersyndrom 385 Double-bind-Theorie 267 Down-Syndrom 1107 Drogenabhängigkeit – Epidemiologie 188 – Psychotherapie 190 Drogenentwöhnungstherapien 191 Drogennotfälle 1329 Dysthymia – Diagnosekriterien 418 Dysthymie 409
E Ecstasy 219 Ecstasyintoxikation 219, 1331 Eifersuchtswahn 383 Einwilligungsfähigkeit 1364 Einwilligungsvorbehalt 1363 Elektiver Mutismus 1186 EMDR 706 Enkopresis 1201 – Therapie 1204 Enkopresisdiagnostik 1204 Entwicklungsdyspraxie 1143 Entwicklungsstörungen 1120 – Klassifikation 1121 – Ursachen 1237 Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen 1142 Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache 1125 Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten 1133 – Therapie 1141 Entzugsdelir – Psychopharmakotherapie 1328 Enuresis 1194 – Antidepressiva 1200 – Ätiopathogenese 1194 – Definition 1194 – Diagnostik 1197 – Epidemiologie 1194 – Pharmakotherapie 1200 – Subtypen 1196 – Symptomatologie 1196 – Therapie 1199 – Verlauf 1197 Enuresisdiagnostik 1198 Epilepsieassoziierte Psychosen 128, 130, 134 Epilepsien 126, 128 – Begriffsdefinition 127 – Epidemiologie 128 – Klinik 128 – Therapie 131 epileptische Wesensänderung 126 Erhebungsinstrumente – standardisierte 10 Ernährungstagebuch 967 Erotomanie 384 Erregungszustände 1313 – Behandlungsprinzipien 1315 Ersatzeinwilligung 1365
Erwerbsminderung 1368 Essen – Soziokulturelle Faktoren 953 Essstörungen 950 – Ätiopathogenese 952 – Begriffsbestimmung 950 – Biologische Faktoren 954 – Diagnostische Kriterien 952 – Epidemiologie 950 – Genetik 954 Essverhalten 957 Exekutive Funktionen 7 Exhibitionismus 1351 Expositionstherapie 611 Expressed-emotion-Konzept 267 Expressive Sprachstörung 1128 Extremstress 680 – Dissoziative Veränderung 680 – Neuronale Mechanismen 689 – zerebrale Informationsverarbeitung 680
F Fachzeitschriften 1413 Fagerström-Test 230, 247 Fahrerlaubnisklassen 1392 Fahrtauglichkeit 1392, 1398 – Antidepressiva 1399 – Antipsychotika 1399 – Begutachtung 1392 – Psychopharmaka 1398 – Rechtliche Rahmenbedingungen 1392 – Tranquilizer 1399 Fahrtüchtigkeit 1393 – Affektive Psychosen 1396 – Alkohol 1396 – Beratung 1400 – Leistungsanforderungen 1393 – schizophrene Psychosen 1396 – Testverfahren 1393, 1394 Fentanyl 197 Fertigkeitentraining 1076 Fibromyalgie 841 – Ätiopathogenese 842 flash-backs 218 flooding 610 Flunitrazepam 984 Forensische Psychiatrie 1340 – Prognoseinstrumente 1347 – Prognosekonzepte 1346 – Risikovariablen 1348 Forensisches Setting 1359 Formale Denkstörungen 274 Fremdbeurteilungsskalen 1411 Frontotemporale Degeneration 52 Frontotemporale Demenz 53 Frühdyskinesien 324, 1332 Frühe posttraumatische Krise 698 Frühinterventionsstrategie 322 Frühkindlicher Autismus 1153, 1154, 1156 funktionelle Beschwerden – Prävalenz 823 Funktionelle somatische Syndrome 824 funktionelle Störungen 822
– Ätiopathogenese 824 funktionelle Syndrome – Verlauf 829 Furcht 568 Furchtaffekt 584
G Galantamin 44, 45, 65, 1416 Ganser-Syndrom 751 Geburtsvorbereitung 1242 Gedächtnis 5, 739 – declaratives 5 – episodisches 6 – semantisches 6 Geistig Behinderte 1105 Gelernte Hilflosigkeit 407 Gemischt-schizoaffektive Episode 365 Generalisierte Angststörung 569, 571, 575, 579, 591, 596, 599 – Diagnostische Kriterien 602 – Pharmakotherapie 607 Geschäftsunfähigkeit 1361 Geschlechtsidentität 1020 Geschlechtsidentitätsstörungen 1021 – Ätiopathogenese 1021 – Prognose 1022 – Symptomatologie 1022 – Therapie 1024 – Verlauf 1022 Geschwisterrivalität 1185 Gesetze 1409 – § 126a StPO 1409 – § 1896 BGB 1409 – § 1904 BGB 1409 – § 20 StGB 1409 – § 21 StGB 1409 – § 63 StGB 1409 – § 64 StGB 1409 Gesundheitsängste 861 Gewichtsvertrag 965 Gilles-de-la-Tourette-Syndrom 1190, 1191 Ginkgo Biloba 46, 47, 1416 Grad der Behinderung (GdB) 1368 Grenzdebilität 1104 Gutachten – schriftliches 1371 Gutachtenerstattung 1373 Gutachtenerstellung 1369 Gutachterdarstellung 1374
H Halluzinationen 273 Halluzinogene 216, 1332 Halluzinogeninduzierte Halluzinose 217 Handicap 1368 Hashimoto-Enzephalitis 24 hebephrene/desorganisierte Schizophrenie – Diagnostische Kriterien 289
1017 Sachverzeichnis Band 2
Hebephrenes Syndrom 277 Heimliche Selbstmisshandlung 904 Hepatische Enzephalopathien 180 Hepatitis C 542 Heroin 197, 198 Herpes-Enzephalitis 25 Heultage 1226 Histrionische Persönlichkeitsstörung 1063, 1079 HIV-Epidemie 118 HIV-Erkrankung 116 – Klinik 119 HIV-induzierte affektive Störungen 121, 123 HIV-induzierte schizophreniforme Psychosen 122 HIV-Therapie 122, 126 Hormonersatztherapie 1223 Hypersomnien 988 Hypnotika 222, 984, 985 – Abhängigkeit 222 – Missbrauch 222 – Übersicht 1414 Hypnotisierbarkeit 738 Hypochondrie 859 – Arzt-Patienten-Beziehung 862 – Ätiopathogenese 860 – Definition 859 – Diagnostik 864 – Differenzialdiagnose 865 – Epidemiologie 859 – Irrationale Annahmen 866 – kognitive Verhaltenstherapie 866 – Symptomatologie 863 – Therapie 866 Hypochondriemessung 865 Hypokortisolismus 688 Hypomanie – Diagnosekriterien 476
I ICF 1368 Ich-Stärke 671 ideomotorische Apraxie 1144 Iktale Psychosen 128, 131 Imbezillität 1105 Impulskontrollstörungen 1096 – Ätiopathogenese 1097 – Charakteristika 1097 – Diagnostik 1098 – Epidemiologie 1096 – Therapie 1098 Impulstaten 1356 Inhalanzien 221 Insomnien 975, 987 – Definition 975 – Diagnostik 978 – Nichtorganische 975 – organische Erkrankung 987 – Symptomatologie 975 – Therapie 978 – Therapieverfahren 980
Intelligenz – Klassifikation 1104 Intelligenzminderung 1104 – Ätiologie 1106 – Chromosomenaberrationen 1107 – Diagnostik 1110 – Epidemiologie 1106 – Rehabilitation 1114 – Testverfahren 1112 – Therapie 1114 interiktale depressive Störung (IDS) 129 Interpersonelle Psychotherapie (IPT) 446 Intrusion 691 Intrusionsphase 518 IPT 446
J Jet lag 996, 998 Johanniskraut 125, 531 Jugendrecht 1349
K Kanner-Autismus 1153 Kataplexie 993 katatone Schizophrenie – Diagnostische Kriterien 289 Katatones Syndrom 277 Kataton-stuporöse Zustände 1325 Kleine-Levin-Syndrom 995 Kleptomanie 1357 Klimakterische Beschwerden 1222 Klimakterium 1222 Klinefelter-Syndrom 1107 Kodein 197 Koffein 215 Koffeinintoxikation 216 Kognitive Störungen 5 Kokain 210, 1332 Kokaindelir 213 Kokainentzugssyndrom 213 Kokainintoxikation 211 Kokainschock 1332 Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie 1264 – Notfallpsychiatrische Situationen 1272 – Risikopatienten 1274 – Somatisierungssyndrome 1272 Konsiliarbericht 1274 Konsiliardienst – Psychopharmakotherapie 1275 – Psychotherapie 1276 Konsiliarpsychiater 1273 Konsil-Typen 1273 Konstruktive Apraxie 1144 Konsultation 1267 Konsultationsmodell 1268 Kontraindikationen 330 Konversion – Schmerz 836
D–L
Konversionsmechanismus 789 Konversionsstörung 787 – Ätiopathogenese 788 – Biopsychosoziale Konzeptualisierung 804 – Definition 787 – Diagnostik 801 – Epidemiologie 787 – Follow-up-Studien 800 – Prognose 798 – Symptomatologie 794 – Therapie 802 – Verlauf 798 Konversionssymptome 799 Körperdysmorphe Störung 869 – Ätiopathogenese 871 – Definition 869 – Diagnostik 875 – Differenzialdiagnose 875 – Epidemiologie 870 – Hinweisreize 876 – Komorbidität 874 – Psychotherapeutische Ansätze 877 – Symptomatologie 873 – Therapie 877 – Verlauf 873 Korsakow-Syndrom 178 Kortikobasale Degeneration 56 Krankenblattdokumentation 1386 Krankheitsbegriff – Juristischer 1341 Krebserkrankungen 546 Kriegsneurosen 664 Krisen 1308, 1309 – Epidemiologie 1308 Kurze psychotische Störung 376
L LAAM 197 Lamotrigin 490 – teratogene Wirkung 1240 Landau-Kleffner-Syndrom 1121 Langzeitbehandlung – symptomsuppressive 322 larvierte Depression 412 Late-onset schizophrenia 1253 Laxanzien – Missbrauch 235 Lebertransplantation 1272 Leichte kognitive Störung 16, 47, 100, 101, 102 Leistungsträger – sozialrechtliche 1368 Leitlinie nichterholsamer Schlaf 974 Lernbehinderte 1105 Lese- und Rechtschreibstörungen 1136, 1139 Liaison 1268 Liaisonmodell 1268 Lichttherapie 442 Liebeswahn 384 Life-Chart 479, 480
1018
Sachverzeichnis Band 2
Lithium 164, 484, 546, 1240 – Kontraindikationen 486 – Operation 546 – Schwangerschaft 485 – teratogene Wirkung 1240 – Unerwünschte Wirkungen 485, 487 – Untersuchungen 485 Lithiumintoxikation 486, 488 Lithiumprophylaxe 485 Locus coeruleus 583 Lormetazepam 984 LSD 217 L-Tryptophan 985 Lysergsäurediäthylamid (LSD) 217
M Magersüchtig – Endokrine Veränderungen 955 Major Depression 410, 506 – Epidemiologie 506 Malariatherapie 114 Malignes neuroleptisches Syndrom 1333 Manien 476, 1251 – Akutbehandlung 482 – Diagnosekriterien 476 – Differenzialdiagnosen 478 – im Alter 1251 Manische Episode – Symptomatologie 475 Mann-Zeichentest 1145 MAO-Hemmer 425, 433, 708 – Diätvorschriften 434 Marchiafava-Bignami-Syndrom 184 Maßregelvollzug 1344, 1360 Maßregelvollzugspatienten 1358 MDMA 219 Medikation – Psychodynamik 617 Melatonin 985 Memantin 46 Mentalization-based-therapy 1078 Meskalin 219 Methadon 197, 198, 207 Methylphenidat 936, 1172 Mild Cognitive Impairment (MCI) 100 Milieueinfluss 333 Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 1367 minimale zerebrale Dysfunktion 1122 Modafinil 939, 1173 Montgomery-Asberg-Depressionsskala (MADRS) 414 Mood-charting 479 Moodstabilizer 708 Morbidität 1270 – Abhängigkeit 1271 – Affektive Störungen 1270 – Missbrauch 1271 Morbus Binswanger 64 Morbus Parkinson 533 Morbus Pick 52 Morphin 197, 198, 1331
Morphinintoxikation 1331 Motilitätspsychose 374 Multiinfarktdemenz 64 multiples somatoformes Syndrom 808 Münchhausen by proxy 905 Münchhausen-Syndrom 905 Musikalische Halluzinose 105
N Nächtliche Myoklonien 991 Naltrexon 160, 209 Naltrexonbehandlung 210 Narkolepsie 993 – Diagnostik 994 – Therapie 994 narzisstische Krise 1291 Narzisstische Persönlichkeitsstörung 1069, 1084 nCPAP-Therapie 990 Negativismus 275 Neurasthenie 848 – Ätiopathogenese 849 – Definition 848 – Diagnostische Kriterien 855 – Epidemiologie 848 – Symptomatologie 854 – Verlauf 854 Neurodegeneration 34 Neuroleptika 296, 298, 323 – Antipsychotische Äquivalenzdosen 304 – Blutbildveränderungen 326 – Dopaminrezeptorblockade 298 – Endokrine Störungen 326 – Extrapyramidalmotorische Störungen 323 – Gewichtszunahme 327 – Interaktionen 328 – Kardiovaskuläre Störung 326 – Medikamenteninteraktionen 323 – metabolische Veränderung 327 – Nebenwirkungen 323 – QT-Verlängerungen 326 – Strukturformeln 296 – Therapieresistenz 311 – Übersicht 1416 – Wechselwirkungen 328 – Wirkmechanismen 298 – Wirkprofil 304 Neuroleptika/Antipsychotika der 1. Generation 305 Neuroleptika der 2. Generation 305 Neuroleptikatherapie – Responder 303 – Vorhersagemöglichkeiten 303 Neurosyphilis 110 – Liquordiagnostik 113 – Suchreaktionen 113 Nichtorganische Hypersomnie 994 Nichtorganische Insomnie 976 – Ätiopathogenese 977 – Diagnosekriterien 976 – Epidemiologie 976
– Leitsymptome 976 Nikotin 229, 245 – Entzugssyndrom 231 – Therapie 231 Nikotinabhängigkeit 230, 246 – Diagnostik 246 – Entzugssyndrom 246 – Therapie 247 Nikotinersatztherapeutika 249 Nikotinersatztherapie 232 Nikotinsubstitution 232 Nootropika 47 Normaldruckhydrozephalus (NPH) 25 Notfälle 1308 – Diagnose 1310 – Epidemiologie 1308 – Psychopharmakainduzierte 1332 Notfallpsychiatrie 1308 – Dokumentation 1313 – Grundsätze 1310 – Psychopharmakotherapie 1311 – Rechtliche Aspekte 1311
O Opiatabhängigkeit – Behandlung 205 Opiatentzugssyndrom 202 Opioidderivate 197 Opioide 196 Opioidentzugssyndrom 200 Opioidintoxikation 199 Opipramol 820 Organische affektive Störung 105, 504 Organische Angststörungen 106, 1321 Organische Depression 417 Organische Halluzinosen 104 Organische Persönlichkeitsstörung 103 Organische psychische Störungen 3 – Diagnostik 8 – Epidemiologie 5 – Klassifikation 4 – Symptomatologie 5 Organische wahnhafte Störung 106 Organisches amnestisches Syndrom 94 – Ätiopathogenese 94 – Epidemiologie 94 – Symptomatologie 94 – Therapie 96 Othello-Syndrom 384
P Paartherapie 1011 Pädophilie 1350, 1351 Palliativmedizin 1260 PANDAS 649 Panikattacken – Symptome 595 Panikstörung 576, 578, 581, 589 – Behandlung 1322
1019 Sachverzeichnis Band 2
– Diagnostische Kriterien 601 – Laktathypothese 589 – Pharmakotherapie 605 – Prävalenz 571 – Psychotherapie 609 – Symptomatologie 594 Paniksyndrom – Psychophysiologisches Modell 577 Parakinesen 275 Paranoide Persönlichkeitsstörung 1058 paranoide Schizophrenie – Diagnostische Kriterien 288 Paraphilien 1025 – Ätiopathogenese 1026 – Diagnostik 1027 – Epidemiologie 1026 – Symptomatologie 1027 – Therapie 1028 – Verlauf 1027 Parasomnien 998 – Ätiopathogenese 1000 – Diagnostik 1000 – Epidemiologie 1000 – Leitsymptome 999, 1001 – Therapie 1000 – Therapieverfahren 1001 Parasuizidale Handlung 1293 Parasuizidale Verhaltensweisen 1292 Parathymie 275 Parkinson 534 – Angststörungen 535 – depressive Störungen 534 Parkinson Depression 534 Parkinsonoid 324 Paroxetin 530 Pathologische Trauer 662 Pathologischer Rausch 167 Pathologisches Glücksspiel 1357 Pavor nocturnus 687, 999, 1001 PCP 220 Penicillin 115 Pentazocin 198 Perimenopausale psychische Störungen 1222 Perimenopause 1222 periodische Beinbewegungen 991 Persönlichkeitsstil 1072 Persönlichkeitsstörungen 1032, 1033 – Ätiopathogenese 1039 – biologisches Modell 1042 – biopsychosoziales Modell 1042 – Circumplexmodell 1039, 1041 – Cluster A 1035 – Cluster B 1035 – Cluster C 1035 – Definitionen 1032 – Diagnostik 1037 – Epidemiologie 1038 – Komorbidität 1055 – Schizotypische 1043 – SCID II 1037 – soziologisches Modell 1041 – Spektrummodell 1040 – Therapie 1071 – Typologien 1033, 1036 – Verlaufsstudien 1056
Perversion 1026 Pethidin 197, 198 Pharmakoökonomie 441 Phenylcyclidin 220 Phobien 569, 570 – Kindesalter 1183 Phobische Störungen – Kindesalter 1183 Phytopharmaka 425 Poltern 1129 Polyneuropathie – alkoholinduzierte 183 Polysomnografie 975 Polyvagale Emotionstheorie 685 post stroke depression 532 Postiktale Psychosen 128, 131 Postpartale Angst- und Zwangsstörungen 1228 Postpartale Belastungsstörungen 1229 Postpartale Depressionen 1227 Postpartale psychische Störungen 1225 Postpartale Psychose 1230 Posttraumatische Belastungsstörung 663, 691, 702 – Ätiopathogenese 670 – behaviorale 675 – Diagnostische Kriterien 696 – Häufigkeit 666 – hirnstrukturelle Veränderungen 690 – kognitive Modelle 675 – Neurotransmitterdysfunktionen 683 – Psychodynamisches Modell 672 – Risikofaktoren 669 – Symptomatologie 691 – Therapie 702 – Verlauf 693 Posttraumatische Informationsverarbeitung 682 Prämenstruelle dysphorische Störung 438, 1219 – Kriterien 1221 – Therapie 1221 prämenstruelles Syndrom 1218 präsuizidales Syndrom 1293 Prävalenz – psychische Störungen 1269 Presenilin 29 Primärpersönlichkeit – hysterische 790 Prionenerkrankungen 57 progressive Aphasie 54 progressive Paralyse 112, 114 Progressive supranukleäre Blickparese (PSP) 56 Propoxyphen 197, 198 Prozessunfähigkeit 1362 Prüfung – kognitive Funktionen 9 Pseudodemenz 16 Pseudotherapieresistenz 441 Psychiatrische Karte 1404 – Adressen 1405 – Fachgesellschaften 1405 psychische Erkrankungen – Prävalenz 148 psychodelische Substanzen 216
Psychoedukation 337 psychogene Anfälle 797 Psychogene Psychosen 374 psychogenes Schmerzsyndrom 835 psycho-organische Symptome ersten Ranges 3 psycho-organische Symptome zweiten Ranges 3 Psychopathie 1032 Psychopathy-Konzept 1060 Psychopharmaka 1414 – Teratogenität 1237 Psychopharmakaübersicht 1414 Psychosomatische Medizin 1264 Psychostimulanzien 215, 936 – Entzugssyndrome 215 – Intoxikationen 215 psychotische Störungen – Differenzialdiagnose 358 PTSD 662, 703 – Coping-Strategien 677 – Diagnostische Kriterien 678 – Faktoren 667 – genetische Disposition 677 – neurobiologische Modelle 677 – Pharmakotherapie 707 – Psychotherapie 703 – Risiko 667 – Schlafstörungen 686
Q Querulantenwahn 384
R Rauchen 244, 245 – Folgeerkrankungen 245 Raucherentwöhnung 233 Rauschdrogen – Intoxikationssymptome 1330 Rauschgifttote 189 Rauschmittelintoxikation 1316 Rauschzustände 166 Reaktive Bindungsstörung 1188 Reaktive Psychosen 374 Rechenstörung 1136, 1140 Reduktionsdiäten 957 Reizüberflutung 610 Residuales Syndrom 277 Resilienz 668 Restless-legs-Syndrom 991 – Behandlung 992 Retrieval-Störung 688 Rett-Syndrom 1155 Rezeptive Sprachstörung 1128 rezidivierende kurze depressive Störungen 413 Rezidivprophylaxe 320 Risikoaufklärung 1382, 1384
L–R
1020
Sachverzeichnis Band 2
Rivastigmin 43, 45, 1416 Rückfallprognosen 1345
S Sadismus 1351 Sadomasochismus 1351 Saisonale Depression 417 »Schädlicher Gebrauch« 145 Schemafokussierte kognitive Therapie 1077 Schichtarbeit 996, 998 Schizoaffektive Psychosen 360 – präepisodische Alterationen 367 – Prophylaxe 371 – Therapie 369 – Typen 365 – Verlauf 367 Schizoaffektive Störung 362 – Diagnostische Kriterien 361, 363 Schizoaffektives Syndrom 277 Schizodepressive Episode 365 Schizoide Persönlichkeitsstörung 1059 Schizomanische Episode 365 Schizophrenia simplex 290 Schizophrenien 254, 269, 277, 285, 317 – Akutbehandlung 305 – Arbeitstherapie 332 – Ätiopathogenese 255 – Behandlung depressiver Störungen 316 – Behandlung der Negativsymptomatik 313 – Behandlung kognitiver Störungen 315 – Beschäftigungstherapie 332 – Biochemische Hypothesen 263 – Depotneuroleptika 318 – Diagnostische Kriterien 286 – Diagnostische Kriterien 287 – Diagnostische Kriterien 291 – Differenzialdiagnostische Abgrenzung 294 – Dopaminhypothese 261 – Einteilung 269 – Einteilung 269 – Epidemiologie 254 – Erkrankungsbeginn 254, 278 – Erkrankungswahrscheinlichkeit 256 – Ersterkrankungsrate 255 – Fahrtauglichkeit 315 – Familieninterventionen 336 – Frühdiagnostik 284 – Genetische Faktoren 256 – Glutamathypothese 261 – Immunologische Veränderungen 262 – Informationsverarbeitung 263 – Integriertes Psychologisches Therapieprogramm 342 – Klassifikation 285 – kognitive Basissymptome 265 – Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze 336 – Kontinuitätsmodell 257 – Langzeitausgang 281
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Life-event-Forschung 268 Milieugestaltung 331 Negative Symptome 270 Neuropathologie 258 Noncompliance 318 Positive Symptome 270 Prädiktoren 282 Prodromales Syndrom 276 Psychoanalytische Ansätze 334 Psychopharmakotherapie 295, 301 Psychopharmakotherapie 295 Psychosoziale Therapie 330 Psychotherapie 330 Reizfilterfunktion 265 Rezidivprophylaxe 317 Rezidivprophylaxe 318 somatische Untersuchungsverfahren 293 – Sozialarbeit 334 – Soziotherapeutische Maßnahmen 331 – Symptomatologie 268 – Symptomatologie 273 – Therapieresistenz 311 – Training sozialer Fertigkeiten 341 – Verlauf 277 – Verlauf 288 – Verlaufstyp 278 – Vulnerabilitätskonzept 256 – Wahl des Neuroleptikums 306 Schizophrenietypen 271 Schizophrenogene Mutter 266 Schizotype Störung 291 Schizotypische Persönlichkeitsstörung 1070, 1084 Schlaf – Verhaltensregeln 981 Schlafapnoesyndrom 989, 990 Schlafentzugsbehandlung 442 Schlafhygiene 980 Schlaflosigkeit 977 Schlafmedizinische Zentren 974 Schlafmittelverordnung 983 Schlafparalyse 993 Schlafphasenvorverlagerung 442 Schlafstörungen 186, 972 – Algorithmus 974 – alkoholbedingte 186 – Einteilung 973 – Klassifikation 972, 973 – Therapieverfahren 980 Schlaftagebuch 978 Schlaf-Wach-Rhythmus 972, 995 Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen 996 – Leitsymptome 997 – Therapie 997 Schlafwandeln 998, 1001 Schlankheitsideal 953 Schmerzanamnese 840, 844 Schmerzstörung 833, 834, 837 – Antidepressiva 845 – Ätiopathogenese 834 – Definition 833 – Diagnostik 843 – Differenzialdiagnose 844 – Epidemiologie 834 – kognitiv-behaviorale Therapie 846
– Neuroimaging-Studien 839 – psychodynamische Ansätze 847 – Symptomatologie 840 – Therapie 845 – Verlauf 842 Schmerzsyndrome 513 – typische 841 »Schnüffelstoffe« 221 Schuldausschließungsgründe 1342 Schuldfähigkeit 1343, 1409 – verminderte 1343 Schuldfähigkeitsbeurteilung 1342 Schwangerschaft 1236 – Arzneimittelstoffwechsel 1239 – vulnerable Phasen 1238 Schwangerschaftsabbruch 1239 Sedativa 222 – Abhängigkeit 222 – Missbrauch 222 sekundäre Depression 501, 503 Selbstbeschädigung 910 Selbstbestimmungsaufklärung 1381 Selbstbestimmungsrecht 1380 Selbstbeurteilungsskalen 1412 Selbsthilfegruppen 154 Selbstmanipulation 912 Semantische Demenz 55 Serotonerge Dysfunktion 684 Sertralin 530 Sexualdelikte – aggressive 1351 Sexualdelinquenz 1350 Sexualstörungen – Begriff 1008 – Charakteristika 1010 – Diagnostik 1016 – Epidemiologie 1014 – Klassifikation 1008 – Konzepte 1009 Sexualstraftäter – Risikoeinschätzung 1347 – Rückfallprognose 1353 sexuelle Deviation 1026 Sexuelle Funktionsstörungen 1012 – Ätiopathogenese 1015 – Differenzialdiagnostik 1017 – Paartherapie 1017 – Therapie 1017 Sildenafil 1019 Simulation 904 Somatische Krankheit – Psychologische Reaktion 510 Somatisches Syndrom/melancholischer Subtyp 416 Somatisierung 769, 770, 778 – Mechanismen 821 Somatisierungsspektrum 808 Somatisierungsstörung 805 – Ätiopathogenese 808 – Definition 805 – Diagnostik 818 – Epidemiologie 807 – Konsiliarbericht 819 – Symptomatologie 816 – Therapie 819 – Verlauf 816
1021 Sachverzeichnis Band 2
Somatisierungssymptome 771 Somatisierungssyndrome 1272 Somatoforme autonome Funktionsstörung 822, 827, 828, 830 – Definition 822 – Diagnostik 830 – Differenzialdiagnose 830 – Entstehung 826 – Epidemiologie 822 – Symptomatologie 827 – Therapie 831 – Verlauf 828 Somatoforme Störungen 772, 1259 – Ätiopathogenese 776 – Behandlungsaspekte 781 – Checkliste 775 – Diagnostische Charakteristika 772 – Differenzialdiagnose 785 – im höheren Lebensalter 1259 – Rehabilitationsmodell 784 – Screeninginstrumente 780 somatoforme Symptome 824 Somatothymia 810 Somnambulismus 999, 1001 Soziale Phobie 569, 570, 574, 576, 580, 592, 596, 599, 608 – Diagnostische Kriterien 603 – Pharmakotherapie 608 Sozialrecht 1367 Soziopathie 1032 Spätdyskinesien 325 Spätschizophrenie 1252 – Ätiopathogenese 1253 – Behandlungswege 1256 – Symptomatologie 1253 – Verlauf 1253 Spezifische Phobien 580, 594, 597 – Diagnostische Kriterien 603 – Subtypisierungen 597 Sprachdiagnostik 1130 Sprache 6 Sprachentwicklungsstörungen 1126 Sprachtests 1130 SSRI 424, 430, 432, 1415 – Pharmakokinetik 433 Standardisierte Untersuchungsverfahren 9 Stationäre Behandlung 1312 Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom 56 Sterbehilfe 1302 Sterben 1259 Stimmungsstabilisierer 481, 482, 1415 – Übersicht 1415 Störung mit Geschwisterrivalität 1185 Störungen des Sozialverhaltens 1173 – Ätiopathogenese 1174 – Diagnostik 1176 – Epidemiologie 1174 – Symptomatologie 1175 – Therapie 1177 – Verlauf 1176 Stottern 1128 – Behandlung 1132 Strafrecht 1341 Straftäterbehandlung 1074
Stupor 275, 1324 Substanzabhängigkeit 146 Substanzinduzierte Schlafstörung 987 substanzinduzierte Störung – Diagnostik 144 – Klassifikation 144 Substanzmissbrauch 145 Substitutionsbehandlung 205 Substitutionsmittel 207 subtreshold depression 413 Sucht 144 Süchtige Selbstschädigung 904 Suizid – Konkordanzraten 1288 – Psychologische Autopsiestudien 1294 Suizidales Verhalten 1285 – Ätiopathogenese 1285 – Biochemische Studien 1289 – Pharmakotherapie 1299, 1302 – Prädiktoren 1295 – Psychotherapie 1299 – Risikofaktoren 1285 – Risikolisten 1317 – Soziale Erklärungsmodelle 1285 Suizidalität 1282 – Abschätzung 1317 – Akute 1316 – Biologische Erklärungsmodelle 1288 – Definition 1282 – Epidemiologie 1282 – Imitationshypothese 1288 – Impulshandlungen 1294 – Indikatoren 1296 – Krankheitsmodell 1319 – Krisenintervention 1296, 1297 – Krisenmodell 1319 – Pharmakotherapeutische Behandlung 1297 – Psychologische Erklärungsmodelle 1290 – Psychopharmakotherapie 1319 – Psychotherapeutische Behandlung 1297 – Risikogruppen 1318 – Risikolisten 1317 – Serotonin-Hypothese 1290 Suizidpakte 1298 Suizidpatienten 1299 Suizidprävention 1320 Suizidprophylaktische Maßnahmen 1300 Suizidraten 1282, 1283, 1284 Suizidtheorien 1291 Suizidversuche 1297, 1284 – Imitationshypothese 1287 – Kinder 1284 – Methoden 1284 – Verläufe 1295 Suizidversuchsziffern 1283 Switch 479 Symptome 1. Ranges 270 Syndrom des ungeschickten Kindes 1143 Synkopen 1323 Syphilis 112 Systematische Desensibilisierung 613 Systematrophien 56
R–T
T Tabakabhängigkeit 231, 244, 246 – Ätiopathogenese 244 – Diagnostik 246 – Entzugssyndrom 231, 246 – Therapie 231 Tabak-Alkohol-Amblyopathie 184 Take-Home-Vergabe 206 taktile Halluzinose 385 Tätigkeitsmuster – Konsiliarpsychiatrische 1266 Tau-Protein 33, 66 Teilleistungsschwächen 1124, 1134 Teilleistungsstörung 1120 Temazepam 984 Temperament 1043 Testierfähigkeit 1410 Testierunfähigkeit 1362 Testosteron 234 THC 194 Therapiemodalitäten 549 – Onkologische 549 Thiaminmangel 178 Ticstörungen – Ätiopathogenese 1189 – Behandlungsindikationen 1192 – Definition 1189 – Epidemiologie 1189 – Selbstkontrolltechniken 1193 – Symptomatologie 1190 – Therapie 1192 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen – Ätiopathogenese 1152 – Definition 1152 – Epidemiologie 1152 – Frühförderung 1158 – Therapie 1158 Tramadol 198 Tranquilizer – Übersicht 1414 Transference-focused-psychotherapy 1077 transitorische globale Amnesie 95 Transsexualismus 1020, 1023 – Diagnostik 1023 Transsexualität 1352 Transsexuellengesetz 1353, 1354 Trauma 663 Traumaexposition 667 – Symptome 692 Traumatische Erinnerungen – Charakteristika 681 traumatische Erlebnisse – Häufigkeit 666 traumatische Neurose 664 Traumatisches Gedächtnis 679 Traumatypus 668 Trazodon 530 Trennungsängste 1179 Triazolam 984 Trisomie 21 1107 Tumorerkrankung 549 – Angststörungen 550 – Depressivität 549
1022
Sachverzeichnis Band 2
Turner-Syndrom 1110 Typus melancholicus 408
Verleugnungsphase 518 Verwirrtheit 1327, 1329 Verwirrtheitspsychose 374 Vorsorgevollmacht 1363
U W Umschriebene Entwicklungsstörungen – Ätiopathogenetische Aspekte 1122 Unfallrisiken 1394, 1397 – Alkohol 1397 – Cannabis 1397 – Demenz 1395 – Drogen 1394 – Drogenmissbrauch 1397 – Methadon 1398 – Opiate 1397 – Psychopharmaka 1395 Unterbringung 1366, 1409 Untersuchung – kognitive Funktionen 8
V Valproat 490 Valproinsäure 164 – teratogene Wirkung 1240 Vareniclin 249 Vaskuläre Demenz 58, 60, 62, 63 Vegetative Funktionsstörungen 829 Venlafaxin 530 »Verdrängte Schwangerschaft« 1124 Verhaltensmedizin 1265 Verlaufsaufklärung 1382
Wach-Therapie 442 Wagner-Jauregg 114 Wahn 271 Wahnhafte Störung 381 Wender-Utah-Kriterien 931 Wernicke-Aphasie 6 Wernicke-Korsakow-Syndrom 177, 178 – Diagnostische Kriterien 179 – Therapie 179 Whiteley Index 865 Widerstandsfähigkeit 668 Widerstandskraft 671
Y Y-BOCS 647
Z Zentrale pontine Myelinolyse 185 Zerfahrenheit 274 Zivilrecht 1361
Zoenästhesien 866 Zolpidem 984, 985 Zopiclon 984, 985 Zwangshandlungen 644 Zwangsspektrum 637 Zwangsstörung 634 – Ätiopathogenese 636 – Definition 634 – Diagnostik 646 – Epidemiologie 635 – Faktorenstruktur 634 – Genetisches Modell 643 – Kognitiv-behaviorales Modell 639 – Lerntheoretisches Modell 638 – Neuroanatomisches Modell 639 – Neurochemisches Modell 642 – Neurochirurgische Therapieansätze 652 – Neuroimaging-Befunde 640 – Prognose 645 – Psychoanalytisches Modell 636 – Psychopharmakologische Therapieansätze 650 – Psychotherapeutische Ansätze 650 – Symptomatologie 644 – Therapie 649 – Verhaltenstherapie 650 – Verlauf 645 Zwangsvorstellungen 644 Zykloide Psychosen 373 Zyklothymia 476 – Diagnosekriterien 477 Zyklusabhängige Störungen 1218 Zytokine 526